Geschichte als Argument: 41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September 1996. Berichtsband [Reprint 2015 ed.] 9783486830729, 9783486563276


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German Pages 354 [356] Year 1997

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Table of contents :
Geleitwort
Vorwort der Herausgeber
Eröffnung des 41. Historikertages in München
Eröffnung durch den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands
Begrüßung
Grußwort des Rektors der Ludwig-Maximilians-Universität München
Grußwort des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt München
Grußwort des Bayerischen Ministerpräsidenten
Rede des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
Sektionen Diachronisch übergreifend
1. MythenMächte - Mythen als Argument?
2. Schlachtenmythen
3. „Im Zeichen des Fortschritts“ – Geschichte als Argument im medizinischen Diskurs
4. Geschichte als Argument für Krieg und Frieden
5. Perspektiven für eine neue Agrargeschichte: Zur Erforschung ländlicher Gesellschaften
6. Suggestion oder Didaxe? – Das Medium Bild in Historischen Ausstellungen
Alte Geschichte
7. Mythos als Argument
8. Jüdische Gemeinden und ihre Umwelt im Imperium Romanum
9. Selbstdarstellung von Eliten in den kaiserzeitlichen Städten des Imperium Romanum
10. MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA: Tradition und Zukunft - Eine Standortbestimmung
11. Völker – Stämme – Herzogtümer? Verfassung und Ethnogenese im ostfränkischen Reich (9. bis 10. Jahrhundert)
12. Das historische Selbstverständnis mittelalterlicher Orden und Ordenszöten
13. Gemeinschaft und Geschichtsbilder im Hanseraum
Frühe Neuzeit
14. Der Kampf um die Landeskonfession – eine Grunderfahrung im Reich der Frühen Neuzeit
15. Supplizieren. Zur Politik der Untertanen
16. Geschlechtergeschichte der höfischen Welt in der Neuzeit
17. Männergeschichte als Geschlechtergeschichte? (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit)
18. Geschichtswissenschaft und bildende Kunst
19. Nationalismus vor dem Nationalismus?
19. und 20. Jahrhundert
20. Sozialpolitik und Krankenhauswesen im 19. Jahrhundert
21. Denkmalsturz
22. 1848/49 in Europa: Die Französische Revolution als Vorbild und Schreckbild
23. Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie
24. Umwelt und Geschichtswissenschaft. Probleme, Methoden und neue Forschungen
25. Deutsche ‘Ostforschung’ – Ihre Bilder und Vorstellungen von der Geschichte des polnischen Nachbarn (1918–1989)
26. Geschichtsdiskurse und Geschichtsbilder im tscheschisch-deutschen Dialog
27. Geschichte als Argument – Zur Diskussion über die Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft
Zeitgeschichte
28. Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR im Vergleich
29. Arbeiter im „Arbeiter- und Bauern-Staat“
30. Konstitutionsfaktoren des Geschichtsbildes in der DDR
31. Elitenwechsel und Hochschulsystem in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa 1945–1961
32. Die Legende vom guten Anfang – Sowjetische Besatzungszone und frühe Geschichte der DDR im Widerstreit
Osteuropäische Geschichte
33. Geschichte als Argument: Emanzipation von Frauen als Thema der Rußlandforschung
Wirtschaftsgeschichte
34. Kriegsfolgen und Kriegslasten für die ostdeutsche Wirtschaft
35. Wirtschaftsgeschichte als Argument in der wirtschaftspolitischen Diskussion
Geschichtsdidaktik
36. „Verständnis wecken für das Fremde“. Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts
37. Nation und Europa im Geschichtsunterricht Deutschlands
Junge Historiker stellen sich vor
38. Alte Geschichte
39. Mittelalterliche Geschichte
40. Frühe Neuzeit
41. 19/20. Jahrhundert
Sektionen des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands
42. Gedenkstätten, Denkmäler, Mahnmale
43. Fächerübergreifende Projekte im Geschichtsunterricht
44. Die Attraktivität von Geschichte: Im Geschichtsunterricht ein Opfer des staatlichen Pflichtprogramms?
Verleihung des Preises für „hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses“ des Verbandes der Historiker Deutschlands
Laudatio auf den Preisträger Privatdozent Dr. Winfried Schmitz
Abendvortrag
Ägypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 17. und 18. Jahrhundert. Zusammenfassung
Schlußvortrag
Das Argument der Geschichte
Verzeichnis der Sektionsleiter/innen und der Referenten und Referentinnen
Schlagwortregister zu den Sektionsbeiträgen
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Geschichte als Argument: 41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September 1996. Berichtsband [Reprint 2015 ed.]
 9783486830729, 9783486563276

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Geschichte als Argument

Geschichte als Argument

41. Deutscher Historikertag in München 17. bis 20. September 1996 Berichtsband

Herausgegeben im Auftrag des Verbandes der Historiker Deutschlands e.V. von Stefan Weinfurter und Frank Martin Siefarth

R. Oldenbourg Verlag München 1997

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Geschichte als Argument / 41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September 1996 ; Berichtsband / hrsg. im Auftr. des Verbandes der Historiker Deutschlands e.V. von Stefan Weinfurter und Frank Martin Siefarth. — München : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-56327-0

© 1997 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Layout und Satz: Frank Martin Siefarth, München Druck: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei, gebleicht) ISBN 3-486-56327-0

Inhalt

Prof. Dr. Lothar Gall: Geleitwort

IX

Vorwort der Herausgeber

X

Eröffnung des 41. Historikertages in München Eröffnung durch den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands, Prof. Dr. Lothar Gall

1

Begrüßung, Rolf Ballof, OStD, Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands

5

Grußwort des Rektors der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof. Dr. Andreas Heldrich

8

Grußwort des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt München, Christian Ude

10

Grußwort des Bayerischen Ministerpräsidenten, Dr. Edmund Stoiber

12

Rede des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Prof. Dr. Roman Herzog

16

Sektionen Diachronisch übergreifend 1. MythenMächte - Mythen als Argument?

24

2. Schlachtenmythen

33

3. „Im Zeichen des Fortschritts" — Geschichte als Argument im medizinischen Diskurs

37

4. Geschichte als Argument für Krieg und Frieden

42

5. Perspektiven für eine neue Agrargeschichte: Zur Erforschung ländlicher Gesellschaften

50

6. Suggestion oder Didaxe? — Das Medium Bild in Historischen Ausstellungen

55

Alte Geschichte 7. Mythos als Argument 8. Jüdische Gemeinden und ihre Umwelt im Imperium Romanum

60 64

9. Selbstdarstellung von Eliten in den kaiserzeitlichen Städten des Imperium Romanum

71

VI

INHALT

Mittelalter 10.

M O N U M E N T A G E R M A N I A E HISTÓRICA:

Tradition und Zukunft - Eine

Standortbestimmung

74

11. Völker — Stämme — Herzogtümer? Verfassung und Ethnogenese im ostfränkischen Reich (9. bis 10. Jahrhundert)

81

12. Das historische Selbstverständnis mittelalterlicher Orden und Ordenszöten

86

13. Gemeinschaft und Geschichtsbilder im Hanseraum

95

Frühe Neuzeit 14. Der Kampf um die Landeskonfession - eine Grunderfahrung im Reich der Frühen Neuzeit

98

15. Supplizieren. Zur Politik der Untertanen

104

16. Geschlechtergeschichte der höfischen Welt in der Neuzeit

109

17. Männergeschichte als Geschlechtergeschichte? (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit)

114

18. Geschichtswissenschaft und bildende Kunst

121

19. Nationalismus vor dem Nationalismus?

125

19. und 20. Jahrhundert 20. Sozialpolitik und Krankenhauswesen im 19. Jahrhundert

128

21. Denkmalsturz

138

22. 1848/49 in Europa: Die Französische Revolution als Vorbild und Schreckbild

144

23. Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie

151

24. Umwelt und Geschichtswissenschaft. Probleme, Methoden und neue Forschungen

156

25. Deutsche 'Ostforschung' — Ihre Bilder und Vorstellungen von der Geschichte des polnischen Nachbarn (1918-1989)

163

26. Geschichtsdiskurse und Geschichtsbilder im tscheschisch-deutschen Dialog

166

27. Geschichte als Argument — Zur Diskussion über die Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft

174

Zeitgeschichte 28. Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR im Vergleich

181

29. Arbeiter im „Arbeiter- und Bauern-Staat"

189

30. Konstitutionsfaktoren des Geschichtsbildes in der DDR

196

INHALT

VII

31. Elitenwechsel und Hochschulsystem in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa 1945-1961

204

32. Die Legende vom guten Anfang — Sowjetische Besatzungszone und frühe Geschichte der DDR im Widerstreit

211

Osteuropäische Geschichte 33. Geschichte als Argument: Emanzipation von Frauen als Thema der Rußlandforschung

224

Wirtschaftsgeschichte 34. Kriegsfolgen und Kriegslasten für die ostdeutsche Wirtschaft

235

35. Wirtschaftsgeschichte als Argument in der wirtschaftspolitischen Diskussion

249

Geschichtsdidaktik 36. „Verständnis wecken für das Fremde". Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts

254

37. Nation und Europa im Geschichtsunterricht Deutschlands

260

Junge Historiker stellen sich vor 38. Alte Geschichte

269

39. Mittelalterliche Geschichte

273

40. Frühe Neuzeit

277

41. 19/20. Jahrhundert

285

Sektionen des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands 42. Gedenkstätten, Denkmäler, Mahnmale

301

43. Fächerübergreifende Projekte im Geschichtsunterricht

307

44. Die Attraktivität von Geschichte: Im Geschichtsunterricht ein Opfer des staatlichen Pflichtprogramms?

314

Verleihung des Preises für „hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses" des Verbandes der Historiker Deutschlands Laudatio auf den Preisträger Privatdozent Dr. Winfried Schmitz von Prof. Dr. Peter Funke

320

Vili

INHALT

Abendvortrag Prof. Dr. Jan Assmann: Ägypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 17. und 18. Jahrhundert. Zusammenfassung

323

Schlußvortrag Prof. Dr. Lothar Gall: Das Argument der Geschichte

325

Verzeichnis der Sektionsleiter/innen und der Referenten und Referentinnen

335

Schlagwortregister zu den Sektionsbeiträgen

338

Zum Geleit Charakteristisch für die moderne Geschichtswissenschaft gerade auch in Deutschland ist die ständig wachsende Vielfalt ihrer Themenbereiche und Perspektiven, ihrer Ansätze und Fragestellungen. Das wird auf den Historikertagen mit ihrer Fülle von Sektionen und Veranstaltungen besonders deutlich sichtbar. Auch der Münchener Historikertag war in diesem Sinne ein Schaufenster der inneren Lebendigkeit des Faches, seiner produktiven Entwicklung in vielen Bereichen. Ein Band, wie der hier vorgelegte, kann davon natürlich nur einen begrenzten, vieles verkürzenden Eindruck geben, vor allem auch, was die Atmosphäre und die vielfältigen Kontakte und spontanen Anregungen auf diesem Kongreß angeht, der von Herrn Weinfurter und seinem Team mit Herrn Siefarth an der Spitze so glänzend organisiert wurde. Aber es wird hier, so meine ich, noch einmal dokumentiert, wie stark das Echo auf unser Rahmenthema war und vor allem auch, was sich gegenwärtig an Schwerpunkten der Forschung und des wissenschaftlichen Interesses in unserem so weitgespannten Fach herauskristallisiert und wo sich zugleich schon vertraute und neue Ansätze die Hand reichen. Nicht zuletzt markiert der Band in der Breite des Gebotenen und der ausgeprägten Pluralität der Perspektiven und Ansätze, welche Linie der bisherige Vorstand und Ausschuß als Veranstalter der beiden letzten Historikertage zu verfolgen bestrebt waren. Frankfurt am Main, im Juli 1997

hothar Gall

Vorwort Unter dem Rahmenthema „Geschichte als Argument" versammelten sich vom 17. bis 20. September 1996 rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum 41. Deutschen Historikertag in München. Nach 1893 und 1949 waren die Stadt München und die Ludwig-Maximilians-Universität zum dritten Mal Gastgeberinnen für die vom Verband der Historiker Deutschlands in Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands veranstaltete Versammlung. Für die von Anfang an mit großer Aufgeschlossenheit gewährte Hilfe und Unterstützung der Landesregierung, der Stadt, der Universität mit ihrer Verwaltung und des Münchner Hotel Verbunds möchten wir uns sehr herzlich bedanken. Der Dank gilt ebenso den zahlreichen Sponsoren, die durch ganz unterschiedliche Formen der Unterstützung maßgeblich zum Gelingen der Großveranstaltung beigetragen haben Es sind dies: Verlag C.H. Beck (München), Böhlau Verlag (Köln/Weimar/Wien), Compaq Computer EMEA (München), Daimler-Benz AG (Stuttgart), Deutscher Taschenbuch Verlag (München), Douwe-Egberts Kaffee-Systeme (München), Fischer Taschenbuch Verlag (Frankfurt a.M.), Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank (München), Körber-Stiftung (Hamburg), Mineralbrunnen AG (München), Müller Brot (Neufahrn), R. Oldenbourg Verlag (München), K.G. Saur Verlag (München), Bayerischer Sparkassen- und Giroverband (München), Stadtsparkasse München, Bayerische Vereinsbank AG (München), Vaihinger Fruchtsäfte (München). Das Motto „Geschichte als Argument" erwies sich als besonders motivierend und geeignet, zu einer interdisziplinären, innovativen Auseinandersetzung um die Rolle der Geschichte im Leben der verschiedenartigsten Gruppen und Gemeinschaften, um die Bilder, Vorstellungen und Ideen geschichdicher Vergangenheit in den unterschiedlichen Epochen anzuregen. Bot schon die Eröffnungsveranstaltung in der Philharmonie im Gasteig mit ca. 1.800 Zuhörern eine beeindruckende Kulisse, so war das Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschafdern an Universitäten, Instituten, Archiven und Museen, von Lehrerinnen und Lehrern, historisch Interessierten aus den verschiedensten Bereichen - vor allem auch der Medien —, besonders aber von Studierenden an den Sektionsveranstaltungen enorm. Im Rahmen von insgesamt 44 Sektionen stellten mehr als 220 Referentinnen und Referenten ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion, darunter erfreulich zahlreiche Gäste aus anderen europäischen und auch außereuropäischen Ländern, deren Teilnahme durch einen namhaften Zuschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Allen Sektionsleiterinnen und -leitern, Referentinnen und Referenten sei herzlich gedankt für die reibungslose Zusammenarbeit, auch bei der Zusammenstellung diese Berichtbandes. Ihnen allen ist es zu verdanken, daß das wissenschaftliche Programm des Kongresses hier lückenlos dokumentiert werden kann. Auch das Rahmenprogramm des Historikertages — 7 Sonderausstellungen und insgesamt 38 historische Exkursionen und Führungen — stieß auf reges Interesse. Wir bedanken uns bei allen Ausstellungsmachern und Leiterinnen und Leitern der Exkursionen für ihre spontane Bereitschaft, das Programm zu bereichern und zu ergänzen. Im zentralen Lichthof der Universität und auf den umliegenden Fluren fand während der drei Kongreßtage eine große Bücherpräsentation statt, an der sich 54 Verlage und eine

VORWORT

XI

Buchhandlung mit ihrem Sortiment beteiligten. Die überaus große Bereitschaft der Verlage, das 'Unternehmen' Historikertag zu unterstützen und vor allem die zuverlässige und flexible Mitarbeit bei den bisweilen unter hohem Zeitdruck zu bewerkstelligenden Vorbereitungen haben entscheidend zu einem erfolgreichen Verlauf beigetragen. Auch hierfür sagen wir ein herzliches Dankeschön! Namentlich dem R. Oldenbourg Verlag und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei außerdem für die Aufnahme dieses Bandes in das Verlagsprogramm und die freundliche Zusammenarbeit gedankt. Die Mitgliederversammlung des Verbandes der Historiker Deutschlands wählte im Rahmen des Historikertages am 19. September 1996 einen neuen Vorsitzenden. An die Stelle des turnusmäßig ausscheidenden Prof. Dr. Lothar Gall wurde Prof. Dr. Johannes Fried berufen. Unser besonderer Dank gilt ihnen beiden und dem Ausschuß des Verbandes für die allzeit freudige und vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des Kongresses. Unser ganz besonders herzlicher Dank richtet sich schließlich an unser Team. Vor allem Frau Judith Sommer M.A. und Frau Jutta Schlick M.A., sodann Frau Gundula Caspary und die Herren Werner Bomm und Georg Reichlmayr sowie nicht weniger als 37 Studentinnen und Studenten — hier ist besonders die Fachschaft Geschichte zu erwähnen - haben mit rastlosem Engagement und stets zu spürender Freude an der 'großen Aufgabe' die Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung des Historikertages verwirklicht. Wir werden uns immer wieder gern an die gemeinsame Arbeit erinnern. Der 42. Deutsche Historikertag wird unter dem Generalthema „Intentionen - Wirklichkeiten" vom 8. bis 11. September 1998 in Frankfurt am Main stattfinden. Der Münchner Kongreß hat mit seiner Rekord-Teilnehmerzahl gezeigt, daß das Interesse an Geschichte und für Geschichtswissenschaft (wieder) sehr groß ist; und er hat auch deudich gemacht, daß es ein breites Bedürfnis gibt, die vielfältigen und weit gefächerten Themenbereiche und aktuellen methodischen Ansätze in unserem Fach auszutauschen und zu übergeordneten Erkenntnissen zu bündeln. Am 17.9.1996 schrieb die WELT, daß „die vielen Spezialgebiete des Faches das Bewußtsein um die Gemeinsamkeiten nicht verlieren [dürfen]. Antike Epigraphiker arbeiten ebenso an der Analyse historischer Welten wie Mentalitätshistoriker des 20. Jahrhunderts. Diese Erkenntnis zu pflegen ist die eigentliche Aufgabe eines Historikertages." In diesem Sinne wünschen wir der Frankfurter Versammlung ein interessantes Spektrum an Themen, regen Zuspruch und einen harmonischen Verlauf. München, im Juli 1997 Stefan Weinfurter Frank Martin Siefarth

Eröffnung des 41. Historikertages in München Eröffnung durch den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands Prof. Dr. Lothar Gall Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Eröffnung des diesjährigen Historikertages, des 41. seit der Begründung unseres Verbandes vor mehr als einhundert Jahren, darf ich Sie alle herzlich begrüßen. Das Rahmenthema unseres Kongresses - „Geschichte als Argument" - und vor allem das Echo, das es innerhalb wie auch außerhalb unseres Faches, in der Öffentlichkeit, gefunden hat, signalisieren, nicht zuletzt mit dem fehlenden Fragezeichen, das neue, das wiedergewonnene Selbstbewußtsein der Historiker — als derjenigen, die sich als die legitimen, ja, als die eigentlich allein legitimen Verwalter des in Frage stehenden Gegenstandes, also der Geschichte, verstehen. Hier kommt man freilich gleich ins Stocken. Denn der Geschichte als Argument bedienten und bedienen sich vielfach, ja, mehrheidich Nichthistoriker, und es ist in den meisten Fällen eher zweifelhaft, ob sie sich dabei auf die neuesten Erkenntnisse der professionellen Historie stützen, ja, an ihnen überhaupt in erster Linie interessiert sind — unsere unmittelbare Gegenwart bietet dafür ja gerade ein sehr anschauliches Beispiel. Denn wer sich der Geschichte als Argument bedient, dem geht es dabei zumeist um etwas anderes als um historische Erkenntnis als solche — um was im einzelnen, wird uns in den nächsten Tagen intensiv beschäftigen. Und der Historiker war über Jahrhunderte oft nicht mehr als ein zur Dienstleistung für andere Zwecke herbeigezogener Knecht, seine Wissenschaft eine Dienstmagd, eine anàlla. Zunächst und zuvörderst der Theologie, dann der Jurisprudenz und immer der Politik. Ancilla theologiae, ancilla jurisprudentiae, attälla prudentiae rerum publicarum — aus dieser Knechtschaft hat sich unsere Wissenschaft, seit sie sich im modernen Sinne als solche konstituiert hat, in stets neuen Anläufen zu befreien versucht. Wieweit ihr dies gelungen ist, steht dahin. Als Knechte treten wir Ihnen, verehrter Herr Bundespräsident, jedenfalls nicht mehr entgegen, der Sie in Ihrer Person gleichsam zwei langjährige Dienstherren unseres Faches verkörpern: die Jurisprudenz und die Politik. So erwarten wir von Ihnen auch nicht, daß Sie uns wie Lehrjungen endgültig 'freisprechen'. Aber wir freuen uns sehr, daß gerade Sie, der ehemalige Professor der Jurisprudenz und Präsident unseres höchsten Gerichts und jetzige oberste Repräsentant unseres politischen Gemeinwesens, sich bereit gefunden haben, nicht nur bei dieser Eröffnungsveranstaltung anwesend zu sein, sondern auch die eigentliche Eröffnungsrede zu halten. Wir sind schon alle sehr gespannt darauf. Die deutsche Geschichtswissenschaft und Bayern, das ist, Herr Ministerpräsident, wenn nicht eine Liebes-, so doch jedenfalls eine Erfolgsgeschichte. Auch in Bayern als dem, wie man gern sagt, ältesten deutschen Staat hat man sich über Jahrhunderte der Historiker vor allem dazu bedient, den Ruhm des Herrscherhauses zu nähren und den Aufstieg des Staates zu feiern. Dann aber hat man hier mit am frühesten, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, auf die freie, die unabhängige Wissenschaft auch im Bereich der Geschichte gesetzt: durch entsprechende Berufungen an die nach München verlegte Universität — die als

2

ERÖFFNUNG

'Nordlichter' nicht immer allzu beliebt waren —, durch die Errichtung und Unterstützung bedeutender Institutionen der freien Forschung mit der von Leopold Ranke 1859 begründeten „Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften" an der Spitze. An dieser Tradition hat Bayern immer festgehalten und stets aufs neue angeknüpft; man denke nur an die „Monumenta Germaniae Histórica", die hier nach 1945 eine neue und dauerhafte Heimstatt fanden, oder an das Institut für Zeitgeschichte. Wir alle wissen, wie Bayern in Zeiten, in denen die Frage „Wozu noch Historie?" in Schule und Öffentlichkeit bedrohlich anschwoll, sich dieser Woge des Zeitgeistes entschlossen entgegengestellt hat und an dieser Linie bis heute festhält und, da sind wir sicher, auch in Zukunft festhalten wird. So freuen wir uns besonders, daß Sie, Herr Ministerpräsident, als oberster Repräsentant des Freistaates trotz eng konkurrierender Verpflichtungen sich die Zeit genommen haben, an der Eröffnung des Historikertages teilzunehmen und zu uns zu sprechen. Wie Paris nicht Frankreich ist, jedenfalls nicht ganz, so ist auch München, Herr Oberbürgermeister, nicht Bayern. Aber wenn ich von Bayern als einem traditionellen Zentrum der deutschen Geschichtswissenschaft sprach, so richtet sich der Blick naturgemäß vor allem auf München. Und wie jede ordentliche Hauptstadt stand auch München über weite Strecken seiner Geschichte politisch in einem natürlichen Spannungsverhältnis zur Regierung und zu den zentralen Institutionen des Landes. Ein solches Spannungsverhältnis pflegt manche Probleme aufzuwerfen, aber auch manches schöpferisch in Bewegung zu bringen, und vor allem: Es begünstigt eine Atmosphäre der Offenheit, der Bereitschaft zum Perspektivenwechsel und der Akzeptierung von Meinungsvielfalt, die das Lebenselexier aller Wissenschaft ist. Um es zugleich auch etwas niedriger zu hängen: Stadt und Staat sind im Vorfeld dieses Kongresses geradezu als Konkurrenten im Entgegenkommen aufgetreten, und die Großzügigkeit, mit der die Stadt neben anderem den auf diese Veranstaltung folgenden Empfang ausgerichtet hat, beschämt uns fast angesichts der allgemein bekannten Finanzlage unserer Städte. Die Beschämung soll uns allerdings nicht den Mund verschließen: Schönen Dank, Herr Oberbürgermeister, für die Gastfreundschaft der Stadt München. Mit dem Dank darf ich gleich fortfahren an Sie, Magnifizenz, die Sie namens der Universität für diesen weitläufigen Kongreß bereitwilligst die Tore einer Alma mater geöffnet haben, die wie so viele deutsche Universitäten gerade heute mit so zahlreichen und schwierigen Problemen zu kämpfen hat. Wir, d.h. die deutschen Historiker als überindividuelle Individualität, sind zum dritten Mal in der über hundertjährigen Geschichte unseres Verbandes Gäste dieser Universität, und an den Stationen — 1893, 1949, 1996 - könnte man vieles zeigen, nicht zuletzt die von unseren Vorgängern wohl kaum für denkbar und möglich gehaltene Erweiterung der Felder unserer Wissenschaft und der auf ihnen tätigen Personen - 107 Teilnehmer zählte der Historikertag 1893 (wobei, wie ein zeitgenössischer Bericht vermerkt, „die preußischen Kollegen die Einladung zu der Münchener Versammlung kaum zur Kenntnis nahmen, die Berliner Koryphäen schon gar nicht"). Knapp vierhundert waren es 1949 und heute versammeln sich mehr als 3000 hier in München. Schon diese nackte Zahl verdeutlicht, was die Universität in diesen Tagen zu verkraften hat, und ich wünsche uns allen und Ihnen, Magnifizenz, im besonderen, daß Sie am Ende den Eindruck mitnehmen, daß die geistige Münze, mit der wir im Ernst allein zahlen können, den Aufwand gelohnt hat.

ERÖFFNUNG

3

Alljährlich im Dezember findet hier in München die feierliche Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften statt. Bei dieser Gelegenheit begrüßt der Präsident die Ehrengäste, bisweilen, mit dem Ausdruck des Bedauerns, auch die Nichterschienenen. Bei der letzten Sitzung waren es, wenn ich richtig gezählt habe, weit mehr als sechzig, die namentlich erwähnt wurden. Daraus rhetorisch einen Kranz zu winden war eine Meisterleistung eigner Art. Sie hat allerdings — ganz abgesehen davon, daß ich zu einer solchen Meisterleistung gar nicht in der Lage wäre — ihren Preis, ihren Preis an Zeit, und er wäre für diese Gelegenheit zu hoch. Ich bitte Sie deshalb um Ihr Verständnis, daß ich unsere noch viel zahlreicheren Ehrengäste nur summarisch, aber darum nicht minder herzlich begrüße: die Abgeordneten des Bundestages und des bayerischen Landtages, die Mitglieder des bayerischen Senats, die Vertreter der Stadt München und der Ministerien, der Kirchen und Religionsgemeinschaften und natürlich in speziellem Maße der Akademien und Universitäten. Sie alle erweisen uns mit ihrer Anwesenheit eine große Ehre (das Wort „Ehrengast" hat ja in diesem Sinne durchaus noch eine zweite Bedeutung). „Geschichte als Argument" — das zielt auf vielerlei, auf sehr verschiedenartige Vorgänge und Komplexe. Es hat aber ein gemeinsames Fundament, einen gemeinsamen Hintergrund: die Frage nach der Rolle der Geschichte im geistigen Haushalt eines Gemeinwesens und einer Gesellschaft. Wo Geschichte kein Argument mehr liefert, so kann man sagen, ist der Zusammenhalt, ja, die Identität eines Gemeinwesens bedroht. Und mehr noch: Es droht der kulturelle Zusammenhang verloren zu gehen, der in letzter Konsequenz das Gattungswesen Mensch jenseits des Biologischen konstituiert. Die Bedeutung der sogenannten Geisteswissenschaften, der Kulturwissenschaften im weiten Verständnis des Wortes, von denen die Geschichtswissenschaft ein so wichtiger Teil ist, ist in den letzten Jahren oft erörtert worden, pragmatisch wie grundsätzlich. Von 'weichen' Wissenschaften im Gegensatz zu den 'harten', auf Experiment, Gesetzmäßigkeit und objektiven Fakten beruhenden Naturwissenschaften war dabei die Rede, auch von „Kompensationswissenschaften" — zur humanen Rückversicherung in der kalten und verengenden, ja, entfremdenden Welt der Moderne. Damit sollte nicht zuletzt die 'Nützlichkeit' auch der Kulturwissenschaften demonstriert werden, ihre fortdauernde 'Brauchbarkeit' auch in der und für die moderne Welt. Aber nicht von Brauchbarkeit und Nützlichkeit muß die Rede sein, sondern von Unentbehrlichkeit. Gerade in unserem Lande sollte das Jahrhundert jedem in voller Klarheit vor Augen geführt haben, was die Flucht aus der Geschichte in den Mythos von Vorzeit und Rasse, was die Lehren von der Uberwindung der Geschichte in einer dann angeblich klassenlosen Gesellschaft für die Bewahrung von Kultur und Menschlichkeit, ja, am Ende jeder Art von Zivilisation bedeutet hat. Und unser Jahrhundert hat auch gelehrt, daß es eben nicht, um Max Webers Formeln zu gebrauchen, um Gesinnungsethik, um eine Ethik der Gesinnung gehen kann, die oft genug in tiefe Abgründe geführt hat, sondern um Verantwortungsethik, um eine Ethik der Verantwortung gegenüber den Grundlagen der geschichtlich gewachsenen und nur geschichtlich wirklich verstehbaren menschlichen Zivilisation, gegenüber Grundlagen, die nicht in das Belieben eines einzelnen oder auch einer politischen, sozialen oder weltanschaulichen Gemeinschaft als ganzer gestellt sind. Auf diese Grundlagen, auf ihre Entstehung, ihre Ausbildung und Entwicklung und ihren Zusammenhang zielt neben den anderen Kulturwissenschaften im letzten auch die Geschichtswissenschaft. Das macht sie nicht nur nütz-

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ERÖFFNUNG

lieh und brauchbar, sondern unentbehrlich, unentbehrlich für den immer wieder bedrohten Fortbestand menschlicher Kultur und Zivilisation. Im Kern geht es dabei, in der schönen Formulierung Thomas Manns, um die „rettende Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst", vor sich als historisch gewordener und historisch begründeter Existenz. In diesem Sinne erkläre ich den 41. Deutschen Historikertag für eröffnet.

BEGRÜSSUNG

5

Begrüßung Rolf Ballof, OStD, Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands Sehr verehrter Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands begrüßt durch mich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Historikertag 1996 in München und wünscht Ihnen einen erfolgreichen Verlauf des Treffens. Wir danken Ihnen, Magnifizenz Heldrich, für die Gastfreundschaft der Universität München. In dieser Universität trafen sich 1893 Geschichtslehrer und Wissenschaftler im Protest gegen den direkten Eingriff der preußischen Regierung in den Geschichtsunterricht und dessen Indienstnahme für die fast hegelianisch aufgefaßte Dynastie der Hohenzollern. Dagegen setzten die Teilnehmer den Wissenschaftsbezug des Geschichtsunterrichts. Auch heute haben wir Grund, die Gemeinsamkeit von Wissenschaftlern und Geschichtslehrern zu fordern gegen die Reduzierungen des und im Geschichtsunterricht und gegen die Indienstnahme des Geschichtsunterrichts. In dieser Universität denken wir auch an den Kreis der Weißen Rose, dessen Mitglieder sich angesichts der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes und der Untätigkeit der Zuschauer zum Widerstand aufgerufen fühlten. Sie brachten den Anspruch auf unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte unter einem menschenrechtsverletzenden Regime zu Geltung, das nur deswegen Verbrechen begehen konnte, weil es auf Menschen zählen konnte, die ihre Menschenrechte veräußert hatten. Das Signet dieses Historikertages erinnert an die Weiße Rose. Unser besonderer Dank für die Organisation des Historikertages gilt dem Organisationsteam mit den Damen Judith Sommer und Jutta Schlick, mit den Herren Werner Bomm und Georg Reichlmayr und dem gesamten Team der vielen Helferinnen und Helfer, besonders Herrn Professor Stefan Weinfurter und Herrn Frank Martin Siefarth. Dank, nicht nur für die Organisation, sondern auch für die Freundlichkeit, mit der dieser Historikertag von Ihnen vorbereitet wurde. Ich wünsche Ihnen, liebe Mitglieder des Teams, daß Ihnen im Verlauf des Historikertages etwas von dieser Freundlichkeit zurückgegeben werde. Wir danken auch der Stadt, sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, für ihre Gastfreundschaft. Wir sind gerne in München und danken Ihnen, daß Sie uns heute abend zum Empfang eingeladen haben. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihrer Regierung haben wir für besonders gute äußere Bedingungen des Geschichtsunterrichts zu danken. Ihre Regierung hat sich gerade in den letzten Jahren für die Wahrung der Qualitätsstandards unserer Schulen eingesetzt. Wir bitten Sie aber auch, sich der fundierten Kritik unseres bayerischen Verbandes an den neuen Hauptschulrichtlinien Bayerns zu stellen und nicht von der so erfolgreichen Linie der bisherigen Geschichtsunterrichtspolitik abzuweichen. Unser Dank wäre dann um so größer. Sehr verehrter Herr Bundespräsident, als eine besondere Ehre, als Anerkennung der Arbeit der historischen Wissenschaft in unserem Lande — und als Anerkennung der Arbeit der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer in Deutschland — empfinden wir Ihre Anwesenheit bei der Eröffnung des Historikertages.Unser besonderer Dank, sehr verehr-

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ERÖFFNUNG

ter Herr Bundespräsident, gilt Ihnen für Ihr Engagement zur Versöhnung mit dem tschechischen Volk, besonders Dank für Ihre Förderung, daß tschechische und deutsche Jugendliche zusammenkommen. Wir sind heute auf Ihre Gedanken zu unserer Arbeit im Fach Geschichte in der heutigen gesellschaftlichen und politischen Situation gespannt. Wir danken Ihnen auch, daß Sie zum Zuhören hierher gekommen sind, sehen wollen, welche Wege die Geschichtswissenschaft geht und gehen wird, und welche Wünsche und Sorgen Geschichtslehrer und Wissenschaftler haben. Wir freuen uns auf den Dialog, den wir auch gerne einmal persönlich führen würden. Den Beitrag des Geschichtsunterrichts - und damit den Beitrag der Geschichtslehrerinnen und -lehrer — zur demokratischen Gesellschaft, zur inneren Nationwetdung, zur Mentalität eines europäischen Deutschlands und zur Orientierung auf die gesamte Menschheit — innerhalb und zusammen mit den anderen Vermittlern — zu würdigen, haben wir der Gesellschaft anheimzugeben. Unsere Aufgabe ist es, deutlich unsere Auffassung von unserem Beitrag zu formulieren und im öffentlichen Diskurs zu vertreten. Das Ziel ist, den Jugendlichen zu helfen, ihre Rolle in einer auf Partizipation angelegten Gesellschaft zu finden, in der Menschenrechte für sie und andere gelten und weiterentwickelt werden können. Neben die Wichtigkeit des Kennenlernens, wie es zu dem Heute kam, um das Heute verstehen zu können, muß die kreative Auseinandersetzung mit historischen, anderen Lebensstilen und Lebensentwürfen treten. Historisch rekonstruierte Lebensformen zeigen, wie andere Menschen in ihren Strukturen und zeitbedingten Gegebenheiten lebten, wie sie ihre Gesellschaft organisierten, welche Spielräume sie dabei hatten und wie sie sie ausgestaltet haben. An der Andersartigkeit, ja an der Fremdheit anderen Lebens bildet sich eigene Wirklichkeitskonstruktion, der Vergleich und die Unterscheidung bilden den Resonanzboden für das eigene Geschichtsbewußtsein und ermöglichen dessen Weiterentwicklung. Gesellschaftliche Orientierung gewinnt so eine zeitliche Tiefendimension, die zu verantwortlichem, zu einem der Zeit antwortenden Handeln werden kann. Die Jugendlichen in unserer Gesellschaft haben das Recht auf eine mit der Geschichte erarbeitete, persönliche Wirklichkeitskonstruktion, die in ihrer Zeitbedingtheit auch einen Zukunftsentwurf mit sich bringt. Das kann auch Nichtanpassung, alternatives Denken, Bereitschaft und Willen zur Veränderung bedeuten. Wer unser Grundgesetz nicht als erreichten Zustand, sondern als Auftrag in der Zeit begreift, versteht, welchen Beitrag der Geschichtsunterricht durch seine Bindung an das individuelle Geschichtsbewußtsein des Einzelnen leisten kann. Es ist hier aber auch der Ort, von Entwicklungen zu sprechen, die unserem Vorhaben zuwiderlaufen. Stunden für den Geschichtsunterricht werden gekürzt. In den meisten Bundesländern werden die Alte und die Mittelalterliche Geschichte marginalisiert, die Enthistorisierung der anderen Schulfächer schreitet fort. Die Geschichte wird als Ergänzung im fächerübergreifenden Unterricht genutzt und verliert damit ihre Qualität der Distanz zu den ganz Anderen. An die Stelle der Rekonstruktion vergangener Bestände und Handlungsspielräume tritt eine moralisierende Geschichtsaneignung mit aus der Gegenwart bezogenen Wertmaßstäben. Das Werturteil orientiert sich nicht mehr am Sachurteil, macht die Vergangenheit zur Gegenwart. Viele dieser Ansätze führen nach unserer Mei-

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nung zur Vergangenheitsstörung, indem sie Geschichte wie eine Gegenwart betrachten. Die wissenschaftliche Legitimation des Geschichtsunterrichts muß erhalten bleiben, bzw. wieder hergestellt werden. Es geht nicht um Meinungen zu historischen Phänomenen, nicht um Geschichtsbilder, nicht um Belege für gewolltes politisches Handeln und Anweisungen, nicht um Elemente eines - die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer integrierenden — neuen Schulfaches, zu dem die Geschichte einzelne aus ihrer Architektur herausgebrochene Steine liefern soll - darum geht es nicht, weil die wissenschaftliche Legitimation des Fachs damit negiert wird. Es geht um das wissenschaftliche Verfahren der Nachprüfbarkeit und Reflexivität und um die Offenheit zur Analyse der eigenen Bewußtseins- und Interessenlage. Die Untersuchung der Frage: Was führt mich zu meinem Urteil? Welche eigenen Erfahrungen fließen in mein Urteil? läßt Überprüfbarkeit und Diskussion zu. Dann kann der Jugendliche Mut zur eigenen Interpretation und Orientierung finden, er lernt sich selbst kennen und wird selbstgesichert. Mir scheint, daß es an der Zeit ist, daß Wissenschaftler und Geschichtslehrer gemeinsam diesen Entwicklungen entgegentreten. Der Kongreß „Alte Geschichte für Europa" und die Planungen für unseren Mittelalterkongreß sind ermutigende Zeichen einer solchen Zusammenarbeit. Unser Dank gilt den Wissenschaftlern, die auf diese Weise mit uns zusammenarbeiten. Ihre Mitarbeit in Lehrplankommissionen ist unverzichtbar. Wir freuen uns auf den Dialog mit den Wissenschaftlern, möge er unsere gemeinsame Sache weiterbringen. In diesem Sinne wünsche ich im Namen des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands dem Historikertag 1996 in München einen erfolgreichen Verlauf.

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Grußwort des Rektors der Ludwig-Maximilians-Universität München Professor Dr. Andreas Heldrich Sehr verehrter Herr Bundespräsident, Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, meine Herren Vorsitzenden, meine Damen und Herren, zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert hat der Deutsche Historikertag die Ludwig-Maximilians-Universität München als Tagungsstätte gewählt. Gemeinsam mit meinen Kollegen in unserer Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften freue ich mich über diese Auszeichnung. Ich hoffe, daß Sie sich in unserem historischen Hauptgebäude an der Ludwigstraße wohl fühlen werden. Ein wenig voreilig heiße ich Sie hier in der Philharmonie schon heute bei uns herzlich willkommen. Die Geschichtswissenschaft spielt in der Universität München eine bedeutende Rolle. Nicht weniger als 15 Lehrstühle und 5 Institute sind derzeit dem Fach gewidmet. Mehr als 2.700 Studenten haben ihre Liebe zu diesem Studium als Hauptfach entdeckt und verwirklicht. Zwar werden sie gewiß nicht alle aus ihrem Studium auch einen Beruf machen können. Dennoch scheinen sie ihre Wahl nicht zu bereuen. Sie haben das Glück, ein allgemeinbildendes Fach zu studieren, das ihnen Spaß macht. Zugleich werden sie zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit erzogen. Beides wird auf ihrem weiteren Lebensweg ein unschätzbarer Vorteil sein. Schon in der Universität München bildet die Geschichtswissenschaft also einen besonderen Schwerpunkt. Er gewinnt an Gewicht durch das wissenschafdiche Umfeld. Die Monumenta Germaniae Histórica und das Institut für Zeitgeschichte haben ihren Sitz in der unmittelbaren Nachbarschaft. Beide sind heute mit Lehrstühlen an unserer Universität in Personalunion verbunden. Hinzu kommt das Historische Kolleg, das Jahr für Jahr herausragende Vertreter des Fachs von anderen deutschen und ausländischen Universitäten nach München führt. Alles in allem also ein nahezu idealer Rahmen für historische Studien. Lediglich die räumliche Unterbringung unserer Lehrstühle und Institute ist zumindest gegenwärtig noch desolat. Auf sieben verschiedene Standorte verteilt, versuchen sie mehr schlecht als recht die Einheit des Fachs zu erhalten. Zum Glück hat dieser unhaltbare Zustand nun bald ein Ende. In wenigen Wochen wird mit den Bauarbeiten für die Errichtung eines neuen Historikerzentrums in der Schellingstraße direkt neben unserem Hauptgebäude begonnen. Am 9. Oktober werden wir mit Herrn Staatsminister Zehetmair den ersten Spatenstich vornehmen. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, der Bayerischen Staatsregierung für diese tatkräftige Förderung unserer eigenen und damit auch der deutschen Geschichtswissenschaft zu danken. Es war gewiß nicht leicht, gerade in der heutigen Zeit die Mittel für dieses Bauvorhaben zur Verfügung zu stellen. Und dies, obgleich das Fach, um das es sich handelt, kaum unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen versprechen kann. Bei den Verhandlungen über den Neubau hatte ich übrigens Gelegenheit, die Tragweite Ihres Leitthemas „Geschichte als Argument" persönlich zu erproben. Ich bin dabei - auch im Gespräch mit dem Herrn Ministerpräsidenten — auf bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gestoßen. Dieser Aufgeschlossenheit für historische Argumente haben wir auch den

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neugeschaffenen Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur zu verdanken, dessen Errichtung uns sehr am Herzen lag und den wir in nächster Zukunft erstmals besetzen wollen. Kein Wunder, daß wir uns in der Universität München bei so viel Geschichtsbewußtsein auch einen souveränen Umgang mit unserer eigenen Geschichte angewöhnt haben. So werden wir in aller Unbefangenheit im nächsten Jahr unser 525. Stiftungsfest feiern, obwohl die Ludwig-Maximilians-Universität — von Landshut kommend — erst vor 170 Jahren ihr Quartier in München bezogen hat. In der Kunst der Sitzverlegung ohne Identitätsverlust haben wir es im Lauf der Jahrhunderte zu wahrer Meisterschaft gebracht. Beim letzten Mal im Jahre 1826 hätte uns übrigens ein eigensinniger Monarch beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht. König Ludwig I. zeigte sich damals erzürnt über die Weigerung des Münchner Stadtrats, sich an den Baukosten für die Ludwigskirche als Universitätskirche zu beteiligen. Deshalb verfügte er eigenhändig in einer Aktennotiz: „Die Herren vom Magistrat kennen mich nicht. Sie sollen mich aber kennenlernen. Es kostet mich nur einen Federstrich und die Universität ist wieder in Landshut." Z u m Glück ließ sich der Magistrat von dieser Drohung beeindrucken. Anscheinend empfand man es damals als einen Vorzug, eine Universität in seinen Mauern zu haben. Wir bemühen uns redlich, dieser Erwartung zu entsprechen. Auch mit dem heutigen Magistrat verbindet uns deshalb eine sehr angenehme Zusammenarbeit. Und dies ist zugleich das passende Stichwort, um dem Herrn Oberbürgermeister das Rednerpult zu überlassen.

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Grußwort des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt München Christian Ode Herr Bundespräsident, Herr Ministerpräsident, verehrte Ehrengäste, meine sehr verehrten D a m e n und Herren, auch im N a m e n der gastgebenden Landeshauptstadt München heiße ich Sie alle zum 41. Deutschen Historikertag herzlich willkommen. Einen „wunderbaren Saal" hat Friedrich Guida die Münchner Philharmonie einmal genannt, einen Saal „mit einer erbarmungslos objektiven Akustik". D a s m a g für Musiker und ihr Publikum gut oder manchmal auch weniger gut sein. Für den Verband der Historiker Deutschlands als Sachverwalter einer Disziplin, in der vielleicht nicht immer nur das Musische, u m s o mehr dafür das Streben nach Objektivität das Maß aller Dinge ist, scheint mir dies jedenfalls ein denkbar geeigneter Versammlungsort zu sein. D a s eigentliche F o r u m für die Veranstaltungen und Vorträge des 41. Deutschen Historikertages aber ist die Ludwig-Maximilians-Universität, und auch sie bietet dafür einen idealen Rahmen. Ihre historischen Institute haben ja einen ganz wesentlichen Anteil daran, daß München den Rang und Ruf eines Zentrums der Geschichtswissenschaft für sich in Anspruch nehmen kann. U n d dazu werden sie, wenn sie erst einmal unter einem gemeinsamen Dach arbeiten können, in einem neuen „ H a u s der Geschichte", auch nach meiner Uberzeugung in Zukunft sogar noch mehr leisten als bisher. Am 9. Oktober wird der erste Spatenstich für den Bau dieses Hauses an der Ecke Amalien-/Schellingstraße sein, ein Ereignis, über das ich mich auch persönlich sehr freue, weil mir auch persönlich daran lag, die Planungs- und Gestaltungshürden bei diesem Projekt überwinden zu helfen. N o c h in anderer Hinsicht ist München für den Verband der Historiker Deutschlands ein Tagungsort mit ganz besonderem background. In München wurde vom 5. bis 7. April 1893 die erste Versammlung deutscher Historiker überhaupt abgehalten. E s war, wie vor zwei Jahren dazu in der Zeitschrift des deutschen Geschichtslehrerverbands angemerkt wurde, ein Treffen, das „in einem für das Kaiserreich eher untypischen intellektuellen Klim a " stattfand. D a ß dabei dennoch viel von „Vaterlandsliebe" die Rede war, von einem „strengen Pflichtbewußtsein gegen den Staat" und gar vom drohenden „Bazillus der Sozialdemokratie", lag wohl am T h e m a , das im Mittelpunkt dieser Tagung stand: D a ging es um die Lehrpläne, die in Preußen für das Unterrichtsfach Geschichte erlassen worden waren, da ging es um die Politisierung des Geschichtsunterrichts, die mit diesen Plänen unweigerlich verbunden war, und da ging es um den Widerstand, der dem vor allem aus den Reihen der süddeutschen Historiker entgegengesetzt wurde. Zu verhindern war allerdings, wie wir heute wissen, die zunehmende nationale Vereinnahmung von Geschichtswissenschaft und -Unterricht nicht. Mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs" war schließlich auch hier ein Nullpunkt erreicht. Und auch hier war München wiederum die Stadt, in der mit dem ersten Deutschen

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Historikertag der Nachkriegszeit im September 1949 der Neuanfang gelang, wo mit einer deudichen Kritik an den „starken nationalistischen Tendenzen in der deutschen Geschichtsschreibung der letzten hundert Jahre" die dringend notwendige Um- und Neuorientierung begann. „Geschichte als Argument", das Rahmenthema des diesjährigen Deutschen Historikertags, ist vor diesem Hintergrund durchaus doppeldeutig zu verstehen: Es beinhaltet nicht nur den pädagogischen Aspekt des Aus-der-Geschichte-Lernens, sondern es kann und soll auch auf die Gefahren einer beliebigen Verfügbarkeit der Geschichte verweisen, einer Verfügbarkeit von „Geschichte als Argument", der sich gerade auch die Politik immer noch und immer wieder gerne bedient. Das Interesse, das München diesem 41. Deutschen Historikertag entgegenbringt, ist groß. Das zeigen auch die diversen eigenen Beiträge, mit denen staatliche und städtische Institutionen dieses Ereignis begleiten. Von selten der Stadt möchte ich besonders die Ausstellung herausheben, die das städtische Kulturreferat von heute an hier im Gasteig präsentiert. Der Titel ist dabei Programm: Es sind „Ansichten - vom Umgang mit Vergangenheit in München". Es ist eine Ausstellung, die zeigen will, wie die Landeshauptstadt München, insbesondere die Fachstelle Kommunale Geschichtsarbeitvcsx städtischen Kulturreferat, aber auch andere städtische Stellen, mit Geschichte umgehen. Es ist, wie ich meine, eine sehr gelungene Darstellung sowohl der Ziele der kommunalen Geschichtsarbeit in München als auch der Methoden und Wege, über die hier von unterschiedlichsten Ansätzen aus die Annäherung an städtische Geschichte versucht wird, auch an vergessene und verdrängte Themen, wie es etwa die unrühmliche Rolle Münchens in der NS-Zeit lange war. Als „Schlußlicht" wurde München früher oft bezeichnet, gerade wenn es um die Erforschung der jüngeren Stadtgeschichte ging. Gerade auch mit der vor sechs Jahren eingerichteten Kommunalen Geschichtsarbeit aber wurde dieses Defizit inzwischen sicher behoben. Die Ausstellung hier im Gasteig zum 41. Deutschen Historikertag ist dafür der beste Beweis. Ein besonderes Angebot, das pünktlich zum 41. Deutschen Historikertag vorgelegt werden kann, ist auch die vom Münchner Stadtarchiv in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv zusammengestellte Informationsschrift über die „Archive in München". Sie gibt einen Uberblick über historische Forschungsmöglichkeiten in München, gegliedert nach den einzelnen Fachgruppen des Vereins deutscher Archivare, wie es das so umfassend und in einer solchen Breite noch nie gab. Ich muß sagen, ich bin selbst überrascht, wie viele gute und erste Adressen es hier gibt in unserer Stadt, und ich begrüße es sehr, daß auch jederTeilnehmer des Historikertags ein Exemplar dieses Münchner Archivführers erhält. Besser und überzeugender könnte eine Werbung für Münchens Standortqualitäten als Zentrum der historischen Wissenschaft und Forschung kaum sein. Es ist eine Einladung an alle Historiker und historisch Interessierten, und ich schließe mich dieser Einladung gerne an, die Arbeitsmöglichkeiten, die ihnen die Mündiner Archive bieten, auch entsprechend zu nutzen. Doch fürs erste darf ich Sie heute zu dem städtischen Empfang einladen, den wir im Anschluß an diese Eröffnungsveranstaltung in den Foyers der Philharmonie geben. Damit heiße ich Sie noch einmal herzlich willkommen in München. Und damit wünsche ich dem 41. Deutschen Historikertag einen vollen Erfolg.

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Grußwort des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber Herr Bundespräsident, Herr Oberbürgermeister, Herr Professor Gall, meine sehr verehrten Damen, meine sehr verehrten Herren, namens des Freistaats Bayern begrüße ich Sie herzlich zum 41. Deutschen Historikertag in der bayerischen Landeshauptstadt, der Geburtsstadt des Deutschen Historikertages. Das Rahmenthema des diesjährigen Deutschen Historikertages lautet: „Geschichte als Argument". Eine glücklichere Formulierung hätte man für einen Historikertag, der im Freistaat Bayern veranstaltet wird, kaum finden können. Es erscheint dem Freistaat, der Tradition, in welcher er sich sieht, und dem Selbstverständnis seiner Bürger wie auf den Leib geschneidert: Denn Bayern legitimiert sich zu einem maßgeblichen Teil immer wieder auch historisch. Die altbayerische Tradition, wie die neubayerische seit Montgelas, verlangt immer wieder mit Nachdruck nach historischer Fundierung. Traditionsbewußtsein ist für uns ohne kreativen Umgang mit Geschichte nicht denkbar. Das gilt für ruhigere Zeiten ebenso wie für Zeiten der Gefährdung. Dies schlägt und schlug sich nieder in einer Fülle von geschichtlichen Darstellungen. Dabei ist diese erstaunliche Fülle seit den frühesten Zeiten nur zu begreifen mit dem Blick auf die staatspolitische Funktion, welche geschichtliches Denken in Bayern schon seit den ältesten Zeiten besitzt. Zur bayerischen Historiographie gehört ganz selbstverständlich das Bekenntnis zum bayerischen Staat als einer Ordnungsform, in der wir leben, weil sie uns gemäß ist. Dabei handelt es sich nicht um eine wertfreie, rein deskriptive Beschreibung gesellschaftlicher Formen und Kräfte. Denn Bayern ist für den bayerischen Historiker nicht nur ein Gefäß für gesellschaftliche Abstraktionen. Unser Land ist vielmehr für ihn immer zuerst die Heimat lebendiger Menschen. Auf diesen Nenner hat es Andreas Kraus in seiner Schrift „Bayerische Geschichtswissenschaft" gebracht. Geschichtliches Wissen ist Teil der bayerischen Identität. Quelle dieses Wissens ist eine bayerische Geschichtswissenschaft, die auf die Bildungsträger und Medien in Bayern einen nachhaltigen Einfluß ausüben kann, weil sie ein elementares Bedürfnis der Menschen unseres Landes nach Orientierung im geschichtlichen Raum befriedigt. Darum wird in Bayern Geschichte als eigenständiges Lehrfach an allen Schularten sein Profil behalten. Dies gilt grundsätzlich auch für die Hauptschule. Allerdings kommt hier im Interesse des praktischen Lernens eine stärkere Verknüpfung mit den Fächern Sozialkunde und Erdkunde in Betracht. Das hat sich ja auch in der Oberstufe der Gymnasien bewährt. Geschichte, vor allem bayerische Geschichte, so hat man den Eindruck, hat Konjunktur wie zu keiner Zeit vorher. Jeder von Ihnen kennt das Literaturspektrum, das unter der Vokabel „Bavarica" angeboten wird und in großen Zügen historisch ausgerichtet ist. Fernsehsendungen über historische Ereignisse und Entwicklungen erfreuen sich in Bayern seit

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Jahrzehnten zunehmender Beliebtheit. Ich erinnere etwa an die Reihe zur Sendlinger Mordweihnacht vom vergangenen Dezember. Historische Ausstellungen stoßen auf regen Zuspruch und setzen touristische Akzente, um die sich die Regionen Bayerns reißen. Bayern investiert auch in Zeiten knapper Kassen in Wissenschaft und Forschung. So kommen die Gewinne aus den Privatisierungserlösen zu einem erheblichen Teil der Wissenschafts- und Forschungsinfrastruktur unseres Landes zugute. Auch die Geschichtswissenschaft profitiert davon. Im kommenden Monat beginnen wir in München mit den Bauarbeiten für einen Geschichtskomplex der Ludwig-Maximilians-Universität. Die Kosten hierfür belaufen sich auf knapp 60 Millionen DM. Künftig werden dann alle Geschichtslehrstühle dieser Münchener Universität unter einem Dach vereint sein. I m Zuge der Baumaßnahmen können dann auch die bisher dezentral organisierten Bücherbestände der einzelnen Geschichtsinstitute zusammengeführt werden. Das Interesse unserer Bürger an historischer Bildung kann sich sehen lassen. Über 200 Geschichtsvereine verzeichnet unser Land. Mit weiteren 100, die nicht zentral erfaßt sind, muß man rechncn. In diesen Geschichtsvcreinen sind etwa 40 bis 50.000 bayerische Bürger integriert. Dabei handelt es sich um hochmotivierte Bürger, denen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes besonders am Herzen liegen. Mit einer Zahl läßt sich ganz generell das Interesse der bayerischen Bevölkerung an geschichtlichen Themen ausloten: Beim „Tag des offenen Denkmals" vor etwa zwei Wochen kam es landesweit zu etwa 500 Veranstaltungen, in deren Verlauf ca. 500.000 Bürger unseres Landes mobilisiert wurden. Bayerische Politik in Deutschland und Europa ist ohne Rückgriff auf die Geschichte, auf die historische Erfahrung und ohne immer wieder vorzunehmende Neuordnung und Neustrukturierung des historischen Wissens undenkbar. Was könnte das besser belegen als die aktuelle Diskussion um die deutsch-tschechische Erklärung? Eine einvemehmliche Bewertung gemeinsam erlebter Geschichte ist Voraussetzung für eine wirkliche Aussöhnung. Dazu sind wir auf einem guten Weg. Die deutsche Nation und die Vorstellung davon, was sie ausmacht, setzte Bayern und seine Politik spätestens seit der Romantik einem gewaltigen Legjtimierungsdruck aus. Das Verhältnis von Einheit und Vielfalt wurde zum politischen Problem bereits auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat. Heute ist unverkennbar, daß durch die vielfältigen Umbrüche, welche Bayern zumindest in seinem territorialen Bestand und in seinem Selbstverständnis im Vergleich zu den anderen Regionen Deutschlands immer wieder relativ unbeschadet überstanden hat, unser Land in eine Sonderposition gelangt ist. Das muß sich naturgemäß auch auf Bayerns Haltung zu zentralistischen Tendenzen innerhalb Deutschlands, aber auch gegenüber einem geeinten Europa auswirken. Europa versucht, sich ebenfalls historisch zu legitimieren. E2s tut sich aber, allen Bekenntnissen zur Vielfalt zum Trotz, in der praktischen Politik immer wieder schwer, dabei der einmaligen und originären Staatlichkeit der deutschen Länder gerecht zu werden. Es ist eine spezifische deutsche Erfahrung, daß gerade in Zeiten der Krise oder strukturellen Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft es immer wieder vor allem die dezentralen Kräfte waren, welche die Neustrukturierung und den Wiederaufbau in die Hand genommen und bewältigt haben. Das Reich gedieh in Deutschland vornehmlich auf der Grundlage der politischen, ökonomischen und sozialen Vorarbeit in den landesherrlichen Terri-

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torien. Insofern ist die darin zum Ausdruck kommende Variante des Subsidiaritätsprinzips nicht philosophischen Überlegungen entsprungen. Es handelt sich bei ihr vielmehr um ein Gestaltungsprinzip, das unser Land auch durch Nachdenken über das Werden der Staatlichkeit in Deutschland gewonnen hat. Das bedeutet aber in der Konsequenz, daß die Vision Europa und die Gestaltung des politischen Weges dorthin einer gründlichen Festigung durch die Diskussion und das Bewußtwerden nationaler und regionaler historisch gewachsener Eigenarten und Erfahrungswerte bedürfen. Wer neue europäische und deutsche Visionen aufzeigt und sie politisch ansteuert, der muß den Ländern nachweisen, daß sich dahinter ein praktischer Vorteil oder eine vitale Notwendigkeit für alle kleineren Einheiten, bis hin zu den einzelnen Menschen, verbirgt. Bayern will und soll in Deutschland und Europa als Staat handlungsfähig bleiben und als erkennbares staatliches Subjekt ein eigenes Profil bewahren. Darum hat unser Land auch ein ganz vitales Interesse, das historische Bewußtsein seiner Bürger zu pflegen und, wenn möglich, weiter zu heben, die Geschichtswissenschaft zu fördern und von ihren sachlichen und methodischen Fortschritten sowie von ihren generellen Erkenntnissen vom Menschen zu profitieren. Die Reformen des Grafen Montgelas haben vor nicht ganz 200 Jahren dem bayerischen Staat neue und für die damalige Zeit zukunftsweisende Grundlagen gegeben. Sie haben die Bevölkerung des Landes aus dem Status der Untertanen herausgeführt auf einen Weg, an dessen Ende der emanzipierte Staatsbürger stehen konnte. Ein Großteil dieser Reformen hatte über 200 Jahre Bestand und hat dem bayerischen Staat über 200 Jahre die Kraft gegeben, auch schwerste Krisen zu bestehen. Heute befinden wir uns mitten in einer ganz neuen Herausforderung, deren Dramatik wir noch nicht abschätzen und deren geschichdiches Ziel wir schon gar nicht erfassen können. Der globale Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte, die Globalisierung der Märkte und eine bisher unvorstellbare Vernetzung der Welt durch neue Datensysteme engen die Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Staaten immer weiter ein. Die bisher gegebene Souveränität der Staaten verblaßt. Sie erscheint manchen punktuell bereits in Auflösung. Relativ kleine Gruppen der Gesellschaft können die Chancen dieser Neustrukturierung der Welt nutzen und nutzen sie auch. Zurück bleiben hochkomplexc und aus diesem Grund zunehmend auch handlungsunfähige politische Ordnungen, die sich allmählich nicht mehr in der Lage sehen, bisher gewohnte staadiche Leistungen, etwa für Bildung, Daseinsvorsorge, soziale Sicherheit usw., zu erbringen. Wird das so weit führen, daß die staatlichen Ordnungen nicht einmal mehr die elementaren Dinge, die eine staatliche Ordnung überhaupt rechtfertigen, gewährleisten können? Zu denken wäre an inneren Frieden und ein Mindestmaß an existentieller Sicherung. Wird künftig nicht mehr das gemeine Wohl aller Staatsbürger im Mittelpunkt stehen, sondern das ökonomische Interesse global agierender Unternehmen und die politischen Zielsetzungen weltweiter Organisationen von Greenpeace bis Amnesty, welche die Geschicke der Welt und der Menschen bestimmen? Wie soll die Politik auf diese Herausforderungen reagieren? Kann sie sich dem augenscheinlichen Trend der ökonomischen Entwicklung überhaupt entziehen, an deren Ende vielleicht auch das Ende klassischer Staatspolitik stehen könnte?

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Niemand wird von der Geschichtswissenschaft schlüssige Antworten zur Lösung der Fragen unserer Zeit erwarten. Die Geschichtswissenschaft kann aber angesichts der uns bedrängenden Probleme ihren Gegenstand methodisch und inhaltlich so neu strukturieren, daß sich daraus generelle Handlungsmaximen für die Politik erschließen lassen. Geschichte ist nicht nur eine Wissenschaft vom Menschen in der ganzen Komplexität seiner sozialen, wirtschaftlichen, technologischen, psychologischen, politischen und kulturellen Bezüge. Sie ist immer auch für den Menschen da, indem sie eine Haltung erzeugen kann, aufgrund der er vernünftiger, humaner und vorausschauender zu planen und zu handeln in der Lage ist, als dies in der Vergangenheit möglich war. Die Politik braucht, will sie sich nicht dem blinden Zufall hingeben oder einer Ideologie verfallen, die Sicherung durch eine solide historische Retrospektive. Zivilisatorisch befindet sich Europa mitderweile in einer Höhenregion, die politische Fehler, wie sie vor allem in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts begangen wurden, nicht mehr verzeiht. Sie würden den Untergang Deutschlands und Europas bedeuten. Darum sind das historische Argument und der Dialog mit einer freien Geschichtswissenschaft heute wichtiger denn je. In diesem Sinne wünsche ich dem 41. Deutschen Historikertag einen recht ertragreichen Verlauf. Vor allem den Gästen von auswärts sollen die Tage hier in Bayern auch fruchtbare Eindrücke von unserem Land und seinen Menschen schenken.

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Rede des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland Prof. Dr. Roman Herzog I. Als ich das Motto Ihres diesjährigen Historikertages las: „Geschichte als Argument", da wurde mir doch ein bißchen schwummerig. Natürlich wird, nicht zuletzt in der Politik, immer wieder einmal mit der Geschichte argumentiert - ob mit mehr oder weniger Glück, will ich hier ganz offen lassen. Und gefährlich wird die Sache dadurch, daß der Rückgriff auf die Geschichte meist in solchen Momenten geschieht, in denen es um eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik geht, in denen also das Bedürfnis nach Orientierung besonders groß und die Berechenbarkeit der Zukunft besonders klein ist. Die Geschichte wird meist dann zum Argument, wenn man in einer Gegenwart nicht mehr so recht weiter weiß. Das alles wäre noch relativ leicht zu bewerkstelligen, wenn man mit dem alten Leopold von Ranke die Geschichte - oder besser: die Geschichtswissenschaft — noch als das Wissen darum betrachten könnte, „wie es gewesen ist". Aber auch das ist ja vorbei. Wir wissen längst von jener — gleichsam Heisenbergschen — Unschärferelation, die — wenn Sie mir diese fácherübergreifende Übertreibung gestatten - auch in der Historie gültig ist, nicht nur, weil in jeder geschichtlichen Phase unendlich viel geschieht, was nicht schriftlich festgehalten wird, auch nicht nur, weil das Wissen darum, wie die beteiligten Menschen ihre Zeit wirklich verstanden haben, immer bruchstückhaft sein wird, sondern vor allem, weil auch der objektivste Historiker die Fragen, die er an die Geschichte richtet, stets — zumindest auch — aus seiner eigenen Zeit und seinem eigenen Erfahrungshorizont nehmen wird. Und außerdem: Geschichte löst sich fast immer in die verschiedensten Perspektiven auf; man kann nicht nur Ereignisse, Entscheidungen und soziale Strukturen betrachten, sondern auch Personen, Mentalitäten und so weiter. Und je nachdem, welche von diesen Perspektiven man sich auswählt, wird sich auch die Geschichte anders darstellen. Wir erleben augenblicklich, ohne es recht zu bemerken, ein besonders aufregendes Beispiel solcher „unschärfebedingter" Blickwinkelverengung in den Diskussionen um die Gestalt des künftigen Europas, weil wir unsere Fragestellungenund Paradigmen ausschließlich aus den Kategorien des durchorganisierten Nationalstaates entnehmen. Bezögen wir andere historische Gebilde mit ein - entweder das Römische Reich vor Caracalla oder das britische Empire des 18. und 19. Jahrhunderts, vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gar nicht einmal zu sprechen —, so würde sich die Zahl der denkbaren Lösungsmöglichkeiten sprunghaft erhöhen — wie immer man sich dann auch entschiede. Sie merken, daß ich mich allmählich, wenn auch auf spiralenförmigen Wegen, der offenen Frage nähere, die sich in Ihrem Generalthema ebenfalls verbirgt: der alten und doch ewig jungen Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann. Ich möchte dazu nur drei Punkte erwähnen, von denen Sie zu Recht sagen werden, sie seien nicht neu, von denen ich meinerseits aber sagen muß, daß sie mein persönliches und auch mein politisches Denken und Verhalten seit langem mitbestimmen: Zunächst habe ich aus meiner Befassung mit der Geschichte etwas gelernt, was mich selbst bestimmt und was ich auch meinen — besonders den deutschen — Zeitgenossen vermitteln möchte. Lassen Sie es mich salopp sagen: Wer einige tausend Jahre Menschheitsgeschichte

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halbwegs überblickt, der ist mehr als alle anderen vor jener wuschelköpfigen Aufgeregtheit sicher, von der sich mancher Zeitgenosse so leicht und immer wieder erfassen läßt. Geschichtliches Wissen ist stets die Quelle jener Gelassenheit, die die eiste Voraussetzung für wirklich rationale politische Analysen und für rationales politisches Handeln sein sollte. Ein Zweites kommt hinzu: Aus der Geschichte lernen zu wollen bedeutet auch die Entschlossenheit oder zumindest die Bereitschaft, „es" in Gegenwart und Zukunft besser zu machen, sich seinen Aufgaben also nicht um kurzfristiger Effekte willen und aus augenblicklichen Affekten heraus zu stellen. Das soll auch mein einziger Beitrag zum Thema „Historikerstreit" sein. Mich interessieren hier nicht irgendwelche Zahlenspiele und Vergleiche, sondern die Konsequenzen, die wir daraus für die Zukunft und besonders gegenüber unseren Kindern und Enkeln zu ziehen haben. Und schließlich will ich beim Versuch, aus der Geschichte zu lernen, historische Zusammenhänge und Entwicklungen besser verstehen lernen — nicht um daraus zu schließen, daß sie sich auch in der Zukunft wieder so abspielen müssen, wohl aber um ihre Wiederholung für möglich zu halten und das in meine Überlegungen jederzeit einfließen zu lassen. Auch dazu nur ein Beispiel: Ich fühle mich in unserer Zeit mit ihrem Wohlstand und ihren relativ gesicherten demokratischen und rechtsstaatüdien Verhältnissen ausgesprochen wohl. Wenn mir der Blick auf den Globus und — eben — auf die Geschichte aber sagt, daß dieser Zustand erst seit rund zweihundert Jahren und überdies nur zu einem Bruchteil auf der Erde besteht, so muß ich daraus schließen, daß er, aufs ganze gesehen, nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme ist, daß man dafür dankbar sein soll, und daß man sich sehr bemühen muß, ihn auch noch länger zu erhalten. Ich kann freilich nicht behaupten, daß diese Erkenntnis in unseren Breiten heute Allgemeingut sei. II. Ich habe soeben davon gesprochen, daß die Frage nach der Geschichte und ihren Lehren meist in solchen Zeiten auftritt, in denen das Bedürfnis nach Orientierung deshalb besonders groß ist, weil die Zukunft besonders wenig berechenbar erscheint. Man verwendet dafür gern den Begriff „Umbruchzeiten", der mir allerdings etwas suspekt ist, weil ihm erstens eine gewisse, mir unangenehme Vollmundigkeit innewohnt, und weil man zweitens stets erst nach Ablauf einiger Menschenalter sagen kann, ob es seinerzeit wirklich zu Umbrüchen, also zu grundlegenden Neuorientierungen gekommen ist. Dennoch möchte ich in meinen folgenden Ausführungen diesen Maßstab versuchsweise an unsere Gegenwart anlegen. Ein Datum gibt hierfür den Anlaß. Ich denke dabei nicht an die Jahrhundert- oder Jahrtausendwende, die natürlich auch dazu einlädt, das Vergangene zu rekapitulieren und sich in Prophezeiungen für das Zukünftige zu ergehen. Aber wir stehen, was das Jahr 2000 betrifft, doch eher vor einem künstlichen Produkt unseres Kalenders — hätten wir Mondjahre, so läge die scheinbare Zäsur längst hinter uns. Ich denke an eine ganz andere geschichtliche Zäsur: nämlich das Jahr 1989. Mich beschäftigt die Frage: Was bedeutet dieses Jahr für die Geschichte? Und damit meine ich nicht nur die deutsche Geschichte, ich frage das ebenso für die europäische und für die globale Geschichte. Darauf gibt es natürlich schnelle Antworten. Aber damit würde ich Ihre Erwartungen in zweierlei Hinsicht nicht erfüllen: Erstens wäre meine Rede dann sehr schnell zu Ende,

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und zum anderen kennen Sie mich wohl als jemanden, der sich nicht immer mit einfachen Antworten zufrieden gibt. Gemeinhin wird gesagt, mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftsbereichs zwischen 1989 und 1991 sei der Kalte Krieg zu Ende gegangen und die Blöcke, in die die Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeteilt war, hätten sich aufgelöst. Aber ist das alles? In der Tat haben sich Polaritäten aufgelöst, die unser Jahrhundert geprägt haben. Es ist der Systemkonflikt des 20. Jahrhunderts zu Ende gegangen, der 1917 von der Russischen Revolution ausgelöst worden war. Es ist eine Antinomie aufgelöst worden, in der die Generationen dieses Jahrhunderts aufgewachsen sind und die — nach 1945 ins Globale erweitert — die Welt in zwei Lager gespalten hat. Erstmals hat sich die Idee der Freiheit weit verbreitet und fast unbestritten durchgesetzt. Noch nie war die Demokratie als Regierungsform in weiten Teilen der Welt so eindeutig anerkannt. Und nie war wohl auch die Zustimmung dazu größer, daß die Marktwirtschaft die Wirtschaftsordnung ist, die die Energien und den Einfallsreichtum der Menschen am unmittelbarsten und deshalb am sichersten in Wohlstand verwandelt. Nachdem aus Europa die schlimmsten Katastrophen in die Welt hineingetragen worden sind, ging 1989 ein positives Signal von ihm aus: der friedliche Freiheitswunsch von Millionen von Menschen. Seitdem — auch das ist klar — blickt die Welt auf Europa als Experimentierküche und fragt, ob und wie die neue Situation hier bewältigt wird — und nicht nur in bezug auf den Demokratisierungsprozeß oder auf die Erfahrungen mit der Marktwirtschaft, sondern auch in bezug auf die regionale, europäische Einigung - , die ja auch an vielen Stellen der Welt in der einen oder anderen Weise nachgeahmt zu werden beginnt. Der Gegensatz zwischen Ost und West beherrschte freilich nicht nur Politik und Wirtschaft. Er prägte ebenso die Gesellschaften und ihr Menschenbild. Vor allem aber beeinflußte er die Vorstellung von der Geschichte und die Erwartungen an die Zukunft. Meine erste Frage lautet also: Was bedeutet die Zäsur von 1989 für die Geschichte? 1989 bedeutet hier, daß geschlossene Geschichtsbilder widerlegt worden sind, wie sie der historische Materialismus im Osten, aber auch westliche Varianten des Historizismus und des ökonomischen Determinismus anboten. 1989 ist der beste Beleg für die Offenheit der Geschichte, dafür, daß es keine gesetzmäßigen Notwendigkeiten gibt, sondern daß Gegenwart und Zukunft zunächst einmal von den Menschen selbst abhängen. Ansätze, die die Offenheit und Dynamik der geschichtlichen Entwicklung negieren, gibt es ja immer wieder, auch heute noch. So etwa die Fiktion vom „Ende der Geschichte", die ja übrigens nicht Francis Fukuyama 'erfunden' hat, sondern die viel älter ist. Schon Arnold Gehlen brachte die Idee - wieder - ins Spiel, indem er die Gesellschaft als perfekt funktionierende Maschinerie prognostizierte, in der alle Entscheidungsprozesse absorbiert werden würden. In einem stationären gesellschaftlichen Endzustand wären Veränderungen, Reformen oder gar Revolutionen ausgeschlossen. Die Rolle der Geschichte würde sich somit auf, wie Gehlen es nannte, einen „stillen Sickerprozeß der Menschheit" reduzieren. Bedenklich an solchen Utopien ist zweierlei: Zum einen, daß der Faktor Mensch, sein Streben, seine Ideen, sein Wollen keinen Platz mehr finden. Als Ziel wird ein Zustand gesetzt, dem sich der Mensch nur noch als ausführendes Teil einfügt. Ein Modell aber, in

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dem die positiven und negativen Kapazitäten der Menschen eingeebnet werden, wird meines Erachtens kaum je zu verwirklichen sein. Verstehen Sie das bitte nicht als einen naiven Glauben an das Gute im Menschen, sondern als die Überzeugung, daß — ob zum Guten oder Schlechten - der Mensch sich letztlich nicht die Möglichkeit nehmen lassen wird, zu handeln, Neues aufzubauen, Dinge zu verändern, natürlich auch Fehler und Verbrechen zu begehen. Eine Utopie vom Ende der Geschichte, die in den Selbsdauf der Ereignisse übergeht, ist nicht nur eine Schreckensvision. Sie ist auch gefahrlich, weil sie keinen Platz für menschliches Handeln und menschliche Verantwortung mehr läßt. Solche Utopien sind im wahrsten Wortsinne verantwortungslos. Was das bedeutet, hat der historische Materialismus zur Genüge gezeigt. Inzwischen hat sich erwiesen, daß es solche Gesetze der Geschichte nicht gibt. Niemand kann daher auch mit Sicherheit die Zukunft vorhersagen. Deswegen sind wir gezwungen, uns weder auf vermeindich todsichere Prognosen zu verlassen, noch uns darauf zu verlassen, daß die Dinge schon ihren Lauf nehmen werden. Vor allem dürfen wir nicht den Fehler begehen, aus Abläufen der Vergangenheit auf notwendige und unvermeidliche künftige Entwicklungen zu schließen. Lassen Sie es mich mit Karl Raimund Popper sagen: „Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig." Vor diesem Hintergrund jetzt also nochmals die Frage: Was bedeutet das Jahr 1989 für die deutsche, europäische und globale Geschichte? Erstens: Zunächst zur deutschen Geschichte. Seit 1945 gab es für die Deutschen - und zwar weder im Osten noch im Westen — keine Daten, die zu „historischen Festpunkten" geworden wären. Aber auch eine Gesellschaft mit gebrochener Geschichte braucht „positive Orientierungspunkte". Sonst besteht die Gefahr für sie, in Geschichtslosigkeit oder gar Geschichtsfeindlichkeit zu verfallen. Das Jahr 1989 könnte, wenn ich recht sehe, erstmals zu einem solchen positiven Orientierungspunkt werden. In demselben Jahr, in dem die Bürger der Bundesrepublik eine vierzig Jahre währende stabile Demokratie feiern konnten, vollzogen die Menschen der DDR die erste unblutige und dennoch erfolgreiche Revolution der deutschen Geschichte mit demokratischer Zielsetzung. 1989 kann — wenn wir das nur wollen — in die Geschichte daher als ein erinnerungswürdiges Datum für die doppelte demokratische Bewährung der Deutschen eingehen. Wir sollten das bei Gott nicht unterschätzen. Noch ein weiteres ist mir dabei wichtig: Die Deutschen haben 1989 auch einen Anfangspunkt für eine positive Geschichtsaneignung gesetzt. Nach 1945 waren es die negativen Lektionen des 'Dritten Reiches', die die Generationen darauf verpflichteten, es „besser zu machen". Mit 1989 ist diese Verpflichtung zwar keineswegs erloschen, es ist aber eine weitere dazu gekommen: der Wille, Opfer zu bringen, die Bereitschaft, etwas zu riskieren, die Motivation, etwas Neues aufzubauen, der Mut, sich von Gewohntem zu verabschieden in der Hoffnung, etwas Besseres zu schaffen. Das sind die positiven Lektionen von 1989. Oder sie könnten es zumindest sein, wenn wir nur zu klagen aufhörten und es nur wollen. Und eine weitere positive Botschaft ging von diesem Jahr aus: In den anderen Staaten hatte man die Wiederkehr eines neuen deutschen Nationalismus befürchtet. Gestaunt hat man dann aber über etwas ganz anderes — und man tut es heute noch, wie ich es bei unzähligen Reisen erfahren kann —: über die Solidarität, die Leistungsbereitschaft und die

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Leistungsfähigkeit der Deutschen — das sehen nur wir selbst oft anders. Und gestaunt hat man auch über das Ausbleiben jeglicher nationalistischer Töne. Daß Deutschland sich nicht einen Deut von jener Position wegbewegt hat, auf die sich die internationale Gemeinschaft jahrzehntelang hatte verlassen können, das war sozusagen die positive Lektion nach außen. Freilich gibt es Menschen, die so etwas wie das Fehlen eines neuen Nationalgefühls bemängeln. Ich teile diese Meinung nur bedingt. Gewiß — an Patriotismus möchte auch ich mich von niemand übertreffen lassen, und wenn ich unseren Staat im Ausland vertrete, kommt es mir entscheidend darauf an, meinen Gesprächspartnern auch das Selbstbewußtsein zu vermitteln, das dieser neue deutsche Staat für sich in Anspruch nehmen kann. Dieses Selbstbewußtsein ist begründet, und mir geht es dabei nicht in erster Linie um unsere wirtschaftliche Prosperität, sondern u m die Leistung, die darin besteht, daß es uns gelungen ist, nach furchtbaren Untaten und einem entsetzlichen Zusammenbruch ein friedliches und demokratisches Deutschland aufzubauen, das mit seinen Nachbarn in gutem Einvernehmen steht, das ihnen Vertrauen entgegenbringt und von ihnen auch wieder Vertrauen erfährt, das seine Rolle in der Welt als Helfer in schwierigen Situationen, als Quelle kultureller Leistungen und zunehmend auch als redlicher Makler in der Weltpolitik spielt und das sich von den schlimmen Teilen seiner Vergangenheit weder durch Herunterspielen des damals Geschehenen noch durch den dauernden Hinweis auf die Fehler anderer hinwegzustehlen versucht; denn auch die Angst vor dem Blick auf eigene Fehlleistungen in der Geschichte und Verbrechen in der Geschichte ist eine Form der Feigheit, die keinem auf die Dauer Ehre einbringt. Mehr und mehr werden die Völker nach ihren Leistungen für die Welt beurteilt — und nicht danach, wie sehr sie in sich selbst verliebt sind. Und das ist gut so. 1989 bedeutet außerdem auch, daß sich zwei zeitgeschichtliche Kapitel allmählich schließen und in den Zustand der Geschichte übergehen: das Kapitel der kommunistischen Diktatur in der DDR und das Kapitel der Bonner Republik. Nostalgien und der verklärte Blick zurück sind auf der einen wie auf der anderen Seite falsch. 1989 fand sozusagen auch die Vereinigung der deutschen Nachkriegsgeschichten statt. Das heißt aber wiederum: Wir werden uns sowohl in der Verantwortung für die Geschichte einigen müssen als auch in der Verpflichtung für die Zukunft. Z w e i t e n s : Was bedeutet 1989 für den Nationalstaat und für Europa? Nicht nur in bezug auf Deutschland, auch für Europa reiht sich die Jahreszahl 1989 hinter zwei anderen Zahlen ein, nämlich 1918 und 1945. Mit diesen Fixpunkten im Blick erkennen wir leicht die besondere Bedeutung des Jahres 1989: daß es nämlich erstmals in der Geschichte Europas einen Konsens über den Wert von Freiheit und Demokratie gibt. Wie es ein deutscher Historiker einmal ausdrückte, ist nach der „Zwiefalt des kalten Krieges und nach der Einfalt der kommunistischen Diktaturen endlich die Vielfalt Europas, seines Denkens und seiner Wertewelt wieder möglich." Aber auch solchen neuen Konstellationen können alte Gefahren innewohnen: So erleben wir, daß nationalstaatliche Konflikte den Aufbauprozeß von Demokratien gefährden. Es scheinen zwei große Strömungen miteinander zu ringen: einerseits die zunehmende internationale Verflechtung und die Globalisierung der Märkte und der Politik, andererseits das, was man in Europa die Renaissance der Nation nennt. Es heißt, die Nation stehe wieder im Zentrum der politischen Debatte. Das wird zunächst bestätigt durch das Auf-

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kommen von nationalen und nationalistischen Bewegungen in vielen Teilen Europas seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die schlimmsten Auswirkungen des übersteigerten Nationalismus haben wir im ehemaligen Jugoslawien miterlebt. Zunächst war es ja nur natürlich, daß gerade die Osteuropäer nach dem Wegfall der kulturnivellierenden marxistischen Doktrin die Nation wieder als Symbol der Freiheit und als Leuchtturm für geistige Orientierung verstanden haben. Leider hat sich das dann zum Teil in die bekannten Extreme übersteigert. Unsicherheiten sind nach so tiefgreifenden und vor allem rasanten Umbrüchen verständlich. O b es sich um den vom kommunistischen Joch befreiten Osten Europas handelt oder um den Westen Europas, dem sein Feindbild im Osten verloren gegangen ist, ob es sich um den Norden der Welt handelt, der seine industriellen und sozialen Strukturen dem technischen Wandel und der Globalisierung der Wirtschaft anpassen muß oder um den Süden der Welt, der befürchtet, daß er bei diesem Prozeß überhaupt vergessen wird — meines Erachtens geht es insgesamt um die Suche nach neuer Orientierung. D a s Ziel für uns liegt aber fest: Europa. Wir stehen an einem Epochenwcchsel. Das Prinzip der Abgrenzung, aus dem im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten entstanden, taugt heute ebensowenig mehr wie das der Expansion, das ja auch mit dem Nationalstaat verbunden war. Wir sind am Ende dieses Jahrhunderts dabei, die nationalstaatliche Form zu überwinden, die in ihrer ideologischen Übersteigerung den Kontinent in den Abgrund gezogen hat. Ich sage bewußt, der Nationalstaat ist dabei, sich zu verabschieden, nicht die Nation. Ich sehe es noch lange nicht kommen, daß die Nationen verschwinden, auch wenn kluge Männer wie Ernest Renan oder Ernest Gellner völlig zu Recht darauf hingewiesen haben, daß die Periode der Nation in der Weltgeschichte nur einen ziemlich kleinen Zeitraum einnimmt und daß Nationen keine „natürliche, Gott gegebene Art der Klassifizierung von Menschen" (Ernest Gellner) sind. Und solang die Nationen bestehen, solang werden sie natürlich auch in ihren eigenen Staaten leben. Der „Nationalstaat" mit den dazugehörigen Souveränitätsvorstellungen hat sich jedoch überlebt. Im 19. Jahrhundert gab es zwei Kriterien für diese Nationalstaatlichkeit: Zum einen das militärische Potential - das sowohl zur Verteidigung des eigenen als auch zur Eroberung anderen Territoriums dienen sollte — und zum anderen das wirtschaftliche Potential. Beides gilt längst nicht mehr: Kein Staat kann heute mehr seine Bevölkerung oder sein Gebiet aus eigener Kraft schützen, ob militärisch oder umweltpolitisch. Und autonome Wirtschaftspolitik kann er auch nicht mehr betreiben. Als impermeables Gebilde im Stil des letzten Jahrhunderts gibt es den „Nationalstaat" also nicht mehr, und um ganz deutlich zu werden, es sollte ihn auch nicht mehr geben. Er ist dabei, zu klein zu werden für die großen Probleme des Lebens und zu groß für die kleinen. Das sehen wir doch täglich: Der Weg in die Zukunft kann für uns nur lauten — Europa. Robert Schumann hat einmal gesagt: „ D e n Nationalismus der anderen können wir nicht widerlegen, wenn wir ihm unseren eigenen Nationalismus gegenüberstellen." Die Europäische Union muß daher weiterhin ein Beispiel dafür bleiben, daß das Prinzip der Einbindung mehr Stabilität garantiert als das des „balance of power" und daß Integration zukunftsträchtiger ist als Abspaltung. E s wäre absurd, wenn Europa die Strategie der Integration gerade in dem Moment vergessen würde, in dem der Rest der Welt beginnt, sie von ihm zu lernen. Und es wäre ebenso absurd, wenn nach fünfzig Jahren künstlicher und

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erzwungener Trennung zwischen Ost- und Westeuropa nicht das gemeinsame europäische Erbe in den Vordergrund rückte, sondern das Nationale. Und auch das muß klar sein: Mit Europa kann weder ein bürokratischer Superstaat noch eine bloße Freihandelszone gemeint sein. Es gibt also dementsprechend auch zwei Gefahren für die europäische Zukunft: Wenn die Europäische Union nicht bürgernah gestaltet wird, spielt sie denjenigen die besten Argumente in die Hand, die zurück zum Nationalstaat wollen. Und fehlende Einigkeit innerhalb der Union kommt ebenfalls nur den Verfechtern des Nationalstaats zugute. Hier liegen Aufgaben für eine funktionsfähige, demokratisch verfaßte europäische Gemeinschaft, die wir noch lange nicht erledigt haben. Drittens: Lassen Sie mich schließlich zur globalen Ebene kommen: In einer Zeit, in der sich das nationalstaatliche Prinzip überlebt hat, in der es keine Nationalökonomie mehr gibt, sondern Weltwirtschaft, hat auch Nationalgeschichte keinen Sinn mehr, jedenfalls nicht allein. Nationale Geschichtsschreibung, wie sie im 19. Jahrhundert betrieben wurde — nämlich um den Nationalstaat zu befördern - kann uns heute nicht mehr dienen. Die Geschichtswissenschaft muß sich in besonderem Maße um die Geschichte der europäischen und außereuropäischen Länder kümmern, aber nicht additiv, sondern integrativ. Nötig ist dabei nicht nur eine Summe von Nationalgeschichten, sondern auch Kontinental- und Weltgeschichte. Im Zeitalter der wirtschafdichen und politischen Globalisierung kommen, gleichsam antizyklisch, kulturelle Individualitäten wieder zum Tragen, die wir — durch unsere Sicht der Dinge - längst für erledigt oder wenigstens für überlagert gehalten haben; ich erwähne nur Phänomene wie Islam, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Ich will den Szenenwechsel, den wir hier beobachten, weder im einzelnen darstellen noch in allen Konsequenzen analysieren. Aber es gibt doch einige Folgerungen, die ich wenigstens anreißen möchte: Um in diesem neuen Konzert der Weltregionen bestehen zu können, braucht Europa dringender als je den Zusammenschluß und eine in sich geschlossene Weltpolitik. Europa muß sich seiner selbst wieder bewußter werden, und das gilt nicht nur für die ökonomische und technologische Konkurrenzfähigkeit, die hier immer gleich zitiert wird, sondern es gilt ganz besonders für die tragenden Säulen seiner Kultur und seiner Gesellschaftsordnungen: Wert des Individuums, Freiheit, Humanität und so weiter. Es gilt — ganz allgemein — für den Denk- und Lebensstil, den Europa in Jahrhunderten herausgebildet hat und für den es, soweit ich sehe, nicht einmal einen überzeugenden Ausdruck gibt; es ist vielleicht ganz bezeichnend, daß sich mir in diesem Zusammenhang immer sogleich der amerikanische Ausdruck „way of life" auf die Zunge drängt. Soll sich das Verhältnis zu den anderen Regionen der Welt friedlich gestalten, so benötigen wir freilich noch mehr. Wir müssen mehr voneinander wissen. Ohne gegenseitiges Wissen gibt es kein Verständnis, keinen Respekt und auch kein Zusammenleben. Die Geschichtswissenschaft muß hier sozusagen die Avantgarde werden, die dieses Thema gerade auch in den Schulen auf den Tisch bringt. Schon dort muß das Interesse für andere Geschichten, für andere Regionen, für andere Philosophien geweckt werden. Wenn die nationale Geschichtsschreibung den Nationalstaat befördern konnte, warum soll dann nicht eine global denkende Geschichtsforschung die weltgeschichtliche Offenheit unterstützen können?

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Wir brauchen also auch viel mehr Geschichtswissenschaftler, die sich mit Lateinamerika, Asien, Afrika, ja selbst Nord-Amerika beschäftigen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Historiker oder Zeitgeschichtler, die sich jenen Regionen widmen, bei uns selbst noch als Exoten betrachtet werden. Dabei müßte es heute eigentlich umgekehrt sein. Aber ich weiß ja, solche Leute brauchen eine Stelle, und wenn das Geld knapp wird, dann spart man als erstes an Einrichtungen, die sich mit dem beschäftigen, was Goethe einst in seinem „Faust" als „hinten weit in der Türkei" beschrieb. Das ist freilich ein Argument aus der Zeit der Postkutsche - heute gibt es keine „weit entfernten Regionen" mehr. Montesquieu hat es schon in seiner Zeit auf den Punkt gebracht: „Wenn ich etwas wüßte, das nützlich für mich, für meine Familie aber schädlich wäre, würde ich es mir aus dem Kopf schlagen. Wenn ich etwas wüßte, das für meine Familie nützlich wäre, nicht aber für mein Vaterland, würde ich versuchen, es zu vergesssen. Wenn ich etwas wüßte, das nützlich für mein Vaterland, für Europa und die Menschheit aber schädlich wäre, würde ich es als Verbrechen betrachten." Diese Einsicht ist jetzt über 200 Jahre alt. Aber sie ist offenbar immer wieder neu, und es lohnt sich, für ihre Verbreitung zu sorgen. Dabei könnten die Historiker helfen.

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Sektionen Diachronisch übergreifend 1. MythenMächte — Mythen als Argument? Leitung: Anette λ/ölkjir-Vuisor (München)/ Wolfgang Schmale (München) Anette

Völker-Rasor(München):

Einführung: Mythos. Vom neuen Arbeiten mit einem alten Begriff Beate Wagner-Hasel (Basel): Antike Mythologie — Mythos Antike. Zur Funktion von Gegenbildern der Moderne Wolfgang Weber (Augsburg): Mythos und Historiographie: Zur Dialektik und Pragmatik der Geschichtswissenschaft Gita Dharampal-Fmk (Augsburg): „Rämaräjya": Mythopolitik und nationale Identität in Indien Matthias Waechter (Freiburg): MythenMächte amerikanischen Geschichtsbewußtsein: Der Frontier-Mythos Wolfgang Schmale im (München): Scheitert Europa an seinem Mythendefizit? Veröffentlichungshinweis. Die überarbeiteten Sektionsbeiträge sind gemeinsam publiziert in: MythenMächte, hg. v. Berlin 1 9 9 7 .

WOLFGANG SCHMAI.F. U. ANETTE VÖLKF.R-RASOR,

Anette Völker-Buisor (München)

Einführung: Mythos. Vom neuen Arbeiten mit einem alten Begriff Das Rahmenthema des Historikertages, „Geschichte als Argument", könnte mit einem Punkt versehen werden, denn laut Geleitwort des Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands, Prof. Dr. Lothar Gall, zum Tagungsprogramm wird „das Gewicht geschichtlicher Erfahrungen, Traditionen und Erinnerungen inzwischen von kaum jemandem mehr ernsthaft bestritten". Den Gegensatz schlechthin zur „Geschichte als Argument" bildet der „Mythos als Argument", der zunehmend für die verschiedensten Erscheinungen in Publizistik wie Geschichtswissenschaft in Anspruch genommen wird. Diesen Befund griff die Sektion auf, wobei sie ihr Thema jedoch statt mit einem Punkt mit einem Fragezeichen versieht. Zu besprechen ist nämlich, was zum Mythos erklärt wird, wie solcher wirkt, wie er dekonstruiert wird und was neu zu konstruieren ist. Dabei lag der Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf den „MythenMächten", lassen sich doch zweierlei Gebrauchsformen des Mythos voneinander unterscheiden: Traditionell

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bezeichnet der „Mythos" Geschichten, die erzählbar sind und einen allegorischen Kern enthalten. Als „Mythos" jedoch werden neuerdings auch Phänomene bezeichnet, die in diffuser Weise in Erscheinung treten und mithin schwer beschreibbar sind. Können im ersten Sinne des Begriffs mythische Stoffe untersucht werden, die einer ideologischen Nutzung zugeführt wurden und sich Machtmythen nennen ließen, so bilden im zweiten Sinne den Untersuchungsgegenstand die Mächte von Mythen, die allein aufgrund ihrer Wirkung als solche ins Bewußtsein treten - Mächte in der Wortzusammensetzung groß geschrieben, um die vorrangige Konzentration auf das Funktionieren derselben zu unterstreichen. Damit wird bereits deutlich, daß es den Mythos in gleicherweise als Objekt der Wissenschaft gibt wie auch als ihr Produkt. Wo Personen wie etwa Ludwig XIV., Beethoven, Mussolini oder Bismarck, wo Abstraktes wie etwa das Reich oder die Nation, wo schließlich Konkretes wie etwa die Bastille als Mythos gehandelt werden, da dreht es sich immer um Mythen, die die Geschichte hervorgebracht hat. Wo jedoch von einem Phänomen wie z.B. dem Absolutismus die Rede ist, da handelt es sich um einen Mythos, den die Wissenschaft von der Geschichte produziert hat. In diesem Fall kann die Untersuchung nicht bei der Klärung des Funktionierens von Mythen stehenbleiben, sie betreibt vielmehr im selben Moment die Dekonstruktion ihres Objektes - was freilich die Frage nach einer neuen Konstruktion von Geschichte aufwirft, die ihrerseits über denVerdacht neuer Mythenhaftigkeit erhaben sein sollte. Und damit ist schließlich als innerster Problemkreis des Themas das Verhältnis zwischen Mythos und Wissenschaft angesprochen. In der europäischen Mythosforschung des 19. und 20. Jahrhunderts wurde dem Mythos durchgängig das Irrationale zugeordnet und das Rationale in Gestalt des Logos und der Vernunft ihm gegenübergestellt. Alle Theorie kreiste um die Frage, ob das mythische Denken dem wissenschaftlichen vorausgehe oder ihm gleichwertig sei. Damit wurde umgekehrt eine Vorstellung aufgebaut, die die Sektion als „Mythos von der rationalen Wissenschaft" zu hinterfragen anstrebte. Wurde dem in den ersten beiden Beiträgen theoretisch orientiert aus der Sicht der Alten Geschichte (Beate Wagner-Hase/) wie der Neueren Geschichte ( W o l f g a n g Weber) nachgegangen, so wurde mit den beiden folgenden Beiträgen praktisch orientiert ein Bogen von einem östlichen Beispiel aus Indien (Gita Dbarampal-Tnck) zu einem westlichen Beispiel aus Amerika (Matthias Waechtei) gespannt, um schließlich mit der Frage nach einem Mythendefizit zum europäischen Kontext {Wolfgang Schmalè) zurückzukehren. Indem ausgehend vom Mythos als dem Gegenstück zur Geschichte gängige Zuschreibungen von Irrationalem und Rationalem hinterfragt wurden, setzte sich die Sektion auch kritisch auseinander mit den Begriffen „Geschichte" und „Argument", deren Koppelung wie schließlich dem ungeschriebenen Punkt.

Beate Wagner-Hasel (Basel)

Antike Mythologie — Mythos Antike. Zur Funktion von Gegenbildern der Moderne „Handels- und Capitalistengewäsch". So lautet das Urteil des Basler Altertumswissenschaftlers J.J. Bachofen im Jahre 1 8 6 2 über THEODOR MOMMSENS „Römische Geschichte", die gerade in dritter Auflage erschienen war. „Besonders ekelhaft ist", so Bachofen, „die Rückführung Roms auf die I„ieblingsideen des flachsten modernen Preußischen Kammer-

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Liberalismus. Die einzige bewegende Kraft ist Handel und Wandel. (...) Die ganze moderne Zeit in ihrer preußischen verbissenen hohlen Demagogie liegt jetzt in diesem Buche" (J.J. BACHOFEN, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 262 u. 252). Die Kritik an dem projektiven Umgang mit der Antike, der die gegenwärtige Altertumswissenschaft durchaus folgen dürfte, hatte mitnichten einen ökonomischen Gegenentwurf zur Folge. Nicht in der Ökonomie, sondern in der Religion sah der Basler Patrizier die einzig bewegende Kraft der Geschichte. Auf der Basis der antiken Mythologie entwarf er das Bild einer gynaikokratischen Urkultur, das selbst wiederum mythische Qualitäten besitzt, insofern es aus Widersprüchen, Defiziten und Ängsten der Moderne zusammengesetzt ist (vgl. Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, hg. v. BEATE W A G N E R H A S E L , Darmstadt 1992, S. 295 ff.). Die Debatte um die Modernität der antiken Wirtschaft wurde erst eine Generation später, um die Jahrhundertwende, von dem Althistoriker und Nationalökonomen K A R L BÜCHER entfacht. Dieser schrieb gerade dem von Bachofen gegeißelten Handel eine marginale Rolle in der antiken Ökonomie zu. Aber auch dieser ökonomische Gegenentwurf mündete in die Utopie, die das Defizitäre der modernen Ökonomie enthält: zunächst nicht als Alternative in der Zeit, in der Antike, sondern als Alternative im Raum, in der Südsee. BRONISLAW MALINOWSKIS „The Argonauts of the Western Pacific" (1922) und M A R C E L M A U S S ' „Essai sur le don" (1925) stellen Weiterführungen der von Bücher entwickelten Ideen dar und enthalten jenen utopischen Uberhang, der die außereuropäischen Ökonomien zu Gegenbildern des modernen Kapitalismus gerinnen läßt. Frei von Gewinnorientierung gehorcht ihnen zufolge der Austausch von Gütern nicht ökonomischen, sondern sozialen Zwecken. Über den Umweg der Ethnologie hat dieses alternative ökonomische Konzept seit den 80er Jahren Eingang in die altertumswissenschaftliche Forschung gefunden. Der Vortrag zeichnete den Weg der Debatte nach und fragte, welches der Moment ist, an dem eine wissenschafdiche Konzeption in Mythologie umschlägt und welche spezifische Rolle der antiken Mythologie bei der Entwicklung solcher Gegenbilder der Moderne zukommt. Wolfgang Weber (Augsburg)

Mythos und Historiographie: Zur Dialektik und Pragmatik der Geschichtswissenschaft Zielsetzung des Referates war es, die exemplarischen Analysen der übrigen Sektionsteilnehmer wissenschaftstheoretisch zu ergänzen und zu bündeln, um auf diese Weise grundsätzlichere Erörterungen zu ermöglichen. Im Vortrag kam zu diesem Zweck auch eine graphische Darstellung der wichtigsten Problemdimensionen zum Einsatz. Herkömmlicher Mehrheitsauffassung der Historiker zufolge hat Geschichtswissenschaft nur in einer Hinsicht und in einer Form mit dem Mythos bzw. mit Mythen zu tun: Mythen können, soweit ihnen in einem bestimmten Kontext Geschichtsmächtigkeit zugeschrieben werden kann, Objekte der Geschichtswissenschaft darstellen. Die Befassung mit ihnen ist dann stets kritisch und destruktiv, bzw. soll es sein. Ihr historischer Wahrheitsgehalt soll überprüft, gegebenenfalls ihre Fiktionalität erwiesen werden. Mythen erscheinen dementsprechend als Untergruppe der umfassenden Klasse gar nicht oder nur teilweise bzw. verzerrt empiriebasierter, nichtsdestotrotz verhaltenssteuemder Vorstellungen, nämlich der

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Ideologien. Wissenschaftliche Historiographie und Mythos (Ideologie) bzw. Mythographie stehen in einem unüberbrückbaren, antagonistischen Verhältnis zueinander; das eine schließt das andere aus. Diese Auffassung erweist sich als höchst ergänzungsbedürftig bei Beachtung einerseits der Voraussetzungen und Verwertungszusammenhänge staatlich alimentierter wissenschaftlicher Befassung mit Geschichte, andererseits der Dialektik derartiger wissenschaftlicher Produktion geschichtlichen Wissens. Zumindest sechs entsprechende Grundprobleme sind zu notieren. 1. Obwohl viele Historiker auch heute noch gegenteilige Illusionen hegen, kann nicht mit einem phasenweise zwar vielleicht mehr oder weniger ausgeprägten, prinzipiell aber durchgehend vorhandenen gesamtgesellschafdichen Bedürfnis nach wissenschaftlich erarbeitetem historischem Wissen bzw. entsprechend fundierter historischer Orientierung gerechnet werden. Vielmehr ist das mögliche und tatsächliche Auftreten von Perioden ausrinnenden Bedürfnisses nach wissenschaftlicher Geschichtskenntnis oder gar vollständigen Verschwindens nennenswerten Geschichtsinteresses einzuräumen. Dieses Interesse ist nämlich nicht sozusagen ontologisch vorgegeben, sondern kulturell an bestimmte soziale Gruppen gebunden, deren hierarchische Position und Einfluß in den jeweiligen Gesellschaften historisch schwankt, die mithin von anderen Gruppen mit z.B. dezidiert gegenwarts- und/oder zukunftsbezogener Orientierung abgelöst werden können. Zu den wirkungsvollsten Mächten der (Rück-)Gewinnung und Steigerung gesellschafdichen Interesses an der Vergangenheit gehört jedoch erwiesenermaßen der Mythos. Mit anderen Worten, der — sich nach herkömmlicher Auffassung außerhalb der Geschichtswissenschaft, in einem komplexen Prozeß politisch-kultureller Kräfte formierende — Mythos zählt wesentlich zu den Bedingungen der Existenz und gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz und Resonanz wissenschaftlicher bzw. disziplinär-universitärer Geschichtsbefassung. 2. Die Wirkung des Mythos beschränkt sich aber nicht darauf, ein allgemeines gesellschaftliches Interesse nach Geschichte hervorzurufen oder zu verstärken und damit gegebenenfalls die Begründung, Alimentierung und den Ausbau wissenschafdich-disziplinärer Geschichtsbefassung zu ermöglichen bzw. zu intensivieren. Darüber hinaus und wissenschaftsintern entscheidend ist dem Mythos vielmehr problemaufwerfende und damit themenbestimmende und interesseleitende Wirkung auf die Geschichtswissenschaft zuzuschreiben. Gesellschaftlich-kulturell produzierte Mythen greifen damit — besonders häufig in Verbindung mit entsprechenden Jubiläen - in den Selbststeuerungsprozeß der Geschichtswissenschaft ein, der trotz konsumtiver, engster Verkoppelung von Historiographie und Gesellschaft von Anfang an postuliert wurde und gerade nach heute (noch) vorherrschendem, szientisdschem Wissenschaftsverständnis als Ausweis eigentlicher Wissenschaftlichkeit gilt. 3. Zur hohen Relevanz des Mythos sozusagen an der Input-Systemstelle der Historiographie tritt eine hohe Relevanzpotentialität im Output, an der Funktionsbestimmung bzw. Funktionswahrnehmung historiographischer Produktion. Je material-konstruktiver die Funktion der Geschichtswissenschaft definiert ist, so vor allem im Fall der Zuweisung der Aufgabe kollektiver (im Regelfall bisher: nationaler) Identitätsstiftung, desto stärker liegt es in der Logik dieser Funktionsbestimmung, einerseits in der wissenschaftlichen Destruktion funktional als positiv einzuschätzender Mythen (im französischen Beispiel etwa des Mythos der Revolution von 1789) Zurückhaltung zu üben, und sich andererseits im Interesse der übergeordneten Zwecksetzung der Historiographie die orientierende, konditionierende und mobilisierende Kraft derartiger Mythen zu bewahren. Eine regelmäßige Lö-

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sung dieses Dilemmas zwischen rücksichtsloser Wissenschaftlichkeit und gesellschaftlichpolitisch-kultureller Verpflichtung liegt in der Praxis doppelter Buchführung, d.h. unterschiedlicher Akzentsetzung im innerfachlichen und öffentlichen Befundbericht bzw. Deutungsangebot. Andererseits kann der Verzicht auf Mythenkritik und -destruktion sogar in produktive Anpassung an den gesellschafdichen Mythenbedarf umschlagen, sei es in Gestalt bewußter Unterstützung (Stabilisierung, Legitimierung, Immunisierung) vorhandener funktionaler Mythen in der Öffentlichkeit, sei es in Form bewußter, halb bewußter oder unbewußter eigener Mythenproduktion. Historiographie ginge an dieser Stelle gegebenenfalls direkt in Mythographie über. 4. Ihren angeeigneten bzw. zugeschriebenen gesellschaftlichen Funktionen nachzukommen ist der Geschichtswissenschaft nur möglich, wenn sie sich in ihrer Gesellschaft entsprechende Glaubwürdigkeit und Akzeptanz aufbauen bzw. bewahren kann. Zu diesem Zweck hat sie sich eigene Mythen und Ideologien geschaffen, deren eigentlich erforderliche offene kritische Destruktion lange stillschweigend suspendiert oder nur halbherzig betrieben worden ist. Hierher gehört etwa auf wissenschaftstheoretisch-geschichtsphilosophischer Ebene die von THOMAS NIPPF.RDKY der historistischen Historiographie als Leistung angerechnete Zerstörung „der Kryptometaphysik der Historiker ..., daß es Tendenzen gebe, die in irgend einem Sinne mit dem mythologisierten Willen der Geschichte zu tun hätten", oder im historisch-empirisch-wissenschaftsgeschichtlichen Bereich der historistische Mythos der Stiftung der wissenschaftlichen Historiographie durch die deutschen Genies des 19. Jahrhunderts Niebuhr, Ranke und Droysen, den wiederum die antihistoristisch-sozialwissenschaftlich-kritische Geschichtswissenschaft durch den Mythos der Wissenschaftsgründung bereits durch große Aufklärungshistoriker ersetzen möchte. 5. ist auf die unaufhebbare Mythenanfälligkeit der an die Quellen herangetragenen impliziten und expliziten Deutungskonzepte (Theorien) und damit der aus der quellenbezogenen Erkenntnisarbeit resultierenden historiographischen Befunde noch vor deren gegebenenfalls ausdrücklichen Verkoppelung mit bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Deutungsbedürfnissen hinzuweisen: 'Vollständig' historisch-empirisch belegte und 'streng' logisch-rational zumindest für eine mittlere Untersuchungsebene abstrahierte bzw. generalisierte, dabei umfassend erkenntnisträchtige Theorien dürfte es in der praktischen geschichtswissenschaftlichen Arbeit nicht und nirgends geben. Diese Theorien sind vielmehr unausweichlich produziert und werden rezipiert im Kontext lebensweltlicher Wahrnehmungen und Vorannahmen. Je unmittelbarer lebensweltlich-erfahrungsbezogene Wahrnehmungen und Annahmen zum Einsatz kommen, desto höher ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß sie u.a. auch von Mythen beeinflußt sind bzw. Elemente derartiger Mythen integrieren und reproduzieren. 6. Schließlich, aber keineswegs zuletzt ist angesichts der Einwirkung des „linguistic turn" auf alle Geisteswissenschaften die Problematik der Verwandtheit von Mythos und Historiographie in deren jeweiliger Narrativität zu erwähnen. Mythen sind nach geläufiger Definition grundsätzlich um historische Figuren, Flreignisse und Entwicklungen zugeschriebener (Ur-) Anfänglichkeit kreisende, in ihren älteren Formen unklar entstandene und/oder überlieferte, lediglich in einem Kembereich inhaltlich fixierte, im übrigen variabel rezipierte und reproduzierte Narrationen mit hoher Akzeptanz und Mobilisierungsträchtigkeit. Auch die Historiographie hängt zumindest hinsichtlich ihrer Überzeugungsfähigkeit, wenn nicht in ihrer Argumentationsfähigkeit und spezifischen wissenschaftlichen Struktur über-

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haupt, wesentlich von ihrer literarisch-textlichen Organisation ab. Besonders in denjenigen Varianten der Historiographie und Geschichtswissenschaft, die den literarisch-textlichen Aspekt betonen, schrumpfen daher die Möglichkeiten, sich auf dieser Ebene vom Mythos abzugrenzen, treten statt dessen die entsprechenden Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen hervor. In der radikalsten linguistischen Variante, die dem empirischen Bezug keine wahrheitsstiftende Funktion mehr zuspricht, werden Myelographie und Historiographie letzdich identisch. In der Diskussion des Beitrags wurde u.a. die Frage gestellt, ob dem Mythos im Rahmen der Historiographie über die dargestellten funktionalen und kritischen Bezüge hinaus nicht doch erkenntnisfördernd-sinnstiftend-positive, wenngleich im Einzelnen nicht historisch genau zuschreibbare Bedeutung zugesprochen werden könne. Der Referent hat diese Möglichkeit aus seiner Sicht ausgeschlossen. Einerseits ist die Frage, ob Mythen Orte ontologisch-metaphysischer bzw. metahistorischer Einsicht und Erkenntnis und/oder Erkenntnisvermittlung sind oder sein können, historiographisch nicht beantwortbar. Andererseits erscheint bei expliziter Zulassung des Mythos in das Reich der Historiographie die prekäre Balance zwischen „Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch" (ERNST SCHULIN), der jede Geschichtswissenschaft existentiell ausgesetzt ist, gefährlich verschoben. An dieser Einschätzung hielten auch diejenigen kritischen Historiographiehistoriker fest, die sich über die Historizität des Historismus (GUNTHER SCHÖLT/.) im Klaren sind, also prinzipiell-universalgeschichtlich die Ablösung der gegenwärtigen historistischen Wissenschaftsepoche durch eine neue ontologische nicht ausschließen können. Gita Dharampal-Frick (Augsburg)

„Rämaräjya": Mythopolitik und nationale Identität in Indien Das Konzept des „Rämaräjya", d.h. der mythisch-utopischen Herrschaft des Gottkönigs Ram, stellt ein zentrales Mythologem des Hinduismus dar, das in seiner kulturellen und religiösen Logik gedeutet und an ausgewählten Beispielen aus seiner jüngeren Rezeptionsund Applikationsgeschichte im spät- und postkolonialen Kontext Indiens als eine historisch wirkungsmächtige 'regulative Idee' politischer und gesellschaftlicher Prozesse aufgewiesen wurde. 'Mythos' bezeichnet dabei keinen Oppositionsbegriff zur Sphäre des GeschichtlichFaktischen, sondern eher eine (durch eine ehrwürdige Tradition sanktionierte) symbolische Ordnungsform zur Erfassung und Bewertung historischer Vorgänge. Im Rahmen einer Diskussion historisch wirksamer 'MythenMächte' verdient besonders die 'gelebte Wirklichkeit' dieses religiös-politischen Mythos Aufmerksamkeit, also die hermeneutische Praxis, mit der gläubige Hindus sich auf die Konzeption des „Rämaräjya" beziehen, um die Erfahrungsgegenwart ihrer unmittelbaren Lebenswelt an einem kulturell signifikanten Maßstab auszurichten. Daß gerade dieser Mythos in der indischen Geschichte des 20. Jahrhunderts von Mahatma Gandhi bis zu den jüngsten Explosionen des Hindu-Nationalismus wiederholt seine reale Macht erwiesen hat, gibt Anlaß, nach seiner Instrumentalisierung (oder Manipulierung) durch führende Repräsentanten verschiedener politischer Lager zu fragen.

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Matthias Waechter (Freiburg)

MythenMächte im amerikanischen Geschichtsbewußtsein: Der FrontierMythos 1. Der Frontier-Mythos reiht sich ein in einen weiten Kontext mythologischer Erfassungen der amerikanischen Lebenserfahrung. Der puritanische Mythos von Neu-England als „God's New Israel", die für die Auswanderung über den Adantik gewählte Metaphorik des „Exodus", die in der Alten ebenso wie in der Neuen Welt gepflegte Vision vom nordamerikanischen Kontinent als „neuem Garten Eden" — kurz: die Wahrnehmung Amerikas als eines fundamentalen Gegensatzes zu Europa bildet den geistes-geschichtlichen Hintergrund des Frontier-Mythos. 2. „Frontier" bezeichnet im Sprachgebrauch der USA die Grenze der euro-amerikanischen Besiedlung zur Wildnis, zum 'freien' Land im Westen. Der Begriff wird zugleich als Metapher für den Prozeß der Besiedlung des Kontinents ebenso wie für die Gesellschaftsform, die an der Zivilisationsgrenze entstand, verwendet. Der Frontier-Mythos verwandelt nun den drei Jahrhunderte währenden sozialen Prozeß der Westwanderung in eine 'heilige Geschichte', die als sinn- und identitätsbildend für die amerikanische Nation gelten soll. Der Mythos legitimiert den kollektiven Expansionsdrang als die Erfüllung eines göttlichen Auftrags („Manifest Destiny"), Zivilisation und Demokratie über den Kontinent zu verbreiten. 3. Für die Analyse der verschiedenen Facetten und Spielarten des Frontier-Mythos ergeben sich nun folgende Untersuchungsebenen: a) „Frontier" als umfassender amerikanischer Kulturmythos: Die Leitmotive des Frontier-Mythos manifestieren sich auf jeweils spezifische Weise in der politischen Rhetorik, in der Malerei, in der Trivial- ebenso wie in der klassischen Literatur. b) „Frontier" als speziell von Historikern erschaffener Mythos: Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders aber seit FREDERICK JACKSON TURNERS berühmter „Frontier-These" (1893) wird die Westexpansion zu einem bevorzugten Thema der USHistoriker. Sie stellten den Siedlungsprozeß als den genuin amerikanischen Teil der nationalen Vergangenheit heraus, der zur Ausprägung der herausragenden politischen, sozialen und kulturellen Charakteristika des Landes geführt haben sollte. c) „Frontier" als Objekt der mythenkritischen Kultur-wissenschaft: Die seit der Jahrhundertmitte in den USA verbreitete interdisziplinäre Richtung der „American Studies" hat es sich von ihren Anfängen an zur Aufgabe gesetzt, die um das Frontier-Thema kreisenden mythologischen Motive in ihrer Genese, Bedeutung und Funktionsweise zu analysieren und zu kritisieren. 4. Diese Analyseebenen lassen sich nun auf die drei zentralen Versionen des FrontierMythos anwenden: a) Die Mythologisierung des Aufeinandertreffens von Weißen und Indianern: Die Ureinwohner erschienen hier - in verschiedenen Spielarten — als das Gegenüber der EuroAmerikaner, die durch ihr Anderssein die Zivilisiertheit der Weißen akzentuierten. Die dabei den Indianern zugedachten Stereotypen (edle Wilde, böswillige Barbaren) sind bekannt. Zentrale Bedeutung für die Mythologie der amerikanischen Frontier gewann das Motiv der Gewalt: Die gewalttätige Konfrontation mit den Ureinwohnern wurde als eine

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regenerierende Erfahrung gefeiert, aus der die weißen Pioniere gestärkt und geläutert, als 'neue Menschen' hervorgingen. b) Der Mythos vom amerikanischen Westen als „Garten der Welt": Diese besonders im 19. Jahrhundert gesellschafdich wie politisch wirksame kollektive Wunschvorstellung verherrlichte den Kontinent als einen harmonischen landwirtschaftlichen Garten, der es ungeahnten Zahlen von Menschen ermöglichte, Land zu erwerben und so den als europäisch-dekadent empfundenen Städten zu entkommen. Held dieses Mythos ist der yeoman, der unabhängige, landbesitzende Farmer, Hort republikanischer Tugend und uneigennütziger Hingabe an das demokratische Gemeinwesen. c) Der Mythos von der Frontier als Brutstätte amerikanischer Demokratie: Diese Vision mythologisierte die Frontier als den Ort, an dem die einzigartig freiheitliche Gesellschaftsordnung Amerikas, der demokratisch-egalitäre Geist und der selbstbewußte Pionierindividualismus entstanden sein sollten. Auf diese Weise wurde die amerikanische Demokratieentwicklung von der europäischen völlig abgelöst; Freiheit und Gleichheit in den USA galten als autochthon amerikanisches Produkt. Dieser Mythos wurde wesentlich stärker als die beiden vorhergehenden von Historikern produziert, die sich so von europazentrierten Erklärungsmodellen der amerikanischen Geschichte emanzipierten. Wolfgang Schmale (München)

Scheitert Europa an seinem Mythendefizit? Im Gegensatz zu den vorhergehenden Vorträgen ging es hier im ersten Zugriff weniger um MythenMächte als um MythenOhnmächte. Im zweiten Zugriff stellte sich freilich die Frage, ob in der MythenOhnmacht nicht wiederum eine MythenMacht aufscheint. In manchen philosophischen und psychologischen Untersuchungen zum Thema „Mythos" kommt die Geschichtswissenschaft nicht gut weg. Es wird ihr vorgeworfen, die „Wahrheit des Mythos" auf einer empirisch-realen Ebene zu suchen, während sich diese Wahrheit auf einer ganz anderen Ebene ansiedele. Die Frage nach der „Wahrheit des Mythos" verweist auf die Existenz von Bewußtseinszuständen, die das Sein prägen und zu geschichtstreibenden Kräften werden können. Wenn wir das Produkt dieser Bewußtseinszustände der gegenwärtigen Konvention folgend „Mythen" nennen wollen, so ist die Geschichte voll davon. Die meisten dieser Mythen enthalten oder enthielten einen Kern, der einer kollektiven sinnlichen Erfahrung zugänglich ist bzw. war. Das gilt für Objekte wie die Bastille, für Personen wie Bismarck oder für Kollektivkörper wie die „Nationen". Diese seinsprägenden Mythen scheinen existentielle Teile vergangener und gegenwärtiger Lebenswelten in einem Ausmaß zu durchziehen, daß sich die Frage stellt, ob es mythenfreie existentielle Teile jener Lebenswelten überhaupt gibt bzw. geben kann. Die drei nach ihrem sinnlich erfahrbaren Kern (der Zeitraum der sinnlichen Erfahrung ist unbestimmt) unterschiedenen, sehr groben Gruppen von Mythen müßten in ihrem Verhältnis zueinander sehr genau untersucht werden. Unter diesem Vorbehalt erweist sich der sog. Europa-Mythos als Paradox. Unter den älteren überlieferten Mythen der Antike gehört er zu den uns sehr vertrauten, aber er besitzt keine sinnstiftende Wirkung, in ihm drückt sich auch kein seinsprägender Bewußtseinszustand aus. Dem steht augenblicklich auch keine irgendwie signifikante Transformation des Mythos in eine dem ausgehenden

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20. Jh. angepaßte Form gegenüber. Die Beliebtheit des Stiermotivs bei Designern und Karikaturisten stellt keine solche Transformation dar. Der sog. Europa-Mythos (sowie der christliche von Japhet und Japhetien) ist ein toter Mythos. Für die Zwischenkriegszeit und vielleicht die beiden ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich zwei nicht identische Abendlandmythen diagnostizieren, die eine solche Transformation darstellen. Der Abendlandmythos führt heute ein marginales Dasein, ungeeignet für kollektive Sinnstiftungen. Auf der Gegenseite feiern nationale Mythen fröhliche oder grausame Urständ, bzw. werden den Zeitläuften angemessen modernisiert. Sie sind nicht tot, sondern höchst lebendig. Obwohl es nach allgemeiner Überzeugung an „Großen Europäern" (von „Großen Europäerinnen" scheint niemand zu sprechen) durchaus nicht mangelt, gibt es darunter keine Figur, die den Helden in den älteren und jüngeren nationalen Mythen an Wirksamkeit vergleichbar wäre. Natürlich ist zur Zeit offen, ob über das Zeremoniell der Karlspreisverleihung Karl d. Gr. zum europäischen Urvater aufgebaut wird, um den herum sich ein wirksamer Mythos konstruieren ließe. Wäre das wünschenswert? Damit kommen wir zum Kern der Problemstellung: Die Frage ist nicht, ob Mythen wünschenswert sind oder nicht. Dies ist deshalb keine Frage, weil sie keinem eigentlichen Willensakt entspringen können. Die Frage ist, warum sie in dem einen Fall (Nation z.B.) entstehen und immens geschichtsmächtig werden können, und warum sie im anderen Fall (Europa) nicht über eine rudimentäre Ausbildung hinausgekommen sind und im Grunde zu keiner Zeit geschichtsmächtig waren. Im Verhältnis zu Vergleichsgrößen wie „Nation" zeichnet sich „Europa" durch ein Mythendefizit aus.

Veröffentlichungshimveis: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit? (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen, Bd. 3), Bochum 1997.

W O L F G A N G SCHMALE,

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2. Schlachtenmythen Leitung: Gerd Krumeich (Freiburg) Gerd Krumeich (Freiburg): Einleitung Hans-Joachim Gehrke (Freiburg): Marathon. Von Helden und Barbaren OittmarOablmann

(Bonn):

Der russische Sieg über die 'Teutonischen Ritter' am Pejpussee (1242) Gerd Krumeich (Freiburg): Andreas Hofer und die Schlacht am Bergisel, 1809 Stig Förster (Bern): Der Fall von Sirangapatna (1799): Schlachtenmythos in Indien und Großbritannien Susanne Brandt (Freiburg): Die Schlacht auf den Seelower Höhen (16.4.-18.4.1945). Die Erinnerung in der DDR und danach

Veröffentlichungshinweis·. Die ausgearbeiteten Vorträge und zehn weitere Beiträge werden in dem von Gerd Krumeich und Susanne Brandt herausgegebenen Sammelband 'Schlachtenmythen' 1998 im BöhlauVerlag erscheinen. Die Sektion 'Schlachtenmythen' unter Leitung von Gerd Krumeich (Freiburg) berührte einerseits das Fachgebiet einer 'erweiterten' Militärgeschichte, andererseits den Bereich der Geschichtswissenschaft, der kollektive Deutungsmuster untersucht. Entsprechend zahlreich waren die Zuhörer und entsprechend breitgefächert ihre Erwartungen an die Beiträge. Der zeitliche Rahmen der fünf Referate reichte vom 5. vorchristlichen Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Im folgenden werden zunächst die wesentlichen Thesen und Ergebnisse der Vorträge vorgestellt, im Anschluß daran wird gezeigt, wie die Beiträge miteinander verbunden waren. Zuletzt wird auf die wesentlichen Kritikpunkte eingegangen. I. Die Vorträge: 1. Hans-Joachim Gehrke (Freiburg) zeigte in seinem Vortrag: „Marathon. Von Helden und Barbaren", wie der Sieg von Marathon Synonym für den Erfolg in den Perserkriegen überhaupt wurde. Dieser wurde imaginiert als Sieg freiheitsbewußter Helden gegen sklavische und auf Versklavung ausgerichtete Barbaren. In dem Kampf gegen die Barbarei waren die Athener die Vorkämpfer und Schutzmacht hellenischer Freiheit. Den Aspekt der Dauer behandelte Gehrke, indem er nachwies, daß diese athenische Imago in der Neuzeit auch

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ein Bestandteil des westlich-europäischen Selbstverständnisses wurde, eine Metapher für den Kampf okzidentaler Freiheit gegen orientalischen Despotismus, vor dem Hintergrund eines geradezu metaphysischen Ost-West-Gegensatzes. 2. Dittmar Dahlmann (Bonn) konzentrierte sich in seinem Vortrag: „Der russische Sieg über die 'Teutonischen Ritter' am Pejpussee (1242)" auf das Problem der Dauerhaftigkeit eines Mythos. Er zeigte, wie Mythen in Krisensituationen wiederbelebt werden können. Die Schlacht eines Heeres der Novgoroder unter ihrem Führer Fürst Aleksandr Jaroslavics (Beiname Nevskijs) gegen ein durch Hilfstruppen verstärktes Heer des Deutschen Ordens galt als historischer Sieg der Russen über die Deutschen. Sie setzte dem deutsdien 'Drang nach Osten' eine Grenze und wurde häufig als nationaler Mythos beschworen, so zum Beispiel in den 1930er Jahren, als im Zeichen des Sowjetpatriotismus die nationale russische Geschichte wiederbelebt wurde und der Mythos der Schlacht und ihres Siegers zuvor unbekannte Höhen erreichte. Mitte der 1970er Jahre erschien in hoher Auflage eine sich an ein breites Publikum richtende Biographie des Fürsten Aleksandr Jaroslavics (Nevskijs) und der Sieger von 1242, die belegt, daß Nevskijs noch immer eine populäre Figur ist. 3. Gerd Krumeich (Freiburg) befaßte sich mit einer Schlacht, die sich vor allem durch einen Helden auszeichnet: „Andreas Hofer und die Schlacht am Bergisel, 1809". Im Zentrum der historischen Erinnerung und der Mythenbildung um die Schlacht am Bergisel, so Krumeich, stand die Person Andreas Hofers, in der sich politisches Geschick, militärisches 'Genie', Uberzeugungskraft mit persönlicher Einfachheit und Prinzipientreue mischten — genau der Stoff also, aus dem Volkshelden gemacht seien! Doch nicht nur die Figur des Helden Andreas Hofer kennzeichne diesen Mythos: Das besondere, ja einmalige an der Schlacht vom Bergisel und der Urgrund historiographischer und populärer Erinnerung an sie sei die Tatsache, daß hier ein Mann aus dem Volk (wenngleich ein wenig gebildeter und wohlhabender als dieses) in einer entscheidenden Stunde das Heft in die Hand nahm und den verbündeten Armeen zweier großer Mächte — Bayern und Frankreich — nicht nur den Krieg erklärte, sondern auch eine große Schlacht gewann. Im Grunde sei die Schlacht am Bergisel der erste Sieg gegen Napoleon gewesen — zum ersten Mal wurde der Mythos des genialen Feldherrn und der unwiderstehbaren levée en masse durch ein anderes Volksheer selbst durchbrochen. 4. Stig Förster (Bern) hob in seinem Vortrag: „Der Fall von Srirangapatna (1799): Schlachtenmythos in Indien und Großbritannien" u.a. die Besonderheit von Schlachten hervor, welche die Errichtung von Kolonien zur Folge hatten: In Entscheidungsschlachten, in denen Abneigung und sogar Haß gegenüber dem Gegner geschürt werden solle, bliebe dennoch zumindest unterschwellig die Anerkennung prinzipieller Gleichgewichtigkeit zwischen den Kombattanten erhalten. Unter kolonialen Bedingungen jedoch entwickele sich im Laufe der Zeit ein derartiges Maß an Ungleichheit, daß sich die mit der Schlacht verbundenen Mythen bei Siegern und Besiegten diametral auseinanderentwickelten. Der Kampf um Srirangapatna wurde vom Kolonialmythos der Briten zum antikolonialen Nationalmythos der Inder. 5. Susanne Brandt (Freiburg) beschäftigte sich mit der Erinnerung an die Schlacht auf den Seelower Höhen (April 1945) in der DDR. Diese Schlacht war ein bedeutendes Element innerhalb der öffentlich inszenierten Erinnerung an das Kriegsende. Sie wurde instrumen-

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talisiert, um von der Bevölkerung bedingungslose Dankbarkeit gegenüber der UdSSR einzufordern. Mit dem Argument, die Rote Armee unter Führung der KPdSU habe die entscheidende Schlacht des Krieges alleine geführt, wurde der Führungsanspruch der Sowjetunion begründet. Das Kriegsende, so wurde in den öffentlichen Erinnerungsritualen immer wieder betont, sei außerdem der Anfang der deutsch-sowjetischen Freundschaft und Waffenbrüderschaft gewesen. Die politische Führung der DDR sei allerdings schon früher eng mit der Sowjetunion verbunden gewesen, da ja Kommunisten und Sozialisten bereits während des Krieges auf Seiten der Roten Armee gegen den Faschismus gekämpft hätten. Mit dieser angeblichen Vorreiterrolle rechtfertigte die politische Führung der DDR ihren Herrschaftsanspruch. Die Entwicklung nach der Wende zeigt das Scheitern des Versuchs, die kollektive Erinnerung zur Herrschaftslegitimadon umzugestalten. Die Beteuerung, daß auch Ostdeutschland zu den Siegern von 1945 gehöre, deckte sich offensichtlich nicht mit der Erinnerung (und der Wahrnehmung der Gegenwart) der meisten DDR-Bürger. Der Mythos der Seelower Höhen war so deutlich von einer sowjetischen Deutung und politischem Opportunismus geprägt, daß er als hermetisches und ausschließendes Konstrukt über einer deutschen Erinnerung an das Kriegsende lag. Die Unterschiede der Erinnerungen waren größer als ihre Ubereinstimmungen, und auch 40 Jahre „deutsch-sowjetische Freundschaft" haben nicht vermocht, diese spezifische deutsche Erinnerung zu verdrängen. II. Das Raster: In Vorbesprechungen hatten die Referenten ein Frageraster entworfen, anhand dessen die Schlachten dargestellt werden sollten. Es war ihre Absicht, eine Struktur zu schaffen, welche die Schlachtenmythen miteinander verbindet und vergleichbar macht. Das Raster bestand im wesentlichen aus den folgenden Fragen: 1.) War die Schlacht ein Element nationaler Identitätsstiftung? 2.) Gab es jeweils unterschiedliche Darstellungen der Sieger und der Verlierer, und inwiefern prägen diese gegensätzlichen Positionen die mythische Verdichtung? 3.) Der dritte Fragenkomplex betraf Dauer, Permanenz, aber auch Unterbrechung (Vergessen) und Neubesetzung des Mythos. 4.) Bezüglich der Erinnerung erschien uns wichtig, auf die Verbreiter einerseits und die Zielgruppen andererseits einzugehen. 5.) Auch die Medien - Filme, Denkmäler, Literatur, Bilder, und sogar die Schlachtfelder selbst — sollten berücksichtigt werden. 6.) Ein weiteres Unterscheidungskriterium war die Frage, ob die Schlacht einen Helden hat, sei es in Form eines Feldherrn oder in Form eines bestimmten Soldatenbildes. III. Diskussion und Kritik: Die Resonanz der Sektion war überaus positiv (siehe u.a. den Artikel „Gegenverkehr" von Michael Jeismann in der FAZ. vom 23.9.1996). Zwei Gesichtspunkte wurden in der Kritik hervorgehoben. In der TAZ vom 24.9.1996 hieß es: „Möglich wäre gewesen, entscheidende Schlachten, wie sie wirklich abliefen, gegen ihre spätere mythische Überhöhung zu halten. Die Veranstalter zogen einen anderen Weg vor und waren damit erfolgreich. Sie untersuchten, wie Schlachtenmythen entstanden sind, wie sie sich veränderten und welchen wechselnden Ideologien sie dienten."

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'Die Welt' (23.9.1996) formulierte bereits in der Überschrift des Artikels über den Historikertag den vielleicht schwerwiegendsten Einwand: „Wenn nicht Aufklärer, sondern Mythen gewünscht sind". Ähnlich hatte in der Plenums-Diskussion Elisabeth Fehrenbach (Saarbrücken) davor gewarnt, der Wirkungsmacht der beschriebenen Mythen zu erliegen. Sie betonte, daß es — wie in der Vergangenheit oftmals geschehen - nicht Aufgabe der Historiker sein dürfe, „am Mythos mitzustricken", sondern daß sie im Sinne einer aufklärerischen Verpflichtung solche fiktiven Wirklichkeiten dekonstruieren müßten. Die Referenten der Sektion „Schlachtenmythen" vertraten jedoch die Überzeugung, daß mit einer Analyse der Funktionsweise der Mythen und mit der Darstellung der 'Macher' und Zielgruppen schon ein hohes Maß an Aufklärung geleistet werde. Der Anspruch, die 'wirkliche' Schlacht zu beschreiben, oder mehr noch, den Mythos zu dekonstruieren, wurde nicht erhoben. Gerd Krumeich

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3. „Im Zeichen des Fortschritts" — Geschichte als Argument im medizinischen Diskurs Leitung: Dietrich von Engelhardt (Lübeck)/Robert Jütte (Stuttgart) Robert jütte (Stuttgart): Fortschritt als Kategorie der Medizingeschichte Thomas Kütten (Wolfenbüttel): Hippokrates als Traditionsargument für medizinischen Fortschritt. Der frühneuzeidiche Diskussionsstand Thomas Schlich (Stuttgart): Geschichte als Argument in der Chirurgie: Heilige und Götter als Transplantationschirurgen Christoph Gradmann (Heidelberg): Geschichte als Wissenschaft: Ernst Hallier und Emil du Bois-Reymond als Kulturhistoriker Volker Roelcke (Bonn): „Zivilisationskrankheiten" und Professionalisierungsstrategie: Die Instrumentalisierung von Geschichte in der nationalsozialistischen „Seelenheilkunde" Robert Jütte (Stuttgart)

Fortschritt als Kategorie in der Medizingeschichte Im Unterschied zur Allgemeinen Geschichte, wo „Fortschritt" als allgemeine Relationskategorie seit dem offenkundigen Niedergang der marxistischen Geschichtswissenschaft und der zunehmenden Kritik der Alltagsgeschichte bzw. der Historischen Anthropologie an der Modernisierungstheorie nur noch ein wenig beachtetes geschichtsphilosophisches Schattendasein führt, ist in der Wissenschafts- und Medizingeschichte dieser Universalbegriff noch sehr aktuell, obgleich er auch dort immer weniger explizit benutzt und statt dessen immer häufiger hinterfragt wird. Es liegt daher nahe, der expliziten und impliziten Verwendung dieses Begriffs in der älteren und neueren Medizingeschichtsschreibung einmal näher nachzugehen und dabei den zeidichen Bogen von den Anfängen bis in die Gegenwart zu schlagen sowie die Begriffsbildung als Ausdruck eines tiefgreifenden Erfahrungswandels zu interpretieren. Im einzelnen sind drei Strömungen oder Richtungen zu unterscheiden: Am Anfang steht die konkrete und nachhaltige Erfahrung der Fortschritte, die in der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzielt wurden. Ein solches Selbstverständnis führte dazu, daß die Medizingeschichtsschreibung sich lange Zeit auf der 'Siegerstraße' bewegte und die Geschichte der Medizin als einen langen Weg aus dem Dunkeln des Nicht-Wissens in das helle Licht wissenschaftlicher Erkenntnis beschrieb. Diese Richtung hat bis heute ihre Anhänger. Erst die zunehmende 'Professionalisierung' der Medizingeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und das stetig wachsende Interesse von Medizinsoziologen und Sozialhistorikern an Krankheit und Gesundheit in der Geschichte seit den 1960er Jahren leitete eine zweite Phase ein, in

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welcher der Fortschritt zu einem theoretischen Konzept und damit zu einem medizinhistorischen Perspektivbegriff wurde. Die Kritik an der Apparatemedizin und an den Strukturen des modernen Gesundheitssystems, die in den 1970er Jahren laut wurde, fand ebenfalls ihren Widerhall in der Medizingeschichtsschreibung. Das bislang vorherrschende, wenn auch theoretisch unterschiedlich fundierte Fortschrittsparadigma wurde in dieser dritten und bis heute andauernden Phase mehr und mehr in Frage gestellt. Das Augenmerk galt nicht mehr so sehr dem Fortschritt, sondern seinen Folgen und Bedingungen. Im bewußten Gegensatz zur Zukunftsergebenheit der traditionellen Medizinhistorie, wie man sie nicht nur in Deutschland noch heute antrifft, entstand damals eine differenziertere Sichtweise, die nicht selten aber in eine scharfe Kritik an der fortschrittsorientierten Perspektive dieser Art von Geschichtsschreibung mündete.

Thomas Kütten (Wolfenbüttel)

Hippokrates als Traditionsargument für medizinischen Fortschritt. Der frühneuzeitliche Diskussionsstand Die historische Fortschrittsvergewisserung der modernen Medizin kapriziert sich gern auf das Reformwerk von Paracelsus, Vesal und Harvey und deren der Iatrochemie, Iatromorphologie und Iatrodynamik verpflichteten Impulse für eine humoralpathologisch geprägte, im wesentlichen hippokratisch-galenische Medizin. Im Sinne eines linearen Fortschrittsverständnisses, das jede Vergangenheit in jeder Gegenwart entwertet, und unter Betonung der Autoritätenschelte der frühneuzeitlichen Autoren funktionierte solche Selbstvergewisserung — ähnlich übrigens den Demarkationsbestrebungen der modernen Medizinethik - nach der Gleichung: Fortschritt = Antihippokratismus, bzw. Fortschrittshemmung = Hippokratismus. Der Vortrag prüfte, ob diese Gleichung für die in Rede stehenden 'Gründungsväter' moderner Medizin Gültigkeit besitzt und entlarvte ihren vermeintlichen Antihippokratismus als ein polemisches und polarisierendes Argument der zeitgenössischen Reformgegner, die Hippokratismus mit medizinischem „Klerikalismus" oder „Katholizismus" gleichsetzten, mit Hierarchisierung und Besitzstandswahrung. Für die Reformkräfte stellte Hippokrates als historische Größe wie als Patron des Corpus Hippocraticum dagegen das Projektionsfeld für ihre medizinische Utopie dar, die im wesendichen auf eine sitdich-moralische Erneuerung der Medizin zielte. Die Auseinandersetzung zwischen Vesal und Sylvius zeigt exemplarisch, wie verschiedene Hippokratesbilder zu diametral entgegengesetzten Zwekken instrumentalisiert wurden, die allesamt das Pathos der Fortschrittlichkeit atmen. Auch die Rezeptionsgeschichte des hippokratischen Eides belegt, wie die seit Petrarca eingeklagte Erneuerung der Medizin auf Hippokrates und seine Schriften hin orientiert wurde. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die frühneuzeidiche Fortschrittskonzeption sich nicht gegen die hippokratische Tradition behaupten mußte, sondern diese vielmehr als Legitimations- und Berufungsinstanz, als Argumentationsreservoir und zur Referenzwerbung instrumentalisierte. Die eingangs ventilierte Gleichung trifft für die medizinischen Autoren von Petrarca bis Harvey nicht zu. Auch die Geschichtsindifferenz moderner Fortschrittsbegriffe wurzelt trotz des Wandels im Autoritätsverständnis von der Personal- zur Sachautorität, der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vollzog, nicht in

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der frühen Neuzeit, da die Natur als Sachautorität nicht als geschichtslos betrachtet wurde, sondern als älteste Geschichte überhaupt. Wer also innerhalb der Medizin dazu aufrief, ins Buch der Natur statt in die Bücher der Autoritäten zu schauen, der sagte sich nicht von Hippokrates los, sondern wies ihn als die hinter der Natur älteste medizinische Autorität lediglich ins zweite Glied. Das Anciennitätsprinzip sicherte Hippokrates im 16. und 17. Jahrhundert ein ungemindertes Ansehen, das integraler Bestandteil jeder medizinischen Fortschrittskonzeption in dieser Zeit blieb.

Thomas Schlich (Stuttgart)

Geschichte als Argument in der Chirurgie: Heilige und Götter als Transplantationschirurgen In dem Bemühen, ihre zum Teil umstrittene Tätigkeit zu legitimieren, haben Transplantationsmediziner immer wieder historische Darstellungen ihres Tätigkeitsgebiets verfaßt. Dabei wurden viele unterschiedliche Zeugnisse der Vergangenheit bis hin zu religiösen Texten so uminterpretiert, daß sie als Zeugnis für eine sehr weit zurückreichende Existenz einer Transplantationsmedizin oder zumindest den uralten Wunsch danach erscheinen. Die Autoren haben dabei meist Motive aufgegriffen, die durchaus einen thematischen Zusammenhang und möglicherweise auch eine kulturelle Verbindung zur chirurgischen Transplantation ausweisen, z.B. die Legende, in der die Heiligen Cosmas und Damian ein erkranktes Bein durch das gesunde Bein eines Mohren ersetzen. Das auf Legitimation gerichtete Erkenntisinteresse bewirkt jedoch, daß die Reinterpretationen sich häufig weit vom eigentlichen Kontext der verwendeten Quellen entfernen und sich ein unbeabsichtigter Effekt der Absurdität einstellt, so z.B. wenn Heilige und Götter in der modernen medizinischen Fachsprache als Chirurgen beim Eingriff geschildert werden. Die Erzählstrategie solcher historischer Berichte besteht darin, die Organtransplantation durch das Vorweisen von Präzedenzfällen selbstevident erscheinen zu lassen. Diese Therapiemethode, die in Entstehung und Weiterführung an eine bestimmte medikale Kultur gebunden ist, soll 'objektiviert' werden, indem ihre historische und kulturelle Lokalisierung aufgehoben wird. Hinweise auf die Kulturgebundenheit werden als Angriffe auf die Universalität und Objektivität der wissenschafdich betriebenen Transplantationschirurgie bewertet und mit dem vermeintlichen Nachweis der weit zurückgehenden Geschichte der Transplantation abgewehrt. Dies geht soweit, daß die Transplantation als eine universell im Unbewußten der Menschheit verankerte Wunschvorstellung und schließlich sogar als ein in der Natur bereits realisierter Vorgang dargestellt wird. Christoph Gradmann (Heidelberg)

Geschichte als Wissenschaft: Ernst Hallier und Emil du Bois-Reymond als Kulturhistoriker Ausgehend von der aktuellen Konjunktur kulturgeschichtlicher Methoden in der Geschichtswissenschaft wurden im Text kulturgeschichdiche Entwürfe von Naturwissenschaftlern und Medizinern, die in der Zeit von 1850—1880 entstanden, untersucht. Solche Kultur-

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geschichten hatten in der Sache zumeist die historische Entwicklung und Bedeutung von Technik, Naturwissenschaften und Medizin zum Gegenstand. Am Beispiel zweier kulturgeschichdicher Entwürfe von Ernst Hallier (1831-1904) und Emil du Bois-Reymond (1818-1896) wird deudich, daß diese Kulturgeschichten nur schwer in die Historiographie der Kulturgeschichte oder in die der Geschichte der Wissenschafts- und Medizingeschichte einzuordnen sind. Statt dessen sind sie als Weltanschauungsliteratur zu lesen. Es zeigt sich in ihnen ein epochentypisches Geschichtsbewußtsein, das bei Naturwissenschaftlern und Medizinern der Zeit weit verbreitet war und dem Naturwissenschaft als die treibende Kraft von Geschichte schlechthin erscheint. Der dabei verwendete weite Kulturbegriff — er wird synonym mit 'Zivilisation' gebraucht - formuliert auch die Geltungsansprüche seiner sozialen Trägergruppen im 'naturwissenschaftlichen Zeitalter' (Werner v. Siemens). Besonders in du Bois-Reymonds Text läßt sich schließlich auch über die Krise dieses szientistischen Gesellschafts- und Geschichtsbegriffes in der Ära der sogenannten 'inneren Reichsgründung' einiges lernen.

Volker Koelcke (Bonn)

„Zivilisationskrankheiten" und Professionalisierungsstrategie: Die Instrumentalisierung von Geschichte in der nationalsozialistischen „Seelenheilkunde" Die Formel von der Zivilisationskrankheit ist ein Paradigma für Versuche, die Dimensionen Geschichte und Gesellschaft in den medizinischen Diskurs zu integrieren. Der kranke Mensch wird dabei zum Medium, durch das hindurch der ärztliche Experte Zeitdiagnosen erstellt. Eine besondere Konjunktur des Begriffs läßt sich in der Zeit des Nationalsozialismus feststellen: Zwischen 1939 und 1942 wurde von einer Gruppe von Hygienikern und Psychotherapeuten eine spezifische Form der Zivilisationskritik formuliert. Sie führt eine große Zahl von Krankheitsbildern und zeitgenössischen gesundheitspolitischen Problemstellungen auf die Auswirkungen der Moderne zurück, wobei die Moderne in ihrer extremsten Ausformung mit der Weimarer Republik identifiziert wird. Die Akteure knüpfen dabei explizit an Oswald Spenglers Geschichtsbild an, bestreiten jedoch die Unausweichlichkeit des zivilisatorischen Niedergangs. Mit dem Verweis auf das Beispiel des Nationalsozialismus wird vielmehr die Möglichkeit politischer Intervention in den Prozeß der Zivilisation behauptet: Danach eröffnen die Ideen und Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates und insbesondere das Führerprinzip neue Perspektiven auch für die Gesundheit des Volkskörpers und seiner Glieder. Zukunftsoptimismus ist hier verbunden mit der Rückbesinnung auf voraufklärerische Werte und Sozialstrukturen. Zur Lösung der anstehenden gesundheitspolitischen Aufgaben werden grundsätzliche Veränderungen der sozialen Ordnung und des Gesundheitswesens gefordert und medizinisch legitimiert. Die „Zivilisations schäden am Menschen" (so der Titel eines 1940 publizierten Sammelbandes) werden als Argument benutzt, um im Rahmen der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung" neben der „Rassenhygiene" eine „psychologische Hygiene" zu etablieren, welche die Voraussetzungen für maximale Leistungsfähigkeit, „Gemeinschafts"-

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und „Gefolgschaftsfähigkeit" schaffen soll. Der traditionsreiche Topos der Zivilisationskrankheit wird damit, anknüpfend an die zeitgenössische Umdeutung des Zivilisationsbegriffs, in charakteristischer Form modifiziert, um die Professionaüsierung der medizinischen Psychologie und Psychotherapie voranzutreiben sowie die Kompetenzansprüche der Hygiene auszuweiten.

Veröffentlichungshinweis·. „Zivilisationsschäden am Menschen" und ihre Bekämpfung: Das Projekt einer „seelischen Gesundheitsführung" im Nationalsozialismus, in: Medizinhistorisches Journal 31, 1996, S. 3-48. VOLKER ROELCKE,

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4. Geschichte als Argument für Krieg und für Frieden Leitung: Johannes Burkhardt (Augsburg) Johannes Burkhardt (Augsburg): Einleitung Christoph Kampmann (Bayreuth): 'Arbiter of Christendom' und europäisches Gleichgewicht. Zu Geschichtsdenken und Politik im England des 17. Jahrhunderts Reimer Hansen (Berlin): Das Privileg von 1460 im deutsch-dänischen Nationalkonflikt des 19. Jahrhunderts Johannes Burkhardt (Augsburg): Die kriegstreibende Rolle historischer Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg Etienne François (Berlin)/Claire Gantet (Paris): Vergangenheitsbewältigung im Dienste des Friedens und der konfessionellen Identität. Die Friedensfeste in Süddeutschland nach 1648 Wolfram Siemann (München): Auf der Suche nach einer Friedensordnung: Das Jubiläum der Revolution von 1848 im Nachkriegsdeutschland Die Sektion hat die Fragestellung des Historikertages nach der Bedeutung historischer Argumente an einem brisanten Thema erprobt: der Entscheidung für Krieg oder für Frieden. Denn politische Dezisionen werden nicht in einem rein gegenwärtigen Raum getroffen und argumentativ durchgesetzt, sondern vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und Orientierungen einer Kultur und Gesellschaft. Das gilt in ganz besonderem Maße für die 'Große Politik', die mit Ausnahme der jüngsten Zeit im Vordergrund der gesamten historiographischen Überlieferung gestanden und stets ein reiches historisches Erinnerungsund Vergleichsmaterial bereitgehalten hat. In der Geschichte selbst gab es eine Reihe von Fällen, in denen historische Erfahrungen und Argumente eine verhängnisvolle Rolle für die Kriegsbereitschaft gespielt haben. Historisches Gedenken und neue Geschichtsauffassungen konnten andererseits auch gegensteuern und einen Beitrag zur Etablierung von Friedensordnungen leisten. Die Sektion hat solche Beispiele aus der gesamten Neuzeit erstmals gesammelt und einer vergleichenden Betrachtung zugänglich gemacht. Die Einleitung des Sektionsleiters mußte sich angesichts des Anfangscharakters eines solchen Herangehens darauf beschränken, diesen Hintergrund, die Wahl der Fallstudien und einige gemeinsame Fragen etwas zu erläutern. Die Komposition der Fallstudien berücksichtigte den Kriegs- und den Friedensfall wie auch die Epochen Frühe Neuzeit und Neueste Geschichte in einem ausgeglichenen Verhältnis. In den ersten drei Fallstudien wirkte das historische Argument als Kriegsargument. Der erste Beitrag zur englischen Gleichgewichtsdebatte galt der Frühen Neuzeit, der zweite zur Schleswig-Holstein-Frage

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der Neuesten Geschichte, der dritte verglich mit Dreißigjährigem Krieg und Erstem Weltkrieg diese beiden Epochen miteinander. Für den zweiten Teil der Sitzung stand der Friedensfall zur Debatte, der wiederum mit dem Westfälischen Frieden und der Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Abschnitten der Neuzeit repräsentiert war. In den letzten drei Beiträgen verdichtete sich der untersuchte Zusammenhang dadurch zusätzlich, daß historische Jahrestage und Jubiläen eine eigentümliche Verbindung mit den Kriegsund Friedensdaten eingegangen sind. Leitfragen der Vorträge und Diskussionen waren vor allem: Aus welcher politischen Situation heraus und mit welcher politischen Intention wurde historisch argumentiert? Wie wird die Geschichte dabei in Anspruch genommen? Welche Wirkung hatte die Inanspruchnahme von Geschichte für Krieg und Frieden? Neben solcher inhaldicher und politischfunktionaler Erschließung des historischen Arguments wurde in mehreren Beiträgen auch seine formale Zeitstruktur, also das methodische Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit angesprochen. Auch diese formale Seite kann für Kriegslastigkeit oder Friedensfähigkeit historischer Argumentationen relevant werden. Der Sektionsleiter verdeutlichte das in der Einleitung an einem Problem heutiger historischer Friedensforschung und Friedenspädagogik. Welche historischen Argumente sprechen eigentlich für eine künftige Friedensfähigkeit der Welt? Erstens kann man, wie die ältere Friedensforschung dies häufig tat, die Friedensrufe aller Zeiten sammeln, um die Friedenssehnsucht aller Menschen zu demonstrieren. Aber das ist nicht nur sachlich problematisch, sondern stimmt angesichts der gegenläufigen realen Weltgeschichte eher resignativ und kann damit geradezu kontraproduktiv wirken. Sachlich richtiger wie ermutigender ist die Einsicht, daß der Friedenswille historisch wandelbar und erst in jüngster Zeit wirklich ein zentraler Wert unserer Kultur geworden ist. Zweitens kann man, wie dies heute gern geschieht, die Kriegsleiden der Menschen in der Vergangenheit thematisieren, aber auch hier werden schnell vermeindich anthropologische Konstanten festgeschrieben. Um dem zu entgehen, tendiert drittens die Kriegsursachenforschung dazu, historische Kriege als vermeidbar darzustellen, aber auch damit entgeht man einer weltgeschichtlichen Pannenserie als dem historischen Regelfall eigentlich nicht. Sehr viel besser ist es, Krieg in der Vergangenheit als historisch gegeben und erklärbar anzuerkennen, in unserem Zeitalter aber als historisch überholt und künftig ganz entbehrlich zu erachten. Dazu aber bedarf es auch einer geschichüichen Veränderungserfahrung und einer innovativen Geschichtsauffassung. Wenn so die Relevanz der unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Vergangenheit auch für das Friedensproblem erkennbar wurde, so bedarf die Diskussion eventueller Affinitäten erst einer breiten Quellen- und Vergleichsbasis einschlägiger historischer Argumente in verschiedenen Zeiten. In der Abfolge der kriegerischen Fallbeispiele kam Christoph Kampmann gleich einer überraschenden historischen Dimension oder Mystifikation im England des 17. Jahrhunderts auf die Spur. Die zunächst eher kriegsfördernde Idee des europäischen Gleichgewichts hat sich hier in der Zeit der wiedererrichteten Monarchie in den 1660er und 1670er Jahren durchgesetzt. In den Meinungs- und Parteienkämpfen der Stuartzeit gingen sowohl die regierungsamtliche Seite wie die Opposition davon aus, daß eine Balance of Power in Europa nötig sei. Darin sah man die Voraussetzung dafür, daß England, gestützt auf sein Seereich, den ihm zustehenden Rang als „Schiedsrichter der ganzen Christenheit" (Arbiter

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of Christendom) einnehmen könne. Kriegerische Konsequenzen zogen beide politischen Lager, nur sah die regierungsnahe Publizistik die Hauptherausforderung für die Schiedsrichterstellung Englands in den Generalstaaten, während die Opposition die Balance schon durch das Frankreich Ludwigs XIV. gefährdet sah und dort eine kriegerische Intervention befürwortete. In diesem Kampf um die Orientierung der auswärtigen Politik Englands kam nun das historische Argument ins Spiel und gab der Gleichgewichtsidee eine Vorgeschichte. Kampmann erläuterte den zentralen Punkt: „Die Basis dieser Argumentation bildete ein spezielles Verständnis der englischen Geschichte, insbesondere der Regierungszeit der Tudors (1485 bis 1603). Danach hatten bereits Heinrich VIII. (1509-1547) und Elisabeth I. (1558-1603) zum Wohle der gesamten Christenheit und zum Vorteil Englands einen schiedsrichterlichen (Vor-)Rang ausgeübt, der wesentlich auf ihre umsichtige Gleichgewichtspolitik zurückzuführen sei. Das Tudor-Vorbild nahm eine zentrale Stellung in der einschlägigen Publizistik ein. Deutlich wird dies an einer Fülle von (häufig fingierten) Dokumenten, Münzen, Devisen und Darstellungen aus der Tudor-Ära, die in den Flugschriften vor dem Leser ausgebreitet wurden und die dem Nachweis vorgeblich früher englischer BalancePolitik dienen sollten. Gerade in der oppositionellen Publizistik, in der entschieden auf ein bewaffnetes Vorgehen gegen Frankreich gedrängt wurde, räumte man der historischen Legitimierung der eigenen politischen Position einen sehr hohen Stellenwert ein." In Vortrag und Diskussion wurden die zeitgenössischen Gründe für eine historische Argumentation, das Verhältnis zwischen politischer Entscheidung, öffentlicher Meinung und zeitgenössischer Geschichtsschreibung sowie die weitere Entwicklung nach Glorious Revolution und Bündniswechsel für die historische Argumentation verfolgt. Angesichts der Bedeutung der Gleichgewichtsdoktrin ist auch die Frage des Wahrheitsgehalts der Behauptung des 17. Jahrhunderts, sie stamme schon aus dem 16. Jahrhundert, von besonderem Interesse. In welchem geschichtlichen Zusammenhang das aus älteren universalistischen Ansprüchen stammende Arbitrium mit der Balance-Idee steht, ist eine auch für die Entstehung des europäischen Staatensystems und seiner kriegerischen Gefährdung zentrale Frage. Der Referent konnte zu diesen und weiteren Fragen wichtige Anregungen und Quellenfunde einbringen, deren weitere Ausarbeitung und Interpretation der Publikation vorbehalten bleiben. Ein historisches Argument, das im 19. Jahrhundert zwei Kriege legitimieren sollte, unterzog Reimer Hansen einer spannenden Analyse. Bekanndich beansprucht die deutsche wie die dänische Nationalbewegung das Herzogtum Schleswig, das im Norden dänisch-, im Süden deutschsprachig war, für ihre jeweilige Nationalstaatsbildung. In den staatsrechtlich komplizierten Verhältnissen der Herzogtümer Schleswig und Holstein, die beide vom dänischen König regiert wurden, Holstein aber als Mitglied des Deutschen Bundes, spielten rechtshistorische Argumente auf beiden Seiten eine besondere Rolle. Dänemark verwies auf die jahrhundertelange Zugehörigkeit zur dänischen Monarchie, die zur vollen Eingliederung zumindest Schleswigs berechtigte. Die deutsche Seite aber leitete aus dem sogenannten Privileg von Ripen, einer Wahlhandfeste des Dänenkönigs Christian I. anläßlich seiner Wahl zum Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein 1460 für die Stände beider Lande, die Zusammengehörigkeit dieser Herzogtümer ab. „Geschichte wurde zum Argument für Krieg", hielt Hansen fest, und so ging die Paulskirche in den ersten däni-

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sehen Krieg (1848-1850), den sie verlor. Den zweiten dänischen Krieg (1863-1864) aber gewannen die Bundesmächte Österreich und Preußen, freilich mit dem unerwarteten Ergebnis, daß Preußen am Ende alle beiden Herzogtümer zusammen annektierte und sie bis 1945 preußisch blieben. In diesen Auseinandersetzungen spielte das historisierende Kampf- und Schlagwort „up ewig ungedeelt" eine Schlüsselrolle. Der Kenner der Geschichte Schleswig-Holsteins und der Historiographie ging seiner Herkunft nach und konnte interessante Zusammenhänge freilegen. In der fraglichen Wahlhandfeste findet sich die Ständeformulierung „dat se bliven ewich tosamende ungedelt". Der Historiker und später maßgebliche Paulskirchenpolitiker Friedrich Christoph Dahlmann hat 1814/15 diese Formel ausgegraben, aktualisiert und als Anspruch auf eine gemeinsame Verfassung im deutschen Reichsverband ausgedeutet. Die Formel wurde dann in den 1840er Jahren über eine Liedzeile, über Buchtitel und Publizistik sprachlich pointiert und zu einer „historisch-kostümierten politischen Kampfparole der schleswig-holsteinisch-deutschen Verfassungs- und Nationalbewegung vom späten Vormärz bis zur Reichsgründung" (Hansen). Im Rückgriff auf ältere, namentlich dänische Kritik zeigte Hansen, daß die Rechtsformel des Privilegs gar nicht in einem unionistischen Zusammenhang zu sehen ist. Dabei konnte er das Publikum mit einer Entdeckung überraschen: Würde man nämlich die Formel, mit der in der Goldenen Bulle von 1356 die Unteilbarkeit der einzelnen Kurfüstentümer verfügt wurde — unitumperpetuis temporibus indivisibiliter et coniunctum - ins Mittelniederdeutsche übersetzen, dann käme nichts anderes als die fragliche Schleswig-Holstein-Formel in der Urfassung heraus. Hansen vermutet, daß die Formel überhaupt nur als ein Fremdkörper nach dem Muster der Goldenen Bulle in die Landfriedsklausel des Ripener Privilegs geraten ist. Auf jeden Fall konnte im zeitgenössischen Rechtskontext g a r nicht die Unzertrennlichkeit von Schleswig und Holstein, sondern die territoriale Unteilbarkeit jedes der beiden Lande gemeint sein. Zu dieser Fehlerhaftigkeit im einzelnen kommt die prinzipielle Unangemessenheit, daß eine sich ganz anders legitimierende Nationalbewegung ein unverzichtbares 'historisches Recht' und territoriale Forderungen auf eine ständische Privilegienklausel von 1460 gründete. Abschließend gab Hansen einen kritischen Ausblick auf die weitere Nutzung der Klausel nach dem Pörsten Weltkrieg, im Nationalsozialismus und noch im wiederhergestellten Nachkriegs-Schleswig-Holstein. Den Höhepunkt historischer Beliebigkeit bildete die Erweiterung eines Ministerpräsidenten, die Schleswig-Holsteiner wüßten am besten, d a ß auch Deutschland „up ewig ungedeelt" bleiben müsse. Auf spätere Rückfragen, ob m a n die rhetorische Nutzung eines „Original des 19. Jahrhunderts" (Burkhardt) in diesem Sinne nicht doch tolerieren könne, verwies der Referent eindringlich darauf, daß dies keinen Freibrief für einen willkürlichen Umgang mit Geschichte oder falschen Schulunterricht zum Ripener Privileg darstellen dürfe. In grundsätzlichen Überlegungen verwies Hansen auf den methodischen Fehler: „Das Gleiche oder Gleichartige zweier historischer Zusammenhänge ist nie dasselbe", und jeder historische Vergleich bedürfe der methodischen Vermittlung durch die Explikation des 'tertium comparationis'. Bedenkt man, daß diese methodische pjnsicht an sich im 19. Jahrhundert auch schon vorhanden war — Hansen zitierte die Position Niebuhrs —, dann wird man diese Kritik an der Perpetuierung eines älteren Geschichtsdenkens angesichts seiner Folgen sehr ernst nehmen müssen.

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Eine gewisse Schaltfunktion war dem Beitrag des Sektionsleiters zugedacht. Ging es bislang um zwei historisch-politische Argumentationsfalle, die den Krieg begünstigten, so folgten danach die beiden Gegenproben zum Friedensfall und zugleich zu den Jubiläen. Daß diese verdichtete Form des historischen Gedenkens aber auch Kriege begünstigen konnte, war zunächst zu bedenken. Der Beitrag von Johannes Burkhardt erinnerte an den Fall aus der jüngsten Geschichte, den Jugoslawischen Sezessionskrieg, an dessen Beginn 1989 das 600jährige Jubiläum der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) und eine Reihe weiterer Symboldaten der serbischen Geschichte standen. Historische Jubiläen konnten aber auch in der ganzen Geschichte der europäischen Neuzeit eine verhängnisvolle Rolle spielen. Das wurde an den beiden Großkonflikten, dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, im Vergleich verdeutlicht. Den Dreißigjährigen Krieg haben zwei große Jubiläumstermine begünstigt. Das erste große Reformationsjubiläum 100 Jahre nach der Thesenpublikation Martin Luthers und ein vom Papst ausgeschriebenes Gegen„jubiläum" haben 1617 die konfessionelle Polemik auf allen Seiten angeheizt, die Reformation noch einmal durchspielen lassen und zu einer Mobilisierung der Religionsparteien geführt, bevor man 1618 tatsächlich zu den Waffen griff. Das Jubiläum der Confessio Augustana 1630 schuf nach dem vermeintlichen Kriegsende und der bedrohlichen Lage für die evangelischen Reichsstände die Situation, in der die Intervention Gustav Adolfs als evangelischer Glaubensheld Akzeptanz fand und die Wiederaufnahme des Krieges begünstigte. Beide Zusammenhänge sind von Zeitgenossen bereits gesehen worden und durch ein breites Medienecho überliefert. Es handelt sich um konfessionelle Jubiläen, die aber auch eine konfrontative historische Gedächtnisschicht aktualisierten und politisch nutzten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde in Deutschland durch drei kriegerische Jubiläumskomplexe begünstigt. Grundlegend war die Hundertjährung der Befreiungskriege: Das mit ungeheurem Aufwand begangene Völkerschlachtjubiläum mit dem Höhepunkt eines sternförmigen Staffellaufs von über 40.000 deutschen Turnern, die aus ganz Deutschland markige Sprüche und Symbole nach Leipzig trugen, bauten einen schon von WOLFRAM SIKMANN beschriebenen kriegerischen Handlungsdruck auf. Dazu kamen die Jubiläumsfiliationen aus dem Umkreis der akademischen und militärischen Traditionen, der Ordensstiftungen, Regimentergründungen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Zweitens lenkten im Lande der Bismarcktürme die Geburtstage des „Reichsgründers" und besonders der Vorlauf des 100jährigen 1915 den Blick auf den zunehmend aggressiver interpretierten Krieg von 1870/71 zurück. Drittens brachte der Vorlauf des Hohenzollernjubiläums von 1915 zusammen mit den von 1906-1913 gleichsam im Jubiläumstakt noch einmal geschlagenen Schlachten des Siebenjährigen Krieges eine friderizianische Dimension in den Ersten Weltkrieg. Das waren aus drei Jubiläumskreisen drei gleichermaßen schlechte Ratschläge aus der Vergangenheit, die zweifellos die Kriegsbereitschaft am Vorabend des Fürsten Weltkriegs gefördert haben. Die vergleichende Betrachtung konzentrierte sich auf das Zeitgefálle der Jubiläumssituation, also das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit. In der reformatorischen Jubiläumskultur im Dreißigjährigen Krieg erschien der gefeierte Anlaß gar nicht durch eine Zeitendifferenz getrennt und seine unveränderliche Bewahrung als besondere Bestätigung für die eigene militante Identität. Das ist vor dem Hintergrund der statischen frühneuzeitlichen Geschichtsauffassung auch nicht anders zu erwarten. Erstaunlich aber ist, daß

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auch die Weltkriegsjubiläen kaum historische Distanz kennen und von einer statischen Geschichtsauffassung gekennzeichnet sind, trotz des innovatorischen, genetischen und historistischen Paradigmawechsels des Faches im 18. und 19. Jahrhundert und der maßgeblichen Beteiligung von Fachhistorikern an den Jubiläumsreden. Der Beitrag bestimmte die bellizistische Wirkungsweise dieser jubiläumsgestützten Kriegserinnerungen auf der Grundlage dieser statischen Geschichtsauffassung im historisch-spezifischen Fall und generell. Abschließend wurde auf formale Alternativen des historischen Argumentierens und einer politisch verantwortungsbewußten Jubiläumsplanung hingewiesen. Der an sich kürzere Friedensteil wurde von einem gewichtigen Doppelvortrag eröffnet. Dem historischen Nachleben eines Friedens in Fest und Jubiläum galten die Forschungen von Etienne François und seiner Schülerin Ciaire Gantet. Gantet konnte bisher nicht weniger als 144 Friedensfeste ermitteln, die im Jahrzehnt nach dem Westfälischen Frieden in Europa gefeiert wurden. Allein 124 wurden im Reich begangen, vor allem in den süddeutschen Reichsstädten und im sächsischen Raum. Die Hälfte davon fand im Jahre 1650 statt, dem Jahr, in dem der Friede nach den Ausführungsbestimmungen des Nürnberger Rezesses über den Truppenabbau wirklich greifbar wurde. Einige dieser Feste haben Jahresgedenkenund Jubiläumstraditionen ausgebildet, die zum Teil bis ins 19. Jahrhundert oder sogar in die Gegenwart reichen. Drei Fallbeispiele standen im Zentrum: das Friedensfest der sächsischen Residenzstadt Coburg, die nach 1648 zum Friedensfest umgewidmete Dinkelsbühler „Kinderzeche" und vor allem das bis heute in der Stadt als gesetzlicher Feiertag begangene Augsburger Friedensfest am 8. August. Am Fall dieses Augsburger Friedensfestes untersuchte nun François als der Experte für die soziokulturelle Bedeutung der konfessionellen Parität das Mischungsverhältnis von historischem Gedenken, Friedensbewußtsein und konfessioneller Identität. Das nur vom lutherischen Teil Augsburgs gefeierte Jahresgedenken zum Dank für die im Frieden erreichte paritätische Rechtssicherung der Konfession wurde beziehungsreich auf den 8. August gelegt, den Tag, an dem zuvor 1629 die evangelischen Prediger aus der Stadt ausgewiesen worden waren. Besonders interessant sind neben Jubelpredigten und Festrepertoire die als „Friedensgemälde" bezeichneten alljährlichen kommentierten Kupferstiche für die Schulkinder. Als Funktion der ausgeprägten historisch-konfessionellen Gedächtniskultur bestimmte François die Bewältigung einer dreifachen Angst: die Angst vor dem Verlust der Erinnerung an die konfessionellen Identitätswurzeln, des weiteren die Angst vor dem übermächtigen konfessionellen Gegner, die man durch verschleiernde, die qualitative Überlegenheit beanspruchende und polemische Argumente überspielte, und drittens die Angst vor dem Verlust der Konfessionsgrenzen, der durch rituelle und theatralische Konfrontation begegnet wurde. Diese konfessionelle Seite der Friedensfeste vor allem in den gemischtkonfessionellen Städten und Landschaften bestätigte und veranschaulichte sich in einem ergänzenden Beitrag von Ciaire Gantet. Gustav Adolf zu feiern allerdings erschien nach dem Krieg aus politischen und reichsrechtlichen Gründen eher bedenklich, aber die Gestalt des Schwedenkönigs rückte im 18. und 19. Jahrhundert als die eines evangelischen Glaubenshelden wieder ins Zentrum. Charakteristisch sind auch die vielfachen Verknüpfungen, Verschiebungen und Austauschvorgänge der Friedensfesttraditionen mit der spezifischen reformatorischen Jubiläumskultur und ihren Terminen. Im 19. Jahrhundert geriet die Tradition der

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Friedensfeste in eine Krise, erwies aber mit teils folkloristischen, militarisierenden und infantilisierenden Fortsetzungen und Neuerfindungen ihre memoriale Vitalität. Unter dem thematischen Aspekt der Sektion erscheinen zwei Beobachtungen von besonderem Interesse. Zur Pflege des konfessionellen Bewußtseins spielte Geschichte hier eine Schlüsselrolle, und zwar in einer Weise, „als ob man alles darauf gesetzt hätte, die Distanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufzuheben und die Geschichte völlig 'gegenwärtig' werden zu lassen" (François). Unterstrichen wurden die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zugleich noch mit der biblischen Geschichte. Das fügt sich durchaus in die statische frühneuzeitliche Geschichtsauffassung, deren pointierte Nutzung hier die konfessionellen Identitäten und Konfrontationen stabilisierte und fortschrieb. Überraschend aber ist, daß in diesem Beispiel die Konfrontation trotzdem nach den Beobachtungen von François eigentümlich defensiv, gebremst und rituell blieb, damit sie nicht außer Kontrolle geriet. Diese 'Scheingefechte' gründeten in den rechtlichkulturellen Bedingungen der Augsburger Parität. Nicht mehr ausdiskutiert werden konnte, ob dieses nicht mehr ganz ernst genommene rhetorisch-theatralische Spiel nicht auch schon ein Austrocknen der alten statischen Geschichtsauffassung anzeigt. Der letzte Beitrag galt ebenfalls einem Jubiläum und dem Frieden, kehrte aber die Perspektive um: Es ging nicht um die Nachwirkung eines Friedensgedenkens, sondern um die Verwendung eines andersartigen Jubiläums für den Aufbau einer Friedensordnung. Denn ausgerechnet in das Nachkriegsdeutschland des Jahres 1948 fiel das 100jährige Jubiläum der Revolution von 1848. Angesichts der Alltagssituation zwischen Hunger und Ruinen erstaunt das Ausmaß von Feierlichkeit und Medienecho, das Wolfram Siemann erstmals rekonstruierte und in seiner historisch-politischen Bedeutung erschloß. Die Hauptträger waren im Westen Deutschlands die intakt gebliebenen oder wiederhergestellten Institutionen, beide Kirchen, die Lehrerverbände, die Kommunen und die Organisation der Turner. Im Osten gab bereits die SED in Abstimmung mit der Sowjetführung die Richtung an und organisierte die noch umfangreicheren Aktivitäten. In der Orientierungssuche der Nachkriegszeit diente das Jubiläum verschiedenen Gruppen und Richtungen zur Bestimmung des eigenen Selbstbildes im historischen Rückgriff. Die Konfessionen erinnerten sich zum Beispiel an die kirchliche Freiheit und Selbständigkeit, die Lehrer an die Grundpfeiler der Demokratie. Die Turner veranstalteten einen massenhaften Sternlauf nach Frankfurt, wie einst 1913 nach Leipzig, brachten nun aber statt der patriotisch-militanten Sprüche ein „Bekenntnis der Jugend zur Demokratie". Etwas schwerer tat man sich mit der ebenfalls anstehenden Wiederentdeckung föderaler Traditionen, die 1848 weniger passten — ein Interpret meinte, die fehlende föderative Basis von 1848 sei die Ursache des Scheiterns gewesen. Schon im Eingangszitat Siemanns aber wurde auch deutlich, daß man im Scheitern der Revolution auch die Ursache von fünf Kriegen bis zum Zweiten Weltkrieg sehen konnte. Darüber hinaus war diese Station der deutschen Nationalgeschichte natürlich auch ein gesamtdeutsches Symbol. Im Osten wurde diese gesamtdeutsche Tradition und Verpflichtung besonders herausgestellt. Der Grund war, daß das Jubiläum hier geradezu als Teil der Kampagne gegen die Bildung eines Weststaates organisiert wurde. Dazu wurden die gemeinsamen deutschen Traditionen beschworen, aber dann doch sehr einseitig verstanden und bis ins einzelne reglementiert ausgelegt. Die Parallelisierung von Vergangenheit und Gegenwart und die unmittelbare praktische Verwertungsabsicht war gegenüber der pluralistischeren Praxis im

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Westen noch direkter. So prägte trotz der gemeinsamen Erinnerung an diese Station deutscher Geschichte der Ost-West-Gegensatz das Jubiläum. Siemann Schloß daran eine Reflexion an zur angemessenen Bezeichnung eines solchen Befundes in den Begriffen des „kollektiven Gedächtnisses" und der nationalen Erinnerungskulturen, fand aber auch Verbindendes. Mit einem Zitat von Viktor Klemperer, der in einer Jubiläumsrede 1948 einen Bogen von den Märzgefallenen zu den Geschwistern Scholl spannte und die Studierenden von den falschen auf diese besseren historischen Vorbilder verwies, Schloß der Münchner Ordinarius seinen Vortrag. Die Sektion in der Universität am Geschwister-Scholl-Platz erhielt so einen nachdenklichen Schlußpunkt. Zu Diskussion und ausführlichem Resümee blieb keine Zeit, doch sollen alle Beiträge publiziert werden, voraussichtlich in einem gemeinsamen um weitere Beiträge ergänzten Band. Eine Kasuistik ist nicht beabsichtigt, aber die Kenntnis der historischen Argumentation s formen im Verhältnis zur Vergangenheit — ζ. B. Identität, NichtIdentität, Restitution, Entwicklung, Tradition, Innovation - ist schon darum nützlich, um nicht das Opfer der vermeintlich zwingenden Kraft einer einzigen zu werden. Dabei ist deutlich geworden, daß auch die historischen Argumente eine Geschichte haben, in der alte Formen nicht verschwinden, aber einige moderne erst in jüngster Zeit hinzukommen. Wenn der Sektionsleiter sich am Ende zu seiner Vorliebe für die innovationsbewußte Form historischer Argumente bekannte, dann auch darum, weil nur sie es erlaubt, Krieg als eine Einrichtung der Vergangenheit anzusehen. Johannes

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5. Perspektiven für eine neue Agrargeschichte: Zur Erforschung ländlicher Gesellschaften Leitung: Werner Rosener (Gießen) Werner Rösener (Gießen) : Die Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters in der Kooperation von Geschichte, Geographie und Archäologie Werner Troßbach (Kassel): Beharrung und Wandel „als Argument" - Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts Clemens Zimmermann (Heidelberg): Perspektiven der Agrargeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Andreas Suter (Zürich): Neuere Forschungen zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz Werner Rösener (Gießen)

Die Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters in der Kooperation von Geschichte, Geographie und Archäologie Die mittelalterliche Gesellschaft war bis zur Urbanisierungswelle des Hochmittelalters weitgehend agrarisch geprägt. Man kann davon ausgehen, daß im 10. Jahrhundert noch mehr als 95 Prozent aller Einwohner zu den ländlichen Bevölkerungsgruppen zählten. Die Zahl der Städte und der stadtähnlichen Siedlungen war damals äußerst gering und damit auch der Umfang des städtischen Handwerks und Handels. Erst seit dem 12. Jahrhundert wuchs mit dem expandierenden Städtewesen der Umfang der städtischen Bevölkerung, erreichte aber bis zum ausgehenden Mittelalter in der Regel nur einen Anteil von etwa 10 Prozent. In einem Gegensatz zu dieser offenkundigen Bedeutung der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft während des Mittelalters steht die derzeitige Forschungslage, die viele Fragen offenläßt. Die Agrargeschichte des Mittelalters ist in besonderem Maße auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftszweige angewiesen, da nur so die vielfältigen Probleme dieser frühen Epoche der ländlichen Gesellschaft gelöst werden können. Der Agrarhistoriker muß dabei vor allem die Ergebnisse der Archäologie, der Geographie, der Volkskunde und anderer Wissenschaften beachten. Neben diesen Resultaten der Nachbardisziplinen besitzen vor allem die Erkenntnisse der allgemeinen Geschichte und vieler historischer Einzeldisziplinen eine zentrale Bedeutung für die mittelalterliche Agrargeschichte. Nicht nur die Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, sondern auch die allgemeine politische Geschichte sind hier zu berücksichtigen. Im Bereich der Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte kommen auch die Ergebnisse der Kirchengeschichte zur Geltung, da sich z.B. aus der Verdichtung des ländlichen Pfarrnetzes wichtige Einsichten zum siedlungsgenetischen und demographischen Wandel vermitteln lassen.

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Im Vortrag wurde dargelegt, daß bei der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters noch viele Fragen offen sind und der intensiven weiteren Untersuchung bedürfen. Der Agrargeschichte des Mittelalters stellen sich demnach vielfältige Aufgaben und Forschungsfelder, die unter neuen Fragestellungen analysiert werden müssen. Dabei ist vor allem auf die breite Zusammenarbeit der historischen Einzeldisziplinen zu achten; manche Probleme der Agrargeschichte lassen sich offenbar nur im Rahmen interdisziplinärer Kooperation lösen. Werner Troßbach (Kassel)

Beharrung und Wandel „als Argument" — Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts „Das Bauerntum bildete von seiner Entstehung im Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert das Fundament der europäischen Sozialstruktur und wurde in diesen Jahrtausenden vom Strukturwandel der politischen Formen der Oberschichten in seiner Substanz kaum berührt." (OTTO BRUNNKR) Die Erfahrung, daß „das Bauerntum" nur geringe Neigung zum Wandel zeige, ist älter als Otto Brunner. Sie war das gemeinsame Erlebnis einer ganzen Generation von Intellektuellen der Aufklärung. Sie empfanden die Ablehnung ihrer wohlmeinenden Reformvorschläge, auf die sie in vielen ländlichen Gemeinden trafen, zum Teil als persönlichen Affront. In den sich darauf bildenden Hiat zwischen Bauern und Aufklärung stieß zunächst mit Ernst Moritz Arndt die politische Romantik, ehe er Mitte des Jahrhunderts durch das sich formierende konservative Lager gefüllt wurde. Geistesgeschichtlich ist diese Strömung untrennbar mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehls verbunden. Was für Hegel und die Aufklärung noch mit dem Makel der Unbeweglichkeit verbunden war, offenbart in Riehls Ubersetzung, substantiell kaum verändert, funktional neue Züge. Nun erschienen „unsere Bauern" als „fester, trotz allem Wechsel beharrender Kern", als „unüberwindliche konservative Macht in der deutschen Nation". Die Stilisierung des Bauerntums als „Mutterschoß der Volkheit" (Ipsen) war damit nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Ubersetzung konservativer in völkische Rhetorik, freilich mit äußerster Radikalisierung verknüpft. Erst die unvoreingenommene Lektüre der Agrargeschichte als Agrarwirtschaftsgeschichte, die untrennbar mit dem Namen Wilhelm Abels verbunden ist, konnte dynamische Elemente erkennen, freilich nur von agrarökonomischen Parametern gesteuert. Die Entdeckung und Erforschung der ländlichen Unterschichten hat hier dann eine umfassende Neuorientierung eingeleitet. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, waren sie gezwungen, alle marginalen Ressourcen zu nutzen. Für dieses Streben ist der Begriff der „Ökonomie des Notbehelfs" übernommen worden. Indem darunter aber so unterschiedliche Formen wie Elemente der Sammelwirtschaft und der Spezialisierung zusammengefaßt sind, kann er nicht die gesellschaftlichen Implikationen der einzelnen Tätigkeiten differenziert erfassen. So nutzten die Unterschichten nicht nur die vorhandenen lokalen Ressourcen, sondern es gelang ihnen auch, außerhalb neue zu erschließen. Dadurch wurde der Rahmen der ländlichen Gesellschaft überschritten, sie selbst in Bewegung gesetzt. Unter den Spezialisierungen spielte die Übernahme textiler Heimarbeit die entscheidende Rolle. Die Veränderungen, die von dieser Produkt!-

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onsform in die ländliche Gesellschaft eingebracht wurden, sind im Konzept der 'Protoindustrialisierung' vielseitig beleuchtet worden. Verschiedene Varianten der Migration hingegen — vom Wanderhandel über die Wanderarbeit bis zur Auswanderung — sind in ihren Auswirkungen weniger deudich akzentuiert worden. Zugleich intensivierten die Unterschichten vielfach die Nutzung ihrer kleinen, z.T. auf Pachtverhältnissen beruhenden Landanteile. Dies zog auch die Bauern als Anbieter von Lebensmitteln, Faser- und Färberpflanzen vielfach in den agrarischen Intensivierungsprozeß hinein. Zugleich ist nachgewiesen worden, daß sie nicht nur auf einen expandierenden inneren, sondern auch auf weiter entfernte Märkte reagierten. Wenngleich die von den Aufklärern beklagten Momente der Beharrung nicht zu übersehen sind, bot die Agrargesellschaft in vielen Regionen Deutschlands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts doch ein Bild von Spezialisierung, Diversifizierung und Flexibilität, das nicht mit hermetischen Stabilitätsvorstellungen zu vereinbaren ist, das im Gegenteil transitorische Aspekte beinhaltet. Das Modell des externen (z.T. gegen bäuerlichen Widerstand) induzierten Wandels, das lange die Vorstellung von der Epoche bestimmte, ist demnach zu differenzieren. Aber auch das Bild vom Markt als dem Demiurgen moderner (Land-)Wirtschaft, das an seine Stelle zu treten beginnt, ist ergänzungsbedürftig. Die Angebots- und Subsistenzseite, konkret der Ejfindungsreichtum, mit dem vor allem die Unterschichten ihre reichlich vorhandene Arbeitskraft nutzten, wäre stärker einzubeziehen. Dann würde der Blick frei nicht nur für die Wege, sondern auch die kleinen Territorien (z.B. die Gärten) und Triebkräfte des Wandels. Auf diese Weise schwindet das einheitliche, statische Bauernbild, das Aufklärung und Romantik gemeinsam hervorgebracht haben. Soziale, regionale und geschlechtsspezifische Differenzierungen treten an seine Stelle. „Als Argument" hat Agrargeschichte damit freilich nicht ausgedient. Clemens Zimmermann (Heidelberg)

Perspektiven der Agrargeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Bekanntlich wurde die Agrargeschichte lange als normative Verfassungs- oder Ideengeschichte betrieben. Als Zweig makroökonomisch und demographisch ausgerichteter Wirtschaftsgeschichte fand sie ihre klassische Ausprägung bei Wilhelm Abel. Sie hat es gegenwärtig schwer, sich als Disziplin zu behaupten. Weithin fehlt es an Dialog und Kooperation. Ihre institutionelle Schwäche hat sich weiter verschärft. Allerdings: Agrargeschichte findet auch dort statt, wo sie nicht explizit firmiert, d.h. da, wo sie sich über Probleme und nicht über Objekte definiert. Sie scheint ferner im Begriff zu stehen, sich im Kontakt mit anderen historischen Disziplinen neuen Perspektiven zu öffnen. Gleichzeitig konnten wichtige neue Einsichten gewonnen werden, etwa was die Vorstellungen über die sozialen Folgen der preußischen Agrarreformen und die Wechselbeziehungen von Agrarreformen und industrieller Produktion betrifft. Elbenso wurde offensichtlich, daß die Bauern des 19. Jahrhunderts durchaus Marktchancen wahrnahmen, und neben den relativ stabilen „Eliten" traten die Erfahrungen der oft übersehenen Unterschichten hervor. Die Konturen der ostelbischen Agrargesellschaft und ihrer marktorientierten Dynamik an der Wende vom

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19. zum 20. Jahrhundert zeichnen sich deutlicher als bislang ab, wenn auch für die anderen deutschen Regionen noch kaum übergreifende Untersuchungen vorliegen. Wichtige und explorative Gemeinde- und Dorfstudien klärten Probleme der Haushaltsökonomie beim Ubergang zur Marktwirtschaft, innerdörfliche Beziehungen in Abhängigkeit von Natur und Markt und die Wechselbeziehungen von Agrarintensivierung und Industrialisierung. Für das 20. Jahrhundert fehlen allerdings vergleichbare Studien. Die agrargeschichtliche Forschung steht vor erheblichen theoretischen und methodischen Herausforderungen. Einerseits sollte der hohe Standard von expliziten Modellbildungen, wie er in der Abel-Schule bis heute wirksam ist, erhalten werden; die Untersuchung des Marktes für Agrarprodukte und der Bedeutung der Landwirtschaft als Absatzmarkt für industrielle Güter bleibt für viele Fragestellungen unerläßlich. Andererseits müssen die wirklichen sozialen Formationen, die Sinnhorizonte der Menschen in ihrer Zeit und die konkrete Interaktion von Faktoren beim jeweiligen Untersuchungsgegenstand wahrgenommen werden. Konflikte und Vermittlungen zwischen Gesellschaft, Familien und Individuen dürfen nicht weiterhin ausgespart werden. So stellt sich erstens das Problem, wie Strukturbeziehungen und Erfahrungsdimensionen verbunden werden können. Da man weiterhin für das 19. und 20. Jahrhundert von einem — freilich durch zahlreiche Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichneten — Modernisierungsprozeß sprechen muß, wird zweitens die Frage aufgeworfen, wie die Mikro- und die Makrodimension des Geschichtsprozesses in Beziehung gesetzt und wie quellenadäquate Richtungskriterien gefunden werden können. Wenn beispielsweise die Haushaltsproduktion nachhaltig zurückgedrängt wurde, heißt das nicht, daß sie für Identitätsbildung und Lebensführung in gleichem Tempo an Bedeutung verlor. Drittens fragt sich, wie die Lücke bei komparatistisdien Ansätzen und Arbeiten gefüllt werden kann; gemeint sind innerdeutsche wie auch internationale Vergleiche. Insgesamt sollte man die sich aus der Neuorientierung ergebende größere Komplexität und Vielfalt historischer Zugänge und Methoden wie in der Urbanisierungsgeschichte eher als Tugend denn als Not sehen. Die Agrargeschichte tritt in Bezug zur Urbanisierungs-, Stadt- und Industrialisierungsgeschichte und entwickelt in starkem Maße von dorther ein Verständnis dessen, was jeweils als 'agrarisch' und 'ländlich' verstanden werden muß. Andreas Suter (Zürich)

Neuere Forschungen zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz Ausgehend von neueren empirischen Studien und Ergebnissen aus der Schweiz diskutierte der Vortrag unter drei Gesichtspunkten Fragen und Forschungsperspektiven für die Geschichte der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit und des beginnenden 19. Jahrhunderts. 1. Das wirtschaftliche Innovationspotential ländlicher Gesellschaften in der Schweiz: Zuerst wurden neue Befunde zum Innovationspotential der schweizerischen Agrarwirtschaft in der Frühen Neuzeit vorgestellt. Während die schweizerische Forschung schon lange erkannt hatte, daß sich die in den Voralpen gelegenen Hügelzonen seit dem ausge-

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henden Mittelalter durch ein ausgesprochen großes agrarisches und zunehmend auch protoindustrielles Innovationspotential auszeichneten, galten die inneralpinen Autarkiegebiete und die Dreizelgenwirtschaftsgebiete des schweizerischen Mittellandes als ausgesprochen traditionale, beharrende und innovationsfeindliche Ökonomien. Neue empirische Befunde korrigieren dieses Bild ganz entscheidend. 2. Agrarische Innovationen zwischen bäuerlichem 'Traditionalismus' und bürgerlicher Aufklärung: Anschließend wurden wichtige Konsequenzen dieser Korrektur thematisiert. War der von Max Weber, Werner Sombart und anderen Gesellschaftswissenschafdern beobachtete bäuerliche 'Traditionalismus' wirklich von derart großer Bedeutung für die Beibehaltung der herkömmlichen Anbau- und Arbeitsmethoden? Spielte umgekehrt die Aufklärung der Physiokraten im 18. Jahrhundert, welche nach einer verbreiteten Deutung den bäuerlichen 'Traditionalismus' über Lern- und Aufklärungsprozesse aufgebrochen und die Bauern für die notwendigen Innovationen und Umstellungen empfänglich gemacht hätten, tatsächlich eine Schlüsselfunktion bei der sogenannten 'Agrarrevolution' des 18./19. Jahrhunderts? Welches waren — wenn es vielleicht nicht in erster Linie die traditionalistische Einstellung der Bauern war - weitere innovationshemmende Kräfte, welche die Aufrechterhaltung der herkömmlichen Dreizelgenwirtschaft stützten? 3. Das politische Innovationspotential ländlicher Gesellschaften in der Schweiz: Nicht zu trennen vom beachtlichen Innovationspotential im wirtschaftlichen Bereich ist das Innovationspotential im politischen Bereich, welches die ländlichen Untertanen in der Alten Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit bewiesen. Anhand neuerer Ergebnisse der historischen Konfliktforschung wurden Parallelen und Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichem und politischem Handeln vorgestellt sowie weiterführende Fragen formuliert.

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6. Suggestion oder Didaxe? - Das Medium Bild in Historischen Ausstellungen Leitung: Kainer A. Müller (Eichstätt) /Manfred Tremi (Augsburg) Klaus Schreiner (Bielefeld): Antijudaismus im Spiegel hoch- und spätmittelalterlicher Marienbilder Rainer A. Müller (Eichstätt): Das Reich im Bild — Zur politischen Allegorie in der Frühen Neuzeit Manfred Tremi (Augsburg): „Schreckensbilder" - Zum Problem der Visualisierung an Gedächtnisorten des Terrors Wolfgang Brückner (Würzburg): Bild- und Sachzeugnisse mentalen Wandels Claus Grimm (Augsburg): Bilder als „Spiegel ihrer Zeit". Wahrnehmung unterliegt historischem Wandel Veröffentlichungshinweis·. Das Medium Bild in historischen Ausstellungen. Vorträge auf dem 41. Deutschen Historikertag in München 1996, Red.: MANFRED TREMI., hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte (Materialien zur Bayerischen Geschichte und Kultur 6,1997), Augsburg 1997.

Einleitung Mit der zunehmenden Visualisierung unserer Alltagswelt kommt dem Bild als Medium und Quelle eine ständig wachsende Bedeutung zu, von der die Geschichtswissenschaft bisher nur sehr begrenzt Notiz genommen hat. Ziel der Sektion war es daher, Anregungen für eine interdisziplinär angelegte Historische Bildkunde zu geben und die Grenzen der Möglichkeiten des historischen Ausstellungswesens erneut ins Gespräch zu bringen. Klaus Schreiner (Bielefeld)

Antijudaismus im Spiegel hoch- und spätmittelalterlicher Marienbilder Die Christenheit des Mittelalters glaubte an die jungfräuliche Gottesmutterschaft Marias. Von jüdischer Seite wurde behauptet, Jesus, der von Gott gesandte Messias und Erlöser, dem Maria einen menschlichen Leib gegeben habe, sei ein uneheliches Kind einer Frau aus Galiläa. Unversöhnliche Auffassungen über Marias Rolle in der christlichen Heilsgeschichte lösten Kontroversen und Konflikte aus. Streitschriften brachten diese zur Sprache, in Bildern nahmen sie sinnenhafte Gestalt an. Maria, eine jüdische Frau und Mutter, die zwischen Juden und Christen ein Band freundschaftlichen Miteinanders hätte knüpfen können, stiftete kein Einvernehmen, sie trennte und grenzte aus. Marienbilder, die judenfeindliche Einstellungen nährten und hervorriefen, entstanden nicht in den Köpfen von Malern, Bildhauern und Kupferstechern. Sie beruhten auf Ge-

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schichten, in denen Juden als Verächter Marias in Erscheinung traten. Angesichts dieser Wechselbeziehung zwischen Texten und Bildern stellt sich die Frage, in welcher Weise und in welcher Absicht judenfeindliche Marienbilder judenfeindliche Mariengeschichten darstellen und deuten. Bemerkenswert und erklärungsbedürftig bleibt insbesondere der große Abstand zwischen literarischer Tradition und ästhetischer Visualisierung. Waren es theologische Gründe oder soziale Interessen, die Auftraggeber und Stifter, Theologen und Künsder veranlaßten, zur Anschauung und ins Bild zu bringen, was jahrhundertelang nur Gegenstand der Lektüre war? Waren illiterate Laien des Mittelalters in der Lage, die judenfeindlichen Motive, mit denen bestimmte Typen von Mariendarstellungen ausgestattet waren, als solche überhaupt wahrzunehmen? Welche religiösen und sozialen Funktionen erfüllten judenfeindliche Mariendarstellungen angesichts konfliktträchtiger Beziehungen zwischen Juden und Christen in Stadtgesellschaften des hohen und späten Mittelalters? In welcher Weise prägten soziale Kontexte die in bildhaften Formen gemachten Deutungsangebote sowie die in Gesten und Gebärden ausgedrückten Gefühle der Abneigung, der Überlegenheit und des Hasses? Der Beitrag versuchte, auf diese Fragen text- und bildgestützte Antworten zu finden.

Rainer A. Müller (Eichstätt)

Das Reich im Bild - Zur politischen Allegorie in der Frühen Neuzeit Zur Beschreibung staatlicher Zustände oder sozialer Strukturen, die sich der unmittelbaren Anschauung entzogen, bediente man sich von alters her bildhafter Vergleiche. Auch die Frühe Neuzeit nutzte das Instrumentarium der Symbolik, Metaphorik und Allegorie, um historische Ereignisse, Zustände und Befindlichkeiten — insonderheit politische Konstrukte nach Art der res publica oder des Imperiums — einem breiten Publikum erfahrbar zu machen. Aus dem schier unerschöpflichen Arsenal an Themen griff das Referat das in Holzschnitten und Kupferstichen des 16. und 17. Jahrhunderts sich realisierende, nicht-literarische Bildfeld der „Quaternionenlehre" heraus, jener spätmittelalterlichen metaphorischen Deutung des Reichsaufbaus im Vierer-Schema, um mit der damit verbundenen, vielfach propagandistisch unterlegten Sinndeutung des Reichssystems nach der intendierten Absicht des Künsders bzw. Auftraggebers zu fragen. Neben dieser interpretatorischen Basis, die gleichermaßen in die Lebenswelt des zeitgenössischen Betrachters und das Sinnbedürfnis seiner Zeit einzuführen gedenkt, richtet sich der Blick auf den heutigen Leser von Geschichtswerken, den Betrachter einschlägiger Filme resp. Besucher von historischen Ausstellungen. Fragen nach einer hinnehmbaren Trivialisierung, einer emotionalen Evidenz und einer an Suggestion und notwendige Überzeugungsleistung gekoppelten Präsentation sind hier zu stellen. Quellenkritische Interpretation, historische Bildkunde und moderne Medien — geht es auch bei den „Bildern des Reiches" zusammen?

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Manfred Tremi (Augsburg)

„Schreckensbilder" — Zum Problem der Visualisierung an Gedächtnisorten des Terrors Die seit über zehn Jahren zunehmend intensiver betriebene Historische Bildkunde hat sich der Fotografie als Dokument und Quelle bisher nur sporadisch angenommen. Immer noch werden Fotografien als besonders authentisch und 'objektiv' präsentiert und kaum quellenkritisch untersucht. Dies fallt besonders auf bei KZ-Gedenkstätten und anderen Gedächtnisorten der NSZeit, die neben Erinnerung und Mahnung durchweg auf Wissensvermittlung und Lernanregung ausgerichtet sind. Das zentrale Leitmedium, die Fotografien, sind allerdings weder ausreichend wissenschaftlich erforscht noch didaktisch reflektiert. Die Folge ist, daß die Täterperspektive unkommentiert übernommen wird, Scheinobjektivität und Defizite in der Kontextualisierung an der Tagesordnung sind, oder aufgrund der gestalterischen Effekte eine Ästhetisierung des Grauens eintritt. Uber die Wirkung dieser zeitgeschichtlichen Bilder auf heutige Besucher gibt es kaum gesicherte Kenntnisse. Vor allem ist die stillschweigende Annahme, daß Bilder kognitives Lernen initiieren oder grundlegen könnten, in hohem Maße fragwürdig. Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung und der Museologie lassen vielmehr vermuten, daß „Schreckensbilder" ein außerordentlich hohes Potential an emotionaler Wirkung enthalten und daß individuell unterschiedliche Verarbeitungs formen stattfinden, die von traumatischen Angstreaktionen bis zu vehementen Verdrängungsphänomenen reichen können. An einigen solcher zeitgeschichtlichen Fotodokumente wurde diese Fragen wissenschaftlicher Quellenkritik und didaktischer Wirkungsforschung exemplifiziert. Das Referat Schloß mit fünf thesenartigen Forderungen, die sich aus den vorgestellten Problemlagen ergaben: 1. Fotografien bedürfen quellenkritischer Untersuchung, ehe sie als historische Dokumente präsentiert werden. 2. Wie bei allen anderen Ausstellungsobjekten ist auch bei Fotografien eine Rekontextualisierung erforderlich, die das historische Umfeld, die Perspektive und Intention des Fotografen sowie Veränderungen (Ausschnitt, Vergrößerung, Retusche etc.) erkennen läßt. 3. Zur Wirkung von Fotografien, insbesondere in KZ-Gedenkstätten, kann nur wissenschaftlich fundierte Besucherforschung gesicherte Grundlagen schaffen, um die unterschiedlichen Lernpotentiale effektiv auszuschöpfen. 4. Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik müssen interdisziplinäre Forschungen und fächerübergreifende Konzepte zur Visualisierung von Geschichte entwickeln, in denen auch die Fotografie einen angemessenen Stellenwert erhält. 5. Angesichts der zunehmenden Visualisierung unserer Alltagswelt ist dies nicht nur eine Aufgabe für Wissenschaft und Unterricht, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit zur Erhaltung von Geschichtsbewußtsein und historischem Denken.

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Wolfgang Brückner (Würzburg)

Bild- und Sachzeugnisse mentalen Wandels Beim Problem der Bildillustration als Faktentransport über visuelle Vermittlung sollte bedacht werden, daß Bilder und Gebilde in der Vergangenheit zugleich Realienquellen darstellen, die lesbar gemacht werden müssen, damit sie Erkenntnisse quasi nonverbal signifikant werden lassen und sich dadurch um so nachdrücklicher dem Beschauer einprägen können. Aus dem klassischen Forschungsbereich einer Volkskunde als Kulturgeschichte des Alltags breiter Bevölkerungsschichten wurden dafür drei Beispiele vorgestellt, die epochale Wandlungen oder Befindlichkeiten anzeigen, aus denen Rückschlüsse auf unser eigenes kulturrevolutionistisches Menschenbild gezogen werden können und woraus sich kritische Überlegungen zu einer sogenannten anthropologischen Geschichte ziehen lassen: 1. Spätmittelalterliche Schaudevotion und Erfindung des Buchdrucks, 2. frühneuzeitliche Seelenfürsorge und Erfindung des Kriegerdenkmals, 3. das Erinnerungsfoto und die Erfindung des magischen Weltbildes. Ad 1 : Eine Bilderreihe über den praktischen Gebrauch und die symbolische Bedeutung des Spiegels im 15. und 16. Jahrhundert, zugleich Hinweise auf die quellenkritische Erkennbarkeit von Darstellungsdetails, d.h. die Rekonstruktionsmöglichkeiten von Realien in der Vergangenheit: Auch als heutige Ausstellungsexponate sprechen sie nicht unmittelbar aus sich selbst. Ad 2: Der Kulturhistoriker muß deshalb nonverbale Kommunikationsweisen lesen lernen. Eines dieser Medien der Vergangenheit waren die gemalten Briefe zum Himmel, die Ex votos. Unsere Beispielreihe zeigt die Anheimstellung von Soldaten zu Beginn der allgemeinen Wehrpflicht und vor der Popularisierung von Kriegerdenkmalen. Ad 3: Ein schwäbisches Foto von 1858 mit drei Trachtenmädchen, zu dem sich ein Widmungsbrief erhalten hat, dessen Text einem pietistischen Vorbehalt zu begegnen sucht, während einst anthropologische Theorie der Schreibtischwissenschaften einfachen Leuten Bildzauberfurcht zuschreiben wollte: Heutige wissenschaftliche Kategorisierungen operieren bisweilen immer noch mit dem Konstrukt vorrationalen Denkens in früheren Tagen. Fazit: Mentalitäten sind historische und darum variable Größen; Wandel geschieht nicht nach evolutionärem Telo s, sondern in kontingenten Schüben. Raum, Zeit, Funktion bilden die Grundlagen jeweiliger Bedeutungen. Bilder und Texte lassen sich nicht voneinander trennen. Beide unterliegen den gleichen Kriterien der unablässigen kritischen Befragung. Claus Grimm (Augsburg)

Bilder als „Spiegel ihrer Zeit". Wahrnehmung unterliegt historischem Wandel Die menschliche Wahrnehmung ist nicht objektive Abbildung, sondern ist durch Deutungsraster konditioniert: „Man sieht, was man weiß", d.h. Wahrnehmungsvorgänge sind kulturell bestimmt und verschieben sich durch historischen Wandel. Diese Einsicht hat Konsequenzen für den Umgang mit historischen Bildern, in denen sich je besondere Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen finden. Deren Rekonstruktion wird zur Voraussetzung adäquaten historischen Verstehens. Gerade diese Bedin-

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gung wird jedoch bisher in den meisten Interpretationen übersehen: Die Bildzeugnisse der Vergangenheit werden unreflektiert als Abbildungen oder unspezifisch als 'künstlerische' Gestaltung verstanden. Gegenüber den begrenzt lesbaren und deutbaren Texten und den kompliziert zu identifizierenden Sachzeugnissen suggerieren Bilddarstellungen eine scheinbar zeitlose Unmittelbarkeit. Doch die geringere Verschränkung mit kulturspezifischen Bedeutungen und Zeichensystemen darf gerade nicht als voraussetzungslose Zugänglichkeit ('zeitlose Wahrheit' von 'Kunst' und ähnliches) fehlverstanden werden. Vielmehr muß man sich - über die bisherige Kunstgeschichte hinausgehend - klarmachen: Wahrnehmungsgegenstände sind die — relativ zugänglichsten — Zeugnisse historischer Kulturzustände, aber die historische Prägung drückt sich konstitutiv in allen ihren Erscheinungsformen mit aus. Bilder und Bildwerke als plastische, halbplastische und flächige Darbietungen sind nicht für unsere Geschichtsbücher gefertigt worden und — mit wenigen Ausnahmen der jüngsten Zeit — auch nicht für unsere Museen, sondern sie entstanden aus den unterschiedlichsten Vorstellungen und Anlässen und in verschiedenen Bildtraditionen: als Opfergaben und Kultbilder, als Grabbeigaben und Totenkammergestaltung, als magische Idole, als monumentale oder dekorative Idealbilder von Personen und Ereignissen, als individuelle Abbilder zum Zweck einer besonderen Vergegenwärtigung und vieles mehr. Ihre Adressaten waren Götter und Dämonen, Totengeister, Priester und Könige, fürbittende Verwandte und Fremde und andere reale und vorgestellte Betrachter verschiedener sozialer, räumlicher und zeitlicher Beziehung untereinander und zu den Auftraggebern und Verfertigern. Und wenn wir diese einzelnen Bildwerke und Bilder verstehen wollen, müssen wir sie aus ihrer Kommunikationsfunktion, konkret: der jeweiligen historischen Bildtradition und in ihrer besonderen Botschaft begreifen. Wir müssen wissen, wozu sie da waren, weshalb wir den historischen Kulturhintergrund und die besonderen Darstellungsinhalte kennen müssen. Die Zuordnung zu bestimmten historischen Kommunikationsstrukturen muß verankert sein in einer Deutung der jeweiligen Sinn- und Erlebniswelten. Natur- und Alltagsdeutung müssen wissensgeschichtlich erarbeitet werden, um an den Darstellungen einzelner Motive und Themenkomplexe den historischen Deutungshorizont von gestalterischen Hervorhebungen unterscheiden zu können.

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Alte Geschichte 7. Mythos als Argument Leitung: Hatto H. Schmitt (München) Jan N. Bremmer (Groningen): Myth as Propaganda: Athens and Sparta. Johannes Nollé (München): Der mythische Umgang mit dem Fremden. Zur Argumentation der Griechen mit dem Mythos für Einbeziehung, Integration und Ausschluß von Nichtgriechen: Griechen und Menschen des Orients Tanja S. Scheer (München): Einheit durch Vielfalt. Zur Instrumentalisierung des Mythos in der Kaiserzeit. Unsere Sektion setzte den Begriff 'Mythos' im traditionellen Sinn ein, für die im Laufe der Zeit angewachsene Sagentradition der Griechen, für „Erzählungen, die traditionell sind (sogar neue Mythen neigen dazu, sich dem Muster alter Mythen zu fügen), von Bedeutung für die Gemeinschaft (...) und von einer Gesellschaft auf die nächste übertragbar (auch die griechische Mythologie bildet kein geschlossenes Corpus)" (Jan Brhmmf.r, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, S. 65). Wie der Grieche gern in seine politische Argumentation historische - und pseudohistorische - Elemente einbaut, so zieht er auch mythische Argumente' heran (wobei Mythos und Geschichte, mythologische und historische Argumentation für ihn nicht weit auseinanderliegen): etwa eine auf homerische Helden zurückgeführte 'Verwandtschaft', die die Einleitung diplomatischer Beziehungen erleichtern oder das Gegenüber zur Erteilung eines Privilegs, zu einer diplomatischen Vermittlung bewegen soll. Mythische Abstammung kann Ansprüche auf einen Landstrich begründen; sie kann fremde, entlegene Partner in ein Koordinatennetz einordnen, in dem sie gewissermaßen mythisch verortet werden, oder umgekehrt die Selbsteinordnung in ein vorliegendes, aber zur Aufnahme neuer Komponenten stets offenes System erleichtern (eine Möglichkeit, die bis ins Mittelalter wahrgenommen wird, etwa mit der trojanischen Abkunft der Franken und der Staufer). Zu all diesen Zwecken ist der Mythos einsetzbar, besetzbar; er läßt sich, da er alles andere als kanonisch festgelegt ist, geschmeidig den jeweiligen Anforderungen als politisches Argument anpassen. Mehrere dieser Einsatzmöglichkeiten des Mythos wurden in den drei Referaten behandelt.

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Jan Ν. Bremmer (Groningen)

Myth as Propaganda: Athens and Sparta. „Mythos als Argument" seems to suggest that in antiquity myth played a role in rational discussions. This is of course hardly the case. Already in 1 9 5 1 M A R T I N P. N I I . S S O N published his classic study „Cults, Myths, Oracles and Politics in Ancient Greece", in which he showed that myths were used to further political claims, to legitimate dynasties and so on. In other words, instead of using the word 'argument', we, moderns, would rather employ the term propaganda. This raises a number of questions: 1. What is the social and political background for the propaganda? 2. What is the goal? 3. Who is the agent? 4. Which media and symbols are used? 5. At what reactors is the propaganda aimed? 6. Can we measure the effect? 7. Can we notice counter-propaganda? 8. How long do the effects of the propaganda last? With these questions in mind we systematically study the myths of Ion and Kresphontes, which in varying ways can be used to answer the questions posed. In the case of Ion it is interesting to note that his myth is used by Athens for several purposes, such as to legitimate the conquest of Salamis in the earlier sixth century but also the alliance with the Ionians in the fifth century. Onomastic evidence shows that Athenian propaganda was successful as long as Athens remained independent. After Alexander the Great Ion gradually disappears from the Ionian names and in the time of Augustus the Ionians no longer traced their descent from Ion. In the case of Kresphontes we can note the invention of a myth at the time of the new Messenian independence (c. 368 BC). For this purpose, the Messenians made use of Spartan traditions, since they themselves had evidendy lost their mythological past. Their myth was directed against Sparta, which virtually immediately invented alternative versions, as witnessed by Isocrates and Ephoros. Yet the Messenian myth remained firmly established and Kresphontes continued to be honoured by the Messenians at least until the third century AD. Both myths discussed direct our attention to the problem of constructing or destroying a people's 'cultural memory'. The Messenian case, especially, is interesting in this respect, since they clearly had to invent their mythological past ab ovo. The modern parallel of the deliberate destruction of Islamic monuments during the recent Bosnian War illustrates the interest of this area of investigation. Veröffentlichungshinweis. Der Beitrag wird erscheinen in: ZPE = Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik. Johannes Nollé (München)

Der mythische Umgang mit dem Fremden. Zur Argumentation der Griechen mit dem Mythos für Einbe2Íehung, Integration und Ausschluß von Nichtgriechen: Griechen und Menschen des Orients Anhand von Beispielen, die von der archaischen Zeit bis in die Römische Kaiserzeit reichen, wurde die Instrumentalisierbarkeit des griechischen Mythos für die Einbeziehung

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von Fremdvölkern in den griechischen Kosmos gezeigt. Dabei wurde die große argumentative Flexibilität des griechischen Mythos deutlich gemacht. Er bot den Angehörigen von Fremdvölkern Ansatzpunkte für den Eintritt in die griechische Welt, andererseits ließ sich über ihn aber auch deren Ausschluß begründen und sinnfällig machen. Augenfällig bei dieser Verwendung des Mythos ist, daß Griechen Fremden einen Platz in einer griechisch konstruierten Welt zuwiesen und mit diesem Weltbild ihre politische oder kulturelle Macht über Fremde ausdehnten oder zumindest ausdehnen wollten. An drei Fallstudien wurde die Gestaltung und Verwendung von Mythos als Argument für die Einbeziehung von 'Orientalen' in den griechischen Kosmos durch einen Zeitraum von nahezu 1.000 Jahren vorgeführt. Schon früh reflektierten Griechen in der Kadmos-Sage mythisch die Einbeziehung von Orientalen und orientalischen Kulturgütern in die griechische Welt. So erlangte am Ende des 3. Jahrhunderts v.Chr. ein hellenisierter Sidonier namens Diotimos die Zulassung zu den Nemeischen Spielen; seine Teilnahme an panhellenischen Spielen wurde nicht zuletzt deshalb möglich, weil die Kadmos-Stadt Theben als Tochterstadt Sidons galt. Mit dem Perseus-Mythos versuchten sowohl Griechen als auch Perser die jeweils andere Macht als Brudervolk zu stilisieren, von dem Wohlverhalten zu erwarten war bzw. gefordert werden konnte. Perser wie auch Alexander der Große begründeten mit diesem Mythos territoriale Ansprüche. In der römischen Kaiserzeit versuchten die griechischen Honoratioren der Stadt Apameia mit der Übernahme des Noah'Mythos' in den städtischen Mythenkreis eine bessere Integration der starken jüdischen Bevölkerung. Für die meisten Juden, die ihren eigenen kulturellen und religiösen Traditionen nachgehen wollten und in einer unüberbrückbaren Distanz zu der heidnischen Kultur und Mythologie bleiben mußten, war diese Vereinnahmung eher gefährlich als hilfreich. Die schöpferische und argumentative Kraft des griechischen Mythos bedrohte ihre Eigenständigkeit. Der Mythos wurde von vielen Griechen als ein Angebot an Fremde empfunden, über ihn einen Platz im griechischen Kosmos zu finden. Insofern bewiesen die Griechen große Offenheit, auf die nicht zuletzt die beachdichen Erfolge griechischer Kultur im Orient zurückzuführen sind. Andererseits barg die Einbeziehung und Vereinnahmung des Fremden in die griechische Kultur auch die Gefahr, andere Kulturen neben der eigenen nicht gelten zu lassen. Das Beharren auf eigene kulturelle Traditionen, die Zurückweisung des 'griechischen Angebots' führte nicht nur dazu, daß die Widerspenstigen der Gruppe der Barbaren zugerechnet wurden: Mythisch waren sie Giganten, die die Kultur des Erdkreises zerstören wollten und sich gegen die göttliche Weltordnung auflehnten. Die Veröffentlichung ist demnächst vorgesehen. Tanja S. Scheer (München)

Einheit durch Vielfalt. Zur Instrumentalisierung des Mythos in der Kaiserzeit. Manche Zweige der Forschung haben sich lange darin gefallen, 'echten Mythos' an eine bestimmte Stufe antiken Denkens zu knüpfen, die man bestenfalls als nicht aufgeklärt charakterisiert hat. Diese angebliche Phase ursprünglichen mythischen Denkens bietet sich

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gerade deshalb an, weil sie stets der Schriftlichkeit vorausgegangen sein soll. In vagen Vorzeiten angesiedelt, kann sie eine willkommene Grundlage für Spekulationen aller Art bilden: Man muß sich nicht mit der tatsächlichen Funktion des Mythos in greifbaren historischen Zusammenhängen auseinandersetzen, sondern kann diese geringschätzig beiseiteschieben. Zugleich postulierte man ein Ende des Mythos in dem Moment, in dem er schriftlich fixiert worden sei, somit seine Funktion als flexibles Volksgut verloren habe und zu bloßer schrifdicher Überlieferung erstarrt sei. Eine solche Methode der Bewertung mythischer Erzählung ist abzulehnen, da sie die ausgeprägte historische Dimension des Mythos außer acht läßt. Der Mythos ist in der Antike keinesfalls in dem Moment abgestorben, in dem man ihn schriftlich festhält. Im Gegenteil: Schriftliche Fixierung fördert nicht nur die Verbreitung bestimmter Mythen, sondern macht die Argumentation mit den Erzählungen vielfach erst möglich. Für den Historiker ist deshalb nicht eine nebelhafte ursprüngliche Bedeutung griechischer Mythen interessant, die bereits den Griechen der klassischen Epoche nicht mehr bewußt gewesen sein kann. Statt dessen ist es vielmehr lohnend, die Rolle des Mythos in bezug auf einen konkreten historischen, also zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang zu analysieren. Gerade die Kaiserzeit ist immer wieder als eine Epoche charakterisiert worden, in der es mit dem Mythos in seiner eigentlichen Bedeutung doch endgültig vorbei sei. Inflationiert, entwertet und erschöpft habe er sein Wesen längst verloren, sei nur noch hohle Form und habe mit der lebendigen Gegenwart nichts zu tun. Die historischen Fakten sprechen eine andere Sprache: Nicht nur das Interesse römischer Kaiser an den Mythen ist bezeugt, sondern auch der Eifer griechischer Gesandtschaften, die sich in der Reichshauptstadt bei politischen Anliegen auf die Mythen als Begründung berufen. Hohes Alter der einzelnen Städte, politische Bedeutung und gegenseitige Verpflichtungen der verhandelnden Parteien, besondere Heiligkeit und Privilegien der lokalen Tempel werden anhand mythologischer Überlieferung bewiesen, konkrete Ansprüche daraus abgeleitet. Bezeichnenderweise findet sich selbst ein Historiker wie Cornelius Tacitus bereit, ausführlich auf die mythologischen Redeschlachten im Senat einzugehen. Die Aktualität des Mythos in der Kaiserzeit hat nur wenig mit der Frage zu tun, ob alle Beteiligten nun persönlich in jeder Einzelheit an diese Geschichten geglaubt haben. Der Begriff des Glaubens läßt uns heute unwillkürlich an verbindliche religiöse Offenbarungen denken, mit denen der antike Mythos in seiner Vielschichtigkeit nicht zu vergleichen ist. Als religiöses Dogma mußte der Mythos nie im Wortsinn geglaubt werden, aber als Überlieferung zur Alten Geschichte Griechenlands und Roms wurde er ernstgenommen - auch in der Kaiserzeit. So läßt sich die Bedeutung des Mythos in dieser Epoche nicht primär im Bereich der Religion, sondern vor allem im Bereich von Bildung und Geschichte fassen. Seine Lebendigkeit ist nicht abhängig von religiösen Entwicklungen. Statt dessen fungiert er —von Griechen und Römern akzeptiert als Verständigungsmodus beim Reden über Vergangenheit, der Standort und Verdienste der Beteiligten in der Geschichte definiert und so auch die Gegenwart des römischen Kaiserreichs mitprägen kann.

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8. Jüdische Gemeinden und ihre Umwelt im Imperium Romanum Leitung: Josef Wiesehöf er (Kiel) Josef Wiesehöf er {Kiel): Einleitende Bemerkungen Martin Goodman (Oxford): The Significance of Conversion to Judaism: the Views of Jews, Converts and the Roman State Walter Ameling (Jena): Alexandria im 1. Jahrhundert n.Chr. Leonard V. Rutgers (Utrecht): Rom im 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. Jobannes Hahn (Münster): Syrien im 4. und 5. Jahrhundert n.Chr. Josef Wiesehöf er {Kiel): Abschließende Bemerkungen und Hinweise auf weiterführende Literatur Veröffentlichungshinweis. Die Beiträge der Sektion sollen in absehbarer Zeit (in deutscher Sprache) veröffentlicht werden (Historia-Einzelschriften, Stuttgart?). Vermutlich werden sie ergänzt durch einen Beitrag von Helmut Castritius (Braunschweig) zur „Konkurrenzsituation zwischen Judentum und Christentum in der spätrömisch-byzantinischen Welt" und durch eine religionswissenschaftlich-vergleichende Studie von Gregor Ahn (Heidelberg). Auch diese Beiträge sollen sich am 'market-place'-Modell orientieren. Josef

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Einleitende Bemerkungen Die besondere Bedeutung, aber auch der besondere Reiz des Themas der Sektion liegen vor allem in zwei Punkten begründet: 1. Zunächst ist es im Schnittpunkt der Interessen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen angesiedelt, der Althistorie mit ihren epigraphischen und papyrologischen Grundwissenschaften ebenso wie der Archäologie und der antiken Rechtsgeschichte, der Religionsgeschichte, der Forschung zur Umwelt des Neuen Testaments und zur Geschichte der frühen Kirche ebenso wie der spezifischeren Wissenschaften von der Geschichte und Kultur des antiken Judentums. Das Thema erscheint 2. aber auch deshalb bedeutsam, weil auf diesem Gebiet der Forschung in den letzten Jahren über den engeren Zusammenhang der Geschichte des antiken Judentums hinausführende wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen und Erkenntnisfortschritte zu verzeichnen waren. Beides resultierte aus einer Neubewertung der vielfältigen antiken Zeugnisse und aus regionalen und lokalen Fallstudien, vor allem aber auch aus einer grundsätzlichen Ausein-

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andersetzung um Formen und Grade der alltäglichen 'Interaktion' zwischen religiösen Gruppen in der Römischen Kaiserzeit und der Spätantike. Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung kam bei diesen Diskussionen der benutzten Begrifflichkeit zu, für die stellvertretend nur die umstrittenen Termini Synkretismus, Assimilation oder Orthodoxie erwähnt seien. In der neueren Forschung zur Geschichte des Judentums im Imperium Romanum und zur Religionsgeschichte jener Zeit überhaupt wird dabei seit einigen Jahren besonders das von J U D I T H L I E U , J O H N N O R T H , T E S S A R A J A K und anderen vorgeschlagene 'Market-place'Modell örtlicher Begegnung religiöser Gruppen und Gemeinschaften diskutiert, für das eine religiöse Angebotsvielfalt und eine große Bandbreite auch der Reaktionen auf diese Angebote charakteristisch sind. Ein solches Modell bietet wichtige Anregungen und Chancen für eine Neubewertung des bereits länger bekannten, aber auch des neu zu erschließenden Zeugnismaterials: Es eröffnet etwa die Möglichkeit, die stereotype Vorstellung von einer Selbstisolation des Judentums und einer vor allem durch Konfrontation und gesellschaftliche Ächtung bestimmten 'Auseinandersetzung' zwischen Juden und Nichtjuden (etwa als Vorspann zu einer langen jüdischen Verfolgungsgeschichte) kritisch zu hinterfragen; es gestattet weiterhin, der christlichen triumphalistischen Sicht von Geschichte eine historisch angemessenere entgegenzustellen; mit anderen Worten: es erlaubt, die zeitliche, räumliche und soziale Vielfalt, den unterschiedlichen Grad und die jeweiligen Bedingungen der friedlichen wie unfriedlichen Begegnungsweisen der Mitglieder von Kult- und Glaubensgemeinschaften untereinander und im Austausch mit denen konkurrierender religiöser Gruppen in den Blick zu nehmen, die verschiedenen Formen des Umgangs mit interessierten Angehörigen anderer Glaubensrichtungen ebenso wie deren Reaktion auf das bereitstehende sinn- oder gemeinschaftsstiftende Angebot. Dabei stellt sich auch die Frage, ob wirklich jeder Besucher des 'market-place' die Wahlmöglichkeiten als einander ausschließend begriff, ob Austausch und Bewahrung der eigenen Identität wirklich immer als unvereinbar angesehen wurden. Ein wichtiges konstitutives Element dieses Modells ist die These, daß das Judentum, von dem sich das Christentum trennte, nicht als monolithischer Block anzusehen ist, der vom palästinischen rabbinischen Judentum dominiert wird und dem gegenüber das sog. Diasporajudentum als marginal, unauthentisch oder synkretistisch erscheint; vielmehr wird betont, daß die Diasporagemeinden ihre je spezifischen Identitäten in ihrer jeweiligen Umwelt besaßen und sich auf eine je eigene Weise mit der Welt, die sie umgab, auseinandersetzten. In diese neue, dynamischere und differenziertere Sicht der Beziehungen zwischen Juden, 'Heiden' und Christen gilt es auch, wenn möglich, den Einfluß und die Reaktion der staatlichen Autoritäten auf Gemeinde-, Provinz- oder Reichsebene in gebührendem Maße miteinzubeziehen, ihre Rolle als Beobachter und Vermitder etwa, aber auch als rechtsetzende und verhaltensbestimmende Instanzen. Wie jedes Modell ist auch das des 'market-place' an Speziai- bzw. Fallstudien zu überprüfen. Als Untersuchungsgegenstände ausgewählt wurden deshalb für die Sektion das Phänomen des Übertritts zum Judentum (bzw. des Proselytismus) einerseits, drei zeitlich wie räumlich geschiedene Situationen jüdisch-nichtjüdischer 'Begegnung' andererseits: im Alexandrien des 1. Jahrhunderts, im Rom des 3. und 4. Jahrhunderts und im Syrien des 4. und 5. Jahrhunderts n.Chr.

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Martin Goodman (Oxford)

The Significance of Conversion to Judaism: the Views of Jews, Converts and the Roman State There is much evidence that all Jews accepted by the end of the Second Temple period the notion that a non-Jew could become part of the Jewish people by becoming a proselyte. The status of a proselyte was always different for Jews to that of a native-born Jew. Even though the civil disabilities of a convert in Jewish society were few, prejudice even towards descendants of converts emerges frequendy. Formal recognition of proselytes as a group seems to have been gradually coming about in the late Second Temple period, although the failure of Josephus and Philo to use technical terminology for converts is striking. No writing by a convert survives from antiquity to reveal the attitude of proselytes themselves to their conversion, but a few stories in the works of Josephus reveal something about their views. The narrative of the conversion of the royal house of Adiabene reveals the conversion to have been effected by the self-definition of the convert rather than by any figure of authority within the Jewish community, so that a gentile could move from being a non-Jew who practices Jewish customs to being a proselyte effectively on whim. The loyalty of converts to the Jewish people was strikingly illustrated by Adiabenean nobles during the revolt of the Jews against Rome in 66-70 C.E. Jewish liberality with their citizenship must have seemed bizarre to Romans, who themselves were far more liberal with their own citizenship than other ancient peoples. Some Roman texts composed before the end of the first century C.E. may show awareness of the notion that a non-Jew could become a Jew, but the significance of proselytes will have become much more vivid to Romans after a change in 96 C.E. in the definition of Jewishness for those required to pay the special tax which had been imposed on Jews by the Roman state after the destruction of the Jerusalem Temple in 70 C.E. Walter Ameling (Jena)

Alexandria im 1. Jahrhundert n.Chr. Konfrontation und Isolation sind nicht unumgänglich, wenn verschiedene religiöse Gruppen an einem Ort nebeneinander existieren: Gerade für die Religionsgeschichte der Kaiserzeit hat J O H N N O R T H ein Modell vorgeschlagen, für das vielschichtige Angebote und einander gerade nicht ausschließende Wahlmöglichkeiten charakteristisch sind. Dieser 'market-place' der Religionen setzt friedliche Koexistenz und soziale Integration auch der unterschiedlichsten Gruppen voraus: Heiden, Juden, Christen müssen auf ihm in verschiedensten Formen vertreten sein. Koexistenz und Konfrontation sind dann nur die Extrempunkte einer Skala, auf der die Beziehungen dieser Gruppen zueinander angeordnet sind. Ein solches Modell läßt sich nur durch Fallstudien wirklich bestätigen, durch den Versuch, an konkreten Beispielen die relative Position der Religionen auf dieser Skala zu bestimmen und zu erklären. Alexandria bietet sich für eine solche Überprüfung aus drei Gründen an: 1. haben wir hier im Vergleich zu anderen Orten ein (relatives) Mehr an Quellen, 2. ist es gerade die jüdische Gemeinde in Alexandrien, deren Geschichte das Modell

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vom 'market-place' zu diskreditieren scheint. Die Jahreszahlen 38/41, 66, 115/16 stehen für Pogrome und eine Geschichte von gewaltsamer Konfrontation; 3. ergibt sich von hier aus eine weitere Frage: Wie haben sich die verschiedenen staatlichen Autoritäten — Gemeinden, Statthalter, Kaiser - auf dieser Agora verhalten und wie haben sie das Verhältnis der Religionen zueinander beeinflußt? Jüdische Diasporagemeinde, Polis und Imperium müssen in ein Verhältnis zueinander gebracht werden. Wir müssen also sehen, wie hoch der Grad der jüdischen Integration in Alexandrien war, ob es ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Diasporagemeinde und Umwelt gab, m.a.W.: wieviel Marktplatz in Alexandria zu beobachten ist. Die Interaktionen scheinen hier auf den ersten Blick geringer gewesen zu sein als anderswo, jedenfalls was den jüdischen Einfluß auf ihre Umwelt angeht: Ist das mit der langen eigenen Tradition der Gemeinde zu erklären, mit der Nähe zu Jerusalem, oder vielleicht mit dem Ende der Gemeinde in einer Zeit, in der sich die Agora der Religionen noch nicht so recht entwickelt hatte? Wie ist vor allen Dingen die Gewalt und Grausamkeit der Konfrontation zu begreifen, wenn - es keinen jüdischen Missionseifer gab, der die Heiden aufbrachte, - es keine steigende Zahl jüdischer Einwohner in Alexandrien gab, die demographischen Druck auf ihre Umwelt ausgeübt hätte, — es keine Tendenz zu einem sozialen Aufstieg der Juden in der alexandrinischen Gesellschaft gab, - die Juden nicht als Sündenbock für eigentlich gegen Rom gerichtete Gefühle dienten, - das jüdische Politeuma in Alexandrien keine eigene politische Struktur darstellte? Bei dem Versagen der meisten Erklärungsmodelle ist es vielleicht angebracht, sich an den Punkt zu halten, an dem der Konflikt tatsächlich entbrannte: das war der Kaiserkult, der sich zu einem der wichtigsten gesellschaftlichen Integrationsmechanismen entwickelt hatte. Das Modell vom 'market-place' setzt bereits eine Umbruchsituation voraus: Religion als Ausdruck der Loyalität zu den Göttern der Stadt wird ersetzt durch eine freie Wahl zwischen verschiedenen Gruppen. Loyalität und Bindung müssen daher anders mobilisiert werden — und diese religiöse und gesellschaftliche Umbruchsituation verband sich in Ägypten mit einem hohen Anpassungsdruck an Gegebenheiten der römischen Herrschaft. Nicht die Kontinuität zu ptolemäischen Institutionen war das wichtigste Charakteristikum der neuen Provinz, sondern die von Rom initiierten Änderungen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Verbinden wir diesen doppelten Umbruch nun mit einer langen Tradition des (auch gewaltsamen) Antisemitismus, so haben wir wenigstens in Umrissen eine Erklärung für die Lage in Alexandrien, die dem 'market-place'-Modell nicht widerspricht, sondern es integrieren kann.

Leonard V. Rutgers (Utrecht)

Rom im 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. Aus archäologischen und vor allem aus epigraphischen Funden geht hervor, daß die jüdische Gemeinde Roms im Laufe des 3. Jahrhunderts n.Chr. im Begriff war, sich zu einer der größten Diasporagemeinden der antiken Welt herauszubilden. Die reich vorhandenen Funde haben seit ihrer Entdeckung im 17. Jahrhundert immer wieder mit dem Interesse von Theologen, Althistorikern, Epigraphikern und, ab dem 19. Jahrhundert, auch von Judaisten rechnen können. Dabei läßt sich feststellen, daß alle diese Gelehrten trotz unterschiedli-

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cher methodologischer Ausgangspunkte und thematischer Schwerpunkte immer wieder zu derselben Schlußfolgerung gelangten, daß nämlich die jüdische Gemeinde Roms eine ärmliche, kulturell in völliger Isolation lebende Gruppe dargestellt habe. Ziel der Untersuchung war es zu überprüfen, inwieweit diese communis opinio im Lichte neuerer Forschungen auf dem Gebiet der Judaistik und vor allem aufgrund einer Analyse des stadtrömischen jüdischen Materials aufrechtzuerhalten ist. Dabei stellte sich heraus, daß man unter Verwendung literarischer, epigraphischer und archäologischer Quellen sehr wohl wahrscheinlich machen kann, daß die Juden im spätantiken Rom nicht so sehr in kompletter Absonderung, sondern vielmehr in ständigem Austausch mit der sie umgebenden Welt lebten. Bei einer kritischen Durchsicht der Zeugnisse läßt sich der Gedanke eines ghettoisierten Judentums für das antike Rom nicht länger aufrechterhalten. Eine solche Analyse legt aber auch nahe, daß die Existenz eines regen Austausches nicht bedeutet, daß Juden bei allen Kontakten mit der nichtjüdischen Umwelt ihre jüdische Identität kompromittieren mußten. Die These einer nicht mißzuverstehenden gesellschaftlichen Partizipation der Juden wirft zwei weitere Fragen auf: 1. Wie konnte es zum traditionellen Konsens kommen? Und: 2. Was sind die Implikationen einer dynamischeren Auffassung für die moderne jüdische Geschichtsschreibung? Johannes Hahn (Münster)

Syrien im 4. und 5. Jahrhundert n.Chr. Die überraschende Hinwendung Kaiser Konstantins zum Christentum markiert für das Verhältnis der Religionsgruppen untereinander im Römischen Reich den entscheidenden Wendepunkt: Die nach 312 einsetzende massive Förderung der 'katholischen' Kirche und der gleichzeitig wachsende staatliche Druck auf alle mit ihr konkurrierenden Gruppen, Kult- und Glaubensgemeinschaften mußte zwangsläufig eine Zerstörung jenes lebendigen, von Austausch und vielfältigen Wechselwirkungen geprägten Umgangs zur Folge haben, der zuletzt mit dem Modell des 'market-place' der Religionen umschrieben wurde. Zunächst Marginali sierung, dann Niedergang des spätantiken Judentums, wie sie sich in den zeitgenössischen Gesetzestexten abzuzeichnen scheinen, wären vor diesem Hintergrund — erst recht angesichts des historisch begründeten spannungsreichen Verhältnisses der beiden monotheistischen Religionen - als zwangsläufige Etappen eines sich nun dynamisch beschleunigenden Prozesses der abschließenden Etablierung des Christentums als Staatsreligion und als maßgeblicher gesellschaftsprägender Institution zu verstehen. Eine Untersuchung der Situation der jüdischen Gemeinden im syrischen Raum im 4. und ersten Drittel des 5. Jahrhunderts verweist allerdings auf gänzlich andere, ja gegenläufige Entwicklungen: Zunächst auf die ungeachtet rechdicher Einschränkungen und christlicher Polemik nachhaltige Blüte und enorme Attraktivität jüdischen Gemeindelebens und weiterhin auf eine tiefe Verunsicherung und in wachsender Aggressivität sich artikulierende Hilflosigkeit von Kirchenführern angesichts Stagnation und schwindenden inneren Zusammenhaltes ihrer Gemeinden. Ein zunehmend fragiles Nebeneinander von Koexistenz und Konfrontation kennzeichnet so das Bild des öffentlichen Auftretens der religiösen Gruppierungen in den Städten des Ostens.

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Die Bedingungen der sozialen Integration wie religiösen Ausstrahlung der jüdischen Gemeinden in ihrem lokalen Umfeld (Antiochia, Apamea, Edessa u.a.) sind ebenso herauszuarbeiten wie umgekehrt Erklärungen dafür zu finden, daß — für die betroffenen jüdischen Gemeinden offenbar gänzlich unerwartet — binnen weniger Jahre ein völliger Umschlag der äußeren Verhältnisse stattfinden und in seiner Folge die meisten Synagogen zerstört werden konnten. Hier ist die Neuformierung der sozialen, institutionellen und religiösen Kräfte nachzuzeichnen, welche der Blüte des spätantiken syrischen Judentums ein gewaltsames Ende bereiteten. Daneben ist aber auch der Frage nachzugehen, ob jene Gewaltausbrüche als ein spezifisch gegen jüdisches Gemeindeleben gerichtetes Phänomen anzusprechen sind oder aber nur als eine Facette einer nun verbreiteten christlichen Gewaltbereitschaft gegen abweichende Glaubensauffassungen überhaupt verstanden werden sollten.

Josef Wieseböfer (Kiel)

Abschließende Bemerkungen und Hinweise auf weiterführende Literatur Aus den Vorträgen und der anschließenden lebhaften Aussprache ergaben sich als Anregungen für die weitere Diskussion und für eine Publikation der Beiträge folgende Untersuchungsgegenstände, Fragen und Gesichtspunkte: 1. Da ist zunächst das 'market-place'-Modell selbst, das es im Lichte der Vorträge und Diskussionsbeiträge neu zu bewerten gilt, ein Modell, das in München als z.T. nutzbringend, z.T. auch modifizierungsbedürftig bewertet wurde. Sinnvoll dürfte es auch sein, das Modell religionswissenschaftlich-vergleichend zu untersuchen. Es stellt sich 2. die Frage nach der Aussagekraft der je spezifischen und aufs ganze gesehen eher spärlichen Zeugnisse, ihrer Repräsentativität und ihrer Wirkabsicht. Sind etwa Größe und Vitalität einer Glaubensgemeinschaft aus der Größe ihrer Repräsentativbauten oder der Häufigkeit der Erwähnung in bestimmten Zeugnissen ablesbar? 3. Wie sind diejenigen 'Marktbesucher' einzuschätzen, die zwischen zwei Ständen verweilen, verweilen möchten oder verweilen müssen, die 'judaisierenden' Christen etwa oder Teile der 'gottesfürchtigen' Jahweverehrer, wie diejenigen, die sich bewußt entscheiden, hinter dem jüdischen Marktstand Platz zu nehmen? 4. Geht die Übernahme kultureller Traditionen, Bräuche und Praktiken anderer Gruppen einher auch mit einer Erweiterung oder Infragestellung des alten religiösen Weltbildes oder mit einer Veränderung religiöser Praxis? 5. Bei aller gerechtfertigten Betonung der Bedeutung religiöser Koexistenz im Alltag bleibt doch zu fragen, wann und zu welchen Gelegenheiten es zur, um im Bilde zu bleiben, Zerstörung der Marktstände der jüdischen Konkurrenten kam. Wer waren die, die diese Konflikte evozierten und wer die, die sie austrugen? 6. Welche Rolle spielten die staatlichen Autoritäten auf dem Markt der Möglichkeiten, was waren ihre Interessen, welche Regulierungs- und Aufsichtmöglichkeiten besaßen sie und warum versagten diese zuweilen?

Grundlegende und weiterführende Literatur. The Jews among Pagans and Christians in the Roman Empire, ed. J U D I T H L I E U u.a., London 1992; Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegen-

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wart, hg. v. ROBERT JÜTTE U. ABRAHAM P. KUSTERMANN, Wien/Köln/Weimar 1 9 9 6 ; MARTIN G O O D M A N , Mission and Conversion. Proselytizing in the Religious History of the Roman Empire, Oxford 1 9 9 4 ; K A R L L E O NOETHLICHS, Das Judentum und der römische Staat. Minderheitenpolitik im antiken Rom, Darmstadt 1 9 9 6 ; LEONARD V. RUTGERS, The Jews in Late Ancient Rome. Evidence of Cultural Interaction in the Roman Diaspora, Leiden 1995.

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9. Selbstdarstellung von Eliten in den kaiserzeitlichen Städten des Imperium Romanum Leitung: Werner Eck (Köln)/Henner v. Hesberg (Köln) Armin U. Stylow (München): Eine provinziale Elite im Spiegel inschriftlicher Monumente: Das Beispiel Hispanien Valentin Kochel (Augsburg): Standorte. Ehrung und Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht am Beispiel der Vesuvstädte Dietrich Böschung (Regensburg): Stiftung und Anspruch — Stiftungen lokaler Eliten für das Kaiserhaus als Mittel der Selbstdarstellung Peter Weiß (Kiel): Kollektive und individuelle Selbstdarstellung auf städtischen Münzen Kleinasiens Armin U. Stylow (München)

Eine provinziale Elite im Spiegel inschriftlicher Monumente: Das Beispiel Hispanien Die Selbstdarstellung der städtischen Eliten im Hispanien der Hohen Kaiserzeit fand ihren höchsten Ausdruck und ihren topographischen Rahmen auf den öffentlichen Plätzen und den damit verbundenen Gebäuden dieser Städte. Ihre Mitglieder sind es, die den öffentlichen Raum beherrschten und prägten, und zwar sowohl in der Rolle der Agierenden, die — einzeln oder korporativ — Götter und Kaiser, die Garanten der politischen und sozialen Ordnung des Reiches, mit Bildnissen und Tempeln in den Städten gegenwärtig machten und überhaupt die Städte mit öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen ausstatteten und verschönerten, wie auch als Empfänger der öffentlichen Anerkennung ihrer Leistungen und ihres Ranges in Form von sichtbaren Ehrungen. Das klassische Demonstrationsobjekt von Ehrung und Verehrung war die öffentliche Statue, deren Errichtung es dem Stiftenden erlaubte, den Empfänger durch Wahl von Statuen- und Basistyp sowie durch den Aufstellungsort nuanciert zu ehren, aber auch die eigene Person in der Inschrift durch Nennung von Ämtern, Verdiensten und Beziehungen hervorzuheben. Entsprechendes galt auch für den privaten, vor allem den sepulkralen Bereich, obwohl dies in Hispanien aufgrund der trümmerhaften Überlieferung seltener nachweisbar ist. Noch weit größere Möglichkeiten der Selbstdarstellung bot naturgemäß der Bereich des öffendichen Bauens, in dem die Leistung für den allgemeinen Nutzen eine untrennbare Verbindung mit der Mehrung des individuellen Ruhmes einging, eine Verbindung, in die nicht selten zusätzlich Elemente des Götter- und Kaiserkultes mit einflossen. Zeitlich und räumlich sind starke Schwankungen und Varianten des Phänomens der Selbstdarstellung festzustellen, die in Hispanien in starkem Maße an die Blüte und den Niedergang des Städtewesens gekoppelt sind, das seinen Rahmen bildete und dessen Pro-

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dukt es war. Seinen Ausgang nimmt es in augusteischer Zeit von den alten städtischen Zentren im Osten und Süden der Halbinsel, erreicht seinen Höhepunkt in flavischantoninischer Zeit, in der es auch das zentrale Hochland ergreift, und geht dann - mit lokalen Aufschwüngen in severischer Zeit - im frühen 3. Jahrhundert außerhalb der großen Zentren schnell zurück, ohne jemals signifikant die nur schwach urbanisierten Gebiete im Westen und Norden zu erfassen. 1Valentin Kochel (Augsburg)

Standorte. Ehrung und Selbstdarstellung einer städtischen Oberschicht am Beispiel der Vesuvstädte Die Ausgrabungen in den Vesuvstädten brachten eine erstaunliche Zahl von Statuenbasen zutage, die sich an wenigen zentralen Punkten konzentrieren. Die meisten stehen am Forum der Stadt, wobei auffallt, daß viele von ihnen nicht auf den Platz selbst, sondern in die Vorhallen der umliegenden öffendichen Gebäude hin orientiert sind. Da von diesen Monumenten jedoch zumeist Statuen und Inschriftenplatten verloren gegangen sind, ist über die Grundform des Denkmals (Einzel- oder Reiterstatue) hinaus keine weitere Aussage über möglicherweise zugrunde liegende Ordnungsprinzipien möglich. In einer Reihe von Großbauten finden sich ebenfalls Statuen lokaler Honoratioren, die z.T. auch Bildnissen der kaiserlichen Familie zugeordnet wurden und deshalb in der älteren Literatur fälschlich als Mitglieder des Kaiserhauses galten. Als Stifter können derogo, ebenso aber Vereinigungen wie jene der fallones zeichnen. Zahlreich sind Stiftungen auch in den verschiedenen Tempeln, ohne daß deren Anlaß immer klar zu erkennen wäre. Während in Pompeji aus dem Theater nur wenige Hinweise auf Statuenehrungen erhalten sind, bietet das Theater von Herkulaneum ein fast vollständiges Bild frühkaiserlicher Statuenrepräsentation. In der Darstellung ganzer Familiengenerationen gleichen sie sich dem dynastischen Prinzip der kaiserlichen Galerien an. Neben diesen schon in den hellenistischen Städten üblichen Orten statuarischer Repräsentanz fallen andere besonders ins Auge und scheinen als ungewöhnliche Auszeichnung verstanden worden zu sein (Quadrifrons des M. Holconius Rufus in Pompeji und die Panzerstatue des M. Nonius Baibus vor dem Stadttor in Herkulaneum). Schließlich konnten noch die Grabbauten vor den Toren der Stadt zur persönlichen Selbstdarstellung genutzt werden, wobei hier die soziale Stellung des Einzelnen gegenüber seinen finanziellen Möglichkeiten von nachgeordneter Bedeutung war. Allerdings konnte auch hier der ordo an bestimmten Stellen (z.B. pomerium) durch die Abgabe von Land oder direkte Zuschüsse die Bedeutung der Darstellung steigern. Dietrich Böschung (Regensburg)

Stiftung und Anspruch - Stiftungen lokaler Eliten für das Kaiserhaus als Mittel der Selbstdarstellung Seit dem frühen Prinzipat gehörten Statuen des Kaisers und seiner Angehörigen zur Ausstattung öffentlicher Gebäude und Plätze. Als Stifter derartiger Denkmäler kennen wir

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sowohl politische, v.a. städtische Institutionen und bestimmte Personengruppen (Priesterschaften), wie auch prominente Einzelpersonen. Die Statuenprogramme dieser Stiftungen verdeutlichen die zentrale Rolle des Kaisers sowie die Dauer und die Eintracht der regierenden Dynastie. Auf der anderen Seite waren sie Ausdruck der Loyalität von Städten, Institutionen und Individuen gegenüber der Kaiserfamilie. Die allmählich gewachsenen, immer wieder korrigierten Galerien von öffentlich aufgestellten Kaiserstatuen konnten von den Städten als Ausdruck einer unwandelbaren Treue zum Kaiser angeführt werden. Stiftungen zu Ehren des Kaisers und seiner Angehörigen boten den Stiftern aber auch vielfaltige Möglichkeiten zur Darstellung eigener Leistungen und Ansprüche. Dies konnte auf unterschiedliche Weise geschehen: 1. durch die Nennung eigener Titel und des eigenen Ranges in der Dedikationsinschrift. Da die Kaiserstatuen durchweg an besonders auffalligen Plätzen aufgestellt wurden, konnten auch die dazugehörigen Inschriften der Stifter mit entsprechender Beachtung rechnen; 2. durch Hinweise auf eine besonders enge Verbindung mit dem Kaiser: entweder in der Inschrift, z.B. durch die Angabe eines Patronats-Verhältnisses, oder durch die Aufstellung des eigenen Bildnisses in unmittelbarer Nähe des Kaiserporträts; 3. durch den angestrebten Vergleich mit anderen, benachbarten Stiftungen. Peter Weiß (Kiel)

Kollektive und individuelle Selbstdarstellung auf städtischen Münzen Kleinasiens Seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. wurden die lokalen Münzen des Ostens immer stärker zu einem Medium städtischer Selbstdarstellung (großer Typenreichtum, starke Zunahme der Schriftelemente). Die Eliten, in deren Kontrolle die Prägung und ihre Gestaltung lag, boten damit den Bürgern zusätzlich reichliche Identifikationsmöglichkeiten mit 'ihrer' Stadt, und das heißt auch mit der sie leitenden und repräsentierenden Oberschicht, deren Leistungsbereiche in indirekter Form vielfach angesprochen werden (Kulte/ Priestertümer, Agone/Gesandtschaften, Agonotheten u.a.). Zudem wurden die bisherigen kargen Nennungen von „Münzbeamten" vor allem in der Provinz Asia ersetzt durch ausführliche Namensformulare mit Amtsangabe und häufigen zusätzlichen Prädikaten wie Asiarch, Sohn eines Asiarchen, Hippikos, Sophistes etc., die dizdignitas der Einzelpersonen sogar auf dem Medium der Münze herausstrichen. Besonders signifikant ist der Trend zur Stiftung auch von Prägungen, auf denen dann der Stifter namentlich festgehalten wurde, womit sein Name über die Zahlungsmittel unter die Leute kam; das geht so weit, daß vereinzelt der Euerget in Ich-Form spricht. Diese Trends haben teilweise eine Entsprechung in der veränderten Gestaltung städtischer Marktgewichte: Die traditionellen Elemente Stadtwappen/Stadtname treten zurück und verschwinden sogar ganz; statt dessen präsentiert sich der zuständige Agoranom groß mit Name und Titel(n).

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Mittelalter 1 0 . MONUMENTA GERMANIAE HISTÓRICA:

Tradition und Zukunft — Eine

Standortbestimmung Leitung: Rudolf Schieffer (München) Gerhard Schmit% (München): Bücher oder Dateien - die MGH und die EDV Martina Stratmann (München): Flodoard von Reims, Historia Remensis ecclesiae Herbert Schneider (München) : Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters Walter Koch (München): Die Herausgabe der Urkunden Kaiser Friedrichs II. Ein Langzeitunternehmen Konrad Bund (Brühl): Zur Edition der Werke des mittellateinischen Dichters Heinrich von Avranches (ca. 1190— 1262/63) Gerhard Schmitt (München)

Bücher oder Dateien - die M G H und die E D V Geisteswissenschafder stehen nicht gerade in dem Verdacht, neuen Techniken gegenüber besonders aufgeschlossen zu sein und sie innovativ zu nutzen. Die MGH haben hier keine Ausnahme gemacht: Der „allgemeine Wandel im Druck- und Verlagswesen" — und das meint die Ablösung des (Monotype-)Bleisatzes durch die Lichtsatzmaschine — war es denn auch, die den eigentlichen Anstoß für die Verwendung von Computern gab. Sie waren zunächst primär Ersatz für die Schreibmaschine, weil nur so möglichst fehlerfreie Druckdaten mit halbwegs vertretbarem Aufwand bereitgestellt werden konnten. Der Impuls für die Verwendung des Computers kam auch bei den MGH also von außen, wissenschaftsimmanente Aspekte spielten keine oder doch nur eine sehr untergeordnete Rolle. Immerhin: Mit Hilfe eines Computers ließen sich verhältnismäßig leicht und in kurzer Zeit Konkordanzen, Initienverzeichnisse und Register erstellen, und seither sind auf diesem Felde höchst beachtliche Hilfsmittel für die Forschung entstanden und werden weiterhin erarbeitet: Aus dem Bereich der MGH sei hier nur auf die von Timothy Reuter und Gabriel Silagi bearbeitete und 5 Bände zu je ca. 1.000 Seiten umfassende Konkordanz zum Decretum Gratiani (MGH Hilfsmittel 10, 1990) erinnert, in der über 400.000 Wörter verarbeitet und lemmatisiert werden mußten — ohne EDV ein Ding der Unmöglichkeit. Fand diese Konkordanz noch den Weg zum gedruckten Buch, so ist das bei dem jüngsten, gerade im Entstehen begriffenen Hilfsmittel schon anders: Die „elektronischen Monumenta" (eMGH) sollen sämtliche in den Monumenta-Reihen edierten Texte erfassen und recherchierbar

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machen. Nach dem Vorbild des CLCLT gestaltet, konnte pünktlich zum Historikertag vom Brepols-Verlag die erste CD-ROM vorgelegt werden, zu der jährlich eine Ergänzungslieferung erscheinen soll. So vortrefflich und willkommen das alles sein mag: im Vordergrund steht eindeutig der Hilfsmittelcharakter, und als einziges Medium zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen scheint es nach wie vor nur das Buch zu geben. Die Frage ist, ob dies so bleiben kann und so bleiben wird. Die EDV hat sich so rapide weiterentwickelt, daß sie inzwischen zu einem höchst effektiven Kommunikationsmittel und zu einem sehr flexibel einsetzbaren Medium geworden ist. Weil der PC längst kein isolierter Arbeitsplatzrechner mehr ist, sondern sich dank seiner Vernetzung zu einem vielfältig nutzbaren Arbeitsinstrument entwickelt hat, bieten sich in mehrfacher Hinsicht neue Aspekte. Die E-mail ermöglicht blitzschnelle (und kostengünstige) Übermittlung auch umfangreicher Nachrichten, die Übertragung von Dateien an andere ist ebenso möglich wie die Benutzung weit entfernter Rechner, das World Wide Web, in dem die Monumenta seit September 1996 unter der Adresse http://www.mgh.de vertreten sind, ist Kommunikations- und Informationsbeschaffungsmittel zugleich. All dies erlaubt neue und bislang nicht realisierbare Arbeitsmöglichkeiten: So ist es ohne weiteres möglich, daß verschiedene Personen an ganz verschiedenen Orten zur selben Zeit an der gleichen Edition arbeiten und die Ergebnisse ohne Zeit- und Informationsverlust allen Mitarbeitern zur Verfügung stehen. Verglichen mit der bislang dominierenden Arbeitsform - ein Einzelforscher mit mehr oder weniger kleinem Mitarbeiterteam (in der Regel bestehend aus einem Assistenten und Hilfskräften) - , rücken hier Projekte mit einer Größenordnung in den Bereich des Möglichen, die bislang als 'nicht machbar' gelten mußten. Projekte mit solchen Dimensionen verlangen nach einer Sichtbarmachung und Darstellung schon vor ihrem Abschluß. Mit Recht werden langfristige Unternehmungen etwa der Akademien u. a. deshalb kritisiert, weil die Öffentlichkeit z.T. über Jahrzehnte hinweg von den erzielten Forschungsergebnissen nichts sieht. Die beachtlichen medialen Qualitäten, welche die EDV mittlerweile gewonnen hat, können hier Abhilfe schaffen. Anders als das in seiner Produktion teurere und dann statische Buch ist eine Präsentation auch vorläufiger Ergebnisse etwa im Internet preiswert, die Daten bleiben 'mobil' und können jederzeit ergänzt und verbessert werden. Das elektronische Medium für solche „Pre-printpublications" zu nutzen ist derzeit zwar noch reichlich ungewöhnlich, aber — die einschlägige Begriffsbildung („work in progress") zeigt es — doch immerhin schon recht vorstellbar. Aber nicht nur 'unterhalb' der Schwelle des gedruckten Buches ist der Einsatz des elektronischen Mediums denkbar, letzteres konkurriert auch mit dem Buch und kann an seine Stelle treten. In beiden Bereichen entwickelt sich ein entsprechender Markt, und die Benutzung einer CD-ROM ist mittlerweile so alltäglich, wie es die Zitation einer Internet-Adresse schon in wenigen Jahren sein wird. Nimmt man noch hinzu, daß die 'Eigenproduktion' einer CD ausgesprochen billig und die Präsentation im W W W geradezu kostenlos ist, so gehört wenig Phantasie zu der Vorhersage, daß das elektronische das Printmedium in den Bereichen ersetzen wird, in denen sich die Herstellung eines Buches schon aus Kostengründen nicht lohnt. Konkurrierend wird es dem Buch zur Seite treten, wo man das eine haben und auf die Vorteile des anderen nicht verzichten will. Dies ist vor allem bei größeren, auf mehrere Buchbände verteilten Textmengen der Fall: Hier ist - ganz abgesehen

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von der im Zweifelsfall wesentlich größeren Verfügbarkeit — die Benutzung des elektronischen Textes allemal effizienter, als es die von Büchern je sein kann. Und man wird vor allem dort die elektronische Publikation vorziehen, wo die Daten aus irgendeinem Grunde flexibel und beweglich gehalten werden müssen und das notwendigerweise 'starre' Buch solchen Anforderungen grundsätzlich nicht gerecht werden kann. Die hier skizzierten Möglichkeiten sind noch weit davon entfernt, in den Geisteswissenschaften allgemein und mithin auch in der Geschichtswissenschaft 'Standard' zu sein, aber sie sind auch nicht irgendwo in Utopia angesiedelt, denn die technischen Möglichkeiten stehen bereit: sie kreativ im Dienste der Forschung zu nutzen ist und bleibt eine Aufgabe auch der Monumenta Germaniae Histórica. Martina Stratmann (München)

Flodoard von Reims, Historia Remensis ecclesiae 1990 nahm die Zentraldirektion der MGH die Historia Remensis ecclesiae des Kanonikers und Archivars der Reimser Kirche Flodoard (*893/94—966) aus dem mitderen 10. Jahrhundert unter die neuen Projekte auf, obwohl diese Quelle bereits 1 8 8 1 von JOHANNKS HELLER und G E O R G W A I T Z in MGH Scriptores Band 13 ediert worden war und sich seitdem an der Überlieferungslage (7 vollständige und 1 unvollständige Handschrift sowie ein Fragment) so gut wie nichts geändert hat. Das Werk, das die Geschichte von Stadt und Bistum Reims unter Inserierung bzw. Erwähnung zahlreicher Urkunden, Briefe und anderer schrifdicher Hinterlassenschaften der Bischöfe schildert, war im 10. Jahrhundert schnell zum Vorbild der Gattung Bistums- und Klostergeschichte avanciert, in seiner Verbreitung aber entgegen der Meinung der älteren Forschung nicht über Reims und den Maas-MoselRaum hinausgelangt, wie sich an der Provenienz der Handschriften und der Herkunft der Rezipienten ablesen läßt. Neben singulären Nachrichten zur quellenarmen Frühzeit des Bistums enthält die Historia wichtige Informationen zur Entstehung des westfränkischen Reiches und ist außerdem eine Quelle von großem Wert für die Erforschung des Oeuvre Erzbischof Hinkmars von Reims (845—882), insbesondere seiner Briefe, von denen Flodoard über 450 in zumindest knappen Regesten als einziger verzeichnet hat. Hinzu tritt die Bedeutung seines Werkes für die merowinger- und karolingerzeitlichen Königs- und Privaturkunden für Reims, da Flodoard für ungefähr 89 Deperdita und 5 im Volltext inserierte Urkunden der einzige Gewährsmann ist. Offenbar verfolgte er mit seiner Reimser Kirchengeschichte den Plan, nicht nur die religiöse und kirchliche Bedeutung des Erzbistums darzustellen, was sich in zahlreichen im Werk rezipierten Viten, Visionen und Wundergeschichten manifestiert, sondern auch die Rechte und Besitztümer des Reimser Bistums, die ihm als Archivar als Einzelurkunden und Briefe vorlagen, durch Integration in sein Werk dauerhaft zu bewahren. Gegenüber der älteren Forschung ist also nicht nur eine Neubewertung von Flodoards schriftstellerischer Leistung angesagt, sondern auch die Auswertung seiner Mitteilungen über Urkunden und Briefe, denen sowohl die Neuedition der Historia als auch die Ausgaben der Briefe Hinkmars von Reims, der Concilia und der Diplomata werden Rechnung tragen müssen.

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Herbert Schneider (München)

Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters Die im Sommer 1996 erschienene Edition der mittelalterlichen Formulare zur liturgischen Feier von Synoden bis ca. 1200 fallt aus dem Rahmen der sonstigen Monumenta Germaniae Histórica. Von ihrem Inhalt her noch am ehesten mit den Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin vergleichbar, reichen die Synodalordines allerdings viel weiter zurück — bis zum 4. Konzil von Toledo (633). Synodalentscheidungen, wie sie sich in Kanones, Urkunden oder Briefen niedergeschlagen haben, hatten seit alters ihren festen Platz innerhalb der MGH (vgl. die Reihe „Concilia"). Die Ordines der Synoden unterrichten aber über eine andere Wirklichkeit: die Synoden selbst. Sie werfen Licht auf eine Seite der mittelalterlichen Synodengeschichte, die einer einseitig rechtsgeschichtlichen Sichtweise lange verborgen blieb, die wir aber ernst nehmen müssen und die nach dem Selbstverständnis der Zeitgenossen wesentlich war: Diese Kirchenversammlungen waren für die, welche sie veranstalteten, keine säkularisierten Ereignisse. Sie wollten zwar Konflikte bereinigen und das Kirchenrecht weiterentwickeln, dies alles aber in gottesdienstlichen Formen und unter dem Beistand des Heiligen Geistes. In westgotischer Zeit sind diese Ordines zwar noch stärker kanonistisch geprägt, entwickeln sich aber im Verlauf des Mittelalters immer deutlicher zu rein liturgischen Formularen, und es mag mit der ab dem Hochmittelalter einsetzenden Spezialisierung von Kanonistik und Liturgiewissenschaft zusammenhängen, daß beide Disziplinen in der neuzeitlichen Editionsgeschichte der Synodalordines kaum voneinander Notiz genommen haben. Im Charakter dieser Gattung liegen spezielle Editionsschwierigkeiten, die sich zunächst in der heuristischen Phase bemerkbar machten: Ordines sind anonyme Texte ganz unterschiedlichen Umfangs (von 39 Zeilen bis 613 in der jetzigen Quart-Ausgabe) und oft ganz versteckt als Extravaganten überliefert. Es blieb also für den Editor nur der Weg, in möglichst vielen 'verdächtigen' Handschriften systematisch nach Uberlieferungen zu suchen. Am Ende standen dann über 300 Handschriften mit Synodalordines, von denen bisher lediglich ein gutes Drittel bekannt war. Überlieferungen zu finden war das eine Problem, die Texte editorisch darzustellen ein anderes. Fast alle Synodalordines stehen nämlich miteinander in einer Textverwandtschaft und sind (nach einem Ausdruck von Michel Andrieu) „textes vivants", wurden ständig weiterentwickelt und auch keineswegs zentral normiert, sondern durchaus an einzelnen Bischofssitzen neuen Verhältnissen angepaßt. Das Liturgieverständnis des Mittelalters war keineswegs geprägt vom Rubrizismus der neuzeitlichen römischen Kurie. So lassen sich die 43 Konzilsordines der Edition verstehen als Ausdruck einer überraschend vielfältigen, aber beileibe nicht beliebigen Vorstellung davon, wie man Synoden zu feiern hatte — immer getragen von dem Bewußtsein, daß nach einem Wort von Pierre d'Ailly die Form zum Wesen einer Sache gehöre („cum forma sit de essentia rei").

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Walter Koch (München)

Die Herausgabe der Urkunden Kaiser Friedrichs II. Ein Lang2eitunternehmen „Auf die Monumenta könne man doch nicht warten". Mit diesen Worten teilte Johann Friedrich Böhmer im Jahre 1856 Julius Ficker mit, daß er alle seine „inedita für Friedrich II." HUILLARD-BRÉHOLLES übergeben habe. Dessen Edition, die für ihre Zeit hervorragende „Historia diplomatica Friderici secundi", erschien mit sechs Teilen in elf Bänden und einem Band „Préface et introduction" in den Jahren 1852-1861 in Paris. Gemessen an unserem heutigen Wissensstand — den 1 9 8 3 von PAUI, ZINSMAIF.R veröffentlichten Nachträgen und Ergänzungen zu den 1881—1901 erschienenen Böhmer'schen Regesta Imperii in der Bearbeitung von JULIUS F I C K K R und EDUARD W I N K E L M A N N und den in den letzten Jahren erfolgten Neu- und Wiederfunden — enthält die Edition des Franzosen knapp 60% der Diplome und Mandate des Stauferkaisers. Nimmt man WINKKLMANNS „Acta imperii inedita" (1880-1885) hinzu, so sind es knapp 70%, die durch die beiden Editionen abgedeckt sind. Diese erfolgten nur teilweise aufgrund eigener Archivbesuche, sondern oft nach Abschrift Dritter, vielfach nach Überlieferungen oder auch alten Drucken, derer man gerade habhaft werden konnte. Eine auf den inzwischen durch THEODOR S I C K E L in Wien entwickelten Methoden der modernen Diplomatik und auf modemer Archivforschung beruhende Gesamtausgabe sollte daher krönender Abschluß der bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Bemühungen um die Urkunden Friedrichs II. sein. Diese 1904 von Paul Fridolin Kehr geforderte Ausgabe, die erste konkrete Initiative von deutscher Seite — er verstand es geschickt, hierfür das Interesse Kaiser Wilhelms II. zu wecken —, wurde mit Zustimmung der Monumenta Germaniae Histórica dem Preußischen Historischen Institut in Rom übertragen. Die Zeitereignisse führten dazu, daß dieses Projekt in der geplanten Form nicht realisiert werden konnte. Voraussetzung für die nun laufenden Arbeiten an einer modernen kritischen Edition war der förmliche Beschluß der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Histórica im Jahre 1978, die Ausgabe der Diplome der späteren Stauferzeit in das Programm aufzunehmen, sowie die einige Jahre später erfolgte Beauftragung des Referenten, dem in Dr. Klaus Höflinger und Dr. Joachim Spiegel hauptamtliche Mitarbeiter zur Seite stehen. Jegliches Planen und jegliches Arbeiten an den Urkunden Friedrichs II. — die Briefe und Manifeste sowie das Neapolitaner Registerfragment werden nicht im Rahmen dieser Ausgabe bearbeitet — wird durch die beträchtliche Materialmasse bestimmt, die mehr als das Doppelte der 1990 vollendeten Edition der Dokumente Friedrich Barbarossas ausmacht. Ohne die bisher festgestellten Deperdita liegt die Zahl der Diplome und Mandate bei über 2.400. Davon sind mehr als 880 noch im Original vorhanden. Die Überlieferungen, die es zu erfassen gilt, liegen in den Archiven und Bibliothekn zwischen Malta und Stockholm, London und Moskau, besonders dicht selbstverständlich in Zonen reicher staufischer Präsenz. Veröffentlichungshinweis·. WALTER KOCH, Das Projekt der Edition der Urkunden Kaiser Friedrichs II., in: Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994, hg. von ARNOLD E S C H U. NORBERT K A M P (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 85),

Tübingen 1996, S. 87-108.

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Konrad Bund (Brühl)

Zur Edition der Werke des mittelalterlichen Dichters Magister Heinrich von Avranches (ca. 1190-1262/63) Der um 1190 in Avranches in der damals noch englischen Normandie geborene Heinrich von Avranches erwarb vor ca. 1212 an einer Artistenfakultät, vermutlich in Paris, den Magistertitel. Als besitz- und pfründenloser 'Intellektueller' ergriff er den 'Beruf' eines lateinischen „Versificators", Poetiklehrers und Dichters, der seine Dienste im Umherziehen anbot, wo immer nach ihnen Bedarf bestehen konnte. Nach Ausweis ihm zugeschriebener Werke war er 1212/13 in England tätig und hielt sich im Herbst 1215 in Rom auf. Von 1219 bis 1221 ist er in England anzutreffen, 1221/22 in Köln, von 1222 bis 1227 wieder in England, das er in diesem Jahre verließ. Von ca. 1228/29 bis 1235 ist er in Italien, dann wieder 1240 in Trier oder Montabaur und in Paris nachweisbar, wonach er 1240/41 in Le Mans und 1242 in Angers auftauchte. Aus dem benachbarten Poitou folgte der Dichter dem englischen König Heinrich III. nach England, wo er von 1242/43 bis 1245 und von 1249/50 bis zum Ende seines Lebens als versificator und clericus des Königs literarisch, vor allem aber urkundlich vielfach belegt ist. Im Alter offenbar zu gewissem Wohlstand gekommen, war er um 1254/55 Besitzer eines Hauses in London. Vermutlich dort ist er 1262/63 verstorben. Der vorzügliche lateinische Verse schreibende Normanne Magister Heinrich von Avranches, den JOSIAH C. RUSSELL als „international poet" bezeichnet hat, ist der letzte bedeutende Vagantendichter. Er zog ein halbes Jahrhundert lang von Hof zu Hof und stand mit vielen politisch, kirchlich und intellektuell führenden Persönlichkeiten Europas in Kontakt. Sein Werk zeichnet sich aus durch bedeutende sprachliche Qualität und ebensolche metrische Virtuosität, einen weiten Bildungshorizont und weitgespannte Variabilität der behandelten Gegenstände. Vor allem aber sind viele seiner Gedichte aufs engste mit gewichtigen Vorgängen der Zeitgeschichte verwoben. Wie ein moderner Rechtsanwalt wurde Heinrich berufsmäßig für jeden dichterisch tätig, der ihn bezahlte, z.B. für Kölner Kaufleute in England oder Anhänger Kaiser Ottos IV. auf dem Laterankonzil. Er verfaßte zahlreiche „Supplikationen" an Papst Gregor IX. im Interesse z.B. solcher Prälaten, die an die Kurie vorgeladen waren oder dort Hilfe gegen Bedränger oder Entscheidung in Streitsachen suchten. Zu seinen 'Kunden' zählten der letzte Abt von Lorsch, ein Dekan von Maastricht, ein Magister der deutschen Johanniter, Erzbischof Siegfried III. von Mainz, sein Kölner Kollege Heinrich von Molenark, der Erzbischofelekt von Canterbury John Blund, Simon de Sully, Erzbischof von Bourges, und Milo von Nanteuil, Bischof von Beauvais. Gedichte und Heiligenviten schrieb der Dichter für Papst Gregor IX., Erzbischof Stephen Langton von Canterbury, Bischof Peter des Roches von Winchester, König Ludwig IX. von Frankreich und König Heinrich III. von England. Im eigenen Interesse richtete er Eulogien und Bittgedichte an potentielle und wirkliche Gönner wie Papst Gregor IX., Kaiser Friedrich II., den Kölner Erzbischof Engelbert von Berg und den Trierer Theoderich von Wied. In formellen, öffendichen Dichterwettstreiten kreuzte er vor hochmögenden Hörern die Klinge mit literarischen Rivalen. Magister Heinrichs Gesamtwerk ist ebenso relevant für die deutsche wie für die englische, französische oder italienische Geschichtsschreibung. Da sich Vita und Werk des Dich-

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ters nur im ungeteilten Gesamtzusammenhang aller erreichbaren Informationen und Werkbestandteile zutreffend rekonstruieren lassen, ist auch nur eine zusammenhängende Publikation seiner opera omnia wissenschaftlich sinnvoll, die freilich in den nationalen Quelleneditionen jeder der genannten Nationen ihren legitimen Platz hätte. Die durch wissenschaftliche Forschungen abgesicherten Kenntnisse über Heinrich haben inzwischen einen Umfang erreicht, der eine solche Gesamtausgabe erstmals erreichbar erscheinen läßt. Die eingeschlagene Vorgehensweise besteht darin, zunächst unter Zusammenführung bisher publizierter Einzelkenntnisse und Einzeldrucke auf der Basis der beiden Haupthandschriften und der bisher identifizierten Nebenhandschriften den über 160 Dichtungen mit ca. 22.000 lateinischen Versen umfassenden Kern seines etwa zur Hälfte erhaltenen Gesamtwerkes historisch-kritisch zu edieren, chronologisch wie lebensgeschichtlich einzuordnen und mit einem historischen Sachkommentar zu versehen. Auf dieser Basis wird es dann möglich sein, in einem zweiten Arbeitsschritt zu versuchen, das noch ungelöste Problem anonymer Streuüberlieferung in mittelalterlichen Gedichtanthologien durch Suche nach Similien und Selbstzitaten anzugehen, wobei aber eine 'abschließende' Klärung sicher nie zu erreichen sein wird. Diese aus der Überlieferungssituation geborene Vorgehensweise impliziert in Verbindung mit der chronologisch angelegten Struktur der Edition, daß die endgültige Anordnung der Gedichte und damit auch ihre laufende Numerierung erst nach vollständigem Abschluß der Editionsarbeiten feststehen können, was eine schrittweise Publikation in Faszikeln ausschließt. Die bei der Edition anfallenden historiographischen Erkenntnisse zur Lebensgeschichte des Dichters und zur Geschichte des 13. Jahrhunderts sollen in den Schriften der MGH publiziert werden.

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11. Völker - Stämme - Herzogtümer? Verfassung und Ethnogenese im ostfränkischen Reich (9. bis 10. Jahrhundert) Leitung: Bernd Schneidmüller (Bamberg) Bernd Schneidmüller (Bamberg) : Völker — Stämme — Herzogtümer? Von der Vielfalt der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich Thomas Zot^ (Freiburg i.Br.): Volksbildung und Herzogtum in Alemannien Matthias Becher (Paderborn): Volksbildung und Herzogtum in Sachsen Hans-Werner Goet% (Hamburg): Zur Terminologie ostfränkischer Ethnogenese: Dergww-Begriff im 9. und 10. Jahrhundert Bernd Schneidmüller (Bamberg)

Völker - Stämme - Herzogtümer? Von der Vielfeit der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich Die nachkarolingischen ¿¿«fer wurden unter dem Eindruck der in der Romantik entwickelten Vorstellung vom Stamm als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft zu Bausteinen des größeren deutschen Volkes stilisiert. Diese Überordnung des deutschen Volkes über seine Stämme ging noch in den Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung von 1919 ein. Die ältere mediävistische Forschung machte zwar durchaus Unterschiede zwischen den wanderzeitlichen und den nachkarolingischen gentes aus und differenzierte vor allem früh- und hochmittelalterliche Verfassungszustände in der Begrifflichkeit des älteren und des jüngeren Stammesherzogtums, beharrte aber auf der Idee der Stämme als Gliederungen des deutschen Volkes, das traditionellen Vorstellungen zufolge spätestens im 9./10. Jahrhundert entstand und sich sein Reich schuf. Durch die Arbeiten von REINHARD W E N S K U S und der Wiener Schule um H E R W I G W O L F RAM zu den frühmittelalterlichen Ethnogenesen wie durch die Ergebnisse des „Nationes"Projekts zur nachkarolingischen Nationsbildung sind ältere Modelle gestufter politischer Verbandsbildungen im Sinne einer „Volkswerdung" über den Stämmen wie die Idee der Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft erschüttert und die prägende Bedeutung der Verfassungsverhältnisse anstelle biologistischer Mythen herausgearbeitet worden. Nach den Debatten über die gestreckte deutsche Nationsbildung des Mittelalters müssen manche Lehrmeinungen über das Verhältnis und die Begrifflichkeit von Volk, Stamm, Reich und Herzogtum, über die Unterschiedlichkeit der wanderzeitlichen und nachkarolingischen^ewfer sowie über das Verhältnis von Volk und Land neu bedacht werden. Besondere Bedeutung erlangen dabei Einsichten in die Dauerhaftigkeit von Ethnogenesen unter dem Eindruck sich wandelnder Verfassungsverhältnisse im 9.-11. Jahrhundert, vor allem in die Gleichzeitigkeit anhaltender gentiler Volksbildung mit der supragentilen mittelalterlichen Nations-

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bildung. Nachkarolingische gentes scheinen mit wanderzeidichen Verbänden vielfach nur das nomen gentis gemein zu haben und gewinnen ihre jeweils neue Gestalt im 9./10. Jahrhundert aus der Frankisierung und Defrankisierung West- und Mitteleuropas, während die Ethnogenese der „Deutschen" schon im Bewußtsein des 11. Jahrhunderts in den Rahmen mittelalterlicher Volksbildung eingefügt wurde. Solche Vorgänge sind nur in einem kombinierten verfassungs-, landes- und begriffsgeschichtlichen Ansatz zu beschreiben und gewähren uns grundsätzliche Einsichten in europäische Verbands- und Gruppenbildungen. Matthias Hecher (Paderborn)

Volksbildung und Herzogtum in Sachsen Die Entstehung des sächsischen Herzogtums veranschaulicht, wie ethnogenetische Prozesse von politischen Strukturen abhängig waren. Die Sachsen verloren als Folge der Eroberung durch die Franken ihre gemeinschaftsstiftenden Elemente — die Religion und ihre rudimentär ausgebildeten gemeinsamen politischen Institutionen. Sachsen wurde in der Folgezeit kolonisiert: Die Besiegten erhielten eine neue Religion samt kirchlich-administrativen Strukturen und wurden mittels der fränkischen Grafschaftsverfassung regiert. Die meisten sächsischen Adligen waren zur Mitarbeit bereit, so daß sie relativ bald wichtige Funktionen innehatten. Dies brachte sie in unmittelbare Berührung mit dem fränkischen König, der damit zum ideellen Mittelpunkt der politisch entscheidenden Schicht Sachsens wurde, wie eine Analyse der origo gentis, der Sage über die Herkunft des Volkes, aus dem 9. Jahrhundert zeigt. Dieses Ergebnis spricht gegen die Vermutung, daß es vor 919 bei den Sachsen ein politisches Eigenständigkeitsbewußtsein gab, das so weit entwickelt war, daß sie unter einem dux (Herzog) zu einem einheitlichen politischen Verband vereint werden konnten. Gerade dies hatte die Forschung bislang vorausgesetzt, wenn sie für das ausgehende 9. Jahrhundert die Entstehung eines sächsischen 'Stammesherzogtums' postulierte. Zwar scheinen diesem Ergebnis einige zeitnahe Darstellungen entgegenzustehen, in denen die Liudolfinger als sächsische duces bezeichnet werden, doch sind alle diese Berichte vor dem Hintergrund neuer ethnogenetischer Entwicklungen zu betrachten. Denn das Selbstverständnis der Sachsen änderte sich im Laufe des 10. Jahrhunderts: Die origo gentis weist in der Version Widukinds von Corvey deutlich antifränkische Züge auf. Die Wandlung, die sich hinter diesem veränderten Verständnis der gemeinsamen Geschichte von Sachsen und Franken verbirgt, läßt sich mit dem Aufstieg des in Sachsen ansässigen Liudolfingers Heinrich erklären, der im Jahr 919 zum König des Ostfrankenreiches gewählt worden war. Die Tatsache, daß sich mit ihm der politische Schwerpunkt des Ostfrankenreiches in das Harzgebiet verlagerte, gab der sächsischen Ethnogenese wieder neue Schubkraft. Nach wie vor bildete der König ihren Bezugspunkt, doch bot er durch seine unmittelbare Präsenz im Land - zudem als Sachse — noch bessere Identifikationsmöglichkeiten als einst der fränkische König. Nun erst entwickelten die Sachsen auch ein Bewußtsein politischer Eigenständigkeit. Sie stellten den König und fühlten sich damit nicht nur den Bayern und Alemannen, sondern auch den Franken überlegen.

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Gefördert wurde dies durch die großen Erfolge, die vor allem die beiden ersten liudolfingischen Herrscher erringen konnten. Auf der anderen Seite nahm deren Präsenz im Lande als Folge der Ausdehnung ihres Machtbereichs immer mehr ab: Das östliche Franken oder gar Italien erwiesen sich als attraktiver für Otto den Großen als Sachsen selbst. Diese Entwicklung löste Irritationen im sächsischen Adel aus, die sich in der regen Beteiligung seiner Mitglieder an den Aufständen gegen Otto zeigen. Besonders gefährlich war die Erhebung seines Sohnes Liudolf und seines Schwiegersohnes Konrad des Roten im Jahr 953. In dieser Situation entschloß sich der Herrscher dazu, mit Hermann Billung einen bewährten Gefolgsmann zum sächsischen dux zu erheben, um den Rücken für die Bekämpfung der Aufständischen freizubekommen, die von Ostfranken und Bayern aus operierten. Auch nach deren Niederlage behielt Hermann seine Stellung in Sachsen bei und konnte sie sogar noch ausbauen. Thomas Zot^ (Freiburg i.Br.)

Volksbildung und Herzogtum in Alemannien Die Alemannia, erstmals bei Gregor von Tours als politisch verfaßter Raum der von den Franken besiegten und nach ostgotischer Schutzherrschaft seit 536/537 dem Merowingerreich unterstellten Alemannen bezeugt, trägt einen Namen, der in der Spätantike das von Rom bezwungene Gebiet bezeichnete. Wenn die hofnahe frühkarolingische Geschichtsschreibung angesichts der Beseitigung der dukalen Vormachtstellung in Alemannien um die Mitte des 8. Jahrhunderts davon spricht, daß àïeSuavia jetzt Alamannia genannt werde, so scheint sich in dieser Umbenennung der Rückgriff auf einen früheren Usus herrschaftlichen Zugriffs zu spiegeln. Dieses hier scharf kontrastierte Nebeneinander der Gruppenund Gebietsnamen Suevi/Suevia und Alamanni/ Alamannia, das von der Merowingerzeit an belegt ist und unter anderen Vorzeichen noch heute eine gewisse Rolle im südwestdeutschen Diskurs spielt, läßt sich als Gradmesser für die Positionierung Alemanniens ebenso wie für das Fremd- und Selbstverständnis des so merkwürdig zweifach bezeichneten Volkes und seiner Formation in karolingisch-ottonischer Zeit benutzen; ein Schlüsselzeugnis ist dabei die erste überlieferte Äußerung aus alemannischer Sicht über dasnomenpatriae, der Prolog Walahfrid Strabos zu seiner Überarbeitung der Gallusvita von 833/34. Das Datum dieser Reflexion erscheint vor dem Hintergrund der historischen Situation nicht zufallig: Damals war mit dem regnum Caroli, dem Teilreich Karls des Kahlen, des Sohnes Ludwigs des Frommen aus seiner Ehe mit Judith, ein politischer Raum, bestehend aus Alemannien, dem Elsaß und Churrätien, gebildet worden; der Chronist Nithard, Angehöriger der karolingischen Familie und Parteigänger Karls des Kahlen, begriff ihn insgesamt als Alemannia. Während die bisherige Forschung die merowingerzeitliche^/iwa««M mit deren älterem Dukat und das jüngere Herzogtum Schwaben seit dem frühen 10. Jahrhundert in durchaus kontroverser Deutung zueinander in Beziehung gesetzt hat, wird der herzogslosen 'Zwischenzeit', der karolingischen Periode, stärkere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die alemannische Volksbildung zugewandt. Außer durch die karolingerzeitliche Frankisierung der Führungsschicht als bereits gut untersuchtes Mittel der Integration wurde di & Alemannia durch den herrschaftlichen Zugriff der karolingischen Politik entscheidend geprägt. Hier sind die Rahmenbedingungen für die weitere alemannische Volksbildung zu suchen: Vom

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Reich Karls des Kahlen läßt sich der Bogen über Ludwig den Deutschen als zeitweiligen rex Alamannorum und über Karl III. als rex Alemanniae (beides aus St. Galler Sicht) bis hin zum dux Alemannorum des 10. Jahrhunderts und seinem Kompetenzbereich spannen. Zu fragen ist nach der Funktion des Herzogs in Schwaben und für die Schwaben, aber auch nach der Auswirkung gewandelter Rahmenbedingungen im Reich der Ottonen: Der allmählich zunehmende Gebrauch der Bezeichnungen Suevi und Suevia darf vielleicht als sprachlicher Ausdruck gesteigerten Volksbewußtseins gelten, wie andererseits die Präsenz despopulus als politisch handelnder Gruppe in der Herrschaftspraxis Ottos III. und Heinrichs II. auffallt.

Hans-Werner Goet% (Hamburg)

Zur Terminologie ostfränkischer Ethnogenese: Der^j-Begriff im 9. Jahrhundert Daß die „Stämme" im fränkischen und deutschen Reich des frühen und hohen Mittelalters eine bedeutende Rolle spielen, ist eine herkömmliche, in den letzten Jahrzehnten durch die Diskussion um die karolingischen regna, die fränkischen Fürstentümer und die sogenannten ostfränkisch-deutschen Stammesherzogtümer zwar kritisch berührte, aber keineswegs aufgegebene Vorstellung der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, die die Frage in aller Regel von den tatsächlichen Zuständen, aber auch unter nicht-hinterfragten Voraussetzungen und Stammeskonzeptionen anging. Im Lichte neuerer, zuerst von REINHARD W F . N S K U S angeregter und seither intensiv betriebener Forschungen sowohl zur Ethnogenese frühmittelalterlicher Stämme und Völker wie zur Nationsbildung der europäischen Staaten stellt sich der Sachverhalt wohl anders dar. Vor dem Ergebnis, daß Stämme, Völker und Nationen keineswegs 'naturgegebene', vornehmlich auf gemeinsamer Abstammung beruhende Einheiten, sondern nicht zuletzt unter politischen Bedingungen der Herrschaft und Integration allmählich gewachsene und in einzelnen Epochen und Kulturen durchaus unterschiedliche Phänomene sind, kommt nicht nur dem (bei der Nationsbildung längst berücksichtigten) Gemeinschaftsbewußtsein, sondern auch dem jeweilig zeitspezifischen, in diesem Fall also frühmittelalterlichen Verständnis von Stämmen und Völkern eine entscheidende Bedeutung zu, denn selbstverständlich entspricht die frühmittelalterliche^OTJ- nicht einfach unserem Konzept von einem „Stamm". Diese Frage ist bislang aber nur ansatzweise und unbefriedigend verfolgt worden. Deshalb wurde sowohl nach dem zeitgenössischen Verständnis von gens unà verwandten Begriffen wie nach deren praktischem Gebrauch und nach der Wahrnehmung in der frühmittelalterlichen Historiographie (als wichtiger Quelle für die „Selbstinterpretation des Zeitalters") gefragt. Auf der Grundlage einer Ubersicht über die Äußerungen über frühmittelalterliche Völker insgesamt und die ostfränkisch-deutschen Stämme im besonderen in drei wichtigen Geschichtswerken des 9. und 10. Jahrhunderts wurde daher untersucht, a) was gens für die Autoren überhaupt bedeutete, b) wie diese solche Völker wahrnahmen, c) wie die Begriffe benutzt und auf welche „Stämme" sie angewandt wurden, d) ob in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen „eigenen" und „fremden" Völkern gemacht wurden, und e) welche Rolle man den Stämmen im ostfränkisch-deutschen Reich beimaß. Dabei zeigte sich, daß den Zeitgenossen die Existenz der nach bestimmten Kriterien voneinander abgegrenzten^«/«

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selbstverständlich war, während man keinen begrifflichen Unterschied zwischen „Stämmen" und „Völkern" machte. Die Völker im Ostfränkischen Reich fügten sich in dieses Verständnis ein, waren als Provinzen aber zugleich Substrat des Gesamtreichs, das als politische Bildung, aber noch nicht als neue ^«/betrachtet wurde. Eine „Ethnogenese" des ostfränkisch-deutschen Volkes wurde von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen.

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12. Das historische Selbstverständnis mittelalterlicher Orden und Ordenszöten Leitung: Kaspar Elm (Berlin) Kaspar Elm (Berlin): Das historische Selbstverständnis mittelalterlicher Orden und Ordenszöten. Ausbildung, Funktion und Methode Georg Jenal (Köln): Historische Selbstbegründungen im frühen Asketen- und Mönchtum (4.-9. Jahrhundert) Johannes Eaudage (Köln): Vom Umgang mit „Geschichte" im mittelalterlichen Kanonikertum Jürgen Sarnowsky (Hamburg): Das historische Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden Hans-Joachim Schmidt (Gießen): Die Bettelorden im Streit um die Deutung ihrer Geschichte und die ihrer Zeit im 13. Jahrhundert Kaspar Elm (Berlin)

Das historische Selbstverständnis mittelalterlicher Orden und Ordenszöten. Ausbildung, Funktion und Methode I Die Ausbildung eines historischen Selbstverständnisses oder — allgemeiner ausgedrückt die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte begleitete seit den Anfängen des christlichen Asketen- und Mönchtums die Entstehung und Institutionalisierung von Klöstern und Konventen, Klosterverbänden und Orden. Neben den im Neuen Testament formulierten, von Kirchen- und Mönchsvätern ausgelegten und von vorbildhaften Gestalten realisierten Prinzipien des 'gottgeweihten Lebens' und den von Kirchen- und Ordensrecht aufgestellten Normen war die Orientierung an den Grundmustern der vita religiosa, dem alttestamentlichen Prophetentum, dem apostelgleichen Leben, der Gemeinschaft der Urkirche, dem Asketen- und Märtyrertum der Frühkirche, vor allem aber die historisch belegbare oder auch nur postulierte Bindung an die eigenen Gründer und Vorväter, nicht nur für die Spiritualität und Lebensweise, sondern auch für die Identität der jeweiligen Gemeinschaften von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie beeinflußte den Novizen bei der Entscheidung über seine Lebensform, integrierte ihn in die Gemeinschaft, der er sich anschloß, und wurde zu einer sein persönliches Leben bestimmenden Norm. Sie konsolidierte aber auch die Gemeinschaften und Verbände selbst, grenzte diese von vergleichbaren Institutionen ab, konnte gleichzeitig aber auch helfen, deren Ort im Gefüge des Ordenswesens, ja der gesamten Kirche zu bestimmen, die Übernahme spezifischer Funktionen erleichtern und dazu beitragen, Akzeptanz bei Klerus und Gläubigen zu finden. Die tatsächliche oder vermeintliche Legitimation durch die Autorität der Prototypen, Vorgänger

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und Gründergestalten erleichterte darüber hinaus die Anpassung an veränderte Bedingungen, ermöglichte tiefgreifende Modifikationen in Lebensform und Spriritualität, ohne daß dies zur Aufgabe der Identität geführt hätte, ja sie konnte in Extremfällen die Existenz in äußere oder innere Bedrängnis geratener Gemeinschaften sichern. II Bei aller nicht zu übersehenden Ubereinstimmung bestehen Unterschiede zwischen der Funktion der historischen Selbstverständnisse einzelner Orden und ordensähnlicher Verbände auf der einen und den für die Makrostruktur des mittelalterlichen Ordenswesens charakteristischen Ordenszöten der Mönchs-, Kanoniker-, Mendikanten-, Ritter- und Hospitalorden auf der anderen Seite. Der schon für die ecclesia primitiva konstitutive Nachfolgegedanke und der in Fortsetzung antiker Tradition geführte Disput über den Vorrang von eremos und coinobion, vita contemplativa und vita activa verband sich bereits im Früh-, mehr aber noch im Hochmittelalter mit dem Dualismus von Priester- und Mönchtum und erhielt im Verlauf der gegenseitigen 'Abscheidung' von Mönch- und Kanonikertum insofern historische Relevanz, als sich die Exponenten der beiden Zoten in ihren Disputen und Dialogen nicht mehr mit der Gegenüberstellung von Prototypen wie Joseph und Benjamin, Johannes und Petrus begnügten, sondern zum Beweis der Eigenständigkeit, ja Präponderanz der eigenen Lebensform die historische Bindung an Benedikt und Augustinus nicht nur als Regelgeber und Vorbilder, sondern auch als historisch nachweisbarefundatores postulierten bzw. in den Vordergrund rückten. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts trat eine zuerst von Templern praktizierte, dann auch von ursprünglich anders ausgerichteten Orden und Bruderschaften übernommene Lebensform — die Verbindung von Ordensleben und Kriegsdienst — neben die der Mönche und Kanoniker sowie der nie zu vergleichbarer Institutionalisierung gelangten Eremiten. Die Verteidiger dieser novitas — Bernhard von Clairvaux an der Spitze — griffen bis auf die Makkabäer zurück, um mit mehr oder minder überzeugenden historischen Argumenten die Bedenken gegen diese ungewöhnliche Form der vita religiosa zu zerstreuen. Als sich im 13. Jahrhundert die diversitas ordinum zu einer quasi effrenata multitudo entwickelte und der Wille zur imitatio apostolorum, die poenitentia, praedicatio und defensio fidei zur Gründung von zahlreichen Gemeinschaften führte, die den Anspruch erhoben, auf ihre Weise allein ein authentisches Ordensleben zu führen, kam es zu einem komplizierten Prozeß der gegenseitigen Angleichung, der nicht zuletzt dank historischer Argumentation zu einer Homogenisierung der ursprünglich nach Herkunft, Intentionen und Lebensform voneinander abweichenden Gemeinschaften führte und es noch im Laufe des 13. Jahrhunderts möglich machte, von den Bettelorden als einem eigenen Ordenszötus zu sprechen. Das historische Selbstverständnis der Ordenszöten hatte wie das der einzelnen Orden nicht nur integrative Funktionen. Es diente in nicht geringem Maße auch der gegenseitigen Abgrenzung. Die ursprüngliche oder im Laufe der Zeit eintretende Binnengliederung der Zoten in Orden, Kongregationen und Verbände ließ in zunehmendem Maße die Herausstellung der Verschiedenheit wichtiger werden als die Betonung der Gemeinsamkeiten, was eine intensive, höchst differenzierte historische Argumentation zur Folge hatte. Im 11. und 12. Jahrhundert brachen unter den Kanonikern der Kampf zwischen den Alten und Jungen, dem Ordo novus und dem Ordo antiquus, und unter den Mönchen die Auseinandersetzungen um das einzig authentische Verständnis der Regula S. Benedirti aus, die die Spannun-

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gen zwischen den Ritter- bzw. Hospitalorden in den Hintergrund treten ließen, obwohl auch diese mit ähnlicher Entschiedenheit und vergleichbaren Methoden ausgetragen wurden. Ihren Höhepunkt erreichten die bei unterschiedlichen Anlässen innerhalb der Orden und Ordenszöten um historische Präponderanz, höheren Perfektionsgrad und gesamtkirchliche Bedeutung geführten Auseinandersetzungen in den sprichwörtlich gwordenen „Querelles des frocs" der Bettelorden, die trotz gelegentlicher, vor allem gegen den Klerus gerichteter Verteidigungsbündnisse über das 13. Jahrhundert hinaus weitergeführt wurden und sich im Zuge der Observanzbewegung so intensivierten, daß sie erheblich zur Diskreditierung des Ordenswesens beitrugen. III Die Funktion der Ordensgeschichtsschreibung ist bis weit in die Neuzeit konstant geblieben. Die Darstellungsformen und Argumentationsweisen haben sich hingegen im Zuge der Entwicklung wissenschafdicher Methoden erheblich verändert. An die Stelle zunächst bloß affirmativer Darstellung traten — nicht zuletzt im Zuge der Ausbildung scholastischer Methoden — Formen des Diskurses, die sich z.T. in den bis in die Gegenwart geführten Auseinandersetzungen wie der „Questione francescana", der „Cause célèbre augustinienne" und dem Streit um den „elianischen Charakter" der Karmeliten so sehr verfeinerten und perfektionierten, daß es nicht unangebracht ist, die historisch argumentierende Kontroversliteratur der Orden und Ordenszöten als eine der vielen zur modernen Geschichtswissenschaft und deren Methoden hinführenden Arten der Historie zu bezeichnen. Georg Jena! (Köln)

Historische Selbstbegründungen im frühen Asketen- und Mönchtum (4.-9. Jahrhundert) Das frühe Asketen- und Mönchtum tritt nicht plötzlich ins Licht der Geschichte. Es erscheint vielmehr als facettenreiches Ergebnis einer allmählichen Entwicklung innerhalb (wie im Umfeld) der Kirche der ersten drei Jahrhunderte. Man hat es hier mit einem komplexen, historischen Prozeß zu tun, dessen Anfänge sich dem historischen Blick entziehen und der, ohne einen historischen Gründer oder Stifter im eigentlichen Sinne zu kennen, in mehreren Regionen des spätantiken Römischen Reiches gleichzeitig aufscheint — analog zur Ausbreitung des Christentums mit gewissem Vorsprung allerdings in den ösdichen Provinzen. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ist das frühe Asketen- und Mönchtum dann zweifelsfrei auch im lateinischen Westen (Italien, Nordafrika, Spanien und Gallien) belegt, wobei aber auch hier die Hinweise auf erste Ansätze bereits ins 2. und 3. Jahrhundert zurückreichen. Unter den Versuchen, die asketisch-monastische Lebensform zu begründen, bzw. sie (in apologetischem Kontext) zu legitimieren, kommt, gleichsam mit Erstgeburtsrecht, der theologisch-biblischen Erklärung seit jeher zentraler Rang zu. Dabei bediente man sich eines Kernbestandes von kaum mehr als einem halben Dutzend zentraler, normativer Schriftstellen des Neuen Testaments. Gleichzeitig allerdings griff man - flankierend sozusagen auf zahlreiche 'sekundäre' Textstellen aus dem Alten wie dem Neuen Testament zurück, die - metaphorisch, allegorisch, moralisch oder anagogisch interpretiert - als Zusatzargumente in der theologisch-biblischen Erstbegründung ihren Platz fanden.

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Im Kontext solcher, vorderhand biblisch-theologischer Legitimations- und Begründungsversuche sind dann aber auch schon die ersten, wenngleich noch 'uneigentlichen' Spuren einer historischen Grundlegung des Phänomens wahrzunehmen: in der Benennung von Prototypen sowie der Verwendung von Exemplareihungen. Hierbei finden sich dann, eingebunden in die eher systematische, theologisch-biblische Grundlegung — aber argumentativ dennoch von ihr zu unterscheiden —, von Anfang an auch historisch-biblische Gestalten als Vorläufer und frühe Zeugen des asketischen Lebens benannt: allen voran Patriarchen- und Prophetengestalten des Alten Testaments (vornehmlich Abraham, Moses, Job, Elias, Elischa und Johannes Baptista); dann selbstverständlich Christus, Maria, die Apostel sowie zahlreiche andere Gestalten des Neuen Testaments; schließlich, über die Zeit des Neuen Testaments hinaus, die urchristliche Gemeinde sowie die frühen Märtyrer. Ein antikes Stilmittel historischer Darstellungsweise aufgreifend und in christlichen Kontext überführend, wurde so im frühen Mönchtum ein Kanon legitimierender Exempla entworfen, der schließlich für das gesamte westeuropäische Mönchtum — und dies weit über das Mittelalter hinaus — Vorbildlichkeit erlangte. Allerdings ist der historische Reflex hier (noch) nicht rein ausgebildet, er findet sich erst in sekundärer, auxiliarer, genauer: lediglich in verstärkender Funktion. Indem derTypos mit historischen Elementen angereichert wird, verstärkt sich dessen legitimierende, identitätsstiftende Kraft. Geschichte ist hier - um ein modernes Mißverständnis abzuwehren — noch verstanden als Aretalogie, als Reihe von vorbildlichen, nachahmenswerten Gestalten und 'Geschichten' und nicht schon als sinnstiftende Gesamtkategorie für Vergangenes (um von weiteren modernen Konnotationen des Begriffs zu schweigen). Parallel zu dieser Entwicklung — ausgehend von den Autoren der frühen Kirchengeschichten (Eusebios, Sokrates, Sozomenos) mit deudicher Nachwirkung schließlich auf monastische Kreise (Hieronymus und Cassianus) — erscheint dann seit Mitte des 4. Jahrhunderts auch die historisch-emphatische Frage nach den Anfängen und den Gründergestalten des asketisch-monastischen Lebens „derTat nach" (Hieronymus). Weitere klassische Probleme, die man innerhalb des frühen Asketen- und Mönchtums mit historischen Argumenten zu lösen versuchte, waren dann u.a. die Fragen um áizgenera monachorum, d.h. nach den richtigen (legitimierten) und den falschen (nicht legitimierten) Mönchen sowie die Grundsatzdebatte um den Vorrang von Anachoreten- oder Coenobitentum. Ein weiterer Modus historischer Argumentadon tritt in dem Versuch entgegen, Gründerfiguren zu etablieren. Dabei bieten die berühmten, Gregor d. Gr. zugeschriebenen „Dialogi" mit der „Vita" Benedikts einen Fall von besonderem Interesse für den lateinischen Westen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Selbstbewußtseins den großen Asketengestalten des Ostens gegenüber deutet sich hier der Versuch an, eine Stifter- und Leitfigur zumindest für das frühe Asketentum Mittelitaliens zu entwerfen. In dieser Absicht spricht der Autor der „Dialogi", Benedikt, eine herausragende Stellung unter den frühen Asketen Italiens zu und - für die weitere Entwicklung das Entscheidende — er identifiziert diesen Benedikt v. Nursia mit dem gleichnamigen Regelautor. Damit war die Möglichkeit für den Kultaufstieg Benedikts geschaffen, der zwischen der Mitte des 7. und dem 8. Jahrhundert von Fleury (und bezeichnenderweise nicht von Montecassino) seinen Ausgang nahm, motiviert durchaus von lokalen Interessen. Von diesen Voraussetzungen her erklärt sich auch - vor dem Hintergrund der Bedeutung Gregors d. Gr. für die nordischen Völker sowie deren besonderer

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'Romverbundenheit' — die Wertschätzung Benedikts alsAbbas Romensis bei den Angelsachsen. Und als mit den anianischen Reformen (816—819) die Regula Benedirti dann in den normativen Rang einer Leit- und Musterregel für die karolingischen Reichsklöster erhoben war, fanden sich optimale Voraussetzungen, um Benedikts Autorität und Verdienst auch in jene Zeiten zurückstrahlen zu lassen, in welchen weder seine „Vita" noch seine Regula von Bedeutung, ja kaum bekannt waren. Ex post verfügte man über die Vergangenheit, Geschichte diente der Gegenwart: als Exempel; als Anlaß zu Reform, Selbstbegründung und Identitätsstiftung; zur eigenen Verherrlichung - und dies in Cluny so gut wie bei den Zisterziensern und zahlreichen anderen Mönchsgruppierungen und -orden, soweit sie sich auf Benedikt beriefen. So avancierte schließlich der Asket aus Nursia — und dies auch unter Mithilfe des gelehrten Mabillon - zum Stifter des gesamten frühen lateinischen Mönchtums und darüber hinaus gar zum „Vater des Abendlandes".

Johannes l^audage (Köln)

Vom Umgang mit „Geschichte" im mittelalterlichen Kanonikertum Wer sich mit dem historischen Selbstverständnis mittelalterlicher Kanoniker beschäftigt, ist in besonderer Weise auf normative Texte angewiesen; denn die wta canonica bedeutete ja zum guten Teil 'gelebte Vergangenheit', d.h. das Befolgen von Regeln und Gebräuchen, die in schriftlicher Form überliefert waren. Auch wenn sich gerade in jüngster Zeit die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß man nicht von buchstabengetreuer Beachtung der schriftlich fixierten Normen ausgehen darf, bleibt die Tatsache bestehen, daß die verschiedenen Brauch- und Regeltexte natürlich nicht aus purem Selbstzweck abgeschrieben und redigiert wurden, sondern stets einen bestimmten Sitz im Leben behielten. Je nachdem, in welcher historischen Situation solche Texte entstanden und welche Resonanz sie fanden, sind sie also durchaus als Zeugnisse für einen epochenspezifischen Umgang mit der bewußt in den Blick genommenen Vergangenheit auszuwerten. Die jeweilige Regelobservanz wird damit zu einem wichtigen Prüfstein für das Verhältnis von Kanonikertum und „Geschichte". Der Vortrag beleuchtete diese Thematik im Spiegel der beiden wichtigsten historischen Zäsuren vor Einführung der Augustinus-Regel. Die erste Quelle, die dabei Berücksichtigung fand, war die in Aachen verabschiedetete institutio canonicorum aus dem Jahre 816. Sie beabsichtigte bekanntlich nicht mehr und nicht weniger, „als den gesamten nichtmonastdschen Klerus des weiten Frankenreiches einer einzigen Norm in Liturgie und Lebensführung zu unterwerfen" (RUDOLF SCHIEFFER), erschien aber auch insofern von besonderem Interesse, als sie eine beachtliche Fernwirkung entfaltete und bis ins Spätmittelalter hinein von einem Gutteil der Kanoniker befolgt wurde. Die bisherige Forschung hatte die Frage nach den historischen Vorbildern dieses Regelwerks im wesentlichen unter zwei Aspekten verfolgt: nämlich erstens dem Zusammenhang mit der sogenannten Chrodegang-Regel und zweitens den Berührungspunkten mit der berühmten Regula Benedirti. In einem gewissen Kontrast hierzu ist aber von beiden Texten an keiner Stelle der Aachener Institutio ausdrücklich die Rede. Statt dessen heißt es im Prolog, man habe aus den verstreut überlieferten Kanones und Aussagen der Kirchenväter eine forma institutionis erstellt, die allen Kanonikern eine verbindliche Lebensnorm vermit-

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tele, und dementsprechend ist das Regelwerk in drei Hauptteile gegliedert, nämlich zwei längere Textblöcke, die sich ausschließlich aus Kanones, Dekœtalen und dicta sanctorum patrum zusammensetzen, und der eigentlichen regula canonicorum, die vorgibt, allein auf dieser Grundlage dispositive Bestimmungen zu formulieren. Die Gründe für diese bemerkenswerte Selbstinterpretation, die es ja immerhin erforderlich machte, die Benutzung älterer Regeltexte vollständig zu verschleiern, ergeben sich aus einer näheren Analyse von Prolog und Gesamtbestand des Aachener Regelwerks: Sie dürften einerseits im damals üblichen Kanonikerbegriff zu suchen sein, der sich auf jene Kleriker bezog, für die noch keine eigene Lebensregel, sondern nur das in den Kanones fixierte allgemeine Kirchenrecht maßgeblich war, andererseits aber auch auf einem ganz bestimmten Autoritätenverständnis beruhen. Nach diesem (u.a. durch die Libri Karolini verbürgten) Autoritätenverständnis besaß neben den Aussagen der Kirchenväter nur das unanfechtbare Verbindlichkeit, was von den Päpsten ausdrücklich gebilligt worden war. Man griff deshalb auf Anthologien wie die Sentenzensammlung des Bischofs Taio von Zaragoza zurück, um passende Väterzitate aufzufinden, und bediente sich der von Papst Hadrian I. approbierten Collectio Dionjsio-Hadriana, um dem Kanonikertum eine bis in die Frühzeit der Kirche zurückreichende Rechtstradition zuordnen zu können. Die canonia erschienen auf diese Weise als Vertreter einer gleichsam 'altkirchlichen' Observanz, und ihre forma institutionis konnte als bloße Zusammenfassung der älteren Uberlieferung ausgegeben werden. Nicht von ungefähr stammte das zweite Beispiel, das etwas näher beleuchtet wurde, aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Denn erst ab dieser Zeit wandelte sich das Autoritätenverständnis so stark, daß man von einem veränderten Umgang mit der bewußt in den Blick genommenen Vergangenheit sprechen kann. Neu war dabei vor allem das Bestreben, sich nicht mehr unreflektiert an der Aachener Regel zu orientieren, sondern zum „Ursprung des Flusses", nämlich der „Norm des apostolischen Lebens" zurückzukehren, also die in der Apostelgeschichte beschriebene „Kindheit der Kirche" zur obersten Richtschnur zu erheben. Daneben ist aber auch ein veränderter Umgang mit der gesamten kanonistischen Überlieferung zu beobachten. Man achtete jetzt sehr sorgsam auf Alter und Herkunft der Beschlußtexte und machte deren Verbindlichkeit von der Übereinstimmung mit den Aussagen der Kirchenväter und der Rechtstradition der Römischen Kirche abhängig. Im Ergebnis kam es hierdurch zu einschneidenden Reformbestimmungen, doch zugleich setzte sich ein neues 'Geschichtsverständnis' durch, das der Lebensweise der „Urkirche" normativen Charakter zuerkannte und später eingeführten Rechtspraktiken häufig jegliche Autorität bestritt. Der Vortrag behandelte diese Entwicklungen anhand der für das Kanonikertum einschlägigen Entscheidungen der Lateransynode von 1059 und suchte Petrus Damiani als deren geistigen Urheber zu erweisen. Insgesamt sollte damit exemplarisch gezeigt werden, wie epochenspezifisch der Umgang mit „Geschichte" auf dem Felde des Kanonikertums gewesen ist, und es wird zu prüfen sein, ob sich auf diese Weise nicht auch an anderen Stellen ein vertieftes Verständnis kanonikaler Lebensführung gewinnen läßt.

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MITTF.LALTER

Jürgen Sarnomky (Hamburg)

Das historische Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden Die im Zusammenhang mit den Kreuzzügen entstandenen geisdichen Ritterorden sahen sich während ihrer mittelalterlichen Geschichte immer wieder genötigt, ihre Existenz, ihre Lebensform oder zumindest ihre politischen und militärischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Ähnlich wie andere geisdiche Orden reagierten sie auf Vorwürfe unter anderem damit, daß sie sich in den Kontext bestimmter geschichtlicher Entwicklungen stellten und sich historischen Vorbildern anschlossen. Das darin faßbare — teilweise auch gemeinsame — historische Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden wurde im Beitrag untersucht, und zwar differenziert nach Quellengruppen. Zunächst wurden die Regeln, Urkunden und Akten der verschiedenen Orden befragt, dann die 'ordenseigene' Geschichtsschreibung, die sich in einigen der Orden entwickelte. Die wichtigsten Quellen der ersten Gruppe bilden die historischen Einleitungen, die den meisten Regeln der geisdichen Ritterorden vorangestellt sind. Ein Beispiel dafür ist die Regel des 1190 vor Akkon gegründeten Deutschen Ordens, die eine doppelte historische Anbindung enthält: an die eigene Frühgeschichte und an biblische Vorbilder von Abraham bis zu den Makkabäern. Die kämpferischen Makkabäer bildeten — bekanntermaßen — auch das wichtigste historische Beispiel für Templer und Johanniter. Letztere suchten in den unterschiedlichen Fassungen der Einleitung zu ihrer Regel eine mehr oder weniger direkte Verbindung ihres Ordens zur alttestamentarischen Zeit herzustellen, doch gewann dabei die faktische Ordensgeschichte im 14. und 15. Jahrhundert an Gewicht. Ähnliches galt auch für die Templer und den Deutschen Orden, die sich im Templerprozeß und auf dem Konstanzer Konzil historischer Argumente zur Verteidigung der gewachsenen Strukturen bedienten. Die wichtigsten Zeugnisse aus dem Bereich der Geschichtsschreibung stammen vom Deutschen Orden, da sich eine ordenseigene Historiographie bei den anderen geistlichen Ritterorden bestenfalls in Ansätzen entwickelte. Eine kritische Geschichtsschreibung, wie sie etwa der Johanniter Guglielmo di San Stefano um die Wende zum 14. Jahrhundert repräsentiert, der die frühen Anfänge des für seinen Orden namensgebenden Hospitals in Jerusalem in Frage stellte, fand naturgemäß wenig Resonanz, anders als eine auch erbauliche Tendenzen spiegelnde, den Ruhm der eigenen Gemeinschaft betonende Chronik wie die des Deutschordenspriesters Peter von Dusburg. Während selbst bei den sich räumlich und strukturell so nahestehenden spanischen Ritterorden vor dem 16. Jahrhundert kaum ein gemeinschaftliches historisches Selbstverständnis auszumachen ist, ist dieses bereits bei Peter von Dusburg angelegt und wird von späteren Autoren aus dem Deutschen Orden weiterentwickelt, in der sogenannten „Jüngeren Hochmeisterchronik" und in der „Chronik der vier Orden von Jerusalem", die beide am Ende des 15. Jahrhunderts entstanden. Erstere faßt die Frühgeschichte aller großen Ritterorden unter dem Blickwinkel einer konstruierten Tradition des Berges Sion zusammen, während letztere die Heilige Stadt in den Mittelpunkt der Ordensgeschichte der Kanoniker vom Heiligen Grab, der Templer, der Johanniter und des Deutschen Ordens stellt. Insgesamt ergaben sich aus dem Material im wesentlichen zwei Schlußfolgerungen: 1. Das historische Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden äußerte sich in einem zweifachen Rückgriff auf die Geschichte: als (biblisches) Vorbild und als faktische Ent-

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wicklung der eigenen Gemeinschaft, die nach außen (und nach innen) als Argument zur Wahrung des Status quo eingesetzt wurde. 2. Ein gemeinsames Bewußtsein läßt sich — abgesehen vom 'Modell' der Makkabäer — vor allem in Ansätzen der Deutschordenshistoriographie erkennen, die die fortbestehende Hochschätzung der heiligen Stätten im Bewußtsein der Zeitgenossen als Ausgangspunkt nutzte, um eine historische Einordnung der großen geistlichen Ritterorden vorzunehmen. Hans-Joachim Schmidt (Gießen)

Die Bettelorden im Streit um die Deutung ihrer Geschichte und die ihrer Zeit im 13. Jahrhundert Die Existenz, die Lebensweise und die Ideale der Bettelorden waren einer Kritik ausgesetzt, wie sie grundsätzlicher keine anderen Ordensgemeinschaften traf. Es wurde die Frage gestellt, aus welchen Gründen zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Orden der Franziskaner und der Dominikaner und im selben Jahrhundert die der Augustiner-Eremiten und der Karmeliten entstanden und eine bisher ungewohnte Form der Lebensweise, der wirtschaftlichen Fundierung und der Seelsorgetätigkeit praktizierten. Die Frage mußte um so gerechtfertigter erscheinen, als das vierte Laterankonzil von 1215 die Gründung neuer Ordensgemeinschaften grundsätzlich ausgeschlossen hatte. Zum zweiten war umstritten, inwieweit der Anspruch der Orden berechtigt sei, nach dem Vorbild Jesu und der Apostel zu leben und gar die perfectio in der Christusnachfolge zu verwirklichen. War damit etwa eine Kritik an der Kirche vor der Zeit der Entstehung der neuen Orden verbunden? War die Christenheit 1200 Jahre lang weniger vollkommen gewesen? Solche Fragen haben Gegner der Bettelorden gestellt und sie verneint. Die Polemik wurde aus der Befürchtung vieler Geistlicher gespeist, daß die Bettelorden mit ihrem Seelsorgeangebot eine unliebsame Konkurrenz darstellten. Sie seien Eindringlinge in eine festgefügte Hierarchie, die, von Christus und den Aposteln begründet, keiner Veränderung und keiner Neuerung bedürfe. Die im Kern ihrer Existenz getroffenen Orden setzten den ganzen Sachverstand und das gesammelte Wissen ihrer Gelehrten ein, um sich gegen die Angriffe zu verteidigen und ihre eigene Existenz zu rechtfertigen. Das historische Argument war dabei weit mehr als ein Mittel, um sich in polemischer Auseinandersetzung vor den Angriffen der Gegner zu wappnen, es war weit mehr als ein opportunistisch handhabbares Versatzstück eines Streites, den als Mönchsgezänk zu bezeichnen die Tragweite des Konflikts unterschätzen würde. Vielmehr waren die Protagonisten der Auseinandersetzungen, sowohl die Bettelordensbrüder als auch deren Kritiker, gezwungen, sich ihrer Position im geschichdichen Prozeß zu vergewissern. Angebote zur Deutung der Geschichte wurden formuliert, die über den Anlaß der Auseinandersetzungen hinaus Grundmuster des argumentativen Umgangs mit Geschichte offenlegten. Entscheidend war das Problem, wie das Neue, das die Bettelorden darstellten, bewertet werden sollte. Wurden deren Existenz und Wirkung lediglich als re-formatio, als Wiederherstellung eines früheren, erstrebenswerten Zustandes gedeutet, konnten die Konsequenzen und damit der Aufwand zur historischen Legitimierung gering gehalten werden. Diesen Weg hat insbesondere der Dominikaner Thomas von Aquin eingeschlagen, der die Bettelordensbrüder als zusätzliche Helfer in der Seelsorge bezeichnete und deren Existenz-

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berechtigung aus dem Ungenügen der bislang für die Betreuung der Laien eingesetzten Bischöfe und Pfarrer ableitete. So wie er haben auch andere die Krisenmomente der Kirche im hohen Mittelalter herausgestellt. Die Bedrohung durch Ketzergruppen und die Dekadenz mancher Geistlicher, aber auch die gesteigerten Ansprüche der Laien erforderten neue Mittel. Die zeitlich sich verändernden Umstände rechtfertigten die Gründung der Bettelorden. Das Problem konnte indes aber auch grundsätzlicher angegangen werden. Ein Entwicklungsfortschritt und damit ein historischer Einschnitt sei mit dem Auftreten der Bettelorden verbunden. Einige ihrer Historiographen und Theologen sahen die Orden nicht so sehr als Träger der Wiederherstellung, sondern dezidiert der Neuerung. Das prinzipielle Statikgebot, das auch moderne Historiker für die mittelalterlichen Verhältnisse ausgemacht haben, war damit durchbrochen. Kirche und Gesellschaft würden durch die Orden der Franziskaner und Dominikaner in einen neuen Zustand überführt werden. Ein höherer Grad der Vollkommenheit und der Gottesnähe sei zu erwarten, Friede zwischen den Menschen könne erreicht werden, harmonisches Zusammenleben würde schon im Diesseits, auf Erden, verwirklicht. Diese chiliastischen Vorstellungen eines irdischen Idealzustands stützten sich auf die Texte von Joachim von Fiore und auf die ihm zugeschriebenen Schriften, die von einer Geistkirche kündeten, die die bisherige Verfassung der Kirche in einen höheren Zustand aufheben würde. Die Rezeption setzte eine Generation nach dem Ableben von Franz von Assisi und Dominikus ein. Sie trug teilweise Keime einer die Amtskirche radikal in Frage stellenden Konzeption in sich. Wurden auch die Verfechter solcher Auffassungen — wie etwa Gerardo di Borgo San Donino - als häretisch verurteilt, so beharrte doch — zwar weniger radikal, aber doch nachdrücklich — die offizielle Ordenshistoriographie und -theologie darauf, ihre Gemeinschaften als Wegbereiter einer grundsätzlich neuen Zeit und als Begründer eines erneuerten Zustande der gesamten Christenheit darzustellen. Der innovative Wesenszug der Bettelorden wurde von ihren bedeutenden Theologen, Historiographen und Philosophen grundsätzlich akzeptiert, ja als notwendiges Element der eigenen Epoche, als Ferment eines grundlegenden Wandels aufgefaßt. Damit interpretierten die Mendikanten die Geschichte ihrer Gemeinschaften und ihrer Zeit anders als diejenigen Orden, die — obzwar auch Neuerungen einführend — sich vornehmlich durch die Tradition und historische Vorbilder zu rechtfertigen suchten. Die Implikationen erfaßten nicht allein das kirchliche Leben. Das Ergebnis war ein Wechsel in den Formen, in denen der historische Wandel im hohen Mittelalter wahrgenommen wurde. Dynamik trat an die Stelle von Statik, Innovation verdrängte Tradition, Progression statt Stagnation sollte die eigene Epoche, die des 13. Jahrhunderts, kennzeichnen.

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13. Gemeinschaft und Geschichtsbilder im Hanseraum Leitung: Dietrich W. Poeck (Münster) Thomas Hill {Kiel): Stiftermemoria und Gründungsgeschichte als Argument. Zum historischen Selbstverständnis norddeutscher und dänischer Klöster Stephan Selker (Kiel) : Bürger an König Artus' Tafel. Zu Artusgesellschaften im Ostseeraum Dietrich W. Poeck (Münster): Vryheit do ickju openbar. Geschichtsbilder in Hansestädten Veröffentlichungshinweis·. Die Drucklegung der Vorträge mit zwei weiteren Beiträgen (R. Roßner (Kiel) zu Brügge und S. Rüther (Münster) zur Repräsentation hansischer Ratsherren) ist für den Herbst 1997 geplant. Die Sektion fand ein zahlreiches und diskussionsfreudiges Publikum. Trotz des krankheitsbedingten Ausfalls des rechtshistorischen Vortrages reichte deshalb die vorgesehene Zeit bis zum Beginn des Schlußvortrages kaum aus. Vorgestellt wurde die Ausbildung von Erinnerung in unterschiedlichen Gemeinschaften wie Klöstern, Rat und Führungsgruppen in Städten in Niederdeutschland und im Ostseeraum. Besondere Aufmerksamkeit kam der Zeit und dem Anlaß zur Gestaltung der Erinnerung zu. Ihre Funktion wurde im Blick auf die Formen und Medien - Monumente, Bilder und Illustrationen - aufgezeigt. Thomas Hill (Kiel) stellte mit „Stiftermemoria und Gründungsgeschichte als Argument" Aspekte des historischen Selbstverständnisses norddeutscher Klöster vor. Anhand der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung (12./13Jahrhundert) der Klöster Reinhausen bei Göttingen, Hecklingen in Sachsen-Anhalt, St. Michaelis in Lüneburg, Rastede und Schleswig-Rüde ging er der Frage nach, warum man sich in den Klöstern mit der Geschichte ihrer Gründung auseinandersetzte. Es zeigte sich, daß Krisen bzw. krisenhafte Situationen im Verhältnis zu den Nachkommen der Stifter oder den Klostervögten jeweils der Anlaß waren, die Gründungsgeschichte des Klosters aufzuzeichnen. Dabei rief man auch panegyrisch die Geschichte und Wohltaten der Stifterfamilie in Erinnerung und intensivierte die klösterliche Memoria für die Stifter. Die gemeinschaftliche Verbundenheit mit der Gründerfamilie wurde also von den Mönchen betont. Auf diese Weise gewannen die Konvente Argumente, um das Klostergut gegen Übergriffe rechtlich zu sichern oder die gegenwärtigen Vögte und Schutzherren zu mehr Wohlwollen aufzufordern. Man empfahl ihnen die Stifter als historische exempla. Den Klöstern gab dieses verstärkte Gedenken an ihre Stifter, die 'gute alte Zeit', die Gewißheit, daß die schlechte Gegenwart wieder von einer guten Zukunft abgelöst werden würde. Die Gründungsberichte und die in sie eingearbeiteten Familiengeschichten sind demnach auch als Ausdruck 'aktuellen' klösterlichen Selbstverständnisses aufzufassen.

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Stephan Selker (Kiel) zeigte mit seinem Vortrag „Bürger an König Artus' Tafel" am Beispiel der im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenen Artusgesellschaften im Ostseeraum ein Beispiel der Rezeption ritterlich-höfischer Kultur durch städtische Oberschichten. Organisiert in Gesellschaften, die sich als Patron den typischen Ritterheiligen St. Georg wählten, nutzten die Besucher der Artushöfe die Berufung auf das königliche Leitbild, um ihre politischen und sozialen Ziele zu verwirklichen. Dabei verstanden sie König Artus als Symbol höfischer Kultur schlechthin. So wurde diese Figur vor allem dann zitiert, wenn es galt, die soziale Distanz der Oberschicht, die adelig erscheinen wollte, zu den übrigen Bürgern zu demonstrieren. Soziale Grenzziehungen manifestieren sich als Orientierung an der Welt der höfischen Historien. Zusammenhalt und Entwicklung der exklusiven Gesellschaften der Artushöfe waren an das Vermögen der Erinnerung gebunden, das Gemeinschaft und Teilhabe stets neu erschaffen mußte. Doch waren die Erinnerungen der Gemeinschaft geschmeidig und verfuhren selektiv mit dem Bestand des gedachten Geschehens. So deuteten die Georgsgesellschaften der Artushöfe ihre Geschichte zunächst als beständigen Heidenkampf an der Seite des Deutschen Ordens - ein Bild der eigenen Geschichte, das nicht überrascht, diente doch seit dem 13. Jahrhundert und noch in den Litauerkämpfen des 14. Jahrhunderts die städtische Oberschicht nicht als 'Spießbürger', sondern zog beritten und rittermäßig bewaffnet mit den Ordensrittern ins Feld. Nachdem in den Auseinandersetzungen der Jahre 1454 bis 1466 der Deutsche Orden für die städtische Führungsschicht vom Vorbild zum Feindbild geworden war, kamen diese Tradition und die Wirklichkeit nicht mehr zur Deckung. Deshalb beobachtet man dort, wo 1466 die Herrschaft des Deutschen Ordens endet, eine vollständige Umpolung der Selbstdeutung. Die Gesellschaften der Artushöfe wurden von Heidenkämpfern zu Siegern über den Deutschen Orden. Ihr neues Selbstverständnis erinnerten die Gesellschaften in öffentlichen Formen. Die Artushöfe von Danzig und Thorn wurden durch Monumente der Erinnerung, die auf den Sieg über den Orden verwiesen, zu Gedächtnisorten. Selektive Erinnerung und bewußtes Vergessen erfüllten bei diesem Wechsel der Fixpunkte, die das kollektive Gedächtnis der Artushofgesellschaften bestimmten, eine gemeinsame Funktion: die Stabilisierung der Gemeinschaft unter den gewendeten Verhältnissen einer neuen Gegenwart. Dietrich W. Poeck (Münster) stellte mit dem Zitat von der Figur des Bremer Rolands: Vrjheit do ickju openbar Geschichtsbilder in den Hansestädten Bremen und Lübeck in den Mittelpunkt. Im frühen 15. Jahrhundert wurden Rang und Bedeutung der Städte im Rückgriff auf verschiedene Vergangenheiten begründet. In Bremen wurde ein monumentales Standbild errichtet, das als Roland schon in die Zeit Karls des Großen zurückwies. Durch die Kaiserfigur am Rathausportal und Darstellungen an den Wangen des Ratsgestühls wurde der Bezug auf die Gründungszeit im Rathaus fortgesetzt. Roland kündete mit seinem Schild von der Verleihung der Freiheit Bremens durch den Gründer und Wahrer des Rechts. Urkundenfälschungen und Zusätze zur Bremer Chronik sicherten diese Interpretation. Allerdings standen die Ratsherren Bremens am Beginn des 15. Jahrhunderts mit dieser Konstruktion in einer schwierigen Situtation: Einerseits mußten sie gerade auch im Rekurs auf die Anfänge die Bedeutung des Bischof anerkennen, wie sie sich auch im städtischen Siegel zeigte, andererseits führten auch Konkurrenten wie die Friesen ihre Freiheit auf

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Karl den Großen zurück. In der Betonung der Ehre des Rates zeigt sich, daß dessen Rolle in der Stadt nicht unumstritten war. In Lübeck stand dagegen die Geschichte der Stadt und des Rates im Mittelpunkt, wie auch im städtischen Siegel die Geburtsstunde der Hanse vorgestellt wurde. Zur Belehrung des Rates wurde am Ende des 14. Jahrhunderts die „Stadtchronik" verfaßt und auf dem Rathaus aufbewahrt. In der großen Prozession, die von einem Bürgermeister 1419 gestiftet worden war, wurde die wiederbegründete Gemeinschaft des Rates und der Bürger feierlich erinnert. Zu dieser Zeit wurde auch in der Hörkammer des Rathauses als Antwort auf die Unruhen in der Stadt die glanzvolle Vergangenheit Lübecks in Bildern erfaßt. Gezeigt wurden in einem Zyklus die wesentlichen Ereignisse der städtischen Vergangenheit. In den beiden jetzt wieder aufgedeckten Bildern wird die Verleihung der 'Reichsfreiheit' und der Sieg über den Dänenkönig mit Hilfe der Hl. Maria Magdalena dargestellt. In diesen Bildern stellte sich der Rat mit seiner Leistung für die Stadt dar. In der Hörkammer konnten sich die Ratsherren in den Bildern ihrer Vorgänger und Vorfahren spiegeln, die der Stadt Heil gebracht hatten. Deshalb hielt man auch gegen den Widerstand der Reformatoren an der 'Stadtheiligen' Maria Magdalena fest. Im Blick auf Bremen und Lübeck war zu zeigen, wie unterschiedliche Vergangenheiten zu Geschichtsbildern am Beginn des 15. Jahrhunderts verdichtet wurden. Diese prägten Selbstverständnis und Repräsentation des Rates und der Stadt bis weit in die Neuzeit. Dietrich W. Poeck

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Frühe Neuzeit 14. Der Kampf um die Landeskonfession — eine Grunderfahrung im Reich der Frühen Neuzeit Leitung: Anton Schindling (Tübingen) Dieter Stievermann (Erfurt): Evangelische Territorien im Konfessionalisierungsprozeß Walter Ziegler (München) : Katholische Territorien im Konfessionalisierungsprozeß Georg Schmidt (Jena) : Reichsintegration und Konfessionalisierung Johannes Mer.ζ (München) : Territorialstadt und Territorium im Konflikt. Ein vergleichender Uberblick über Landstadtreformationen im Reich und deren Bedeutung für die moderne Forschung Manfred Rüdersdorf (Osnabrück): Landesväter und Landesmütter — Bausteine einer Typologie des Reformationsfürsten Veröffentlichungshinweir. Die Vorträge erscheinen in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500—1650, Bd. 7: Forschungsperspektiven, Register, hg. v. A N T O N SCHINDLING U. W A L T E R Z I E G L E R (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung = KLK / Vereinsschriften der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum), Münster 1997. Dieter S tievermann (Erfurt)

Evangelische Territorien im Konfessionalisierungsprozeß Die evangelische Konfessionalisierung, das heißt die Einführung und Durchführung der Reformation, beruht auf einer breiten Kontinuität fürstlicher Politik („vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment"), bedeutet aber gleichwohl eine neue Qualität, die nicht nur das religiöse Profil betrifft, sondern die Gesamtstruktur des Territoriums verändert. Grundlagen reformierenden Handelns sind — neben den Glaubensfragen, die hier ausgeklammert bleiben — nicht nur die Traditionen des Kirchenregiments, sondern auch die Veränderungs- und Formierungsprozesse auf Reichsebene (verbunden mit den besonderen Problemen des habsburgisch-spanischen Königtums), die vielen größeren Territorien die nötigen Spielräume gesichert hatten. In der Regel geht der landesherrlichen Einführung der Reformation ein Eindringen reformatorischer Ideen und Praktiken voran, die dann durch obrigkeitliche Maßnahmen kanalisiert, vertieft und allgemein verbindlich gemacht werden. Die Legitimierung der Eingriffe in die bestehenden kirchlichen Strukturen

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erfolgt nicht nur auf Reichsebene, sondern zum Teil auch durch landständische Beteiligung. Sonderfalle sind dabei Territorien (vor allem im Südosten), in denen allein die Landstände reformatorisch handeln - und zwar gegen den fürstlichen Willen, letztlich aber scheitern. Da im Prozeß der Reformation Ergebnisse und Folgen lange nicht absehbar waren, gibt es auch Legitimierungen durch Verträge mit altkirchlichen Autoritäten (Bischöfen, Orden). Die Beteiligung der Landstände bedeutet sowohl Legitimierung als auch Absicherung. Weitere Möglichkeiten bieten dazu die Kooperationen mit Gleichgesinnten (Erbeinungen, Bündnisse). Für den Entschluß zur Reformation und die Art der Durchführung spielt die Wechselwirkung mit anderen eine große Rolle bzw. ist häufig entscheidend (Rücksicht auf Nachbarn; Übernahme von Modellen). Zur Durchführung der territorialen Reformation stehen verschiedene Instrumente wie Synoden und Visitationen zur Verfügung: Effizienz wird ermöglicht durch den Aufbau neuer kirchlicher Hierarchien (jetzt territorialintern) und die Etablierung von Behörden. Die Ergebnisse der Reformation betreffen zunächst das kirchliche Leben, das Bildungswesen, die sozialen Verhältnisse und weiterhin die „Volkskultur" („Sozialdisziplinierung"), aber mit Kirchenleitung (KirchenRegiment) und Kirchengut auch ganz entscheidende Elemente der Herrschaftsstruktur. Insofern sind die langfristigen Folgen gerade auch auf diesen Gebieten zu sehen, d.h. in der verstärkten Entwicklung zum Absolutismus im Territorium und der schließlichen Fixierung des Dualismus auf Reichsebene.

Walter Z.iegler (München)

Katholische Territorien im Konfessionalisierungsprozeß Der Entwicklungsprozeß der deutschen Territorien im konfessionellen Zeitalter wird heute, über die Konfessionsgrenzen hinweg, vielfach als grundsätzlich gleichstrukturiert gesehen, der „Konfessionalisierungsprozeß" für alle drei historischen Konfessionen parallelisiert. Diese Sichtweise hat zur Folge, daß nicht nur die Verschiedenheit von lutherischen, reformierten und katholischen Territorien eingeebnet wird, sondern daß auch die innerhalb der Konfessionen gegebenen Unterschiede in der Entwicklung gering geachtet werden, obwohl doch auf der Hand liegt, daß Entwicklungen in Territorien wie etwa Jülich oderTirol im konfessionellen Zeitalter so verschieden wie nur möglich waren. Es ist deshalb das Anliegen dieses Beitrages, solche Verschiedenheiten aufzuzeigen, nach ihren Gründen zu fragen und ihre Bedeutung zu würdigen. Für den katholischen Bereich, der hier behandelt wird, ist dabei von der Grundtatsache auszugehen, daß (soweit das katholische Kirchenwesen einigermaßen intakt blieb) die Religion substantiell nicht verändert wurde, weit zurückliegende Traditionen also erhalten blieben und weiterwirkten: das bedeutete eine gegenüber den reformatorisdien Territorien grundlegend verschiedene Ausgangsbasis. Zu fragen ist dann, ob und inwieweit durch die folgenden zeitgenössischen Entwicklungen diese Grundlage verändert wurde und welche Ergebnisse solche Veränderungen hatten, wobei die unterschiedlichen Entwicklungen in bezug auf den zeidichen Ablauf, äußere Einflüsse, Durchsetzungsmittel und Hindernisse sowohl innerhalb der katholischen wie gegenüber den protestantischen Territorien zu betrachten sind.

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Im Ergebnis zeigt sich eine Territorienlandschaft im katholischen Bereich, die in bezug auf die genannten Aspekte sich höchst unterschiedlich darbietet und bis weit über denTrienter Vereinheitlichungsprozeß hinaus ihre Konturen behält. Georg Schmidt (Jena)

Reichsintegration und Konfes sionalisierung 1. Die bekannt engen Verbindungen von Konfessionalisierung und Territorialstaat haben in Deutschland dazu geführt, daß das Reich bei dieser Fragestellung aus dem Blickfeld verschwunden ist. Doch gerade der Zwang zur politischen Beherrschung und zur staatsrechtlichen Diskussion der Konfessionalisierung festigte die komplementäre Staatlichkeit des frühneuzeidichen Reiches. 2. Martin Luther konnte weder die deutsche Nation einen, noch hat er sie gespalten. Die Trennung in einen gesamtstaatsähnlichen oberdeutschen Reichsteil und ein weniger „verdichtetes" (PETER MORAW) Niederdeutschland ist ein Ergebnis mittelalterlicher Geschichte. Es begann, sich im Schmalkaldischen Bund zu relativieren, als die mittel- und niederdeutschen Reichsstände ihre oberdeutschen Glaubensgenossen schützten, dafür aber auch mit den Problemen der Reichspolitik konfrontiert wurden. 3. Der Augsburger Religionsfrieden war ein politischer Kompromiß auf der Basis des Status quo. Die Wahrheitsfrage blieb ausgeklammert. Die Ausdehnung des Landfriedens auf Religionsfragen stellte den komplementären Reichs-Staat auf ein neues tragfähiges Fundament, weil den Reichsständen ihr Gewaltmonopol auch in konfessionellen Angelegenheiten und die selbständige staadiche Entwicklung als Voraussetzung einer einheitlichen Landeskonfession garantiert wurden. Diese Rahmenregelung machte den Reichs-Staat, der am Ende der Epoche von den Alpen bis an die Küsten von Nord- und Ostsee reichte, auch für niederdeutsche Fürsten attraktiv. 4. Der komplementäre Reichs-Staat funktionierte, solange sich die keineswegs nur konfessionell bedingten Konflikte gegenseitig neutralisierten und die Augsburger Ordnungen nicht prinzipiell in Frage gestellt wurden. Der sog. Kölner Krieg, der Straßburger Kapitelstreit und andere Konflikte führten zwar zu Verhärtungen, aber nicht direkt in den Konfessionskrieg. Einige der wichtigsten Rcichsstifte wurden zu Sekundogenituren großer Fürstenhäuser — allen voran der bayerische Bistumsverbund im Nordwesten. Diese Gebiete wurden über die Wittelsbacher zum festen Bestandteil des Reichs-Staates. 5. Obwohl Union und Liga nur einen Teil der konfessionsverwandten Stände organisierten, stieg die Kriegsgefahr mit der einseitigen Bindung der Stände, die durch die korporative Zusammenarbeit in den Reichsinstitutionen nicht mehr relativiert wurde. Man darf jedoch das konfessionelle Zeitalter nicht nur vom Dreißigjährigen Krieg her beurteilen. Die Konfessionalisierung hat neue Spannungen und Konflikte gebracht, aber auch neuen Zusammenhalt, der regionale und ständische Grenzen überwand. 6. Die Regierungslogik der deutschen Fürsten war daher janusköpfig. Den tacitistischen Staatsidealen in den Territorien stand eine Staatsräson des Reiches gegenüber, die auf den Erhalt der Verfassung ausgerichtet sein mußte. Die neue Disziplin des Reichsstaatsrechts fragte — von der Verfassungsrealität und nicht von einem Idealstaat ausgehend — nach Funktion und Funktionieren. Diese beschreibende Verfassungsinterpretation stärkte zwar

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den Zusammenhalt im Reich, doch es blieb eine Leerstelle: Dem frühneuzeitlichen Deutschland fehlte ein Integrationsideal der Einheit und Eintracht, das alle Konflikte zu überwölben versprach und das man mit dem unsichtbaren Band der deutschen Sprache und Kultur gefunden zu haben glaubte. Jobannes Mei\ (München)

Territorialstadt und Territorium im Konflikt. Ein vergleichender Überblick über Landstadtreformationen im Reich und deren Bedeutung für die moderne Forschung Der Themenkomplex „Stadt und Reformation" gehört nach einem verbreiteten Urteil zu den am besten bearbeiteten historischen Forschungsgebieten. Diese Einschätzung trifft insbesondere für die kirchen- und sozialhistorische Untersuchung des Binnenraums der deutschen Reichsstädte zu, nicht jedoch auf die bisher weitgehend vernachlässigten landsässigen Städte. Man hat die Beschränkung auf die vor allem im deutschen Südwesten konzentrierten ca. 70 Reichsstädte, von denen ca. 50 dauerhaft zur Reformation übergingen, damit begründet, daß hier das Schwergewicht der Bedeutung des Forschungsfeldes liege und daß die Entwicklungen in den Reichsstädten gewissermaßen ein repräsentatives Modell gewesen seien, das man in Abstufung auch auf andere Städte übertragen könne. Das aus der Analyse einer Reihe nordwestdeutscher autonomer Städte gewonnene Bild der sog. Hansestadtreformation hat diese Auffassungen weitgehend bestätigt, teilweise ergänzt. Fügt man die in der Literatur zerstreuten Informationen zur selbständigen Institutionalisierung der reformatorischen Lehre in landsässigen Städten zusammen, so lassen sich schon in einer ersten, kursorischen Übersicht ca. 40 Städte auflisten, die sich nicht auf den Nordwesten beschränken, sondern ebenso im Nordosten, in Mitteldeutschland, Franken, Osterreich, Böhmen, den Lausitzen und Schlesien zu finden sind; hinzu kommen Reformationsversuche, die zwar gescheitert sind, deren Bedeutung sich aber z.B. in großen Exulantenzahlen niederschlägt, z.B. in Bayern. Es handelt sich dabei um Groß- und Mittelstädte verschiedenster Größe; für die viel zahlreicheren Kleinstädte liegen kaum Untersuchungen vor. Bei der Betrachtung der Landstädte wird mehr noch als bei den Reichsstädten sichtbar, daß die Institutionalisierung der Reformation, die überwiegend gegen starke Widerstände erfolgte, stark von Herrschaftsstrukturen und Verfassungsentwicklungen bestimmt war. Die Feststellung, welche Faktoren der Durchführung der Reformation den verschiedenartigsten Umständen zugrundelagen und welche Folgen sich aus der Einführung der Reformation für die Stadt und für die übergeordneten politischen Gewalten ergaben, kann die bisher intensiv betriebene Frage nach religiösen Motiven und sozialen Prozessen nicht ersetzen, sie ist aber auch nicht bloßes Additum, sondern unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis des Gesamtverlaufs der Reformation. Für eine derartige Erweiterung des Fragenkreises will dieser Beitrag werben.

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Manfred Lüdersdorf (Osnabrück)

Landesväter und Landesmütter - Bausteine einer Typologie des Reformationsfürsten Das Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung hat unstrittig eine Reihe profilierter Führungsgestalten hervorgebracht, die als Strukturbegründer oder als Strukturerneuerer prägenden Einfluß auf die Neugestaltung von Staat, Kirche und Gesellschaft ausgeübt haben. Die epochale Gestaltwerdung des konfessionellen deutschen Landesfürstentums zwischen kirchlicher Bekenntnistreue und frühmoderner Staatsbildung war ein Prozeß, der das gesamte Reformationssäkulum umfaßte. Die frühe „Allianz zwischen Fürstentum und Konfessionskirche" war zugleich Ausdruck und Bekräftigung des erneuerten Systems der Territorialverfassung des Alten Reiches: Der ständisch verfaßte Fürstenstaat wurde so im Zeichen von Reformation und konfessionellem Dualismus zu einer dominierenden politischen Kraft, zu einem Wegbereiter des modernen Staates in Deutschland. Die entscheidenden Promotoren dieser Entwicklung, die Reichsfürsten, ließen über die Manifestation dynastischer Standessolidarität hinaus kein einheitliches Regentenprofil erkennen: Landesherrliche Autorität, territoriale Infrastruktur, Engagement für Kirche und Bekenntnis sowie das reichspolitische Interesse waren unterschiedlich ausgeprägt und konditioniert. Erst der Generationenwechsel nach 1550 machte Gemeinsamkeiten und Unterschiede signifikant deutlich: Der Weg von den älteren „Gestaltern" der Erlebnis- und Bekenntnisgeneration zu den jüngeren „Verwaltern" der patriarchalischen Landesvätergeneration verlief im Zeichen konflikterprobter Kontinuität und konfessioneller Identitätsfindung, aber auch im Zeichen des Wandels der politischen und der reichsrechtlichen Rahmenbedingungen. Die komparatistische Erforschung der territorialen Reformationsabläufe hat dabei zuletzt dem traditionellen Typus der „Fürstenreformation" zu neuer Diskussion und zu neuer problemorientierter Perspektivenerweiterung verholfen. Gerade die Rolle der Fürstenobrigkeit macht deutlich, daß ohne den Willen des Landesherrn eine Reform von Kirche und Staat nicht durchzusetzen war, weder vor noch nach der Reformation. Dem Landesherrn als ordnender Kraft fiel in der zentralen Glaubensfrage ein entscheidendes Gewicht zu — nicht nur bei der institutionellen Ausformung der neuen Landeskirche, sondern vor allem bei der Präformierung der unterschiedlichen kulturellen und mentalitätsgeschichdichen Traditionen, die sich innerhalb der deutschen Gesellschaft entlang den Konfessionsgrenzen herauszubilden begannen. War die „Gründergeneration" noch damit beschäftigt, das landesherrliche Kirchenregiment als neues territoriales Herrschaftsinstrument zu etablieren und die Fürstenlibertät zu verteidigen, so eröffneten sich der zweiten Politikergeneration im Schutz des Augsburger Religionsfriedens andere Optionen der Entfaltung und der Konsolidierung. Dem Prozeß der Herausbildung frühmoderner Staatlichkeit in den Territorien entsprach dabei ein durch die Reformation und Konfessionalisierung religiös vertieftes, neues Fürstenbild: das des frommen Fürsten, des „Betefürsten". Der patriarchalische Regierungsstil vieler Fürsten hat das Bild vom landesväterlichen „Betefürsten", von der „Obrigkeit im Vaterstand", zweifellos gefestigt — von einer Regentengeneration, die im Zeichen des Reichsfriedens vor allem in der Vertiefung der überkommenen Konfession, mit der dogmatischen Verfestigung und Durchdringung des Landes im konfessionellen Geist beschäftigt war (August von Sachsen, Johann Georg

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von Brandenburg, Christoph von Württemberg). Daneben gab es eine Reihe markanter Fürstenfrauen, tüchtige und energische, unglückliche und auch tragische Figuren, die als „Landesmütter" an der Seite ihrer Männer oder allein im Witwenstand Anteil am obrigkeitlichen Regiment hatten (Anna von Sachsen, Christine von Hessen, Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg-Calenberg). Die bewußt nach außen gewandte Präsentation des Fürstenpaares als „Amtsehepaar", als Landesvater und Landesmutter, stand nach dem Umbruch der Reformation erst am Anfang einer Entwicklung, die nach Orientierung und nach Leitbildern suchte und diese in dem Lebensstil des konfessionellen patriarchalischen Landesstaates fand. Regierungskunst, Konfessionalität und höfische Lebensart im Geiste der Renaissancekultur und des Späthumanismus waren die primären Komponenten, die den „Gestalttypus" des regierenden Landesvaters am Ende des Reformationsjahrhunderts charakterisierten. Es war dies eine Zeit der geistigen und der sozialen Mobilisierung, die der Fürstenobrigkeit alle Instrumente der Beeinflussung und der Disziplinierung in die Hand gab. Dynastie und Territorium, Kaiser, Reich und reichsständische Partizipation bildeten schließlich die entscheidenden Kraftfelder, in denen das Fürstenengagement authentisch zur Entfaltung gelangte, in denen sich Fürstenmentalität und Fürstenfrömmigkeit ausformen und entwikkeln konnten.

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15. Supplizieren. Zur Politik der Untertanen Leitung: Peter Blickte (Bern) Peter Blickte (Bern): Einleitung Helmut Neuhaus (Erlangen): Supplizieren im Reich und in den Territorien Andreas Würgler (Bern): Suppliken und Gravamina. Formen und Wirkungen der Interessenartikulation von Untertanen in Hessen-Kassel 1650-1800 BeatKiimin (Cambridge): Petitions and Revolution in England Renate Blickte (Bern): Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten 'Sitz im Leben' (1629) Peter Blickte (Bern)

Einleitung Untertan und Obrigkeit sind in der Frühneuzeit korrelative Begriffe. Von der Politik der Untertanen sprechen, heißt ihr Einwirken auf den frühmodernen Staat diskutieren. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat diese Frage hauptsächlich im Rahmen des Paradigmas (bäuerlicher) Widerstand über die Beschwerden verfolgt, in geringerem Maße über die Ständeversammlungen (Parlamenten) vorgebrachten Gravamina (cahiers de doléances). Suppliken sind mit beiden insofern eng verwandt, als sie als deren Konzeptform gelten können, sie gehen definitorisch aber auch darüber hinaus, weil sie von allen Untertanen als Mittel, Interessen zu artikulieren, genutzt wurden. Das Supplizieren und seine zunehmend förmliche Ausgestaltung in der Frühneuzeit ist bislang nur in Ansätzen (besonders kompetent für Deutschland durch HELMUT NEUHAUS) behandelt worden, verdient allerdings als Teil der politischen Kultur Europas mehr Beachtung, zumal Fallstudien gezeigt haben, daß die Formierung des Staates ein erheblich komplizierterer Prozeß ist, als die bisherige auf Herrschaft fixierte Optik der Historiographie erkennen läßt.

Helmut Neuhaus (Erlangen)

Supplizieren im Reich und in den Territorien Es entsprach altem Herkommen und gewohnheitsrechtlicher Übung, daß sich Untertanen aller sozialen Schichten wie Mitglieder aller ständischen Gruppierungen mit Bitten und Beschwerden an ihren Herrn als obersten Richter wandten. Wenn nach dem Supplizieren im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und in seinen Territori-

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en gefragt wird, dann geht es dabei um die Supplikanten und die Adressaten ihrer Supplikationen, die Inhalte der Bitten und Beschwerden sowie die Art und Weise ihrer Behandlung und Erledigung. Diesen Gesichtspunkten kommt eine große Bedeutung für eine Zeit zu, in der mit dem Ausbau frühmoderner Staatlichkeit Institutionen, Verfahren und Instanzenzüge entwickelt und etabliert wurden, die der Verrechtlichung des Verhältnisses von Herrschaft und Gesellschaft dienten. Angesichts der Tatsache, daß im Grunde jeder über alles supplizieren konnte, wie die massenhaft eingereichten und im Laufe des 16. Jahrhunderts sich stetig vermehrenden Supplikationen belegen, und angesichts der Tatsache, daß die Empfänger der Bitten und Beschwerden diese sehr ernst nahmen, da sie ihnen unmittelbare Einblicke in verstellte oder verschwiegene Zustände und Mißstände in Reich und Territorien ermöglichten, muß dem Umgang mit ihnen eine besondere Aufmerksamkeit gelten. Welche Auswirkungen - so ist zu fragen — hatten Supplikationen auf Regierung und Verwaltung im Heiligen Römischen Reich und in den Reichsterritorien? Im einzelnen wurde auf Reichsebene das Supplizieren an Kaiser und Reichsstände, an Reichstage und andere reichsständische Versammlungen behandelt, auf Territorialebene das an Landesherren und Landstände. Dabei galt den Unterschieden in den Erledigungsverfahren vor dem Hintergrund der verschiedenartigen Verfassungsentwicklungen von Reich und Territorien ein besonderes Interesse. Andreas

Würgler{Bern)

Suppliken und Gravamina. Formen und Wirkungen der Interessenartikulation von Untertanen in Hessen-Kassel 1650-1800 Während Gravamina und Beschwerden von Landständen wiederholt die Aufmerksamkeit der frühneuzeidichen Ständeforschung erringen konnten, sind Suppliken (Supplicationes, Bittschriften, Gesuche) bisher nur partiell ausgewertet worden, obwohl sie vermudich die größte Quellengruppe m i t f r e i w i l l i g e n Wortmeldungen von Untertanen darstellen. Ein Vergleich der beiden Formen (1) der Interessenartikulation von Untertanen und ihrer Wirkung (2) auf die 'Gesetzgebung' im Rahmen der „guten Policey" des absolutistischen Staates fehlt. Ein solcher Vergleich wurde am Beispiel von Hessen-Kassel im Kontext des Ständewesens und der fürstlichen Verwaltung des 17. und 18. Jahrhunderts auch im Hinblick auf möglichen historischen Wandel (3) versucht. 1. Im Blick auf Urheber und Inhalte, Adressaten, Ziele und juristischen Status ergaben sich — zugespitzt — folgende Unterschiede: Suppliken entstanden aus beliebigem Anlaß spontan, wurden mehrheitlich individuell oder von ad hoc formierten kleinen Gruppen getragen, thematisierten partikulare Nöte in der Hoffnung auf sofortige Hilfe, richteten sich an die Stelle, von der Hilfe erwartet werden konnte oder durfte, vornehmlich an den (Landes-)Herrn oder dessen nachgesetzte Behörden, und sie suchten die Ausnahme, juristisch gesprochen das Privileg bzw. die Dispensation oder letzdich: Gnade. Gravamina dagegen entstanden aus speziellem Anlaß vor und an Landtagen im Rahmen vorhandener kommunaler oder landständischer Verfahren oder Institutionen, wurden korporativ getragen, thematisierten generelle Probleme in meist korrektiver Absicht, richteten sich direkt und ausschließlich an den Landesherrn und suchten die Regel, juristisch gespro-

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chen das Gesetz bzw. die Verordnung oder letztlich: Recht. Trotz dieser — hier stilisierten Unterschiede gibt es Gemeinsamkeiten und Überschneidungen sowohl bezüglich der Urheber, der thematisierten Inhalte, der Adressaten und Ziele. 2. Gerade die Überschneidungen provozierten die Frage nach konkreten Wirkungs^usammenhängen von Suppliken und Gravamina in der Praxis. Dabei wurden folgende Beziehungen beschrieben: In Prozessen der politischen Kommunikation, sei es an Versammlungen vor oder an Landtagen - in Hessen-Kassel „Land-Kommunikationstage" genannt —, sei es auf dem Korrespondenzweg oder in kombinierten Verfahren, konnten viele von Einzelnen oder Korporationen verfaßte Suppliken und Spezialgravamina zu wenigen Generalgravamina mit breiter Legitimationsbasis gefiltert und gebündelt werden. Synergieeffekte entstanden dadurch, daß die staatliche Verordnungs- und Gesetzgebungstätigkeit durch den — zufälligen oder geplanten - gleichzeitigen parallelen Einsatz der beiden Artikulationsformen thematisch und materiell erheblich beeinflußt wurde; damit erwies sich die theoretische Rede vom Gesetzgebungsmonopol des Fürsten in „Policeysachen" und anderen Materien aus der Sicht der Praxis als zweifelhaft. Neutralisierungseffekte ergaben sich, wenn Suppliken und Gravamina von verschiedenen Urhebern mit gänzlich konträrem Inhalt zeitgleich eingereicht wurden und sich daher quasi gegenseitig aufhoben. Aushöhlungseffekte stellten sich ein, wenn die Vielzahl der durch Suppliken erreichten Ausnahmen von der Regel die allgemeine Geltung einer (ehedem vielleicht sogar in Suppliken und Gravamina geforderten) generellen Ordnung gefährden konnte. Schließlich konnte eine Ventilfunktion beobachtet werden in Form des — in Krisenzeiten öfter anzutreffenden obrigkeidichen Angebotes, Bitten und Beschwerden einreichen zu dürfen. 3. Der historische Wandel der beiden politischen Instrumente der Untertanen verlief auf Druck des Staates innerhalb der frühen Neuzeit in der Tendenz von den — rechdich begründeten politischen - Gravamina zu den - auf Gnade hoffenden untertänigen - Suppliken. Die Territorialfürsten waren meist relativ erfolgreich in ihrem Bestreben, das Gnadenrecht als ein laut Jean Bodin vornehmes Herrscherrecht bei sich zu monopolisieren. Beide Tendenzen vollzogen sich in Konkurrenz und komplementär zur Ausbildung prozessualer Konflikdösungen, die als „Verrechtlichung sozialer Konflikte" (WINFRIED SCHULZE) diskutiert werden. Ihre Bedeutung für die Moderne können Suppliken und Gravamina aus der weit verbreiteten Ansicht beziehen, das moderne Petitionsrecht habe sich aus der Supplizierpraxis heraus entwickelt. Veröffentlichungshinweis·. Der Vortrag basiert auf einer Studie, die erscheinen wird in: Gemeinde und Staat im Alten Europa, hg. v. PETER BI.ICKI.E (Historische Zeitschrift, Beiheft), München 1997. Beat Kümin (Cambridge)

Petitions and Revolution in England Das Referat befaßte sich hauptsächlich mit der Vorphase der Revolution von 1649, die normalerweise aus der Perspektive des sich verschärfenden Konfliktes zwischen Parlament und Krone beschrieben wird. Unter dem vorgegebenen Thema stehen dabei oft Meilensteine der Verfasungsgeschichte wie die Petition of Right von 1628 im Vordergrund, die den

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König dem 'due process of law' zu unterstellen und die englischen Untertanen vor willkürlichen Steuern oder Verhaftungen zu schützen beabsichtigte. In diesem Vortrag wurde aber argumentiert, daß die Konzentration auf 'große' Verfassungsdokumente und ein zu stark auf gentry und Parlament verengtes Blickfeld nur einen sehr beschränkten Einblick in die zeitgenössische politische Diskussion erlaubt. Mit Hilfe der Quellengattung der Petitionen lassen sich ein sozial viel breiterer Personenkreis und ein sachlich weiteres Spektrum von Ideen erschließen. Die Ausführungen gliederten sich in zwei Hauptteile. Zunächst wurden die Tradition und Bandbreite des englischen Petitionenwesens kurz skizziert. Im Vordergrund stand dabei der Versuch aufzuzeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit von Individuen und kommunalen Verbänden an alle möglichen Adressaten suppliziert wurde. Der zweite Teil wandte sich dann einer inhaltlichen Analyse von Fallbeispielen aus den 1640er Jahren zu. Darunter finden sich Interventionen zugunsten einer fundamentalen Umformung der Verhältnisse ebenso wie glühende Manifeste für die Verteidigung des Status Quo. Das Hauptaugenmerk wurde schließlich auf die Petitionen einer besonders aktiven und aus der Sicht des politischen establishments besonders gefahrlichen Gruppierung gerichtet. Zwischen 1647 und 1649 entwarfen die Lepellers ein politisches Programm, dessen Inhalt sich am besten aus den zahlreichen Petitionen ans Unterhaus erschließen läßt. Bei letzteren handelte es sich aber keinesfalls um Individualanliegen oder untertänige Gnadengesuche (wie der Name und oft auch der Tonfall der Quellengattung vermuten ließe), sondern um aggressive und selbstbewußte Forderungen d e r f r e e - b o r n Englishmen an ihre parlamentarischen Vertreter. Die Hauptpfeiler Rechenschaftspflicht aller Amtsträger, periodische Einberufung des Unterhauses sowie Hausväter-Wahlrecht auf lokaler und nationaler Ebene werden von der Forschung gemeinhin mit neuen Tendenzen in der zeitgenössischen politischen Theorie und der Praxis der protestantischen Sekten in Verbindung gebracht. Viel plausibler, wie der Vortrag zu zeigen versuchte, scheint aber die direkte Vorbildfunktion der seit Jahrhunderten in Dörfern, Städten und Pfarreien praktizierten kommunalen Prinzipien. Oliver Cromwells Independents verwirklichten zwar eine Form von republikanischer Revolution, noch radikalere und zukunftsweisendere Verfassungsmodelle allerdings finden sich in den Petitionen der Levellers. Veröffentlichungshimveis·. Der Vortrag basiert auf einer Studie, die erscheinen wird in: Gemeinde und Staat im Alten Europa, hg. v. Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft), München 1997. Renate Blickle (Bern)

Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten 'Sitz im Leben' (1629) (Das Referat vertrat den angekündigten, leider kurzfristig entfallenen Vortrag von Claudia U¡brich (Berlin): „Gnade vor Recht. Suppliken zum bäuerlichen Widerstand am Oberrhein im 18. Jahrundert") Im Unterschied zu den vorausgehenden Beiträgen, die einen größeren je spezifischen Überblick zum Thema „Supplikation" darboten, widmete sich das Referat einem konkre-

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ten Einzelfall: dem Fall der Christina Vend, einer Bäuerin aus der Klosterhofmark Rottenbuch am Lechrain. Sie wandte sich im Februar und im März des Jahres 1629 mit zwei Supplikationsschreiben an Kurfürst Maximilian I., den bayerischen Landesherrn in München. Die beiden im Abstand von wenigen Wochen abgefaßten Schreiben verfolgen dieselben Ziele — die Erteilung der Landeshuld für ihren auf Lebenszeit verbannten Ehemann und die Rückerstattung des Vendhofs, von dem die Familie vertrieben war —, sie unterscheiden sich aber auffallend in Sprache und Argumentation. Die Supplikationen der Christina Vend bilden die Basis der Untersuchung, sie werden durch alle erreichbaren Daten — es sind wenig genug — ergänzt, die zur sozialen Situation und zum Ereignisablauf, zur politischen, herrschaftlichen und administrativen Ordnung der Zeit und des Ortes erhalten sind. Das Ziel der Studie ist es, die singuläre historische Person Christina Vend, ihr konkretes Handeln und, soweit möglich — eine gewisse Chance dazu bieten die Supplikationen —, ihre Vorstellungen zu beschreiben. Die Person soll weder um wissenschaftlicher Operationalisierbarkeit willen als Exempel funktionalisiert, noch zur 'Kunstfigur' entäußert werden, weshalb darauf verzichtet wird, Überlieferungslücken mit Fremddaten zu kaschieren. Den genannten Vorgaben gemäß, werden die 'Texte' der beiden Schreiben als ein skriptuales Gelände aufgefaßt, in dem die Suche nach Signalen aus dem 'Vollzugsraum' einigen Erfolg verspricht, nicht jedoch als Rohstoff konstruktivistischer Operationen. Die Hindernisse, die sich vor dem Zugang zu einem weiblichen Individuum bäuerlichen Standes jener Zeit auftürmen, sind im übrigen bekannt. Obwohl der Focus auf dem Einmaligen liegt, ergeben sich durchaus Erkenntnisse allgemeiner Art. So kann man die Studie beispielsweise als einen Beitrag zur frühneuzeitlichen Verfahrensvielfalt verstehen. Wie das im einzelnen nachgezeichnete Vorgehen der Supplikantin und die Reaktionen von Hofrat, Kurfürst und Obrigkeit zeigen, gab es in Bayern ein geregeltes 'Supplikationsverfahren', das seinen systemischen Ort auf der beachtlichen Skala der frühneuzeidichen Konfliktregulierungsmechanismen nahe bei den einfacheren Varianten des Summarischen Prozesses hatte. Als eine Aussage von allgemeinerer Bedeutung wäre — ein weiteres Beispiel - der systematische Einbezug des Jenseits in die diesseitigen Konfliktlagen zu nennen, der dem Bittsteller und Beschwerdeführer die Möglichkeit einer ebenwürdigen Gegengabe bot. Denn wie Christina Vend gingen die bayerischen Supplikanten von der Vorstellung aus, die Erfüllung ihrer Bitten mit ihren Fürbittgebeten bei Gott abgelten zu können, ihrer Aussage nach war es ihnen möglich, eine empfangene 'Gnade' derart 'abverdienen' zu können. Veröffentlichungshinweis·. Der Druck des Beitrags erfolgt in: Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, hg. v. Eva Labouvif. (Beck'sche Reihe), München 1997, S. 81-99, 212-215.

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16. Geschlechtergeschichte der höfischen Welt in der Neuzeit Leitung: Regina Schulte (Bochum) Regina Schulte (Bochum): Einführung Claudia

SchnitterinDresden):

Das verkleidete Geschlecht. Höfische Maskeraden der Frühen Neuzeit Jill Repler (Wolfenbüttel): „Weiberregiment": Die Witwe von Schöningen Ute Daniel (Braunschweig): Die Fürstin als höfische Zentralperson: Das Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover Veröffentlichungshinweis·. Die Beiträge erscheinen in: L'Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Heft 2, Herbst 1997. Regina Schulte (Bochum)

Einführung In den letzten Jahren hat sich die Frauen- und Geschlechterforschung zunehmend auch der höfischen Welt zugewandt und sich damit ein wichtiges neues Feld kultureller Analysen eröffnet. In historischen wie auch literaturwissenschaftlichen Studien um Frauen in der höfischen Welt standen zunächst Herrscherinnen im Mittelpunkt. Elisabeth I., Katharina von Medici, Christina von Schweden, Maria Theresia und Katharina von Rußland unter anderen haben zu vielschichtigen Untersuchungen geführt. Vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Macht und nach besonderen geschlechtsspezifischen — weiblichen bzw. männlichen — Formen der Herrschaftsausübung trat in den Vordergrund. Die Analyse der Implikationen, welche ein solcher eigener Regierungsstil für die jeweilige zeitgenössische politische Kultur und die politische Stabilität eines Landes hatte, brachte die Suche nach neuen Wegen einer geschlechtergeschichdich inspiriertenPolitikgeschichte. Wie und durch wen schließlich wurden die Prozesse der Repräsentation und zeremoniellen Praxis in Gang gesetzt, in welchen das weibliche herrscherliche Bild geschaffen wurde, und welche Formen der Selbstinszenierung und -darstellung wurden von den Frauen selbst dabei genutzt? Der alte Disput über die Legitimität der Herrscherin, den im Jahre 1558 der schottische Calvinist John Knox schon einmal angefacht hatte, als er — Zeitgenosse von Maria Tudor, Maria Stuart und Katharina von Medici - deren Herrschaft als das „monströse Frauenregiment", das 'widernatürliche', beschimpfte, wurde erneut aufgenommen. Das Problem, ob eine Frau „König" sein könne und dürfe oder die im Straßenjargon einer Londonerin aus dem 16. Jahrhundert ausgedrückte Tatsache, daß sie „didn't know, that the queen is a woman", hatten in England und Frankreich z.B. andere Voraussetzungen in Tradition und

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Recht. Die Rolle der jungfräulichen, der mütterlichen Königin und der Witwe, aber auch der als androgyn angesehenen, lösten weitreichende politische Diskurse aus und setzten Juristen, Dichter und Portraitmaler ebenso in Bewegung wie wirkungsvollen Tratsch am Hof. Immer aber stand in diesen Zusammenhängen das Geschlecht der Frauen im Mittelpunkt, es erwies sich als politisch aufgeladen und ist auch in der Forschung Ausgangspunkt wie Ende der B e f u n d e darüber, ob sie fähige und gute, männliche oder mütterliche Herrscherinnen gewesen seien. Herrschaft blieb dabei jedoch wiederum meistens männlich konnotiert, was dazu geführt hat, daß, wenn nach Herrscherfiguren gesucht wurde, Männer ins Blickfeld gerieten. Andersherum könnte man auch sagen, daß es immer dann, wenn 'Geschlecht' auf der Tagesordnung stand, um Frauen ging, nicht um Männer. Ist dies auch immer die Wahrnehmung der Zeitgenossen gewesen? Der faktische Befund weist in eine andere Richtung — Frauen übten oft für lange Phasen als Regentinnen, Witwen und in weiblicher Erbfolge Macht aus und konnten sehr weitgehende Regierungsbefugnisse haben. In unserer Sektion standen auf der Bühne der höfischen Welt nicht die Stars unter den Königinnen und Herrscherinnen — auf einer profaneren und weniger durch Ikonen belasteten Ebene deutscher Fürstentümer sollte die Frage nach dem Platz, den Frauen jenseits der offiziellen Doktrin besetzen konnten und beanspruchten, erneut gestellt werden und den Netzwerken der Geschlechterbeziehungen in diesen höfischen Welten nachgegangen werden. Auf der spielerischen und gleichzeitig streng geregelten Ebene der Inszenierung und Selbstdarstellung in Maskeraden wurde „Männlichkeit und Weiblichkeit" als grenzüberschreitende und gesellschaftlich immer wieder neu zu konstituierende kulturelle Matrix in den R a u m gestellt. Iis hat sich aber gezeigt, daß über die Geschlechtergeschichte hinaus ein neues breites kulturelles Interesse an der Welt der Höfe aufgekommen ist, an dieser in ihren Machtstrukturen und ästhetischen Ausdrucksformen doch weit zurückliegenden fremden Welt. Einige a u f w e n d i g e und erfolgreiche Filme der letzten Jahre z.B. verweisen darauf: der Molière-Film von Ariane Mnouchkine, „Liaisons dangereuses", „The Draftsman's Contract", „Amadeus" und neuerdings „Reine Margot". Schaffen Künstler in der Inszenierung der untergehenden Welt der europäischen Höfe mit ihrer abgründigen Faszination und Morbidität Spiegelbilder unserer eigenen Kultur? Wofür ist die hochstilisierte künstliche Welt der absolutistischen Höfe hier zur Metapher geworden in einer heutigen Kultur, die sich immer mehr in virtuelle Dimensionen hineinbegibt und reale Weltwahrnehmungen durch künstliche Konstruktionen ablöst? Louis MARIN hat den Ausbau der offiziellen repräsentativen ästhetischen Maschinerie des Sonnenkönigs als einen Prozeß begriffen, in welchem gleichzeitig Wirklichkeitserfahrung und Vorstellungskraft des Volkes auf einen Punkt reduziert werden sollte: auf das Bild des Königs. Er setzt diese Entwicklung in Bezug zur mediengeschaffenen Verkürzung von Erfahrung und Sprache in einer von Technokraten eingerichteten Welt des Knopfdrucks. Die Sozialanthropologie und auch die Ethnologie haben uns gelehrt, in der Auseinandersetzung mit anderen, fremden Welten den Spuren der eigenen nachzugehen, und es scheint mir, gerade z.B. im Unheimlichen und auch im Grotesken der erwähnten Filme zur Re-Inszenierung der höfischen Welt, als verberge ihre schillernde Projektionsfläche auch noch einen post-modemen Text, der noch nicht unmittelbar entziffert werden kann.

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Ein solches doppeltes Programm, in welchem die Geschlechtergeschichte der Höfe auch in einen Gegenwartsbezug gestellt würde, erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit und Anerkennung der großen Vorleistungen, die vor allem im Bereich der höfischen Ästhetik durch Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und auch Musikwissenschaft schon erbracht wurden. Claudia Schnitter (Dresden)

Das verkleidete Geschlecht. Höfische Maskeraden der Frühen Neuzeit Die Verkleidungsdivertissements des 16. bis 18. Jahrhunderts umfassen eine Bandbreite von verschiedenen Maskeradentypen, angefangen mit den frühen Verkleidungstänzen (Mummereien), den unterschiedlichen Arten der Ritterspiele, den Verkleidungsbanketten (Wirtschaften, Bauernhochzeiten) bis hin zu den Maskenbällen. Die Vielfalt der höfischen Maskeradenformen, ihre Ausdifferenzierung, gegenseitige Ergänzung und z.T. auch Ablösung resultieren aus ihrem engen Zusammenhang mit dem Hof- und Staatszeremoniell: Veränderte gesellschafdiche und zeremonielle Anforderungen finden ihren direkten Niederschlag in der Wahl und Modifizierung der verschiedenen Spielformen höfischer Maskerade. Eng verknüpft mit der Entwicklung der höfischen Maskeradenkultur ist die sich wandelnde Rolle der Frau in den Verkleidungsfesten. Das galante Konversationskonzept, welches aus dem höfischen Minnekonzept hervorging, unterstützte die zunehmende Integration der Frau als aktive Partnerin des Mannes in den Verkleidungsdivertissements. Es begünstigte Maskeradenformen wie etwa die Verkleidungsbankette und Maskenbälle, in denen Kavalier und Hofdame als Paar gemeinsam agierten. Die strengeren Anstands- und Schicklichkeitsregeln für Frauen behinderten jedoch nachhaltig diesen Prozeß. Signifikant ist hierfür das Spannungsverhältnis zwischen der seit der Antike üblichen Theaterpraxis der 'Männer in Frauenkleidern' und der 'natürlichen' Besetzung weiblicher Rollen durch Frauen in den höfischen Maskeraden. In den komplexen Programmen der Inventionsaufzüge zu den Ringrennen waren weibliche Rollen unverzichtbar. Sie wurden bis ins letzte Viertel des 17. Jahrhunderts in Deutschland ausschließlich von Männern vorgestellt — von Herrschern ebenso wie von Höflingen und Lakaien. Maskeradenkleider mit inkarnatfarbenen Halsausschnitten oder Ärmeln, Nacktkleider sowie Brustphantome dienten der Vorstellung der vermeintlichen Weiblichkeit ihres Trägers. War der männliche Geschlechtsrollentausch bzw. Transvestitismus selbst für Herrscher jahrhundertelang legitim, so galt das Erscheinen von verkleideten Frauen in den öffentlichen Divertissements, vor allem den Aufzügen, bis ins späte 17. Jahrhundert generell als unanständig und kompromittierend. Es bestand die Gefahr, daß mit Blick auf die Schaustellungen der fahrenden Leute das verkleidete Auftreten der Hofdamen als öffentliche Zurschaustellung der Frau gewertet wurde, die einer Prostitution gleichkam. Die höfische Frau mußte sich im Maskenspiel sukzessiv ihren für unsere Begriffe 'eigenen' Geschlechtsort erobern, der vormals durch Männer in Frauenkleidern vertreten wurde. Mit den in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts aus den Schlittenfahrten entstandenen Damenringrennen erfolgte die Okkupation des Turniers als genuin männliches Betätigungsfeld. Die Verknüpfung der Ritterspiele mit den Verkleidungsbanketten, zu denen die Da-

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men in dezenten bürgerlichen und ländlichen Verkleidungen mit ihren Kavalieren zum Veranstaltungsort fuhren, legitimierte schließlich auch die Beteiligung der Hofdamen an den Inventionsaufzügen als Begleiterinnen ihrer Festpartner. Das Auftreten von Hofdamen im öffentlichen Festaufzug bedeutete eine Zäsur in der Aufführungspraxis und Schloß fortan die Übernahme weiblicher Rollen durch Männer außer im grotesk-komischen Zusammenhang aus. Im Vergleich mit der 'natürlichen' weiblichen Besetzung der Frauenrollen wirkte nun das Auftreten von Männern in Frauenverkleidungen als 'widernatürlich' und galt als Verstoß gegen die sittlichen Normen. War vormals die Frauenverkleidung der Männer trotz des biblischen Verbotes des geschlechtlichen Kleidertausches als Schutzmaßnahme für die höfischen Frau vor öffendicher Zurschaustellung sittlich legitimiert und als Ehrenbezeigung an die Frau anerkannt, so bedeutete fortan die Frauenverkleidung einen Ehrverlust des verkleideten Mannes. Der vorübergehende Genuswechsel in der Maskerade bedurfte — wenigstens vorgeblich — einer Motivation, die außerhalb des Vergnügens an der geschlechtsverändernden Verkleidung lag und als maßgeblicher Grund für das Anlegen der Frauenkleider zu gelten hatte. Ohne diese in der Aufführungspraxis verankerte Legitimation scheint die Verkleidung als Frau gegen das Dekorum verstoßen und eine Kompromittierung ihres Trägers bedeutet zu haben. Es bestand die Gefahr, daß man die vom Träger selbstgewählte Frauen-Verlarvung als Entlarvung seiner persönlichen Wesensart auffaßte, die er im alltäglichen, unverkleideten Auftreten verschleierte.

Jill Bepler (Wolfenbüttel)

„Weiberregiment": Die Witwe von Schöningen 1642 trafen sich in Braunschweig Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg (1620-1688), und Herzog August von Braunschweig-Lüneburg (1579—1666). Der Braunschweiger Herzog war dabei, mit dem Goslarer Separatfrieden die entscheidenden Verhandlungen zu führen, die ihm die Residenzstadt Wolfenbüttel restituieren sollten. Als kulturelles Begleitprogramm zu diesem politischen Anlaß wurde von den Prinzen und Pagen des Braunschweiger Hofes ein Trionfo-Spiel Neu erfundenes Freuden-Spielgenandt Friedens-Sieg, eine Geißelung des Sittenverfalls im Deutschen Reich im 30-jährigen Krieg, inszeniert. Eine Kupferstichfolge hält den Innenraum der Burg Dankwarderode mit Akteuren und Publikum fest. Das Referat untersuchte Bild und Stück als Kommentar auf die anwesenden fürsdichen Zuschauer und Zuschauerinnen, um sich dann auf die ebenfalls anwesende Figur von Anna Sophie von Braunschweig-Lüneburg (1598—1659), „Witwe von Schöningen", zu konzentrieren. Die Macht- und Überlebensstrategien der Herzogin und ihre in der 1660 erschienenen Leichenpredigt apostrophierte „mehr als männliche Constantz" zeigen die Bedeutung von dynastischen Verbindungen im Kräftespiel zwischen den Geschlechtern in einem höfischen Kontext. Durch geschicktes Paktieren und Taktieren nach denkbar ungünstigen Ausgangsbedingungen (Kinderlosigkeit, Trennung von ihrem Mann, Flucht, Prozessen, Kriegseinwirkungen, Witwenschaft) führte die Herzogin ein finanziell und politisch relativ unabhängiges Leben auf ihrem Witwensitz Schöningen, wo sie auch kulturell Bedeutendes leistete. Exemplarisch am Verlauf ihrer Konflikte mit einer Reihe männlicher Gegenspieler ist der dynastische Rückhalt, der ihr durch ihre weiblichen Verwandten am

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Berliner Hof geboten wurde, sowie ihre übergeordnete Identität als Kurprinzessin. Bislang unbeachtet, bietet das archivalische Material zu Anna Sophie einen Einblick in die Spannung zwischen Macht und Ohnmacht in weiblichen Lebensläufen in der Frühen Neuzeit. Ute Daniel (Braunschweig)

Die Fürstin als höfische Zentralperson: Das Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover Eine der wichtigsten Fragen, die die Geschlechtergeschichte der höfischen Welt aufwirft, ist die nach der Verortung der Frauen im höfischen Machtgefüge. Der Beitrag bemühte sich um eine erste Annäherung an das Problem, indem er nach der Stellung der weiblichen höfischen Zentralperson, der Ehefrau des Regenten — Regentinnen bedürfen als historische Sonderfälle einer eigenen Untersuchung—, fragte. Als analytischer Zugriff wurde eine Konzeption von 'Macht' zugrunde gelegt, die — statt zu versuchen, durch eine generalisierende Definition einen kontextunabhängigen Machtbegriff vorzugeben — das Phänomen im historischen Kontext der Hofgesellschaften umreißt: Der Vorschlag für eine Kontextualisierung von Macht im höfischen Bereich, wie er im ersten Teil des Beitrags entwikkelt wurde, lautet, als wichtigstes Strukturierungsmoment des höfischen Machtgefüges die Chance des Zugangs zur höfischen Zentralperson, der des Regenten, zu betrachten. Am Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover ging es dann um die empirische Präzisierung ihrer Stellung im Machtgefüge des Hofs; als Quellengrundlage dienten v.a. ihre 1680 verfaßte Autobiographie und ihr Briefwechsel. Zwei Lesarten dieser Selbstzeugnisse wurden angeboten — zwei Lesarten, die sich widersprechen, aber beide plausibel zu machen sind: Die erste betont diejenigen Aspekte der Selbstwahrnehmung Sophies und ihrer Rolle in der höfischen sozialen Praxis, die darauf hinweisen, daß sie sich als gestaltungsmächtig, als einflußreich wahrnahm; die zweite akzentuiert die gegenläufigen Aspekte: ihre Selbstwahrnehmung als passiv, als handlungsunfähig oder als in ihren Intentionen scheiternd. Aus diesem Material wurden zwei Thesen entwickelt, die versuchen, verallgemeinerungsfähige Aussagen zu formulieren. Die erste These lautet, daß diese Widersprüchlichkeit der Selbstverortung im höfischen Machtgefüge konstitutiv für die Rolle der weiblichen höfischen Zentralperson (d.h. der Ehefrau des Regenten) war: Diese große Spannbreite zwischen Einfluß und Ohnmacht innerhalb eines individuellen Lebenslaufs teilte die Biographie der fürstlichen Ehegattin mit der typischen Biographie eines Günstlings. Die zweite These lautet, daß auch im Fall der Ehefrau des Regenten gilt, daß ihre Machtstellung innerhalb der Hofgesellschaft v.a. von der Chance des unmittelbaren Zugangs zum Regenten abhängig war und daß diese Chance nach den ersten Ehejahren und der Geburt der ersten Kinder abnahm; diese These impliziert also eine biographieabhängige Entwicklung der Machtstellung der Fürstin, die sie zunehmend vom Zentrum an die Peripherie der Hofgesellschaft führte.

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17. Männergeschichte als Geschlechtergeschichte? (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit) Leitung: Martin Dinges (Stuttgart) Martin Dinges (Stuttgart): Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. Einleitung Bernd-Ulrich

Hergemöller(Hamburg):

Antisodomitische Argumentationsfiguren und Schuldzuschreibungen im späten Mittelalter RobertJütte

(Stuttgart):

Der jüdische Mann — Selbst- und Fremdstereotypen Hermann Roodenburg (Amsterdam): Manliness embodied: painting, acting and civility in the Dutch Republic Michael Frank (Bochum): Trunkene Männer und nüchterne Frauen oder Judiths Triumph über Holofernes Veröffentlichungshinweis·. Die Beiträge der Sektion werden zusammen mit weiteren einschlägigen Studien in einem vom Sektionsleiter herausgegebenen Sammelband voraussichtlich 1997 veröffentlicht. Martin Dinges (Stuttgart)

Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. Einleitung

Die Frauengeschichte hat sich mittlerweile in der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert. Sie entwickelt sich langsam zu einer Geschlechtergeschichte, die auch die Frage nach dem männlichen Geschlecht sowie nach den gegenseitigen Roilenzuschreibungen von Männern und Frauen thematisiert. Aus der bisherigen Geschichte des Forschungsfeldes läßt sich wohl erklären, daß praktisch alle Studien zur Männergeschichte in Deutschland von weiblichen Autoren ( U T E FREVERT) stammen. In diesen Untersuchungen wurden wichtige Anhaltspunkte für eine künftige Männergeschichte entwickelt, die auch in dieser Sektion aufgegriffen wurden. Daß sich bisher fast keine männlichen Autoren mit dem Thema befaßten, war möglicherweise einem differenzierten Männerbild wenig zuträglich. Außerdem betraf fast die gesamte bisherige Forschung die letzten beiden Jahrhunderte, denen auch der von THOMAS K Ü H N E 1996 herausgegebene Sammelband „Männergeschichte - Geschlechtergeschichte" gewidmet ist. Die Sektion war ein Ansatz zur Überwindung dieser beiden Defizite. Gleichzeitig sollte sie den Dialog mit geschlechtergeschichtlich interessierten Historikerinnen voranbringen, der auf einer Werkstattagung im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart bereits begonnen wurde. Für einen zweiten Ansatz in der Männergeschichte gibt es eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Zunächst ist hier die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung der

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letzten 20 Jahre zu nennen, die inhaltlich und methodisch eine Fülle von neuen Erkenntnissen und Ansätzen erbracht hat. Ihr mittlerweile herrschendes Paradigma, der Genderbegriff, betont die Dominanz des kulturellen gegenüber dem biologischen Geschlecht. Er stellt die Konstruiertheit und Historizität von Geschlecht, sowie die mit Geschlechterbeziehungen immer einhergehenden ungleichen Verteilungen von Macht in den Vordergrund. Die deutschsprachige Summe dieser Untersuchungen hat für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit H K I D K W U N D K R mit ihrer Darstellung „Er ist die Sonn, sie ist der Mond" gezogen. Das Buch zeichnet sich nicht zuletzt durch einen großen theoretischen Bogen aus, den Wunder anhand des von ihr sogenannten „Arbeitspaares" konstruiert hat. Diese Fassung des Themas wird übrigens in den USA so ernst genommen, daß man sie jetzt auch jenseits des Atlantiks in englischer Ubersetzung nachlesen kann. Die bereits vorliegende, überwiegend englischsprachige Forschung zur Männergeschichte machte ebenfalls wichtige Aspekte von Männerrollen sichtbar. Beide Vorarbeiten zeigen: Für das Verständnis der Rollenkonstitution im 19. und 20 Jahrhundert und für die Infragestellung derzeitiger Männerrollen sind im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit durchaus entscheidende Aufschlüsse zu erwarten. Das 19. Jahrhundert (insbesondere dessen zweite Hälfte) wirkt nämlich auch hinsichtlich unseres Themas oft wie eine Sichtblende, die den Blick auf frühere Verhältnisse unnötig erschwert: Viele Selbstverständlichkeiten heutiger, recht einseitiger männlicher Rollenzuschreibungen — etwa im Gefühlsbereich oder hinsichtlich der Bedeutung des Berufs — erweisen sich bei genauerer Betrachtung in dieser Zuspitzung nämlich erst als Entwicklung der letzten 150 bis 200 Jahre, was zuletzt A N N K - C H A R I . O T T T R K P P überzeugend gezeigt hat. Der Zusammenhang der 'Männergeschichte' mit dem Gesamtthema des Historikertages, „Geschichte als Argument", liegt auf der Hand. Frauengeschichte hatte in ihrer Entstehungsphase immer auch das Ziel, weibliche Emanzipation durch historische Beispiele zu stützen. In dieser Hinsicht hat sich durch die zunehmende Integration der neueren Geschlechtergeschichte in den Wissenschaftsbetrieb anscheinend eine gewisse Skepsis breit gemacht. Trotzdem wird dieser Geschichtsschreibung vor allem von ihren Gegnern nachgesagt, sie diene vorwiegend als Argument für Fraueninteressen. Explizierte Forschungsinteressen sind allerdings generell guter Brauch in der Zunft, um den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse für den Leser nachvollziehbar zu machen. Der Vorwurf könnte sich also im Nichts auflösen. Sein eigentlicher Hintergrund dürfte wohl eher sein, daß Frauengeschichte die sogenannte und selbsternannte 'allgemeine' Geschichtsschreibung nicht zu Unrecht als 'Männergeschichte' kritisierte und kritisiert, weil diese fast ausschließlich Männer thematisiere und Frauen sowie die traditionell ihnen zugeordneten Lebensbereiche totschweige. In der traditionellen Historiographie sollten bekanntlich die angeblich geschlechtslosen Männer'das Allgemeine' menschlicher Geschichte repräsentieren. Diese Art Männergeschichte galt und gilt es zu überwinden, indem eine neue Männergeschichte sichtbar macht, daß und wie Männer als Wesen mit Geschlecht agieren. Damit werden viele scheinbare Sicherheiten der bisherigen Geschichtsschreibung fragwürdig. Geschlechtergeschichte wird erst dann die Vorstellungen von den Zentren traditioneller Historiographie — von Staat, Herrschaft und Wirtschaft — verändern, wenn die in diesen wirkenden Geschlechterbeziehungen zum nor-

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malen Repertoire von Forschung, Darstellung und Lehre in der Geschichtswissenschaft geworden sind. Männergeschichte hat neben der Inspiration aus der Frauen- und Geschlechtergeschichte weitere Wurzeln, die auf die Nutzung von „Geschichte als Argument" verweisen. Männergeschichte ist im angloamerikanischen Ausland in erheblichem Maß durch Emanzipationshoffnungen von Homosexuellen angestoßen worden. Diese untersuchten die historische Konstruktion von Homosexualität und den Umgang mit den sogenannten „Sodomitern", um politische Perspektiven für einen anderen Umgang mit einer gesellschaftlich diskriminierten Gruppe zu eröffnen. Dabei zeigte sich u.a., daß Homosexualität erst sehr spät zu einem umfassenden Persönlichkeitskonzept geworden ist, während früher gleichgeschlechtliche Kontakte in bestimmten Lebensphasen weniger perhorresziert waren. Andererseits wird Männergeschichte heterosexueller Männer hier und da auch als Beitrag zur historischen Identitätsbildung für veränderte, weniger einseitige Männerrollen verstanden. Dieses Erkenntnisinteresse wäre für mich nur akzeptabel, wenn man dabei immer die Brüchigkeit, Veränderbarkeit und Historizität von 'Identität' mit bedenkt. In Zukunft könnte ein weniger aktuell motiviertes Interesse an einer besseren Kenntnis historischer Formen von Männlichkeit für deren Erforschung maßgeblich werden. Auf jeden Fall ist aber die Überwindung des in der öffentlichen Diskussion verbreiteten, oft ahistorischen, reduzierten und absurden Bildes von angeblich fast nur in der Öffentlichkeit wirkenden, wahlweise gefühllosen oder zu gefühlssicheren, vorwiegend berufsorientierten, im großen und ganzen beherrschten, ansonsten aber häufig gewalttätigen oder auch autoritären Männern ein dringendes Desiderat der Forschung. Männer, die bisher häufig als das 'verallgemeinerte Andere' der Frauengeschichte thematisiert wurden, müssen durch entsprechende Forschungen plastischer werden. Das lesende Publikum zeigt dafür und allgemeiner an der historischen Neubewertung von Geschlechtsrollen ein durchaus reges Interesse, wenn Anzahl der Titel und Absatzzahlen entsprechender Bücher ein zuverlässiger Indikator sind. Männergeschichte steht aufgrund ihrer doppelten Herkunft aus der Geschlechter- und der Homosexualitätsgeschichte sowie mit den an sie gerichteten aktuellen Erwartungen in einem ähnlichen Spannungsfeld wie die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sie wird immer wieder die Balance zwischen einer Geschichtsschreibung als Argument für Emanzipation und einer Historiographie als Rekonstruktion historischer Männerrollen herstellen müssen. Außerdem wird sie sich mit den inhaltlichen und methodischen Vorgaben der Frauen- und Geschlechtergeschichte auseinandersetzen müssen. Schließlich wird Männergeschichte vielleicht auch die Skeptiker vom Charme ihres Gegenstandes überzeugen müssen, die das abwehrende Argument ins Feld führen, Männergeschichte sei lediglich ein überflüssiger Modernismus. Insgesamt ist sie deshalb besonders geeignet, das Rahmenthema des Historikertages zu illustrieren. Dies geschah in der Sektion anhand einiger Fallstudien. Ich habe sie aus einer größeren Zahl von gerade entstehenden Untersuchungen zur Männergeschichte ausgewählt, weil sie jeweils spezifische Aspekte der historischen Konstruktion von Männerrollen aufgreifen. Die Konstruiertheit und damit die historische Veränderbarkeit von Männerrollen sowie die konkurrierenden Anforderungen, die in sie eingehen, deutlich zu machen, scheint mir trotz aller Kritik am Rollenkonzept ein besonders geeigneter erster Zugang zum Thema zu

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sein. Wir wollten mit diesen vorwiegend methodisch orientierten Beispielen hauptsächlich zu weiteren D i s k u s s i o n e n und F o r s c h u n g e n anregen. Bernd-Ulrich Hergemöller ( H a m b u r g ) untersucht die Diskursivierung v o n Sexualität im Venedig des 15. Jahrhunderts. D a m a l s sollte Heterosexualität als Standard entwickelt und durchgesetzt werden. E r beschreibt eine wichtige G r e n z z i e h u n g v o n gesellschaftlich erwünschter und nicht erwünschter Männlichkeit. Wie bei vielen Männlichkeitsdiskursen schwingen hier Bilder v o n Männlichkeit und Unmännlichkeit mit, die eine eigenständige Betrachtung neben der M a n n - F r a u D i f f e r e n z verdienen. Robert Jütte (Stuttgart) entwickelt mit d e m Blick a u f Stereotypen z u m jüdischen Männerbild eine kulturvergleichende Perspektive. E r betrachtet eine im 'christlichen' A b e n d l a n d s t ä n d i g p r ä s e n t e alternative Männlichkeitskonstruktion, u m dabei auf die methodisch wichtigen Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdstereotyp bei Rollenkonstruktionen zu verweisen. Herman

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( A m s t e r d a m ) thematisiert die Zielvorgaben für die visuelle Männlichkeitsdarstellung in Genremalerei und Theater der Vereinigten Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert. D a m i t rücken die Medien als Mittel zur K o n s t r u k t i o n v o n Männerrollen in den Vordergrund, die nicht erst in unserer s o g e n a n n t e n ' M e d i e n g e s e l l s c h a f t ' b e d e u t u n g s v o l l g e w o r d e n sind. Michael Frank ( B o c h u m ) stellt die Spielräume und G e f ä h r d u n g e n männlicher Rollen beim U m g a n g mit Alkohol vor. Was zunächst einmal hauptsächlich a m ü s a n t wirkt, unterstreicht die g r u n d l e g e n d e D i f f e r e n z zwischen Rollenanforderung und Rollenerfüllung. D i e s ist ein weiterer wichtiger M e r k p o s t e n für jede Untersuchung der historischen K o n s t r u k t i o n von Geschlechtsrollen. A u f g r u n d des eingangs erwähnten Rückstands der deutschen männergeschichtlichen F o r s c h u n g konnte in München nur ein erster A n s t o ß zur D i s k u s s i o n g e g e b e n werden. D e n meinten wir im Sinne v o n NATHALIE ZKMON DAVIS, die bereits 1976 schrieb: „ A u f jeden Fall ist für d e n Bereich der Frauengeschichte klar, daß die v o n M a u e r n u m g e b e n e Stadt der D a m e n d e m o f f e n e n F o r u m , vielleicht d e m K a m p f p l a t z für die ernsthafte F o r s c h u n g über die Geschlechter weichen muß: v o n d e n " - g r o ß geschrieben — „ B e d e u t e n d e n Frauen zu einer bedeutenderen Z u n f t . " 1 Ich ergänze: der Geschlechtergeschichte. D a f ü r bestehen zwanzig J a h r e nach der ersten Veröffentlichung dieser Einladung, nach entsprechenden A u f f o r d e r u n g e n und Vorarbeiten in D e u t s c h l a n d , i n s b e s o n d e r e seit 1988 durch UTK FREVF.RT, u n d durch die zwischenzeidiche E n t w i c k l u n g der Frauen- zur Geschlechtergeschichte bessere B e d i n g u n g e n denn je. E s k o m m t nun d a r a u f an, daß Männer endlich das D i a l o g a n g e b o t aufgreifen! Anmerkung. 1 Deutsche Übersetzung von 1978 in: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Fischer TB, Frankfurt a.M. 1989, zuerst als „Women's History in Transition: The European Case", in: Feminist Studies III, 1976, S. 83-103.

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Bernd- Ulrich Hergemöller (Hamburg)

Antisodomitische Argumentationsfiguren und Schuldzuschreibungen im späten Mittelalter Am Beispiel der Sodomiterverfolgung Venedigs (Register der Dieci) wurden spätmittelalterliche Wahrnehmungs- und Einstellungsveränderungen in bezug auf das Vitium subdomiticum untersucht. In der Theorie halten die Zehnherren an dem 'klassischen' justinianischen Kanon der Schuldzuschreibung fest, wobei sie die deskriptive Erfassung des sodomitischen Handelns nach den Grundvorstellungen der mannweiblichen Sexualität ausrichten. Im Verlauf der inquisitorischen Praxis wird diese theoretische Basis in Frage gestellt. Außerdem beginnen sich die Konturen einer sozialen Alltagswirklichkeit abzuzeichnen, die dem Verbrecherkonstrukt widersprechen: Die Zehnherren 'entdecken' drei neue 'Modelle': 1. langfristige, ehe-analoge Gemeinschaften von Männern, 2. die Sexualität minderjähriger „Sodomiterknaben" sowie 3. die Verbreitung des ritium sodomiticum im Bereich der Prostitution. Die Eigendynamik der Untersuchungslogik führt zu einer Intensivierung der Kontrollund Strafmaßnahmen und einer Extensivierung der Opfergruppen. Dies steht im Kausalzusammenhang mit den Bemühungen, den außenpolitischen Verfalls- und den internen politischen Korrosionserscheinungen der Republik durch die Intensivierung sozialer Disziplinierung, das heißt konkret: durch die Neubewertung von Ehe und Familie, zu begegnen. Robert Jütte (Stuttgart)

Der jüdische Mann — Selbst- und Fremdstereotypen Mit der Kategorienbildung „Jude" und „Mann" wird ein wirkmächtiger Sinn konstituiert, indem in der Vergangenheit, aber z.T. auch noch in der Gegenwart bestimmte (meist negative) Eigenschaften und Merkmale hervorgehoben und verallgemeinert werden. Nach Otto Weininger („Geschlecht und Charakter", 1903) ist „der Jude [...] ewig wie das Weib, ewig nicht als Persönlichkeit, sondern als Gattung." Dabei ist allerdings zu beachten, daß der Begriff „Jude" bei Weininger ebensosehr eine Kategorie des Geschlechts, nämlich männlich, wie eine Kategorie der Rasse ist. Für S A N D E R L. G I L M A N liegt hier ein wesentliches Merkmal der jüdischen Identitätsstruktur vor, die durch die „Beziehung zwischen dem Stereotyp vom Juden und demjenigen von der Frau (als parallelen Kategorien zum Christen und Mann)" entscheidend geprägt wurde. Der von Selbsthaß und Misogynie gequälte Wiener Jude Otto Weininger hatte zweifellos ein intuitives Gespür dafür, daß von christlicher Seite bereits seit dem Mittelalter immer wieder Zweifel an der Männlichkeit des Juden laut wurden. Gleichwohl ist SANDER L . G I L M A N weitgehend zuzustimmen, daß die „antithetischen Gestalten des Juden und der Frau" erst im späten 19. Jahrhundert den Geschlechter- und Rassendiskurs bestimmten, als beide Gruppen „Ansprüche auf die von arischen Männern besetzten Machtpositionen" zu erheben begannen und Frauen und Juden vermehrt in von Männern dominierte Bereiche, wie

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z.B. die Universität, eindrangen, die ihnen vorher weitgehend verschlossen geblieben waren. Um das vielschichtige Problem zu verstehen, was Jüdisch-Sein für Otto Weininger, aber auch für Sigmund Freud und andere jüdische Intellektuelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete, muß man die historischen Wurzeln des Stereotyps von der angeblich defizitären Maskulinität des jüdischen Mannes herausarbeiten. Diese Ursprünge reichen im christlich geprägten Abendland bis weit in das Mittelalter zurück. Von chrisdicher Seite war das Stereotyp des verweiblichten Juden seit dem späten Mittelalter nicht zuletzt mit dem fremdartigen Ritual der Beschneidung verbunden. Die rituelle Zirkumzision erfuhr schon früh durch das Christentum eine theologische Umdeutung. Seit dem Mittelalter wurde der nicht nur bei den Juden anzutreffende Brauch zum Gegenstand eines weitgehend sexuell bestimmten Diskurses über Sinn und Folgen der Entfernung der Vorhaut beim jüdischen Mann. Hermann Koodenburg (Amsterdam)

Manliness embodied: painting, acting and civility in the Dutch Republic During the last decades of the seventeenth century Dutch culture was frenchified to a degree that surpassed all earlier influences from that country. The Dutch upper classes identified more than ever with French manners, with the notions of ávilité and honnêteté. Similar influences can be noted in painting, the theatre and the still important art of rhetoric. A striking case in point is the simultaneous involvement of a painter (Gerard de Lairesse) and a university professor in rhetorics (Petrus Francius) with the Amsterdam schouivburg. Their ideas corresponded closely to the aesthetics of French-classicist tragedy, to the art of Corneille and Racine, in which the ideals of dvilité and honnêteté were of the utmost importance. An examination of the intricate relationship between these three 'media', taking contemporary manners books and their codification of the ideals of civility as the point of departure, reveals that French-classicist theatre, in particular in its many rules regarding carriage, gestures and facial expression, relied heavily on painting and drawing. Well into the eighteenth century Dutch actors were advised to read the 'handbooks' of Van Mander, Van Hoogstraten and De Lairesse. More concretely, they were urged to study the art of a particular painter, to start a collection of paintings and drawings for themselves or to take drawing lessons with a well-known painter. Armed with this knowledge (and with lessons in rhetorics, dancing and ballet) the actor would be able to improve his acting, his heroic attitudes (or mlstand), his gestures and his rendering of the passions, for which the tragedies were beloved. In exploring these theatrical meanings we may enhance our understanding of contemporary ideals of manliness. Painting, acting and rhetorics offered the honnête homme a lofty but highly stylized self-image.

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Michael Frank (Bochum)

Trunkene Männer und nüchterne Frauen oder Judiths Triumph über Holofernes Der Genuß alkoholischer Getränke stellte in vielen Zeiten und Kulturen ein Bewährungsfeld für den Mann dar. Ein 'echter Kerl' war nur der, der sich der Herausforderung der Trinkgelage stellte und mit anderen Männern beträchtliche Mengen Alkohol konsumierte. Dabei skizzieren uns die Diskurse der Theologen, Mediziner und Juristen für die Frühe Neuzeit jedoch ein recht zwiespältiges Bild. Sie zeigen, daß die strengen Regeln der Männlichkeitsrituale für die Teilnehmer insbesondere im Bereich des Alkoholkonsums große Konfliktpotentiale bargen. Denn es galt das ungeschriebene Gesetz, daß selbst nach größeren Trinkmengen der männliche Mann seinen Körper unter Kontrolle haben, im Demonstrieren der Trinkfestigkeit möglichst allen anderen Teilnehmern überlegen sein mußte. Damit eröffnet sich aber leicht die Gefahr, nicht mehr 'mittun' zu können, den Wettbewerb zu verlieren, an einen Stärkeren zu geraten und letztlich als weibisch, viehisch oder gar kindisch geschmäht zu werden. Die männliche Ehre konnte durch das Saufen gemehrt, noch leichter konnte sie aber auch durch Versagen geschmälert werden. Als eines der größten Risiken wertete man jedoch die Bedrohung der überkommenen Geschlechterrollen. So wurde beispielsweise darauf hingewiesen, daß der übermäßige Alkoholkonsum die klassische Rollenverteilung in der Familie gefährde: Da der ständig betrunkene Ehemann nicht mehr seinen ihm zugewiesenen Aufgaben nachkommen könne, müsse die Frau notgedrungen seine Pflichten übernehmen, müsse nun für den Unterhalt der Familie Sorge tragen, Geld verdienen, um das Überleben der Kinder zu gewährleisten. Auf diese Weise wurde der Mann mitversorgt, war der Unterlegene, der Schwächere, der von der Kraft und der Leistungsfähigkeit seiner Frau abhängig war. Auch Luther wertete die Trunkenheit des Mannes als große Gefahr für die Geschlechterordnung. In seiner Predigt am Sonntag Exaudi 1539 verweist der Reformator eindringlich auf die besondere Schmach, die den Männern aus dem Laster der Trunkenheit erwachse. Wenn man schon einer Frau den Mißbrauch des Alkohols als Schande anrechnen müsse, um wieviel mehr „solte sich das Manns volck dafür schämen?" Denn „ainem Mann ist ja mehr und höher verstand, mut und bestendigkait gegeben. Darumb soll er auch vernünfftiger und weniger ain Saw sein (...)". Die Vernunft setzte Menschen in die Lage, den Leidenschaften Widerstand zu leisten. Doch dieser Vernunft, göttliches Zeichen der Männlichkeit, enthebt sich der Säufer. Er, der mit höherem Verstand ausgestattet sei, gibt diesen selbst mit Hilfe des Alkohols auf. Nun zeigt sich, daß plötzlich die Frau trotz ihres geringeren Verstandes den Verlockungen der Sünde eher Widerstand leisten kann, also sittlicher ist, als der Mann. Sie erweist sich ihm als überlegen, stellt damit an einem entscheidenden Punkt die Geschlechterhierarchie auf den Kopf. Der trunkene, unvernünftige Mann hier, die nüchterne, vernünftige Frau dort. Insofern mußte auch das Alte Testament als abschreckendes Beispiel herhalten: Der assyrische Heerführer Holofernes konnte von der schönen Judith nicht zuletzt deswegen getötet werden, da dieser sich mit Wein betrunken hatte. Dies war geradezu der symbolische Triumph der nüchternen Frau über den trunkenen Mann!

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18. Geschichtswissenschaft und bildende Kunst Leitung: Wolfgang Hardtwig (Berlin) Wolfgang Hardtwig (Berlin): Einführung Bernd Roeck (Bonn): Irenik und Ornament. Der Fall David Altenstetter Roberto Zappen (Rom): Das Abendmahl Papst Gregors des Großen. Ein Gemälde von Giorgio Vasari und die Anfange der mediceischen Dynastie Horst Bredekamp (Berlin): Thomas Hobbes' Leviathan. Von der Königseffigies zum Bildwerk des modernen Staates Werner Busch (Berlin): Zum Problem der zeitgenössischen Historie in der Revolution. George Romneys Zeichnungen auf den Gefängnisreformer John Howard Martin Warnke (Hamburg): Das Kunstwerk - Überrest oder autonome Schöpfung? Wolfgang Hardtwig (Berlin)

Einführung In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren schien in der deutschen Geschichtswissenschaft eine ältere, wenn auch sehr dünne Tradition, geschichts- und kunstwissenschafdiche Fragestellungen miteinander zu verbinden, völlig abgerissen zu sein. Umgekehrt rezipierte die Kunstwissenschaft seit den späten sechziger Jahren intensiv Fragestellungen, Methoden und Forschungsergebnisse der Geschichtswissenschaft und machte sie der Interpretation von Entstehungsbedingungen, Funktionen und anschaulicher Gestalt der künstlerischen Artefakte nutzbar. Die Analyse von Strukturen politischer Herrschaft und ihres Wandels, von politischer Öffentlichkeit und Publizistik, von religiösen und säkularen Weltdeutungssystemen, von sozialer Ungleichheit und sozialem Konflikt ist vielfach selbstverständlicher Bestandteil des kunstwissenschaftlichen Methodenarsenals geworden. Trotz der notwendigen Einschränkungen kann man sagen, daß das Interesse der Historiker an den visuellen Quellen in den letzten Jahren gestiegen ist. Nicht zu unterschätzende Anstöße gehen von einer Schwerpunktverlagerung der Geschichtskultur in den letzten Jahren aus. Und die vor allem von Frankreich und der angelsächsischen Welt ausgehende Interessenverschiebung der Geschichtswissenschaft weg von den sozialen und politischen Strukturen hin zur Erfahrungsgeschichte hält verstärkt zur Reflexion auch der Bildbezogenheit unserer Erinnerungen und Vorstellungen an. Denn indem die Erfahrungsgeschichte die Lebenspraxis der Menschen in den Mittelpunkt stellt, öffnet sie auch den Blick für die rhetorischen und ästhetischen Dimensionen der sozialen Wirklichkeit.

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Natürlich drängt sich die Frage auf, warum die Geschichtswissenschaft nicht schon längst sehr viel breiter und intensiver auf die visuelle Überlieferung als Quelle zurückgegriffen hat. Es gibt zunächst einmal eine tiefe Differenz zwischen den Formen der Zuwendung zur Vergangenheit, die sich auf bildliche oder auf schriftliche Quellen stützen. Die Wahrheit der Bildquellen liegt zunächst und vor allem auf einer ganz anderen Ebene als der, wo die Historiker zu suchen pflegen. Anders als die Historiker, die es sich im Verlauf der Neuzeit immer entschiedener zum Programm gemacht haben, die 'res factae' von den 'res fictae' zu trennen, sind die Künsder dieser Art von Wahrheitspostulat nicht verpflichtet - sonst wären sie Historiker. Ihr Reich ist das der Erfindung und sie bleiben in aller Regel beim Primat des Fiktiven selbst dann, wenn sie den Auftrag haben, 'res factae' darzustellen. Mit anderen Worten: Es geht um den prinzipiell fiktionalen Charakter des Kunstwerks - jenes Mehrs über die bloße Dokumentation hinaus, das uns eben vom „Kunstwerk" sprechen läßt und nicht vom Dokument. Eben darin liegt das Hauptproblem des Historikers bei der Hinwendung zu den Bildquellen. Bernd Roeck (Bonn)

Irenik und Ornament. Der Fall David Altenstetter Gattungsübergreifende Deutungen des Grotesken haben gemeinsam, daß sie seine Voraussetzungen in der Geschichte zu erkennen glauben. Zeithistorisches Erleben, lebensweltliche Erfahrung werden als Bedingungen dieser künstlerischen Ausdrucksform namhaft gemacht. Kunst und Geschichte werden aufeinander bezogen. Es geht hier um ein zentrales methodisches Problem, mit dem sich seit Burckhardt, Lamprecht und Warburg der kulturhistorische Diskurs auseinanderzusetzen hat. Es wird unterstellt, daß sich die Struktur der Epoche in ihrer Kunst auspräge. Man wird jedoch gut daran tun, in Kunstwerken nicht Emanationen eines ominösen 'Zeitgeists' zu sehen. Eher schon mag es möglich sein, den Willen von Auftraggebern, Publikumserwartungen, kurz: Spuren sozialer Milieus aufzuspüren. Daneben und oft genug im Widerstreit damit ist das Kunstwerk natürlich Produkt der Fähigkeiten und der Zielvorstellungen des oder der ausführenden Künsder bzw. Handwerker. Wie die Analyse dieses Spannungsfelds zu einem besseren Verständnis des Kunstwerks beitragen kann - was die eigentlich kunsthistorische Perspektive bezwecken wird - , zählt zu den Aufgaben einer Hermeneutik, die auf die Funktionalisierung des Kunstwerks als historisches Dokument zielt. Das heißt, Künsdergeschichte, der „mikrohistorische" Zugriff, der Blick auf Lebenswelten haben ihr Recht in beiden Perspektiven auf die Kunst, der kunst- wie der kulturhistorischen. Von diesen Prämissen ausgehend wurde versucht, Konvergenzen zwischen der religiösen Haltung eines Kunsthandwerkers - des in Augsburg tätigen Goldschmieds David Altenstetter — und dem Ornamentstil seiner Werke wahrscheinlich zu machen. Sein Fall liefert einige Argumente für eine Interpretation spezifisch manieristischer Kunst als konfessionell indifferent, jedenfalls als weit jenseits gegenreformatorischer oder protestantisch-orthodoxer Positionen angesiedelt. Vielleicht auch — aber hier sind die Zusammenhänge diffuser — zeigt seine Kunst jenes Suchen nach einem Weg ins Innere, „weg von der

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Welt", eine eskapistische Neigung, welche manche Interpreten als charakteristisch für den Manierismus und speziell für die Ornamentgroteske namhaft machen. Eine Interpretation, in der die Gestaltung des Grotesken vor dem konfessions- und sozialgeschichtlichen Hintergrund der Epoche als Versuch erscheint, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören, verdient noch immer Beachtung. Roberto Zappen (Rom)

Das A bendmahl Papst Gregors des Großen. Ein Gemälde von Giorgio Vasari und die Anfange der mediceischen Dynastie Im Jahre 1539 beauftragte der Florentiner Filippo Serragli, Abt des Klosters S. Michele in Bosco in Bologna, Giorgio Vasari mit einem Gemälde, welches àìsAbendmahlPapst Gregors des Großen zum Thema haben sollte. Vasari führte den Auftrag 1540 aus und gab auf seinem Bild Papst Gregor dem Großen die Züge des 1534 verstorbenen Papstes Clemens VII. Neben den Papst stellte er einen Edelmann mit den Gesichtszügen von Alessandro de' Medici, dem 1537 von Lorenzino de' Medici ermordeten Herzog von Florenz und Sohn Clemens' VII. Diese beiden zeitgenössischen Bildnisse auf einem Bild mit religiösem Sujet verleihen Vasaris Gemälde einen präzis politischen Charakter. Im Jahre 1540 herrschte in Florenz Herzog Cosimo I., der einem anderen Zweig der Medici-Familie angehörte als der ermordete Alessandro. Seine Nachfolge basierte auf einem kaiserlichen Privileg, das Karl V. 1530 in Augsburg ausgestellt hatte. Hierin war bestimmt worden, daß der Herzogsthron von Florenz immer von den Medici besetzt werden sollte, gleich welchem Zweig der Familie sie entstammten. Das Paar Vater — Sohn, Clemens VII. — Alessandro de' Medici, auf dem Gemälde verwies auf dieses kaiserliche Diplom, um die Herrschaft Cosimos zu verteidigen. Cosimo fürchtete nämlich, daß Papst Paul III. beabsichtigte, den Herzogsthron seinem Enkel Ottavio Farnese zu verschaffen, der seit 1538 mit Margarete, einer natürlichen Tochter Kaiser Karls V. und Witwe Herzog Alessandros, verheiratet war. Vasari wollte den Papst und den Kaiser daran erinnern, daß der Herzogsthron von Florenz von Rechts wegen den Medici gehörte und keine andere Familie darauf Anspruch erheben konnte.

Horst Bredekamp (Berlin)

Thomas Hobbes' Leviathan. Von der Königseffigies zum Bildwerk des modernen Staates Thomas Hobbes' „Leviathan" gilt als die erste und wohl auch einflußreichste Theorie des modernen Staates. Seit seiner Publikation im Jahre 1651 ist der Text unablässig kommentiert worden, aber das Frontispiz des riesigen, aus Menschenkörpern gebildeten Staatsautomaten hat erst in jüngerer Zeit eine Reihe von Analysen hervorgerufen. So konnten der Künstler, Beziehungen zum Theater und die Vorgeschichte der Staatsportraits erschlossen werden. Die Grundfrage, warum ein Theoretiker, der den Staat nach den Gesetzen der Geometrie organisieren zu können hoffte, nicht allein auf die sprachliche Präzision, sondern auch und vor allem auf ein Bild setzte, ist jedoch nach wie vor unbeantwortet.

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Der Beitrag versuchte zu zeigen, daß Hobbes' Staat auf das Bild seiner selbst angewiesen ist, weil er außerhalb seiner selbst keine Stütze zu finden vermag. Da er, weil er seine Legitimation weder aus der Tradition noch aus göttlichem Wirken ziehen kann, als formvollendetes Artefakt künstlich erzeugt werden muß, unterzieht er sich von vornherein der Kunsttheorie. Hobbes zufolge wird der Staat zwar durch Verträge geschaffen, aber auf Grund der semantischen Instabilität der Sprache muß er Körper und Bild werden, um wirkungsvoll erzeugt und vor allem auch gehalten werden zu können. Das Bild des Leviathan orientiert sich daher an den Effigies der englischen Könige, die in der Zeit des Interregnums die Dignitas des Amtes aufrechterhielten. Nach ihrem Modell etabliert der Leviathan eine politische Ikonographie der Zeit, die den per se als ewig erachteten Bürgerkrieg mit einer eigenen, künstlichen Ewigkeit der Befriedung zu konfrontieren vermag. Das Frontispiz ist kein Zusatz zum Text, sondern dessen Protektor, wie der Leviathan nicht etwa nur der Repräsentant, sondern die Essenz des Staates ist. Ohne Bild von sich selbst kann Hobbes' Staat weder gegründet noch dauerhaft am Leben erhalten werden. Hierin könnten aber auch seine tautologischen Züge liegen. Zu fragen wäre, ob der moderne Staat ohne Bild von sich selbst auskommen kann und ob Staaten, die sich anikonisch gerieren, ein Grundproblem ihrer selbst gelöst oder nur überspielt haben. Werner Büsch (Berlin)

Zum Problem der zeitgenössischen Historie in der Revolution. George Romneys Zeichnungen auf den Gefangnisreformer John Howard Zwischen 1790 und 1792 hat der englische Porträtmaler George Romney etwa 500 zeichnerische Entwürfe zu einer modernen Historie auf den 1790 verstorbenen Gefangnisreformer John Howard gefertigt. Romney, einer der wenigen englischen Revolutionsanhänger auch nach den Septembermorden von 1792, hat die radikalen Reformbemühungen Howards in Analogie zur Entwicklung der Französischen Revolution gesehen. Zu fragen ist, ob das riesige Konvolut der Zeichnungen diese Analogie spiegelt. Die Zeichnungen haben ein zu diesem Zeitpunkt höchst ungewöhnliches Abstraktionsniveau. These ist, daß Revolution und Abstraktion einander bedingen.

Martin Warnke (Hamburg)

Das Kunstwerk - Überrest oder autonome Schöpfung? Nachdem die Nachweise einer Bedingtheit von Kunstwerken durch Politik und Gesellschaft schon Legion sind und auch die methodischen Kontroversen in dieser Sache sich abgekühlt haben, sollte an einige Stimmen von Künstlern seit dem 15. Jahrhundert erinnert werden, die eine Unabhängigkeit und Freiheit der Kunst für sich beanspruchen. Sie mögen erklären, warum das Postulat einer Geschichtslosigkeit der Kunst wichtige geschichtliche Folgen gezeitigt hat.

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19. Nationalismus vor dem Nationalismus? Leitung: "Eckhart Hellmuth (München)/ReinhardStauber (München/Trient) Timothy H. Breen (Chicago): American Identity before the Revolution John Brewer (Florenz): Histories, Exhibitions and Collections: The Invention of National Heritage in Britain 1770-1820

Eckhart Hellmuth (München): Royalismus und Patriotismus. Identitätsstiftung in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Reinhard Stauber (München/Trient) : Zwischen organisierter Zentralstaatsidee und traditionellem Landespatriotismus. Zu den Entfaltungsmöglichkeiten nationalen Sonderbewußtseins in der Habsburgermonarchie des Aufgeklärten Absolutismus Veröffentlichungshiniveis·. Alle vier Beiträge werden Anfang 1 9 9 8 in einem Themenheft (hg. v. REINHARD STAUBER) der Zeitschrift „Aufklärung" erscheinen.

ECKHART HELLMUTH/

Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsdiskussion um einen (wie auch immer beschaffenen) Nationalismus vor der Französischen Revolution wurde in dieser Sektion in vier Referaten der Ausprägung nationaler Identitäten im 18. Jahrhundert nachgegangen. Der Vortrag von Timothy H. Breen (Chicago) „American Identity before the Revolution" nahm sich der Frage nach dem amerikanischen Nationalbewußtsein vor dem Ausbruch des Unabhänigkeitskrieges (1776) an. Dabei stellte er überkommene Annahmen in Frage, indem er darauf aufmerksam machte, daß im 18. Jahrhundert zuerst Großbritannien und nicht die Kolonien eine Intensivierung des eigenen nationalen Bewußtseins erlebt hatten. Paradoxerweise wurden die nordamerikanischen Kolonisten zunächst von den Bewohnern des Mutterlandes als Nation wahrgenommen, und Engländer waren es auch, die glaubten, eine gemeinsame politische und soziale Identität der Kolonien ausmachen zu können. Unter Heranziehung neuerer Forschungen zur britischen Geschichte veranschaulichte Breen seine These, daß der amerikanische Nationalismus vorrangig aus dieser Projektion hervorging. Dieser Sachverhalt war nicht frei von Ironie, weil die Kolonisten sich selbst mit einem gewissen Stolz als Briten begriffen. Der Unterschied zwischen Neuer und Alter Welt, wie er im Mutterland kultiviert wurde, führte nun in den Kolonien zur Reflexion über eine eigene amerikanische Identität. Die Rhetorik der Ausschließung, die Amerika als 'das Andere' definierte, zwang die Kolonisten, die Möglichkeit einer eigenständigen nationalen Identität ernstzunehmen. John Brewer (Florenz) betrachtete in seinem Beitrag „Histories, Exhibitions and Collections: The Invention of National Heritage in Britain 1770-1820" einen speziellen Aspekt der

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Kreierung britischer Identität. Er rekonstruierte, wie im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts die Vorstellung von einem gemeinsamen kulturellen Erbe entstand. Dabei untersuchte er zeitgenössische Werke zur Geschichte der Musik, der Literatur und der bildenden Künste. Diese Werke boten zum ersten Mal die Möglichkeit, britische Literatur und Kunst in bestimmte Traditionslinien einzuordnen. Dieser Prozeß der Kanonisierung förderte die Vorstellung von einem gemeinsamen kulturellen Besitz. In einem weiteren Teil seines Vortrage ging John Brewer auf eine Reihe von Ausstellungen und Gallerieprojekten ein, so z.B. die Shakespeare Gallery, die Poets Gallery und die Milton Gallery. Ihre Aufgabe bestand vorrangig darin, britische Kultur sowohl im eigenen Land als auch in den Nachbarländern zu popularisieren. Bildende Kunst und Literatur gingen dabei eine Symbiose ein. Abgerundet wurde der Beitrag von John Brewer durch einen Blick auf die ästhetischen, politischen und kommerziellen Kräfte, die Form und Inhalt der Vorstellung vom britischen kulturellen Erbe mitgestalteten. In seinem Referat „Royalismus und Patriotismus. Identitätsstiftung in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts" ging Eckhart Hellmuth (München) zuerst auf einige alllgemeine Positionen der frühneuzeitlichen Nationalismusforschung ein. Hellmuth machte dabei u.a. deudich, daß häufig eine Traditionslinie von den humanistischen Sodalitäten über die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts bis hin zu den aufklärerischen Sozietätsbewegungen des 18. Jahrhunderts gezogen wird. In der Regel wird dabei — so Hellmuth — von der Annahme ausgegangen, daß vor 1800 eine zumindest embryonale Vorstellung von Deutschland als 'Volks'- bzw. 'Kulturnation' vorhanden war. Unter solcher Perspektive geht der frühmoderne Nationalismus gleichsam organisch in den modernen Nationalismus über. Von solch einer 'organischen' Perspektive wich der Referent bewußt ab. Statt dessen wurde von der vor allem innerhalb der anglo-amerikanischen Forschung entwickelten Vorstellung ausgegangen, daß Nationen in ganz spezifischen Situationen durch kulturelle Akte kreiert werden, daß sie im Kern artifiziell sind. Demonstriert wurde dieser Sachverhalt am Beispiel Preußens, wobei Preußen als Exempel für ein Gemeinwesen steht, daß bereits vor 1789 auf dem Weg war, sich als 'Nation' zu entdecken. Im Mittelpunkt des Referats stand die diskursive Praxis der aufgeklärten Elite, die nach dem siebenjährigen Krieg das Projekt der „invention of tradition" entschieden vorantrieb. Das Spektrum kultureller Repräsentationen, das dabei abgeschritten wurde, reichte von Texten über visuelle Sprache bis hin zur Architektur der Zeit. Thematische Schwerpunkte waren u.a. der Tod fürs Vaterland sowie der Kult um den Monarchen. Um das Referat nicht mit definitorischen Problemen der Nationalismusforschung zu belasten, wurde mit den Arbeitsbegriffen Royalismus und Patriotismus operiert. Reinhard (München/Trient) wendete sich schließlich unter dem Titel „Zwischen organisierter Zentralstaatsidee und traditionellem Landespatriotismus" den Entfaltungsmöglichkeiten des nationalen Sonderbewußtseins in der Habsburgermonarchie zur Zeit des Aufgeklärten Absolutismus zu. Der Vortrag lenkte angesichts der staatlichen, ethnischen und kulturellen Pluralität der Einzelteile dieses Gebildes den Blick auf die Ebene eben dieser Einzelländer und vor allem auf die Tatsache, daß diese selbst alles andere als uniform waren. Konkreter Ansatzpunkt der Ausführungen war die Einführung von Deutsch als 'Staatssprache'. Die Fallbeispiele des Vortrags bezogen sich auf Fragen der Kultur- und Sprachenpolititk im weitesten Sinne, vor allem auf den Bereich der Schule, aber auch auf das selbstverständliche zweisprachliche Funktionieren der unteren staatlichen Verwaltungs-

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ebenen. Regional wurden vor allem die Stellung der Italiener in Tirol und im Küstenland sowie entsprechende Probleme im ungarischen Königreich in den Blick genommen. Dabei wurden insbesondere die symbiotischen Formen der Koexistenz von Gesamtstaat und partikularen Kulturen ausgelotet. Schließlich wurde noch auf konkrete Stellungnahmen zur Legitimität des Gesamtstaates und auf erste Vorschläge in Richtung national determinierter Eigenstaadichkeit aufmerksam gemacht. Eckhart Hellmuth

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19. und 20. Jahrhundert 20. Sozialpolitik und Krankenhauswesen im 19. Jahrhundert Leitung: Alfons Fabisch (Düsseldorf)/Reinhard

Spree (München)

Reinhard Spree (München): Einleitung: Sozialpolitischer Funktionswandel des Krankenhauses im 19. Jahrhundert BerndJ. Wagner (Bielefeld): „Die Leiden der Menschen zu lindem, bedarf es keiner eitlen Pracht". Zur Finanzierung der stationären Krankenpflege in allgemeinen Krankenhäusern in Preußen bis 1880 Fnt^Dross/Martin Wejer-von Schoult^ (Düsseldorf): Armenwesen, Dienstboteninstitute und Krankenhäuser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — am Beispiel der Verwaltungs- und Garnisonsstadt Düsseldorf Barbara l^eidinger (Bremen) : Wunschpatienten und „Patientenwunsch" — Institution und Klientel des Bremer Krankenhauses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jörg Vögele/ Wolfgang Woelk (Düsseldorf): Städtisches Armenwesen, Krankenkassen und Krankenhäuser im späten 19. Jahrhundert — am Beispiel der Industrie- und Dienstleistungsstadt Düsseldorf Flurin Condrau (München): „Den Unbemittelten die Vorteile der Anstaltsbehandlung zugänglich machen". Sozialpolitik und Tuberkuloseheilstätten in Deutschland und England (1890-1925) Alfons habisch (Düsseldorf): Sozialpolitik und Krankenhauswesen im 19. Jahrhundert — Versuch einer systematischen Zusammenfassung Veröffentlichungshinweis. Die Publikation der um einige weitere ergänzten Beiträge ist für 1998 im Campus Verlag unter dem Arbeitstitel „Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert. Patienten, Finanzierung, Träger" geplant. Reinhard Spree (München)

Einleitung: Sozialpolitischer Funktionswandel des Krankenhauses im 19. Jahrhundert Im frühen 19. Jahrhundert wurden die Kommunen, hier besonders die gewerbereichen Städte, mit dem Wandel der sozioökonomischen Rahmenbedingungen, v.a. der wachsenden Mobilität junger und lediger Arbeitskräfte, mit einem zunehmend gravierender werdenden Problem konfrontiert: die zuwandernden Arbeitskräfte waren im Krankheitsfall in

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der Regel unversorgt. Dienstherrschaften und Meister bzw. Arbeitgeber im weitesten Sinne kamen ihren traditionellen Verpflichtungen immer seltener nach, für die von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer, falls notwendig, die Krankenversorgung zu übernehmen. Vielmehr landeten diese, wenn sie am Ort keine Angehörigen besaßen, meist auf der Straße und vermehrten die Armutspopulation. Da in allen deutschen Bundesstaaten das Heimatrecht galt, hatten diese auswärtigen Arbeitskräfte im Krankheitsfall keinerlei Anrecht, korrekter gesagt: keinerlei Hoffnung auf kommunale Armenfürsorge. Da diese Rechtslage in den Städten nicht tolerierbare Armutsballungen schuf und zudem die aus wirtschafdichen Gründen erwünschte Mobilität der Arbeitskräfte zu behindern drohte, reformierten seit den 1830er Jahren zahlreiche Bundesstaaten ihre Armengesetzgebung in der Weise, daß den Gemeinden auferlegt wurde, für bestimmte Gruppen dieser „labouring poor" (im allgemeinen werden in den Gesetzen aufgezählt: ortsfremde Dienstboten, Handwerksgesellen und -lehrlinge, Gewerbegehilfen und Fabrikarbeiter) im Krankheitsfall Unterkunft und Verpflegung bereitzustellen. Vorreiter waren hier offenbar Württemberg, das 1834 diese Verpflichtung zur Armenkrankenpflege verfügte, gefolgt von Baden 1838 und Sachsen 1840. Preußen war 1842 mit seiner viel zitierten entsprechenden Regelung im § 32 des „Gesetzes über die Verpflichtung zur Armenpflege" ein Nachzügler und nicht, wie die einschlägige Literatur meist suggeriert, ein Vorreiter. Viele Gemeinden, besonders gewerbereiche Städte, nahmen diese Verpflichtung zur Armenkrankenpflege zum Anlaß, um kommunale Krankenhäuser zu errichten oder in vorhandenen kirchlichen Einrichtungen Bettenkontingente zu reservieren. In ähnliche Richtung zielten im übrigen typischerweise seuchenpolizeiliche Bestimmungen, die im Zusammenhang mit den Choleraepidemien seit den frühen 1830er Jahren erlassen worden waren. Die Errichtung von Krankenhäusern zur Pflege auswärtiger erkrankter Arbeitskräfte, die nicht für sich selbst sorgen konnten, sollte primär eine rationelle Verwendung der Fürsorgemittel garantieren. Außerdem sollten auf diese Weise die erkrankten Arbeitskräfte möglichst schnell dem Arbeitsmarkt wieder zugeführt werden. Neben der Funktion einer Rationalisierung der Armenpflege zeichnet sich hier also eine Arbeitsmarktfunktion des frühmodernen Krankenhauses ab. Demgegenüber stand die medizinische Funktion des Krankenhauses bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich im Hintergrund. Das gilt besonders für kommunale und kirchliche Anstalten in mittleren und kleinen Städten, an denen keine medizinische Forschung stattfand und wissenschafdich interessierte Ärzte kaum anzutreffen waren. Anders war natürlich die Situation in Universitätskliniken oder in einigen mit Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen verbundenen Großstadt-Krankenhäusern, in denen schon seit dem Beginn des Jahrhunderts die medizinische Aufgabe dominierte. Im übrigen jedoch trat sie in fast allen mitderen und größeren Krankenhäusern im späten 19. Jahrhundert in den Vordergrund. Mit der wachsenden Akzeptanz der Krankenhäuser auch im Bürgertum seit der Jahrhundertwende wurden diese mehr und mehr zu einer Regelinstitution im Rahmen der Gesundheitspflege für alle Bevölkerungsschichten. Das moderne Krankenhaus war aus dem Geist der Armenpflege entstanden. Trotz der wachsenden Dominanz der medizinischen Funktion im späten 19. Jahrhundert verlor das Allgemeine Krankenhaus den Charakter einer Armenanstalt nur sehr langsam. Das beruhte nicht zuletzt auf den Modalitäten seiner Finanzierung. In Süddeutschland wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit verschiedenen Formen von Krankenhaus-Versicherungen

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für Teilgruppen der „labouring poor" operiert. Wo solche in größerem Umfang realisiert wurden, hatte die Armenfürsorge als Einweisungsinstanz bzw. als Finanzier des Krankenhausaufenthalts nur geringe Bedeutung. Das Krankenhaus wies zwar überwiegend eine Unterschichten-Population auf, doch handelte es sich nicht um die Klientel der Armenfürsorge. In Norddeutschland, besonders in Preußen, existierten solche Krankenhaus-Versicherungen kaum. Vielmehr setzte die Sozialpolitik seit der Jahrhundertmitte auf das Modell der aus der Handwerks- bzw. Gesellentradition hergeleiteten Krankenkassen für Arbeiter, das schließlich mit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verallgemeinert wurde. Hier ging es niemals um die Versorgung im Krankenhaus, die nur eine Kann-Leistung solcher Versicherungen im Ausnahmefall war, sondern um Krankengeld als Lohnersatz und evtl. als Unterstützung für die Erstattung von Arzt- und Arzneimittelkosten. Zwar führten auch diese Krankenkassen, besonders ab 1884 (GKV), den Krankenhäusern Patienten zu, deren Kur- und Verpflegungskosten von den Versicherungen erstattet wurden, doch blieben die Kassen-Patienten klar gegenüber den von der Armenfürsorge finanzierten in der Minderheit. Bis vor wenigen Jahren pflegte die medizin- und sozialhistorische Forschung ein Bild von den Insassen der Krankenhäuser, das durch einige wenige Fallstudien aus preußischen Städten, besonders aus Berlin, geprägt war. Dadurch konnte sich die irrtümliche Meinung festsetzen, auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien die Krankenhäuser, trotz aller inzwischen erreichten medizinischen Fortschritte, Armenanstalten geblieben, die von Arbeitern wie Bürgern möglichst gemieden wurden. Erst die neueste sozialhistorische Forschung zu den Patienten und — in Ansätzen — zur Finanzierung moderner Krankenhäuser hat den großen Unterschied zwischen Süd- und Norddeutschland verdeutlichen können. Es ist der Unterschied zwischen den auch in Süddeutschland überwiegend aus den Unterschichten stammenden Krankenhaus-Patienten, die jedoch ihren durch Versicherungsbeiträge erworbenen Anspruch auf Krankenhausbehandlung wahrnahmen. Dagegen kam in Norddeutschland die Armenfürsorge auch noch um die Jahrhundertwende typischerweise für etwa zwei Drittel der Patienten auf, die deshalb in gewissem Umfang soziale Diskriminierungen hinnehrrien mußten. Darüber hinaus deutet sich in diesem Zusammenhang an, daß in Süddeutschland das Krankenhaus als Instrument der Sozial- wie der Gesundheitspolitik eine höhere Wertschätzung genoß als in Norddeutschland. Die Sektionsbeiträge konkretisieren diese Thesen mit neuesten Forschungsergebnissen, die im wesentlichen auf Fallstudien beruhen. Bernd J. Wagner (Bielefeld)

„Die Leiden der Menschen zu lindern, bedarf es keiner eiden Pracht". Zur Finanzierung der stationären Krankenpflege in allgemeinen Krankenhäusern in Preußen bis 1880 1. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beteiligten sich vor allem „gelehrte Ärzte" an einem Diskurs über die Notwendigkeit von Krankenhäusern, der von Beginn an auch die Finanzierung der stationären Krankenpflege mit einbezog. Drei alternative Finanzierungsquellen wurden genannt: a) Das Krankenhaus erhält für die Krankenpflege einen jährlich

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fixierten Zuschuß vom Staat; die Patienten selbst beteiligen sich nicht an den Pflegekosten, müssen sich aber als Studienobjekte für die ärztliche Ausbildung zur Verfügung stellen, b) In Anlehnung an Gesellenladen sollen sogenannte „Krankeninstitute" für das Dienstpersonal, für Gesellen und Lohnarbeiter gegründet werden. Gegen einen lohnabhängigen, monadichen Betrag übernimmt das „Institut" im Krankheitsfall die in Rechnung gestellten Kosten, c) Stadtbewohner, die das Bürgerrecht besitzen, beteiligen sich mit Spenden oder regelmäßigen Beiträgen an den Krankenhauskosten und kommen damit ihrer traditionellen Verantwortung gegen Arme und Hilfsbedürftige nach. 2. Die Umsetzung der ersten Alternative war aufgrund der enormen finanziellen Mittel flächendeckend nicht zu realisieren. In Preußen erhielt nur die Berliner Charité einen staatlichen Zuschuß zur Deckung der Pflegekosten, der die privilegierte Stellung dieses Krankenhauses betonte. Von größerer Bedeutung waren „Krankeninstitute", die unter verschiedenen Bezeichnungen in Mittelstädten Preußens gegründet wurden. Zwei Alternativen waren üblich: Zum einen übernahmen die Institute die Aufgaben von Krankenkassen, sammelten die Mitgliederbeiträge ein und beglichen die in Rechnung gestellten Medizinalkosten. Zum anderen wurden die Beiträge direkt an ein Krankenhaus abgeführt und sicherten den „Abonnenten" freie Pflege im Krankheitsfall zu. Die Stärke dieses Systems war auch zugleich seine Achillesferse: Es war erfolgreich, wenn die Mehrheit der in Frage kommenden Klientel (Dienstboten, Gesellen, Lohnarbeiter) verpflichtet werden konnte, den Krankeninstituten beizutreten. Das Postulat von der Pflicht der Bürger gegen Arme und Kranke und der damit angesprochene „bürgerliche Wohltätigkeitssinn" war Grundlage für die Mehrzahl der Krankenhausgründungen bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Sogenannte „Freibetten-Abonnements" ermöglichten zwar die unentgeltliche Pflege von bedürftigen Kranken, die Gesamtkosten der stationären Pflege konnten aber mit dem Spendenaufkommen nicht gedeckt werden. 3. Die Krankenhäuser bildeten frühzeitig ein gestaffeltes Tarifsystem heraus, das in der Regel Tagessätze für drei Zielgruppen vorsah: Die niedrigste Stufe blieb der Klientel der kommunalen oder kirchlichen Armenkassen vorbehalten, gefolgt von jener für die „Kassenmitglieder", wenn die regelmäßigen Beiträge nicht an das Krankenhaus abgeführt wurden. Eine dritte Stufe regelte den Tarif für Patienten, die selbst für ihre Kosten aufkamen. Für Kassenmitglieder und Selbstzahler galten überdies besondere Tarife, die bei bestimmten Krankheiten erhoben wurden (z.B. Pocken, Krätze). Vor allem der Tarif für die Klientel der Armenkasse war nicht kostendeckend. Nach der preußischen Rechtsprechung durften in die Berechnung des „Armentarifs" nur die Ausgaben für Kost, „Logis" und Medikamente, nicht aber die Verwaltungs- und Lohnkosten des Krankenhauspersonals mit einbezogen werden. Je mehr Patienten auf Rechnung der Armenverbände in einem Krankenhaus gepflegt wurden, desto wahrscheinlicher waren demzufolge defizitäre Bilanzen. Mit dem Unterstützungskassengesetz, das 1854 in Preußen erlassen wurde und die Gemeinden ermächtigte, durch Ortsstatute die Gründung von Krankenkassen zu erzwingen, entstanden für die städtische Lohnarbeiterschaft Krankenkassen, die den Krankenhäusern formal höhere Einnahmen versprachen, wenn ihre Mitglieder einer stationären Pflege bedurften. Zahlreiche Kassen setzten aber die Pflege ihrer verheirateten männlichen Mitglieder durch Ehefrauen in den eigenen vier Wänden der Krankenhauspflege gleich. 4. Wurden in ländlichen Regionen die oft nur aus wenigen Zimmern bestehenden Krankenhäuser bis ins frühe 20. Jahrhundert als Alten- und Siechenhäuser genutzt, so stellten

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sie sich in den Gewerbe- und Industrieregionen zunehmend auf berufstätige Kassenmitglieder ein. Frühzeitig gehörte dazu die Exklusion von Kranken mit chronischen Leiden, die zumeist von den Armenverbänden einem Krankenhaus zugewiesen wurden. Um kostendeckende Tarife erheben zu können, wurde auch die Einrichtung von besonderen Zimmern für eine zahlungskräftige Klientel erwogen und mancherorts realisiert, fand aber unter der wohlhabenden Bevölkerung allenfalls ein geringes Echo: Der Ruf, Armenanstalt zu sein, Schloß für viele eine stationäre Pflege im Krankenhaus aus. 5. Die Finanzierung der stationären Pflege war für die Mehrzahl der allgemeinen Krankenhäuser in Preußen ein kaum zu lösendes Problem. Untersagte das preußische Armenrecht die Berechnung der realen Kosten, so konnten auch die höheren Tarife für Kassenpatienten defizitäre Bilanzen nicht verhindern. Die Kollekten der Gemeindemitglieder und Spenden des städtischen Bürgertums sowie die regelmäßigen kommunalen Zuschüsse bildeten unverzichtbare Einnahmequellen. Zudem wurde durch mäßige Erhöhungen und Differenzierungen des Tarifsystems sowie die Berechnung besonderer Leistungen vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dem Kostendruck entgegengewirkt. Und nicht zuletzt waren die Krankenhausvorstände darauf bedacht, die laufenden Kosten zu beschränken. Das traf auch auf die Lohnpolitik der meisten Krankenhäuser zu. Wurden die Pflege- und Wartungsarbeiten im 18. und frühen 19. Jahrhundert ehemaligen Soldaten, Ehepaaren oder Witwen „mit gutem Leumund" übertragen, die außer freier Kost und Logis nur ein geringes Entgelt erhielten, so übernahmen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend konfessionelle Pflegeverbände diese Tätigkeit. Den höheren „Lohnkosten", die an die Mutterhäuser zu überweisen waren, standen Gestellungsverträge mit einer Garantie für den Pflegedienst und nicht zuletzt auch der Altruismus der Diakonissen und katholischen Schwestern gegenüber. Auch die Entlohnung der Arzte bildete über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus für die Mehrzahl der Krankenhäuser keinen relevanten Kostenfaktor. Nur eine verschwindend kleine Minderheit unter den Ärzten erhielt — zumeist in den Hauptstädten der preußischen Provinzen — ein Einkommen, das eine besondere Lebensführung erlaubte. Die Mehrzahl wurde als Armenärzte zum Dienst im Krankenhaus verpflichtet und mit einer geringen Entschädigung abgefunden.

Frit% Dross/Martin Weyer-von Schoultç (Düsseldorf)

Armenwesen, Dienstboteninstitute und Krankenhäuser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - am Beispiel der Verwaltungs- und Garnisonsstadt Düsseldorf Kaum ein Thema beherrschte im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert den Diskurs um die zukünftige Gestaltung vor allem des städtischen Gemeinwesens wie die Reform des Armenwesens, das zuvor vorrangig in kirchlich-karitativer Trägerschaft stand. Mit dem Wandel der sozioökonomischen Rahmenbedingungen, v.a. der zunehmenden Mobilität junger und lediger Arbeitskräfte, standen die Städte vor der Aufgabe, für diese im Krankheitsfall eine Unterkunft bereitzustellen, die eine ausreichende Verpflegung und Versorgung ermöglichte. Im Rahmen der Neufassung von städtischen bzw. städtisch-staatlichen Armenordnungen wurde dem Krankenhaus die Rolle zugewiesen, vorübergehend

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erkrankte und heilbare Armenkranke stationär zu versorgen. Auch wenn dieser neue Typ des Krankenhauses für Armenkranke häufig in den Räumen des bisherigen Hospitals angesiedelt wurde, bricht diese Institution in mehrfacher Hinsicht mit ihrem Vorläufer: Die Stadtkasse hatte häufig die Lücken in den jährlichen Etats des Krankenhauses zu decken, und die Einbettung des Krankenhauses in die Versorgungskonzepte der Armenverwaltung bedingte, daß die Anstalten zum Auffangbecken der neuen städtischen Armenpopulation, v.a. der jungen, ledigen und mobilen Armenkranken, wurde. Dieser sich in fast allen deutschen Städten vollziehende Wandlungsprozeß stationärer Krankenversorgung läßt sich in anschaulicher Weise am Beispiel Düsseldorfs nachzeichnen: Nachdem die Versuche zweier Direktoren des in der Stadt ansässigen Collegium Medicum zur Gründung von Krankenhäusern ebenso gescheitert waren wie der Ausbau des Garnisonslazaretts mit einer medizinischen Akademie nicht zur Aufnahme ziviler Patienten führte, war es die Reorganisation des Armenwesens, die in Düsseldorf die Bereitstellung von stationären Versorgungsmöglichkeiten armer Kranker brachte. Die Stadt Düsseldorf übte als vormalige Residenzstadt und insbesondere als Verwaltungsstadt eine große Attraktivität nicht nur auf Beamte und ein finanzkräftiges Bürgertum aus, sondern zog auch eine große Zahl von Gesellen, Dienstboten und -botinnen sowie von Knechten und Mägden an. Deren Versorgung war im Krankheitsfall nicht gesichert und wurde mit der Zunahme der Düsseldorfer Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem schwerwiegenden Problem. Im Zuge der skizzierten Reformpläne des Armenwesens standen nun verschiedene Konzepte der Armenkrankenversorgung konkurrierend nebeneinander, die den Funktionswandel stationärer Krankenversorgung maßgeblich beeinflußten. Neben das traditionelle Hospital für Alte und Sieche - das klassische Stiftungs-Hospital — trat eine Institution der Krankenversorgung, die primär öffentliche Aufgaben wahrzunehmen hatte und zu einem großen Teil, wenn nicht sogar ganz, aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Daneben wurde als eine direkte Form der Absicherung nicht familiär versorgter Armenkranker das Dienstboten-Abonnement eingeführt, das in Düsseldorf im Gegensatz zu den süddeutschen Dienstboten-Instituten als individueller Vertrag zwischen dem Krankenhaus und dem jeweiligen Dienstherrn abgeschlossen wurde. Diese Initiativen zielten zum einen darauf ab, das Problem der Armenkrankenversorgung institutionell zu lösen. Zum anderen rückten sie aber auch das Krankenhaus als Diensdeistungsangebot in den Mittelpunkt städtischer Armen- und Gesundheitspolitik. Barbara Leidinger (Bremen)

Wunschpatienten und „Patientenwunsch" — Institution und Klientel des Bremer Krankenhauses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Allgemeine Krankenhaus zu einem Zentrum medizinischer Versorgung, wodurch ihm eine besondere Bedeutung im Medikalisierungsprozeß zukommt. Bisher vorliegende Untersuchungen zur Medikalisierung und Professionalisierung haben die Institution Krankenhaus jedoch nur am Rande, und zwar weitgehend durch die Brille der Foucaultschen Thesen zur „Geburt der Klinik", gese-

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hen. FOUCAULT zeigt die Herausbildung des Krankenhauses als sozialdisziplinierende Lehrund Forschungsstätte auf, an der sich professions- wie machtpolitische Interessen von Ärzteschaft und Staat manifestieren. Die Kranken schließt er als aktive Teilnehmer dieses Prozesses aus, er macht sie zu Opfern der Medikalisierung. Dies erscheint fragwürdig, weshalb es gilt, die Rolle der Krankenhauspatienten und -patientinnen näher zu beleuchten. In den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts überwogen nicht universitäre Einrichtungen, wie Foucault sie in den Pariser Hospitälern der Nachrevolutionszeit vorfand, sondern Allgemeine Krankenhäuser. Diese waren in der Regel als kommunale Versorgungsanstalten konzipiert, bei denen zunächst sozialpolitische Erwägungen im Umgang mit Armut und Krankheit im Vordergrund standen. Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts trugen zahlreiche, sich überlagernde Faktoren - naturwissenschaftliche Innovationen und medizintechnische Inventionen, ärztliche wie pflegerische Professionalisierung, kommunale und staatliche Interventionen etc. — zum Funktionswandel des Krankenhauses von einer sozialen zu einer medikalen Institution bei. Ohne eine entsprechende Nachfrage seitens der vom Krankenhaus angesprochenen Bevölkerungsschichten hätte sich jedoch der Aufstieg' des Krankenhauses zu einer zentralen Einrichtung des Gesundheitswesens nicht vollziehen können. Entsprechend sind die Krankenhauspatienten und -patientinnen stärker als bisher ins Visier zu nehmen: Wer kam aus welchen Gründen ins Krankenhaus? Wie sahen die Zugangswege aus, welche Steuerungsmechanismen z.B. durch Krankenkassen und Armenwesen gab es? Was konnten Patienten und Patientinnen vom Krankenhausaufenthalt erwarten? Und inwiefern läßt sich von einer Nachfrage der Kranken sprechen? Den aufgeworfenen Fragen wurde exemplarisch am Allgemeinen Krankenhaus Bremen nachgegangen, das als kommunale Einrichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den größten Anstalten des Deutschen Reichs zählte. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Analyse der Patientenpopulation, die für zwei Stichjahre — 1862 und 1895 - aus den Aufnahmeregistern erhoben wurde. Diese wird ergänzt durch eine Analyse des bremischen Krankenkassenwesens — vor und nach Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung —, um dessen Steuerungsfunktion für die Zusammensetzung der Krankenhausklientel auszuloten. Jörg Vögele/ Wolfgang Woelk (Düsseldorf)

Städtisches Armenwesen, Krankenkassen und Krankenhäuser im späten 19. Jahrhundert - am Beispiel der Industrie- und Dienstleistungsstadt Düsseldorf Während des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Krankenhaus in Europa von einer sozialen zu einer medikalen Einrichtung. Aufbewahrungs- und Versorgungsfunktion traten zunehmend in den Hintergrund, die Heilung der Patienten wurde zum primären medizinischen Anliegen. Das Krankenhaus wurde einem tiefgreifenden Wandel unterzogen, der durch vielfältige Aspekte hervorgerufen wurde. Zentrale Faktoren dieses Wandels waren die Einführung medizinisch-technischer Neuerungen in der Krankenhausausstattung, der Einfluß wegweisender Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften, die sich verstetigende

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ärztliche Professionalisierung und nicht zuletzt die Ausdifferenzierung einer kommunalen und staatlichen Sozial- und Gesundheitspolitik. Einhergehend mit diesem Wandel erfolgte auch eine grundlegende Veränderung der allgemeinen Einstellung zur Gesundheit und damit zur Akzeptanz der modernen Krankenhäuser. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebten die Krankenhäuser nicht nur einen quantitativen, sondern ebenso einen qualitativen Aufschwung, wenn die Geschichte des modernen Krankenhauses auch nicht als eine stringente Erfolgsgeschichte immer größerer, immer effektiverer und immer zweckbestimmterer Anstalten zu sehen ist. Da sich die Entwicklung in regional und lokal stark abweichenden Bahnen vollzog, wurde am durchaus typischen Beispiel der Stadt Düsseldorf der für die sozialgeschichtliche Forschung relevante Zusammenhang von städtischem Armenwesen, Krankenkassen und Krankenhäusern im späten 19. Jahrhundert rekonstruiert. Die Stadt Düsseldorf wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer kleinen Residenz-, Verwaltungs- und Garnisonsstadt zu einer modernen Industrieund Dienstleistungsmetropole. Unter den zehn größten deutschen Städten (im Jahr 1910) verzeichnete Düsseldorf im Kaiserreich das stärkste Bevölkerungswachstum. Der Ausbau der gesundheitsbezogenen Infrastruktur konnte mit dieser Entwicklung lange Zeit nicht mithalten. So verfügte Düsseldorf bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts über keine städtischen Krankenanstalten. Vielmehr regelte die Stadt die stationäre Behandlung von armen Kranken in Absprache mit den konfessionellen Krankenhäusern vor Ort. Arme Kranke wurden auf städtische Kosten in diesen Anstalten untergebracht und behandelt. Im Vortrag wurde der Anteil der armen Patienten und die Sozialstruktur dieser Klientel für das Fallbeispiel Düsseldorf untersucht. Als Hauptquellen dienten Patientenjournale der drei wichtigsten Düsseldorfer Krankenhäuser, insbesondere des Evangelischen Krankenhauses, in ausgewählten Stichjahren. Konkret wurden dabei die Alters- und Geschlechtsstruktur der Patienten, der Familienstand, die geographische Herkunft sowie die berufliche Stellung analysiert und mit entsprechenden Merkmalen der Stadtbevölkerung verglichen. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, welche städtischen Risikogruppen keinen Zugang zum Krankenhaus fanden. Weitere Schwerpunkte der Untersuchung bildeten die behandelten Krankheiten, die Liegezeiten und die Behandlungsresultate. Abschließend wurde der finanzielle Beitrag der Stadt zur stationären Behandlung der armen Kranken diskutiert.

Flurin Condrau (München)

„Den Unbemittelten die Vorteile der Anstaltsbehandlung zugänglich machen". Sozialpolitik und Tuberkuloseheilstätten in Deutschland und England (18901925) Zwischen 1890 und 1914 entwickelte sich in den meisten Industrienationen eine erstaunliche Begeisterung für Heilanstalten für Tuberkulose. Zwar war die auf den deutschen Arzt Hermann Brehmer zurückgehende Anstaltsbehandlung der Tuberkulose bereits längere Zeit bekannt gewesen, jedoch waren — so die Grundthese dieses Beitrags — sozial- und gesellschaftspolitische Faktoren dafür verantwordich, warum sich diese Behandlungsme-

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thode gerade in Deutschland und England um die Jahrhundertwende tatsächlich so verbreiten konnte. Dabei kann gezeigt werden, daß der jeweilige nationale Kontext des Heilstättenbaus nicht ohne Einfluß auf die Ausgestaltung und die Bedeutung dieser medikalen Einrichtung geblieben ist. In beiden Ländern lassen sich gesundheitspolitische, sozialpolitische und gesellschaftspolitische Funktionen der Lungenheilanstalten identifizieren, welche zur Erklärung der unterschiedlichen Ausgestaltung der Institution beitragen. Während die vorherrschende deutsche Therapieform der sogenannten „Frischluftliegekur", der sozialpolitische Impetus sowie die versicherungsrechtlichen Regelungen sämtlich der sozialen Integration der Arbeiterschaft dienten, hielten die englischen Heilanstalten mit der wissenschaftlichen „Arbeitstherapie" ganz an der Klassenstruktur der englischen Gesellschaft fest. Am Beispiel der Lungenheilstätten kann somit nachgewiesen werden, daß medikale Institutionen nicht nur von innermedizinischen Entwicklungen, sondern mindestens ebenso sehr vom jeweiligen sozial- und gesellschaftspolitischen Kontext geprägt wurden. Alfons Labisch (Düsseldorf)

Sozialpolitik und Krankenhauswesen im 19. Jahrhundert — Versuch einer systematischen Zusammenfassung Zum Wandel des Krankenhauswesens in den Städten im Laufe des 19. Jahrhunderts haben vielfältige soziale, weltanschauliche, politische und medizinische Kräfte beigetragen. Hier stehen die armen- bzw. sozialpolitischen Einflüsse im Vordergrund. In Reaktion auf die neue Armut der „labouring poor" entwickelte sich das frühmoderne Krankenhaus zunächst in den gewerbereichen Städten. Die Einzelstaaten gaben die armenrechtlichen Rahmenbedingungen vor; die praktische Fürsorge für die Armen, auch für die armen Kranken, oblag dagegen den Städten und Gemeinden. In der geschlossenen Armenkrankenpflege wurden in Krankenhaus-Abonnements, Dienstboten-Instituten und ähnlichen Formen Versicherungen für diejenigen Gruppen geschaffen, die als arme, nur kurzfristig arbeitsunfähige Kranke intensiver Pflege bedurften. Ihnen wurde ein privilegierter Zugang zum Krankenhaus geschaffen, das Krankenhaus und damit der Armenetat entlastet. In Süddeutschland entwickelten sich Formen einer eigenen Krankenhaus-Versicherung für die wichtigsten Gruppen der arbeitsfähigen Unterschichten (Dienstboten, Handwerksgesellen und -lehrlinge, Gewerbegehilfen, Fabrikarbeiter, Handelskommis etc.). Diese Art der Versicherung erlaubte, ein Krankenhaus so zu betreiben, daß der Armenetat nicht zusätzlich belastet wurde. In Preußen setzte sich hingegen das Modell einer allgemeinen Krankenversicherung für eine arbeitsrechtlich definierte Gruppe von Erwerbstätigen durch. Ziel dieser Krankenversicherung waren weniger medizinische Leistungen als der Lohnausgleich im Krankheitsfall. Hier standen armenpolitische Momente im Vordergrund. Der Armenetat wurde zumindest in der offenen Armen- und Armenkrankenpflege endastet. Weniger beachtet wurde, daß das Krankenhaus dennoch durch ständige Zuschüsse aus dem Armenetat oder aus dem allgemeinen städtischen Haushalt subventioniert werden mußte.

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Daß auf einmal zwar arme, aber junge, an sich arbeitsfähige Menschen in größerer Zahl ins Krankenhaus kamen, veränderte das frühmoderne Krankenhaus auf seinem Weg vom traditionellen Hospital zur modernen Heilanstalt: Die Aufgabe, Pfleglinge, Pfründner, Irre bis an ihr Lebensende zu versorgen, trat allmählich zurück. Das frühmoderne Krankenhaus widmete sich primär der Krankenpflege; seine Aufgabe und seine Klientel lassen sich genau bestimmen: Es diente der Pflege und Heilung armer Kranker. Aus allgemeinen gesellschaftspolitischen Gründen setzte sich 1883 mit dem „Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter" das preußische Modell der Krankenversicherung in ganz Deutschland durch. Das Krankenhaus geriet damit - auch dann, wenn lokale Ansätze zu einer Krankenhaus-Versicherung gegeben waren — an die Peripherie der Krankenversicherung. Ähnlich wie in der Armengesetzgebung der Einzelstaaten machte in der Sozialgesetzgebung des Reiches der Staat die strukturierenden Vorgaben. Diese konnten allerdings — wenn auch in engeren Grenzen als in der Armenkrankenpflege, dafür aber großenteils in selbstverwalteten Krankenkassen — ördich ausgestaltet werden. Die reichsweite gesetzliche Krankenversicherung der Arbeiter entlastete die Kommunen in der offenen Armenkrankenpflege. Die Armenlasten der Gemeinden zu lindern war ein wesendiches Ziel dieses Gesetzes. Obwohl die Pflege im Krankenhaus nur eine 'Kann-Leistung' war, brachte sie den Krankenhäusern mit den versicherten Arbeitern eine primär kranke Klientel und echte Einnahmen. Diese Einnahmen waren aber keineswegs kostendeckend. Die Armen- und später Wohlfahrts-Etats der Städte wurden daher weiterhin in erheblichem Maße durch die geschlossene Armenkrankenpflege belastet. Seit den 1880er Jahren wirkten die individuell-kurativen medizinischen Entwicklungen auf das moderne Krankenhaus: weg vom Armenhaus, weg von der generellen Isolationsanstalt armer Infektiöser, weg auch von einem Krankenhaus, in dem vornehmlich arme Kranke Ruhe und Erholung fanden, hin zu einer medizinisch-therapeutischen Heilanstalt für alle. Das Krankenhaus war von einem städtischen Exekutiv-Mittel genereller staatlicher Armenpflege und Seuchenabwehr zu einem wesentlichen Mittel der Städte geworden, die Krankheiten ihrer Bürger zu bekämpfen. In der Ära einer expansiven städtischen Leistungsverwaltung hatten sich die Kriterien, für wen das Krankenhaus zu welchem Zweck zu errichten und zu betreiben sei, geändert. Als bedürftige Gruppe erschienen nicht die Armen oder die Mitglieder der Arbeiter-Krankenversicherung — diese waren auf einmal, was einen Krankenhausaufenthalt betraf, privilegiert. Der Blick richtete sich vielmehr auf die große Gruppe der Handwerksmeister und Gewerbetreibenden sowie auf die Angehörigen des „geistigen Standes", für die sich das Krankenhaus ebenfalls zu einer attraktiven Einrichtung medizinisch-ärztlicher Behandlung gewandelt hatte. Die Kosten eines Krankenhausaufenthaltes überstiegen aber ihre Mittel: Ruin durch Krankheit bedrohte also jetzt den 'stadttragenden' Mittelstand. Daraus erwuchs den Städten ein neuer sozialer Auftrag. Der Blick der Stadt auf das städtische Krankenhaus, Ziel und Zwecke des städtischen Krankenhauses weiteten sich folglich von den nach wie vor gegebenen Aufgaben im Armenwesen und in der Seuchenprophylaxe hin zur individuell-kurativen Medizin für alle Bürger der Stadt aus. Erst jetzt, etwa seit der Jahrhundertwende, kann vom modernen Krankenhaus gesprochen werden: als einer primär medizinisch bestimmten Heilanstalt für alle Bürger der Stadt.

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21. Denkmalsturz Leitung: Winfried Speitkamp (Gießen) Winfried Speitkamp (Gießen): Einleitung Günther Lottes (Gießen) : Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der Geschichte in der Französischen Revolution Winfried Speitkamp (Gießen): Denkmal und Protest. Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Annette Maas (Saarbrücken): Zeitenwende in Elsaß-Lothringen. Denkmalstürze und Umdeutung nationaler Erinnerungslandschaft (November 1918-1925) Hans-Ulrich Thamer (Münster): Von der Monumentalisierung zur Verdrängung der Geschichte. Nationalsozialistische Denkmalpolitik und die Entnazifizierung von Denkmälern nach 1945 Mao^A^aryahu

(Tel Aviv):

Umbenennung der Geschichte. Straßennamen im Osten Berlins nach 1989 Veröffentlichungshinweis: Die Beiträge erscheinen in erweiterter und mit Anmerkungen versehener Fassung in: Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, hg. v. W I N F R I E D S P E I T K A M P , Göttingen 1997 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1581). Winfried Speitkamp (Gießen)

Einleitung Die Sektion behandelte nicht die Verwendung oder Instrumentalisierung von „Geschichte als Argument", sondern die Verleugnung, Verdammung oder Vernichtung von Geschichte, die Befreiung von der Vergangenheit, wie sie sich besonders in Angriffen auf Zeichen und Symbole eines Regimes oder einer Herrschaftsform ausdrückt. Die Referate untersuchten Denkmalstürze in der Moderne von der Französischen Revolution 1789 bis zu der Revolution in der DDR 1989. Bei allen Unterschieden machten die Referate vergleichbare Grundstrukturen besonders in viererlei Hinsicht deutlich: Erstens wurden Denkmäler im eigentlichen Sinn nur da zu Zielen von Angriffen, wo sie eine klare Identitätszuordnung ermöglichten, wo nicht gebrochene Loyalitäten und Traditionen mit ihnen verknüpft waren. Zweitens war eine bloße Vernichtung von Geschichte oder Erinnerung selten das Ziel. Zum einen wurde die Geschichte weniger vernichtet als vielmehr umgeschrieben, indem das Zeichensystem modifiziert wurde, indem Zeichen verändert, umbenannt oder neu besetzt wurden. So

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konnte Tradition neu gestiftet oder gar erfunden werden. Dazu diente zum anderen, daß der Denkmalsturz selbst häufig als erinnerungswürdig angesehen wurde und neue Identität schaffen sollte. Denkmalsturz war deshalb auch nicht nur Protestmittel der Opposition, sondern konnte zum Herrschaftsinstrument der Sieger werden. Drittens wurden Denkmalstürze nicht nur von Protestbewegungen vollzogen, sondern ebenso von Obrigkeit und Staat. Spontane, revolutionäre Denkmalstürze waren in der deutschen Geschichte eher die Ausnahme. Denkmalstürze liefen zudem nicht unkoordiniert ab, sondern regelhaft, oft nach strenger Inszenierung. Denkmäler wurden nicht bloß vandalistisch zertrümmert, sondern häufig kunstgerecht zerlegt. Viertens waren Denkmalbau und Denkmalsturz keine Gegensätze. Auch Denkmalsturz beinhaltete Sinngebung, denn die Trümmer wurden nicht selten zum Denkmal ihrer eigenen Vernichtung. Denkmäler entstanden insofern durch Denkmalsturz, und die Erinnerung an den Zerstörungsakt erweiterte die Tradition. Die im Denkmalsturz enthaltene symbolische Dekonstruktion der Erinnerung schlug mithin um in eine Rekonstruktion von Geschichte.

Günther Lottes (Gießen)

Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der Geschichte in der Französischen Revolution Denkmälern als historischen Argumenten ist von der neueren historischen Forschung immer mehr Beachtung geschenkt worden. Dabei dominierte allerdings die Perspektive der Denkmalerrichtung und der damit verbundenen Zwecke und politischen Bewußtseinshaltungen, während die Problematik des Umgangs mit Denkmälern im weiteren Verlauf der historischen Entwicklung gerade erst in den Blick rückt. Die Frage nach dem Sturz eines Denkmals - gleichsam als radikalem Gegenargument gegen das historische Argument seiner Errichtung — berührt in diesem Zusammenhang einen — freilich besonders aussagekräftigen — Extremwert als Indikator zumindest zeitweilig deutlicher Diskontinuität im Bereich der politischen Kultur und des politischen Bewußtseins. Der Vortrag ging der Problematik am Beispiel der Französischen Revolution nach, die sich dabei auch in bezug auf das Repertoire der symbolischen Politik rund um das Denkmal als Laboratorium der politischen Handlungsmuster der Moderne erwies. Drei Gesichtspunkte standen im Vordergrund: — der Denkmalsturz als Kampfansage an die politischen Symbole des französischen Absolutismus, wobei dem Aspekt besonders Rechnung zu tragen war, daß die Strategie des Denkmalsturzes auch ein Mittel darstellt, dem Gegner im Wege der Errichtung von Denkmälern durch ihren Sturz eine negative politische Symbolik zuzuschreiben; — der Generalangriff auf das soziokulturelle Zeichensystem des Ancien Régime vom Wappen der Adelsgeschlechter bis zu den Ortsnamen, wobei der Umgang mit der christlichen Tradition im Zuge der Dechristianisierung eigens behandelt wurde; — der Akt des Denkmalsturzes als Bestandteil einer politischen Kultur des Umbruchs zwischen Spontaneität und politischer Inszenierung.

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Winfried Speitkamp (Gießen)

Denkmal und Protest. Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die deutschen Revolutionen machten nicht nur vor den Thronen, sondern auch vor den Denkmälern halt. Angriffe auf Denkmäler oder gar revolutionärer Bildersturm und Denkmalsturz sind zumal für das 19. Jahrhundert kaum festzustellen. Das Jahrhundert gilt vielmehr als Epoche des Denkmalbaus. Doch die aus tiefgreifenden wirtschafdichen, gesellschafdichen und politischen Umwälzungen resultierenden politischen und sozialen Proteste der Übergangszeit zwischen 1789 und 1850 richteten sich auch gegen Denkmäler, Symbole und Zeichen, die soziale Ungleichheit und politische Herrschaft versinnbildlichten. Sie griffen das politisch-kulturelle Zeichensystem an, deuteten es um oder zerstörten es. Der Vortrag behandelte den Zusammenhang von Protest und Denkmalsturz in drei chronologischen Schritten: Zunächst ging es um Ausstrahlungen der Französischen Revolution in Deutschland seit 1789, dann um Restauration und nationale Bewegung seit 1814 und schließlich um soziale und politische Unruhen seit 1830. Denkmäler im engen Sinn wurden nur dort zum Ziel, wo sie Symbolgehalte eindringlich abbildeten. Allein die Nationalbewegung verfügte in Napoleon über ein eindeutiges negatives Symbol. Im übrigen bündelten sich politische Herrschaft und soziale Ungleichheit entsprechend der Heterogenität und Ungleichzeitigkeit deutscher Verhältnisse nicht in einem einzigen Symbol wie der Bastille in Paris. Protestbewegungen griffen deshalb die vielfältigen Zeichen politischer Herrschaft und sozialer Ungleichheit an. Zeittypisch war die Nutzung auch symbolischer Konfliktformen, die Teil der politischen Kultur wurden. Denkmalsturz konnte einmal als Instrument der Bestrafung dienen, sodann als Mittel, Vergangenheit und Abhängigkeit zu überwinden, und schließlich als Beschwörung und Bekräftigung, daß das Bisherige überwunden war, als Mahnung an die Verpflichtung, die sich aus der Erinnerung an die Vergangenheit ergab. Wesentlich war der öffentliche Charakter des Denkmalsturzes: Denkmalsturz appellierte wie das Denkmal selbst an die Öffentlichkeit, konzentrierte Politik auf öffentliche Zeichen und brach deren emotionale, suggestive Kraft. Die Attacke auf Symbole hatte insofern eine mobilisierende Funktion. Alle Formen von Denkmalstürzen griffen vorrevolutionäre Traditionen des symbolischen Handelns auf, speisten sich aber besonders aus der Französischen Revolution, ihren Denkmalstürzen, Symbolwechseln und Festritualen. Nur teilweise stand am Anfang ein wirklich spontaner Angriff. Vielmehr bezeichnen die Begriffe Organisation, Inszenierung und Dekretierung die Entwicklung von Denkmalstürzen im zeitlichen Ablauf eines Umbruchs. Die Inszenierung korrespondierte mit einer Ritualisierung. Allen Formen des Denkmalsturzes gemeinsam war dabei ihre Nähe zum Fest: entweder in der Form geordneter Inszenierung, die bürgerliche und nationale ebenso wie staatliche Feste charakterisierte, oder in der Ausgelassenheit, die Volkskultur und Volksfeste kennzeichnete. Attakken auf das Zeichensystem blieben schließlich nicht beim Symbolsturz stehen, sondern suchten über kurz oder lang den Weg zur Symbolerrichtung. Angriff auf das Zeichensystem und Aufbau eines neuen folgten einander. Deshalb erscheint eine bloße Dichotomisierung von Denkmalbau und Denkmalsturz mißverständlich. Die Proteste der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten Zeichen, die in den Symbolkanon der politischen Kultur eingingen.

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Annette Maas (Saarbrücken)

Zeitenwende in Elsaß-Lothringen. Denkmalstürze und Umdeutung nationaler Erinnerungslandschaft (November 1918—1925) Trotz der Novemberrevolution, trotz des Waffenstillstands am 11. November 1918, mit dem die Rückkehr Elsaß-Lothringens an Frankreich zur Gewißheit wurde, und des umjubelten Empfangs der einmarschierenden französischen Truppen, der 'libération d' AlsaceLorraine', nur wenige Tage später kam es weder zu einer Menschenhatz noch zu einem blindwütigen Bildersturm. Im ehemaligen Elsaß-Lothringen zeigte sich ein sehr differenzierender Umgang mit Denkmälern aus deutscher Zeit. Den angestauten Emotionen wurde kontrolliert Lauf gelassen. Dies spiegelt die komplexe Geschichte des Reichslandes und seiner Bewohner wider, deren Beziehung zueinander sich nicht auf den einfachen Nenner einer 'nationalen Konfrontation', einer harten Germanisierung und entsprechend vehementer Verweigerung, bringen läßt. Je nach dem Grad der Betroffenheit und damit den potentiellen Konfliktfeldern gestalteten sich die Formen der Vergangenheitsbewältigung unterschiedlich. Am radikalsten erscheint der Denkmalsturz in Kombination mit einer symbolischen Überfrachtung des Erinnerungsortes durch Neubelegung. Als Ubergangsform ist die Beschränkung auf partielle Zerstörung bzw. ephemer verhöhnende Ergänzung zu nennen. Als unspektakulärste Form findet sich eine Denkmalsübernahme unter Auswechseln der Inschriften. In relativ kurzer Zeit waren die Denkmäler gestürzt worden, an denen kein Identitätskonflikt für die ehemals Annektierten auftrat, Nationaldenkmäler und Kriegswahrzeichen, die vor dem Hintergrund ihrer Entstehungs-, Finanzierungs- und Rezeptionsgeschichte als deutsche, die eingewanderten Altdeutschen versichernde Denkmäler galten. Die alteingesessene Bevölkerung war bei diesen Projekten nicht oder kaum involviert, daher 1918 nicht kompromittiert. Diese Denkmäler standen außerhalb ihrer eigenen problematischen neuen Identitätsbestimmung und außerhalb der Interessenkonflikte mit Frankreich. In der verbürgten Distanz lag die Chance, problemloser mit der Vergangenheit abrechnen zu können, ohne selbst in den Strudel nationaler Rechtfertigungen gerissen zu werden. Wurde die Geschichte der Annektierten unmittelbar berührt, so ist ein distanzierter und vorsichtiger Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit festzustellen. Der Sturz der deutschen Nationaldenkmäler entlastete den schwierigen Alltag der Rückkehr. Es war einfacher, einige wenige exponierte Symbole radikal zu verändern, als im praktischen Leben der Zeitenwende zurechtzukommen und eine stabile, anerkannte eigene Identität zu finden. Der symbolisch überfrachtete, emotionsgeladene Umgang mit den ehemaligen deutschen Erinnerungsorten übernahm die Funktion einer moralisch akzeptablen Säuberungsaktion. Meist genügte der Sturz nicht, das Denkmal wurde vollständig vernichtet. In der nachfolgenden Neubelegung, welche sich zum Teil bewußt auf dem deutschen Sockel erhob, sollte die Endgültigkeit des Herrschaftswechsels in einer zu Stein gewordenen massiven Demütigung noch intensiver als Symbol der deutschen Niederlage ausgestaltet werden. So wurde einerseits in einem eindeutig profranzösischen Akt mit der deutschen Herrschaft unblutig abgerechnet, andererseits eine Opfergabe an die 'mère-patrie', ein Treuebeweis, erbracht, um moralisch unbelastet einer Rückkehr und einem Neuanfang den Weg

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zu ebnen. Die Vergangenheit sollte im Zeitraffer bewältigt, persönliche wie politische Unsicherheit in Zeiten des rapiden Umbruches kompensiert werden. Die französischen Nachfolgedenkmäler erweiterten diese Kompensationsfunktion, indem sie zielgerichtet auf den Konsens mit Frankreich abhoben und damit dem Bedürfnis nach wechselseitiger Anerkennung und Bestätigung der nun wiedergewonnenen 'provinces perdues' zur 'mère-patrie' entsprachen. In der Konzentration auf die französische Befreiung zeigte sich eine Ausschließlichkeit, die jede Diskussion schwieriger Fragen zur Entscheidungsfrage für oder gegen Frankreich stilisierte und in dieser Dominanz angemessene Lösungsansätze unmöglich zu machen schien. Eindrucksvoll führte der Denkmalsturz öffendich die radikale Zäsur, tabula rasa und Neuanfang vor, und dies, obwohl man tatsächlich die vielfältigen Errungenschaften aus deutscher Zeit beibehielt, über 1918 hinaus weiterführte und teilweise bis heute als 'droit local' Paris gegenüber behauptet. Für die Annektierten galt es, Besitzstand zu wahren. Die schwierige und tiefgreifende Bewältigung der eigenen Erfahrungen während der Reichslandzeit und des Ersten Weltkrieges stand zunächst nicht im Zentrum des Selbstbehauptungs- und Selbstfindungsprozesses. Doch bereits mit den konsensfahig geglaubten oder dazu stilisierten Handlungen der Denkmalstürze und nachfolgender Neubelegung zeichneten sich Konfliktfelder ab, da die strikte Reduzierung auf nationalen Konsens mit der 'mère patrie' zu einem sehr problematischen, labilen Kräftefeld von lokaler und regionaler Selbstbehauptung, nationaler Ein- und Unterordnung führte. Die schwierige Erinnerungsarbeit in der entscheidenden Frage, ob unter blauem oder grauem Tuch, ob als französischer Held oder als elsaßlothringisches 'victime de la guerre' gefallen, fand erste sehr verhaltene Ausdrucksformen in Denkmälern für den Ersten Weltkrieg Mitte der 1930er Jahre. Hans-Ulrich Thamer (Münster)

Von der Monumentalisierung zur Verdrängung der Geschichte. Nationalsozialistische Denkmalpolitik und die Entnazifizierung von Denkmälern nach 1945 Die nationalsozialistische Denkmalpolitik stand zu den Monumenten der Erinnerungskultur vergangener politischer Ordnungen und Traditionen in einem ambivalenten Verhältnis. Die Nationalsozialisten beseitigten und zerstörten Denkmäler der Weimarer Republik sowie Zeugnisse einer aus rassenideologischen Motiven als „undeutsch" stigmatisierten Vergangenheit. Zugleich nahmen sie Gestaltungsformen und Programme auf bzw. radikalisierten diese, die im spätwilhelminischen Deutschland Ausdruck einer Politik der nationalen Sammlung und Volksgemeinschaft waren. Die Denkmale sollten die angeblich ewigen Werte von Kampf, heroischer Schönheit und monumentaler Einfachheit sinnfällig machen. Eliminiert werden sollte, was immer als Bedrohung dieses Geschichts- und Weltbildes galt. Der Denkmalsturz war ideologischer Ausdruck von Bedrohungs- und Modernisierungsängsten einerseits und von einer politischen Radikalisierung andererseits, die durch symbolische Akte der Umgestaltung bzw. der Zerstörung geschichtliche Erinnerung umdeuten bzw. auslöschen wollte. Die nationalsozialistische Denkmalpolitik war Teil eines ideologischen Diskurses um Denkmalstiftung bzw. -pflege, der nun in seiner Vielfalt beschnitten und mit den Mitteln von Propaganda und Gewalt schrittweise in eine zerstörerische Praxis umgesetzt wurde.

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Dabei lassen sich parallel zu der allgemeinen politischen Radikalisierung des Regimes mehrere Etappen unterscheiden: zunächst die Aktionen während der Phase der „Machtergreifung" 1933, die vor allem gegen Denkmale der plitischen Linken und formal-ästhetisch gegen Zeugnisse der Moderne gerichtet waren; dann seit 1936 der Sturz von Monumenten, die aus Rücksicht auf den künstlerischen Rang ihrer Produzenten oder auf den Einfluß von bürgerlich-konservativen Protektoren verschont geblieben waren. Schließlich bot die Metallsammelaktion während des Krieges die Möglichkeit der weiteren Zerstörung von unliebsamen Monumenten. Der Umgang der Nachkriegszeit mit den Denkmalen der NS-Zeit, sofern diese nicht durch Kriegseinwirkungen zerstört waren, war von einer charakteristischen Vielfalt und Unsicherheit geprägt. Obwohl der Alliierte Kontrollrat grundsätzlich deren Beseitigung angeordnet hatte, überlebten Denkmäler aus dem „Dritten Reich" dessen Ende teilweise noch relativ lange oder wurden umgedeutet. Andererseits wurden Denkmäler, die Opfer nationalsozialistischer Politik geworden waren, als Akt der Wiedergutmachung wieder aufgestellt.

Mao^A^atyahu (Tel Aviv)

Umbenennung der Geschichte. Straßennamen im Osten Berlins nach 1989 Commemorative street names conflate the political discourse of history and the political geography of a modern city. Renaming streets features prominently in revolutionary changes of political regime. As a ritual of revolution, the renaming of the past is also an effective demonstration of the reshaping of political power structures. The lecture examined the process of renaming East Berlin's communist past in the years 1990—1994 and the subsequent reshaping of the city's post-communist political geography as an aspect of the reunification of Germany and Berlin in particular. The lecture investigated ideological dispositions and political configurations that controlled and directed the renaming process. It further elaborated on the renaming process as a discourse of German national identity that is articulated in terms of canonization of a democratic historical heritage. The lecture elaborated upon the renamings accomplished in 1990—1992 on the level of district assemblies. It further examined the attempt made in 1993—1994 by the 'Independent Commission' nominated by the Berlin Senate to rename thoroughfares in the center of Berlin, designated to become the seat of the national government of a reunited and democratic Germany.

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22. 1848/49 in Europa: Die Französische Revolution als Vorbild und Schreckbild Leitung: Irmtraud Göt% von Olenhusen (Freiburg) IrmtrautiGöt% von Olenhusen (Freiburg): 1848/49 in Europa: Die Französische Revolution als Vorbild und Schreckbild Daniel Mollenhauer (Freiburg): Nur eine Imitation? 1848/49 in Frankreich Wolfgang Schwentker (Düsseldorf): Die Erben Edmund Burkes. Der europäische Konservativismus in den Revolutionen 1848/49 Jonathan Sperber (Columbia, MO): Von 1789/93 zu 1848/52 in den Rheinlanden — Fünf Thesen zur Heraufbeschwörung der Französischen Revolution von 1789 in der rheinischen Revolution von 1848/49 Irmtraud Göt% von Olenhusen (Freiburg): 1848/49 in Baden. Traum und Trauma der Französischen Revolution Martin Schaffner (Basel): „Direkte" oder „indirekte" Demokratie? Konflikte und Auseinandersetzungen in der Schweiz 1830-1848 Brigitte Ma^ohl-Wallnig (Innsbruck): 1848/49 in Mailand — Venedig — Florenz. Das französische Erbe im österreichischen Italien Veröffentlichungshinweis·. Die Beiträge erscheinen unter dem (Arbeits-)Titel „1848/49 in Europa. Das Ende vom Mythos der französischen Revolution" (Kleine Vandenhoeck-Reihe), Göttingen 1998. Irmtraud Göt% von Olenhusen (Freiburg)

1848/49 in Europa: Die Französische Revolution als Vorbild und Schreckbild 1. Interregionale

Vergleiche in Europa

Die Komplexität der historischen Prozesse von 1848/49 scheint so evident, daß die einzelnen regionalen und nationalen — in sich sozial, konfessionell und kulturell äußerst heterogenen — Bewegungen als untereinander kaum vergleichbar gelten. Für interregionale und internationale Vergleiche, wie sie in unserer Sektion vorgeführt wurden, gibt es auf der methodischen Ebene kaum vorbildliche Modelle. In den Referaten der Sektion wurde der Einstieg über den Mythos von der Französischen Revolution, die innere Struktur nationalen Denkens und den europäischen Konservativismus gewählt. Das Verhältnis von Einheit und Freiheit, Nation und Verfassung stand 1848/49 überall in Europa zur Debatte. Natio-

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naie, politische und soziale Bewegungen waren in jeder Region, in jeder politischen Einheit dieser Zeit auf ganz spezifische Weise miteinander verflochten. Nachdem sozialgeschichtliche Zugänge zur Dynamik von Prozessen historischen Wandels sich als nur bedingt tragfahig erwiesen haben, standen das soziale Gedächtnis, der Bedeutungswandel politischer und nationaler Symbole, die Spannungen zwischen regionalem bzw. partikularstaatlichem 'Eigensinn' und Mythen der Französischen Revolution im Zentrum der Referate. 2. Der Mythos der Französischen

Revolution

Der Mythos von der Französischen Revolution bestimmte in mehr oder weniger starkem Ausmaß unmittelbar das politische Handeln der Protagonisten der Revolutionen von 1848/49. Die Zeit von 1789 bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft wurde im 19. Jahrhundert unter dem Bann verschiedener Mythen nicht als Prozeß vorgestellt, der selbst wiederum Ergebnis spezifischer historischer Prozesse war, sondern als ein — unter bestimmten Konstellationen wiederholbares - Ereignis. Je nach Ängsten und Hoffnungen konnten einzelne, eher räumlich vorgestellte Stücke dieses Ereignisses nahezu beliebig auf alle möglichen sozialen und politischen Konstellationen projiziert werden. 3. Abschied von der

Nationalgeschichte?

Die Februarrevolution 1848 in Paris gilt als Auslöser der europäischen Revolutionen von 1848/49 und als Katalysator nationaler Bestrebungen. In mancher Hinsicht waren es jedoch erst die nationalstaatlichen Perspektiven späterer Historiographie, die den an Frankreich orientierten Zäsuren 1789 — 1830 - 1848 kanonische Geltung verschafften. Dahinter steht die Vorstellung, daß nur in modernen, zentralistischen Nationalstaaten Freiheit und 'Fortschritt' zu realisieren sei. Von solchen dogmatischen Perspektiven und Epochenzäsuren wollten wir uns ein Stück weit lösen. Am Beispiel des Deutschen Bundes wurde etwa deutlich, daß die Umformung dynastischer Territorialstaaten zu Verfassungsstaaten durch die subjektive Wahrnehmung der Februarrevolution — als gleichsam magisch wirksames weltgeschichdiches Ereignis — in fataler Weise unterbrochen wurde. Kontinuitäten der vornapoleonischen Zeit, der 'Eigensinn' partikularstaatlicher, regionaler oder kantonaler Bewegungen wurden ebenso betont wie revolutionäre Brüche. Daniel Mollenhauer (Freiburg)

Nur eine Imitation? 1848/49 in Frankreich 1. Seit Marx, Tocqueville und Flaubert ist das Bild der 'Imitation' der Revolutionäre von 1789 durch die „Quarante-huitards" zu einem fest etablierten Klischee geworden. Der Blick für die komplexen Zusammenhänge zwischen Revolutionserinnerungen, intellektueller Bezugnahme auf die Ideen der Revolutionszeit sowie Wirkung und Instrumentalisierung der Revolutionsmythen während der Zweiten Republik ist dadurch eher getrübt als geschärft worden. Der Beitrag sollte helfen, anstelle des eindimensionalen Klischees diese Komplexität wieder ins Bewußtsein zu rücken. 2. Gewiß war „1789" auch im Revolutionsgeschehen von 1848 auf vielfältige Weise präsent: auf den verschiedenen Ebenen der politischen Symbolik (Bilder, Lieder, politische Feiern, Vokabular), in der politischen Auseinandersetzung, im intellektuellen Diskurs und individuell in der politischen Sozialisation der Protagonisten.

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3. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die „48er" die Revolutionserinnerung und ihre politische Instrumentalisierung nicht erfunden haben. Schon in der Julimonarchie hatte der stete Riickbezug auf das Vorbild oder Schreckbild der „Großen Revolution" — gefördert durch offizielle Zeremonien und die Erneuerung der Revolutionshistoriographie — einen festen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung gebildet. 4. Die geläufige Vorstellung, die „48er" seien in dieser Revolutionserinnerung „gefangen" gewesen, ist jedoch irreführend. Nur eine kleine (wenn auch lautstarke) Minderheit verstand die „Treue zur Revolution von 1789/93" als eine Imitation ihrer Politik und forderte die Rückkehr zu den Prozeduren der „terreur" (Verfolgung von „Verdächtigen" u.ä.). Zudem war der Platz, den die Revolutionserinnerung in der politischen Auseinandersetzung einnahm, nicht unveränderlich, sondern einer Entwicklung unterworfen. Vor allem in der ersten Phase der Zweiten Republik läßt sich sowohl bei der Regierung als auch bei allen 'Parteien' die Tendenz beobachten, vor allem die Unterschiede zwischen „1789" und„1848" herauszustellen und eine „Wiederholung der Geschichte" als undenkbar zu deklarieren. Erst mit der Intensivierung der politischen Konflikte in den Monaten April bis Juni wird das große Vorbild stärker und bald massiv für die politische Propaganda instrumentalisiert. 5. Während dabei auf der konservativen Seite das Axiom, die Republik führe unweigerlich zu einer neuerlichen „terreur", bald die zentrale Stellung in der Argumentation einnimmt (die sie bis weit in die Dritte Republik halten sollte), stellt sich die Situation für die „Jakobiner" differenzierter dar. Hier koexistieren Versuche, eine Politik der Kommemoration mit der Suche nach neuen politischen Methoden (Wahlen, politische Bildung) zu verbinden, mit der Versuchung, Politik weiter (oder wieder) nach den Mustern des Bürgerkrieges von 1789—1815 zu begreifen — ein Konflikt, der während der Kommune erneut auftrat und schließlich von den „radicaux" der Dritten Republik zugunsten der ersten Richtung entschieden wurde. Jonathan Sperber (Columbia, MO)

Von 1789/93 zu 1848/52 in den Rheinlanden - Fünf Thesen zur Heraufbeschwörung der Französischen Revolution von 1789 in der rheinischen Revolution von 1848/49 1. Schon wegen der zwanzigjährigen Zugehörigkeit der Rheinlande (einschließlich Rheinhessens und der Rheinpfalz) zur ersten Französischen Republik bzw. zum Napoleonischen Imperium — um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch in lebendiger Erinnerung — ist ein starker Einfluß der Ideen und der Symbolik der Französischen Revolution von 1789 auf die Ereignisse von 1848 zu erwarten. Dieser Einfluß war wohl in den Rheinlanden ausgeprägter als in irgendeinem anderen Teil Mitteleuropas. 2. Typisch für diesen Einfluß waren die Anklänge an 1789/93 bei spontanen Massenaktionen der Revolutionszeit — z.B. Waldunruhen oder einem Straßenauflauf nach dem Freispruch eines politisch Angeklagten: das Absingen der Marseillaise, die Beschimpfung von politischen Gegnern als „Aristokraten", der Ruf nach Freiheit und Gleichheit. 3. Doch die Verwendung dieser Revolutionssymbolik bei Massenaktionen war räumlich begrenzt und verweist auf die Trennung der Rheinlande in zwei Kulturkreise: Sie kam in

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der Pfalz, Rheinhessen und den katholischen Teilen der Preußischen Rheinprovinz vor; in den überwiegend evangelischen Teilen Rheinpreußens hingegen nicht. Diese kulturelle Trennung ging weder mit einer konfessionellen (denn Protestanten im südlichen Rheinland benutzten energisch die Revolutionssymbolik), noch mit einer politischen (denn es gab linke und rechte Orientierungen an der Basis in beiden Regionen) Trennung einher. Sie war Ausdruck der konfessionell vermittelten Erfahrung der französischen und preußischen Herrschaft und kann als Beispiel der im historischen Prozeß erfolgten Herausbildung verschiedener symbolischer Handlungsmuster verstanden werden. 4. Auf der Ebene des eher vorbereiteten politischen Diskurses - in der Tagespresse und bei Reden in Sitzungen politischer Vereine oder Massenversammlungen - war das Verhältnis zum Erbe der Französischen Revolution komplizierter. Anhänger aller drei politischen Hauptströmungen - der Konservativen, der konstitutionellen Monarchisten (wie die Liberalen damals hießen) und der Demokraten — nahmen Stellung zu den Vorgängen von 1789/93 und verglichen sie mit den Ereignissen der Gegenwart. Wie man erwarten würde, sahen Konservative die Revolution von 1789 als ein negatives, zu vermeidendes Beispiel. Konstitutionelle Monarchisten waren auch negativ eingestellt; sie hatten nichts Gutes über die Französische Revolution zu sagen, auch nicht über ihre liberale Frühphase. Die Demokraten hingegen betrachteten die Revolution, besonders ihre radikale, jakobinische Phase, als etwas Positives, Nachahmenswertes. Solche gegensätzlichen Einstellungen zu 1789 weisen auf die eigentliche politische Trennlinie hin, die 1848/49 - mindestens im Rheinischen - zwischen den Konservativen und konstitutionellen Monarchisten einerseits und den Demokraten andererseits verlief. 5. Man sah die 48er Revolution jedoch nicht einfach als eine Wiederholung ihrer Vorgängerin. Die alte Symbolik wurde auch benutzt, um neue, den Jahren nach 1813 entstammende Themen, wie nationale Einheit oder die soziale Frage, anzusprechen. Konservative behaupteten, daß „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" die Losung des Kommunismus sei, was Robespierre überrascht hätte, der die Todesstrafe für Kommunisten forderte. Demokraten sangen abwechselnd die Marseillaise und Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?" und hielten sich dabei für deutsche Nationalisten, was fünfzehn Jahre später unbegreiflich gewesen wäre. Diese Verbindung von Elementen, die in früheren oder späteren Zeiten als diametral entgegengesetzt angesehen worden wären, war typisch für die Revolution von 1848/49. Irmtraud Götç von Olenhusen (Freiburg)

1848/49 in Baden. Traum und Trauma der Französischen Revolution 1. Oer deutsche Mythos der Französischen

Revolution

Unter dem Eindruck der Februarrevolution in Paris versuchten südwestdeutsche und rheinpreußische Liberale und Demokraten, die Kulturnation durch einen revolutionären Akt (die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung) in eine reale politische Ordnung zu transformieren. Die Konstituierung eines starken deutschen Nationalstaates kam der Quadratur des Kreises gleich. Mit der Beschwörung des Mythos von der „Großen Französischen Revolution" gerieten reale Chancen für eine Parlamentarisierung der Partikular-

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Staaten in der entscheidenden ersten Revolutionsphase aus dem Blickfeld der Protagonisten. 2. Träume vom badischen

Sonderweg?

Am Beispiel der badischen Revolution läßt sich zeigen, daß die vermeintlich historische 'Doppelaufgabe' der Deutschen, Freiheit und Einheit gleichzeitig erreichen zu sollen, eine Chimäre ist. Jede Einmischung von außen war in Baden unerwünscht. Auch eine Dominanz Preußens hätte — wie bisher die Interventionen des Deutschen Bundes — den Verlust ziviler Freiheiten bedeuten können. Der badische Liberalismus, der sich in den 1840er Jahren zu einer Volksbewegung entwickelt hatte, konnte allmählich erfolgreich an ein genuin badisches, verfassungspatriotisches Staatsbürgerbewußtsein appellieren. Selbst Konservative hatten sich weitgehend mit dem konstitutionellen System arrangiert. Verfassung und Parlamentarisierungstendenzen ließen das französische Vor- oder Schreckbild bis zum Februar 1848 in den Hintergrund rücken. 3. Das Trauma der napoleonischen

Kriege

Im Bewußtsein nicht nur der Gebildeten verdankte Baden seine Existenz als liberaler Musterstaat unmittelbar den Folgen der Französischen Revolution. Trotzdem sahen sich die Liberalen immer wieder veranlaßt, gegen die „Franzosenhasserei" Stellung zu beziehen. Im sozialen Gedächtnis breiter Teile der Bevölkerung waren die Schrecken der Revolutionskriege haften geblieben und durch die Rheinkrise von 1840 mobilisiert worden. Unter dem Findruck der Februarrevolution schürten nun Liberale und Radikale selbst Ängste vor einem europäischen Revolutionskrieg, insbesondere vor einem Eingreifen Rußlands. In der „Franzosenpanik" zwischen dem 22. und 25. März 1848 wurden die „Geister der Vergangenheit" lebendig, die die politischen Protagonisten selbst heraufbeschworen hatten. 4. Heckers und Struves Traum Die Strategie Heckers und Struves, das Vorparlament analog zur französischen Ständeversammlung von 1789 als permanent zu erklären, scheiterte ebenso wie der anschließende Versuch, ersatzweise dem badischen Volk die Rolle des revolutionären Subjekts zuzuschreiben. Eine revolutionäre Situation bestand weder in Baden noch in anderen Ländern des Deutschen Bundes. Das dichte Netz demokratischer Vereine verweist aber ebenso wie der Heckerkult darauf, daß weite Teile der Bevölkerung sich sowohl aktiv für ihre Rechte einsetzten als auch ihre je eigenen Träume und Wünsche auf politischem Wege zu realisieren hofften. 5. Das Trauma des Scheiterns Für alle diejenigen, die von der Freiheit träumten oder für konkrete Freiheiten kämpften, war das Scheitern der Revolutionen von 1848/49 ein traumatisches Erlebnis. Pditik hatte sich als blutiges Geschäft erwiesen; den politischen Forderungen wurde nun ex post jede realistische Qualität abgesprochen. 1848 wurde als „tolles Jahr" erinnert, in dem viele Deutsche gleichsam von der demokratischen Geisteskrankheit befallen waren. Auch von der deutschen Geschichtswissenschaft wird das Scheitern der politschen Bewegungen von 1848/49 immer noch als notwendiger Genesungsprozeß begriffen: Die Bürger wurden realistischer, überließen das Problem der Einheit Bismarck und konzentrierten sich auf Wirtschaftsmacht und Wissenschaft. Freiheitsträume hatten von nun an als unrealistisch zu gelten.

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Schaffner{Basel)

„Direkte" oder „indirekte" Demokratie? Konflikte und Auseinanderset2ungen in der Schweiz 1830-1848 1. „Nation " nicht „Revolution " Die schweizerische Historiographie sieht in der Französischen Revolution einen Wendepunkt in der Geschichte der Schweiz. Sie datiert die E n t s t e h u n g des m o d e r n e n Nationalstaates in das Jahr 1798 (Helvetische Revolution) und betrachtet die Jahrzehnte bis 1848 als die wichtigste Phase in der Geschichte des Bundesstaates. „ N a t i o n " nicht „Revolution" ist ihr Leitbegriff: Nicht die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft steht im Fokus dieser Optik, sondern die Errichtung des kurzlebigen helvetischen Einheitsstaates nach französischem Muster (1798) und die Schaffung des föderalistischen Nationalstaates durch die Verfassung von 1848. 2. „Freiheiten "statt „Freiheit" Auch die quasirevolutionären Umwälzungen der Jahre 1830/31, durch die in elf Kantonen ein Machtwechsel erzwungen und neue Verfassungen durchgesetzt wurden (mit d e m Prinzip der Volkssouveränität und der E i n f ü h r u n g des allgemeinen direkten Männerwahlrechts), werden in der Historiographie mit der Geschichte Frankreichs (dem Ausbruch der Julirevolution) verknüpft. Allerdings artikulierte sich in den Volksversammlungen, die damals stattfanden, ein Bewußtsein politischer Interessen und materieller Postulate, das kaum auf die Rhetorik und Emblematik der Französischen Revolution zurückgriff. „Freiheiten" (das heißt Rechte), nicht „Freiheit" als abstraktes Prinzip bildeten den K e r n , um d e n die Forderungskataloge dieser Bewegungen organisiert waren. 3. „Direkte " und „indirekte " Demokratie Die liberalen Eliten, die 1830/31 mit d e m Volk an die Macht kamen u n d o h n e es regieren wollten, gerieten zwischen 1839 und 1841 unter den Druck heftiger, von der Historiographie als „konservativ" bezeichneter, regionaler Protestbewegungen. Gegen den liberalen Begriff von Volkssouveränität setzten diese G r u p p e n direktdemokratische Vorstellungen, die sich im Postulat eines „Vetorechtes" (von G e m e i n d e n oder Bürgern) gegen neue Gesetze konkretisierten. Hier manifestierte sich, daß die politische O r d n u n g der Schweiz einer doppelten Legitimität zu genügen hatte: d e m Repräsentationsmodell, wie es in der Theorie demokratischer Elitenherrschaft angelegt war, und einem tradierten, in Gemeinden u n d Talschaften praktizierten Verständnis v o n „Volksherrschaft". 4. Politische Mikro- statt Makrogeschichte Die Bedeutung der französischen Revolutionsgeschichte für die E n t s t e h u n g des schweizerischen Nationalstaates von 1848 ist unübersehbar, als Schock für das Ancien Régime und als Vermittlerin eines Codes von Sprachregelungen und Zeichen. Allerdings erschließt sie sich nur in einer historischen Perspektive, welche die Verfassung von 1848 als einzigen Referenzpunkt und den Prozeß der Nationenbildung als dominanten Interpretationsrahmen hinter sich läßt und das komplexe Z u s a m m e n - u n d Widerspiel von diskursmächtigen Eliten und aktionsfähigen Volksbewegungen in lokalen und regionalen Kontexten thematisiert.

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Brigitte Mazphl-Wallnig (Innsbruck)

1848/49 in Mailand - Venedig - Florenz. Das französische Erbe im österreichischen Italien 1. Modell Einheitsstaat: Vorbild und Voraussetzung Das im Gefolge der französischen Revolution geschaffene italienische Königreich bedeutete einen radikalen Bruch mit der bisherigen Pluralität der italienischen Herrschaftsterritorien, deren Rechtsgrundlagen zum Teil (wie im Falle der Toskana und der Lombardei) in der Tradition des Heiligen Römischen Reiches ruhten oder aber (wie im Falle Venedigs) in einer jahrhundertealten frühmodernen und 'protostaatlichen' Selbständigkeit wurzelten. Die Schaffung eines zentralisierten Einheitsstaates brachte einerseits die Ideologie eines italienischen Nationalstaats, andererseits die Realität einer modernen etatistischen Verwaltung nach französischem Muster hervor. 2. Die österreichische Fremdherrschaft— Nutznießer desfranzösischen

Kevolutionsexports

Dem französischen Vorbild — trotz ideologischer Gegenposition - und den in der französischen Zeit geschaffenen strukturellen Voraussetzungen folgend, setzte das österreichische Kaisertum als Rechtsnachfolger des Reiches im Innern seiner italienischen Herrschaftsterritorien (Toskana, Lombardo-Venetien) eine zentralisierende und modernisierende Verwaltungspraxis fort, die, vergleichbar der französischen, auf Entmachtung traditioneller Eliten zielte. Das Erbe von 1789 wurde auf diese Weise - unterhalb und entgegen dem „reaktionären" Diskurs in der Zeit vor 1848 — gerade auch in der Realität der österreichischen Fremdherrschaft in Italien wirksam: Die österreichische Herrschaftspraxis folgte dem Modell des etatistischen, „revolutionären" Einheitsstaates und löste ihrerseits — zumindest tendenziell — das Postulat der „Gleichheit" ein. 3. Das Erbe der Pluralität: 1848/49 und die Vielfalt der Diskurse Die unterschiedlichen vorrevolutionären Herrschaftstraditionen überlebten die revolutionäre Epoche und präsentierten sich 1848/49 in unterschiedlicher (konterrevolutionärer?) Gestalt: Die (Wiedererrichtung der „Republik" Venedig hatte, so gesehen, ihr traditionelles ebenso wie modernes Gesicht, die „revolutionären" Forderungen der Mailänder Zentralkongregation gründeten trotz antiösterreichischer Freiheitsparolen auch auf traditionellen Vorstellungen patrizischer Selbstverwaltung. Die Visionen einer föderativen italienischen „Liga" reaktivierten durch die Einbeziehung des Papstes guelfische Traditionen. So ergeben die verschiedenen „Revolutionen" von 1848/49 in den ober- und mittelitalienischen Zentren der österreichischen Fremdherrschaft ein differenziertes Bild, auch was die Fortschreibung, Erneuerung oder Veränderung des 'französischen' Erbes betrifft. Nach wie vor werden unter dem Revolutionsexport „Freiheit" — dank der unterschiedlichen italienischen Voraussetzungen — auch „Freiheiten" im traditionellen Sinne verstanden.

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23. Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie Leitung: Friedrich Lenger (Erlangen) Friedrich Lenger (Erlangen): Die Gewerbegeschichtsschreibung der Historischen Schule im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Sozialpolitik — ein Uberblick Josef Ehmer (Salzburg): Strukturen des Denkens über das zünftige Handwerk Reinhold Reith (Berlin): Lohn und Leistung aus der Perspektive der Historischen Schule der Nationalökonomie Zum Problem der Wirtschaftsmentalitäten PeterKriedte (Göttingen): Hausindustrie. Zu den Grenzen eines gewerbegeschichdichen Begriffs im Lichte der neueren Forschung Heiwç-GerhardHaupt

(Halle):

Die deutsche Handwerkerdiskussion im Vergleich: Das französische Beispiel Vorbemerkung und

Veröffentlichungshiniveis.

Inhaldich ging es in dieser Sektion um den Versuch, eine fruchtbare Verbindung zwischen wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion und gewerbegeschichtlicher Begriffsbildung herzustellen. Das schien schon deshalb lohnend, weil die Gewerbegeschichtsschreibung in Deutschland bis heute in hohem Maße von der Begrifflichkeit der Historischen Schule der Nationalökonomie geprägt ist. Die Grenzen der Nützlichkeit dieser Begriffe für die heutige Erforschung von Handwerk und Hausindustrie in der Neuzeit auszuloten war somit ein wichtiges Anliegen der folgenden Referate, die — herausgegeben von Friedrich Lenger - im Herbst 1997 im Verlag für Regionalgeschichte (Bielefeld) erscheinen sollen. Friedrich Lenger (Erlangen)

Die Gewerbegeschichtsschreibung der Historischen Schule im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Sozialpolitik — ein Uberblick Dieser mehr einleitende Überblick behandelte einige der für die Gewerbegeschichtsschreibung der Historischen Schule wichtigsten Autoren wie Gustav Schmoller, Wilhelm Stieda, Karl Bücher und Werner Sombart und führte ihre wesentlichsten Konzepte ein. Geboren zwischen 1838 und 1863 prägten ihre Arbeiten und Begriffsbildungen die zeitgenössische Diskussion um Handwerk und Hausindustrie ebenso wie die spätere wirtschaftsund gewerbegeschichtliche Forschung. Konkret ging es dabei zunächst um den sozialpolitischen Kontext der Beschäftigung mit Handwerk und Mittelstand, nicht zuletzt auch um die Charakterisierung und Bewertung der Zunft im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahr-

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hundert. Jenseits aller Unterschiede zwischen den Positionen der behandelten Autoren, die in engem Zusammenhang mit ihren sozialpolitischen Vorstellungen standen, gab es interessante Parallelen, die die Hypothese nahelegten, die den Autoren gemeinsame Typisierung und Idealisierung einer zünftig organisierten Handwerkswirtschaft spätmittelalterlicher Städte habe die verbreiteten Verfallsdiagnosen für Zunft und Handwerk im 17. und 18. Jahrhundert bereits präjudiziert. Josef hhmer (Salzburg)

Strukturen des Denkens über das zünftige Handwerk Der Beitrag bestand aus drei Teilen: Einleitend wurde versucht, eine Struktur des Denkens über das zünftige Handwerk und seine Geschichte zu rekonstruieren, die in Europa seit Jahrhunderten eine erstaunliche Dominanz aufweist und bis in die Gegenwart wirksam ist. Das Denken über das zünftige Handwerk scheint gefangen zu sein in einem geistigen Koordinatensystem, das aus den beiden Achsen „gesellschaftliche Organisation" und „gesellschafdiche Entwicklung" besteht. In diesem Koordinatensystem wird der Platz von Handwerk und Zunft durch die Pole „korporativ" und „traditionell" definiert, als Gegensatz zu den Polen „liberal" und „modern". Die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie hat diese Struktur nicht geschaffen, aber sie hat sie in verschiedener Hinsicht konsequent auf den Punkt gebracht. Der Beitrag skizzierte die Geschichte dieses Denkens von seinen Wurzeln in der mittelalterlichen Geistesgeschichte über die Theoretiker des Absolutismus, die Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts — und dabei besonders der Historischen Schule - , bis hin zu den Historikern unserer Tage. Der zweite Teil des Beitrags sollte an Hand einiger empirischer Beispiele zeigen, wie beschränkt und begrenzt diese Denkweise ist. Dabei ging es nicht in erster Linie um die Frage, ob die vorherrschenden Theorien und allgemeinen Aussagen über die Geschichte des Handwerks 'richtig' oder 'falsch' sind, sondern darum, ob sie heuristisch und methodisch für weitere Forschungen nützlich sein können. Die Beispiele in diesem zweiten Teil stammen überwiegend aus einem Forschungsprojekt über Mobilität und Stabilität im Wiener Zunfthandwerk von 1740 bis 1860 und konzentrieren sich auf die folgenden Problemkreise: die Frage nach dem Charakter von Zünften als 'Interessensgemeinschaften'; die Einschätzung des überaus hohen Ausmaßes von Migration, Fluktuation und sozialer Mobilität im zünftigen Handwerk, das quantifizierende Analysen von Massenquellen sichtbar machen; und schließlich das Verhältnis von 'handwerklichem Habitus' und der Individualität von Handwerkern, wie sie in den zahlreichen Autobiographien des 18. und 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Im dritten Teil des Beitrags sollte versucht werden, Schlußfolgerungen aus diesen Befunden zu ziehen. Es geht zunächst um die Frage, ob Begriffe und Konzepte wie „altes Handwerk", „Zunftwesen", „handwerkliche Produktionsweise" oder „handwerkliche Kultur· und Lebensweise" überhaupt noch Sinn machen angesichts der ungeheuren Vielfalt des Konkreten im Ergebnis empirischer Studien. Der Beitrag plädierte nicht dafür, auf derartige Begriffe, Idealtypen oder theoretische Konzepte völlig zu verzichten. Seine Skepsis richtete sich vielmehr gegen die bisherigen Konstruktionsprinzipien dieser Begriffe, und dabei vor allem gegen das Hauptkonstruktionsprinzip, das im eisten Abschnitt behan-

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delt wurde, nämlich die dichotomische Trennung von „guild" und „civil society", von „korporativ" und „liberal", von „Handwerk" und „Kapitalismus". Vielleicht bekommen Begriffe wie das „alte Handwerk" oder die „handwerkliche Produktionsweise" wieder einen Sinn, wenn wir Markt, Individualität, Flexibilität und Instabiltiät nicht als ihre Antithesen betrachten, sondern als unverzichtbare Bestandteile der Begriffs- und Theoriebildung. Die zweite Schlußfolgerung bezog sich auf die traditionelle und immer noch vorherrschende Chronologie der Handwerksgeschichte. Viele Historiker, und ganz besonders die Vertreter der Historischen Schule, haben das „Wesen" des Handwerks im Mittelalter gesucht, also in quellenarmen Zeiten, und haben die neuzeitlichen Befunde vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Ideals interpretiert. Die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit der neueren Handwerksentwicklung konnte ihnen damit leicht als „Verfall" (Stieda) oder „Entartung" (Sombart) erscheinen. Hier wurde abschließend für den umgekehrten Weg plädiert. Die Quellen für die Neuzeit, und hier wiederum für das 18. Jahrhundert, sind vielfältiger und dichter als für frühere Epochen, und vielleicht sind auch die Probleme des neuzeitlichen Handwerks komplexer als jene des Mittelalters. Die Neuzeit scheint besser zur Entwicklung komplexer Modelle für das „alte Handwerk" geeignet zu sein als das Mittelalter.

Reinhold Reith (Berlin)

Lohn und Leistung aus der Perspektive der Historischen Schule der Nationalökonomie - Zum Problem der Wirtschaftsmentalitäten Der Lohn war eines der zentralen Themen der jüngeren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie und besonders die Entwicklung einer Lohnstatistik prägte auch die spätere wirtschaftshistorische Forschung, die sich vorrangig den quantitativen Aspekten des Lohnes zuwandte. Daß die qualitativen Aspekte — insbesondere das Verhältnis von Lohn und Leistung, die Lohnformen — 'terra incognita' blieben, führt auf die Historische Schule zurück. Die Beschäftigung mit Lohnformen (elementare Lohnformen: Zeitlohn und Stücklohn) erfolgte um 1900 im Zuge der Taylor-Rezeption (L. Bernhard, O. v. Zwiedineck-Südenhorst). Die historische Betrachtung folgte dabei Büchers Stufenlehre, und in der Historischen Schule setzte sich die Lehrmeinung fest, daß der Stück- bzw. Leistungslohn ein der vorindustriellen Wirtschaft wesensfremdes Element gewesen sei. Die Tatsache, daß in den 1890er Jahren der Leistungslohn im Kleingewerbe wieder weitgehend an Bedeutung verloren hatte, schien dies zu bestätigen. Bei allen Gegensätzen gingen Schmoller, Brentano, Sombart u.a. von Stufenfolgen der menschlichen Entwicklung aus: Bis ins 19. Jahrhundert hätten die Arbeiter unter der Herrschaft des Herkommens und der Bedürfnislosigkeit gestanden, und da der Erwerbstrieb noch nicht zureichend ausgebildet gewesen sei, so seien sie auch Leistungsanreizen gegenüber unzugänglich gewesen. Die Historische Schule postulierte (gegen die britische Klassik) eine Wirtschaftsmentalität, die von Sombart mit dem Begriff „Nahrungsprinzip", später auch mit „Labour-Consumer-Balance" oder „Mußepräferenz" umrissen worden ist, und die für die sozial- und wirtschaftshistorische Forschung sowie für die historische Anthropologie folgenreich wurde und mittlerweile den Status einer 'bekannten Tatsache' erreicht hat.

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Dieses Postulat bot jedoch keinen Ansatzpunkt zu einer historischen Analyse der Beziehung zwischen Lohn und Leistung, und die Zuschreibung einer gewissen Wirtschaftsmentalität beruhte keineswegs auf der geforderten „gesicherten Tatsachenbeobachtung", sondern auf Deduktion bzw. auf entwicklungsgeschichtlichen Grundannahmen. Für ein zentrales Gebiet der Historischen Schule wird man ihren historischen und systematischen Ertrag für die Gewerbegeschichte jedenfalls bestreiten müssen. Angesichts ihrer prägenden Bedeutung erscheint es daher notwendig, die Prämissen und die „gesicherten Tatsachenbestände" zum Thema zu machen: Für die Gewerbegeschichte könnte dann — so Schefold zum Werk Büchers — aus den Irrtümern und deren Berichtigung vielleicht eine größere Wirkung abgeleitet werden als aus den positiven Erkenntnissen.

Peter Kriedte (Göttingen)

Hausindustrie. Zu den Grenzen eines gewerbegeschichtlichen Begriffs im Lichte der neueren Forschung Das Wort „Hausindustrie" ist erstmals in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gegenbegriff zu dem der Fabrikindustrie nachweisbar. Nach ersten Erläuterungen des neuen Begriffs durch Wilhelm Roscher und Albert Schäffle fand die Hausindustrie bei Karl Bücher, Gustav Schmoller und Werner Sombart einen festen Platz in der von ihnen konstruierten Abfolge der gewerblichen Betriebssysteme. So unterschiedlich die Positionen der Teilnehmer an der Debatte über Hausindustrie in der Zeit vor 1914 im einzelnen auch waren, gemeinsam war ihnen die Einschätzung der Hausindustrie als eines „neuen Systems der Produktion", als einer „typischen Unternehmensform" und ihrer überragenden Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung vor dem Einsetzen des Industrialisierungsprozesses. Nach dem Ersten Weltkrieg verebbten die Bemühungen um das Phänomen der Hausindustrie. Als Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre der Begriff „Proto-Industrialisierung" aus der Taufe gehoben wurde, geschah das nur in sehr begrenzter Anknüpfung an die frühere Debatte. Die Vorteile des neuen Begriffs „Proto-Industrialisierung" lagen zunächst auf der Hand: Anders als der Begriff „Hausindustrie" unterstrich er den Prozeßcharakter der Verdichtung von Gewerberegionen im Verlauf der frühen Neuzeit, freilich mit einer störenden, leicht zu Mißverständnissen führenden teleologischen Komponente in Richtung Industrialisierung. Ferner erlaubte er, Gewerbe, die nicht hausindustriell organisiert waren, wie Bergbau und Eisenindustrie, unter Umständen in die Analyse einzubeziehen. Ein Defizit des neuen Konzepts bestand allerdings von vornherein darin, daß es ganz auf die Verdichtung von Exportgewerben auf dem Lande abhob und die städtischen Exportgewerbe unberücksichtigt ließ. Bei der Verwendung des Begriffs „Hausindustrie" in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion wird für die vorindustrielle Zeit zu bedenken sein, daß er in Anbetracht der engen Verzahnung von Landwirtschaft und Gewerbe Mißverständnisse hervorrufen könnte, da er eine Konstanz der gewerblichen Tätigkeit suggeriert, die nur in seltenen Fällen gegeben war. In Hinblick auf die alten Exportgewerbestädte ist geltend zu machen, daß sich die gewerbliche Warenproduktion zumeist weiterhin in einem zünftig abgesteckten Rahmen vollzog. Ferner ist zu berücksichtigen, daß der Terminus „Hausindustrie" einseitig auf die

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dezentralen Phasen des Produktionsprozesses abhebt und die zentralisierten unterschlägt sowie als Produktionssystem letztlich den Verlag privilegiert. So wenig heute eine unmittelbare Anknüpfung an die Hausindustrie-Debatte der jüngeren Historischen Schule möglich ist, so wenig wird man den Terminus „Hausindustrie" unbesehen benutzen können. In einem bestimmten zeitlichen oder auch eng begrenzten sachlichen Kontext kann er durchaus angebracht sein — zum Beispiel für die modernen Hausindustrien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts —, seine Verwendung zur Kennzeichnung einer ganzen Epoche der Wirtschaftsgeschichte muß jedoch auf Bedenken stoßen. Die Nutzung eines zunächst der Synchronie verhafteten Neologismus für die Diachronie stößt sich mitunter an den Grenzen, die ihm durch den Wortkörper gesetzt sind.

Hein^-Gerhard Haupt (Halle)

Die deutsche Handwerkerdiskussion im Vergleich: Das französische Beispiel Sucht man in der französischen Diskussion nach Äquivalenten zu den gewerbegeschichtlichen Stellungnahmen der Historischen Schule der Nationalökonomie, so lassen sich drei Richtungen nennen, in denen dem Kleingewerbe eine wichtige Stellung eingeräumt wurde. Einmal die Vertreter des Wirtschaftsliberalismus, zu denen ein Autor wie Adolphe Blanqui zählte, die Économie sociale, die Frederic Le Play maßgeblich beeinflußte und die genossenschaftlich-republikanische Tendenz, für die hier Charles Gide betrachtet werden sollte. Nicht eine, sondern mehrere Richtungen rückten mithin in das Blickfeld. Von der deutschen Diskussion unterschied sich die französische dadurch, daß sie sich durchweg zeitlich früher, mit anderen Schwerpunkten und in einer insgesamt geringeren Wirkung den Problemen des Kleingewerbes widmete.

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24. Umwelt und Geschichtswissenschaft. Probleme, Methoden und neue Forschungen Leitung: Wolfram Siemann (München) Wolfram Siemann (München): Umwelt und Geschichtswissenschaft - zum Konzept der Sektion Christoph Ernst (Trier): Eine ökologische Revolution? — Der Umgang mit dem Wald (18./19. Jahrhundert) Michael Stolberg (Cambridge/München): Luftverschmutzung und Umweltexpertise am Beginn des Industriezeitalters (1780-1860) Fran^-Josef Brüggemeier (Hannover) : Wahrnehmung von Umweltproblemen im Zeitalter der Hochindustrialisierung (1871—1918) Christian Pfister (Bern): Energiepreis und Umweltbelastung. Die Bedeutung des '1950er Syndroms' für die Periodisierung der Umweltgeschichte und als Argument für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik Wolfram Siemann (München)

Umwelt und Geschichtswissenschaft — zum Konzept der Sektion Umweltgeschichte erschließt innerhalb der Geschichtswissenschaft Dimensionen, die ihre unmittelbaren Bezüge zur Gegenwart nicht verleugnen können. Der methodisch geschulte Historiker betrachtet die Spurensuche im Dienste naiver 'Lehren aus der Geschichte' hingegen stets mit Argwohn, weil der Aktualitätsreiz nicht selten die Eigenart historischer Auseinandersetzungen mit der Umwelt verdeckt. Umweltgeschichte ist in Deutschland im Gegensatz zur angloamerikanischen Forschung eine junge Disziplin, wenn man ihr diese Eigenschaft überhaupt zubilligt; manche Kritiker bezweifeln das angesichts eines scheinbar diffusen Gegenstandes 'Umwelt'. In der Sektion wurde unter 'Umwelt' jedenfalls stets die den Menschen umgebende und von ihm beeinflußte Natur verstanden. Die einzelnen Beiträge sollten mit unterschiedlichen Wegen, Fragen und Quellen zur Umweltgeschichte bekannt machen und das jeweils am konkreten Gegenstand eines Konflikts oder einer Konstellation verdeutlichen, wobei zugleich ein möglichst breites Spektrum einbezogener wissenschaftlicher Teildisziplinen angesprochen werden sollte (Agrar-, Forst-, Medizin-, Hygiene-, Wirtschafts-, Industrie-, Rechts-, Klimageschichte, Chemie). Im Zentrum aller Beiträge stand die Frage, wo die spezifische Historisierung der 'Umwelt' anzusetzen ist. Dabei sollten möglichst verschiedene Umwelt-Medien berührt werden: Wald und Boden, Luft, Energie. Die Sektion folgte zugleich in groben Zügen einer historischen Chronologie, in der Umwelt zugleich als Objekt und wandelbares Interpretament erscheint. Die „soziale Konstruktion des Waldes" im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert verweist auf einen fundamentalen Wandel in der Wahrnehmung der Wälder im Übergang vom landwirtschaftlichen Lebensraum zum Nutzholzlieferanten (Christoph Ernst). Daß die

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Wahrnehmung von Luft historischem Wandel unterliegt, offenbart die Analyse frühindustrieller Konflikte, welche das komplizierte Wechselspiel von Ökonomie, Umwelt und gutachtender Wissenschaft provozierten (Michael Stoiber^). Wie differenziert und intensiv auf Umweltprobleme bereits in der Phase der Hochindustrialisierung reagiert wurde, ist kaum bekannt und lädt ein zur Frage, warum nicht bereits im Deutschen Kaiserreich effektvolle politische Strategien zur Meisterung verwirklicht wurden (Fran^-Josef Rrüggemeiei). Die Sektion folgte zugleich der historischen Sequenz der wechselnden Energieträger Holz, Steinkohle und Erdöl. Ob in Planung und Anbau des Waldes, in wachsender, industriell bedingter Luftverschmutzung oder in massiver Ausdehnung von Umweltschäden in der Hochindustrialisierung oder in der extensiven Nutzung von Erdöl seit den 1950er Jahren: Allen Beiträgen wohnt die Frage nach einer eigenen, auf die Geschichte der Umwelt bezogenen Periodisierung inne. Die Auseinandersetzung mit dem '1950er Syndrom' spitzt diesen Aspekt zu (Christian Pßster).

Christoph Ernst (Trier)

Eine ökologische Revolution? - Der Umgang mit dem Wald (18./19. Jahrhundert) „Das neuerdings in dem Idar Waldt eingeführte Schlag-Weise-Schlagen ist ohngesäumt einzustellen". So lautete die unmißverständliche Anordnung des Reichskammergerichts, die am 18. Juli 1764 an die kurtrierische Regierung erging. In vier Jahren, so hatte der Anwalt der klagenden acht Hunsrückgemeinden argumentiert, werde der Wald „völlig umgehauen" sein. Man teilte an höchstrichterlicher Stelle diese Einschätzung und untersagte im Idarwald daher die Rodung der vor einigen Jahren eingerichteten Schläge, also der Bezirke, die nacheinander zu hauen waren. Über abgeholzte Wälder etwas zu erfahren und vielleicht auch über die Sorgen, wie sie zu schützen seien, das ist zu erwarten von einem traditionellen Forsthistoriker. Und in der Tat kam beides zur Sprache. Gleichwohl kreisten die Überlegungen nicht darum. Brennpunkt des Interesses war vornehmlich der Gegenstand eines Konflikts: die von den Reichsrichtern angesprochene Schlagwaldwirtschaft in Hunsrück und Eifel. Ein Waldbewirtschaftungsverfahren in den Mittelpunkt zu rücken bietet sich an, weil damit gezeigt werden kann, daß die Wälder keineswegs eine unveränderliche Umgebung der menschlichen Gesellschaft bildeten. Wie weit sie sich ausdehnen und wie sie beschaffen sind, zeugt vielmehr immer schon — wie auch heute noch — von menschlichen Einflüssen. Denn die Art und Weise, die Wälder zu bewirtschaften, bestimmte, wie dieser bedeutende, für den Historiker an ungenutzten Quellen reiche Teil der Kulturlandschaft geformt wurde; menschliche Interessen an der Waldwirtschaft und ihre Folgen verdichten sich also in der sogenannten „Holzzucht". Diese soziale Konstruktion des Waldes läßt sich immer dann präzise nachzeichnen, wenn Wandlungen eintreten. So gerieten qualitative und quantitative Veränderungen im Umgang mit dem Wald im 18. und 19. Jahrhundert in drei Bereichen in den Blick: Zunächst wurden die Konzeption der Schlagwaldwirtschaft und die Motive, die zu ihrer Ausarbeitung führten, dargestellt. Anschließend wurde die praktische Umsetzung der theoretischen Überlegungen erläutert. Der dritte Punkt befaßte sich mit den sozialen und ökologi-

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sehen Folgen, die bei der Anwendung des Verfahrens auftraten. Zeigen diese drei Untersuchungsfelder — Waldbewirtschaftungsverfahren, Anwendung und Folgen — Konturen einer ökologischen Revolution? Das war die Leitfrage, die abschließend erörtert wurde. Mit diesem Konzept erforscht die ausgewiesene amerikanische Umwelthistorikerin CAROLYN MERCHANT „[...] major transformations in human relations with non-human nature"; auch die Diskussion in Deutschland hat sich inzwischen dieser Thematik angenommen. Michael Stolberg (Cambridge/München)

Luftverschmutzung und Umweltexpertise am Beginn des Industriezeitalters

(1780-1860) Das verhältnismäßig junge Interesse der Geschichtsschreibung an der Umwelt gilt in besonderem Maße der historischen Genese heutiger Umweltprobleme. Der aktuelle Bezug birgt jedoch auch die Gefahr des Anachronismus. Es gilt, die Umwelt als Um-Welt von Menschen stets als Gegenstand der Diskurse und Praktiken einer spezifischen Kultur und Gesellschaft zu historisieren. Das Beispiel der Luftverschmutzung zeigt hier zunächst einmal anschaulich den herausragenden Einfluß zeitspezifischer Wahrnehmungsraster und Erklärungsmodelle. Nicht nur der Verbrennungsrauch aus Holz- und Kohlefeuerung und die Dämpfe aus einer wachsenden Zahl metallverarbeitender und 'chemischer' Betriebe wurden in der Zeit um 1800 als bedrohlich erlebt. Allenthalben, so die verbreitete Überzeugung, setzten auch organische Fäulungsprozesse todbringende Ausdünstungen frei. Diese 'Miasmen' aus Metzgereien und Gerbereien, Darmsaitenfabriken und Schindangern, aber auch aus Müll und Abwässern galten als entscheidende Ursache von Krankheiten und Seuchen. Die Uberzeugung von der Durchlässigkeit der Körpergrenzen steigerte das Gefühl der Bedrohtheit. Nicht nur über die Lunge, so glaubte man, sondern auch über die zahllosen Poren der Haut ströme die als flüssigkeitsähnlich erlebte Luft unablässig in und aus dem Körper. Chemiker verwiesen obendrein neuerdings auf die zusammengesetzte Natur der Luft und warnten vor einem gefährlichen Verbrauch von 'Lebensluft' im engen Raum der Städte mit ihrer anschwellenden Bevölkerung und den zahlreichen Feuerstätten. Die massiven Proteste, die sich vielerorts gegen neue luftverschmutzende Gewerbebetriebe richteten, zeigen ihrerseits in Form und Organisation mitunter erstaunlich 'moderne' Züge. Zusammenschlüsse interessierter Bürger im Sinne von Bürgerinitiativen, Unterschriftenlisten, Prozeßkostenfonds, massive Medienpräsenz, Gutachten und Gegengutachten lassen sich schon um 1800 nachweisen. Fallstudien zeigen jedoch gleichzeitig, in welch hohem Maße die konkrete Konfliktdynamik vor Ort zugleich Gegensätze spiegelt, die den unmittelbaren Konfliktanlaß weit transzendierten. Die zukünftige Wirtschaftsentwicklung stand hier im Einzelfall ebenso zur Debatte wie die Interventionsrechte des Staates, Spannungen zwischen landwirtschaftlichem und industriellem Sektor ebenso wie traditionelle Ressentiments zwischen Stadt und Land. Umweltkonflikte waren - und sind — stets zugleich und vor allem auch Interessen- und Wertekonflikte. Die Schlüsselrolle schließlich, die wissenschaftliche Experten heute im Umgang mit Umweltschäden und Umweltkonflikten innehaben, läßt sich in wesentlichen Zügen bis in

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das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Vor der Entstehung einer eigenständigen forstwirtschaftlichen Rauchschadensforschung waren es vor allem Hygieniker, die sich mit den Folgen der Luftverschmutzung beschäftigten. Unter dem Einfluß des aufklärerischen Gesundheitsideals formulierten sie die revolutionäre Forderung nach einem Recht des Bürgers auf saubere Luft. Die zunehmend heftigen Proteste vor allem gegen die verheerenden Säuredämpfe der jungen Sodaindustrie aber schufen neue politische Prioritäten. Unter maßgeblicher Mitwirkung von Wissenschaftlern wurden zunächst in Frankreich 1810 und bald auch in anderen Staaten allgemeine Genehmigungsgesetze für die Niederlassung luftverschmutzender Betriebe eingeführt. Sie erlaubten es, die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Dank der zentralen Stellung der Spezialisten im Entscheidungsprozeß wurde den betroffenen Bürgern jedoch zugleich zunehmend die Möglichkeit einer kompetenten Mitsprache verwehrt. Derart entmündigt blieb ihnen allenfalls die Möglichkeit, sich ihrerseits um Wissenschafder zu bemühen, die bereit waren, die Gefährlichkeit der Abgase für Gesundheit oder Vegetation zu bestätigen. Komplexe politische und wirtschafdiche Interessenkonflikte wurden so auf die Ebene einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung verlagert — und, soweit erkennbar, in der großen Mehrheit der Fälle zugunsten der Unternehmer entschieden.

Fran^-Josef Brüggemeier(Hannover) Wahrnehmung von Umweltproblemen im Zeitalter der Hochindustrialisierung

(1871-1918) Gegen Ende des Kaiserreichs besaßen die Debatten über Umweltprobleme einen Umfang und eine Qualität, die erst in den 1970er Jahren wieder erreicht wurden. Das betrifft nicht nur die Zahl der daran beteiligten Personen, Gruppierungen und Institutionen, sondern auch die Bandbreite der Argumente, den Stand der wissenschaftlichen Forschungen oder die Vielfalt der behandelten Aspekte. Es gab parlamentarische Kommissionen zur Untersuchung der wiederkehrenden Hochwasser oder des Fischbestandes der Nordsee, Sorgen um die Erschöpfung von Ressourcen; unzählige Beschwerden über Belastungen der Luft, des Wassers und des Bodens; neue Industriezweige, die Techniken und Apparaturen gegen die steigenden Belastungen anboten; eine Institutionalisierung und Professionalisierung bei Behörden, Verursachern und Geschädigten bis hin zur Bildung von Bürgerinidativen und der Herausgabe einschlägiger Zeitschriften. Im Bürgertum und in der Arbeiterschaft entstanden mit dem Bund Heimatschutz und den Naturfreunden eigene Organisationen, und mit dem sogenannten 'Drei-Tonnen-System' wurde versucht, die Abfälle der Haushalte möglichst komplett zu verwerten — um nur einige Aspekte zu nennen. Diese verschiedenen Elemente sind erst in Ansätzen erforscht und genaue Aussagen derzeit nur bedingt möglich. Gegenüber der heutigen Umweltbewegung scheinen jedoch vor allem folgende Unterschiede bestanden zu haben: a) Trotz der vielfältigen Ansätze und eines Wissens um Interdependenzen hat die Vorstellung ökologischer Kreisläufe und davon abgeleiteter Konzepte oder Forderungen noch keine Rolle gespielt; b) die verschiedenen Gruppierungen und Ansätze haben nebeneinander bestanden und nur ausnahmsweise zueinander gefunden; c) trotz ihrer Vielfalt und Breite haben sie keine große Bedeutung erlangt. Für diese Merkmale gibt es zahlreiche Gründe, die teilweise bekannt sind: so die

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Erwartung, durch Wissenschaft und Technik wirksame Lösungen zu finden und/oder die Belastung durch Verteilung und Verdünnung deutlich zu mindern, das weitgehende Fehlen überzeugender Alternativkonzepte, indem etwa der bürgerliche Heimatschutz romantisierende Vorstellungen einer idyllischen Vergangenheit vertrat, oder das größere Gewicht sozialer und politischer Konflikte. Wichtig war allerdings auch, daß Umweltprobleme noch kein allgemeines Phänomen darstellten. Sie waren vielmehr weitgehend auf die industrialisierten Gebiete beschränkt und selbst hier nicht gleichmäßig verteilt, sondern betrafen vor allem die unteren sozialen Schichten, während sie von den besseren, bürgerlichen Stadtteilen und Orten zunehmend ferngehalten wurden. Neben die Verteilung und Verdünnung trat somit eine Politik der Lokalisierung bzw. Regionalisierung von Umweltbelastungen. Mit einer gewissen Berechtigung konnte erwartet werden, daß deren Auswirkungen sich auf diese Weise zwar nicht ganz vermeiden, aber doch eingrenzen ließen, so daß die politische Brisanz der Umweltprobleme deudich reduziert wurde. Hinzu kam ein weiterer Faktor: die Schwierigkeit, etwas gegen Entscheidungen von Behörden zu unternehmen. Dieser Hinweis klingt sehr technisch, doch tatsächlich besaßen die Behörden eine zentrale Bedeutung, da sie belastende Betriebe genehmigten und überwachten und in der Praxis allein sie gegen Emittenten vorgehen konnten. Privatpersonen besaßen lediglich die Möglichkeit, bei einer Schädigung von Eigentum etwas zu unternehmen, und waren selbst dann darauf beschränkt, Schadenersatz zu verlangen. Eine Gefährdung der Gesundheit oder einen Schutz der Natur konnten sie nicht geltend machen. In diesen Fällen waren allein die Behörden zuständig, und Privatpersonen konnten lediglich Beschwerde gegen deren Entscheidungen einlegen, diese hingegen nicht gerichdich überprüfen lassen. Hieraus ergaben sich mehrere Konsequenzen. Bei den frühen Auseinandersetzungen um Emissionen spielten Hinweise auf Natur, Ästhetik oder Gesundheit noch eine Rolle. Sie wurden jedoch von den Behörden abgeblockt, so daß sich die Bandbreite der Argumente verengte und nur noch materielle Schäden geltend gemacht wurden. Zugleich verengte sich die soziale Basis der Proteste, da nur Eigentümer — und das waren in der Regel Angehörige des Bürgertums — die Möglichkeit einer Klage besaßen. Und schließlich konnten aufkommende Proteste keine Dynamik entfalten, sondern wurden im Keim erstickt — im Gegensatz zu heutigen Konflikten. Wohl alle großen Umweltauseinandersetzungen der letzten Jahre wurden vor Verwaltungsgerichten ausgetragen. Ohne die Möglichkeit, Entscheidungen von Behörden gerichtlich überprüfen zu können, hätten sie eine viel geringere Bedeutung erlangt. Damit ist nicht gesagt, daß eine bessere Kontrolle über Entscheidungen von Behörden im Kaiserreich zu einem ganz anderen Umweltbewußtsein geführt hätte. Doch zugleich ist zu betonen, daß hier ein wichtiger Faktor dafür bestand, daß die vorhandenen Ansätze sich nicht weiterentwickelt oder eine eigene Dynamik entfaltet haben. Es gab institutionelle Schranken des (Umwelt-)Bewußtseins, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann.

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Christian Pßster (Bern)

Energiepreis und Umweltbelastung. Die Bedeutung des '1950er Syndroms' für die Periodisierung der Umweltgeschichte und als Argument für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik 1. Die „langen Fünfziger Jahre"— eine umweltgeschichtliche

Fundamental^äsur?

Zur Beurteilung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses bietet sich das unscharfe Konzept der 'nachhaltigen Entwicklung' an. Gemeinsamer Kern ist die Rücksichtnahme auf die Erhaltung des natürlichen Funktionssystems aus einer generationenübergreifenden Perspektive. In der politischen Realität wird Nachhaltigkeit inhaltlich unterschiedlich gefüllt, je nach gruppen- und interessenspezifischer Umweltrationalität. Betrachten wir globale Umweltindikatoren (z.B. Verbrauch an fossilen Energieträgern, Konzentration von Treibhausgasen), so zeigt sich, daß die Periode seit der Industrialisierung in zwei Abschnitte mit stark unterschiedlicher Wachstumsdynamik zerfällt, deren Nahtstelle die 1950er Jahre bilden. Der beschleunigte Verlust an Nachhaltigkeit seit der Jahrhundertmitte ('1950er Syndrom'), so die Prämisse, trägt längerfristig bedrohlichen Charakter. In Westeuropa wurde die Wachstumsbeschleunigung vom langen Boom der Nachkriegszeit getragen, den AMBROSIUS und KAELBLF. (1992) als eine Epoche grundsätzlicher Weichenstellungen betrachten, die unsere heutige Gesellschaft prägen. Anhand von nationalen Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt, der Entwicklung der Reallöhne, dem Flächenbedarf von Siedlungen, dem Bestand an Personenwagen, dem Verbrauch an fossilen Energieträgern, dem Volumen der Siedlungsabfälle etc. wird postuliert, daß die „Langen 1950er Jahre" (ABF.I.SHAUSER) eine (umweltgeschichtliche) Epochenschwelle darstellen, die in ihrer Bedeutung mit dem Beginn der industriellen Revolution zu vergleichen ist. Diese These wäre national und regional (z.B. mit Blick auf das Ruhrgebiet) zeitlich und inhaltlich zu differenzieren. 2. Der Wandel der Produktions- und Lebensweise Das amerikanische Modell der Konsumgesellschaft mit seiner Trias von Automobilismus, Suburbanisierung und Haushaltstechnologie wurde von der westlichen Führungsmacht als Leitbild propagiert und in Westeuropa von einem breit abgestützten Modernisierungskonsens getragen. Der sich entfaltende technologische Stil des neuen Gesellschaftsmodells (BORNSCHIER) verdrängte die Kohle als Schlüsselenergieträger zugunsten des Erdöls und förderte die preissenkende Massenproduktion langlebiger Konsumgüter (Auto als Schlüsselprodukt). Das darauf bezogene politökonomische Regime schuf günstige Rahmenbedingungen für den wirtschafdichen Aufschwung: feste Wechselkurse, Abbau der Zölle, Marshallplan, Entschärfung des Lohndrucks durch Tarifabsprachen, keynesianische Globalsteuerung der Wirtschaft, Ausbau des sozialen Sicherungsnetzes, demokratisch abgestützte Legitimität der Systeme. Der bis nach dem Zweiten Weltkrieg fortbestehende traditionelle Sektor der Wirtschaft (Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe, Einzelhandel, Haushalte) mit seiner familienwirtschafdichen, partiell auf Deckung der Grundbedürfnisse ausgerichteten Logik wurde in den folgenden zwei Jahrzehnten durch den nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisierten modernen Sektor der Wirtschaft aufgesogen und dem dort herrschenden Zeit- und Rationalisierungsdruck unterworfen. Damit ging die Tradition eines schonenden Umgangs mit der Natur verloren ( L U T Z ) .

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3. Die Verbilligung der Energie und die Herausbildung energieintensiver Produktions- und Lebensstile Als Folge einer übergroßen Zunahme und starken Diversifikation des Angebots (u.a. durch das Auftreten der Sowjetunion als Großanbieter) gingen die Ölpreise von 1958 an langfristig zurück. Für den wirtschaftlichen Aufschwung war dies — zumindest in der Schweiz — von untergeordneter Bedeutung. Dagegen wird postuliert, daß die langfristige Verbilligung der fossilen Energieträger (relativ zu den vielen Verbrauchsgütern und den Löhnen) die Übernahme energieintensiver Produktions- und Lebensstile förderte: — Einmal durch eine Zunahme des Energieeinsatzes in der Produktion und im Konsum auf Kosten des Faktors Arbeit(szeit). Im Alltag werden etwa wesentlich längere Fahrstrecken auf der Autobahn oder Flugreisen in Kauf genommen, wenn dadurch Zeit gewonnen werden kann. - Zweitens durch den Verzicht auf die (Weiter-)entwicklung respektive auf die Übernahme energiesparender Technologien. Energiesparende Technologien verbessern das Verhältnis zwischen dem (umweltrelevanten) Primärenergieeinsatz und den (konsumrelevanten) Energiedienstleistungen. Inwieweit die beiden 'Energiekrisen' von 1973 und 1979/80 hier ein vorübergehendes Umdenken und Umhandeln eingeleitet haben, müßte weiter untersucht werden. 4. Fafçit Die These des '1950er Syndroms' enthält zwei Elemente: 1. postuliert sie mit den 1950er Jahren eine Schwelle, welche unsere Zeit von weniger zerstörungsdynamischen Evolutionsformen des Mensch-Umwelt-Verhältnisses trennt, 2. betrachtet sie den langfristigen Rückgang der relativen Energiepreise als eine der wesentlichen Triebkräfte, die zur heutigen ökologischen Fehlentwicklung geführt haben.

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25. Deutsche 'Ostforschung' — Ihre Bilder und Vorstellungen von der Geschichte des polnischen Nachbarn (1918-1989) Leitung: Eduard Mühle (Marburg) Eduard Mühle (Marburg): Einführung in die Fragestellung Norbert Kersken (Marburg): Bilder und Vorstellungen deutscher 'Ostforschung' zu Fragen der mittelalterlichen Geschichte Polens Michael G. Müller (Halle): Bilder und Vorstellungen deutscher 'Ostforschung' zu Fragen der frühneuzeidichen Geschichte Polens Hans-Henning Hahn (Oldenburg): Bilder und Vorstellungen deutscher'Ostforschung' zu Fragen der neuzeitlichen Geschichte Polens Wlod^imier^ Borodiçiej (Warszawa): Deutsche Ostforschung' aus der Sicht des polnischen Nachbarn Veröffentlichungshinweis·. Die überarbeiteten Fassungen der Referate werden in der vom Herder-Institut Marburg herausgegebenen Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 46,1997, erscheinen. Kaum eine andere historische Teildisziplin ist im 'Zeitalter der Ideologien' in so hohem Maße mit wissenschaftsexternen politischen Anforderungen konfrontiert worden wie die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem östlichen Europa. Angesichts eines sich in Krisen und Kriegen, Staatsuntergängen und Staatsgeburten, Völkervernichtungen und Völkervertreibungen, einer Systemkonfrontation zwischen Kaltem Krieg und Entspannung überschlagenden Gangs europäischer Geschichte war Geschichte vom östlichen Europa wie wenig andere „Geschichte als Argument". Schon aus dem Erbe des nationalstaatlichen Denkens des 19. Jahrhunderts mit einer engen Verflechtung von politischem und historischem Denken belastet, war der historiographische Blick auf das östliche Europa im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder mehr oder minder starker politischer Instrumentalisierung ausgesetzt. Das galt in besondererWeise für die Geschichte des unmittelbaren polnischen Nachbarn und der Zone deutsch-polnischer Geschichtsüberschneidung in den historischen deutschen Ostgebieten. Nach dem Ersten Weltkrieg mit den Grenzziehungen des Versailler Vertrages zu höchster Aktualität gesteigert, wurde die Geschichte dieses Teils des östlichen Mitteleuropa zu einem klassischen historiographischen Zankapfel, zu einem immer schärfer zugespitzten „Argument" im politischen Tageskampf, das der Nationalsozialismus dann in mörderischer Weise in politische Aktion umsetzte. Aber auch nach 1945 blieb Historie vom östlichen Mitteleuropa im Zeichen von Antikommunismus, Vertriebenenschicksal und

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Kaltem Krieg sowie marxistisch-leninistischer Geschichtsdeutung von politischen Tagesinteressen nicht unbeeinflußt. Welche Fragestellungen und Paradigmen, Interpretamente und methodischen Ansätze bestimmten vor diesem Hintergrund jene Richtung der Ostmitteleuropahistorie, die sich seit den 1920er Jahren bis weit in die bundesrepublikanische Nachkriegszeit hinein selbst als 'Ostforschung' bezeichnete? Mit Blick auf die „Bilder und Vorstellungen", die sich 'Ostforschung' von der Geschichte des polnischen Nachbarn gemacht hat, unternahm die Sektion in einer traditionskritischen Reflexion den Versuch, Antworten auf diese Fragen zu geben. In der historiographiegeschichtlichen Einordnung der Ostforschung' ging es dabei nicht um vordergründige Ideologiekritik, sondern um eine Erörterung ihrer wissenschaftlichen Inhalte, deren Bedeutung und Wirkung sowie Wandlungen im Prozeß der 'Verwissenschaftlichung'. In seinem Einführungsreferat unternahm Eduard Mühle (Marburg) dazu zunächst den Versuch einer Definition von 'Ostforschung', wie sie in Abgrenzung zum Fach „Osteuropäische Geschichte" einerseits, zur „ostdeutschen Landesgeschichte" andererseits hervortrat. Ostforschung' ließ sich dabei als ein Forschungskonzept bezeichnen, dessen erkenntnisleitende Interessen - in hohem Maße außerwissenschaftlichen politischen Einflüssen verpflichtet — in einer völkisch-nationalen Verengung nahezu ausschließlich auf den deutschen Anteil an der Geschichte Ostmitteleuropas ausgerichtet waren. Inwieweit 'Ostforschung' darüber hinaus auch durch die Merkmale „methodische Innovation" und „gegenwartskundliche Orientierung" gekennzeichnet war, wurde zur Diskussion gestellt. Anhand einer Analyse einschlägiger Fachzeitschriften gab die Einführung zudem einen kursorischen Überblick über das Themenspektrum und die Fragestellungen der 'Ostforschung' und vermittelte damit einen ersten Eindruck von der Stellung, die polnische Geschichte im Blickfeld der 'Ostforschung' eingenommen hat. Dieser allgemeine Zugriff wurde in drei Referaten für das Mittelalter von Norbert Kersken (Marburg), die Frühe Neuzeit von Michael G. Müller (Halle) und die Neuzeit von Hans-Henning Hahn (Oldenburg) im einzelnen konkreter ausgeführt. Der im Zentrum der Sektionsdiskussion stehenden Frage nach den Bildern und Vorstellungen, die sich 'Ostforschung' von polnischer Geschichte in den jeweiligen Epochen gemacht hat, näherten sich die Referenten dabei in recht unterschiedlicher Weise. Norbert Kersken unternahm den Versuch einer quantitativen Gesamtbestandsaufnahme dessen, was Ostforschung' bis zum Jahr 1970 zum polnischen Mittelalter zu sagen hatte, um auf dieser Basis zu qualitativen Aussagen zu gelangen. Seine eingehende Musterung des thematischen Spektrums, des wissenschaftlichen Standorts und der Spezifik des mediävistischen Diskurses, wie sie die von ihm erfaßten Beiträge der 'Ostforschung' zur mittelalterlichen Geschichte Polens erkennen lassen, machte es ihm schwer, „hier wissenschaftlich und methodisch Anregendes oder Bleibendes zu benennen". Auch MichaelG. Müller.; der sich bei seiner Betrachtung der Paradigmen und Interpretamente der Ostforschung' zu Fragen frühneuzeitlicher Reformations- und Ständegeschichte auf wenige exemplarische Texte konzentrierte, betonte die „Entwissenschaftlichung" bzw. „Entprofessionalisierung", die 'Ostforschung' seit den 1930er Jahren immer stärker zu kennzeichnen begannen. Am Beispiel der Habilitationsschrift Theodor Schieders zeigte er, wie eine a priori negative Einstellung der Ostforschung' zum Gegenstand 'polnische Geschichte'

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den Betrachtungshorizont und damit die eigenen Erkenntnismöglichkeiten schon im Ansatz spezifisch eingeschränkt hatte. Der problematische Charakter der 'Ostforschung' beschränkte sich danach keineswegs auf eine kompromittierende anti-polnische Vorwort-Rhetorik, sondern manifestierte sich darüber hinaus auch in Blickverengungen und -Verzerrungen, die bereits im methodischen Ansatz der 'Ostforschung' angelegt waren. Indem sie die völkisch-nationalen Kategorien der 'Volksgeschichte' zum analyseleitenden Prinzip erhob, habe sich 'Ostforschung' nicht nur den Weg zu angemessenen Interpretationen verbaut, sondern eigentlich schon von vornherein die Formulierung ergiebiger Fragen ausgeschlossen. So habe sie letztlich nur ein „essentiell deformiertes Bild vom frühneuzeitlichen Polen" hervorbringen können, das sich zudem als erstaunlich beharrlich erwiesen und bis in die jüngste Vergangenheit reproduziert habe. Daß die von der 'Ostforschung' geprägten Bilder und Vorstellungen zur polnischen Geschichte mit deren Endarvung als ideologisch instrumentalisiert nicht sogleich verschwanden, vielmehr weiterhin wirksam und „ungeheuer resistent" waren, hob auch Hans-Henning Hahn hervor. In seiner stärker ideologiekritischen Analyse der polidkgeschichtlichen Interpretationen deutscher 'Ostforschung' zur polnischen Geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert fragte er daher nicht zuletzt nach den mentalitäts- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen bzw. Faktoren, die 'Ostforschung' in ihrer Wirkung ermöglichten. In ihren unterschiedlichen Akzentuierungen ergänzten sich die drei Referate nicht nur gegenseitig, sondern gaben auch den Anstoß zu einer lebhaften, teilweise kontroversen Diskussion, an der sich nicht wenige der rund 200 Sektionsteilnehmer aktiv beteiligten. Diskutiert wurde dabei u. a. die Frage, inwieweit die politische Regressivität der 'Ostforschung' zwangsläufig 'wissenschaftliche Ertraglosigkeit' zur Folge haben mußte oder sie nicht trotz und entgegen ihrer politischen Instrumentalisierung in Teilen auch weiterführende wissenschaftliche Ergebnisse hervorgebracht hat. Im Ergebnis wurde diese Frage eher verneint und dabei auch die These zurückgewiesen, daß von der 'Ostforschung' als einem Teil der 'Volksgeschichte' langfristig methodisch innovative Impulse ausgegangen seien. Vor diesem Hintergrund wurden dann insbesondere die Phasen und Elemente jener 'Verwissenschafdichung' erörtert, in deren Verlauf 'Ostforschung' nach 1945 in einem gestreckten Prozeß letztlich erfolgreich von einer erneuerten Ostmitteleuropahistorie abgelöst wurde. Ein zutreffendes Bild von der deutschen 'Ostforschung' läßt sich nicht gewinnen, ohne ihr ostmitteleuropäisches, insbesondere ihr polnisches Pendant — die polnische 'Westforschung' — zu berücksichtigen. Beide Richtungen waren in entscheidendem Maße sich wechselseitig bedingende Phänomene und können in ihrem Wesen insofern nur zusammenbetrachtet voll verstanden werden. In einem fünften Referat behandelte daher Wlod^imu^ Borod^iej (Warszawa) die Rezeption der Bilder und Vorstellungen der deutschen Ostforschung' von polnischer Geschichte in der polnischen Historiographie und ihre Rückspiegelung in der polnischen 'Westforschung'. Eduard Mühle

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26. Geschichtsdiskurse und Geschichtsbilder im tschechisch-deutschen Dialog Leitung: Ferdinand Seibt (München) Ferdinand Seibt (München): Einleitung Rudolf Vierhaus (Göttingen): Die schwierigen deutsch-tschechischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert und offene Fragen in der Arbeit der deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission 1990-1996 Heidrun Dolevi (Göttingen): Eine ungleiche Nachbarschaft im Schulbuch 1980—1996: Akzente und Lücken Peter Heumos (München) : Zur Tschechoslowakei-Forschung in der BRD Jan Kien (Prag): Der Streit um den Sinn tschechischer Geschichte. Entfaltung, Entwicklung, Entäußerung Ferdinand Seibt (München)

Einleitung Die Sektion hatte es sich zur Aufgabe gemacht, im Rahmen und mit den gegebenen Möglichkeiten auf die Arbeiten deutscher, slowakischer und tschechischer Historiker zur Geschichte der böhmischen Länder und der Slowakei hinzuweisen und dabei die wissenschaftliche Öffentlichkeit vornehmlich mit zwei Institutionen bekannt zu machen, die im amtlichen Auftrag das Thema wahrnehmen: der Deutsch-tschechisch-slowakischen Historikerkommission, 1990 durch die beiden Außenminister berufen, und der Internationalen Schulbuchkommission, betreut seit Jahrzehnten durch das Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Überdies war auch noch Gelegenheit, die Arbeit des Münchner Collegium Carolinum in Erinnerung zu bringen, ein vom Freistaat Bayern seit Jahrzehnten gefördertes Institut, das durch seine Publikationen und Tagungen zum Thema bekannt ist. Vornehmlich aber galt es, eine Broschüre vorzustellen, mit der die Arbeit der genannten Deutsch-tschechisch-slowakischen Historikerkommission einem immer wieder geäußerten Bedürfnis nachgehen wollte: eine gemeinsame zweisprachige Broschüre, die skizzenhaft den Gang der deutsch-tschechisch-slowakischen Geschichte nachzeichnet, um in dieser Form sozusagen 'ad verbum' gemeinsame Einsichten bekannt zu machen. Dementsprechend war aber ein solcher Gang auch zu erläutern. Einer der vier Vorträge diente der Arbeit der Historikerkommission in der Sicht des deutschen Vorsitzenden Rudolf Vierhaus (Göttingen), ein zweiter seines tschechischen Kollegen Jan Kren (Prag) sollte die tschechische Auffassung der Aufgaben und Leistungen der Kommission vorführen. Für das Collegium Carolinum referierte Peter Heumos den Forschungsstand zur neuesten deutsch-

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tschechischen Zeitgeschichte, und Heidrun Oole^el (Göttingen) berichtete anhand eines Vergleichs vom Stand der historischen Aussagen in der Schulbuchliteratur. Wenn man erklärt, was die Sektion für ihr Anliegen unternahm, ist es vielleicht nicht abwegig auch davon zu sprechen, was sie zu tun für weniger opportun hielt. Es wäre nämlich gar nicht schwer gewesen, aus dem in der Öffentlichkeit zum guten Teil unbekannten Forschungsbetrieb über die deutsch-tschechischen Beziehungen einzelne Beispiele vorzuführen. Man hätte in jedem Fall eine Erweiterung des Fachhorizonts der Zuhörer erhoffen können. Es wäre auch möglich gewesen, am böhmischen Exempel, am Beispiel der Vertriebenenschicksale oder im Zusammenhang mit der Biographie und den Arbeitsgängen tschechischer Dissidenten ein sehr buntes Programm unter neuen methodischen Gesichtspunkten zu bestreiten: Gesellschaftsgeschichte, wie sie gerade in einer Region soziokultureller Mischungen und Verbindungen sich aufspüren läßt, weil über die Jahrhunderte hin ethnische, rechtsgeschichtliche, religiöse und sprachliche Trennungslinien eine geographische Gemeinschaft in besondere Differenzierungen teilten. Man hätte ebenso das Wachstum bedeutsamer Kulturtechniken im Zusammenhang mit dem Transfer europäischer Identität von seinen südalpinen und nordfranzösisch-flämischen Zentren im Widerhall der böhmisch-mährischen Gegebenheiten beobachten können. Auch das vermag exemplarisch zu gelten für europäische Fragestellungen, ähnlich wie die Verbreitung religiöser, ständischer, sprachnationaler Bewegungen, die sich dem europäischenVergleich mit großer Anschaulichkeit einfügen ließen. Es kennzeichnet das Stadium der wissenschaftlichen Begegnung, daß statt dessen eine gewisse Bilanzierung von gemeinsamen Einsichten und noch offenen Lücken erstrebt worden ist. Gerade diesem Anliegen gilt auch die Einrichtung der regierungsoffiziellen Historikerkommission. Vergleichbares ist in der gesamten deutschen Nachbarschaft in der Nachkriegszeit nicht unternommen worden, wiewohl die deutsch-französische und auch die deutsch-polnische Geschichtswissenschaft womöglich ein besonderes Bedürfnis danach gehabt hätten. Die deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen sind durch die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staatswesens 1938 und die folgende Okkupation Böhmens und Mährens, durch die Errichtung eines Satellitenstaates in der Slowakei und schließlich durch die Vertreibung aller Deutschen nach Kriegsende mit allen in dieser wie in jener Zeit begangenen Greueltaten noch heute aufs äußerste belastet. Die mehr als 40jährige kommunistische Indoktrination weiter Bevölkerungsteile, die Unterbrechung aller Diskussionen darüber in wissenschaftlichen und populären Medien, auch die mangelnde deutsche Auseinandersetzung mit dem gesamten Themenkreis der Vertreibungen vor und nach 1945 und ihrer Massenverbrechen hinterließ unter wechselnden Umständen auf jeder Seite der Grenze einen großen Raum von Unwissenheit und Vorurteilen. Er läßt sich nicht einfach durch Geduld und den stillen Gang wissenschaftlicher Arbeit ausfüllen. Er verdient eine besondere Präferenz in der historischen Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen, vornehmlich im Bereich neuer Methoden, Perspektiven und ihrer Fortentwicklung, und das namentlich im europäischen Zusammenhang. Ebenso aber gilt es, durch beiderseits anerkannte Einsichten die breitere Kenntnis zu fördern, und dazu bietet sich nun einmal die Publikation gemeinsamer, mehrsprachiger Synthesen und besonders die Schulbuchanalyse an. Es gab im außerrussischen Europa keine zahlenstärkere und eingehendere ethnische Mischung und keine enger verzahnte Nachbarschaft als die deutsch-tschechische in den

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böhmischen Ländern. Dazu trat eine hierin besonderem Maß am Kultur- und Wirtschaftsleben beteiligte und am Emanzipationsprozeß sich selbst profilierende jüdische Einwohnerschaft sowohl deutscher als auch tschechischer Zunge, namendich in der Hauptstadt Prag, aber auch im kleinstädtischen Milieu. Die kulturelle wie die wirtschaftliche Intensität im gesamten böhmisch-mährischen Raum, die sich nicht vom benachbarten deutschen Entwicklungsniveau unterschied, dazu die eigenständigen europäischen und die besonderen deutschen Beziehungen, schließlich der Einschluß in den Großraum der habsburgischen Monarchie über Jahrhunderte haben die böhmischen Länder zu einem besonders aufschlußreichen Studienobjekt werden lassen. Die Überwindung von durch Leid und Tod gefestigten Vorurteilen in einem schwierigen menschlichen Reifeprozeß zu unterstützen muß als ein besonderes Anliegen der fachlich geschärften und menschlich geläuterten tschechischen wie slowakischen und deutschen Geschichtswissenschaft gelten. Rudolf Vierhaus (Göttingen)

Die schwierigen deutsch-tschechischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert und offene Fragen in der Arbeit der deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission 1990-1996 Die 1990 durch den deutschen und den tschechoslowakischen Außenminister berufene Historikerkommission hat einen politischen Auftrag, nämlich „die gemeinsame Geschichte der Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen und zu bewerten". Inzwischen gibt es eine deutsch-tschechische und eine deutsch-slowakische Kommission, die bisher jeweils gemeinsam getagt haben; die deutschen Mitglieder gehören beiden Kommissionen an. Die Kommissionen arbeiten jedoch ohne politische Vorgaben. Sie sind unabhängige wissenschaftliche Gremien, die das deutsch-tschechische und das deutsch-slowakische Verhältnis seit dem 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung seiner historischen Belastungen mit der Absicht diskutieren und interpretieren, damit einen Beitrag zur Verständigung zwischen den drei benachbarten Völkern zu leisten. Sie gehen dabei von der Uberzeugung aus, daß eine solche nur in Kenntnis der tatsächlichen Geschichte und nur dann möglich ist, wenn der verhängnisvolle Verlauf dieser Geschichte erklärt und ein aufrichtiger Umgang mit ihr erreicht wird. In Arbeitssitzungen und Symposien unter Beteiligung von eingeladenen kompetenten Referenten - ihre Erträge werden in deutscher und in tschechischer bzw. slowakischer Sprache veröffendicht - wird einerseits der gegenwärtige Stand der Forschung präsentiert, andererseits soll weitere Forschung angeregt werden. Gibt es doch erhebliche Bereiche, in denen es auf allen Seiten an hinreichender und neuer Forschung mangelt. Dafür sind die Voraussetzungen, insbesondere für die Zeitgeschichte, erst nach der politischen Wende von 1989/91 gegeben. Bei weitgehenden Übereinstimmungen in der Beurteilung der Geschichte des Verhältnisses der drei Völker gibt es - wie könnte es anders sein — in der Forschung wie auch in den Kommissionen unterschiedliche Bewertungen und unterschiedliche Vorstellungen und Auffassungen darüber, wie historische Ereignisse, Prozesse, politische Entscheidungen und

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handlungsbestimmende Interessen, über deren Realität kein Dissens besteht, dargestellt werden sollen. Diese Unterschiede völlig ausräumen zu wollen kann nicht die Absicht der Kommissionsarbeit sein; es gilt, sie kritisch zu diskutieren, zu überprüfen und, wo sie bestehen bleiben, zu begründen. Im Zentrum der Arbeit der deutsch-tschechischen und der deutsch-slowakischen Historikerkommission steht die Zeit von 1918 bis 1989, insbesondere die Zeit von 1938 bis 1947. Dennoch werden der „Anschluß" des Sudetengebietes, die Zerschlagung der „Rest-Tschechei" und die deutsche Herrschaft im sog. „Protektorat" Böhmen-Mähren im Zusammenhang längerer Entwicklung gesehen. Das ist schon deshalb unumgänglich, weil die Beurteilung dieser Zeit nicht nur in der politischen Öffentlichkeit derCSR, der DDR und der BRD stark divergierte und in derCSR wie der DDR politischen Sprachregelungen unterlag, in der BRD durch die Vertretung kontroverser Rechtspositionen und Wiedergutmachungsansprüche beeinflußt wurde — und wird. Auch für die wissenschaftliche Interpretation bieten die Vorgänge dieser Jahre noch beträchtliche Schwierigkeiten. So werden u.a. die Chancen einer friedlichen Lösung der Nationalitätenproblematik in derCSR ohne die Intervention des nationalsozialistischen Deutschland unterschiedlich beurteilt; dasselbe gilt für die Interpretation des Anteils der tschechoslowakischen Exilregierung an der Vorbereitung der Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Bewertung der Anlässe, Motive und Formen der Vertreibung, ihrer Rechtfertigung und nachträglichen Sanktionierung. Für eine übereinstimmende Bewertung des Umfangs der Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen, also der Opfer und der Verluste, aber auch der Tschechen und der Juden zunächst in dem „angeschlossenen" Sudetengebiet, dann im Protektorat, ebenso der langfristigen wirtschaftlichen Folgen der deutschen Herrschaft und der Vertreibung der Deutschen für die CSR mangelt es nicht nur noch an gesicherten Daten und Zahlen, sondern auch an einheitlichen Kriterien. Schließlich bietet die Nachkriegsentwicklung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik, der DDR und der CSR zahlreiche Probleme, die eine einheitliche Beurteilung noch kaum zulassen. Und daß die geschichtlichen Erfahrungen von Deutschen, Tschechen und Slowaken seit dem 19. Jahrhundert, ihre kulturelle, soziale und politische Bewußtseinsentwicklung und deren Konsequenzen für die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens in einem Staate in mancher Hinsicht verschieden interpretiert werden, ist nur zu verständlich. Wenn in der Politik gefordert und daran gearbeitet wird, unter die aus der Vergangenheit resultierenden Belastungen des Verhältnisses der Völker einen „Schlußstrich" zu ziehen, damit diese Belastungen die gegenwärtige und künftige Gestaltung der Beziehungen nicht länger behindern, dann muß die Geschichtswissenschaft darauf insistieren, daß Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden kann, daß Einzelne wie ganze Völker sich der Geschichte nicht entziehen können, weil diese die Gegenwart mitbestimmt. Eine stabile Verständigung ist nur auf dem Boden der Kenntnis und Anerkennung des tatsächlichen Geschehens und der Bereitschaft zur kritischen Überprüfung der vorherigen Deutung des Geschehens möglich. Einen formellen „Schlußstrich" kann man in offiziellen Erklärungen, Vereinbarungen und Verträgen ziehen und in der praktischen Politik davon ausgehen. Das kann sich als wichtiger Schritt auf dem Wege der Verständigung erweisen. Ihr Gelingen aber setzt auch die Verständigung über den Umgang mit der Geschichte voraus. Die deutsch-tschechische und -slowakische Geschichte in ihrer Tatsächlichkeit ist

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gegeben und steht nicht zur Disposition; ihre Interpretation und der politische Umgang mit ihr ist eine Aufgabe, an deren Bewältigung sich die politische Kultur der Nationen erweist. Was die Geschichtswissenschaft dazu beitragen kann, darf nicht überschätzt werden. Wenn nationale Empfindlichkeiten, alteingewurzelte Vorurteile, legitimatorische Geschichtsbilder durch die aufklärende kritische Arbeit der Geschichtswissenschaft in Frage gestellt werden, wird diese sich allenfalls langfristig durchsetzen. Viel ist schon dann erreicht, wenn Annahmen und Darstellungen, die durch die Forschung widerlegt oder als einseitig nachgewiesen sind, aufgegeben werden, wenn eindeutig festgestellte historische Tatsachen als solche anerkannt werden, auch wenn über ihre Beurteilung (noch) kein Konsens besteht, wenn ein Bewußtsein dafür geweckt wird, daß die Geschichte nicht als Reservoir für interessenbestimmte gegenwärtige Argumente, Anklagen und Rechtfertigungen, Ansprüche und Forderungen mißbraucht werden sollte. Nicht immer wird die Forschung zu eindeutigen Ergebnissen gelangen, weil dafür die Quellengrundlage nicht ausreicht. Das gilt u.a. für die Zahlen von Opfern und Verlusten. Aber sie kann die Kriterien der Datenerhebung, die Methoden der Zählung und der Interpretation benennen und sagen, was allenfalls und mit einem relativen Grad von Sicherheit gesagt werden kann. Und wenn die Frage, ob es in der Entwicklung des deutsch-tschechischen Verhältnisses in diesem Jahrhundert andere Möglichkeiten gegeben hätte, zwar gestellt werden sollte, aber nicht zu beantworten ist, dann müssen doch Gründe und Ursachen genannt werden, warum sie so katastrophal verlaufen ist. Das versucht die Historikerkommission.

Heidrun Ό olerei (Göttingen)

Eine ungleiche Nachbarschaft im Schulbuch 1980-1996: Akzente und Lücken Seit der vor 20 Jahren von Ferdinand Seibt angeregten, 1980 publizierten ersten Untersuchung bundesdeutscher und tschechoslowakischer Schulbücher zur Geschichte hat sich auf beiden Seiten ein beachtlicher Wandel vollzogen. War die deutsch-tschechische Nachbarschaft bereits in den bundesdeutschen Nachkriegsschulbüchern sehr vernachlässigt worden, so wurde dieses Thema durch die Reform unseres Geschichtsunterrichts (und damit auch der Unterrichtswerke) in den 80er Jahren nahezu vollends aus den Lehrbüchern verdrängt. Der auf der Vermittlung von Fakten basierende, chronologisch geordnete Geschichtsdurchgang alter Art wird seither durch die Gliederung des Stoffs nach Themen, Strukturen und Prozessen abgelöst, soziale Gruppen, Wirtschafts- und Theoriefragen stehen im Vordergrund, manche Themen werden nur mehr exemplarisch behandelt, die moderne Geschichte nach 1789 hat Vorrang. Dies hat zur Konsequenz, daß nun die Geschichte der tschechischen Nachbarn in den meisten bundesdeutschen Schulbüchern nicht einmal marginal wahrgenommen wird; in der Regel fällt lediglich im Zusammenhang mit den Ereignissen der Jahre 1938/39 ein schmaler Lichtstrahl auf die CSR. Über die innerböhmische Symbiose beider Völker enthalten die deutschen Lehrbücher kaum nennenswerte Informationen. Auf die wesendichen Kapitel ihres Beginns im Zuge der mittelalterlichen Ostbewegung, deren Nachwirkungen doch bis heute spürbar sind, gehen die deutschen Schulbuchtexte meist ebensowenig ein. Nur für baye-

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rische Schulen erarbeitete Unterrichtswerke bilden in bezug auf das deutsch-tschechische Thema selbst in ihren modernsten Ausgaben auch heute noch eine positive Ausnahme. Tschechische Schulbücher hatten schon vor 1989 vergleichsweise mehr Kenntnisse über die Geschichte des deutschen Nachbarn vermittelt, sich allerdings über das deutsch-böhmische Miteinander im eigenen Lande weithin ausgeschwiegen; bis zur „Samtenen Revolution" waren alle Informationen freilich durch eine starke ideologische Brille gebrochen. Seither hat sich die Situation grundlegend geändert. Für alle Schultypen wurden die eintönigen Einheits-Geschichtsbücher der vergangenen Jahrzehnte durch eine Reihe vollständig neu konzipierter Unterrichtswerke ersetzt. In der Regel sind sie von neuen Autoren geschrieben, die - im Unterschied zu deutschen Schulbuchverfassern - meist aus Hochschullehre und Forschung kommen. Viele von ihnen waren nach 1968 mit Berufsverbot belegt oder ins Exil gedrängt worden und gehören heute der Generation der 60—70jährigen an. Zunächst entstanden Lehrbücher zur Geschichte der Ersten Republik, weil man in ihr in mancher Hinsicht ein Vorbild für den heutigen Staat sah. Es folgten schnell Lehrbücher zur älteren Geschichte der böhmischen Länder, mittlerweile auch zur Weltgeschichte. Anders als die deutschen Lehrbücher halten sich die tschechischen - der dortigen Unterrichtskonzeption entsprechend - strikt an die chronologische Vermittlung des Stoffes. Die sorgfältige, um Objektivität bemühte und den modernen Erkenntnisstand berücksichtigende Darstellung überwiegt. Die neuen Autoren korrigieren nicht nur das vom Marxismus geprägte Geschichtsbild der vergangenen 40 Jahre, sondern distanzieren sich teilweise auch von den aus der nationalen Konfrontation des 19. Jahrhunderts übernommenen Sichtweisen. Z.B. werden in diesen modernen Texten - erstmalig überhaupt - die geiade das deutsch-tschechische Verhältnis negativ beeinflussenden Auffassungen Frantisek Palackys in Frage gestellt. Häufig gewinnt man den Eindruck, daß bestimmte, in der Vergangenheit vom Unterricht bewußt vernachlässigte oder verzerrte Geschichtskapitel wie z.B. das der mittelalterlichen Siedlungsbewegung der Deutschen nach Böhmen und Mähren den Schülern mit geradezu besonderer Behutsamkeit vermittelt werden. Auch die problematischen Aspekte im Zusammenleben beider Völker in der Ersten Republik und die NS-Greuel während des Zweiten Weltkriegs werden nicht verschwiegen. Es ist nicht zu leugnen, daß sich eher in den modernen tschechischen Schulbüchern als in ihren deutschen Pendants die schicksalhaften Momente der deutsch-tschechischen Nachbarschaft widerspiegeln. Es wäre zu wünschen, daß die Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission diesbezüglich bei uns eine Wende herbeiführte. Es wäre zu wünschen, daß der Europabegriff der deutschen Schulbücher, der in der Vergangenheit durch den Eisernen Vorhang begrenzt wurde und heute auf „Brüssel" eingeengt ist, in Zukunft wieder Europa meint. Peter Heumos (München)

Zur Tschechoslowakei-Forschung in der BRD Die Tschechoslowakei-Forschung in der BRD hat die in den späten sechziger Jahren einsetzende Neuorientierung der Geschichtswissenschaft nur in vereinzelten Ansätzen mitvollzogen. Struktur-, sozial- und gesellschaftsgeschichdiche Untersuchungen mit modernem methodischen Instrumentarium sind bis heute dünn gesät; es überwiegt politische

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Allgemeingeschichte, bei der die Nachwehen einer Staatengeschichte älteren Zuschnitts nicht gänzlich überwunden sind. Es mag sein, daß dies auch mit dem langwierigen Abnabelungsprozeß der Tschechoslowakei-Forschung von der (sudeten)deutschtümelnden Variante der Ostforschung zusammenhängt, doch läßt sich der Sachverhalt auch als Folge der Situation in den Jahrzehnten des Kalten Krieges verstehen, als sich dieTschechoslowakei-Forschung in der Abgrenzung von den theoretischen Hyperkonstruktionen der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft in der CSSR auf der Ebene eines emphatischen und methodisch-theoretischer Experimentierfreudigkeit recht abgeneigten Empirismus einrichtete. Die Wiederherstellung der „Würde des Faktischen" sollte nicht gering geschätzt werden. Langfristig hat sich jedoch dieses empiristisch-positivistische Selbstverständnis restriktiv ausgewirkt, wie u.a. an der Bearbeitung der deutschen Problematik in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit abzulesen ist. Bis heute gibt es nur eine einzige Untersuchung, die das nationale Moment in diesem Fragenkomplex systematisch als relationalen Begriff auffaßt und zu einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Strukturen und Bedingungsfaktoren in Beziehung setzt, auf den Import von Theorieerfahrungen aus anderen Gegenstandsbereichen Wert legt und auf diese Weise zu einem sehr viel reichhaltigeren Erklärungshorizont vorstößt. Dagegen hält sich der 'main stream' der Tschechoslowakei-Forschung an eine Interpretation des Nationalen, die dieses - einem strikt positivistischen Tatsachenbegriff folgend — als etwas Ansichseiendes zugrunde legt, der Sache selbst damit zu früh zu nahe kommt und mit einer gewissen Notwendigkeit bei einem Substanzbegriff des Nationalen endet. Da die tschechische Geschichtswissenschaft methodisch ebenso verfährt, treffen sich beide Seiten im Bild eines monadischen Zusammenstoßes zwischen den beiden Nationen, der — da man hüben wie drüben den eigenen methodischen Voraussetzungen nicht reflexiv entkommen kann - eine fatalistische Weltsicht und Buchtitel wie „Der Weg in die Katastrophe" produziert. Natürlich kann es nicht darum gehen, nationale Unterschiede und Gegensätze hinwegzudiskutieren oder bloß ideologiekritisch „aufzulösen". Worum es aber gehen sollte, ist die Erweiterung des restringierten Blickwinkels der deutschen wie der tschechischen Forschung, deren Frageinteresse dann endet, wenn sie sich der (vermeintlichen oder tatsächlichen) nationalen Frontbildungen versichert hat. Ein Beispiel, an dem sich dies gut erläutern läßt, ist die mit schwerwiegenden sozialen (und politischen) Folgewirkungen einhergehende Krise der sudetendeutschen Leichtindustrien zwischen 1918 und 1938, die wegen der Vermutung, hier habe es sich seitens der tschechoslowakischen Regierung um eine absichtvolle „Unterlassung von Hilfeleistung" gehandelt, mit national motivierten Interpretationen verknüpft wird. Bis heute ist hüben wie drüben niemand auf den Einfall gekommen, dem Problem mit dem naheliegenden Rezept zu Leibe zu rücken, nämlich mit der verallgemeinernden und vergleichenden Frage danach, wie die tschechoslowakische Regierung überhaupt regionale Strukturkrisen in der Zwischenkriegszeit bearbeitet hat. Mit dieser Verlagerung des Frageinteresses würde sich rasch herausstellen, daß Prag auch solche Krisenherde „liegengelassen" hat, die überwiegend tschechische Siedlungsgebiete betrafen, wie das Scheitern eines Entwicklungsprogramms für das ökonomisch rückständige Südböhmen zeigt. Zugleich böte ein solches Abrücken von einer national beschränkten Perspektive den Vorteil, daß die politischen Machtmechanismen derCSR in den Blick

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k o m m e n , die — a u f g r u n d der p r o p o r z d e m o k r a t i s c h e n Struktur des politischen Systems v o n vornherein nur eine begrenzte wirtschaftliche „ P r o b l e m l ö s u n g s k a p a z i t ä t " der Ersten Tschechoslowakischen Republik erlaubten.

Jan Kren (Prag)

Der Streit um den Sinn der tschechischen Geschichte. Entfaltung, Entwicklung, Entäußerung D e r letzte Akt der großen Diskussionen über den Sinn der tschechischen bzw. böhmischen Geschichte, die 150 J a h r e lang den tschechischen intellektuellen Diskurs begleitet haben, fand in den sechziger J a h r e n dieses J a h r h u n d e r t s statt. Diese sehr stark moralisch eingefárbten Kontroversen spiegelten vor allem die dramatischen U m b r ü c h e , N i e d e r g a n g s - und Aufstiegsphasen wider, die die Tschechen in den beiden letzten J a h r h u n d e r t e n erlebt haben. Zugleich lassen sich diese Streitgespräche jedoch auch als Ausdruck der Weiterentw i c k l u n g der tschechischen Geschichtswissenschaft und der Auseinandersetzung m i t ihrer k o n z e p t i o n e l l e n B e g r ü n d u n g durch Frantisek Palacky verstehen. O b w o h l an Palackvs Geschichtsbild in der Folgezeit zahlreiche Korrekturen v o r g e n o m m e n w o r d e n sind, wurde seine Konstruktion der tschechischen Geschichte im G r u n d e bis heute sowohl im historischen B e w u ß t s e i n der Gesellschaft als auch unter den tschechischen Historikern bewahrt. Die historischen Konstellationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders die Meilensteine der J a h r e 1989 und 1992, sowie neue methodische und methodologische Ansätze der Geschichtsschreibung haben in das tschechische historische Denken neue Fragestellungen hineingetragen. Beispielhaft dafür steht die beginnende Integration des deutschen und jüdischen Elements in die tschechische, besser: böhmische Nationalgeschichte, deren H o r i z o n t nun auch durch komparativ angelegte U n t e r s u c h u n g e n in mittel- u n d gesamteuropäischer Perspektive bereichert wird. D i e Tatsache, daß die großen U m b r ü c h e der tschechischen Geschichte der letzten Jahre nicht dazu g e f ü h r t haben, daß der Streit über d e n Sinn der tschechischen Geschichte in g r ö ß e r e m M a ß e wiederaufgelebt ist, trägt ein Janusgesicht. Einerseits ist dies ein Zeugnis des Willens, die traditionelle nationale Begrenztheit der Betrachtung der tschechischen Geschichte zu ü b e r w i n d e n (wo sich solche T e n d e n z e n weiterhin behaupten — und sie beh a u p t e n sich! - , handelt es sich ü b e r w i e g e n d u m einen g e m ä ß i g t e n Nationalismus, der durch demokratische Kritik an der eigenen Vergangenheit korrigiert wird). Andererseits deutet das Fehlen einer solchen Auseinandersetzung u m leitende Wertvorstellungen in der historischen Interpretation auf einen flachen „ K o n s u m - O p t i m i s m u s " hin, w i e er etwa für die»fünfziger J a h r e in Deutschland k e n n z e i c h n e n d war. D i e nächste Z u k u n f t — besonders die E i n b i n d u n g der Tschechischen Republik in die euro-adantischen Strukturen — wird wahrscheinlich auch das tschechische historische Denken nachhaltiger in neue B a h n e n lenken. Es ist fraglich, ob m a n dann mit d e m ideellen Instrum e n t a r i u m der traditionellen Kontroverse u m d e n Sinn der tschechischen Geschichte auskommt.

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19. UND 20. JAHRHUNDERT

27. Geschichte als Argument — Zur Diskussion über die Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft Leitung: 'Reinhard Rürup (Berlin) /Ernst Schulin (Freiburg i.Br.) Ernst Schulin (Freiburg i.Br.): Einführung ReinhardRairup (Berlin): Vernunft und Geschichte: Zur Emanzipationsdiskussion in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert ChristhardHoffmann (Berkeley): Die „Lehren der Geschichte": Historische Argumente in den Debatten zum Antisemitismus im Kaiserreich Michael Brenner (München): Jüdische Geschichte und der Wandel des jüdischen Selbstverständnisses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Ernst Schulin (Freiburg i.Br.)

Einführung In das Generalthema des Historikertages „Geschichte als Argument" paßt das Problem der Stellung der Juden in der modernen Gesellschaft in vielfacher Weise. Ihre Emanzipation und 'Akkulturation' fielen in die Zeit des neuen säkularisierten Geschichtsverständnisses seitens der Aufklärung und des Historismus. Die Emanzipation bedeutete für die Juden eine soziale Enttraditionalisierung, eine veränderte Stellung im modernen bürgerlichen Staat, ohne Schutzbriefe und Privilegien für die besondere „jüdische Nation". In Deutschland bedeutete sie außerdem die Einordnung in eine vorhandene Kulturnation und eine werdende politische Nation. Die deutschen Juden entdeckten — erst jetzt — ihre eigene lange Geschichte, deuteten sie neu als Weg in die befreiende moderne Zivilisation und in die neue deutsche Kultur. Die 'anderen' Deutschen deuteten die unglückliche Geschichte der Juden teils erklärend und als überwindbar, teils nationalistisch und/oder rassistisch abtrennend. Darüber handelten die einzelnen Beiträge und zeigten damit Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Erklärung des späteren deutschen Verbrechens am europäischen Judentum auf. Das Thema der Sektion wurde natürlich geplant und vorbereitet lange vor dem neuen öffentlichen Interesse an diesem Verbrechen und seiner Zurückführung auf den deutschen Antisemitismus. Ich weise darauf hin, weil man offenbar, jedenfalls in der Öffentlichkeit, daran erinnern muß, daß dieses Thema seit Jahrzehnten in Deutschland wie in Amerika, England und Israel durch jüdische und nichtjüdische Wissenschafder in vielfältigster Weise erforscht wird. Das zeigen die sehr zahlreichen Publikationen. Die Leo-Baeck-Institute haben diese Forschungen seit über 40 Jahren gefördert und auch die ersten Verbindungen zu nichtjüdischen deutschen Historikern geknüpft. Ich will die deutschen Institute

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nicht einzeln aufzählen, aber doch betonen, daß es stets um Forschungen über den Antisemitismus und über die Juden in Deutschland geht. Die Ergebnisse dieser Arbeiten dürften nun seit dem erstaunlichen und erfreulichen neuen Interesse, das durch G O L D H A G E N S Buch ausgelöst worden ist, auf größere allgemeine Aufmerksamkeit stoßen.

Meinhard BJirup

(Berlin)

Vernunft und Geschichte: Zur Emanzipationsdiskussion in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert Dem Rahmenthema entsprechend ging es in diesem Beitrag um den Stellenwert der Geschichte in den Argumentationen für oder gegen die Emanzipation der Juden. Obwohl es auch nach der Gründung des Deutschen Bundes noch immer rund 40 verschiedene Emanzipationsprozesse in Deutschland gab, scheint es gerechtfertigt, auf der Ebene der politischen Debatten und der Publizistik den deutschen Sprach- und Kulturraum als eine Einheit zu betrachten. Es ist in der Regel übersehen worden, daß Christian Wilhelm Dohm, der 1781 die systematische Emanzipationsdiskussion in Deutschland und Europa eröffnete, sein Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" mit der Mitteilung begann, daß er vor einigen Jahren begonnen habe, „die Geschichte der jüdischen Nation seit der Zerstörung ihres eigenen Staates zu studieren", wobei seine Absicht gewesen sei, „aus der unglücklichen Geschichte der Juden die Folge zu ziehen, daß die drückende Verfassung, in der sie noch jetzt in den meisten Staaten leben, nur ein Überbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurteile der finstersten Jahrhunderte, also unwürdig sei, in unsern Zeiten fortzudauern." „Wenn er", so fuhr er fort, „aus der Geschichte gezeigt, wie die Juden nur deshalb als Menschen und Bürger verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beider versagt habe, so würde er mit desto mehrerm Erfolg die Regierungen der Staaten ermuntern zu dürfen geglaubt haben, die Zahl ihrer guten Bürger dadurch zu vermehren, daß sie die Juden nicht mehr veranlaßten, schlechte zu sein." Obwohl er die geplante Geschichte nicht geschrieben habe, sei er doch tief genug in die Materie eingedrungen, um in der damals beabsichtigten Weise argumentieren zu können. Dohms Theorie der Emanzipation beruhte also zu wesentlichen Teilen auf seinem Verständnis der jüdischen Geschichte bzw. der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Juden und Christen. Für Dohm wie für andere Protagonisten der Emanzipation der Juden war die Einsicht entscheidend, daß die Juden Menschen wie alle anderen sind und deshalb die gleichen Ansprüche auf die Menschen- und Bürgerrechte haben. Das, was sie von anderen Menschen unterschied, war nicht Ausfluß einer unveränderlichen Natur, sondern Ergebnis ihrer Geschichte. Erst die konsequente Historisierung der neu gestellten „Judenfrage" schuf die Möglichkeit ihrer Lösung im Sinne der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, d.h. der Emanzipation und Integration der Juden in eine neue bürgerliche Gesellschaft. Im Hinblick auf die römische Geschichte formulierte Dohm das Verhältnis von Vernunft und Geschichte, wie es für die Emanzipationstheoretiker der Aufklärung und des Liberalismus insgesamt galt: „Die Geschichte bestätigt also hier das Urteil der unvoreingenommenen Vernunft, daß die Juden ebenso gut wie alle anderen Menschen nützliche Glieder der bürger-

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liehen Gesellschaft sein könnten." Die Geschichte vermittelt zwischen der Theorie und den tatsächlichen Verhältnissen, und ihre Kenntnis eröffnet Wege und Möglichkeiten des politischen Handelns. Diese Grundgedanken beherrschten auch die Emanzipationsdebatten in den vormärzlichen deutschen Landtagen und in der einschlägigen Publizistik. Die Sprecher der Juden beriefen sich in zunehmendem Maße auf ihre unveräußerlichen Menschenrechte, und sie bezeichneten die von den Emanzipationsgegnern beklagten Besonderheiten jüdischen Lebens als ein Ergebnis der jahrhundertelangen Unterdrückung. Die Geschichte lehre, so wurde argumentiert, daß die Juden sich außerhalb der Religion nicht von den Christen unterscheiden würden, wenn man sie nicht dazu zwinge. Mehr und mehr berief man sich in den Emanzipationsdebatten auf den „mächtigen Ruf der Zeit". Man erklärte die Emanzipation in dem Sinne für 'zeitgemäß', daß der historische Prozeß insgesamt die gleichberechtigte Eingliederung der Juden in die entstehende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft fordere. Für Heinrich Heine war die Emanzipation der Juden nur eine von vielen Emanzipationsaufgaben, und wer eine auf die Freiheit der Person und des Eigentums gegründete Gesellschaft wollte, der mußte sich notwendigerweise auch für die Rechte der Juden einsetzen, während umgekehrt die Gegner dieser Gesellschaft sich auch gegen die Judenemanzipation aussprachen und sie nicht selten geradezu zu einem gesellschaftlichen Zentralproblem erklärten. Um 1840 wurde „Emanzipation" zum „Leitbegriff aller bisherigen und künftigen Geschichte" (REINHART KOSHJ.LECK), als in der Ersch-Gruberschen „Allgemeinen Enzyklopädie" ausgeführt wurde, „daß eigentlich die ganze Geschichte der Menschheit als ein großer Emanzipationsprozeß erscheint und alle sozialen und politisch wichtigeren Probleme unter den allgemeinen Begriff der 'Emanzipationsfragen' zu bringen sind." Wenn Emanzipation Sinn und Ziel der Weltgeschichte war, bedurfte man kaum noch einer besonderen Begründung für die Emanzipation der Juden. Sie konnte behindert, verzögert, aber nicht wirklich mehr zur Diskussion gestellt werden. Unter diesen Voraussetzungen war es dann sogar möglich, daß in dem Augenblick, in dem die rechtliche Gleichstellung verwirklicht wurde, die seit Dohm unbestrittenen Grundpositionen der aufklärerisch-liberalen Emanzipationstheorie wieder in Frage gestellt wurden. So erklärte der liberale Historiker Ludwig Häusser in seiner Rede zur Begründung des badischen Emanzipationsgesetzes von 1862, es sei eine „sehr schwer zu beantwortende Frage ..., was an der jüdischen Eigentümlichkeit angeboren und was eine Folge vielhundertjähriger Verhältnisse und Bedrängnisse ist." Und er setzte hinzu: „Es fehlt vorläufig noch jeder Maßstab, um mit Sicherheit zu ermessen, was ihr Naturell verschuldet hat und was ihre Unterdrückung." Für die politische Entscheidung im Sinne der Emanzipation waren diese Überlegungen ohne Bedeutung. Sie lassen aber erkennen, daß die Ansätze für eine neue, nunmehr antisemitisch gestellte „Judenfrage" längst da waren.

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Christhard Hoffmann (Berkeley)

Die „Lehren der Geschichte": Historische Argumente in den Debatten zum Antisemitismus im Kaiserreich Die sich Ende der 1870er Jahre formierende politische und soziale Bewegung des Antisemitismus löste in der deutschen intellektuellen Öffentlichkeit eine neue Kontroverse über die „Judenfrage" aus. Die bedeutendste dieser Auseinandersetzungen war der Ende 1879 durch den Berliner Historiker Heinrich von Treitschke hervorgerufene „Berliner Antisemitismusstreit", der neben jüdischen Gelehrten wie z.B. Heinrich Graetz, Harry Breßlau, Moritz Lazarus und Hermann Cohen auch Theodor Mommsen gegen Treitschke auf den Plan rief und zu einer starken Polarisierung der öffentlichen Meinung führte. Daß es vor allem Historiker waren, die in dieser Debatte das Wort führten, war kein Zufall. Im Zeitalter des Historismus, in der 'die Geschichte' zur letzten Legitimationsinstanz geworden war, dominierten historische Argumente häufig in politischen Auseinandersetzungen. Die Kontroverse über die Stellung der Juden in der deutschen Gesellschaft und über die Berechtigung der antisemitischen Bewegung war daher auch ein Streit um die richtige Interpretation der Vergangenheit. Dabei bildete die lange Verfolgungs- und Leidensgeschichte der Juden bei fast allen Beteiligten den zentralen Bezugspunkt. Dies war naheliegend, hing doch die Frage der Legitimation des modernen Antisemitismus wesentlich davon ab, wie man die historische Judenfeindschaft bewertete. Die Widerlegung oder wenigstens Neutralisierung jenes wirkungsmächtigen liberalen Geschichtsbildes, das den Judenhaß als „mittelalterliche Barbarei" abwertete, gehörte zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Akzeptanz der antisemitischen Bewegung in der modernen Welt. Der sich aus dieser Konstellation ergebende Begründungszwang hat entscheidend zur Profilierung und 'Modernisierung' der judenfeindlichen Ideologie in Deutschland beigetragen. In der Sicht der Aufklärung und des Liberalismus galt die Judenfeindschaft nicht mehr als etwas Gott- oder Naturgegebenes, sondern als ein in bestimmten historischen Situationen entstandenes und durch konkrete Interessen verbreitetes 'Vorurteil', genau gesagt: als Ausgeburt des religiösen „Fanatismus" und der „Barbarei" des Mittelalters. Die Überwindung des christlichen Antijudaismus und die Integration der Juden als gleichberechtigte Menschen und Bürger gehörten folglich zum Selbstverständnis der aufgeklärten Moderne. Das Aufkommen der antisemitischen Bewegung Ende der 1870er Jahre konnte aus dieser Perspektive nur als Rückschritt, als, wie es schlagwortartig immer wieder hieß, „Wiederbelebung eines alten Wahns" verstanden werden. Im Namen 'der Geschichte', des Fortschritts und der Moral wurde der neubelebten Judenfeindschaft die Existenzberechtigung in der modernen zivilisierten Welt abgesprochen. Die Befürworter bzw. intellektuellen Sympathisanten des Antisemitismus wie Treitschke konnten dieses Argument nicht leicht entkräften, gehörte doch die Ablehnung „fanatischer" Religionskämpfe, konfessioneller Streitigkeiten und „intoleranter" Verfolgung Andersdenkender weit über den Kreis liberaler Parteigänger hinaus — gerade im konfessionell gespaltenen Deutschland — zum allgemeinen Konsens. Sie versuchten daher, das liberale Geschichtsbild als „Ideologie" und „Phrase" zu entlarven bzw. ihre eigenen Bestrebungen von der traditionellen Judenfeindschaft abzugrenzen und neu zu begründen. Im einzelnen lassen sich vier verschiedene Argumentationsstrategien unterscheiden: 1. Die Zurückwei-

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sung des Vorwurfs der „mittelalterlichen Barbarei" als bloße Verteidigungsideologie der Juden. Durch Berufung auf ihre Leidensgeschichte versuchten die Juden, sich vor berechtigter Kritik zu immunisieren und moralisch unangreifbar zu machen. 2. Die Widerlegung der Gleichsetzung von Judenfeindschaft und Religionshaß durch Verweis auf den vorchristlichen Antisemitismus der Antike bzw. den „ewigen" Judenhaß. Die vermeintlich ubiquitäre und kontinuierliche Geschichte der Judenverfolgung diente dabei als Argument für den negativen Charakter der Juden. Der Mythos vom „ewigen Antisemitismus" setzte die Konstruktion eines „ewigen Juden" voraus. 3. Die Relativierung der jüdischen Verfolgungsgeschichte durch Rehabilitierung und Aufwertung des Mittelalters im Rahmen einer neuen Nationalgeschichtsschreibung. Die Hinwendung zu einer ethno-nationalen Perspektive bedeutete, daß die jüdische Geschichtserfahrung keinen Platz im kollektiven Gedächtnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft mehr finden konnte, sondern als bloß partikulare Erinnerung einer fremden ethnischen Gruppe erschien. 4. Die Distanzierung von den als unzivilisiert und aggressiv geltenden Formen der traditionellen Judenfeindschaft durch Präsentation des Antisemitismus als 'vorurteilslose' Gesellschaftsanalyse und 'rationale' Antwort auf die „Judenfrage". Die Ablehnung eines „emotionalen" Judenhasses wurde durch die Auffassung ergänzt, daß der Konflikt mit den Juden „objektiv", d.h. ethnisch oder rassisch begründet sei. Die Debatte der Jahre 1879—1881 über die Relevanz der jüdisdien Verfolgungsgeschichte spiegelt im Detail die ideologischen Transformationen der Zeit wider. Galt die lange Unterdrückung der Juden bei Aufklärern und Liberalen als entscheidendes Argument für die rechdiche Gleichstellung und für eine kompensatorische Rücksichtnahme gegenüber den Juden, so sahen die Antisemiten in ihr nur eine Bestätigung und Rechtfertigung ihrer antijüdischen Ausgrenzungspolitik. Hatte die emanzipatorische Geschichtsschreibung des Liberalismus das Bewußtsein für die Kontinuitäten der Geschichte, für die unmittelbare Nähe von Vorurteil und Barbarei wachgehalten, so zerstörte die antisemitische Geschichtsklitterung diese Zusammenhänge, indem sie aus beliebig zusammengestellten Einzelhistorien das Konstrukt einer zeidosen, „ewigen" Judenfeindschaft formte. Hatte die Erkenntnis der Aufklärung, daß die jüdische Außenseiterstellung nicht eine naturgegebene, sondern eine historische sei, ihren Veränderungsoptimismus begründet, so berief sich die antisemitische Renaturalisierung des Juden, d.h. die Konstruktion eines unveränderbaren jüdischen „Wesens", auch auf die Geschichte und ihre „Lehren". Treitschkes Funktion in dieser Debatte lag darin, dem Angriff auf das emanzipatorische Geschichtsbild Autorität und Stimme zu verleihen und dadurch die neue Judenfeindschaft zu legitimieren und gesellschafdich akzeptabel zu machen.

Michael Brenner (München)

Jüdische Geschichte und der Wandel des jüdischen Selbstverständnisses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Die Darstellung deutsch-jüdischer Geschichte vom Beginn der Emanzipation bis zur Zerstörung des deutschen Judentums in der NS-Zeit wird noch immer häufig als ein mehr oder weniger geradliniger Prozeß von Akkulturation und Assimilation dargestellt. Neuere Untersuchungen, so etwa von DAVID SORKIN und MARION KAPLAN, haben diese Sichtweise

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bereits für den Zeitraum des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt. Für die ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts ist wohl noch weniger von einer kontinuierlich verlaufenden Akkulturation zu sprechen. Für einen Teil der deutschen Juden mag hier in der Tat der von S H U I . A M I T V O I . K O V geprägte Begriff der „Dissimilation" zutreffender sein. Bereits seit der Jahrhundertwende, beträchtlich verstärkt dann noch durch die Ereignisse und Folgen des Ersten Weltkriegs, ist eine Rückbesinnung zahlreicher deutscher Juden auf ihr Judentum und damit auch auf die eigene Geschichte festzustellen. Dies läßt sich nicht nur bei prominenten Intellektuellen aus weitgehend assimilierten Familien wie Scholem, Rosenzweig und — im Prager Kontext — Kafka nachweisen, sondern auch in zahlreichen Bereichen organisierten jüdischen Lebens. Zum ersten Mal ist ein Großteil der jüdischen Jugend in einer eigenständigen Jugendbewegung organisiert, erstmals seit Jahrzehnten steigt nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl jüdischer Schulen in den Großstädten wieder an, während in zahlreichen Gemeinden gleichzeitig die moderne jüdische Erwachsenenbildung Erfolge verzeichnet. Teils bedingt durch das Aufleben des politischen und gesellschaftlichen Antisemitismus, teils aber auch aus 'positiven' Antriebskräften entsteht in der Weimarer Republik eine weitgehend säkular geprägte Erneuerungsbewegung, die der Philosoph Mardn Buber als „Jüdische Renaissance" bezeichnete. Hierzu gehörte auch ein letztes Aufblühen der Wissenschaft des Judentums, etwa in Form der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums" und der Wiedergründung der „Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland". Die im 19. Jahrhundert entstandene Selbstdefinition als „Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" erwies sich nach der Jahrhundertwende als zunehmend brüchig. Mit anhaltender Säkularisierung werden die Grenzen einer rein konfessionellen Identifikation mit dem Judentum sichtbar: Wenn Judentum rein religiös definiert wird, aber die meisten Juden sich nicht mehr als religiös verstehen, was macht dann ihr Judentum aus? Die Frage nach der Bewahrung jüdischer Eigenart bei gleichzeitiger Integration in eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft, die heute eine zentrale Problemstellung innerhalb der jüdischen Diaspora ist, erwuchs erstmals im deutschen Judentum. Gewiß ist gerade im Zusammenhang mit der Entstehung eines veränderten jüdischen Selbstbewußtseins das Aufkommen der zionistischen Bewegung von entscheidender Bedeutung. Dies gilt nicht nur für den politischen, sondern auch für den kulturellen Bereich. Schließlich waren es sogenannte Kulturzionisten, zu denen außer Martin Buber auch Chaim Weizmann oder der Graphiker Ephraim Mose Lilien gehörten, die um die Jahrhundertwende betonten, daß ein eigenes jüdisches Volk auch seine eigenständige Kunst, Literatur und Musik benötige. Bereits 1902 gründeten sie den Jüdischen Verlag als eine „Zentralstelle zur Förderung jüdischer Literatur, Kunst und Wissenschaft" und planten bereits zu diesem Zeitpunkt die erst viel später realisierte Zeitschrift „Der Jude". So wichtig es ist, die Bedeutung der Zionisten im Wandel des jüdischen Selbstverständnisses zu erkennen, so falsch wäre es jedoch, diese zu überschätzen. Die beiden anderen Hauptströmungen innerhalb des deutschen Judentums — Liberalismus und Orthodoxie — hatten daran ebenso ihren Anteil, produzierten ihre eigene Literatur und gründeten ihre Verlagshäuser. Besonders betont werden muß in diesem Zusammenhang, daß sich unter den liberalen Juden, die die große Mehrheit des deutschen Judentums ausmachten, bereits um die Jahrhundertwende eine Veränderung der Selbstdefinition von einer rein konfessionellen auf eine konfessionelle und ethnische Grundlage anbahnte.

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Der Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum konnte sich in der Weimarer Republik kaum noch ein deutscher Jude entziehen. Für manche führte diese Auseinandersetzung zu einer bewußten und vollständigen Trennung von der jüdischen Gemeinschaft, für die Mehrheit jedoch bedeutete sie eine neue Identitätssuche. Die jüdische Jugendbewegung, zu deren unterschiedlichen Organisationen in den zwanziger Jahren jeder dritte jüdische Jugendliche gehörte, verkörperte am deutlichsten diese Bewegung hin zum Judentum. Aber auch unter Erwachsenen finden wir sie häufig. Das Frankfurter Jüdische Lehrhaus ist hierfür repräsentativ. Man sollte diese jüdische Renaissance nicht als deutsch-jüdische Symbiose mißverstehen. Dieser Ausdruck wurde zurecht von Gershom Scholem diskreditiert. Die hier geschilderte Entwicklung muß durchaus auch als Zeichen der Krisensituation erkannt werden, die der zunehmende Antisemitismus für die Juden der Weimarer Republik bedeutete. Anstelle des Gemeinsamen wurde nun eher das Trennende betont. Vor dem Ersten Weltkrieg mochte sich in der Tat ihre eigene Geschichte vor allem noch als eine Erfolgsgeschichte lesen — in den Jahren danach wurde „die Bürde des Erfolgs", um einen Ausdruck des Historikers FRITZ STF.RN zu gebrauchen, immer sichtbarer. So scheint auch Scholems Analyse des deutschen Judentums als einer zur weitgehenden Assimilation bereiten jüdischen Gemeinschaft den Kern der historischen Realität zu verfehlen. Scholem selbst war Teil einer Generation, die sich auf der Suche nach dem verlorenen Judentum befand. Nur für wenige seiner Altersgenossen bedeutete dies, wie für ihn, der bereits 1923 nach Jerusalem ging, die vollkommene Ausgrenzung aus der sie umgebenden Gesellschaft. Die meisten wollten integraler Bestandteil deutscher Kultur und Gesellschaft bleiben und darin, wie Franz Rosenzweig es ausdrückte, eine jüdische Sphäre schaffen.

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Zeitgeschichte 28. Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR im Vergleich Leitung: Hans Günter Hockeiis

(München)

Hans Günter Hockerts (München): Zur Einführung Rüdiger Hachtmann (Berlin): Arbeitsverfas sung Winfried Süß (München): Gesundheitspolitik Christoph Conrad (Berlin): Sicherung im Alter Günther Schul.ίζ (Köln) : Frauen und Familien Wilfried Rudioff (München): Fürsorge

Hans Günter Hockerts (München)

Zur Einführung Die jüngste deutsche Geschichte kann ais historia tripartita verstanden werden. Während die Weimarer Republik noch von einer spannungsreichen Gemengelage unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Ordnungsentwürfe geprägt war, sind diese nach 1933 auseinandergetreten: Im Nationalsozialismus, in der 'alten' Bundesrepublik und in der DDR gewann jeweils eine spezifische Auswahl von Ordnungsprinzipien strukturelle Dominanz. Die Epochenwende von 1989/90 hat diese drei deutschen 'Zeitgeschichten' in eine gemeinsame Vorgeschichte des vereinigten Deutschland verwandelt. Eine der aktuellen Hauptaufgaben der deutschen Zeitgeschichtsforschung dürfte daher darin bestehen, die verschiedenen deutschen 'Zeitgeschichten' in ein angemessenes Relationengefüge zu bringen. Dabei wird es darauf ankommen, die 'historia tripartita' systematischer als bisher sowohl zu unterscheiden als auch miteinander zu verknüpfen. Die Sektionsbeiträge wollten eine solche Vermitdungsleistung in einem bestimmten Gegenstandsbereich — der Geschichte des Sozialstaats — erproben. Die Sektion modifizierte die Vorstellung, daß es in der Geschichte des modernen Sozialstaats 'den deutschen Weg' gegeben habe. Wir nahmen vielmehr an, daß die 'historia tripartita' nach 1933 gerade auch die Sozialstaatsgeschichte aufgespalten und drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit hervorgebracht hat. Diese verliefen in mancher Hinsicht so unterschiedlich, daß Kontrastbezüge von geradezu paradigmatischer Bedeutung möglich werden. So ist für den Nationalsozialismus - neben anderen typischen Zügen — eine

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ZEITGESCHICHTE

Biologisierung des politischen Denkens bezeichnend, die gerade auch für die Sozialpolitik sehr schwerwiegende Konsequenzen hatte. In der 'alten' Bundesrepublik galt der Sozialstaat als die entscheidende Errungenschaft zum Ausgleich von Demokratie und Kapitalismus. Hingegen beruhten die 'sozialen Errungenschaften' der DDR auf der Annahme, daß soziale Sicherheit den Sozialismus voraussetze. Bisher hat die historische Forschung die Sozialstaatsgeschichte des Nationalsozialismus, der'alten' Bundesrepublik und der DDR zumeist separat bearbeitet. Neuerdings nimmt die Tendenz zu, beziehungsgeschichtliche oder komparatistische Paare zu bilden (Diktaturenvergleich, deutsch-deutscher Vergleich). Diese Sektion unternahm hingegen den Versuch, die einschlägigen Forschungen im Dreiervergleich zusammenzuführen. Der 'Suchauftrag' der Beiträge zielte zunächst auf eine möglichst genaue Bestimmung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. Über solche klassifizierenden Schritte gelangten die Referate zu der eigentlich zentralen Frage: In welchen übergreifenden Kausalzusammenhängen sind die beobachteten Unterschiede zu sehen? Es interessierten systematische Überlegungen und/oder Fallbeispiele, die zeigen, in welchem Verhältnis die drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit zu den jeweils spezifischen Grundlagen der politischen Ordnung, der wirtschafdichen Verfassung und der kulturellen Wertbezüge stehen. Der Vergleich sollte also vor allem der Kontrastierung dienen. Er umschloß aber durchaus auch die Frage, ob es Sozialstaatselemente gab, die politische Brüche fundamentaler Art überdauerten, was dann zu der weiteren Frage führt, ob das übernommene 'Alte' eine 'neue' Funktion erhielt. Methodologisch war zu beachten, daß die drei Vergleichsfälle in der historischen Wirklichkeit nicht voneinander isoliert, sondern beziehungs- und wirkungsgeschichtlich auf verschiedene Weise miteinander verbunden waren — teils im Nacheinander, teils im Neben- und Gegeneinander. Daher sind die vergleichenden Studien gegebenenfalls auch um beziehungsgeschichtliche Fragen zu erweitern. Mit dem Rahmenthema „Geschichte als Argument" ließ die Sektion sich in verschiedener Hinsicht verbinden. So ist z.B. die pronatalistische Komponente der Sozialpolitik in der Bundesrepublik bis heute durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik diskreditiert. Dagegen diente die (verklärende) Erinnerung an die 'sozialen Errungenschaften' der DDR als die wichtigste Argumentationsstütze der DDR-Nostalgie. Um so systematischer war zu prüfen, an welche Prämissen und Funktionszusammenhänge die 'sozialen Errungenschaften' gebunden waren. Die Sektion widmete nicht jedem der drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit ein gesondertes Referat. Denn damit wäre die Sektion Gefahr gelaufen, im ganzen eher additiv als komparativ zu verfahren. Vielmehr wurde der — wohl auch für die Hörer — etwas schwierigere Weg gewählt, fünf ausgewählte Untersuchungsfelder jeweils im Dreiervergleich zu bearbeiten: Arbeitsverfassung (RüdigerHachtmann), Gesundheitspolitik {WinfriedSüß), Sicherung im Alter (Christoph Conrad ), Frauen und Familien (Günther Schuty, Fürsorge (Wilfried Rudioff). Veröffentlichungshinweis·. Eine Buchfassung der Beiträge, ergänzt um die Themen Wohnungsbaupolitik (AxelSchildt) und professionelle Politikberatung (Lut^Raphael), ist in Vorbereitung.

SEKTION 28

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RüdigerHachtmann (Berlin)

Arbeitsverfassung In dem Vortrag wurden vergleichend ausführlicher diskutiert: 1. das Koalitionsrecht (also Formen und Funktionen von Gewerkschaften/Arbeitgeberverbänden), 2. die überbetrieblichen, in die Sphäre (unmittelbarer) staatlicher Einflußnahme fallenden Rechte der Arbeitnehmer bzw. Restriktionen, denen sie ausgesetzt waren (u. a. 'Recht auf Arbeit', Beschränkungen des Arbeitsplatzwechsels, Formen der Arbeitskräftelenkung), 3. Tarifrecht und -politik (wie und von wem wurden die Lohn- und hthólsmindestbedingungen fixiert? Welche Verbindlichkeit besaßen sie?), 4. die innerbetrieblichen Vertretungsorgane der Arbeitnehmer (Vertrauensrat, Betriebsgewerkschaftsleitung, Betriebsrat) sowie 5. das Arbeitskampfrecht. Einleitend wurde auf den Gemeinschaftsbegriff im Arbeitsrecht eingegangen, ohne den die je nach System spezifischen Ausformungen der Arbeitsverfassungen nicht zu verstehen sind. Das Referat hob außerdem die Sonderrechte bzw. Diskriminierungen bestimmter Arbeitnehmergruppen hervor (vor allem die rassistischen Stigmatisierungen sowie die Diskriminierungen ausländischer Arbeiter während des „Dritten Reiches"), ohne die die NS-Arbeits- und Sozialpolitik unverstanden bleiben muß.

Winfried Süß (München)

Gesundheitspolitik Das Gesundheitswesen eignet sich besonders dazu, exemplarisch die „drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit" zu untersuchen, nicht nur, weil es in allen drei Vergleich s fallen zu den quantitativ bedeutendsten sozialpolitischen Handlungsfeldern zählt, sondern weil es sowohl durch hohe Strukturkontinuität über politische Systemwechsel hinweg als auch durch signifikante regimespezifische Umformungen geprägt ist. Der Sektionsbeitrag strebte einen vergleichenden Überblick über die verschiedenen Ausformungen deutscher Gesundheitspolitik von der Mitte der 1930er bis etwa zur Mitte der 1970er Jahre an. Hierzu wurde eine kontrastierende, auf die Eigenart der Untersuchungsgegenstände abzielende Betrachtungsweise gewählt, die den Zusammenhang zwischen den Inhalten staadichen Handelns und den jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Ordnungsideen in den Blick nimmt. Zunächst arbeitete der Referent die regimebedingten Differenzen heraus, aber auch, inwieweit solche Spezifika durch etablierte Traditionsbestände (etwa das ärztliche Selbstverständnis), nicht aus der politischen Ordnung ableitbare, gleichwohl aber handlungsbesdmmende Faktoren (wie die im Vergleich zu den westlichen Besatzungszonen ungleich stärkere Belastung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) durch die gesundheitlichen Folgen des deutschen Zusammenbruchs) und regimeindifferente Trends in der Entwicklung der Gesundheitssysteme beeinflußt wurden. Einleitend akzentuierte er anhand dergesundheitspolitischen Leitideen diejenigen Charakteristika der Gesundheitspolitik, die auf unterschiedlichen Wertbezügen basieren. Z.B. lag

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ZEITGESCHICHTE

der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik ein utopischer Gesundheitsbegriff zugrunde, der die Perspektive gesundheitsbezogenen Handelns vom kranken Individuum auf die übergeordnete biologische Einheit verlagerte. Mit der Berufung auf die vermeintliche Notwendigkeit, einen imaginären „Volkskörper" zu heilen, rechtfertigte der NS-Staat nicht nur Eingriffe in die Fortpflanzung seiner Bürger, sondern auch die bis zur Ermordung reichende Deprivation derjenigen Personen, die den gesetzten gesundheidichen Normen nicht entsprachen. Am Beispiel der Institutionenordnung des Gesundheitswesens (untersucht wurden u. a. die Steuerungsmechanismen, die Positionierung der Leistungsanbieter im gesundheitspolitischen Machtgefüge und die Struktur der ambulanten Versorgung) ging der Referent der Frage nach, inwieweit regimespezifische Zielvorstellungen bei ihrer Umsetzung durch etablierte Organisationsstrukturen und die damit verbundenen Interessen beeinflußt wurden. Weiterhin prüfte er, auf welche Vorbilder man bei der Ausgestaltung des Gesundheitswesens zurückgriff. Z.B. handelte es sich bei der oftmals als „Sowjetisierung" des Gesundheitssektors beschriebenen Implementierung der poliklinischen Versorgung in der SBZ/DDR auch um eine Wiederaufnahme verschütteter Kontinuitätsstränge aus der Zeit der Weimarer Republik. Anhand der institutionellen Entwicklung lassen sich nicht nur Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen herausarbeiten, sondern auch ihre Beziehungen zueinander. Daß die bereits seit den späten 1940er Jahren vorangetriebene Entprivatisierung des medizinischen Sektors erst nach dem Mauerbau vollständig durchgesetzt werden konnte, ist z.B. auch mit der von ostdeutschen Ärzten überproportional genutzten Möglichkeit der Abwanderung erklärbar, die bis 1961 eine zentrale Bestimmungsgröße der DDR-Gesundheitspolitik bildete und dem SED-Regime immer wieder Zugeständnisse an die dort verbliebenen Mediziner abnötigte. Umgekehrt begünstigte der Verweis westdeutscher Ärzte auf die Situation in der DDR die Durchsetzung standespolitischer Maximalpositionen in der Bundesrepublik. Ein weiteres Fragenbündel zielte auf die ícgímespczifischcnFunktions^uweisungen an das Gesundbeitssystem. Welche Probleme wurden ihm zur Lösung überwiesen? Wo und mit welchen Begründungen wurden gesundheitspolitische Schwerpunkte gesetzt, welche Bereiche wurden vernachlässigt? So waren z.B. die Gesundheitssysteme des nationalsozialistischen Deutschlands und der DDR hochgradig produktionsorientiert, während dieser Zusammenhang in der Bundesrepublik nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Frage nach den Wirkungen von Gesundheitspolitik ist eng mit der Analyse der Funktionszuweisungen verbunden: Wer erhielt privilegierten Zugang zur Gesundheitsversorgung, und welche Personenkreise wurden dabei benachteiligt? Bildeten sich regimespezifische „Versorgungsklassen" heraus, oder ähnelten sich die differierenden politischen Ordnungen bei der medizinischen Privilegierung/Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen? Abschließend machte der Referent den jeweiligen Stellenwert der Gesundheitspolitik deutlich. In welchem Umfang wurden dem Gesundheitssektor gesellschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt? In welchem Verhältnis stand Gesundheitspolitik zu anderen (sozialpolitischen Handlungsfeldern? So galt Gesundheit in den ersten Jahren des „Dritten Reiches" als zentraler Politikbereich, obwohl die hierfür bereitgestellten Geldmittel stagnierten. Vor allem in ihrer rassenhygienischen Komponente war nationalsozialistische Gesundheitspolitik dezidiert gesellschaftsgestaltend konzipiert und wirkte, z.B. durch selektieren-

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de und hierarchisierende Praktiken im Umgang mit Menschen, stilprägend auf benachbarte sozialpolitische Handlungsfelder. In der Bundesrepublik gestaltete sich dieses Verhältnis geradezu spiegelverkehrt: Obwohl der Gesundheitssektor zu den am stärksten expandierenden Bereichen des sozialen Systems zählte, besaß Gesundheitspolitik lange Zeit kaum thematisches Eigengewicht und differenzierte sich erst seit der Kostendämpfungsdebatte der 1970er Jahre als selbständiges Politikfeld aus. Christoph Conrad (Berlin)

Sicherung im Alter Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Frage, welchen Einfluß politische Brüche auf die institutionellen Strukturen der Alterssicherung hatten. Zu erklären ist die Kontinuität ihrer Grundprinzipien in der Abfolge von ideologisch und verfassungsmäßig so grundsätzlich verschiedenen politischen Ordnungen wie dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland. Gegenüber diesem durchgehenden Pfad hat allein die DDR grundlegende Änderungen in Zielen und Inhalten realisiert. Unter Sicherung im Alter wurden hier nur Einkommenstransfers im Falle von Alter (bzw. Ruhestand) und Invalidität verstanden. Darunter fallen also Arbeiter- und Angestelltenrenten sowie Beamtenpensionen; Ergänzungen zur staatlichen Alterssicherung wie z.B. betriebliche Pensionen und arbeitgeberbezogene Zusatzversorgungen, Sozialhilfe sowie allgemeine Subventionen der Lebenshaltung wurden als systematische Elemente einbezogen. Die Grundfrage des Vortrags wurde mit Hilfe zweier sozialwissenschaftlicher Modelle aufgeschlüsselt: a) dem des „Wohlfahrtsregimes" im Anschluß an Gosta Espino-Andersen und b) dem der „path dependency" im Anschluß an wirtschafts- und technikhistorische Vorbilder. Folgende Kriterien sollten jeweils im NS, in der BRD und der DDR bestimmt werden: 1) Einheit oder Vielfalt der Trägerinstitutionen, 2) Finanzierung und Leistungsniveau, 3) Einschluß- und Ausschlußregeln für Mitgliedschaft und Zugang zu Leistungen, 4) Verknüpfung der Verrentung mit Arbeitsmarkt bzw. Arbeitskräftebewirtschaftung. Der Staat wirkt u. a. durch die Alterssicherung als Zuteiler kollektiver Lebenschancen. Seine Präferenzen treten hervor, wenn man die Behandlung verschiedener Klientengruppen von Sozialpolitik innerhalb eines politischen Kontextes vergleicht. In der Konkurrenz mit Jugend und Familien scheinen die Alten im Ν S und in der DDR eher zu den Verlierern, in der BRD eher zu den Gewinnern der Verteilungspolitik gehört zu haben. Günther Schufy (Köln)

Frauen und Familien Die soziale Sicherung von Frauen und Familien umfaßt die Sozialversicherung und Sozialhilfe, Leistungen für Familien und soziale Dienste. Formten der Nationalsozialismus, die DDR und die Bundesrepublik die soziale Sicherung der Frauen und Familien in spezifi-

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scher Weise? In welchem Mischungsverhältnis standen langfristige Traditionen des deutschen Sozialstaats und neue politische bzw. weltanschauliche Weichenstellungen? Zur Erschließung des Themas erörterte der Referent folgende Aspekte: 1. Er untersuchte das jeweilige Frauenleitbild und seine Wirkungen in der Praxis, insbesondere im Hinblick auf Rollenzuweisungen an die Frauen und ihre Chancen, erwerbstätig zu sein (bzw. in den Arbeitsmarkt gedrängt zu werden) und eigenständige oder (vom Mann durch Heirat bzw. dessen Erwerbstätigkeit) abgeleitete soziale Sicherung zu erlangen. Er klärte, ob und wie die staatlichen Maßnahmen dazu bestimmt oder geeignet waren, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu ermöglichen, zu erleichtern oder zu erschweren. 2. Er analysierte die Familienpolitik im Hinblick auf pronatalistische Ziele und Effekte. Insbesondere fragte er, ob dem Mutterschutz im Nationalsozialismus und in der DDR gleichgerichtete bevölkerungspolitische Ziele zugrunde lagen. 3. Er prüfte Art und Ausmaß von Innovationen bei der sozialen Sicherung der Frauen und Familien. Inwieweit wurden ζ. B. Ansätze eigenständiger sozialer Sicherung von weiblicher Familienarbeit realisiert? Ansätze hierzu gibt es z.B. in der Bundesrepublik (Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung). 4. Warum waren/sind Frauen und Familien in allen drei politischen Ordnungen enger aufeinander bezogen als Männer und Familien? In diesem Zusammenhang war auch zu untersuchen, warum es offenbar keinem der drei Systeme gelang, die Nachteile abzugleichen, die die Mutterrolle in einem vornehmlich über die Erwerbstätigkeit vermittelten System der sozialen Sicherung mit sich bringt.

Wilfried Rudioff

{München)

Fürsorge Gegenstand des Referates waren die beiden fürsorgepolitischen Kernbereiche der materiellen Hilfe und der Jugendfürsorge. Die Fürsorge unterscheidet sich von der eher tatbeständlichen Regulierungsweise der Sozialversicherung durch die weiter gefaßten Ermessensspielräume, die ihren Trägern in der dezentralen Umsetzung zugestanden werden. Da sie nicht nur Einkommenshilfen zur Existenzsicherung, sondern auch die individuelle persönliche Hilfe zu ihren Steuerungsmedien zählt, da sie nicht nur die äußere Behebung von Not, sondern auch die korrigierende Verhaltensbeeinflussung als Ziel ihres Handelns betrachtet, sind Klientelwahrnehmung und Leitbilder der Fürsorge für normative Umdeutungen im Zeichen gesellschaftlichen Wertewandels überaus empfanglich. Das gilt erst recht für die abrupten politischen Systemumbrüche, wie sie dem hier unternommenen Systemvergleich zugrunde liegen. Die Instrumente, deren sich die Fürsorge bedient, wie auch die Problemfelder, denen sie bevorzugte Aufmerksamkeit schenkt, können Aufschluß über dominierende gesellschaftliche Ordnungsideen geben. Als Lückenbüßerin des Sozialstaats ist sie ein aufschlußreicher Seismograph für neu entstehende, neue Dimensionen annehmende oder aber neu in das öffentliche Bewußtsein dringende gesellschaftliche Nodagen. Weniger das Fürsorgerecht als vielmehr die Praxis der Fürsorge sind es dabei, die bei einem intranationalen Vergleich im Vordergrund stehen sollten.

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Welche Unterschiede kennzeichnen die Rolle, die den beiden Zweigen der Fürsorge in den jeweiligen Vergleichssystemen zukam? Und inwiefern reflektieren diese bestimmte institutionelle oder normative Grundlagen des Systems? Die Fürsorge gehörte neben der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik zu denjenigen Teilgebieten des „NS-Wohlfahrtsstaates", auf denen die erbbiologisch-sozialutilitaristische Wertigkeitsideologie der Nationalsozialisten am breitesten Raum greifen konnte. In der DDR unterlag sie hingegen einer deutlichen Funktionsentleerung und Marginalisierung. Muß in dem einen Fall nach den Gründen für das 'wohlfahrtspolitische' Gewicht der Fürsorge gefragt werden, so in dem anderen nach Faktoren der Verlagerung und Entlastung, die insbesondere die materielle Fürsorge entbehrlich machten. In der Bundesrepublik war die Entwicklung der materiellen Fürsorge am stärksten von gegenläufigen Phasenbildungen geprägt. Hier ist das 'unterste Netz' des Sozialstaates seit den siebziger Jahren neu belastet, die soziale Arbeit zugleich aber auch mit veränderten Leitbildern ausgerüstet und insofern sowohl nolens als auch volens aufgewertet worden. Drei Themenkomplexe wurden schwerpunktmäßig behandelt: 1) Zunächst wurden die materiellen Aufgaben fürsorgepolitischer Existenzsicherung unter dem Gesichtspunkt betrachtet, nach welchen Kriterien der zugestandene Existenzbedarf ermittelt, inhaltlich ausgewiesen, hierarchisch gegliedert und differentiell zugeteilt wurde. Inwieweit schlagen in den Bemessungsgrundlagen systemspezifische Ordnungsideen durch? Sodann wurde auf das spannungsreiche Beziehungsfeld von Fürsorge und Arbeit in den drei Vergleichsfällen eingegangen. Welcher Mittel, so wurde gefragt, bedienen sich die drei Fürsorgeregime, wenn sie deutlich machen wollen, daß für erwerbsfähige 'Befürsorgte' das Arbeitsleben und nicht die öffentliche Hilfe das Bezugsfeld für den Erwerb des Lebensunterhalts zu sein hat? Anhand dieser Problemkonstante der Fürsorgepolitik kann getestet werden, inwiefern repressive oder sozialpädagogische Ausrichtung, 'harte' Zwangs- oder 'weiche' Leistungselemente die systemspezifische Antwort der jeweiligen Fürsorgeregime beherrschten. 2) Mit Blick auf die institutionelle Differenzierung der Jugendhilfe fragte der Referent sodann nach der Entfaltungsrichtung dieses Fürsorgezweigs in den verglichenen Systemen. Wie stark spiegeln sich — auch hier — in der jeweils anzutreffenden Kombination von Eingriffs- und Leistungselementen Systemeigenschaften der drei Vergleichsstaaten? Welche Durchschlagskraft erlangten weltanschaulich vorgeprägte Leitideen wie der Primat erbbiologischer Wertigkeitsmuster im Nationalsozialismus oder die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit" in der DDR? Ist es der pluralistischen Gesellschaftsverfassung geschuldet, wenn die Jugendfürsorge der B R D ihrem Handeln solche wertbeladenen programmatischen Maßgaben nicht voranstellen kann? 3) Schließlich fragte der Referent nach dem jeweiligen Aktionsfeld der Wohlfahrtspflege und hier zunächst nach dem Verhältnis zwischen freien und öffentlichen Trägern. Unter den Vorzeichen des NS-Regimes lag das dynamische Element im Kräftefeld von Staat, Partei und Gesellschaft bei der NSV, also der Parteiorganisation; unter den Herrschaftsbedingungen der D D R dominierten, von der Partei kontrolliert, die staatlichen Träger; in der B R D hingegen wurde, das Weimarer Arrangement weiter fortentwickelnd, den freien Verbänden gesetzlich ein Vorrang zugesprochen. In allen drei Systemen indes blieb, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Prägekraft, das für die deutsche Wohlfahrtskultur charak-

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teristische, im internationalen Vergleich weitgehend singulare Verbandssystem wirkungsmächtig. Es ergibt sich damit ein Mischungsverhältnis von Systemprägung und Pfadabhängigkeit, das näher aufgeschlüsselt wurde. Im Hinblick auf die Formulierung des wohlfahrtspolitischen Programms wie auch dessen anschließende Umsetzung prüfte der Referent überdies den Einfluß und Stellenwert, der jeweils systemspezifisch den professionellen Expertengruppen eingeräumt wurde.

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29. Arbeiter im „Arbeiter-und-Bauern-Staat" Leitung: Christoph Kleßmann (Potsdam) Christoph Kleßmann (Potsdam): Einführung Veter Hübner (Potsdam): Arbeiter in der D D R — Begriffliche und statistische Probleme Almut Riet^schel (Berlin): Frauenerwerbstätigkeit und Teilzeitarbeit in der D D R von 1957 bis 1970 Jörg Roesler (Berlin): Die Rolle der Arbeitsbrigaden in der betrieblichen Hierarchie der VEB Josef (Basel): Die DMooser D R und die Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Christoph Kleßmann (Potsdam)

Einführung Die Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung gehört nicht zu den bevorzugten Themen der früheren und gegenwärtigen DDR-Forschung. Dieses Forschungsfeld weist noch große 'weiße Flecken' auf und bietet, wenn es mit Ausdauer und Sorgfalt bearbeitet wird, überraschende neue Einsichten. Auf einige grundsätzliche Probleme hinzuweisen und Zwischenergebnisse aus laufenden Forschungen zu bieten, war das Ziel dieser Sektion, die an vier ausgewählten Themen zentrale Aspekte einer umfassenden Geschichte der „führenden Klasse" in der D D R erörterte. Dazu gehört die komplizierte Vorfrage, wer in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen der D D R zur „Arbeiterklasse" gezählt wurde und welche methodischen Probleme sich aus der ideologisierten Begrifflichkeit ergeben. Die in der D D R besonders wichtige Frage der Rekrutierung von Frauen für den Arbeitsprozeß wurde an einem aufschlußreichen und bisher kaum näher erforschten Beispiel, der Teilzeitarbeit, erörtert. Neue Einblicke in die innerbetriebliche Konfliktgeschichte bietet die Untersuchung der Arbeitsbrigaden. Schließlich eröffnet sich mit der Frage nach der Bedeutung, die die Existenz der D D R und die Aktivität der SED für die Prägung der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik hatte, ein politisch und sozialhistorisch höchst aufschlußreiches Feld der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte.

Veter Hübner (Potsdam)

Arbeiter in der D D R - Begriffliche und statistische Probleme Den Forschungen zur Sozialgeschichte der Arbeiter in der S B Z / D D R machen die unterschiedliche Anwendung des Arbeiter-Begriffs und damit zusammenhängende statistische Probleme auch nach der weitgehenden Ö f f n u n g ostdeutscher Archive erheblich zu schaf-

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fen. Noch immer fallt eine Antwort darauf schwer, wer im „deutschen Arbeiter- und Bauernstaat" wirklich Arbeiter war und wie sich die im politischen Sprachgebrauch allgegenwärtige „Arbeiterklasse" zusammensetzte. Offiziell zählten Arbeiter und nicht zur Intelligenz gehörende Angestellte zur Arbeiterklasse, also rund 80 Prozent der Bevölkerung. Neuere Schätzungen gehen jedoch davon aus, daß nur ca. 32 Prozent der wirtschaftlich Tätigen in 'echten' Arbeiterberufen beschäftigt waren. In dieser Diskrepanz spiegeln sich nicht einfach nur definitorische Probleme; vor allem gesellschaftspolitische Konzeptionen und Praktiken der SED kamen hier zur Geltung. Der damit verbundenen Tendenz zur Unbestimmtheit stand freilich, bei allen Schwierigkeiten einer eindeutigen sozialstrukturellen Zuordnung von Personen, die Notwendigkeit entgegen, praktikable Begriffe zu verwenden - nicht zuletzt für Zwecke der Wirtschaftsplanung und Sozialpolitik. Die Erwerbstätigenstatistik der DDR blieb immer unvollständig, weil sie den sogenannten „X-Bereich" ausklammerte, der vor allem macht- und sicherheitspolitisch relevante Institutionen und Betriebe umfaßte. Eine vom Statistischen Bundesamt vorgenommene Rückrechnung bezifferte den Kreis der hier Beschäftigten für 1989 mit ca. 725.000 Personen, also auf mehr als sieben Prozent der Erwerbstätigen. Als „Berufstätige" nicht erfaßt wurden auch Soldaten, Lehrlinge und im Wochenurlaub bzw. im „Babyjahr" befindliche Frauen. Der „X-Bereich" glich im Hinblick auf die Arbeitskräftebilanz einer schwarzen Kasse. Er konnte das verfügbare Arbeitskräftereservoir präferiert anzapfen und damit der allgemeinen Arbeitskräfteplanung entziehen. In der Erwerbstätigenstatistik der DDR gab es mit zwei Ausnahmen weder Stichprobenerhebungen noch sekundärstatistische Erfassungen. Im wesentlichen bezog die Erwerbstätigenstatistik ihre Daten aus den 1950,1964,1971 und 1981 durchgeführten Volks- und Berufszählungen sowie aus den seit 1952 durchgeführten jährlichen Berufstätigenerhebungen. Untergliedert wurde in Arbeiter und Angestellte, Genossenschaftsmitglieder, Selbständige und mithelfende Familienangehörige. Daneben ist eine Reihe betriebsbezogener Erhebungen von Interesse, so vor allem die Arbeitskräfteberichterstattung, mit der Zahl und Struktur der Arbeitskräfte im Jahresdurchschnitt, Lohn- und Gehaltssummen, Arbeitszeit und Ausfallzeiten erfaßt wurden. Allerdings erstreckten sich solche Zählungen nur auf ausgewählte Betriebe, Kombinate, Wirtschaftszweige und Institutionen, und sie fanden nicht jährlich statt. Die statistische Definition des Arbeiterbegriffs unterlag mehrfach Veränderungen. Das gilt besonders für die fünfziger Jahre, in denen der statistische Begriffsapparat sich erst allmählich konsolidierte. Unter Berücksichtigung dieser definitorischen Wandlungen kann die Auswertung der Berufstätigenzählungen Auskunft über die Zahl und Zusammensetzung der Arbeiterschaft geben. Daten der Zählungen liegen aggregiert für Kreise, Bezirke und für die gesamte DDR vor. Teils sind auch die Erhebungsunterlagen einzelner Betriebe archiviert worden. Als Instrument der zentralen Wirtschaftsplanung folgte die Erwerbstätigenstatistik deren Bedürfnissen. Sie erstreckte sich auf alle an der Haupdeistung eines Betriebes bzw. einer Einrichtung beteiligten bzw. für diese notwendigen Beschäftigtengruppen, darunter auch auf Produktionsarbeiter. Gezählt wurde, was die Planung als relevant betrachtete. Gefragt waren Daten für die Ausarbeitung des Planes und für die Kontrolle seiner Realisie-

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rung. Daraus ergab sich ein Zwang zur möglichst vollständigen Datenerfassung. Es hat sich bestätigt, daß die so erhobenen Daten weitgehend korrekt waren. Obwohl Mitte der fünfziger Jahre ein starker Trend zur Zentralisierung des Berichtswesens einsetzte, unterhielt ein Teil der Ministerien wie auch anderer wirtschaftsleitender und Staatsorgane ein eigenes Fach-Berichtswesen. In den siebziger und achtziger Jahren entstanden außerdem in Verantwortung zentraler Staatsorgane Arbeitskräftedatenspeicher, darunter der „Datenspeicher Gesellschaftliches Arbeitsvermögen" des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne sowie der „Zentrale Kaderdatenspeicher" des Ministerrats der DDR. Die Erwerbstätigenstatistik unterschied bei Produktionsarbeitern nach Produktionsgrundarbeitern und Produktionshilfsarbeitern. Zu ersteren zählten sämtliche Hand- und Maschinenarbeiter, die unmittelbar die Fertigung der im Produktionsplan enthaltenen Erzeugnisse durchführten und deren Löhne als Fertigungslöhne verbucht wurden. Produktionshilfsarbeiter waren alle Arbeitskräfte, die durch ihre Tätigkeit die Durchführung der Produktion unterstützten und deren Löhne als Gemeinkostenlöhne nachgewiesen wurden. Doch auch unter anderen Begriffen der Erwerbsstatistik sind Arbeiter anzutreffen, so beim Lager- und Transportpersonal im Handel und beim Hilfspersonal. Auch beim Betriebsschutz, der ohne den sogenannten Betriebsschutz A (Volkspolizei) erfaßt wurde, dürften insbesondere ältere - oftmals schon berentete — Arbeiter z.B. als Pförtner präsent gewesen sein. Eine besondere Rolle spielte der Begriff „Betreuungspersonal", der sich auf Beschäftigte in kulturellen und sozialen Einrichtungen von Betrieben bezog, aber auch „freigestellte Funktionäre der Massenorganisationen" einschloß. Diese konnten ihre Karriere durchaus als Arbeiter begonnen und sich selbst auch weiterhin als Arbeiter verstanden haben. Offiziell zählten sie ohnehin zur „Arbeiterklasse". Einzelne Gruppierungen von Arbeitern finden sich in der Erwerbstätigenstatistik zudem unter den Bezeichnungen Heimarbeiter, Facharbeiter, ungelernte Arbeiter und Umschüler. Veränderungen betrafen nicht so sehr diese Begriffe selbst; sie ergaben sich häufiger aus deren wechselnder Zuordnung nach Wirtschaftszweigen. Die Modifikationen des Arbeiter-Begriffs sind im wesentlichen als Angleichung an planungspraktische und produktionstechnische Entwicklungen wie auch an die damit verbundenen Wandlungen von Berufsinhalten und -formen zu verstehen. Daß dabei der Begriffsapparat aber auch schwammiger wurde, kann durchaus als Folge sozialer Nivellierungsprozesse gesehen werden. Almut Riet^schel (Berlin)

Frauenerwerbstätigkeit und Teilzeitarbeit in der DDR von 1957 bis 1970 Die Geschichte der Frauenerwerbsarbeit in der DDR handelt in ihrer traditionellen Lesart von der erfolgreichen Durchsetzung des Leitbilds der lebenslang vollberufstätigen Frau. In dieser „success story" spielte Teilzeitarbeit — der Begriff bezieht sich auf Arbeitsverhältnisse mit einer vertraglich festgelegten Wochenarbeitszeit unterhalb der Normalarbeitszeit - bisher nur eine marginale Rolle. Im Vortrag wurde eine andere Lesart präsentiert: Teilzeitarbeit als heimliches Modell der Ehefrauen- und Müttererwerbs-

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arbeit in der DDR — mit der Einschränkung, daß sich diese These auf den Zeitraum zwischen 1957 und 1970 bezieht. Die von der SED angestrebte Ablösung des traditionellen Ernährer—Hausfrau/ZuverdienstModells durch die neue Norm der kontinuierlichen Vollzeitberufstätigkeit für Männer und Frauen konnte nicht vollständig gelingen, weil das gesellschaftliche Grundarrangement der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, das die Verantwortung für Haus- und Familienarbeit den Frauen zuwies, nicht angetastet wurde. Auf dieser Zuschreibung basierte das ganze Konzept, vollerwerbstätige Mütter im Haushalt und bei der Kindererziehung zu endasten. Die zahllosen Gesetze und Maßnahmen, die Frauen dabei helfen sollten, Beruf und Familie „immer besser" miteinander zu vereinbaren, knüpften an die Bedürfnisse der Frauen an, aber sie schrieben auch ihre Zuständigkeit für Haushalt und Kinder immer wieder neu fest. Die hohe Frauenerwerbsquote der DDR war maßgeblich durch Teilzeitarbeit geprägt. 1958 waren erst 9% aller lohnabhängig beschäftigten Frauen teilzeitbeschäftigt, zwölf Jahre später schon 30%. Den Aufstieg von Teilzeitarbeit zum heimlichen Modell der Ehefrauen- und Müttererwerbsarbeit spiegeln auch schriftliche Umfragen wider, die das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft 1968 und 1970 durchführte. Zwar sprachen sich — ganz anders als in Westdeutschland — über 80% der Befragten dafür aus, daß verheiratete Frauen berufstätig sein sollten, aber nur ein Fünftel votierte für Vollzeitarbeit. Die Hälfte der Teilnehmer wählte die Option, eine verheiratete Frau solle „nur verkürzt" arbeiten. Nur als „Einstiegshilfe" für Hausfrauen in die Berufstätigkeit wurde Halbtagsarbeit von der SED akzeptiert und Ende der 50er Jahre auch propagiert. Hinter dieser Politik standen neben dem Interesse, die Arbeitskraftreserve der Hausfrauen zu mobilisieren, Überlegungen, in Zeiten knapper Kindergarten- und Krippenplätze allen Frauen Gelegenheit zu geben, ihr Recht auf Arbeit wahrzunehmen. Nachdem aber in den 60er Jahren immer mehr vollbeschäftigte Frauen ihre Arbeitszeit verkürzten, wurden die Weichen Richtung „Eindämmung" der Teilzeitarbeit gestellt. Dank einer zunehmend rigiden Anti-Teilzeitarbeitspolitik gelang es in den 70er Jahren, die Quote der Frauen, die verkürzt arbeiteten, unter 30% zu drücken. Teilzeitarbeit ist als Resultat eines Aushandlungsprozesses zu begreifen, den die Frauen an diesen Arbeitsplätzen aktiv gestalteten. Dieser prozessuale Charakter tritt deutlich hervor, wenn man Teilzeitarbeit als Tauschgeschäft „Zeit gegen Geld" interpretiert. Für kürzere Arbeitszeiten boten Frauen an, auf einen Teil des „Normallohns" zu verzichten. Der Arbeitskräftemangel in der DDR sowie die steigenden Reallöhne stärkten die Positionen von Ehefrauen, ihre Arbeitszeitwünsche durchzusetzen. In Industriebetrieben war es allerdings besonders schwierig, das Arbeitszeitregime auf Familienzeiten abzustimmen. Obwohl die Anträge vollbeschäftigter Frauen auf Verkürzung der Arbeitszeit die Betriebe vor erhebliche Schwierigkeiten in der Arbeitsorganisation stellten, verfolgte eine Reihe von Betrieben in den 60er Jahren eine teilzeitarbeits freundliche Politik, die zum Teil soweit ging, betriebliche Rentabilitätserwägungen dem Recht der Frauen auf Arbeit unterzuordnen. Die konkreten Aushandlungsprozesse 'vor Ort' wurden in Zeiten der „Eindämmungspolitik" nach außen jedoch sorgfaltig abgeschirmt. In den 70er Jahren wurde die erstaunliche Flexibilisierung des Arbeitszeitregimes jedoch oft rückgängig gemacht.

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Veröffentlichungshinweis·. Der Vortrag, der Ergebnisse eines kurz vor dem Abschluß stehenden Dissertationsvorhabens zur Geschichte der Teilzeitarbeit in der DDR zwischen 1948 und 1970 vorstellte, ist nachzulesen im Bulletin des Zentrums für Zeithistorische Studien Potsdam e.V., Nr. 9 (1997), das die Arbeit großzügig förderte. Das Forschungsvorhaben ist Teil eines vergleichenden Projekts zur Geschlechtergeschichte der deutschen Nachkriegszeit. Die Geschichte der Teilzeitarbeit in Westdeutschland wird von Christine von Oertzen (Berlin) bearbeitet. Jörg Roes/er (Berlin)

Die Rolle der Arbeitsbrigaden in der betrieblichen Hierarchie der VEB Die massenhafte Bildung von Arbeitsbrigaden in den VEB im Frühjahr 1950 vollzog sich in Übereinstimmung mit den von SED- und Gewerkschaftsspitze verinnerlichten marxistischleninistischen Vorstellungen von der schöpferischen Rolle der Werktätigen bei der Produktionssteigerung im Rahmen der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung auf der Grundlage der in den Staatsbetrieben herrschenden sozialistischen Produktionsverhältnisse. Ebenfalls im Jahr 1950 wurde der Prozeß der Schaffung einer „sozialistischen Betriebsorganisation" mit der endgültigen Durchsetzung des seit 1948 von der SED-Führung verfolgten „Prinzips der Einzelleitung und persönlichen Verantwortung" abgeschlossen. Dessen Notwendigkeit wurde nicht aus den Produktionsverhältnissen, sondern aus den materiellen Produktionsbedingungen, dem „Entwicklungsstand der Produktivkräfte", abgeleitet. Beide Prinzipien widersprachen sich. Während die Brigadebewegung Initiativen der Arbeiter im betrieblichen Produktionsprozeß durchaus einschloß, sogar verlangte, forderte das „Prinzip der Einzelleitung" von den Arbeitern dagegen nicht Selbstgestaltung, sondern Subordination. Nur theoretisch ließ sich die Anwendung beider Prinzipien im Betrieb auf der Basis der marxistisch-leninistischen Auffassung harmonisieren, daß der Betrieb die gesamte Belegschaft „unter den Verhältnissen der kameradschaftlichen Zusammenarbeit und der sozialistischen Hilfe vereinigt". In der Praxis kam es dagegen zwischen Brigaden und den Vertretern der betrieblichen Leitungshierarchie - den Meistern, Abteilungsleitern und den Werksdirektoren - zu Konflikten. Diese Konflikte erreichten 1950/51 bei der Bildung der Arbeitsbrigaden und 1959/60 mit der Schaffung der sozialistischen Brigaden einen Höhepunkt. Innerbetrieblich traten vor allem der (von der Brigade gewählte) Brigadier und der Meister (als unmittelbarer Vertreter der staatlichen Leitung an der Produktionsbasis) als Kontrahenten einer Auseinandersetzung auf, die zeitweilig zur Übernahme von Funktionen der Meister durch den Brigadier, in Einzelfällen auch zu deren Ersetzung führte. Überbetrieblich setzten sich die Gewerkschaften und die „staatliche Leitung" der Industrie - bis hin zu den Industrieministern — über die Rolle der Brigaden im betrieblichen Produktions- und Leitungsprozeß auseinander. Beide Parteien akzeptierten die „führende Rolle" der SED und beugten sich schließlich auch den Entscheidungen, die die SED-Führung traf. Wenn diese für das Prinzip der Einzelleitung Partei ergriff, die Meister und Werkleiter gegen Brigadiere bzw. Brigaderäte - 1960 auch mit dem Syndikalismusvorwurf - verteidig-

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te, so sah sie sich zu ökonomischen und politischen Prioritätsentscheidungen gezwungen, die ihr keineswegs nur behagten, da sie ihre Glaubwürdigkeit als „Partei der Arbeiterklasse" berührten. Sie war daher eher bereit, die Initiativen der Arbeits kollektive zu stutzen, als den Forderungen des Managements nachzugeben, die Brigaden zu minimieren oder aufzulösen. Für die weitere Förderung der „Brigadebewegung" sprachen auch pragmatische Erwägungen: Nach dem Scheitern der Versuche der SED-Führung, das Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion über die Lohngestaltung mit Hilfe von zentraler Normenregelungen zu bestimmen, überließ sie die Lösung des Normen- und Lohnproblems den Betrieben. Hier fanden sich nach 1953 die Brigadiere und Meister mit Billigung der Brigaden und der Werkleitung zu einer „Akteurskoalition" zusammen, die einerseits den Arbeitern höhere Löhne sicherte als die SED-Führung für opportun hielt, andererseits aber auch das Normenproblem, das zum Juniaufstand 1953 geführt hatte, als gesellschaftliches Problem neutralisierte. Damit, ebenso wie mit ihren unter dem Motto „sozialistisch leben" gemeinschaftlich durchgeführten kulturellen Aktivitäten, trugen auch die Brigaden bis 1989/90 zur Stabilisierung der Herrschaft der SED bei. Quellen- und

Uteraturhiniveise.

1. Archivmaterialien „Bericht über die Vorbereitung und Durchführung der planmäßigen Bildung von Arbeitsbrigaden zum Kampf für die Ehrenbezeichnung 'Brigade der ausgezeichneten Qualität'", in: Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), Zentrales Gewerkschaftsarchiv (ZGA), A 18/309 unp. „Gemeinsamer Plan des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB und des Sekretariats des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend zur Organisierung einer Bewegung zur Erringung des Titels 'Brigade der sozialistischen Arbeit'", in: SAPMO, ZGA, A 201.1317 unp. 2. Literatur Konsens, Konflikt und Kompromiß, soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970 (Zeithistorische Studien, Bd. 3), Berlin 1995, hier S. 211-245; J Ö R G ROESLER, Inszenierung oder Selbstgestaltungswille? Zur Geschichte der Brigadebewegung in der DDR während der 50er Jahre (hefte zur ddr-geschichte 15), Berlin 1994. PETER HÜBNER,

Ein Abdruck des vollständigen Beitrags ist vorgesehen in: Deutschland Archiv, Heft 3 bzw. 4/1997.

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Josef Mooser (Basel)

Die DDR und die Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Das sehr spannungsvolle Grundmuster von Abgrenzung, Verflechtung und Wechselwirkung, von Nähe und Ferne zugleich im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten läßt sich auch auf vorstaatliche Institutionen und soziale Gruppen übertragen. Wie versuchten Instanzen der DDR Einfluß zu nehmen auf SPD und Gewerkschaften? Welche Bedeutung hatte die Existenz der DDR für das Selbstverständnis und das politische Handeln der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik Deutschland? Welche Relevanz besaß die „nationale Frage" für die „soziale Frage"? Die (noch vorläufigen) Antworten auf diese Fragen konzentrieren sich auf die 1950er Jahre. In dieser Periode war für das Selbstverständnis und das politische Handeln von SPD und Gewerkschaften grundlegend die Einheit von nationaler, sozialer und demokratischer Frage und die Naherwartung der Wiedervereinigung. In fundamentaler Abgrenzung zur SED und DDR, zu deren intensiver Propaganda und personeller Einflußnahme, erhoben sie einen Alleinvertretungsanspruch für die deutsche Arbeiterbewegung. Auch das Godesberger Programm forderte die Wiedervereinigung als „lebensnotwendig" und den „demokratischen Sozialismus" als Alternative zum Kommunismus. Bis zum Deutschland-Plan der SPD von 1959 sind Erwartungen zu erkennen, letzterem Ziel im besonderen auch durch die Wiedervereinigung nahezukommen. Dabei sollten die von der SED sogenannten „sozialistischen Errungenschaften" in rechtsstaatlich modifizierter Form als „soziale Errungenschaften" in das vereinigte Deutschland übergehen (Bodenreform und Bildungsreform, Enteignungen des industriellen Großbesitzes, Aufhebung der Arbeiter—Angestellten-Differenz). Wahrscheinlich ist der Rückhalt für die sozialen Ziele der Wiedervereinigungspolitik in der westdeutschen Arbeiterschaft nicht zu unterschätzen. Die Wohlfahrtseffekte der Hochkonjunktur blieben bis in die späten 1950er Jahre bescheiden, und daneben stand eine große Enttäuschung in der Arbeiterschaft darüber, daß in der Rhetorik und Kultur des „Wirtschaftswunders" ihre heroische Arbeitsleistung zu wenig Anerkennung fand. Die sozialpolitische Relevanz der DDR als Gegenstand der Wiedervereinigungshoffnung verlor jedoch mit der Zeit ihren arbeiterbewegungsspezifischen Charakter. Im Rahmen der Systemkonkurrenz wurde der Ausbau des Sozialstaates vorangetrieben, der Ziele der Arbeiterbewegung erfüllte und diese zu einem Träger des bundesdeutschen Sozialstaates machte. Der Wirkung dieses Prozesses lief parallel die außen- und sicherheitspolitische Entwicklung. In den 1960er Jahren lockerte sich das gespannte Muster von Abgrenzung und Verflechtung. Daran hatte auch die DDR ihren Anteil. Im Schatten der gewaltsamen Schließung der Grenze orientierten sich Politik und Sprache des „real existierenden Sozialismus" (Begriff seit 1973) auf die Binnenverhältnisse der DDR bzw. des „sozialistischen Lagers". Gleichzeitig entfernte sich die SED/DDR in ihrem Kampf um außenpolitische Anerkennung von ihren früheren massiven geschichtspolitischen Ansprüchen als „Sachwalterin" der ganzen Nation. Sie lebten aber weiter in den Auseinandersetzungen um die „Vergangenheitsbewältigung". In den unterschiedlichen Gestalten des „Antifaschismus" erneuerte sich die alte Spannung zwischen Nähe und Ferne.

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30. Konstitutionsfaktoren des Geschichtsbildes in der DDR Leitung: Konrad Jarausch (Chapel Hill) / Martin Sabrow (Potsdam) Martin Sabrow (Potsdam): Einleitung Konrad Jarausch (Chapel Hill): Die DDR-Historiographie als Forschungsgegenstand Martin Sabrow (Potsdam): Die DDR-Geschichtswissenschaft im Spiegel ihrer Gutachtenpraxis Matthias Middell (Leipzig): Wissenschaftliche Schulen in der Historiographie der DDR? Siegfried Lokatis (Potsdam): Die Zensur historischer Literatur in der DDR Edgar Wolfrum (Berlin): Geschichtspolitik im deutsch—deutschen Systemkonflikt. Das Beispiel Preußen-Renaissance Thomas Flierl (Berlin) : Ernst Thälmann als Kunstfigur: Die Formung historischen Bewußtseins im politischen Denkmal Veröffentlichungshinweis·. Die Beiträge von Jarausch, Middell, Sabrow und Wolfrum erscheinen in: Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, hg. v. MARTIN SABROW, Leipzig 1997.

Martin Sabrow (Potsdam)

Einleitung Sechs Jahr nach der deutschen Vereinigung macht sich ein Wandel im Umgang mit der ideologischen und intellektuellen Hinterlassenschaft der DDR auch in bezug auf die Geschichtswissenschaft der DDR bemerkbar. Die Zeit der Enthüllungen und Erinnerungsberichte neigt sich dem Ende zu; die Zahl der kritischen und selbstkritischen Stellungnahmen zur Lage der Zunft unter den Bedingungen der sozialistischen Diktatur nimmt ab; die lange dominierende Auseinandersetzung zwischen den einst Etablierten und den einst Ausgegrenzten hat an Schärfe und Apodiktik verloren. Offenbar vollzieht sich gegenwärtig eine Entwicklung von der Distanzgewinnung und Delegitimierung hin zur Historisierung der „zweiten deutschen Geschichtswissenschaft", die sich übergreifenden Fragestellungen und Theorieangeboten öffnet und tradierte Abgrenzungen in Frage stellt. In den Blick rücken zunehmend die inneren Gegensätze und Organisationsmechanismen einer 'verwalteten Vergangenheit', in der die Fachhistorie nur ein Konstitutionsfaktor un-

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ter anderen war; in den Blick rücken aber auch die deutsch—deutschen Wechselwirkungen im historischen Diskurs und nicht zuletzt die Frage nach der 'anomalen Normalität' einer vierzigjährigen Fachtradition unter der SED-Herrschaft. Konrad Jarausch (Chapel Hill)

Die DDR-Historiographie als Forschungsgegenstand Mehr als ein halbes Jahrzehnt nach dem Kollaps der DDR bleibt ihre Geschichtswissenschaft ein sperriger Gegenstand. Uneingestandener Grund der Kontroversen ist die Frage des Verhaltens der historischen Forschung gegenüber dem SED-System. Die verbreitete Kritik an der Instrumentalisierung der DDR-Historiographie wirft die Schlüsselfrage auf, wie man mit ihrem bibliothekenfüllenden Erbe umgehen soll. Im Zuge der Vereinigung haben sich die Urteile über die ostdeutsche Geschichtswissenschaft grundlegend gewandelt. Während auch westliche Forscher in den achtziger Jahren ihren DDR-Kollegen eine wachsende Wissenschafdichkeit zubilligten, schlug das Pendel der Beurteilungen nach 1990 in eine kritische Richtung zurück, wurde die ostdeutsche Historiographie nun wieder als Legitimationswissenschaft attackiert. Obwohl in der institutionellen Umstrukturierung notwendig, läuft aber diese Evaluationsperspektive Gefahr, die 'anomale Normalität' der DDR-Geschichtsforschung zu einseitig zu interpretieren. Die Öffnung interner Quellen wie auch die Etablierung postmoderner Ansätze bieten jedoch eine neue Chance zur'kritischen Historisierung' dieses Gegenstandes. Ein systematischer Diktaturvergleich mit dem Dritten Reich oder den anderen Staaten des Sowjetsystems kann die herrschaftssichernde Rolle der Historiographie thematisieren; ein wissenschaftshistorischer Einstieg kann ihre fachliche Alltagspraxis analysieren; diskurstheoretische Perspektiven können die informellen Steuerungsmechanismen des ostdeutschen Systems wie die Sprachnormierung erhellen; und eine fachimmanente Aufarbeitung von Spezialgebieten kann detailliert die jeweiligen Leistungen und Beschädigungen aufzeigen. Das sich aus solchen Ansätzen ergebende Gesamtbild der ostdeutschen Geschichtswissenschaft wird komplexere Formen annehmen. Erste Untersuchungen deuten auf eine erhebliche Uneinheitüchkeit und Außenbestimmtheit sowie auf einen eigenen Wissenschaftsbegriff der 'parteilichen Wahrheit' hin. Trotz subtiler Diskurssteuerung ergaben sich immer wieder Konflikte bei der Interpretation der jeweils herrschenden Parteilinie. Obwohl sich die DDR-Historiographie zu größerer Wissenschaftlichkeit entwickelte, blieben methodologische Innovationen schwierig und sterilisierte sich der Marxismus-Leninismus als Herrschaftsideologie selbst. An diesem Grundwiderspruch zwischen emanzipatorischem Anspruch und repressiver Praxis mußte die DDR-Historiographie schließlich scheitern.

Martin Sabrow (Potsdam)

Die DDR-Geschichtswissenschaft im Spiegel ihrer Gutachtenpraxis Die Debatte der vereinigten deutschen Geschichtswissenschaft um die Stellung zu ihrer ausgestorbenen und angefochtenen Nebenlinie in der DDR ist immer noch beherrscht von dem Gegensatz zweier gegenüberstehender Interpretationslinien: Die eine bewertet

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die politisierte Geschichtswissenschaft unter der SED-Herrschaft vorwiegend summarisch als „ungenießbaren Brei aus Lügen und Halbwahrheiten"; die andere verlangt nach ihrer differenzierten Bewertung als - wenngleich politisch vielfach beschädigte — Spielart moderner Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Beide Sichtweisen messen, gleichviel, ob in be- oder endastender Absicht, die vierzigjährige Tradition der „zweiten deutschen Geschichtswissenschaft" an den Standards einer freiheidich und plural verfaßten Wissenschaft. Beide Deutungsmuster aber reflektieren nur unzureichend das Problem, ob der Charakter der DDR-Geschichtswissenschaft durch die analytische Anlegung eines ihr vom Selbstverständnis her fremden, als bürgerlich bekämpften Wissenschaftsideals überhaupt angemessen erfaßt werden kann. Empirische Befunde der jüngeren Forschung legen vielmehr die Vermutung nahe, daß die Identität der parteilichen Geschichtswissenschaft in der DDR sich weder bruchlos mit der historiographischen Fachtradition verschmelzen, noch auf ihre Rolle als Herrschaftsinstrument in der sozialistischen Diktatur reduzieren läßt, wenn nicht Verzerrungen in Kauf genommen werden sollen, die entweder den politischen Charakter historischer Wissenschaft in der DDR zu verwischen oder umgekehrt als bloßen Verrat korrupter Mandarine zu deuten versuchen. Um die Stabilität wie die Dynamik einer „gebundenen Geschichtswissenschaft" (ERNST SCHUJ.IN) historisch faßbar zu machen, erscheint ein Zugang aussichtsreicher, der sie nicht als Spielart oder Negation eines pluralen Wissenschaftsverständnisses konzipiert, sondern die einzelnen Elemente und Ausprägungsstufen des historiographischen Wissenschaftsdiskurses im SED-Staat in ihrer Eigenart zu rekonstruieren versucht. Aus dieser Perspektive spiegelt die Gutachtenpraxis der ostdeutschen Historiographie nicht allein, wie mit ihrer Hilfe die Standards westwissenschaftlicher Historiographie unterdrückt oder unterstützt wurden. Sie erlaubt darüber hinaus zu untersuchen, wie die DDR-Geschichtswissenschaft die von ihr beanspruchte Einheit wie den tatsächlichen Gegensatz von Wissenschaft und Politik, von Objektivität und Parteilichkeit in einer Instanz verarbeitete, in der die fachinterne Selbstverständigung weniger von politischen Artikulationszwängen geprägt sein mußte als in öffentlicher Rede, sondern stärker auf argumentative Überzeugbarkeit, empirisch gesicherte Beweisführung, verbale Begründung angewiesen war als auf jeder anderen Ebene staatssozialistischer Vergangenheitsverwaltung zwischen Politbürobeschluß und Fachrezension. Um so überraschender ist, daß sich die geschichtswissenschaftlichen Fachgutachten außerhalb der unmittelbaren Parteiinstitute als eine merkwürdig unspektakuläre Instanz in einem 'veralltäglichten' Herrschaftsdiskurs darstellen, der sich seiner Andersartigkeit gegenüber der westlichen Geschichtswissenschaft nur noch sehr begrenzt bewußt war und den genuinen Widerspruch zwischen historischer Objektivität und parteipolitischer Nützlichkeit kaum mehr aufscheinen ließ. Möglicherweise verbirgt sich in diesem Phänomen ein Schlüssel zum Verständnis für die langjährige Stabilität der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt: Wie die begutachteten fußten auch die begutachtenden Texte in erstaunlichem Maße auf einem Wissenschaftsverständnis, dem die Parteilichkeit der wissenschafdichen Erkenntnis ebenso inhärent war wie die Abgrenzung von einem „objektiven Gegner" (HANNAH ARENDT) und das Ideal einer 'richtigen' Erkenntnis. Im freilich immer prekären Rahmen dieses Diskurses waren andere Regeln der Wahrheitsfindung und Erkenntnisprüfung gültig als im westlichen Wissenschaftsverständnis, einte Autor und

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Gutachter nicht nur dieselbe wissenschaftliche Fundierung im historischen Materialismus, sondern auch dieselbe 'parteiliche' Betrachtungsperspektive auf den historischen Gegenstand. In dieser — stets gefährdeten - Fähigkeit, sich gegen die Kraft der empirischen Tatsachen wie gegen die Auffassungen der nicht-marxistischen Historiographie in erheblichem Maße zu immunisieren, liegt eine wesentliche Ursache für die langjährige Stabilität der DDR-Geschichtswissenschaft und die Bindungskraft, die sie als 'künstliche Normalität' innerhalb ihrer politischen Geltungsgrenzen zu entfalten vermochte.

Matthias Middell (Leipzig)

Wissenschaftliche Schulen in der Historiographie der DDR? Obgleich Zugehörigkeit zu oder Ausgeschlossenheit von wissenschaftlichen Schulen die Qualifikations-, Karriere- und Berufserfahrungen vieler Historiker strukturiert, ist der Begriff in der wissenschaftshistorischen Literatur erst auf dem Weg von einem assoziationsreichen Alltagsgebrauch zu einer einheitlich benutzten Kategorie. Nach wie vor einflußreich ist besonders THOMAS S. KUHNS These vom Paradigmenwechsel, in dem Schulen als „häretische" Ubergangsstadien ihren Platz haben und später zu „Normalwissenschaft" werden, d.h. allgemein anerkannte methodologische Grundlage (Schule im weiteren, paradigmatischen Sinne). Daneben haben wissens- und wissenschaftssoziologische Untersuchungen kleinere Gruppen („theory groups") identifiziert, die sich um eine charismatische Figur (Scholarchen) scharen und eine spezifische Mentalität (als Einheit eines kognitiven, affektiven, soziokulturellen und Kommunikationszusammenhangs) ausprägen (Schule im engeren Sinne). Beide, einander in gewissem Sinne ausschließende Auffassungen wurzeln in den widersprüchlichen Selbstinterpretationen akademischer Gemeinschaften selbst. Mit Blick auf die Geschichtswissenschaft zwischen Jena und Greifswald läßt sich eine doppelte, aber gegenläufige Tendenz in der Selbstdeutung von Historikern als Mitglieder von Schulen im weiteren bzw. engeren Sinne feststellen: 1. Der leergefegte Akademiker-Arbeitsmarkt und die Suche der ostdeutschen Wissenschaftsverwaltungen nach einer raschen Fortsetzung der universitären Ausbildung gestattete einer ersten Generation, in der sich 'bürgerliche' Historiker, die zumeist in Opposition oder marginalen Positionen zur deutschen Historiographie gestanden hatten, Remigranten und einige wenige Marxisten mischten, große institutionelle Macht zu gewinnen und schulebildend zu wirken. Die 'Patriarchen' entfalteten teilweise starke Individualität konkurrierender Konzepte, die auf sehr unterschiedliche Weise den Anspruch einzulösen suchten, eine Alternative zur überlieferten nationalen Meistererzählung zu bieten. Im Selbstverständnis der Lehrer- und teilweise auch der Schülergeneration(en) handelte es sich um wissenschaftliche Schulen (im engeren Sinne) innerhalb einer Geschichtswissenschaft, die zuerst gesamtdeutsch, später immer mehr auf die DDR begrenzt begriffen wurde. Graduell, jedoch unter unserer Fragestellung nicht grundsätzlich, sind hiervon zu unterscheiden jene Gruppen und „Schulen", die ihre Identität gerade aus einer betonten fundamentalen Opposition zu marxistischen oder marxistisch-leninistischen Ansätzen bezogen. Dies betrifft vor allem den Bereich der Kirchengeschichte und in der 'allgemeinen Geschichte' in den späten fünfziger Jahren rasch marginalisierte 'bürgerliche' Historiker. Außerhalb der Theologischen Fakultäten und Hochschuleinrichtungen war an ein

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'institution building' für diese Personen unter den repressiven Bedingungen der Wissenschaftspolitik nach 1958/61 nicht mehr zu denken, sie spielten gleichwohl eine wichtige Rolle für die symbolischen Inszenierungen von Schultraditionen, die über das Jahr 1945 zurückreichten. 2. Eine zweite Tendenz stand der Schulenbildung im oben beschriebenen Sinne diametral entgegen. Ganz im Sinne Kuhns interpretierten viele DDR-Historiker ihre Wissenschaftspraxis als arbeitsteilige Ausgestaltung eines Paradigmas, der „marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft", und lehnten für sich Individualisierungstendenzen und einen Diskurs, der die Deutungskonkurrenz gegenüber dem Konsens betonte, mehr oder minder streng ab. In dieser Perspektive verstanden sie DDR-Geschichtswissenschaft als eine nach 1945 auftretende Schule (im weiteren Sinne), die das 'unwissenschaftliche' Paradigma bürgerlicher Historiographie überwand, nach dieser Uberwindung ihren häretischen Schulcharakter ablegte und zur „Normalwissenschaft" im Sinne Kuhns wurde, woraufhin sie legitimerweise die alleinige Interpretationskompetenz beanspruchte. Beide Tendenzen koexistierten (wenn auch mit gravierenden Unterschieden nach Standorten und Charakter der Institutionen) unter den Bedingungen, die Wissenschaftspolitik in der DDR setzte. Die zweite Tendenz war besonders in den sechziger Jahren stark: Sie stützte sich auf die Bemühungen um Souveränität als eigenständige „DDR-Historiographie", nachdem die „nationale Grundkonzeption" als gescheitert erkannt werden mußte. Sie fand in der Hochschul- und Wissenschaftsplanung dieser Jahre reichlich Unterstützung in der Vorstellung einer fordistischen Organisation von Großprojekten. Ab den späten sechziger Jahren verlor diese Tendenz jedoch zunehmend an Attraktivität, weil an die Stelle der alten 'master narrative' des deutschen Vorkriegshistorismus nun internationale Konkurrenzfähigkeit als Bezugspunkt trat. Ein Wissenschaftsverständnis, in dem der öffentliche Austrag von grundsätzlicher Deutungskonkurrenz innerhalb der DDR politischen Rücksichten nachgeordnet blieb, war bis 1989 dominant. Unter diesen Bedingungen bestand die Bedeutung wissenschaftlicher Schulen (im engeren Sinne) — abgesehen von den fachlichen Ergebnissen — für die Wissenschaftskultur gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der sie habituelle Differenzen und ein anderes Wissenschaftsverständnis tradierten. Siegfried Lokatis (Potsdam)

Die Zensur historischer Literatur in der DDR Wie alle anderen in der DDR erschienenen oder ausgesonderten Texte unterlagen auch historische Manuskripte der Zensur, dem staatlichen Druckgenehmigungsverfahren. Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur bestimmte weitgehend, was öffentlich mitteilbar war, verwaltete Sprachregelungen und überwachte die Respektierung von Tabuzonen. Am Zensurgeschehen waren aber stets verschiedene Instanzen beteiligt, Parteistellen, Verlage und Institute, zwischen denen Zensurentscheidungen ausgehandelt wurden. Der „Verantwortlichkeit" solcher „politisch-ideologischer Zentren" für die „Autorisierung" von Texten kam im Zensursystem der DDR die Schlüsselrolle zu. In den sechziger Jahren griff zunehmend Walter Ulbricht persönlich in den geschichtswissenschaftlichen Diskurs ein. Da seine Vorstellungen von der Interpretation der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" sich, mit Seitenblick auf die westdeutsche Ge-

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schichtswissenschaft, zunehmend von sowjetischen Vorgaben unterschieden, kam es zwischen Berlin und Moskau zu zäh und einfallsreich geführten bilateralen Verhandlungen über den Inhalt mehrbändiger Publikationsprojekte. Deren Ergebnisse, ob sie die Interpretation der deutschen Sozialdemokratie, der Rolle Stalins, des Hitler-Stalinpakts, des 20. Juli 1944 oder des 17. Juni 1953 betrafen, definierten in letzter Instanz zwar nicht unbedingt die fachliche Diskussion, aber den Publikationsspielraum der Historiker und das in der DDR verbreitete historische Wissen. Eine solche 'Topographie der Zensurlandschaft'erlaubt es, 'ideologische Brennpunkte' und Nischen zu verorten. Nicht eine Geschichte der Tabus, ihrer inhaldichen Aufweichung und Verhärtung steht in ihrem Mittelpunkt, sondern die Beschreibung typischer Mechanismen, Rituale, Einflußchancen und Verfahren in einem hochkomplexen System der Informationskontrolle, das den Spielraum von Wissenschaft limitierte. Edgar Wolfrum (Berlin)

Geschichtspolitik im deutsch-deutschen Systemkonflikt. Das Beispiel Preußen-Renaissance Konzeptionelle Überlegungen zum Forschungsthema „Geschichtspolitik" sind erforderlich, um den Begriff aus der feuilletonistischen Umklammerung der letzten Jahre zu lösen. Geschichtspolitik ist als ein eigenständiges Handlungs- und Politikfeld zu beschreiben, und der Blick muß sich in erster Linie auf die politischen Akteure richten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Politik mit der Vergangenheit 'gemacht' wird, unter welchen politischen Rahmenbedingungen und mit welchen Intentionen Geschichte in die Fänge aktueller Politikbedürfnisse gerät, schließlich, welche Folgen sich daraus ergeben. Dem Streit um die Deutung der Vergangenheit kommt häufig eine politisierende Funktion zu. Allgemein gesprochen handelt es sich hierbei um einen von verschiedenen Seiten ausgetragenen Kampf um politische Konzepte. Konkret geht es um Strategien politischer Sinnstiftung, um politische Mobilisierung, um den Versuch, Erinnerung im Dienste aktueller Handlungsorientierungen zu gestalten, um so durch eine bestimmte historisch-politische Verständigung Identität zu konstruieren und ein Gemeinwesen zu integrieren. Ein solchermaßen konstruktivistischer Ansatz muß natürlich die gravierenden Unterschiede zwischen pluralistischen Gesellschaften, in denen es ein Neben- und Gegeneinander verschiedener Geschichtsbilder gibt, und autoritären oder diktatorischen Staaten berücksichtigen. Ein besonderes Gepräge erhielt Geschichtspolitik im deutsch-deutschen Systemkonflikt nach 1945. Deutsche Vergangenheit wurde geteilt, und die Nachfolgegesellschaften des Großdeutschen Reiches haben mit unterschiedlichen geschichtspolitischen Strategien versucht, insbesondere mit dem Nationalsozialismus, in weiterer Perspektive aber auch mit dem deutschen historischen Erbe allgemein fertig zu werden. Am Fallbeispiel Preußen-Renaissance in den späten siebziger und v.a. frühen achtziger Jahren sollte die Verschränktheit von Geschichte und Politik verdeudicht und aufgezeigt werden, unter welchen politischen Kontroversen Traditionen neu konstruiert wurden. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR nahmen in einem freilich asymmetrischen Verhältnis ständig aufeinander Bezug. Preußen wurde deshalb zu einem Politikum ersten Ran-

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ges, weil die beiden deutschen Staaten darüber in Konkurrenz standen und auch auf Krisenphänomene innerhalb der jeweils eigenen Gesellschaft reagierten. Für die DDR bedeutete Geschichte seit jeher eine kostengünstige Ressource im deutsch—deutschen Systemkonflikt. Aber der Versuch, eine nationale Identität der DDR zu konstruieren und von Legitimationsproblemen abzulenken, indem die Traditionen mit der Geschichte des Territoriums - eben des untergegangenen Preußens — verknüpft wurden, bedeutete auch eine Erosion des marxistischen Paradigmas. Die DDR, einst gründungsmythisch gegen Preußen gerichtet, kehrte zu dem vormals Negierten zurück. In der Bundesrepublik hatten seit Ende der siebziger Jahre Identitätsfragen und Traditionsorientierungen Konjunktur. Der objektiven Stabilität der Bundesrepublik Deutschland entsprach keine subjektive Sicherheit; dem Selbstverständnis der Bundesdeutschen fehlte die Selbstverständlichkeit (R. LÖWENTHAL). Auf der Suche nach der verlorenen Identität — auch eine Folge des in die Krise geratenen Fortschrittsüberschwangs - wurde Preußen wiederentdeckt und die Bundesrepublik nach preußischen Parallelen befragt. Die Preußen-Welle hatte so für das jeweilige „kollektive Gedächtnis" der beiden deutschen Staaten unterschiedliche Folgen.

Thomas Flierl (Berlin)

Ernst Thälmann als Kunstfigur: Die Formung historischen Bewußtseins im politischen Denkmal Am Beispiel der jahrzehntelangen Bemühungen der DDR-Führung zur Errichtung eines Denkmals für Ernst Thälmann in Ost-Berlin lassen sich Kontinuität und Wandel in der offiziellen Denkmalspolitik der DDR darstellen. Der aus dem Gründungsjahr der DDR stammende Plan für ein Thälmann-"Nationaldenkmal" für den früheren Wilhelmplatz wurde bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein verfolgt. Der zur Ausführung bestimmte Entwurf der Bildhauerin Ruthild Hahne sah ein monumentales Thälmann-Denkmal auf dem angrenzenden Gelände der abgetragenen Reichskanzlei vor: Der mythisch auferstandene, die Faust zum Gruß erhebende Thälmann an der Spitze eines sich keilförmig verbreiternden Demonstrationszuges werktätiger Menschen, die in eine neue Zeit marschieren: die abstrakte Negation der Geschichte des Ortes und des Erbes des Nationalsozialismus, der inszenierte Gründungsmythos der DDR, ein Siegesdenkmal. Das Projekt scheiterte erst, nachdem das 'Nationaldenkmal' mit dem Mauerbau endgültig und buchstäblich in das Niemandsland des Mauerstreifens geraten war. In den siebziger und achtziger Jahren gab es Pläne für ein Thälmann-Denkmal vor dem Gebäude des ZK der SED, die gleichfalls nicht realisiert wurden. Bemerkenswert war der Vorschlag von Stadtplanern, das von den Nazis zerstörte Revolutionsdenkmal von Mies van der Rohe und die nach dem Krieg ursprünglich zum Wiederaufbau vorgesehene, dann aber für den Neubau des DDR-Außenministeriums abgetragene Schinkelsche Bauakademie im Stadtzentrum wiederzuerrichten. Vor dem Revolutionsdenkmal sollte eine maßstäbliche Thälmannfigur piaziert werden. Die Denkmalsidee wurde genutzt als Rehabilitierung der ästhetischen Moderne, allerdings in der Gestalt eines historischen Legitimationspfades zur Machtzentrale der SED: von Schinkel über Mies zu Thälmann und Pieck/Grotewohl. Der Vorschlag offenbart die Kompromißstruktur interner Modernisierungsversuche. Ebenso

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verwarf die DDR-Führung den Vorschlag für ein Thälmann-Denkmal des Leipziger Bildhauers Schwabe vor dem ZK-Gebäude. Schwabe verfolgte ein diskursives Denkmalskonzept und strebte damit eine Abkehr vom geforderten innerlich-überzeugenden Denkmal an. Das 1986 aus Anlaß des 100. Geburtstages Thälmanns endlich eingeweihte Denkmal im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg kann als ein Dokument der Spätphase der DDR gelesen werden. Auf einem früheren Gaswerksgelände wurde an der täglichen Fahrstrecke der Partei- und Staatsführung die Gegenwart gewordene Zukunft der DDR inszeniert: ein gehobenes Wohnungsviertel als Kulisse für ein monumentales Thälmann-Denkmal. Gegen den Protest des Künstlerverbandes beauftragte Erich Honecker persönlich den sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel mit der Gestaltung des Denkmals. Alternative Denkmalsentwürfe blieben ohne Chance. Mit dem 13 m hohen Kolossaldenkmal von Kerbel wird der Übergang vom Heroenbild zum Idol vollzogen. Faust, Fahne und die fragmentarische Darstellung des Kopfes geben das Sinnbild einer gottgleichen Verherrlichung. Mit Kerbels Denkmal bleibt nur noch das Zeichen eines Zeichens übrig, das sich gegen seinen virtuellen Charakter gegenständlich umso monströser behaupten muß. Die wirklichen Spuren der Industriegeschichte Berlins, wie sie sich in den denkmalgeschützten Gasometern der früheren Gasanstalt manifestierten, gehörten im ideologischen Verständnis zur bloßen Vorgeschichte, auf die man nicht nur glaubte verzichten zu können, sondern die als Störung empfunden wurden. Als sich dann auch noch spürbarer und entschlossener Bürgerprotest gegen den Abriß der Gasometer regte, wurde die Re-MythologisierungThälmanns zur machtgestützten Beschwörung des Ursprungsmythos und zur Drohung einer autokratischen Partei- und Staatsführung gegen die eigene Bürgerschaft. Denkmal und Platzgestaltung können als Vorgabe für den rituellen Nachvollzug der staatstragenden Grundannahme gedeutet werden, daß in der DDR keine Antagonismen, sondern eine Einheit von Führung und Volk bestünden. Das Thälmann-Denkmal ist heute ein Dokument der entfremdeten politischen Kultur der späten, perspektivlosen DDR, deren Führung in Erinnerung an ihre stalinistischen Jugendideale sich selbst noch einmal ein Denkmal zu setzen versuchte. Machtdemonstration und Angstreduktion sind hier eng beieinander: in gewisser Weise ein klassisches Dokument real-sozialistischer Staatsästhetik. So perspektivisch wie eindimensional sich das Auferstehungs-/Siegerdenkmal auf der Reichskanzlei darstellt, so reduziert wirkt die historische Perspektive im Ernst-ThälmannPark: Statt mit dem Blick in die Stadt der Zukunft, wie im ersten Entwurf von Ruthild Hahne, wurde Thälmann in einen realen Wohnpark gestellt. Der 'real existierende Sozialismus' der DDR hatte sich verwirklicht. Er war an seinem Ende angekommen. Der Grafiker Manfred Butzmann sah denn auch im Thälmanndenkmal die Gestalt einer riesigen Grabvase und unterbreitete den Vorschlag, das Denkmal mit Pappeln zu umpflanzen und mit Wasser zu umgeben - als eine moderne Rousseau-Insel.

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31. Elitenwechsel und Hochschulsystem in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa 1945-1961 Leitung: Jürgen Kocka (Berlin) Jürgen Kocka (Berlin): Fragestellungen Ralph Jessen (Berlin): Elitewechsel und universitäres Milieu. Hochschullehrer in der SBZ/DDR (1945—1961) John Connelly (Berkeley): Weichenstellungen in der Hochschulpolitik der Nachkriegszeit in Polen und Tschechien Pal Tamas (Budapest): Politische und akademische Anpassungsstrategie in der „Intelligenz der ersten Generation" - Aufstieg, Gnade und Ungnade der 'Volkskollegium-Generation' in Ungarn (19451956) Jürgen Kocka (Bedin) / Oskar Amveiler (Bochum): Zusammenfassung der Diskussion Jürgen Kocka (Berlin)

Fragestellungen Die Ablösung alter und die Rekrutierung neuer Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur gehörten zu den zentralen Aspekten des politisch initiierten Gesellschaftsumbaus in den Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs nach 1945. Das Hochschulwesen war in mehrerlei Hinsicht in diesen Umbruch einbezogen: Als Ausbildungsstätte, die den unteren sozialen Schichten geöffnet werden sollte, als bislang (teil-)autonome Welt der Wissenschaft mit einem spezifisch universalistischen Wahrheitsanspruch und als soziokulturelles Milieu der 'feinen Unterschiede', in dem Habitus und Einstellungen geprägt wurden. Obwohl die Hochschulen nach 1945 ideologischer Penetration, staatlicher Normsetzung und personellen Eingriffen durch die kommunistischen Nachkriegsregime ausgesetzt waren, konnten sowohl der Anspruch, wissenschaftliches Wissen zu vermitteln und zu produzieren, als auch der soziokulturelle Kontext, in dem dies geschah, potentielle Hindernisse für eine politische Instrumentalisierung sein. Die Frage nach dem Beitrag der Hochschulen am gesellschaftlichen Umbau schließt so stets auch die Frage nach den Grenzen dieses Beitrags ein. Vier systematische Aspekte bieten sich an, um das Thema zu erschließen: 1. die Ziele, Mittel und Phasen der Hochschul-, „Intelligenz"- und „Kader"-Politik der kommunistischen Regime; 2. die strukturellen Veränderungen des Hochschulwesens, z.B. durch die Neugründungen von Hochschulen und vergleichbaren Institutionen, die Schaffung von Förderungseinrichtungen wie die Arbeiter- und Bauernfakultäten, die Veränderung akademischer Berufe und Karrieremuster, die Zerstörung korporativer Strukturen etc.;

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3. der personelle Umbau der akademischen Elite, d.h. die soziale Öffnung der Studentenschaft und des Hochschulpersonals durch positive und negative Diskriminierung, Manipulation der Karrierewege, Verbindung akademischer und politischer Auswahlkriterien usw.; 4. die Hochschulen als Milieu, dessen oft informelle Ein- und Ausschlußregeln, Verhaltensstandards, Bildungsansprüche und Leitwerte darauf befragt werden können, wieweit sie Adaptivität oder Resistenz der Hochschule gegenüber politischer Steuerung erleichterten. Die Leitfragen, unter denen diese (und andere) Aspekte in international vergleichender Perspektive zu erschließen sind, lassen sich am besten mit Hilfe einiger gegensätzlicher Begriffe formulieren: Die Frage nach Kontinuität oderDiskontinuitätve. rbindet die Transformationsgesellschaften der Nachkriegszeit mit ihrer jeweiligen Vorgeschichte. Wie lange hielt sich die alte, „bürgerliche", akademische Elite? Welche Rolle spielte sie für die Ausbildung und 'Akkulturation' der 'neuen' Intelligenz? Wann fanden Generationenübergänge statt? In welchen Disziplinen und Berufen bestand ein hohes Maß soziokultureller Kontinuität, in welchen dagegen ein scharfer Traditionsabbruch? Für den internationalen Vergleich ist die Frage nach Homogenisierung und Differenzierung wichtig. Alle Gesellschaften des sowjetischen Hegemonialbereichs unterlagen einem mächtigen Homogenisierungsdruck, der nationale Besonderheiten, Entwicklungsgefälle, kulturelle Traditionen etc. zugunsten einer Anpassung an das sowjetische Modell einebnen sollte. Wieweit es tatsächlich zu einer durchgängigen 'Sowjetisierung' kam, ist allerdings fraglich. Erstens spielten nationale Unterschiede weiterhin eine — näher zu beschreibende — Rolle, und zweitens bot die Welt der Wissenschaft mit ihren universalistischen Werten eine eigene Homogenisierungsachse, die quer zum ideologischen Umformungsdruck liegen konnte. Die Frage nach den besonderen ostdeutschen Bedingungen der Teilstaatlichkeit und der historischen Belastung durch die NS-Diktatur gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Ein dritter Fragehorizont wird durch die Gegensatzbegriffe Egalisierung und Elitenbildung eröffnet. Die kommunistische Hochschulpolitik riß traditionelle Mobilitätshürden nieder, öffnete die Hochschulen für die Kinder aus unteren Schichten und vertrat mit Pathos ein Programm sozialer Gleichheit. Wie, in welchem Tempo und mit welchen Folgen verlief dieser Prozeß? Daneben existierten offenbar Enklaven ausgeprägter sozialer Exklusivität, wie etwa in der D D R lange Zeit der Arztberuf. Vor allem aber entstanden neue Strukturen sozialer Ungleichheit und verfestigte sich eine neue Elite der kommunistischen Funktionärsklasse, deren Verflechtung mit dem Hochschulwesen erforscht werden kann. Schließlich wäre zu berücksichtigen, daß an den Hochschulen nicht nur loyale Funktionsträger und „Spezialisten" tätig waren und ausgebildet wurden, sondern daß das akademische Milieu manchmal auch Ort des Widerspruchs und der Resistenz sein konnte. Sowohl die loyale Elite als auch Ansätze einer dissidenten und/oder technokratischen Gegenelite hatten Verbindung zur Hochschule.

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Ralph Jessen (Berlin)

Elitewechsel und universitäres Milieu. Hochschullehrer in der SBZ/DDR

(1945-1961) Die Hochschullehrer nahmen als Produzenten und Vermitder wissenschafdichen Wissens während des diktatorisch inszenierten Elitewechsels der vierziger und fünfziger Jahre eine Schlüsselstellung ein. Von ihnen hing zum Gutteil die fachliche Ausbildung àttneuen Elite ab und zugleich repräsentierten sie die alte akademische Elite, die in politischer, sozialer und kultureller Distanz zum kommunistischen Regime stand. Die SED versuchte diesem Dilemma mit einer Doppelstrategie zu begegnen, indem sie einerseits die Fachkompetenz der alten Professoren nutzte und andererseits eine neue, politisch loyale, möglichst aus den Unterschichten stammende 'Intelligenz' heranzuziehen versuchte, welche die alte Professorengeneration rasch ablösen sollte. Dieser Weg führte nur in einigen Bereichen der Hochschulen zu einem schnellen und gründlichen Austausch der akademischen Elite; in anderen Bereichen hielt sich dagegen eine starke Kontinuität von Personen, Strukturen und Berufsmilieus. Der Elitewechsel in den Hochschulen hing nämlich nicht allein vom Druck der SED ab, sondern war bis 1961 das Resultat eines durch die Bedingungen der Diktatur geprägten, aber nicht determinierten Interaktionsprozesses, in dem sich politische Herrschaftsinstanzen und verschiedene akademische Teilmilieus begegneten, die sich um die naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Fächer, um die Geisteswissenschaften und um die früh und gründlich revolutionierten 'Ideologiedisziplinen' wie Wirtschafts- und Rechtswissenschaften bildeten. Die Durchsetzungschancen beider Seiten und damit der Grad an Kontinuität oder Diskontinuität, elitärer Abschließung oder sozialer Öffnung, politischer Distanz oder Konformität der Hochschullehrer hing in hohem Maße davon ab, über welche Wissens-, Markt- und Machtressourcen die Akteure in den jeweiligen Teilmilieus verfügten. Wissen: Das Ideal kommunistischer Hochschulpolitik — die Tradierung wissenschafdichen Wissens ohne akademisches Milieu, von Text ohne Kontext — blieb Utopie. Der Grad der Adaptivität der Professorenschaft gegenüber der Ideologie der SED, ihren Forderungen nach sozialer Nivellierung, Parteibildung und neuen Werten einer „sozialistischen Intelligenz" hing sehr vom Ausmaß ab, in dem Wissen tradiert werden mußte. Disziplinen mit einer hohen Kontinuität der relevanten Wissensbestände wie die Medizin, die Naturwissenschaften und die technischen Fächer, wiesen die größte personelle, soziale, politische und kulturelle Kontinuität auf. Je mehr dagegen der Systemwechsel disziplinäres Wissen entwertete und die Fächer dem Wahrheitsanspruch der politischen Ideologie unterordnete, desto größer war die Diskontinuität in der personellen und soziokulturellen Dimension — bis hin zu den gesellschaftswissenschaftlichen Homunkulus-Fächern, die der Retorte der SED-Parteikurse entsprangen. Markt Eine zweite Einflußgröße der Anpassungs- und Umwälzungsprozesse in der Professorenschaft war ihr unterschiedlicher Marktwert. Bis zum Bau der Mauer im Sommer 1961 profitierten Mediziner, Naturwissenschafder und einige 'alte' Geisteswissenschaftler vom doppelten deutschen Arbeitsmarkt. Da ihre Qualifikation auf eine systemunspezifische Nachfrage stieß, mußte die SED ihren Umformungsdruck unterhalb der Schwelle halten, ab der er sich zum Vertreibungsdruck steigerte. In der Praxis pendelte die

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Politik mit ihren radikalen und milden Phasen um diesen Schwellenwert herum. Für die Vertreter der Ideologiefácher — und, je mehr sie ideologisiert wurden, auch für die der Geisteswissenschaften — galten weit schlechtere Marktbedingungen. Ihr Wissen war im Westen unverkäuflich. Entsprechend niedrig lagen Einkommen und Prestige und entsprechend geringere Verhandlungsmacht hatten sie gegenüber der SED. Macht Auch wenn die SED bei Bedarf ihre unkontrollierte und unbegrenzte Macht gegenüber den Professoren ausspielen konnte, verfügten diese doch im Alltag über eigene Machtressourcen, die den Verlauf des universitären Elitewechsels beeinflußten und manchmal neue Mischungen mit der politischen Macht eingingen. Die Hierarchie der Ordinarienuniversität, die über Schülerschaftsbeziehungen, Promotionen und Habilitationen gestützte 'gatekeeper-Funktion' der Professoren beim Zugang zu legitimen wissenschaftlichen Karrieren sowie die 'kleinen Grafschaften' der Institute mit ihren relativ autonomen Machtbezirken machten es der SED nicht selten schwer, politisch korrekte Nachwuchskräfte zu piazieren und bremsten den Eliteaustausch in der Universität. Auch diese institutionellen und sozialen Machtressourcen waren jedoch sehr unterschiedlich auf die disziplinaren Teilmilieus verteilt.

John Connelly (Berkeley)

Weichenstellungen in der Hochschulpolitik der Nachkriegszeit in Polen und Tschechien Trotz ihrer erheblich stärkeren Kriegsverluste hat die polnische Hochschulelite in diesem Jahrhundert eine größere Kontinuität aufzuweisen als die tschechische. Die Gründe liegen in den Erfahrungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts. In dieser Zeit wurde die tschechische Hochschullehrerschaft wie die Studentenschaft rigoros gesäubert. In „Volkspolen" dagegen gab es keine Entlassungen von Professoren; im schlimmsten Fall verloren einige Gelehrte die Lehrbefugnis. Dies galt auch für die ideologisch wichtigen Geisteswissenschaften. Der Hauptgrund für diese divergierenden Entwicklungen ist in der relativen Stärke der kommunistischen Bewegungen zu suchen. Schon vor dem Krieg war die KSt ungleich stärker als die polnische Partei und auch nach dem Krieg fanden weit mehr Menschen den Weg zur K S t als zu den polnischen Kommunisten. 1947 verfügte die KSC-Führung etwa über dreimal so viele Mitglieder pro Kopf der Bevölkerung wie ihre polnische Bruderpartei. Die schwächere polnische Partei sah sich zudem mit einem Bürgerkrieg konfrontiert. Sie wollte nicht auch noch einen Krieg gegen die Intelligenz führen. Folglich wurde ab 1945 im kulturellen Leben der Kurs einer'milden' Revolution gefahren, der sich auch nach 1948 fortsetzte. In Tschechien hingegen verhärteten sich die Fronten zwischen einer extrem antiintellektuellen Parteiführung und einer fast durchweg 'bürgerlichen' Professorenschaft. Ein Höhepunkt schien im Frühjahr 1947 erreicht, als die Karls-Universität den Ökonomen und ehemaligen Finanzminister Karel Englis zum Rektor erhob, der bereits durch offene antikommunistische Äußerungen aufgefallen war. Im Laufe des revolutionären Februars des folgenden Jahres rächte sich die KP-Führung an den eigenwilligen Professoren, indem sie die Entscheidung über ihr weiteres Schicksal in die Hände kommunistischer Studenten-

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führer legte. Sogenannte „Aktions-Ausschüsse" entließen Professoren zu Dutzenden. Die übrige Professorenschaft strömte massenweise in die Partei. Bereits 1950 war über die Hälfte der tschechischen Professorenschaft Mitglied der kommunistischen Partei. Wichtige ideologische Fächer wie die Rechtswissenschaften wurden vollständig von der KSC dominiert. Sicherlich wurde auch auf die polnische Professorenschaft Druck ausgeübt, sich „in ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit auf marxistische Gleise umzustellen", wie es in einem internen Papier hieß. Aber sie bewahrte ihre innere Solidarität viel besser als ihr tschechisches Gegenstück; auch parteigebundene Professoren setzten sich für den weiteren Verbleib ihrer von Entlassung bedrohten Kollegen ein. Anfang 1954 gehörten nur 7,5% der Ordinarien der Partei an. Die wenigen, die ab 1949 aus dem Lehrbetrieb entfernt wurden, konnten in der Regel ab 1956 in ihre alten Positionen zurückkehren. Eine ideologische Transformation der Professorenschaft fand nicht statt. Welche Bedeutung hatten diese unterschiedlichen Ausgangspositionen für die weitere Entwicklung der Hochschuleliten in Polen und in der CSR? Wie die Arbeit von R A L P H J ivSSKN zeigt, hängt die soziale Transformation der Hochschullehrerschaft von der Studentenpolitik ab. In Polen gelang es der Partei, eine hohe Zahl sogenannter „Arbeiter- und Bauernkinder" auf die Universitäten zu schicken. Aber da sie dort durch die alte Professorenschaft ausgebildet wurden, konnten sie nicht im Sinne der Partei umgeformt werden. In den tschechischen Ländern war die Entwicklung umgekehrt. Die Professoren wurden ausgewechselt, aber die Studentenschaft wurde weiterhin aus 'bürgerlichen' Milieus rekrutiert. In ihrer grenzenlosen Verachtung der Hochschulen hatte sich die KSC-Führung nur wenig um die Zulassung der Studenten gekümmert. Ich vermute daher, daß nur in der DDR, wo die SED der Transformation der Hochschullehrerschaft die gleiche Aufmerksamkeit wie der politischen Steuerung der Studentenrekrutierung schenkte, ein 'textbook case' kommunistischer Transformation der Hochschulelite vorlag. Pal Tamas (Budapest)

Politische und akademische Anpassungsstrategien in der „Intelligenz der ersten Generation" — Aufstieg, Gnade und Ungnade der 'VolkskollegiumGeneration' in Ungarn (1945—1956) Eine Studie, die sich mit politischen und akademischen Berufsverläufen im Entstehungsprozeß des Früh-Staatssozialismus beschäftigt, muß Kenntnis darüber haben, welche berufsstrukturellen und -biographischen Grundlagen dafür in der politischen Struktur gelegt wurden und wie der akademische Arbeitsmarkt jener Zeit funktionierte. Im Rahmen der Restrukturierung der Eliten-Intelligenz wollte die neue politische Führung in Ungarn durch die politische Vorgabe spezifischer Angebots- und Nachfrageelemente ein spezielles 'Marktgleichgewicht' erzeugen. Dafür hat man gleich nach dem Ende des Krieges die „Volkskollegien", ein Netz von radikalen Studentenkollektiven, gegründet, um eine Intelligenz neuen Stils zu schaffen. Diese Institutionen (eine Mischung aus Studentenherbergen, Streitclubs, Kaderschulen im breitesten Sinne des Wortes und zukünftigen Führungsnetworks) waren nur sehr ferne Verwandte der sowjetrussischen Rabfaks. Die Mehrheit der dort Studierenden stammte aus Arbeiter- und hauptsächlich Bauernfamilien. Die Einheiten waren

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relativ klein, hatten oft spezielle Instrumente zur Talentförderung, waren vielfach mit Parteien verbunden (nicht nur mit den Kommunisten, sondern auch mit sozialdemokratischen und agrarpolitischen Organisationen) und pflegten von Anfang an einen ausgesprochenen Elitismus. Die ungarischen Volkskollegien waren kein sowjetischer Import, sondern sie griffen auf ältere Diskussionen und Reformprojekte im Ungarn der Vorkriegszeit zurück. Schon in den dreißiger Jahren hatte es Debatten und erste Anläufe zur Gründung von Volkskollegien gegeben, die vor allem Kindern aus bäuerlichen Schichten den Weg zu höherer Bildung ebnen sollten. Nach 1945 konnten die Programme zur Förderung der Neuen Intelligenz auf diesen Vorläufern aufbauen. Die Volkskollegien entwickelten sich in kurzer Zeit zu relativ populären Einrichtungen, die 1947/48 rund 10.000 Studienplätze anboten. Die Kollegien waren weder hinsichdich ihres inhaltlichen Profils noch ihrer politischen Bindungen gleichgeschaltet, so daß von einer kommunistischen Dominanz in den ersten Jahren vor 1948/49 nicht gesprochen werden kann. Erst im Sommer 1949 hatte dieser Zustand relativer Offenheit ein Ende, als die kommunistische Partei die Kollegien im Zusammenhang mit den ersten politischen Schauprozessen auflöste.

Jürgen Kocka (Berlin)/Oskar Amveiler (Bochum)

Zusammenfassung der Diskussion Die Diskussion der drei Referate wurde durch einen Kommentar von Oskar Auweiler (Bochum) eingeleitet, der vor allem fünf Aspekte eines vergleichenden Zugangs zum Thema hervorhob: erstens den gemeinsamen Bezug zum sowjetischen Modell, etwa den Rabfaks, der in allen Ländern eine Rolle spielte, ohne daß dies eine bruchlose Übernahme des Vorbildes zur Folge gehabt hätte. Zweitens seien die Differenzierungen zu beachten, die mit der Kontinuität nationaler Traditionen zusammenhingen. Die deutsch-österreichische Universitätstradition, die das ost-mitteleuropäische Hochschulwesen lange geprägt hatte, hielt sich in unterschiedlichem Maße, und die SBZ/DDR wich durch ihre NS-Vergangenheit sehr von den anderen Staaten ab. Drittens sei gegenüber dem marxistischen Dogma von der bewußtseinsdeterminierenden Kraft der sozialen Herkunft hervorzuheben, daß sich die Erfolge des Eliteumbaus weniger auf das proletarische Klassenbewußtsein der 'Neuen Intelligenz', als vielmehr auf deren Karrierehoffnungen und außerordentlich gute Aufstiegschancen gründeten. Viertens erinnerte Anweiler daran, daß die einzelnen Universitätsfächer dem kommunistischen Eliteumbau in unterschiedlicher Weise ausgesetzt waren und fragte fünftens nach den Bezügen des Themas zu übergreifenden zeitgeschichtlichen Problemen und danach, wieweit sich hier auch mögliche Grenzen des Totalitären erkennen lassen. In der weiteren Diskussion wurde unter anderem die möglicherweise begrenzte Tauglichkeit westeuropäisch geprägter Begriffe, aber auch des Begriffs der „Sowjetisierung" bei der Analyse des Elitewechsels im akademischen Bereich angesprochen. Andere Diskussionsteilnehmer fragten nach den inhaltlichen Konsequenzen der beschriebenen Entwicklungen für das Fächerspektrum der Universitäten bzw. für das Profil einzelner Disziplinen. Auch wurden die Haltungen der neuen Hochschulelite zwischen sowjetischem Vorbild und nationaler Tradition angesprochen. Insgesamt ließen die Beiträge in der Sektion erkennen, wie stark das sowjetische Modell des Eliteumbaus in der konkreten Umsetzung

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nationalspezifisch variiert wurde - abhängig von der Politik der jeweiligen kommunistischen Parteien und dem Ausmaß der Kontinuität oder Diskontinuität alten Personals und überkommener Strukturen.

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32. Die Legende vom guten Anfang — Sowjetische Besatzungszone und frühe Geschichte der DDR im Widerstreit Leitung: Kainer Eckert (Leipzig) Kainer Eckert (Leipzig): Einleitung Armin Mitter (Berlin): Die 'innere Staatsgründung' der DDR in den 50er Jahren Ilko-Sascha Kowalc^uk (Potsdam): So Endet Deutschland. Der demokratische Neuanfang und die SED bis 1955 Gerd Dietrich (Berlin):DDR zwischen Klassikmythos und Proletkult 'Kulturgesellschaft' Stefan Wolle (Berlin): Stalinismus in den Farben der DDR? Rainer Eckert (Leipzig)

Einleitung Walter Ulbricht berichtete dem wahrscheinlich darüber nicht erstaunten Führungspersonal seiner Partei auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958, daß im Rat des Bezirkes Erfurt 56 ehemalige Offiziere und Feldwebel der Wehrmacht und 40 Mitglieder der NSDAP arbeiten würden. Diese und ähnliche Angaben führten in den letzten Jahren zur These von der „Nazifizierung" der SED, die im eklatanten Widerspruch zu deren Selbstverständnis als antifaschistischer Partei steht. In dieser Auseinandersetzung mit dem Antifaschismus der SED und der DDR geht es letztlich auch um das zentrale Thema des 41. Deutschen Historikertages „Geschichte als Argument", mehr noch, es geht um den Mißbrauch von Geschichte als Instrument. Dies war auch die Achse, um die sich die Beiträge der vom Unabhängigen Historiker-Verband (UHV) gestalteten Beiträge in München drehten. Offenkundig bei dieser Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR war, daß es hier nicht um Geschichte im Elfenbeinturm ging, sondern um die nach dem Ende einer jeglichen Diktatur unumgängliche Katharsis. So trafen Zeitgeschichte und der Wille zur politischen Auseinandersetzung aufeinander. Die UHV-Sektion eröffnete, da Peter Steinbach seinen Beitrag „Durchbrechung der deutschen Misere durch Vergangenheitsbewältigung" wegen einer Erkrankung nicht vortragen konnte, Armin Mitter mit einem Vortrag über die von ihm entwickelte These der „inneren Staatsgründung" der DDR in den 50er Jahren. Methodisch anregend war sein Versuch, bei der Analyse der völligen Reorganisation des Macht- und Disziplinierungsapparates der SED in den frühen 50er Jahren von der Zuspitzung der innenpolitischen Situation in der DDR und von inneren Veränderungen auszugehen und nicht -- wie in der Forschung bisher allgemein üblich — vom außenpolitischen Spiel im Kraftfeld zwischen der Sowjetunion und den USA. Mitter untermauerte diesen Interpretationsansatz mit Angaben über eine

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weitaus breitere als landläufig angenommene soziale Basis des 17. Juni 1953, mit der Darstellung der über diesen Tag hinausreichenden Widerstandsaktionen, der Bedeutung der Forderung nach freien Wahlen und der Mechanismen des internen Informationssystems der SED. Besonders seine Ausführungen zur Stalinnote von 1952 und zur Akzeptanz Adenauers in der ostdeutschen Bevölkerung regten eine kontroverse Diskussion an, die für die Sektion auch nach den folgenden Beiträgen kennzeichnend blieb. In der ersten Diskusssionsrunde waren besonders die Hinweise von Klaus Schönhoven und Stefan Wolle auf die Rolle der SPD als mögliche Alternative zur Herrschaft der ostdeutschen Kommunisten anregend. Mit der inneren Organisation der SED, ihren Kontroll- und Informationsmechanismen sowie der Rekrutierung der Mitgliedschaft setzte sich llko-Sascha Kowalczuk in seinem Vortrag über den angeblichen demokratischen Neuanfang in Ostdeutschland auseinander. Damit nahm er eine der zentralen Geschichtslegenden der SED, und auch der PdS, aufs Korn. Kowalczuk konnte verdeutlichen, daß die SED in ihren Anfangen zwar von Arbeitern geprägt war, doch schon bald durch Ausschlüsse und Austritte erhebliche Verluste erlitt. So wurde ihr Anspruch, die Partei der Arbeiter, der Jugend und der Antifaschisten zu sein, schnell zur Legende. Die innere Struktur der SED veränderte auch die relativ schnelle und problemlose Integration von Nationalsozialisten, wogegen die Mitglieder ehemaliger sozialistischer Splitterparteien wie der KPD-Opposition und auch Sozialdemokraten zunehmend verdrängt wurden. Darüber hinaus zeichnete die SED aus, daß die Bevölkerung Angst vor dieser Partei hatte und ihre Mitglieder zum einen eben auch diese Angst verbreiteten und zum anderen innerhalb der eigenen Partei Furcht vor ständig drohenden Maßregelungen haben mußten. Die an Kowalczuks Ausführungen anschließende Diskussion thematisierte den in der SED verbreiteten antifaschistischen 'Glauben', das positive Integradonsangebot der Partei an Jugendliche, die unterschiedlichen Motive für einen SEDEintritt und fragte nach den höchsten von ehemaligen Nazis erreichten Parteifunktionen. Einem anderen methodischen Ansatz als Mitter und Kowalczuk verpflichtet stellte sich Gert Dietrich anschließend die Frage nach der Identität der „Kulturgesellschaft" DDR zwischen Klassikmythos und Proletkult. Ein Schwerpunkt seiner Darlegungen waren dabei die Motive: Demokratisierung und Hochkultur als Umerziehungsprinzipien der SMAD und Antrieb der SED-Kulturpolitik. Daß dabei der Klassik eine zentrale Rolle zufiel, war sowohl taktischen Bestrebungen als auch dem bürgerlichen Bildungsideal der Funktionäre und ihrem Affekt gegen die Moderne geschuldet. Letztlich kulminierte die SED-Kulturpolitik in der Diktatur des bürgerlichen Geschmacks im Auftrag des Proletariats. Abschließend beschäftigte sich Stefan Wolle mit dem Phänomen des „Stalinismus in den Farben der DDR". Dabei ging er von der Stalinismusdebatte in der PDS aus, die letztlich der Exkulpation der SED dienen würde. Kontrovers bleiben wird seine Auffassung, daß für Stalin die stets auf den Bajonetten seiner Truppen ruhende DDR immer nur die zweitbeste Lösung war, der der sowjetische Diktator ein neutralisiertes und aus dem westlichen Verbund gelöstes Deutschland vorgezogen hätte. Stalin erschien in Wolles Interpretation im Gegensatz zum dynamischen Hitler als Ikone der Ostkirche, die statisch das Typische und die Kontinuität autoritärer Herrschaft verkörperte. Die Verherrlichung des Moskauer Diktators stellte er am Beispiel von heute nur noch peinlich wirkender literarischer Huldigungen aus der DDR dar und setzte sich abschließend mit der ausbleibenden Entstalinisierung nach des-

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sen Tod auseinander. Damit war wiederum die Grundlage für eine lebhafte Diskussion gegeben. Hier verwies Gerhard A. Ritter auf die Tradition der Arbeiterbewegung, in der die DDR stand, und auf das System der materiellen Privilegierung der Intellektuellen; Reinhard Bollmuß meinte, daß der Stalinkult in der DDR-Bevölkerung ohne Folgen blieb und Isolde Stark sowie Irma Hanke fragten nach der Rezeption von Hochkultur im Zusammenhang mit der Formalismusdebatte, nach dem Vergleich zwischen der Kulturpolitik in der SBZ und in anderen Besatzungszonen, nach deren Konsequenzen für die weitere Geschichte der DDR und nach den zentralen SED-Mythen. Die Sektion des UHV zeigte einmal mehr, daß die Auseinandersetzung mit der SEDDiktatur und darüber hinaus mit beiden deutschen Diktaturen im Vergleich in den nächsten Jahren notwendig und aufregend bleiben wird. Das wurde in München auch dadurch deutlich, daß sich ein doch großer Vorlesungssaal als zu klein für den Andrang der an unserem Thema Interessierten erwies, so daß unsere Sektion deshalb kurzfristig in einen größeren Saal umziehen mußte und trotzdem die Plätze kaum ausreichten. Wichtiger aber waren die in der Diskussion kontrovers aufgeworfenen Fragen, die auch durch die Referenten ganz unterschiedlich beantwortet wurden. Das zeigte auch die Möglichkeit, die Analyse zentraler Geschichtsthesen der SED auf dem kommenden Historikertag fortzusetzen. Dazu könnte die Frage gehören, ob die DDR eine Gründung Stalins war oder ob sie gegen seinen Willen entstand und wie es um den Anteil der deutschen Kommunisten an der Etablierung der Diktatur stand. Klärungsbedürftig wird im nächsten Jahr auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch der SED, ein besseres Deutschland schaffen zu wollen, und der alltäglichen Realität der Diktatur sein. Auch hat die Diskussion um Verantwortung in der deutschen Geschichte am Beispiel des Umgangs mit untergegangenen Diktaturen und um die moralischen Grundlagen von „Vergangenheitsbewältigung" noch nicht einmal in nennenswertem Umfang begonnen. Aber auch andere Themen der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur — wie der Alltag und das Verhältnis von widerständigem Verhalten und Repression - sind dringend zu bearbeiten und öffentlich zu diskutieren. Des weiteren wird der Vergleich zum Nationalsozialismus, zu anderen Diktaturen und zur Bundesrepublik zwar immer wieder gefordert aber bisher kaum unternommen. Aber auch eine Verschiebung der Erforschung der DDR-Geschichte von den vierziger/fünfziger und von den achtziger Jahren auf die bisher kaum erforschten sechziger und siebziger Jahre wäre denkbar. All dies sind Gründe genug, daß auch der nächste Historikertag nicht unwesendich von der Geschichte der DDR und vielleicht auch endlich von der vergleichenden Sicht auf beide deutsche Diktaturen mitgeprägt sein könnte. Genauso wie die deutschen Historikertage zu einem nicht wegzudenkenden und wesentlichen Bestandteil des wissenschaftlichen Lebens der Bundesrepublik geworden sind, so sollte die Beteiligung des UHV an ihnen zu einer Tradition werden. Ilko-Sascha Kowalc^uk (Potsdam)

So Endet Deutschland. Der demokratische Neuanfang und die SED bis 1955 Im Mittelpunkt der Forschung zur SED-Geschichte standen bislang vor allem der unter Zwang erfolgte Parteigründungsprozeß, die Parteisäuberungen sowie die sogenannte Transformationsphase, in der es angeblich erst zur Herausbildung der „Partei neuen Ty-

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pus" gekommen wäre. In meinen Ausführungen habe ich mich skizzenartig auf zwei Fragen konzentriert, die bislang noch nicht die systematische Aufmerksamkeit der Forschung beanspruchen konnten:1 1. Nach welchen Prinzipien war die SED innerparteilich organisiert? 2. Aus welchen sozialen und politischen Bevölkerungskreisen rekrutierte die SED ihre Mitglieder? 1. Eine der wichtigsten Aufgaben bestünde darin, so die SED-Führung, die „ständige Kontrolle über die Durchführung der Beschlüsse durch die unteren Organisationen und Grundeinheiten" zu gewährleisten. Die richtige Durchführung der Beschlüsse zu organisieren, war einer der Eckpfeiler kommunistischer Politik. Lenin wies darauf im März 1918 hin.2 Vier Jahre später brachte er es selbst in die einprägsame Formel:, Pie Menschen kontrollieren und die faktische Durchführungjedes Auftrags kontrollieren - darin, noch einmal darin und nur darin liegt... der Angelpunkt der ganzen Arbeit, der ganzen Politik.'® Besser ließe sich kaum das Prinzip formulieren, auf welchem die Innenpolitik kommunistischer Parteien in Osteuropa beruhte. Die „Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse" diente zudem der Disziplinierung der eigenen Parteibasis. Den Parteimitgliedern wurde unmißverständlich verdeutlicht, daß es nicht darauf ankäme, innerparteilich an einer Entscheidungsfindung oder Problemlösung diskursiv teilzunehmen, sondern daß Beschlüsse, Entschließungen, „Empfehlungen" und „Hinweise" widerspruchslos zu erfüllen seien. Um die „Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse" gewährleisten zu können, wurde parteiintern ein umfassendes Informations-, Kontroll- und Uberwachungssystem aufgebaut. Dafür wurde im ZK der SED am 10. Januar 1952 die Abteilung „Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen" gebildet, deren Leitung am 1. Januar 1953 Karl Schirdewan als zuständiger ZK-Sekretär übernahm. Diese Abteilung erfüllte im zentralen Parteiapparat Aufgaben, die bisher von mehreren anderen Abteilungen wahrgenommen worden waren. Die Hauptaufgaben dieser Abteilung bestanden in der Auswahl und dem Einsatz von Parteikadern, in der Kontrolle und Anleitung untergeordneter Parteidienststellen, aller Massenorganisationen und Blockparteien sowie in der Beschaffung informatorischen Materials über die Stimmung der Parteimitgliedschaft und der Bevölkerung. Diese ZK-Abteilung besaß ihre Gegenstücke in gleichlautenden Abteilungen bei den Bezirks- und Kreisleitungen. Als ein wichtiges Instrument ihrer Arbeit fungierten sogenannte Instrukteure, die vor Ort als Gesandte des ZK oder der entsprechenden Bezirksleitung die Arbeit überprüften, anleiteten und kaderpolitische Veränderungen einleiteten. Das grundlegende Ziel in der Arbeit dieser Abteilung bestand darin, eine monolithische Partei zu schmieden. Die Abteilung „Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen" war mindestens bis Ende der fünfziger Jahre das eiserne Band, das die Partei zusammenhielt. Ihre Befugnisse waren beinahe grenzenlos. Der Sinn einer solchen innerparteilichen Kontroll-, Anleitungs- und Disziplinierungsbehörde wird noch deutlicher, wenn man den Blick auf diejenigen richtet, denen die Abteilung vor allem ihr Augenmerk schenkte: den Mitgliedern. 2. Zwischen 1946 und 1955 waren etwa 7 bis 8 Prozent der berechtigten Bevölkerung Mitglieder der SED. Im April 1946 hatte die SED insgesamt 1.298.415 Mitglieder. Das Wachstum stieg rapide an, bis zum Jahresende kamen fast 400.000 neue Mitglieder hinzu. Den Höchststand erreichte die SED im September 1947 mit 1.799.030 Mitgliedern, eine Mitgliederzahl, die sie erst wieder Ende der sechziger Jahre erreichte. Bis zum Dezember

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1950 verlor die Partei rund 200.000 Mitglieder, wobei den Parteiausschlüssen eine höhere Rate von Parteiaustritten gegenüberstand. Zwischen Juli 1947 und März 1948 sind beispielsweise 4.238 Personen aus der SED ausgeschlossen worden. Im gleichen Zeitraum traten aber 31.024 Mitglieder aus. Bei der Parteisäuberung 1951 wurden von den am 31. Dezember 1950 registrierten 1.399.000 Mitgliedern und 173.996 Kandidaten der SED am 30. September 1951 1.254.662 Mitglieder und 168.015 Kandidaten bestätigt. Das macht eine Differenz von 144.338 Mitgliedern und 5.981 Kandidaten. Tatsächlich ausgeschlossen wurden aber nur 35.011 Mitglieder, oder rund 24 Prozent, und 2.272 Kandidaten. Dagegen sind aber immerhin 30.096 Mitglieder und 1.043 Kandidaten während der Überprüfung ausgetreten sowie weitere 33.581 Mitglieder und 3.178 Kandidaten haben die Überprüfung verweigert, was einem Austritt gleichkam. Ein weiterer Teil konnte wegen Krankheit nicht überprüft werden (rund 10.000) bzw. verstarb (rund 10.000). Die bleibende Differenz ergibt sich aus der Unübersichtlichkeit der parteiinternen Statistik, mit der die SED bis Mitte der fünfziger Jahre zu kämpfen hatte. Nach dieser Parteiüberprüfung konsolidierte sich die Mitgliederzahl kurzzeitig, um nach der II. Parteikonferenz real abzunehmen auf rund 1.225.000 Mitglieder. Bis Ende 1953 waren absolut nur einige tausend neue Mitglieder gewonnen, ehe dann 1954 durch eine neue parteistatistische Erhebung ein Stand von 1.431.000 erreicht wurde, der sich zwar 1955 wiederum um ungefähr 50.000 Mitglieder verringerte, aber ab 1956 wieder erreicht und dann die nächsten Jahre beständig ausgebaut werden konnte. Wichtiger als die absoluten Zahlen sind die Herkommensverhältnisse der Mitglieder. Und hier scheint eine Legende zu überdauern. Die Legende ließe sich in etwa wie folgt beschreiben: Die SED war eine Partei derJugend, der Arbeiter und der Antifaschisten. Wenn man unter Jugend alle Personen unter 30 Jahren zusammenfaßt, machte dieser Teil in der SED im April 1946 17,1 Prozent aus, im Dezember 1948 22,9 Prozent, um ab Anfang der fünfziger Jahre bei etwa 20 Prozent bis Anfang der sechziger Jahre zu verharren. Dagegen betrug der Anteil der 31 bis 50jährigen im April 1946 50,3 Prozent, im Dezember 1948 47,4 Prozent und ab Anfang der fünfziger Jahre stets etwas mehr als 40 Prozent. Die über 50jährigen stellten bei der Zwangsvereinigung etwa ein Drittel der Mitglieder, ein Anteil, der anfangs leicht zurückging, um sich ab Anfang der fünfziger ebenfalls bei um die 40 Prozent einzupegeln. Die Partei war also mitnichten eine Partei der Jugend, wie sie im übrigen auch niemals eine Partei der Gleichberechdgung zwischen Mann und Frau war. Die soziale Aufsplitterung der Arbeiter- und Bauernpartei ist weniger überraschend. 1946 zählte die Mitgliederstatistik 54,7 Prozent Arbeiter und 5,4 Prozent Bauern. Der Arbeiteranteil ging jährlich um einige Prozentpunkte zurück, so daß 1955 nur noch 34,2 Prozent der Mitglieder ihrer sozialen Herkunft nach als Arbeiter galten. Die Bauern legten im Zuge der Bodenreform kurzzeitig auf 6 Prozent zu, um dann auf Werte unter 5 Prozent abzurutschen. Der Anteil der Angestellten wuchs dagegen permanent an, von 17,5 Prozent 1946 auf 35 Prozent 1954, ein Wert, der zwar 1955 auf 31,9 Prozent absank, aber nur deshalb, weil rund 60.000 bisher den Angestellten zugeschlagene Mitglieder ab 1955 statistisch zur Intelligenz zählten. Diese soziale Gruppe machte 1955 dann fast 10 Prozent der SED aus, während sie in den Jahren zuvor zwischen 3,3 und 5,8 Prozent der Mitglieder gestellt hatte.

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Die S E D war also anfangs durchaus eine von der Arbeiterschaft geprägte Partei, wobei ab 1950 die anderen sozialen Schichten insgesamt überwogen und der Anteil der Arbeiter auf etwa ein Drittel absank. Schließlich ist nach der politischen Herkunft der Mitglieder zu fragen. Im April 1946 zählte die K P D 619.256 Mitglieder, die SPD etwas mehr mit 679.159. Für beide Parteien war charakteristisch, daß die absolute Mehrheit der Mitglieder vor 1933 nicht in einer der beiden Arbeiterparteien organisiert, sondern parteilos gewesen war. Nach 1946 lassen sich zwei Tendenzen in der Rekrutierungspolitik voneinander unterscheiden. Erstens war die SED-Führung bemüht, diejenigen auszugrenzen und zu marginalisieren, die schon vor 1945 in einer linken Partei außerhalb der K P D organisiert waren. Zweitens versuchte die K P D / S E D seit dem Kriegsende mittels unterschiedlicher Methoden die sogenannten ehemaligen Pgs., also die NSDAP-Mitglieder, für den Neuaufbau zu gewinnen. Die S E D verdeutlichte frühzeitig, daß in Zukunft weniger die Vergangenheit des Einzelnen als vielmehr seine Mitwirkung am Aufbau der neuen Gesellschaft zählen würde. Wie wenig die Kommunisten nach 1945 an einer echten Auseinandersetzung um die Vergangenheit interessiert waren und wie sehr sie ausgerechnet ihre Todfeinde umwarben, zeigt folgendes Beispiel: Auf einer erweiterten Sekretariatssitzung des Z K der S E D fragte Franz Dahlem am 19. November 1945, also sechs Monate nach Kriegsende, seinen Genossen Hermann Matern: „Wie behandelt ihr die Nazibauern?" Matern antwortete ihm: „Wir machen es jetzt so, daß wir den Bauern, die in der N S D A P waren, von denen wir aber wissen, daß sie anständige Kerle sind, sagen: Betrachte dich als Kommunist und arbeite auch so!' 4 Allerdings würden sie noch nicht in die K P D aufgenommen, aber in den Ausschüssen für gegenseitige Bauernhilfe eingesetzt, „wenn sie anständige Kerle sind". Auch die den Menschen vom nationalsozialistischen Regime abverlangten Eigenschaften seien der neuen Gesellschaftsordnung dienlich. Anfang März 1949 führte der damalige sächsische Innenminister, Wilhelm Zaisser, auf einer Tagung der sächsischen Oberbürgermeister, Landräte und leitenden Mitarbeiter der Regierung in Anwesenheit von Walter Ulbricht aus: „Aber auf jedem anderen Gebiet (mit Ausnahme der Justiz und der Polizei - d.Verf.) gibt es keine Ausnahmeregelungen mehr und wenn es etwa so weit geht, wie das vorgekommen ist, daß noch Sonderbestimmungen für die Einstellung ehemaliger Pgs. in den Verwaltungsdienst erfaßt werden, ist das grundfalsch. Für diese Menschen gilt nichts anderes wie für alle anderen auch. Im Gegenteil, ... (es) ist doch ausdrücklich gesagt worden, daß Pgs., die durch ihre ganze Arbeit bewiesen haben, daß sie wirklich sich innerlich umgestellt haben, die aktiv und loyal am demokratischen Neuaufbau mitgearbeitet haben und mitarbeiten, auch die Möglichkeit haben sollen, wieder in ihre früheren Stellungen, auch in der Verwaltung hineinzukommen (...) Wir können in bezug auf seine demokratische Zuverlässigkeit heute nicht mehr argumentieren: Weil der Mann vor 1945 nominelles Parteimitglied der N S D A P war, darum ist er heute noch politisch unzuverlässig (...) Wir haben immerhin das Jahr 1949. E s sind 4 Jahre vergangen seit dieser Zeit, und Menschen, die in diesen vier Jahren von Anfang an unter den schwersten Bedingungen ehrlich und loyal und erfolgreich mitgearbeitet haben, sind unter Umständen heute auch für unsere Verwaltung wertvoller als dieser oder jener, der immer und ewig lau zur Seite gestanden hat und eben aus diesem Grunde auch nicht Pg. geworden ist, um auch das noch anzuschneiden, man eines nicht vergessen soll: E s gibt eine ganze Reihe Nicht-Pg., die das heute positiv angestrichen haben wollen, die seinerzeit nicht in die Nationalsozialistische Partei eingetreten

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sind, weil das ihrer Meinung nach eine sozialistische Arbeiterpartei war, die ihnen also sozusagen zu weit links stand. (...) Wir verlangen nicht den negativen Nachweis des Nichtbelastetseins, des Neutralseins, sondern den positiven Nachweis des Mitmachens.' 6 Als im Februar 1954 ZK-Mitarbeiter den statistischen Abschlußbericht für 1953 fertigstellten, ermittelten sie erstmals systematisch die braune Vergangenheit ihrer Mitgliedschaft. Dabei kam heraus, daß 96.844 Mitglieder (= 8,6 %) und 9.533 Kandidaten (= 9,3 %) früher der NSDAP angehört hatten. Aus NS-Gliederungen (hier zumeist SA, SS) rekrutierte die SED weitere 69.200 Mitglieder (= 6,1 %) und 5.023 Kandidaten (9,9 %). Aus der HJ und dem BdM kamen schließlich 124.573 Mitglieder (11,1 %) und 25.413 Kandidaten (24,7 %)? Diese Zahlen belegen, daß die Anzahl ehemaliger Mitglieder nazistischer Organisationen im Steigen begriffen war, worauf vor allem die jeweils höheren Prozentpunkte bei den Kandidaten hindeuten. Regional lag die frühere NSDAP-Mitgliedschaft innerhalb der SED besonders hoch in den Bezirken Suhl (15,4 %), Erfurt (15,4 %), Magdeburg (12,5 %), Gera (11,3 %) und Halle (10,6 %).7 Fragt man überhaupt nach einer früheren Mitgliedschaft in der NSDAP, einer ihrer paramilitärischen Gliederungen oder der HJ/des BdM, muß man feststellen, daß lediglich in Berlin nicht jedes fünfte bis dritte Mitglied eine solche Vergangenheit aufzuweisen hatte. In Berlin waren davon nur 17,4 Prozent der Mitgliedschaft betroffen. Der Rest der Bezirke lag dagegen zwischen 22,0 Prozent (Karl-Marx-Stadt, Schwerin) und 36,7 Prozent (Suhl). Über 30 Prozent wiesen darüber hinaus noch die Bezirke Erfurt (35,5 %) und Gera (30,0 %) sowie die Gebietsleitung Wismut (36,4 %) auf.8 Bei den SED-Kandidaten lag der Anteil ehemaliger Angehöriger der NSDAP, ihrer Gliederungen oder der HJ/des BdM noch höher. Hier bildete der Bezirk Cottbus mit 15,9 Prozent eine rühmlich Ausnahme. Ansonsten lag der Anteil zwischen 29,3 Prozent (Schwerin) und 51,2 Prozent (Wismut). Über einen vierzigprozentigen Anteil verfügten die Bezirke Potsdam (40,5 %), Halle (40,6 %), Leipzig (41,0 %), Karl-MarxStadt (42,2 %), Dresden (43,3 %), Gera (43,4 %), Suhl (43,6 %) und Erfurt (47,7 %).9 Sicherlich können die ehemaligen „parteifeindlichen Gruppierungen" nicht als Vergleichsmaßstab dienen. Aber dennoch ist es nicht ganz uninteressant, deren Gewicht in der sozialistischen Partei entgegenzustellen. Denn von der KPD(O), der SAP und anderen linken Splittergruppierungen aus der Weimarer Republik kamen lediglich insgesamt 4.378 Mitglieder und 69 Kandidaten der SED.10 Aufschlußreich wäre vor allem, wenn zukünftige Forschungen die Bedeutung ehemaliger SPD-Mitglieder genauer ermitteln würden. Denn die Sozialdemokraten in der SED sind der eigentliche forschungsmäßige Vergleichspartner für die ehemaligen Nationalsozialisten. Als These könnte formuliert werden, daß die SPDMitglieder in der SED deutlich abnahmen, Mitte der fünfziger Jahre deutlich weniger als fünfzig Prozent ausmachten als ursprünglich 1946 „beigetreten" waren, während NSDAPMitglieder innerhalb der SED zunehmend an quantitativer und qualitativer Bedeutung gewannen. Die Parteigänger des NS-Regimes stellten ein wichtiges Reservoir der SED dar. Sie eigneten sich besonders gut für die „Durchführung der Beschlüsse" und die dazugehörige Kontrolle, weil sie erpreßbar waren. Zudem unterschied sich das „Führerprinzip" kaum vom „demokratischen Zentralismus" bzw. dem „Prinzip der Einzelleitung", so daß sie sich auch mental sehr gut in die neuen Strukturen einpaßten. Dieses Thema war in der DDR selbstredend unerwünscht, wurde unterdrückt. Als zum Beispiel das Büro der SED-Kreisleitung Pasewalk am 27. Januar 1962 beschloß, eine Kom-

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mission zu bilden, die die Konzentration ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der SED und in Führungspositionen der Wirtschaft und Verwaltung des Kreises untersuchen sollte, wurde dies strengstens untersagt. Untersucht wurde dagegen der „ideologische Zustand" dieser Kreisleitung. 11 Diese gesamte Problematik bedarf dringend weiterer Forschungen, weil gerade die Rekrutierungspraxis und die Organisationsprinzipien der SED Aufschluß über das gesellschaftliche System vermitteln. Dabei sollte sich davor gehütet werden, allein die Königsebene zu betrachten. SED = So Endet Deutschland war eine der vielen gegen das SED-Regime gerichteten Parolen, die tausendfach durch das Land weitergereicht wurden. Die Losung „So Endet Deutschland" bedeutete Kampfansage und Furcht zugleich. Die Menschen hatten vor dieser Partei in den fünfziger Jahren Angst, einfache und pure Angst. Das Widersprüchliche liegt nun darin, daß ein und dieselbe Petson Angst vor der Partei haben und doch auch als ihr Mitglied zählen und dadurch wiederum Angst verbreiten konnte. Die Macht der SED war nicht nur darin begründet, daß sie einen sehr umfassenden Teil der Bevölkerung in ihren Reihen, ihren Massenorganisationen und ihren Blockparteien (DBD, NDPD) erfaßte, kontrollierte und disziplinierte. Ihre Macht gründete in den ersten Jahren auf zwei wesentlichen Pfeilern: auf den Bajonetten der Sowjets und auf einen nach außen hin vertretenen moralischen Rigorismus, der in Gestalt des Antifaschismus verkauft wurde, und doch kaum mehr war als eine Spielart totalitärer Politik, die auf dem Zusammenspiel von Terror, Einschüchterung einerseits und Angst, vielfach begründeter Angst andererseits basierte.

Anmerkungen:. 1 Vgl. dazu ausführlicher mit der entsprechenden Forschungsliteratur·. I I . K O - S A S C H A K O W A L C Z U K : „Wir werden siegen, weil uns der große Stalin führt!" Die SED zwischen II. Parteikonferenz und IV. Parteitag, in: Der Tag X - 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung" der D D R als Ergebnis der Krise 1952/54, hg. v. I I . K O - S A S C H A K O W A I . C Z U K , A R M I N MITTF.R, STEFAN W O L L E , 2. durchgesehene Aufl. Berlin 1996, S. 1 7 1 - 2 4 2 . 2 W L A D I M I R I. L E N I N : Ursprünglicher Entwurf des Artikels „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" (1918), in: DERS.: Werke. Band 27, 5. Aufl. Berlin 1978, S. 2 0 1 - 2 0 3 . 3 DF.RS.: Über die internationale und die innere Lage der Sowjetrepublik (1922), in: DERS.: Werke. Band 33, 7. Aufl. Berlin 1982, S. 2 1 2 (Hervorhebung im Original). 4 Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/46, Band 2, München/New Providence/London/Paris 1994, S. 217. 5 Tagung der Oberbürgermeister, Landräte und leitenden Mitarbeiter der Regierung, 2.-4.3.1949, S A P M O B-Arch, NY 4277/4, Bl. 147. 6 LOPM, Analyse zum Berichtsbogen Nr. 7 (mit Stand vom 31.12.1953), 8.2.1954, ebenda, DY 30, IV 2 / 5 / 1 3 7 1 , Bl. 1. 7 Ebenda. 8 Ebenda. 9 Ebenda, Bl. 2. 10 Ebenda, Bl. 4. 11 Abt. Parteiorgane, Information, 24.2.1962, ebenda, IV 2/5/296, Bl. 1 0 2 - 1 0 3 ; Beschluß des Büros der Kreisleitung der SED Pasewalk, 27.1.1962, ebenda, Bl. 1 0 4 - 1 0 5 .

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Gerd Dietrich (Berlin)

'Kulturgesellschaft' DDR zwischen Klassikmythos und Proletkult Das Thema der Sektion Die Legende vom guten Anfang ist vor allem seit 1989 wieder in der Diskussion: H A N S M A Y E R Z . B . warnte in seinem Buch Oer Turm von Babel (1991) davor, die Anfange der DDR von ihrem Ende her zu denunzieren. Er schrieb von den Spuren des Prinzips Hoffnung, von einer deutschen Möglichkeit und Alternative in einer Zeit, in der die Geschichte offen schien. M A N F R E D R I E D E I . z.B. nannte seinen Entgegnungsartikel Die Sage vom guten Anfang Er schrieb von den antifaschistischen Illusionen und der Fragwürdigkeit der humanistischen Ideale von Anbeginn. Er sah die geistig bewegenden Motive für das Ende der DDR bereits in ihrem Anfang (Sinn und Form 4/1992). - Das sind zwei verschiedene Perspektiven, das sind zwei unterschiedliche deutsche Generationserfahrungen. Man kann nicht eine gegen die andere ausspielen. Beide sind ernst zu nehmen. Eine einfache Wahrheit gibt es nicht. Mein Vortrag stand in diesem Spannungsfeld. Denn die ostdeutsche Gesellschaft war von ihren Planern und Machern auch als eine 'Kulturgesellschaft' angelegt, die die negativen Folgen der Modernisierung vermeiden und die kulturelle Abdrängung der Unterschichten aufheben sollte. Aber der Begriff der 'Kulturgesellschaft' hatte in Deutschland eine ambivalente Tradition: Als Kennwort der Bildungsbürger und Intellektuellen — in Abgrenzung von Zivilisation und Besitzstreben — umriß er eine doppelte Frontstellung gegen die höfische und die berufsbürgerliche Welt. Als Fahnenwort der Arbeiterbewegung meinte er den Sozialismus als Kulturbewegung, als Gegenkultur zur kapitalistischen Moderne. Beide Traditionen wirkten in der ostdeutschen Gesellschaft weiter. Im Februar 1946, auf der Kulturtagung der KPD, versuchte sie Anton Ackermann in einem dualistischen Kulturbegriff zu vereinen. Er sprach von der 'doppelten Gestalt' der Kultur als der Gesamtheit der materiellen und geistigen Güter. Damit wollte er sich von Auffassungen abgrenzen, die Kultur auf eine 'Elite' oder auf 'Geistiges' beschränkten. Gleichwohl gelang es nicht, den traditionellen Gebrauch des Begriffs Kultur zu verdrängen. Eine Kulturauffassung, die sich auf geistige Werte, auf das Schöne und seinen vom Arbeitsalltag abgehobenen Genuß beschränkte, blieb nicht nur im öffentlichen Bewußtsein, sondern auch in der Kulturpolitik der SED bis in die 60er Jahre dominant. Im Nachkriegsjahrzehnt bestimmten ¿/r«/Hauptfiguren oder Leitmotive die Kulturpolitik in der SBZ/DDR: Erstens das Umer^iehungsmotiv. Es war das Grundprinzip der geistigen und kulturpolitischen Einflußnahme der SMAD, der Kulturpolitik wie der antifaschistischen Intellektuellen. Wenn man auch das Mißtrauen gegenüber den Deutschen, die Hitler bis zuletzt gefolgt waren, nicht aufgab, so glaubte man doch, unter veränderten Bedingungen einen 'neuen Menschen' heranziehen zu können. Zweitens das Demokratisierungsmotiv. Nach 1945 knüpften KPD wie SPD an die kulturelle Tradition der Arbeiterbewegung an. Demokratisierung von Kultur bedeutete zwar nicht kulturelle Aufwertung der Massenkultur, sondern Popularisierung der Hochkultur, doch sie strebte Bildung und Kultur für alle an, was zwangsläufig in breiten Kreisen Zustimmung fand. Drittens das Hochkulturmotiv. Bis in die 50er Jahre hinein griff Kulturpolitik ästhetische Vorstellungen von Bürgerlichkeit auf. Ihr Ziel war dabei vor allem die Bestandssicherung

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der Hochkultur; ein Bestreben, das zunächst einmal einen prinzipiellen Konsens der Intelligenz mit der Kulturpolitik begründete. Was nach 1945 unter dem kleinsten gemeinsamen Nennet Antifaschismus firmierte, war somit ein weites kulturelles Feld: von konservativ-bürgerlicher Hochkultur bis zu proletarisch-revolutionären Aktivismen. Dieses Spektrum bediente auch die Kulturpolitik der SED. Zwischen Klassikmythos und Proletkult·. Diese Interpretation will kein historisches Nacheinander, keine lineare Entwicklung suggerieren. Sie geht nicht nach dem Schema von Offenheit zu Enge vor, sondern soll andeuten, daß da vieles gleichzeitig, wenn auch ungleichgewichtig, mit wechselnder Dominanz und allen denkbaren Zwischenstufen wirksam war. Es wurde versucht, dies an sieben Fragmenten der 'Kulturgesellschaft' DDR nachzuweisen: 1. Kiassik^entrismus und Vollstreckerideologie, die zentrale Rolle der Klassik im Umerziehungskonzept, ihre Favorisierung in der Kulturpolitik, Wiederauferstehung von Lassalles Vollstrecker-These, Goethejahr 1949 und Schillerjahr 1955 als Höhepunkte des Klassikkults und des nationalen Wettbewerbs um das klassische Erbe. 2. Das Experiment Kulturbund, der Versuch einer überparteilichen Sammlungsbewegung, weder in der Tradition bürgerlicher Kulturvereine stehend noch proletarisch-revolutionäre Verbände fortsetzend, und das Scheitern dieses Konzepts 1947/48: Transformation in der SBZ und Verbot in Westberlin. 3. Volkspädagogik und kulturelle Massenarbeit·, die Schulreform im Mittelpunkt der Kulturpolitik, der Umbau des Bildungswesens als das am stärksten ausgeprägte und ausgebaute System des Einflusses auf die Kultur in SBZ und DDR überhaupt, Kulturarbeit in den Betrieben als 'Erziehung' der Arbeiter zu einer neuen Einstellung zur Arbeit und Vorbote des 'bitteren Feld-Wegs'. 4. Das Offnen der Aufstiegskanäle, hohe soziale Mobilität infolge der Öffnung der Bildungswege, des umfangreichen Elitenaustauschs und der Flucht der 'alten' Intelligenz; die frühe ostdeutsche Gesellschaft als eine 'Aufsteigergesellschaft', Prägung und Charakter der neuen sozialistischen Dienstklasse sowie ihre· Anlehnung an und Abhängigkeit von der Machtelite. 5. Privileg und Order fur die Intelligenz Die 'unpolitischen' Fachleute reizte eine Gesellschaft der Planungsratio, der intellektuellen Konstruktion und der Ordnung, die sie von der 'Anarchie' des Marktes befreite; die Intelligenzpolitik der SED verband handfeste materielle Angebote zunehmend mit ideologischer Bevormundung. 6. Aktivismus und Kulturrevolution. In der Kunstpolitik traten Funktionäre anfangs für einen Pluralismus der Richtungen ein, zugleich unterliefen sozialistische Künstlergruppen diese zunächst tolerante Kunstpolitik mit einem politisch motivierten Einsatz der Kunst; solcherart Aktivismus kam den Funktionären zupaß und wurde bald zum Schrittmacher der Funktionalisierung der Künste in der 'sozialistischen Kulturrevolution'. 7. Oer Affekt gegen die Moderne. Der Kunst der Moderne standen die SED-Führer skeptisch und verständnislos gegenüber, freilich wußten sie sich in dieser Haltung eins mit der Mehrheit des deutschen Publikums; und vielen Künstlern wurde zunächst gar nicht bewußt, daß die Kampagnen gegen Formalismus und Dekadenz wieder Stellvertreterkriege waren, daß es nicht um Kunst oder Literatur, sondern um Ideologie und Macht ging. Was Ende der 50er Jahre letztlich obsiegte, war eine konservativ-kleinbürgerliche Kulturpolitik, die ihre ideologischen Widerstände gegen die Kultur der Moderne forcierte. Die

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damit verbundenen Repressionen zerstörten die Illusionen von einem 'Kulturstaat' und von der Vereinigung von Geist und Macht. ERNST B L O C H charakterisierte 1955 die kulturelle Situation in der DDR als „die Diktatur des kleinbürgerlichen Geschmacks im Namen des Proletariats". (Zit. nach RAI.PH GIORDANO, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß 1956. Protokoll 2.Teil, Beiträge zur Gegenwartsliteratur, H. 2, 1956, S. 93). Die 'Kulturgesellschaft' DDR wurde eine ambivalente Gesellschaft, die man vielleicht nur dichotomisch beschreiben kann: Auf der einen Seite das Bekenntnis zum Kulturstaat, Respekt vor der Kultur und ihren nationalen Traditionen, kulturelle Betriebsamkeit, eine beachtliche kulturelle Infrastruktur, hoher finanzieller Aufwand für die kulturellen Belange, eine große Bildungs- und soziale Mobilität und anerkannte Leistungen der Künste. Auf der anderen Seite Reglementierungen und Einschränkungen, Kulturversorgung und Kulturanleitung, Gängelei und Tristesse, Verfall und Bürokratie, Zensur und Stasi. Ein 'Klassiker' dieser Gesellschaft, Friedrich Engels, schrieb schon im September 1890 in einem Brief an Joseph Bloch in Königsberg: „Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen ... Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht (...) was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat." Stefan Wolle (Berlin)

Stalinismus in den Farben der DDR? Als die SED im Dezember 1989 unter dem Druck der Ereignisse zur „Partei des demokratischen Sozialismus" mutierte, begann auch der Begriff 'Stalinismus' seine späte DDRoffizielle Karriere. Bis dahin waren die Termini 'Stalinismus' bzw. 'stalinistisch', aber auch 'Entstaünisierung' reine 'Westbegriffe' oder — im Sprachstil der SED ausgedrückt — 'bürgerliche Begriffe', deren Verwendung als Beleg für 'ideologische Unklarheiten' gewertet worden wäre und entsprechend Ärger gebracht hätte. Die SED/PDS verkündete nun, 'stalinistische Herrschaftstrukturen' überwinden zu wollen oder bereits überwunden zu haben. Und bis heute spielen die Bezeichnungen 'Stalinist', 'Post-Stalinist', 'Neo-Stalinist' in den internen Diskussionen der PDS eine wichtige Rolle. Dabei war und ist die Rubrizierung an Unklarheit kaum zu überbieten. Die politische Absicht der postumen Einführung des Stalinismus-Begriffs dagegen ist nur allzu klar. Er suggeriert, daß es außer dem Negativen in der DDR - eben dem 'Stalinistischen' — auch Bewahrenswertes gegeben habe. Der Stalinismus-Vorwurf an die DDR — der bis 1989 eine 'antikommunistische Geschichtsfälschung' gewesen war — diente plötzlich der Exkulpationsstrategie. Möglich wurde dies durch die Verschwommenheit des 'bürgerlichen' Stalinismus-Begriffs, der bewußt oder unbewußt ebenfalls von einer Differenzierung zwischen dem real 'existierenden Repressionssystem' und einem noch zu verwirklichenden sozialistischen Gesellschaftsmodell ausging. Festzuhalten bleibt, wie präsent der Name Stalins nach über dreißig Jahren fast gänzlichen Verschweigens gewesen ist. Verwunderlich allerdings ist dies nicht. In der Tat stand der Georgier Dschugaschwili an der Wiege des deutschen Teilstaates.

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„Im Anfang war Stalin" — so könnte man in Analogie zu den oft paraphrasierten ersten Worten des Johannes-Evangeliums die Geschichte der DDR beginnen lassen. Der ostdeutsche Separatstaat mag Stalins „ungeliebtes Kind" gewesen sein - wie ein Buchtitel von W I L F R I E D L O T H lautet — aber er war ohne Zweifel sein Kind. Richtig an der These Loths ist, daß ein ostdeutscher Satellitenstaat für die Sowjetunion immer nur die zweitbeste Lösung der Deutschlandfrage gewesen ist. Ein neutrales, militärisch und politisch nicht im Westen verankertes Gesamtdeutschland jenseits der Blöcke dagegen hätte die Verdrängung der amerikanischen Militärmacht aus Europa und damit die Vorherrschaft der Sowjetunion bis Gibraltar zur Folge gehabt. Was immer die verborgenen Absichten des Sowjet-Diktators bezüglich Deutschlands gewesen sein mögen, die DDR war seine ureigenste Schöpfung. Diese simple Tatsache wird neuerdings gern in Frage gestellt. Die englische Historikerin M A R Y FULLBROOK zählt sie neben der These vom 'Unrechtsstaat' und von der 'totalitären Diktatur' zu den 'vortheoretischen Urteilen' aus der Zeit des Kalten Krieges, vor denen sie ausdrücklich warnt. „Viele der erwähnten Vorurteile (...) finden wir in dem bekannten Buch von Armin Mitter und Stefan Wolle 'Untergang auf Raten'", schreibt Fullbrook und setzt dann nach einigen höflich-verbindlichen Worten fort, „Die These von Wolle und Mitter lautet: Die SED-Herrschaft ruhte letztendlich nur auf 'russischen Bajonetten'." Auf die Gefahr hin, die Verteidigungsstrategie der Angeklagten im Politbüro-Prozeß zu unterstützen, die genau darauf insistiert und eine verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten ableitet, sei es noch einmal ausdrücklich gesagt: Keine wichtige Entscheidung der KPD bzw. der SED-Führung zwischen 1945 und 1990 fiel ohne oder gar gegen den Willen der sowjetischen Führung. Es handelte sich dabei um mehr als nur ein politisches Abhängigkeitsverhältnis; zwischen der Sowjetunion und den SED-Funktionsträgern herrschte ein quasi-religiöses, irrationales Abhängigkeitsverhältnis. Dies manifestiert sich in der tiefempfunden Stalinverehrung der frühen Jahre des SED-Regimes. Das Bildnis des schnauzbärtigen Georgiers war die zentrale Ikone dieser Zeit. In seinem Sinne wurde die neue Führungsschicht erzogen und das von Stalin geprägte Gesellschaftssystem erlebte auch nach dessen Tod und der'damnatio memoriae' keine gravierenden, strukturellen Änderungen. Der böse Geist Stalins begleitete seine Schüler bis zum kläglichen Ende und darüber hinaus. Die Verlierer des Krieges erhielten in der sowjetischen Zone die Chance, durch den Wechsel des Führerbildes auf der Seite der Sieger zu stehen. Gesiegt hatte nicht die Sowjetunion über Deutschland, sondern die Arbeiterklasse über die Imperialisten, deren Kreatur Hider gewesen war und die im Westen Deutschlands neue Kriege vorbereiteten. Um Stalins Person wurde ein Kult entfaltet, der alles in den Schatten stellte, was die moderne Geschichte in dieser Beziehung erlebt hatte. Von der SED-Führung und den ihr nahestehenden Intellektuellen und Künstlern wurde er bereitwillig aufgegriffen. Stalins Tod am 5. März 1953 änderte daran zunächst nur wenig. Die kultische Verehrung steigerte sich im Zusammenhang mit den Begräbnisfeierlichkeiten zur Apotheose. Das Präsidium des Deutschen Schriftstellerverbandes ließ in einem Beileidstelegramm an den sowjetischen Schriftstellerverband verlauten: "(...) Wir spüren an uns selbst, wie sein teurer Herzschlag, sein gutes Lächeln, seine ordnende Hand uns fehlt. Aber der große Lehrer hat uns seine Sache in Ordnung hinterlassen. Seine Schüler sind längst Meister geworden. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, von seiner Hand geschmiedet, die Arbeiterklasse, die Bauern, die Intelligenz, in seiner Liebe erzogen, beweisen, wie

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seine Weisheit über den Tod hinaus in ihnen lebendig ist." Noch deutlicher wird der religiöse Charakter der Stalin-Verherung in einem Artikel von Stephan Hermlin. Er schrieb in einem anläßlich von Stalins Tod erschienenen Sonderheft von „Sinn und Form": „Nur einmal habe ich ihn gesehen — aufrecht an der Brüstung des Lenin-Mausoleums, an einem Ersten Mai, umblüht von Millionen Menschengesichtern. Aber mehr als zwanzig Jahre hindurch, in guten und schwersten Stunden, konnte ich Stalin, den lebenden Stalin befragen. Laudos, in der eigenen Brust, antwortete er, hieß er gut, tadelte und tröstete er." Im Februar 1956 stürzte Chruschtschow in seiner berühmten 'Geheimrede' das Denkmal Stalins vom Sockel und damit die Kommunisten der ganzen Welt in eine tiefe Glaubenskrise. Stalins Kreaturen in der SED-Führung versuchten eilig, Abstand zu gewinnen, um dem Abgrund zu entgehen, in den ihr Abgott gestürzt worden war. Es begann eine halbherzige und inkonsequente 'Entsorgung der Vergangenheit', die sich auf Äußerlichkeiten beschränkte. Gerne hätte man Stalin in seiner Gruft vermodern lassen und den Namen nie mehr erwähnt. Niemals fand eine geistige Auseinandersetzung über Stalin und den Stalinismus statt. Sie konnte nicht stattfinden, weil die Strukturen und Rituale der Macht, die Wirtschaftsform, die Mentalität Emanationen des Stalinismus waren. Doch durch die innersowjetischen Auseinandersetzungen wurde der Leichnam des toten Diktators immer wieder ans Tageslicht gezerrt und verursachte auch in der DDR Unruhe. Die Metaphorik des georgischen Films „Die Reue" von Abuladse wurde zum Menetekel der SED-Herrschaft, und es spricht für den Spürsinn der Kulturwächter, daß dieser Film in der DDR verboten wurde. Es war dann auch nicht zufällig ein Artikel über Stalin, der 1988 das legendäre 'Sputnik-Verbot' veranlaßte, das die SED-Führung in offenen Konflikt mit dem 'großen Bruder' brachte. Doch auch nach 1989 gelang es den SED-Nachfolgern nicht, mit dem Gespenst Stalins fertig zu werden. Am Anfang der PDS stand eine eilige Verdammung des 'Stalinismus'. Doch niemals wurde der Begriff klar definiert. Meint er den 'real existierenden Sozialismus' bis 1989 oder nur den Terror der dreißiger Jahre? Eine Antwort auf diese Frage würde eine tiefgreifende Analyse des Sozialismus erfordern. Vor allem müßte die Frage nach der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der beiden 'feindlichen Brüder' Stalin und Hider beantwortet werden. Durch eine solche Diskussion geriete die 'antifaschistische Legitimation' der DDR und damit die letzte Verteidigungslinie des geschichdichen Selbstverständnisses der ehemaligen SED-Anhänger in Gefahr. Der Umgang mit Stalin und dem Stalinismus seit 1953 gehört in die Geschichte 'deutscher Verdrängungen' und ist nur in diesem Kontext zu behandeln.

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Osteuropäische Geschichte 33. Geschichte als Argument: Emanzipation von Frauen als Thema der Rußlandforschung Leitung: Bianka Pietrow-Ennker

(Konstanz)

Stephanie Theobald-Berti (Zürich): Wandel von Frauenrolle und Frauenbild im aufgeklärten Rußland des 18. Jahrhunderts Elisabeth Chauré (Freiburg): Schreibende Frauen im 19. Jahrhundert: Zwischen Selbstreflexion und Eman2Ìpation Bianka Pietrow-Ennker (Konstanz) : Charakter und Strategien der russischen Frauenbewegung (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Oktoberrevolution) Carmen Scheide (Basel): Verstaatlichung der Emanzipation? Frauen der Sowjetunion zwischen revolutionären Utopien und traditionellen Rollenzuweisungen, 1917—1941 Brigitta Godei (Köln): Die neuen Frauenorganisationen in Rußland: Zu veränderten Formen der Partizipation Nada Boskovska Eeimgruber (Zürich): Die Stellung der russischen Frauen in der frühen Neuzeit Stephanie Theobald-Berti (Zürich)

Wandel von Frauenrolle und Frauenbild im aufgeklärten Rußland des 18. Jahrhunderts Die Veränderungen, die im Rußland des 18. Jahrhunderts durch Peter den Großen eintraten, schufen auch für die Frauen der hochgestellten Schicht eine neue Situation. Während die männlichen Adligen in ihrem Leben Wahlmöglichkeiten hatten (z.B. Ziviloder Militärkarriere) scheint das gesellschaftlich konforme Leben einer Frau nur eine von ihrem Alter abhängige Möglichkeit geboten zu haben. Die hierarchische Struktur der russischen Gesellschaft zeigte sich schon in der Familie, auf deren unterer Stufe sich die Kinder befanden. Das Familienleben war nach Geschlechtern getrennt; emotionale Bindungen der Kinder bestanden eher zu den Dienstboten als zu den Eltern. Das aufgeklärte 18. Jahrhundert forderte Bildung und Wissen von der Elite, was auch den Frauen zugute kam. Die sich auf Sprachen, Musik und Tanz konzentrierende Erziehung wurde den jungen Mädchen daheim von Gouvernanten oder z.B. am 1764 von Katharina II. gegründeten Smol'nyj-Institut vermittelt. Nach ihrer Erziehung war Frauen nun generell eine Teilnahme an einer Öffentlichkeit möglich. Anfänglich war dem 1718 mit einem Erlaß Peters I. nachgeholfen worden: Hochge-

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stellte Frauen hatten obligatorisch an wöchentlidien Versammlungen in Privathäusern teilzunehmen. Die den Frauen zugewiesene Öffentlichkeit konstituierte sich am Zarenhofe, bei privaten repräsentativen Anlässen oder bei karitativer Tätigkeit. Die einzige Möglichkeit eines Staatsdienstes für Frauen bot der Hofdienst, an dem die kultivierten Hofdamen zu Repräsentationszwecken eingesetzt wurden. Mittelpunkt der Frauenrolle war die Ehe. Durch eine Heirat sollte meist dem ökonomischen Wohl der eigenen Familie Rechnung getragen werden. Nach ihrer Heirat verfügte die adlige Russin während und — als Witwe — auch nach der Ehe selbständig über ihren Besitz. Die russisch-orthodoxe Kirche hat gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihren Einfluß innerhalb des Staates immer stärker ausgedehnt; Verbesserungen im administrativen System und ein Ehekonzept, das rein auf dem religiösen Aspekt beruhte, erschwerten die Trennung oder gar Scheidung von Ehen. Da militärisch bedingte Abwesenheit der Männer nicht mehr die Regel war, wurde der Beitrag der Frauen an der Gutsverwaltung zurückgedrängt, womit sie eine Möglichkeit verloren, eine Position mit Machtbefugnissen inne zu haben. Die materielle Sicherheit und die vom Dienst befreite Zeit des Adels schufen zudem einen Raum für literarische und kulturelle Diskurse. Literarisch tätige Frauen trafen auf keine geschlechtsbegründete Ablehnung ihrer künsderischen Tätigkeit, da auch das Schreiben von Männern noch den Anflug des Amateurhaften hatte. Die größere Gruppe der russischen privilegierten Frauen hielt sich an die Normen der Gesellschaft, die nicht in Frage gestellt wurden. Andere Frauen versuchten, sich als eigenständige Persönlichkeiten in einem der öffendichen Bereiche zu bewegen. Dieser Schritt setzte Wissen voraus. Die wichtigste Grundlage für weitere emanzipatorische Anstrengungen der Frauen im 19. Jahrhundert scheint mir der Beginn einer umfassenden Bildung im 18. Jahrhundert zu sein. Schließlich gab es Frauen, die vereinzelt männliche Verhaltensmuster in Anspruch nahmen. Dabei hat dies jede Frau für sich allein getan; das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die Bedürfnis nach einer neuen Rollendefinition hatte, sollte sich erst entwickeln. Elisabeth Cheauré (Freiburg)

Schreibende Frauen im 19. Jahrhundert: Zwischen Selbstreflexion und Emanzipation Über die Existenz literarisch tätiger Frauen im 19. Jahrhundert war bis vor kurzem auch in slavistischen Kreisen wenig bekannt, obwohl bereits 1889 in einem beeindruckenden bibliographischen Verzeichnis 1.286 Namen „russischer Schriftstellerinnen" erwähnt werden. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (einzelne Gedichte etwa von Karolina Pavlova) sind literarische Texte von Frauen im Literaturkanon des 19. Jahrhunderts, in Textausgaben, in Anthologien und Schulbüchern nicht vertreten. Fanden Frauen in Literaturgeschichten oder in literaturwissenschaftlichen Arbeiten bislang überhaupt Erwähnung oder Beachtung, so meist nur im Zusammenhang mit männlichen Autoren (d.h. in Verbindung mit deren persönlichen Beziehungen, Liebesgeschichten oder Widmungsgedichten) oder als Mittelpunkt eines Salons und damit als beachtenswerte Figuren des literarischen Lebens (Karolina Pavlova, Evdokija Rostopcina, Zinaida Volkonskaja).

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Die Gründe für die Nichtbeachtung bzw. für die kaum verhüllte Mißachtung von Texten weiblicher Autoren sind in einem - nicht nur für Rußland spezifischen — kulturellen und literaturkritischen Klima zu suchen, das künstlerischen Ambitionen von Frauen prinzipiell kritisch bis feindlich gegenüberstand und sich in der Beurteilung von Texten aus weiblicher Feder deutlich von festgefügten Wertvorstellungen über 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit' (Gender-Konstruktionen) leiten ließ, wobei sich die Zuschreibung von weiblicher Passivität als besonders folgenreich erweisen sollte. Der bis heute diskreditierte Begriff derpoetessa (Dichterin) bedeutet nicht nur „weiblicher Dichter", sondern impliziert per se die Inferiorität weiblichen Schreibens im Vergleich zu dem männlicher Autoren. Das heutige Interesse für russische Autorinnen des 19. Jahrhunderts und ihre Texte konzentriert sich neben der mühseligen Rekonstruktion von biographischen Einzelheiten vor allem auf die Frage, inwieweit sich die Autorinnen der besonderen Umstände ihrer Schreibsituation bewußt waren und inwieweit sie nicht nur diese Situation in ihren Texten reflektierten oder problematisierten, sondern darüber hinaus ihre Situation als Frau schlechthin. Diese Fragestellung, die bis heute in Rußland selbst angesichts weitgehend unreflektiert existierender Geschlechterrollenklischees kaum breiteres Interesse in der Forschung findet, ist für die Entwicklung der Epochendiskurse unter geschlechterdifferentem Gesichtspunkt von besonderem Interesse: vom 18. Jahrhundert (mit seinen aufklärerischen und egalitären Tendenzen) über Empfindsamkeit und Romantik (mit ihren immer stärker von Rousseau geprägten Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit) hin zu realistischen Diskussionen über die (Un-)Möglichkeit weiblichen Künsdertums und weiblicher Subjektkonstitutierung schlechthin. In diesem Umfeld hat Schreiben von Frauen im 19. Jahrhundert an sich schon den Charakter eines emanzipatorischen Akts. Unter diesem Gesichtspunkt wurden einzelne Autorinnen und ihre programmatisch lesbaren Texte über Weiblichkeit und weibliches Schreiben vorgestellt:^4««a Bunina reflektiert an der Epochenschwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert (noch) selbstbewußt ihre Situation als Autorin in einem „Gespräch zwischen mir und den Frauen". Nadezda Durava, die als legendäres „Fräulein Kavallerist" an den Napoleonischen Kriegen teilnahm, zeichnet in ihren autobiogaphischen Aufzeichnungen die radikale Variante eines Ausbruchsversuchs aus Weiblichkeitszuschreibungen nach. Das Ausnahmetalent Elisabeth Kul'man, eine in mehreren europäischen und antiken Sprachen dichtende deutsch-russische Dichterin, die mit nur 17 Jahren starb, nähert sich dem Problem des weiblichen Schöpfertums und weiblicher Emanzipation in einer patriarchalisch strukturierten Welt über die Aktivierung antiker Figuren wie Sappho und Corinna. Evdokija Kostopäna, zu ihrer Zeit als beste russische Dichterin in der Nachfolge Puskins gehandelt, dann aber weitgehend in Vergessenheit geraten, zeigt sich in ihren Texten (etwa „Wie Frauen schreiben müssen") als eine Autorin, die weibliche Geschlechterrollenklischees scheinbar unreflektiert propagiert, im Subtext ihrer Werke aber — bewußt oder unbewußt — Ausbruchsphantasien thematisiert. Karolina Pavlova, deutscher Herkunft und eine der wichtigsten Vermittlerinnen russischer Literatur in Deutschland, thematisierte ihre besondere Schreibsituation als Frau zweifellos bewußter als Rostopcina; Pavlovas Texte zeigen sie teils resignativ, teils selbstbewußt und aufbegehrend. Die als „russische George Sand" zu ihrer Zeit berühmte Elena Gan formuliert in ihren Erzählungen ein Panorama des frauen- und frauenkulturfeindlichen Klimas ihrer Zeit, die dem Kunst- und Subjektbegehren der Frauen nur mit Unverständnis und Ablehnung begegnet.

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Es ist noch nicht genau untersucht, in welchem Maße die russischen Schriftstellerinnen und Dichterinnen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihren programmatischen Texten von jenen Autoren wahrgenommen wurden, sie möglicherweise vorbereiteten und beeinflußten, die - wie z.B. Herzen und Cernysevskij - in der Mitte des 19. Jahrhunderts die nach landläufiger Meinung wichtigen und entscheidenden Impulse für die breitere Emanzipationsbewegung von Frauen gaben. Daß damit aber die „Frauenfrage" ideologisch wieder zur 'Männersache' mutierte, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, daß die Weiblichkeitsentwürfe und das angebliche Selbstverständnis von Frauen im Rußland des 19. Jahrhunderts praktisch ausschließlich über die Texte männlicher Autoren (Puskin, Dostoevskij, Turgenev, Tolstoj — um nur die wichtigsten zu nennen) rezipiert wurden. Es ist an der Zeit, hierzu auch die 'anderen', die authentischen Stimmen russischer Frauen und damit die Texte russischer Schriftstellerinnen wahrzunehmen.

Bianka Pietroiv-Ennker

(Konstanz)

Charakter und Strategien der russischen Frauenbewegung (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Oktoberrevolution) Die russische Frauenbewegung hat sich — wie auch andere europäische Frauenbewegungen ihrer Zeit — in enger Verbindung mit freien sozial-philanthropischen Initiativen entwickelt. Bei der Erforschung der russischen Frauenbewegung ist es daher lohnend, sie als soziale Bewegung in den Blick zu nehmen, da sie als organisierte politische Bewegung eher unbedeutend geblieben ist. Der Ort der russischen Frauenbewegung ist jene „gesellschaftliche Mitte" gewesen, die sich seit den Großen Reformen des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann und zu deren Grundlagen eine fortschreitende Urbanisierung, soziale Mobilität und Differenzierung, die Entwicklung des Bildungswesens, eine Assoziierung in (allerdings nicht politischen) Vereinen sowie ein expandierendes Pressewesen zählten. Die Personen, die die russische Frauenbewegung begründen sollten, gehörten von Beginn an einer sozialen Strömung an, die sich in den sechziger Jahren in Opposition zur Adelsgesellschaft formierte. Diese — zunächst hauptsächlich von Männern getragene — Strömung war bereits ein Ergebnis sozialer Fluktuation und bildete im wesentlichen das Reservoir für die freiberufliche Intelligenz. Dort hing man westlichen Idealen an: so der Rationalität, dem Individualismus, den Werten der Bildung, Arbeit und der sozialen Verantwortung. In diesen Kreisen bedeutete Frauenemanzipation in erster Linie persönliche Souveränität, materielle Unabhängigkeit und gesellschaftliche Partizipation. Da die Leitfiguren der russischen Frauenbewegung (z.B. Marija Trubnikova, Marija Cebrikova, Nadezda Suslova, Evgenija Konradi, Elizaveta Vodovozova) von Beginn an diesem alternativen Milieu verhaftet waren, trugen sie von dort aus durch persönliches Beispiel und Teilnahme an der publizistischen Diskussion dazu bei, einen neuen weiblichen Lebensentwurf zu propagieren. Nach der Tradition der Adelsgesellschaft war weibliches Leben auf das familiale Beziehungsgeflecht bezogen gewesen, in dessen Rahmen die Frau die ihr zugewiesenen Funktionen erfüllte. Das gewandelte weibliche Bewußtsein führte dazu, daß Frauen nunmehr einen Platz im öffentlichen Leben forderten, aber auch in der Familie ein größeres Maß an Selbstbestimmung durchzusetzen versuchten. Der Wandel

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weiblicher Identität leitete damit eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses ein, die dem tendenziellen Abbau von traditionalen Herrschaftsstrukturen im Zuge der Modernisierung allgemein entsprach. Die erste Form eines informellen Zusammenschlusses von Frauen wurde seit den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Zirkel (kruzok) als ein Ort der Selbstfindung und Selbsterziehung, an dem die neuen Werte nicht länger nur diskutiert, sondern bereits auch praktisch umgesetzt wurden. Sprache, Lebensstil und Kleidung waren davon ebenso betroffen wie die Betätigung in sozialen, kulturellen und beruflichen Sphären. Auch spielte die Kooperativbewegung für Frauen bei der Entwicklung weiblicher Formen von Solidarität in neuen Arbeitszusammenhängen eine wichtige Rolle. Autonomes Engagement von Frauen sollte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere gesellschaftliche Bedeutung durch die Gründung und Leitung von Schulen für Mädchen auf allen Stufen des Schulsystems bis hin zur höheren Frauenbildung erlangen. Seit den sechziger Jahren schlossen sich Frauen auch in Berufsvereinigungen zusammen. Hier dominierte der Gedanke der gegenseitigen sozialen Absicherung, aber auch der Fortbildung, die staadicherseits nicht gewährleistet war. Schließlich erfuhr die Philanthropie eine Demokratisierung, Säkularisierung und Feminisierung. Es war zu beobachten, daß Frauen der traditionellen Wohltätigkeit den Rücken zu kehren begannen, wenn sie mit staatsbürgerlichem Bewußtsein innerhalb von sozialen Vereinen versuchten, den Staat zu Reformen zu bewegen. Damit wurden die Anfänge organisierten, sozialpolitischen Engagements von Frauen gelegt. Feministinnen wirkten innerhalb von Vereinen für Gesundheitsfürsorge oder gründeten eigene Vereine für den Schutz von Frauen. Gleichzeitig machten sie Fragen der Sittlichkeit zu einem öffendichen Thema. Als es infolge der Revolution von 1905 möglich wurde, politische Vereine zu gründen, schlossen sich Feministinnen zusammen, um das Frauenstimmrecht zu erkämpfen, das im Juli 1917 gewährt wurde. Gleichzeitig nahmen die politischen Organisationen der Frauenbewegung die vielfältigen Initiativen zur Gleichstellung des weiblichen Geschlechts in Wirtschaft und Gesellschaft auf, die die soziale Frauenbewegung entfaltet hatte. So kann es als die historische Leistung der russischen Frauenbewegung gelten, daß sie als Teil der neuen Bildungsschichten zur Formung freier gesellschafdicher Räume beigetragen hat. Auch bewirkte sie, daß Frauen ihre Interessen politisch zu vertreten begannen. Carmen Scheide (Basel)

Verstaatlichung der Emanzipation? Frauen der Sowjetunion zwischen revolutionären Utopien und traditionellen Rollenzuweisungen, 1917-1941 Unmittelbar nach der Oktoberrevolution wurde die formale Gleichstellung der Frauen in Sowjet-Rußland durch eine liberale Ehe-, Scheidungs-, Erbrechts- und Abtreibungsgesetzgebung erlangt. Weiter garantierte der Staat gleichen Lohn für gleiche Arbeit und freien Zugang zu allen Berufen. In der Praxis blieb die Diskriminierung von Frauen bestehen, ihr Anteil an der revolutionären Bewegung sank zunehmend ab. Die 'sozialistischen Feministinnen' Aleksandra Kollontaj und Inessa Armand hatten bereits vor 1914 auf die sexuellen Differenzen in der russischen Gesellschaft hingewiesen und forderten eine eige-

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ne Arbeit unter Frauen innerhalb der Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki). 1919 wurde auf ihr Drängen und mit Zustimmung von Lenin dieAbteilungfür Arbeiterinnen und Bäuerinnen beim Zentralkomitee der Partei (enotdel) gegründet, mit der Aufgabe, Frauen zu erziehen und in das gesellschaftliche Leben einzubinden. Von Beginn an wurden die Frauenabteilungen innerhalb der Partei mit Vorwürfen von feministischer Abweichung und Ineffizienz konfrontiert. Im Verlauf der 20er Jahre beschränkte die Parteiführung zunehmend ihre Kompetenzen, Frauenpolitik gestalteten maßgeblich die Gewerkschaften und die Volkskommissariate für Gesundheit und Arbeit. 1930 verkündete Stalin die Doktrin von der 'Lösung der Frauenfrage', gleichzeitig wurden die Frauenabteilungen ersatzlos aufgelöst. Die plakative Garantie der Gleichstellung von Frauen mit den Männern in der Stalinschen Verfassung von 1936 diente angesichts einer erschwerten Scheidungs- und Ehegesetzgebung und eines Verbots der Abtreibung als reine Propaganda. Durch die seit 1928 forcierte Industrialisierung stieg der Anteil der Frauen an der Arbeiterschaft zunehmend an. Gleichzeitig galt die Reproduktionsarbeit als typisch weibliche Aufgabe. Die angebliche Emanzipation funktionierte auf dem Prinzip der Doppelbelastung von Frauen. Das propagandistische Bild einer gleichberechtigten Sowjetgesellschaft prägte lange Jahre die Forschung, ohne hinter die Fassade des patriarchalischen, mysogonischen Systems zu schauen. In Memoiren, Tagebüchern, Autobiographien, Leserinnenbriefen und Schriften von Frauen aus der Sowjetzeit erschließt sich ein vielfältiges Bild weiblicher Lebensentwürfe mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Subjektive Wahrnehmungen, Handlungsmuster und Leistungen geben einen Einblick in Privat- und Alltagsleben, zeigen aber auch das Wechselverhältnis zwischen Politik und Individuum. Im Gegensatz zum Klischee von den 'rückständigen Arbeiterinnen und Bäuerinnen' in den 1920er Jahren engagierten sich Frauen durchaus für gesellschaftliche und politische Belange, angeregt von den Frauenabteilungen. Sie wiesen auf Mißstände im Gesundheits- und Sozialsystem hin, die mangels ausreichender Finanzen nicht behoben werden konnten. Ein erfolgreiches Beispiel für die Mobilisierung von Frauen sind die Delegiertinnenversammlungen. Mit dieser von den Frauenabteilungen seit 1919 durchgeführten Organisationsform wurden Frauen aller Klassen — besonders erfolgreich Bäuerinnen - mobilisiert und politisch geschult. Die in der Regel ein Jahr dauernde Delegiertinnentätigkeit endete mit einer Konferenz zum Erfahrungsaustausch und verpflichtete nicht zu einem Partei- oder Gewerkschaftsbeitritt, wodurch die praxisorientierte „Schule des Kommunismus" unter Frauen vermutlich eine hohe Attraktivität erlangte. Auch auf der Sowjetebene und bei lokalen Organisationen stieg im Verlauf der 1920er Jahre das Engagement von Frauen zunehmend an. Dennoch galten im offiziellen Sprachgebrauch Frauen, besonders Bäuerinnen und Hausfrauen, als die rückständigsten Elemente der sowjetischen Gesellschaft, da sie nach wie vor die alte Lebensweise ( s t a r j j bylj praktizierten. Dabei stießen Frauen oft in der eigenen Familie auf unüberwindliche Hindernisse zur Einführung der neuen Lebensweise (novyj b y f y . Kommunistische Ehemänner schlugen ihre Frauen, wenn sie an Versammlungen teilnahmen, Komsomolzinnen galten als unattraktive Heiratspartien, Delegiertinnen wurden von ihren Ehemännern ausgesperrt. Den zum Teil veränderten Geschlechterrollen von Frauen wurde mit dem klassischen Vorurteil begegnet, bei "der baba seien die Haare lang, der Geist dafür kurz". In den 1930er Jahren wandelte sich das Bild der Frau in der Gesellschaft, eine parallele Entwicklung zur Politik. Statt revolutionärer Utopien, wie etwa der Auflösung der Familie,

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wurden traditionelle Rollenvorstellungen wiederbelebt: die 'neue Sowjetfrau' übernahm nun ikonenhaft moralische Ordnungsfunktionen als Mutter und Ehefrau. Die Hausfrauenbewegung (obscestvennicy) repräsentierte die neuen, bürgerlich-konservativen Werte einer Mittelklasse. Männer und Frauen definierten ihre gesellschaftliche Rolle durch ihre Leistungen in der Industrie, Frauen erlangten zusätzliches Ansehen als geburtenfreudige Mütter. Die neuen Roilenzuschreibungen mit einem gebrochenen Verständnis von Gleichberechtigung faßten nicht erfolglos Fuß in der sowjetischen Gesellschaft, da sie ein vertrautes Bild vermittelten: Bereits in der vorrevolutionären Literatur und Mythologie war die starke, hart arbeitende, allmächtige russische Frau auf dem Lande, die aufopferungswillige Mutter, sehr präsent. In den 1930er Jahren erfuhr dieses Bild eine Erhöhung durch Stalin, nicht länger wurden Frauen als rückständig diffamiert, sondern zu moralischen Instanzen erklärt. In der Sowjetzeit gehörte die Gleichstellung von Männern und Frauen durch die Auflösung aller Klassen zum Parteiprogramm. Aber ebenso wie in der Zarenzeit erhielten Frauen keine Macht und nur wenig Mitspracherecht an politischen Entscheidungen. Der Begriff Emanzipation existierte im offiziellen Sprachgebrauch nur in bezug auf die formale, rechtliche Gleichstellung, nicht in bezug auf die Geschlechterverhältnisse. Die revolutionäre Idee vom Bau einer neuen Gesellschaft beinhaltete vornehmlich Definitionen über die Rollen von Frauen. Davon abweichende Ideen, wie sie Aleksandra Kollontaj entwarf, galten als bürgerlich-dekadent und feministisch. Diskussionen über Sexualität, Hygiene und Lebensweise wurden immer von Männern kontrolliert. Die Garantie gleicher Rechte erfolgte jeweils unter der Beibehaltung traditioneller Rollenverständnisse, wobei der häusliche Bereich ein Ort der Frauen blieb. Brigitta Godei (Köln)

Die neuen Frauenorganisationen in Rußland: Zu veränderten Formen der Partizipation 1. Die Lösung der „Frauenfrage" war zu Beginn der Sowjetmacht weniger ein emanzipatorisch-egalitär motiviertes Anliegen der Kommunistischen Partei als vielmehr eine politischideologische Forderung zur Erfüllung der kommunistischen Gesellschaftskonzeption, der es in irgendeiner Form zu entsprechen galt. Dieser Aufgabe dienten von 1919 bis zum Jahre 1930, als die „Frauenfrage" für gelöst erklärt und unter den Bedingungen der Einparteiherrschaft nicht länger diskutiert wurde, die Yrauenabteilungen {¿enotdelj) der Partei. In der Folgezeit versuchten d i e Frauenräte (¿ensovety), als geistige Erben das unvollendete Werk fortzusetzen. Die Bedeutung und die Wirkungsmöglichkeiten derZensovety variierten dabei in der Stalin-, Chruscev- und Breznev-Zeit beträchtlich. Die Partizipation der Frauen blieb jedoch stets 'von oben ' angeleitet und kontrolliert. 2. Die Aufforderung Gorbacevs auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1986 zur Bildung eines einheitlichen Netzes der ¿ensovety bewirkte die Neugründung bzw. Reaktivierung zahlreicher Frauenräte und war ein Ausdruck der tolerierten Verlagerung der politischen Initiative 'nach unten' {'von initiierter Impuls 'von unten). 3. Durch die Demokratisierungspolitik'm der Perestrojka-Periode (1985—1989) wurde bei vielen sowjetischen Frauen jedoch ein Bewußtseinswandelzusge\ö&t. Wesentliche Elemente hier-

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bei waren die nicht aufhörenden Enthüllungen ihrer desolaten Situation im gesellschaftlichen, sozialen und politischen Bereich, die sich ständig verschlechternden ökonomischen Bedingungen, die Entzauberung bisher gültiger politisch-ideologischer Werte und Normen sowie die Erkenntnis der Notwendigkeit zu selbständigem, nicht länger durch vorgegebene (Männer-)Hierarchien bevormundetem Handeln. 4. Zu Beginn dieses Emanzipationsprozesses wußten sich sowjetische Frauen mit dem überwiegenden Teil der Gesellschaft einig im Kampf gegen die Vorherrschaft und den Machtmißbrauch der Kommunistischen Partei. Ihre politische Subjektwerdung war — insbesondere nach dem Untergang der KPdSU - der Auslöser für weitergehende Forderungen nach Partizipation und damit Uberwindung der an Gültigkeit verlierenden, überkommenen Machtstrukturen und patriarchalen Wertvorstellungen sowie für die Formulierung und reale Umsetzung frauenrelevanter Interessen. Hierbei darf der Faktor der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Notlage jedoch nicht zu gering veranschlagt werden. Die bisher 'von oben' angeleitete Partizipation wird nun durch die 'von unten'initiierte, sich autonom entwickelnde politische Teilhabe in Formfraueneigener Organisationen und Gruppierungen erweitert (Selbstorganisation). Dies ist ein Wandel von struktureller Bedeutung und stellt daspositive Erbe der Perestrojka dar. 5. In die Gegenrichtung der sozialen und politischen Aktivierung der Frauen weist die Wiedererstarkung patriarchaler Wert- und Geschlechtervorstellungen, mit der Frauen aus dem öffentlichen Leben verdrängt und zur Rückkehr in die Familie bewegt werden sollen. Diese traditionelle, gegenüber individuellen Lebensentwürfen höchst intolerante Strömung wird vermutlich ohne große Auswirkungen bleiben. 6. Trotz allgemeiner, zumeist auf Ignoranz basierender Vorurteile gegenüberfeministischem Denken prägen wiederentdeckte russische Feminismusansätze sowie westliche feministische Einflüsse gegenwärtig viele Frauenorganisationen bei ihrer Suche nach gesellschaftlicher und geistiger Neuorientierung mit. Dabei wird feministisches Denken nicht zur Ideologie erhoben und starr ausgelegt, sondern es weist viele Schattierungen und Abstufungen auf. 7. Die autonomen Frauenorganisationen (non-governmental organisations INichtregierungsorganisationen / — NGOs), die die Interessenvielfalt von Frauen in der pluralistischer werdenden Gesellschaft widerspiegeln, lassen sich grob in fünf Kategorien unterteilen: politische, beruflich und wirtschaftlich orientierte, bewußtseins- und allgemeinbildende, feministische und Selbsthilfegruppen, wobei Doppelzuordnungen durchaus möglich sind. Die NGOs können dabei auch einen relativ 'offiziellen' Charakter tragen. 8. Obwohl die ¿ensovety-Ai, 'traditionelle' Struktur von NGOs vielfach abgelehnt werden bzw. in ihrer heutigen Bedeutung umstritten sind, ist aufgrund mancher positiver organisatorischer Grundzüge und frauenpolitischer Aktivitäten teilweise ihr Zusammengehen mit neuen autonomen Frauengruppen, teilweise ihr Fortbestehen als parallele, modifizierte Einrichtung zu beobachten. Bisweilen findet auch die völlige Transformation einesZensovet in eine autonome Frauenorganisation statt. 9. Die politische Ausrichtung, die Intensität der Arbeitsweise sowie der Wirkungsgrad der verschiedenen NGOs sind recht unterschiedlich. Daß ihre Aktivitäten und Initiativen zur Sichtbarmachung der Frauen im weitesten Sinne jedoch merklichen Einfluß auf die Perzeption und Reaktion der Führung nehmen, zeigen die zunehmende Hinzuziehung einzelner Personen und Organisationen zur Beratung der Regierung sowie — wenn auch unzurei-

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chend realisierte — staatliche Maßnahmen (z.B. frauenrelevante Präsidentenerlasse, institutionelle Veränderungen). Dennoch ist weiteres politisches Handeln unabdingbar. 10. Die begonnene überregionale Vernetzung der NGOs - heute ca. 400 — zum Aufbau einer horizontalen Informationsstruktur bei drei Treffen in Dubna (1991,1992 und 1995) eröffnet trotz vorhandener Schwierigkeiten die Aussicht auf vermehrte Aktions- und Politikfähigkeit. 11. Da die autonomen Frauenorganisationen einen Teil der übrigen unabhängigen gesellschafdichen Bewegungen und Institutionen 'von unten' darstellen, scheinen sie wie diese — angesichts der Wirren und langen Dauer des Umbruchsprozesses einerseits sowie der eingeschränkten politischen Handlungsfähigkeit 'von oben' andererseits — zu einem nicht unwesendichen Faktor für die Stabilisierung und Fortentwicklung der Gesellschaft insgesamt zu werden. 12. An der UnumkehrbarkAtdes in Rußland eingeleiteten frauenspezifischen Emanzipationsprozesses dürfte sich nichts Grundlegendes ändern, selbst wenn weitergehende allgemeine Emanzipations- und Demokratisierungsbestrebungen durch konservative Ausrichtungen in Politik und Gesellschaft behindert werden sollten. Diese Annahme stützt sich auf das zu beobachtende Selbstbewußtsein vieler autonomer Frauenorganisationen, das aus den zwischenzeitlich genutzten Handlungsfreiheiten und -möglichkeiten sowie erzielten Ergebnissen resultiert. Nada Bofkovska Leimgruber (Zürich)

Die Stellung der russischen Frauen in der Frühen Neuzeit Bis heute hält sich in der Forschung die These des 19. Jahrhunderts, wonach die russischen Frauen insbesondere in der vorchristlichen Zeit (bis 988), aber auch noch bis zum Mongolensturm (um 1240) viel Ansehen und Freiheit genossen hätten, während die späteren Jahrhunderte ihnen Versklavung und Verachtung gebracht hätten. Ihren Tiefpunkt habe diese Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert erreicht, als insbesondere die Angehörigen der Elite als eigentliche Gefangene in den Frauengemächern, dem Terem, gehalten worden seien. Diese Vorstellungen beruhen weitgehend auf den Berichten westlicher Reisender, die im 16. und 17. Jahrhundert das noch wenig bekannte Moskauer Reich besuchten. Bei der Einordnung solcher Aussagen muß man allerdings bedenken, wie wenig Einsicht die Reisenden in die weibliche Lebenswelt hatten, die sie beschrieben. Die Begegnungen zwischen Ausländern und Russen waren allgemein von großen kulturellen Mißverständnissen geprägt. Hinzu kommt, daß die fremden Diplomaten, die den größten Teil der Berichte verfaßt haben, während ihres Aufenthaltes strenger Bewachung unterstanden und an unkontrollierten Kontakten mit der Bevölkerung gehindert wurden. Mit den Frauen, schon gar mit den vornehmen, die zurückgezogen lebten, hatten sie kaum Berührung, was ihre Phantasie nicht wenig beflügelt zu haben scheint: Sie beschrieben die vornehmen Damen als schöne, müßige, sich ständig herausputzende und schminkende Sklavinnen, die in ihren abgeschiedenen Räumen lüstern auf den Mann warteten — vorzugsweise auf den Ausländer, wie einige unter ihnen betonten. Alles in allem vermitteln sie das Bild orientalischer Haremsdamen, das konsistent ist mit der nicht nur damals herrschenden Vorstellung vom asiatischen und somit barbarischen und rückständigen Moskovien.

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Zieht man jedoch anderes Quellenmaterial, insbesondere auch Akten heran, gelangt man zu einem weitaus differenzierteren Bild von den Lebensumständen der Moskoviterinnen und zu überraschenden Ergebnissen. Unbestritten bleibt zunächst, daß im Moskauer Reich die Frau, wie in allen patriarchalisch organisierten Gesellschaften, grundsätzlich als dem Mann untergeordnet betrachtet wurde. Kirche, Staat, Männer und Frauen waren sich darin einig. Die Vorherrschaft des Mannes war in keiner Weise in Frage gestellt, sondern auch durch die chrisdiche Lehre untermauert und legitimiert. Diese Ausgangslage bedeutet allerdings keineswegs, daß die Frauen rechdos gewesen wären, denn die intakte ideologische Hierarchie mußte nicht durch gesetzliche Diskriminierung gestützt werden. In weit größerem Maß als in Westeuropa waren die russischen Frauen rechtlich handlungsfähig und de iure gegenüber den Männern nicht benachteiligt. Eine wichtige Ausnahme von der rechtlichen Gleichbehandlung der Geschlechter bildete das Erbrecht an Immobilien. Der Staat, der seine Dienstleute immer noch mit Land ausstattete, wollte möglichst wenig dieses Gutes in die Hände von Frauen (und kirchlicher Institutionen) gelangen lassen, da diese nicht dienstfähig waren. Dennoch kam im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr Land in weiblichen Besitz. Zum einen tendierten die Erblasser dazu, alle Kinder gleich zu behandeln; zum anderen war es ihnen wichtig, die Töchter angemessen zu verheiraten und die Witwen, auch die kinderlosen, zu versorgen. In dieser Entwicklung der Erbpraxis spiegelt sich eine Verschiebung gesellschaftlicher Werte: Die Loyalität des Einzelnen galt immer weniger der Sippe und immer stärker der Kernfamilie. Anstrengungen des Gesetzgebers (z.B. 1627/28 und 1676), die schleichend wachsenden Besitzrechte der Frauen einzudämmen — was als Beweis für den Statuseinbruch der Frauen im 17. Jahrhundert gedeutet worden ist —, waren die Folge dieses Prozesses und stellten keine eigentliche Verschärfung der Gesetzgebung dar. Sie sollten vielmehr entweder früheren oder aktuellen Normen, die in der Praxis mißachtet wurden, zum Durchbruch verhelfen. Die volle Rechtsfähigkeit der Frauen war auch für den ökonomischen Bereich von Bedeutung, wo ebenfalls keine Beschränkungen aufgrund des Geschlechts bestanden. Wir finden die Frauen in vielen Zweigen des wirtschaftlichen Lebens, wenn auch in einer relativ geringen Zahl. Dahinter steckt u.a. die Tatsache, daß man in der Regel nur auf die Witwen stößt, da die Familie eine ökonomische Einheit bildete, die gegen außen im Namen des Haushaltvorstands auftrat. Im häuslichen Bereich genoß die Ehefrau und Mutter eine starke Position, was vor allem bei Abwesenheit des Hausherrn sichtbar wird. Dann übernahm in der Regel die Ehefrau oder die verwitwete Mutter dessen Funktionen im Haus und vertrat ihn auch nach außen. Gegenüber den Kindern war die rechtliche Stellung der Mutter jener des Vaters ebenbürtig. Beide zusammen übten die elterliche Gewalt aus. Auf dem Höhepunkt persönlicher Freiheit und Macht befand sich die verwitwete Frau, sofern sie materiell abgesichert war. Sie wurde Haushaltsvorstand, wobei selbst erwachsene Söhne als ihr untergeordnet galten, wenn sie bei ihr lebten. Mehr als durch alles andere wurde die Bewegungsfreiheit der Frauen durch die Allgegenwärtigkeit massiver physischer Gewalt beeinträchtigt. Wer außer Haus unterwegs war, lief Gefahr, überfallen, ausgeraubt, vergewaltigt, verschleppt zu werden. Die Zurückgezogenheit der vornehmen Frauen, die sich wenig in den Straßen zeigten und schon gar nicht zu Fuß anzutreffen waren, ist auch als eine Folge dieser Bedrohung zu sehen. Aber auch

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innerhalb der Familie war die Gewalttätigkeit häufig alkoholisierter Männer ein wichtiger Grund dafür, daß die grundsätzlich gute Position der Frauen beeinträchtigt wurde. Ein vergleichender Blick nach Westeuropa führt zu eher unerwarteten Erkenntnissen. Während sich im Mittelalter die rechtliche Lage der russischen Frauen gut ins europäische Bild einfügte, muß man für das 16. und 17. Jahrhundert eine Divergenz konstatieren, die ihre Ursache nicht etwa im Moskauer Barbarentum hatte, sondern im Niedergang des weiblichen Status in Westeuropa, wo sich in der Frühen Neuzeit große Veränderungen abspielten. Im Zuge der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Modernisierung entfernten sich dort nicht nur die sozialen Schichten immer stärker voneinander, auch die Kluft zwischen Mann und Frau wurde zusehends größer. Äußerlich zeigte sich dies etwa daran, daß sich eine ausgesprochen geschlechtsspezifische Bekleidung herausbildete. Wirtschaftlich wurden die Frauen durch die Zünfte aus dem Handwerk gedrängt, und rechtlich waren sie ausgesprochen diskriminiert und von Männern abhängig. Im Vergleich zum Mittelalter hatte sich ihre Stellung deutlich verschlechtert. In Moskovien erscheint die Gesellschaft dagegen als viel kompakter und integrierter. Lebensweise und Wertvorstellungen der verschiedenen sozialen Schichten klafften nicht auseinander. Dies manifestiert sich etwa darin, daß das Einhalten der Rangordnung den Mägden genauso wichtig war wie den Bojarinnen und daß jeder, auch der Sklave, eine Ehre zu verlieren hatte, die er auch gegenüber Höherstehenden verteidigte. Bevölkerungsgruppen, die im Westen zunehmend ausgegrenzt wurden — Kranke, Bettler, Vaganten — hatten weiterhin ihren legitimen Platz in der Gesellschaft. In Rußland waren auch die männliche und weibliche Lebenswelt weniger geschieden als in Westeuropa. Die Bekleidung war sehr ähnlich, Männer und Frauen übten zu einem guten Teil dieselben Berufe aus und waren vor dem Gesetz weitgehend gleichgestellt. Hinzu kommt, daß praktisch alle — ob mit oder ohne kirchlichen Segen — heirateten, und zwar früh, so daß die allermeisten fast ihr ganzes Leben lang in eine Ehegemeinschaft oder Familie eingebunden waren. Die Kehrseite der frühen und universalen Heirat war, daß die Moskoviterinnen (und auch die Moskoviter!) ohne ihr Zutun jung verheiratet wurden und außerhalb des Klosters keine Alternative zum ehelichen Leben hatten. Die Frauen verschwanden zudem im Schatten der Ehemänner, deren physischer Gewalt sie ausgesetzt waren. Die Russinnen waren jedoch auf diese Weise, wenn auch ideologisch auf einer tieferen Stufe als die Männer stehend, gut in die Gesellschaft integriert. So verwundert es nicht, daß sie keinen frauenspezifischen Verfolgungen, wie sie etwa der Hexenwahn darstellte, ausgesetzt waren.

Veröffentlichungshinweis·. Der vollständige Beitrag ist publiziert unter dem Titel „Ein Nobel volck anzusehen". Die Moskoviterinnen im 17. Jahrhundert, in: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, hg. v. N A D A B O S K O V S K A LEIMGRUBER, Paderborn 1997, S. 179-199. Im Herbst 1997 erscheint bei Böhlau außerdem das Buch: Die Lebenswelt der russischen Frauen im 17. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte Osteuropas).

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Wirtschaftsgeschichte 34. Kriegsfolgen und Kriegslasten für die ostdeutsche Wirtschaft Leitung: Lothar Baar (Berlin) LiOthar Baar (Berlin): Vorwort Christoph Buchheim (Mannheim): Kriegsfolgen und Wirtschaftswachstum in der SBZ/DDR Kainer Karisch (Berlin): Die industrielle Entwicklung in der SBZ zwischen Demontage und Wiederaufbau 1945—1949 Johannes Bähr (Berlin): Die Firmenabwanderung aus der SBZ/DDR und aus Berlin-Ost (1945—1953) Ulrich Kluge (Dresden): Kriegsfolgeschäden der ostdeutschen Landwirtschaft (1944—1952) Stephan Merl (Bielefeld): Die Sowjetisierung des Konsums Frank Zschaler (Berlin): Die „vergessene" Währungsreform — Geldumstellung in Ostdeutschland 1948 und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche Zukunft der SBZ/DDR Jochen Laufer (Potsdam): Die Macht des Faktischen. Zielkonflikte der sowjetischen Wirtschaftspolitik in der SBZ 1945—1949 im Spiegel des sowjetischen Taktierens in der deutschen Währungsfrage Lothar Baar (Berlin)

Vorwort Eine wissenschaftlich solide Analyse von Kriegsfolgen und Kriegslasten für den Osten Deutschlands besitzt nicht nur historische Dimension, solche Untersuchungen entbehren schon allein deshalb nicht einer gewissen Aktualität, da man von heute aus daran zweifeln möchte, daß die Westdeutschen und die Ostdeutschen denselben Krieg verloren haben (ULRICH HERBERT).

Über die für beide Teile Deutschlands divergierenden Kriegsfolgen und Kriegslasten sind in den Nachkriegsjahrzehnten eine Vielzahl von Publikationen erschienen. Besonderes Interesse gewann dieses Thema aber vor allem in den Jahren nach der Wiedervereinigung, zumal bis dahin der Dissens über eine Reihe von Fragen besonders groß war und Forschungsbedarf anzeigte, weil manches Problem allein aufgrund der bis 1990 weitgehend verschlossenen Primärquellen nicht oder nur unzureichend recherchiert werden konnte.

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So reflektieren auch die folgenden Beiträge zum Teil eine unterschiedliche Sicht der Folgen von Krieg und Nachkriegsentwicklung auf das Wirtschaftswachstum im Osten Deutschlands. Unstrittig bleibt dennoch, daß der verheerende Wachstumsrückstand der ostdeutschen Wirtschaft bzw. Industrie gegenüber jener der Bundesrepublik nicht monokausal mit angeblich größeren Kriegszerstörungen oder den tatsächlich bestehenden Strukturdefiziten infolge einer gering entwickelten Grundstoffindustrie erklärt werden kann. Ebenso sind die zweifellos höheren Reparationslasten und umfangreicheren Demontagen, die zunächst auch die Konsumgüterindustrie erfaßten, als alleiniges Erklärungsmodell nicht geeignet. Obwohl neuere Berechnungen bestätigen, daß die durchschnittlichen Belastungen durch die laufenden Reparationsleistungen von 1945 bis 1953, gemessen am Bruttosozialprodukt, im Osten Deutschlands 23,7 Prozent betrugen, im Westen dagegen nur 7,2 Prozent, und daß die Kapazitätsverluste der Industrie durch Demontagen, gemessen am Niveau des Jahres 1944, ein Verhältnis von 30 Prozent zu etwa 3 Prozent aufwiesen, wäre es verfehlt, den Demontagen und Reparationen mit ihren bis Mitte der fünfziger Jahre unmittelbar und danach noch lange mittelbar belastenden Folgen allein das Primat für die Ursachen des seit 1948 eingetretenen wirtschaftlichen Rückstands gegenüber der Bundesrepublik zuzuweisen. Wenn die Rekonstruktion im Osten erst 7 bis 10 Jahre später abgeschlossen werden konnte als im Westen Deutschlands, und sich anschließend infolge der entstandenen Investitionslücke die Wachstumsverluste potenzierten, so war dies der frühen ordnungspolitischen Orientierung, den Systemdefekten einer nach sowjetischem Vorbild nachvollzogenen Zentralverwaltungswirtschaft ebenso geschuldet wie dem Verlust des einheitlichen deutschen Wirtschaftsorganismus und der damit verbundenen Teilautarkie des Ostens. Die Integration in einen wirtschaftlich unterentwickelten osteuropäischen Wirtschaftsraum vermochte zu keinem Zeitpunkt die außenwirtschaftliche Verflechtung der ostdeutschen Wirtschaftsregion mit den westlichen Industrieländern zu kompensieren, die vor dem Krieg zu 80 bis 85 Prozent bestanden hatte. Die Grunddefekte des zentralen planwirtschaftlichen Systems verhinderten einen Marktmechanismus, der in der Lage gewesen wäre, die zementierten Verteilungsstrukturen von Sachmitteln und Humankapital aufzubrechen. Die Starrheit der Industriestruktur, durch das Entstehen der Reparationsindustrie befördert, hatte eine geringe Kapitalbildungsbasis und Kapitalbildungsintensität sowie letztlich den Verfall des Kapitalstocks zur Folge. Unzureichende Investitionen in vielen Branchen konservierten von vornherein alte Technik, so daß die Industrie der DDR immer weniger den internationalen Entwicklungstrends zu folgen vermochte. Nicht zuletzt trug der schon in den ersten Nachkriegsjahren begonnene Elitenwechsel zu den Wachstumsverlusten erheblich bei. Das für den Osten konstatierte Überangebot an Humankapital infolge der Millionen von Heimatvertriebenen und ihr für die Bundesrepublik oft beschriebener potenzierter Aufbauwille konnten aufgrund des Ordnungssystems im Osten nicht in dem Maße wirksam werden. Welche der genannten Ursachen wir als primär, sekundär oder auch nur als tertiär werten wollen, eine Nivellierung der Wachstumsvoraussetzungen für die Wirtschaft beider Teile Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht gegeben und widerspricht allen

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historischen Tatbeständen. Im aktuellen Kontext ist deshalb auch verständlich, daß die beiden großen Kirchen Deutschlands in ihrem Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" zu dem Schluß gelangen, daß heute die Transferzahlungen nach Ostdeutschland „ein Teil der Kriegsfolgelast Deutschlands" und insofern „vollauf gerechtfertigt" sind. Uteraturhinweis·. Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen, in: Macht, Entscheidung, Verantwortung, Band II/2 (Materialien der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"), Baden-Baden 1995, S. 868-988. LOTHAR BAAR/RAINKR KARI-SOI/WKRNF.R MATSCHKI:,

Christoph Puchheim (Mannheim)

Kriegsfolgen und Wirtschaftswachstum in der SBZ/DDR Einen einfachen Zusammenhang zwischen den Kriegsfolgen und dem Wirtschaftswachstum gibt es nicht. Vielmehr sind die Beziehungen zwischen beiden sehr differenziert und hochkomplex. Das beginnt mit der Rekonstruktionstheorie, wonach ein tiefer Fjnbruch der Produktion von einer Phase besonders hoher Wachstumsraten abgelöst wird. In der Tat waren die Rekonstruktionsbedingungen in der SBZ unmittelbar nach dem Krieg nicht schlecht, teilweise waren sie sogar noch besser als in den anderen Zonen. Das galt etwa für den industriellen Kapitalstock. Der Humankapitalbestand war ebenfalls hoch, nicht zuletzt brachten die Vertriebenen einiges an know-how auch in die SBZ. Und das Ernährungsproblem war weniger gravierend, war das Gebiet der SBZ doch vor dem Krieg weitgehend Selbstversorger mit Nahrungsmitteln. Damit gute Rekonstruktionsbedingungen jedoch tatsächlich zu raschem Wachstum führen, bedarf es als Katalysator einer adäquaten Wirtschaftsordnung. Die schnelle Einführung einer Zentralplanwirtschaft und die Verstaatlichung der Großindustrie schufen eine solche. Denn eine sozialistische Zentralplanwirtschaft eignet sich gut zur Ankurbelung extensiven Wachstums, solange genügend unterbeschäftigte Ressourcen vorhanden sind, was in der SBZ wie in den anderen Zonen der Fall war. Zunächst ging der wirtschaftliche Aufschwung in der SBZ demnach schneller vonstatten als im Westen Deutschlands. Ein Grund, der dies noch unterstützte, waren die hohen Reparationen, die die SBZ aus laufender Produktion an die Sowjets zu leisten hatte. Sie bedeuteten eine erhebliche effektive Nachfrage. Außerdem lieferten die Sowjets teilweise sogar die erforderlichen Rohstoffe. Demnach waren diese Reparationen zunächst wachstumsfördernd, was allerdings dem Lebensstandard der deutschen Bevölkerung nicht zugute gekommen ist. Da der Wunsch nach raschen großen Reparationslieferungen zudem die Sowjets bewogen hat, Elemente einer Zentralplanwirtschaft zu installieren, waren die Reparationen aus laufender Produktion auch von daher kurzfristig förderlich für das Wachstum. Demgegenüber sind die Demontagen eher von Nachteil gewesen, jedenfalls soweit Kapazitäten in Engpaßbereichen abgebaut wurden. Soweit davon allerdings damals ohnehin nicht ausgelastete Kapazitäten betroffen waren — die Mehrheit der Fälle —, waren sie für das Wachstum kurzfristig irrele-

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vant. In längerfristiger Perspektive betrachtet, konnten sie allerdings die ursprünglich sehr positiven Rekonstruktionsbedingungen verschlechtern. Überhaupt waren die langfristigen Konsequenzen der behandelten Punkte eher negativ. So bereiteten die großen Reparationen aus laufender Produktion an die Sowjetunion die Integration Ostdeutschlands in den RGW vor und führten zu einem verfehlten Strukturwandel der Industrie der SBZ/DDR. Allerdings war das auch eine Folge der Einführung des staatlichen Außenhandelsmonopols nach Gründung der DDR. Ebenso erwies sich die Zentralplanwirtschaft im Innern mittel- und langfristig als äußerst wachstumshemmend, da intensives Wachstum weitgehend unerreichbar blieb. Jedoch geht die volle Durchsetzung dieser Wirtschaftsordnung ebenfalls nicht allein auf das Konto der Sowjets und kann daher nicht ausschließlich als Kriegsfolge interpretiert werden. Nur wegen der Zentralplanwirtschaft und der Ostintegration erwiesen sich auch die teilungsbedingten Disproportionen der ostdeutschen Industriestruktur als Handicap, was durch den kostspieligen Aufbau einer eigenen Schwerindustrie, der unter dem Gesichtspunkt des Weltmarktes betrachtet eine gigantische Fehlinvestition darstellte, beseitigt werden sollte. Der Rekonstruktionsaufschwung blieb in der DDR, im Gegensatz zur Bundesrepublik, aus den genannten Gründen unvollendet. Hauptursache dafür waren die spezifischen, in der SBZ/DDR herrschenden Bedingungen, die zunächst allerdings dafür gesorgt hatten, daß er schneller eingesetzt hatte. Daß an diesen Bedingungen, nämlich der sozialistischen Zentralplanwirtschaft und der Ostorientierung des Außenhandels, festgehalten wurde, lag jedoch nicht allein an der Einflußnahme der Sowjetunion, sondern auch an den Überzeugungen und dem Machterhaltungsinstinkt der deutschen Kommunisten. Insoweit kann man das also auch nicht mehr unter dem Begriff „Kriegsfolgen" subsumieren. Uteraturhinweise·. Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen, in: Macht, Entscheidung, Verantwortung, Band II/2 (Materialien der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"), Baden-Baden 1995, S. 868-988; HORST BARTHEL, Die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der DDR. Zur Wirtschaftsentwicklung auf dem Gebiet der DDR 1945-1949/50, Berlin (Ost) 1979; Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, hg. v. CHRISTOPH BUCHHEIM, Baden-Baden 1995; CHRISTOPH BUCHHEIM, Die Wirtschaftsordnung als Barriere des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in der DDR, in: Vierteljahrsschrift f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 82, 1995; BRUNO GLEITZE, Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956; RAINER K A R L S C H , Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953, Berlin 1993; NORMAN M. N A I M A R K , The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945-1949, Cambridge/Mass. 1995; J Ö R G ROESI.ER, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Berlin (Ost) 1978; G R E G O R Y W. SANDEORD, From Hitler to Ulbricht. The Communist Reconstruction of East Germany 1945-46, Princeton 1983; ROLF W A G E N F Ü H R , Die deutsche Industrie im Kriege 1939-1945, Berlin 2. Aufl. 1963; W O L F G A N G Z A N K , Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945-1949. Probleme des Wiederaufbaus in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, München 1987. LOTHAR BAAR/RAINER KARLSCH/WERNER MATSCHKK,

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Veröffentlichungshinmis·. Der Beitrag wird in „Geschichte und Gesellschaft", Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft erscheinen. Rainer Karisch (Berlin)

Die industrielle Entwicklung in der SBZ zwischen Demontage und Wiederaufbau 1945-1949 Nach Abschluß der Demontagen im Frühjahr 1948 war das Bruttoanlagevermögen in der SBZ mit ca. 74—84% deudich unter das Vorkriegsniveau (1936) zurückgefallen. Noch ungünstiger fällt die Bilanz bei den industriellen Kapazitäten aus (50-70%, gemessen am Stand von 1936). Demnach kam der „Aufrüstungsschub" (1936—44) dem Wiederaufbau kaum zugute. Während die im Zuge der „industriellen Abrüstung" erfolgte Demontage von Überkapazitäten in der metallverarbeitenden und der chemischen Industrie den Wiederaufbau nicht wesentlich beeinträchdgte, führten die Entnahmen in ausgesprochenen mitteldeutschen Engpaßbereichen, wie der Metallurgie, der Reifenindustrie und pharmazeutischen Industrie sowie vor allem bei der Reichsbahn, die fast die Hälfte ihres Streckennetzes verlor, zu langfristig nachwirkenden Strukturdefiziten. Die 'Überschwemmung' der SBZ mit Arbeitskräften wirkte positiv auf die Kapitalintensität, vermochte die Kapitalverluste jedoch nicht gänzlich zu kompensieren. Trotz der Demontagen kam die Wiederbelebung der Wirtschaft in der SBZ bis Ende 1947 etwas rascher voran als in den Westzonen. Dies war auf die Reparationskonjunktur, getragen von den SAG-Betrieben, die konsequentere Umsetzung von Bewirtschaftungsauflagen und den Wiederaufbauwillen der Stammbelegschaften zurückzuführen. Das Entstehen von Reparationsindustrien (Uranbergbau, Schiffbau, Teile des Schwermaschinenbaus) nahm die am sowjetischen Industrialisierungsmodell orientierte Strukturpolitik der 50er Jahre vorweg. Die neuen Strukturen standen den einstigen Stärken der konsumorientierten mitteldeutschen Industrie geradezu entgegen. Neben den Reparationsentnahmen litt die Wirtschaft der SBZ in besonderem Maße unter den Folgen der deutschen Teilung, der Umorientierung des Außenhandels und dem Weggang der alten Wirtschaftseliten. Ab 1948 zeichnete sich gegenüber den Westzonen ein langsameres Tempo des Wiederaufbaus ab. Auch die Produktivität blieb in der SBZ/DDR deutlich zurück und lag 1950 bei 60—70% der westdeutschen. Die „Produktivitätslücke" war das Resultat aller angeführten Faktoren und kann nicht monokausal, etwa allein mit den Reparationen oder durch die ordnungspolitischen Weichenstellungen, erklärt werden. Die später immer deutlicher hinter der Bundesrepublik zurückbleibende Entwicklung der Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft war dann den generellen Systemdefekten der ZentralverwaltungsWirtschaft geschuldet. Veröffentlichungen: Die Auswirkungen der Reparationsentnahmen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in der SBZ/DDR, in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in RAINER KARLSCH,

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Deutschland ( 1 9 3 3 - 1 9 9 3 ) , hg. v. JÜRGEN SCHNEIDER U. W O L F G A N G HARBRECHT, Stuttgart 1996; RAINER K A R L S C H , Vom „Karthago-Frieden" zum Besatzungspragmatismus, in: Besiegt oder befreit, hg. v. HORST M Ö L L E R , München 1997. Johannes Bahr (Berlin)

Die Firmenabwanderung aus der SBZ/DDR und aus Berlin-Ost (1945-1953) Bei Kriegsende hatte die Wirtschaft auf dem Gebiet der späteren DDR ein ähnliches Ausgangsniveau wie die westdeutsche Wirtschaft. In den ersten Nachkriegsjahren traten dann massive Substanzverluste ein. Dazu gehörte auch die Firmenabwanderung in den Westen, über deren Auswirkungen auf die ostdeutsche Wirtschaft bislang wenig bekannt ist. Unter den abgewanderten Unternehmen befanden sich die eisten Adressen der ostdeutschen Industrie wie z.B. die Firmen Agfa, Auto-Union, Junkers, Knorr-Bremse, Pitder, Wanderer und die Zeiss-Gruppe (Carl Zeiss, Schott, Zeiss-Ikon). Hinzu kamen Großbanken wie die Dresdner Bank und führende Handels- und Versicherungsgesellschaften wie z.B. die Gothaer Versicherungen. Im Zusammenhang mit der Errichtung der Zonengrenzen fanden schon 1945 beträchtliche Ost-West-Verlagerungen statt. In den Westzonen ansässige Unternehmen zogen sich aus ostdeutschen Filialbetrieben zurück. Ostdeutsche Firmen errichteten Leitungsstäbe oder Verbindungsstellen in den Westzonen. Ihren Stammsitz hatten diese Firmen dabei aber keineswegs abgeschrieben. Mit der Gründung von Filialen wollten sie vor allem auf dem westdeutschen Markt präsent sein. Eine Variante der Verlagerungen war der von den Amerikanern bei ihrem Rückzug aus Thüringen und Sachsen Ende Juni 1945 erzwungene Transfer von Wissenschafdern und Führungskräften. Die zweite, entscheidende Phase der O st-West-Wanderung fand zwischen 1946 und 1949 statt. Diese Wanderungsbewegung war nicht mehr durch die unmittelbaren Kriegsfolgen bedingt, sondern primär eine Reaktion auf die politische Entwicklung und den sozioökonomischen Umbau in der SBZ. Wichtigste, aber keineswegs alleinige Ursache waren die Enteignungen. Im Unterschied zu den Verlagerungen von 1945 waren die Abwanderungen nun als dauerhafter Standortwechsel angelegt. Erst in dieser Phase kam es in großem Umfang zu Sitzverlegungen. In einer dritten Phase nach 1949 folgten noch Nachzügler der großen Abwanderungsbewegung in den Westen. Die aus der Firmenabwanderung resultierenden Substanzverluste sind somit hauptsächlich nicht auf die Kriegsfolgen zurückzuführen, sondern auf die Systemtransformation in der SBZ/DDR. Vergleicht man die ostdeutsche Betriebsstatistik mit der westdeutschen Statistik über die Zugewandertenbetriebe, dann wird deutlich, daß etwa jeder siebte ostdeutsche Industriebetrieb in den Westen abwanderte. Die bundesdeutsche Zuwanderungsstatistik gibt aber bei weitem nicht die gesamte Dimension der Ost-West-Verlagerungen wieder, da sie weder Firmen des tertiären Sektors erfaßte noch die sehr bedeutenden Zweigbetriebe und Tochtergesellschaften westdeutscher Unternehmen auf dem Gebiet der SBZ. Viele der aus der SBZ abgewanderten Firmen konnten zudem im Westen nicht Fuß fassen (gescheiterte Verlagerungen). Ein Vergleich zwischen der Branchenstruktur der Zugewandertenbetriebe und der regionalen Branchenstruktur der deutschen Industrie vor 1945 macht deutlich, daß ein über-

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proportional großer Teil der abgewanderten Firmen zu Industrie- und Produktionszweigen gehörten, die in Westdeutschland unterrepräsentiert waren, wie etwa die Textilindustrie, die feinmechanisch-optische Industrie, der Musikinstrumentenbau, die Spielwarenindustrie oder der Textilmaschinenbau. Auf der Unternehmensebene lassen sich weitere Merkmale erfassen, die das spezifische Profil der Firmenwanderung prägten. Hier kristallisieren sich drei Typen heraus: überregional vertretene Großfirmen, spezialisierte Firmen mit einer starken Marktposition im Westen, Unternehmen, die mit ihrem wichtigsten Abnehmer nach Westdeutschland abwanderten. Die Substanzverluste, die sich für die ostdeutsche Wirtschaft aus der Firmenabwanderung ergaben, sind — anders als etwa die Demontageschäden — nicht quantifizierbar. Die Abwanderung vollzog sich hauptsächlich durch den Weggang von Führungspersonal und Fachkräften. Daraus resultierte ein enormer Verlust an kaufmännischem und technischem Wissen. Die Abwanderung hatte längerfristig gravierendere Folgen als die Demontagen, da der Verlust an Humankapital und know-how nicht ersetzt werden konnte. Durch die Abwanderung wurden aber auch Strukturen zerstört, auf denen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft dieses Gebietes vor 1945 beruht hatte. So waren gerade die potentiell besonders leistungsstarken Branchen der ostdeutschen Industrie wie die feinmechanisch-optische Industrie, die Textilindustrie oder Teile des Maschinenbaus in überproportionalem Umfang an der Abwanderung beteiligt. Die Firmenabwanderung führte nicht nur absolut zu einem Rückgang des technologischen und kaufmännischen Potentials. Es ging auch das Umfeld in Form von Zulieferern, Wettbewerbern u.a. verloren (fluster). Aus der Langzeitperspektive erlitt der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland durch den Neuaufbau seiner ehemals leistungsfähigsten Unternehmen und Branchencluster im Westen einen gewaltigen, irreversiblen Bedeutungsverlust. Die Langzeitwirkung dieses Vorgangs reicht über die vierzigjährige Geschichte der DDR hinaus. Dazu gehört auch, daß heute keines der 100 größten deutschen Unternehmen seinen Hauptsitz in Ostdeutschland hat. Quellen- und Uteraturhinmise: Bundesarchiv, Berlin, Bestände DO 3 und DC 15; Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, Zentrales Parteiarchiv der SED; Klett's Spezialliste der verlagerten und sitzverlegten Betriebe aus der Ostzone und von Berlin, Berlin 1950; Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland; diverse Firmenschriften. ERICH DITTRICH, Verlagerungen in der Industrie, in: Die Vertriebenen in Westdeutschland, Bd. 2 , hg. v. EUGEN LEMBERG U. FRIEDRICH E D D I N G , Kiel 1 9 5 9 , S . 2 9 6 - 3 7 4 ; PETER HF.FF.LE, Zuwanderung von Unternehmen aus der SBZ/DDR nach Westdeutschland 1945—1961, Diss. Katholische Universität Eichstätt, Eichstätt 1 9 9 7 ; KLAUS DIETMAR H E N K E , Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995. Veröffentlichungshinweis·. Der Beitrag erscheint in der Festschrift für Lothar Baar zum 65. Geburtstag, hg. v. RAM FISCHER, St. Katharinen 1 9 9 7 .

WOLF-

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Ulrich Kluge (Dresden)

Kriegsfolgeschäden der ostdeutschen Landwirtschaft (1944—1952) 1. Direkte und indirekte

Kriegsschäden

Im Vergleich zum Deutschen Reich (Gebietsstand von 1937) entfielen auf die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) u.a. 28% der Bevölkerung, 23% der Landwirtschaftlichen Nutzfläche (LNF), 30% des deutschen Getreideanbaus und 24% der Schweinehaltung. Nicht sogleich sichtbare Kriegsschäden erlitt die ostdeutsche Landwirtschaft bereits seit 1939, und zwar durch die eingeschränkte Versorgung mit Produktionsmitteln wie Kunstdünger und Hochzuchtsaatgut. Die direkten, sichtbaren Kriegsschäden ergaben sich aus den militärischen Kampfhandlungen auf Reichsgebiet. Zu den langfristig wirkenden, also weit über das Jahr 1945 hinausreichenden Kriegsschäden zählten an Nährstoffen verarmte Böden, veraltete und reparaturanfällige Maschinen und Geräte, begrenzt einsatzfähiges Zugvieh und schlecht ernährtes Nutzvieh. Die unmittelbaren Kriegsschäden traten scharf in Erscheinung; hierzu gehörten durch Minen, Bombentrichter, Schützengräben und Überschwemmungen zerstörte Agrargebiete in einem Umfang von 40.120 ha LNF. Bei Kriegsende waren nur noch 40% des einstigen Rinderbestandes, 9,5% des einstigen Bestandes an Schweinen und 12,8% des alten Schafbestandes in Ostdeutschland vorhanden. Nur geringfügig profitierte die ostdeutsche Landwirtschaft von der Zuwanderung landwirtschaftlicher Facharbeitskräfte aus der Großgruppe der Vertriebenen und Flüchtlinge. Es handelte sich hierbei fast überwiegend um Frauen. Es fehlten erfahrene Fachkräfte und Spezialisten in der praktischen Landwirtschaft, in der lokalen und regionalen Agrarverwaltung sowie in den mit der Landwirtschaft verbundenen Hilfs- und Handwerksbetrieben. 2. Sowjetische Requisitionen, Demontagen und Reparationen Das Beutegut allein an Getreideprodukten belief sich auf 2,3 Mio t. Die sowjetischen Besatzungstruppen füllten regellos die Armeebestände laufend aus den ördich vorgefundenen Beständen an Zugtieren und Futtermitteln auf. Sie durchkreuzten damit mindestens bis 1949 jeden Ansatz einer agrarwirtschaftlichen Produktions- und Versorgungsplanung ostdeutscher Wirtschaftsbehörden. Lokale und regionale Befehlshaber behielten sich die Herausgabe von generell beschlagnahmten Produktionsmitteln vor (Saatgut, Treibstoff, Dünger usw.). Jeder nachträglichen Berechnung entziehen sich diejenigen Agrargüter, die willkürlich in den Dörfern durch die Kreis- und Ortskommandanturen requiriert wurden. Etwa 50.000 ha LNF befanden sich mehr als fünf Jahre in der Eigenbewirtschaftung der Roten Armee. Die erforderlichen Produktionsmittel wurden den deutschen Beständen entnommen, ohne daß darüber Buch geführt wurde. Die verordnete Pflichtablieferung von pflanzlichen und tierischen Produkten besaß absoluten Vorrang vor der Bestandssicherung der ostdeutschen Landwirtschaft durch Vorratspflege bei Saatgut und Nutzvieh. Die ostdeutschen Landmaschinenfabriken arbeiteten fast ausschließlich zugunsten sowjetischer Reparationsforderungen. Das Hauptobjekt sowjetischer Reparationsziele im Bereich der landwirtschaftlichen Investitionsgüter im Agrarbereich blieb von Anfang an Saatgut; allein aus der Saatguternte 1947 beliefen sich die sowjetischen Forderungen auf 17 Millionen Mark.

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3. Die ostdeutsche Landwirtschaft im strukturellen Umbruch (1945—1947) Zu den alten und neuen Kriegs- und Kriegsfolgeschäden kamen die aus der Teilung Deutschlands stammenden wirtschaftspolitischen Schäden. Es handelte sich um Schäden infolge der Isolierung und Selbstisolierung der ostdeutschen Landwirtschaft von westdeutschen Märkten und Bezugsquellen. Die Lücken im Bereich essentieller Produktionsmittel konnten bis weit in die 50er Jahr hinein weder in Menge noch in Güte geschlossen werden. Von besonderer Tragweite waren Schäden durch die Bodenreform. Aus Ostelbien mit seinem traditionell groß-agrarischen Charakter wurde eine klein-bäuerliche Agrarregion. Die ideologisch-politisch motivierte Bodenzersplitterung belastete die ostdeutsche Ernährungsbilanz in außerordentlichem Maße. In Parzellenwirtschaften entstand anstelle rationeller Pflanzenproduktion eine kostspielige, marktferne Kleinviehhaltung zu Lasten breiter Bevölkerungsschichten in den städtischen Industrieregionen. Die betriebswirtschaftlich unsinnige Bodenzersplitterung verzögerte den Wiederaufbau in den Wirtschaftszentren infolge einer zu langen Periode mangelhafter Ernährung der ostdeutschen Industriegesellschaft. Die ersten Ansätze einer Agrarplanwirtschaft leisteten keinen erkennbaren Beitrag zur Entwicklung der bewußt kleinstrukturierten Landwirtschaft in der SBZ. Die „Deutsche Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft" unter der Leitung von Edwin Hoernle (KPD) blieb in zentralen Entscheidungen lediglich ein Exekutivorgan der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Die Agrar- und Ernährungspläne dienten der Verteilung des Mangels, nicht der Schaffung zusätzlicher Ressourcen im Produktionsmittelbereich. Die Planauflagen der SMAD basierten auf den überkommenen, bereits seit 1943/44 unrealistischen Plandaten des nationalsozialistischen „Reichsnährstandes". Produktionspolitische Sonderprogramme, z.B. die „Sokolowski-Aktion" von 1947, scheiterten am unlösbaren Widerspruch zwischen Plan und Wirklichkeit. Die Landzuteilung im Rahmen der obrigkeidichen Bodenreform blieb ohne betriebswirtschaftliches Fundament. Sie hielt den säkularen Trend zur Landflucht nicht auf. Politischer Druck auf Mittel- und Großbauern steigerte die Landflucht zur Staatsflucht in den 50er Jahren. Die ersten, im Sommer 1952 spontan entstandenden „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" (LPG) waren Nodösungen hoffnungsloser und hochverschuldeter Neubauern und Landarbeiter. Die SED-Führung gab diesen agrarökonomischen Verlegenheitslösungen mit begrenzter betriebswirtschaftlicher Logik notgedrungen den politischen Segen. Die LPG-Betriebe stellten in ihrer Ursprungsphase die betriebswirtschaftliche Revision einer seit 1945 verfehlten Agrarpolitik dar. Quellenhinweis·. Bundesarchiv, Berlin, DK-1 (Ministerium für Land- und Forstwirtschaft der DDR). Veröffentlichungshinweis·. Der Referent plant eine Gesamtdarstellung der DDR-Landwirtschaft 1945/49-1961.

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Stephan Merl (Bielefeld)

Die Sowjetisierung des Konsums Wenn unter der „Sowjetisierung des Konsums" die Übertragung eines spezifisch sowjetischen Konsummodells auf die SBZ/DDR verstanden werden soll, so muß sich der Blick zwangsläufig auf die Phase nach Stalins Tod richten. Eine Konsumpolitik unter Stalin hat es im positiven Sinne nicht gegeben. Die Politik des erzwungenen Konsumverzichts und Terrors schenkte dem Konsum der Bevölkerung weder besondere Aufmerksamkeit noch maß sie ihm eine systemstabilisierende Rolle zu. Die „Stalinisierung des Konsums" mit der zur Kaufkraftabschöpfung überhöhten Preisfestsetzung für Konsumgüter war auch in der DDR zu beobachten. Nach der Verkündigung des „Aufbaus des Sozialismus" verschlechterte sich im Winter 1952/53 die Versorgungslage. Alle potentiellen Nachfolger Stalins versuchten, ihren Anspruch auf die Macht mit einer Verbesserung des Lebensstandards zu legitimieren. Das Scheitern des von Malenkov initiierten „Neuen Kurses" bedeutete deshalb nicht die Beendigung der Konsumorientierung, sondern lediglich die Durchsetzung der von Chruscev verfolgten Strategie. Die SED-Führung folgte der von Moskau vorgegebenen Kurskorrektur und nutzte dabei den seit 1953 etwas größeren Handlungsspielraum zur Politikgestaltung. Die Abweichungen vom sowjetischen Vorbild waren auf dem Feld der Agrarpolitik am deutlichsten ausgeprägt. In der Sozialpolitik konnte die von Chruscev propagierte Einführung von Mindestrenten und -löhnen ohne Zeitverzug in die Praxis umgesetzt werden. Der Konsum war auch in der DDR primär eine Entscheidung der Politik und seit 1953 eingebettet in eine Strategie der Herrschaftslegitimation und der Machtbehauptung und stand nicht in Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Aus dem Fehlen eines ökonomischen Korrektivs erklärt sich, daß der Konsum unter Stalin trotz schnellen Wirtschaftswachstums stagnierte, dann aber nach dem Übergang zur Systemlegitimation aus dem Konsum noch deutlich anstieg, als seit den 70er Jahren das Wirtschaftswachstum dramatisch zurückging. Seit 1953 sollte der Konsum zur Effizienzsteigerung im Wirtschaftssystem beitragen, und das Prinzip der materiellen Interessiertheit wurde festgeschrieben. Das spezifisch sowjetische Konsummodell entstand aber erst Ende der 50er Jahre mit der ideologischen Ausrichtung auf den forcierten Aufbau des Kommunismus. Gemäß dem Marx'schcn Verteilungsprinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" strebte es eine leistungsunabhängige Bedürfnisbefriedigung an. Die Überlegenheit des sowjetischen Wirtschaftsmodells sollte sich im Wettstreit mit den kapitalistischen Staaten in kurzer Zeit erweisen. So steckte Ulbricht 1958 das Ziel, die Bundesrepublik im ProKopf-Verbrauch an Lebensmitteln und Konsumgütern bis 1961 einzuholen und zu überholen. Mit der „Sowjetisierung des Konsums" sollten die Bedürfnisbefriedigung aus ihrer überkommenen Abhängigkeit von Qualität und Quantität der Arbeitsleistung gelöst werden und die „gesellschaftlichen Konsumptionsfonds" in kurzer Zeit den Lohnfond übertreffen. Für Dienstleistungen und Waren des Grundbedarfs wurden stark ermäßigte Preise festgeschrieben. Die größte Bedeutung kam den niedrigen Mieten, der eher symbolischen Bezahlung für kommunale Dienstleistungen und der billigen Abgabe von Lebensmitteln des Grundbedarfs zu. Veredelungsprodukte waren zwar bezogen auf den Lohn nicht besonders preisgünstig, doch auch hier wurden Festpreise garantiert und der gewaltige

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Kostenanstieg bei der Tierproduktion nicht an die Verbraucher weitergegeben, so daß in der Folgezeit ein erheblicher Subventionsbedarf entstand. Zu den kostenlos bereitgestellten Leistungen gehörten die ärztliche Versorgung und der Schul- und Universitätsbesuch. Als Grundlage der Produktionsplanung wurde Ende der 50er Jahre mit der Ausarbeitung von „wissenschaftlich begründeten Verbrauchsnormen" begonnen, die den wünschenswerten Umfang des Konsums an Lebensmitteln, langlebigen Konsumgütern und Dienstleistungen bestimmten. Diese Normen beanspruchten, die Menschen zu einer vernünftigen Bedürfnisstruktur und einem sinnvollen Umgang mit ihrer Freizeit zu bewegen. Die Festpreispolitik und die starken Verzerrungen in der Struktur der Verbraucherpreise beeinflußten das Anbieter- und Verbraucherverhalten entscheidend. Die Produzenten verhielten sich wie Monopolisten. Die Knappheit an höherwertigen Konsumgütern ließ der Verfügbarkeit der Ware eine größere Bedeutung als dem Preis zukommen. Der daraus resultierende Kaufkraftüberhang bewirkte eine andauernde Übernachfrage nach Veredelungsprodukten („Dauerfreßwelle"). Eine hervorragende Stellung im Konsum auch der DDRBevölkerung kam der „Datschenkultur" zu. Der kleine Schrebergarten vor der Stadt erlaubte nicht nur, der Enge der Stadtwohnung, sondern auch der sonst allgegenwärtigen staatlichen Bevormundung zu entfliehen. Die Datscha vermittelte ein eigentlich systemwidriges „Eigentümerbewußtsein". Die Verbesserung der Konsumwerte gegenüber dem Ausgangsniveau von 1953 hielt bis 1990 an. Die Ausgabenstruktur der Haushalte in der DDR wich deutlich von derjenigen in Westeuropa ab. Die „Sowjetisierung des Konsums" erfolgte ohne äußeren Zwang und wurde in der DDR in den 70er und 80er Jahren abgeschlossen. Der Sowjetisierungsprozeß in diesem Bereich erscheint nicht als einseitiges Diktat, sondern bedingt als Gemeinschaftsprodukt von DDR und Sowjetunion, wobei allerdings die Initiative von der Sowjetunion ausging. Die Untersuchung der „Sowjetisierung des Konsums" legt deshalb eine Periodisierung der DDR-Geschichte nahe, die stärker als sonst üblich das Jahr 1953 als entscheidende Zäsur einstuft. Die „neue Sozialpolitik" unter Honecker stellt sich aus dieser Perspektive eher als verzweifelter, wenn auch erfolgreicher Versuch dar, aus diesem Modell weiter systemlegitimierende Kraft abzuleiten, obwohl mit der Abkehr von der Wirtschaftsreform zugleich die entscheidende ökonomische Voraussetzung zur dauerhaften Finanzierung der „Sowjetisierung des Konsums" aufgegeben wurde. Diese als Errungenschaft des Sozialismus verkaufte Konsumpolitik erzwang angesichts der mangelnden Effizienz der Zentralverwaltungswirtschaft zunehmende Subventionen des Staates auf Kosten der für Investitionen zur Erzielung von Wirtschaftswachstum verfügbaren Mittel und mußte deshalb systemsprengende Kraft entfalten. Es gelang der SED, diesen Zusammenhang vor der Bevölkerung zu verbergen. Aus Angst vor Unruhen in der Bevölkerung nach polnischem Vorbild wagte die SED nicht, die Mitte der 80er Jahre vorbereitete Anhebung der Verbraucherpreise zu verkünden. Die nicht vorhandene Finanzierbarkeit dieses Konsummodells blieb ein wohlgehütetes Tabu, während sich die Prinzipien der „Sowjetisierung des Konsums" als Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus der DDR-Bevölkerung nachhaltig einprägten. Veröffentlicbungshinweis·. Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, hg. v. K O N R A D J A R A U S C H U. H A N N E S SIEGRIST, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 167-194. S T E P H A N MKRI.,

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Trank. Zschaler (Berlin)

Die „vergessene" Währungsreform-Geldumstellung in Ostdeutschland 1948 und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche Zukunft der SBZ/DDR Während die westdeutsche Währungsreform seit Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und journalistischer Meinungsäußerungen war und ist, hat ihr ostdeutsches Pendant kaum größere Aufmerksamkeit erlangt. Nachdem die relevanten Aktenbestände ostdeutscher Archive für die Forschung zugänglich sind, kann eine Bewertung der Stellung von Währung und Finanzen innerhalb des zentralistisdien Wirtschaftssystems der SBZ/DDR vorgenommen werden. Eine Untersuchung der Währungsreform und der Bedeutung der Geld- und Währungspolitik für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des zweiten deutschen Staates, die aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen sollte, ist nützlich, um bisherige Erkenntnisse über Funktionsweise und Defizite des östlichen Gesellschaftsmodells zu vertiefen. Zwischen Finanzwissenschaftlern und Finanzpolitikern in allen Besatzungszonen herrschte zwischen 1945 und Anfang 1948 Ubereinstimmung über die Notwendigkeit einer Währungsstabilisierung. Auch hinsichtlich der Notwendigkeit einer Verknüpfung der Geldreform mit einer Wirtschaftsliberalisierung gab es im Prinzip keine unterschiedlichen Auffassungen zwischen Ost und West. In keinem Währungsreformkonzept ostdeutscher Provenienz wurde vor 1948 ein Sonderweg der SBZ thematisiert. Erst mit dem Konsensbruch zwischen den Alliierten Ende 1947, der spätestens durch den Auszug des sowjetischen Oberbefehlshabers aus dem Alliierten Kontrollrat am 20. März 1948 augenfällig wurde, begann die Vorbereitung von zwei Währungsreformen. Bei der ostdeutschen Währungsreform wurden Vorstellungen deutscher Fachleute mit denen der sowjetischen Finanz- und Währungspolitik verknüpft. Darüber hinaus hatte sie — indem staatseigene Unternehmen und Parteien/Organisationen bevorzugt behandelt wurden — eine ordnungspolitische Dimension im Sinne der Zielvorstellungen kommunistisch geprägter SED-Führer. Ihre technische Vorbereitung und Durchführung war wenig professionell. Zunächst wurde nicht einmal eine neue Währung, sondern nur ein Ersatz (Kuponmark) eingeführt. Diese 'Billigvariante' sollte sich aus späterer Sicht als Symbol für den mangelnden Wert des ostdeutschen Geldes und das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die Geld- und Währungspolitik der SED/DDR-Führung erweisen. Im Gegensatz zu Westdeutschland war mit der Währungsreform keine Aufhebung der Rationierungen verbunden. 1948 wurden zwar sog. „Freie Läden" eröffnet, die Vorgänger der staatseigenen Monopolgesellschaft HO, in denen knappe Güter zu Grenzkosten-, d.h. wirklichen Marktpreisen erhältlich waren. Eine der westdeutschen Entwicklung vergleichbare Erfahrung vom Wert des neuen Geldes, für das nun alle erdenklichen Güter zu haben waren, konnte sich in der SBZ aber nicht einstellen. Auch die ursprünglich angestrebte Reduzierung der Bar- und Giralgeldmenge um 90 Prozent des Altgeldes gelang nicht. Bezogen auf die Bevölkerungszahl war die Neugeldemission (Bar- und Giralgeld) in Ostdeutschland erheblich höher als in Westdeutschland. Die bisher genannten Defizite reichen jedoch nicht aus, um den Stellenwert der ostdeutschen Währungsreform im Transformationsprozeß und im Hinblick auf das spätere Scheitern des Systems schlüssig zu erklären. Eine Entscheidung für Wirtschaftsliberalisierungen,

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vor allem für die Abkehr vom Festpreissystem, hätte es nämlich ermöglicht, die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft langsam in das zu große 'Geldkleid' hineinwachsen zu lassen. Von weit größerer Bedeutung als die Währungsreform selbst waren daher die in ihrem Vorfeld begonnenen und durch die spätere Entwicklung verfestigten Transformationen des Wirtschaftssystems im Sinne der Einführung des sowjetischen Modells. In Konsequenz des Fortbestehens eines Bewirtschaftungssystems mit gesamtwirtschaftlichem Anspruch, in dessen Mittelpunkt mit dem Volkswirtschaftsplan ein Mengenplan stand, hatte die Geld- und Währungspolitik, ja die Finanzpolitik insgesamt, einen viel geringeren Stellenwert als in der Bundesrepublik. Sie war vor allem ein Residuum der Wirtschaftspolitik, letztlich des Planungsprozesses. Ihre Funktion bestand also in der Sicherstellung der zum Mengenplan korrespondierenden Finanzströme. Hinzu kamen weitere gravierende Unterschiede: der hohe Sozialisierungsgrad, der weitgehende Verlust der Eigenständigkeit aller Finanzebenen jenseits der Zentrale, die starke Zentralisierung von wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen, der direktere Zugriff des Staates auf das gesamte Kreditsystem, schließlich das Fehlen unabhängiger Gremien, die über die Geldmengenentwicklung wachen konnten. Darüber hinaus erwies sich die politische Elite als nicht lernfähig. Hinweise von Fachleuten auf bedenkliche Entwicklungen von wirtschafdichen Daten führten zu keinen oder nur zu unzureichenden Kurskorrekturen. Kritische Meinungen von Fachleuten in den Verwaltungen wurden solange mit offenen oder versteckten Repressionen beantwortet, bis sie fast ganz unterblieben. Damit bestätigt das ostdeutsche Beispiel, daß mit einer Währungsreform kaum mehr erreicht werden kann, als die Abwicklung technischer Probleme, obwohl es dabei durchaus unterschiedliche Qualitätsstandards gibt. Erst im Kontext der Gesamtheit von ordnungs-, wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen wird über Erfolg bzw. Mißerfolg einer Währung entschieden. Uteraturhinweise. A. BOELKE, Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933-1948, Paderborn 1985; ECKHARD W A N D E L , Die Entstehung der Bank deutscher Länder und die deutsche Währungsunion 1948. Die Rekonstruktion des westdeutschen Geld- und Währungssystems 1945—1949 unter Berücksichtigung der amerikanischen Besatzungspolitik, Frankfurt a.M. 1980; ALBRECHT RITSCHL, Die Währungsreform von 1948 und der Wiederaufstieg der deutschen Industrie, in: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 33,1985, S. 136-165; FRANK ZSCHALER, Die Entwicklung einer zentralen Finanzverwaltung in der SBZ/DDR (1945-1949/50), in: Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, hg. v. HARTMUT MEHRINGER, München 1995, S. 97-138; MICHAEL W . W O L F F , Die Währungsreform in Berlin 1948-1949, Berlin/New York 1991. WILLI

Veröffentlichungshinweis·. FRANK ZSCHALER, Die vergessene Währungsreform. Vorgeschichte, Durchführung und Ergebnisse der Geldumstellung in der SBZ 1948, erscheint in: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 45,1997, Heft 2.

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Jochen Läufer (Potsdam)

Die Macht des Faktischen. Zielkonflikte der sowjetischen Wirtschaftspolitik in der SBZ 1945-1949 im Spiegel des sowjetischen Taktierens in der deutschen Währungsfrage Von den seit der Besetzung durch die UdSSR im Zusammenwirken mit den einen Neuanfang erstrebenden Kräften der deutschen Gesellschaft eingeleiteten Veränderungen im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben der SBZ ging eine Macht des Faktischen aus, die sich auch in der spezifischen Behandlung der deutschen Währung durch die sowjetische Besatzungsmacht niederschlug. Es entstand ein Spannungsverhältnis zwischen zonalen Veränderungen und fortwirkenden gesamtdeutschen Abhängigkeiten im Bereich der Wirtschaft, das zu einer der Hauptquellen für Zielkonflikte in der sowjetischen Politik in Deutschland wurde. SMAD-Stellen erkannten spätestens im Frühjahr 1946 die für alle Zonen und Besatzungsmächte bestehende Notwendigkeit einer Währungsreform in Deutschland. Sie gingen dabei davon aus, daß im Falle einer sowjetischen Verweigerung die Westmächte selbständig handeln würden und begriffen, daß dies zur endgültigen Sprengung der deutschen Wirtschaftseinheit führen würde. Aus einer realistischen Einschätzung der daraus für die SBZ resultierenden Gefahren („wirtschaftliche Isolation") suchten die Verantwortlichen in der SMAD nach Kompromißmöglichkeiten, drängten zugleich aber seit Sommer 1946 auf die Vorbereitung von Gegenmaßnahmen. Alternatiworschläge der SMAD, die zeitweilig — aber nicht durchgängig - die Unterstützung des Moskauer Finanzministeriums erhielten, wurden vom sowjetischen Außenministerium niemals bis zur obersten sowjetischen Entscheidungsebene weitergeleitet. Eine gemeinsame Lösung im Rahmen des Alliierten Kontrollrats stieß, abgesehen von Strukturunterschieden (Bankensystem, „Volkseigentum" und ungleiche M-Mark-Emission), auch auf andere grundlegende Schwierigkeiten (die Höhe der sowjetischen Besatzungskosten und die Reparationsfinanzierung), die nur durch grundsätzliche, deutschlandpolitische Entscheidungen der sowjetischen Regierung lösbar waren. Die Frage, welche Voraussetzungen und Konsequenzen eine gesamtdeutsche Währungsreform für die innere Entwicklung der SBZ und damit für die Position der UdSSR in Deutschland haben würde, wurde in den bisher zugänglichen sowjetischen Dokumenten nicht thematisiert. Für die Verfolgung einer gesamtdeutschen Zielsetzung durch die sowjetische Führung bieten die bisher auswertbaren sowjetischen Quellen zur Währungsfrage keine Indizien. Im Gegenteil: Durch gemeinsame Regelungen mit den Alliierten in bezug auf die Währungsreform sah die UdSSR ihre Interessen in der SBZ gefährdet. Das sowjetische Taktieren in der Währungsfrage zielte weniger auf die tatsächliche Erreichung einer gemeinsamen Währungsreform als auf deren Verzögerung. Quellen- u.

Uteraturhinweise.

Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation; GUNTHER MAI, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945-1948. Alliierte Einheit - deutsche Teilung?, München 1995; JOCHEN LAUFER, Zur Politik der UDSSR in der deutschen Währungsfrage 1944—1948, erscheint in: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 46, 1998.

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35. Wirtschaftsgeschichte als Argument in der wirtschaftspolitischen Diskussion Leitung: Toni Pierenkemper (Frankfurt a. Main) Carl Ijidwig Holtfrerichl~Lut% Frühbrodt (Berlin): Die Zwischenkriegszeit als Argument für die Gestaltung der US-Wirtschaftspolitik nach 1945 Bert Kürup (DarmStadt): Arbeitskräfteimmigration und Einwanderungspolitik seit dem Kaiserreich Gerd Hardach/Sandra Hartig (Marburg): Der klassische Goldstandard als Argument in der internationalen Währungsdiskussion des zwanzigsten Jahrhunderts Toni Vierenkemper (Frankfurt a. Main): Warum haben die Deutschen Angst vor der Inflation? Lehren aus zwei Währungszusammenbrüchen Rainer Fremdling (Groningen): Die Wirtschaftsdepression der Zwischenkriegszeit und ihr Einfluß auf die niederländische Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg Carl~Ludwig Holtfrericb/LMÍ% Frühbrodt (Berlin)

Die Zwischenkriegszeit als Argument für die Gestaltung der US-Wirtschaftspolitik nach 1945 Als 1930 über tausend amerikanische Wirtschaftswissenschaftler sich mit einer Protestnote an Präsident Hoover und den Kongreß wandten, um vor der Verabschiedung des extrem protektionistischen Smoot-Hawley-Zollgesetzes zu warnen, tat dies der republikanische Senator Shortridge mit den Worten ab: „I am not overawed or at all disturbed by the proclamation of the college professors who never earned a dollar by the sweat of their brow by honest labour — theorists, dreamers." Die Wechselbeziehung zwisdien Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern gestaltete sich nicht immer so problematisch wie zu Beginn der Großen Depression. Schon im 'New Deal', besonders aber in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs nahm die amerikanische Regierung die Expertise der Ökonomen explizit in Anspruch. Es war absehbar, daß das Ende des Krieges eine Zäsur darstellen, wahrscheinlich sogar die Chance einer „Neuordnung" sowohl der Binnen- als auch der Weltwirtschaft eröffnen würde. Es war Zeit, Bilanz zu ziehen über die Erfolge, vor allem aber über die konzeptionellen Fehlleistungen der Wirtschaftspolitik, die in der Zwischenkriegszeit verfolgt worden war. Die Reflexion und Diskussion über die (zeit)historischen Erfahrungen, aus denen Lehren für die Nachkriegszeit gezogen werden müßten, fand auf verschiedensten Ebenen statt. Im Rahmen dieses Beitrags wurden primär die Publikationen von der Regierung eingesetzter Planungsstäbe sowie Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften berücksichtigt.

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

Der Beitrag untersuchte drei Politikfelder, in denen in der unmittelbaren Nachkriegszeit einschneidende Veränderungen vorgenommen wurden: die Beschäftigungs- und Fiskalpolitik, die Währungspolitik und die Außenhandelspolitik. Die amerikanische Wirtschaft war am Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch von den Folgen der Großen Depression gezeichnet. Auch die im Ansatz keynesianisch ausgerichtete Politik des 'New Deal' hatte es nicht vermocht, die US-Wirtschaft wieder auf eine dauerhaft stabile Grundlage zu stellen. Insbesondere das Problem der Arbeitslosigkeit war bestehen geblieben. Erst die Rüstungskonjunktur des Zweiten Weltkriegs führte wieder zur Vollbeschäftigung. Über das Problem der Demobilisierung hinausgehend stellte sich die Frage, wie die Regierung langfristig die Rahmenbedingungen für ein hohes Beschäftigungsniveau schaffen sollte. Das politische Ergebnis war der 'Employment Act' von 1946, mit dem die Regierung in sehr allgemeinen Worten verpflichtet wurde, mit ihrer Wirtschaftspolitik vorrangig auf eine „maximale Beschäftigung" hinzuwirken. Im Vorfeld des Gesetzes hatte es unter Wissenschaftlern eine genauso lebhafte wie kontroverse Debatte gegeben. Während ein Teil der 'New Deal'-Anhänger eine sehr eng am keynesianischen deficit spendingoúenúctte. Politik favorisierte, plädierte ein anderer Teil für eine Reform wirtschaftspolitischer Institutionen. Eine dritte Gruppe, die dem 'New Deal' skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, setzte sich für eine Rückkehr zur klassischen Wirtschaftspolitik ein, wie sie bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 verfolgt worden war. Jede der drei Gruppen nutzte die historische Erfahrung der Zwischenkriegszeit zur argumentativen Stützung der eigenen Position, nur daß sie diese Erfahrung jeweils anders interpretierten. Die beiden herausragenden Reformen, die unter amerikanischer Federführung in der internationalen Wirtschaftspolitik zustande kamen, waren bekanntlich das Welthandelsabkommen GATT und der Internationale Währungsfonds bzw. das Bretton Woods-System fester Wechselkurse. Die Säulen der neuen Währungsordnung resultierten aus Plänen J.M. Keynes und stärker noch des amerikanischen Finanzexperten Harry Dexter White. Beide wurden im Frühjahr 1943 zur öffentlichen Diskussion gestellt, die gerade in den USA einen kontroversen Verlauf nahm. Der Beitrag ging der Frage nach, inwieweit die Geschichte des internationalen Währungssystems in der Zwischenkriegszeit in die Begründung der jeweiligen Position eingegangen ist. Auch der multilaterale, freihandelsorientierte Ansatz, der sich in der Gründung des GATT manifestierte, blieb in der amerikanischen Wissenschaft und Politik nicht unumstritten. Einerseits stellt er die logische Erweiterung des seit 1934 betriebenen Bilateralismus dar, andererseits war er ein Bruch mit der traditionell protektionistisch ausgerichteten Außenhandelspolitik Washingtons. Auch hier zeichnete der Beitrag die wissenschaftliche Diskussion nach und hinterfragte, inwieweit die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit die Nachkriegsplanung geprägt haben. Abschließend wurde der Frage nachgegangen, ob die jeweils realisierte Konzeption der Wirtschaftspolitik sich wegen eines objektiv höheren Gewichts der historischen Argumente ihrer Befürworter oder aus anderen Gründen durchsetzte, z.B. aus neuen Konstellationen politischer Interessen. Dabei sollten die Kriterien offengelegt werden, die bei der Suche nach einer Antwort leitend sind.

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Beri Riirup (Darmstadt)

Arbeitskräfteimmigration und Einwanderungspolitik seit dem Kaiserreich Nach einer Skizze der theoretischen Zusammenhänge wurde versucht, die Auswirkungen der Zuwanderungen auf die ökonomische Performanz im Kaiserreich zu ermitteln. Die Befunde wurden durch die Beziehung zwischen in- und ausländischen Arbeitnehmern determiniert: In der überwiegenden Mehrheit kann das Verhältnis zwischen diesen beiden Arbeitnehmergruppen als komplementär bezeichnet werden, so daß die Wirkungen der Migranten als generell positiv zu beurteilen sind. Auch scheint es, daß sie aufgrund der großen Emigrationswelle aus Deutschland vor dem Untersuchungszeitraum eher dem Wachstum dienlich waren, indem sie wachstumsbeschränkende Arbeitsangebotseffekte abbauten, als wachstumshemmend infolge einer zu starken Konzentration auf den Faktor Arbeit statt auf den Faktor Kapital. Die Analyse machte gleichermaßen Relevanz wie Schwierigkeiten von Untersuchungen zu den Auswirkungen von Migration auf den inländischen Arbeitsmarkt deutlich. Die Relevanz erschließt sich aus den differenzierten und heterogenen Ergebnissen gerade im Vergleich zur 'landläufigen' Meinung. Gleichzeitig stellt diese Ergebnisvielfalt auch eine Schwierigkeit dar, wenn man generalisierende Aussagen treffen will. Dies erscheint insbesondere auf dem Gebiet der Migrationsforschung kaum möglich. Daraus ergibt sich auch, daß aus den tendenziell positiven Ergebnissen hinsichtlich der Auswirkungen der Zuwanderung im Kaiserreich nicht blaupausenähnlich auf die heutige Zeit geschlossen werden darf. Entscheidend sind vor allem die ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen, die dann auch wiederum die gesellschafdiche Akzeptanz beeinflussen. Auch wenn die Komplementaritätshypothese heute noch auf die Mehrheit der Inländer-Ausländer-Beziehungen am Arbeitsmarkt zutrifft, so verschärfen die Zuwanderer doch die bestehende Ungleichgewichtsproblematik am Arbeitsmarkt, da gegenwärtig nicht das Arbeitsangebot, sondern die Arbeitsnachfrage die den Arbeitsmarkt restringierende Seite ist. Dazu kommen eine Reihe von institutionellen Hemmnissen, die eine Beschäftigungsausweitung von In- und Ausländern be- wenn nicht verhindern. Dies allerdings spricht nicht für ein generelles Zuwanderungsverbot, sondern vielmehr für eine aktive Einwanderungspolitik des Aufnahmelandes als notwendige Vorbedingung für eine erfolgreiche ökonomische und gesellschafdiche Integration der Zuwanderer. Denn als Kontinuum über die Zeit erweisen sich allerdings die Gegensätze zwischen der ökonomischen Erfordernis und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Migrationsbewegungen und deren Strukturierung.

Gerd Hardach/Sandra

Harfig (Marburg)

Der klassische Goldstandard als Argument in der internationalen Währungsdiskussion des zwanzigsten Jahrhunderts Als 1950 die Bemühungen um eine Rekonstruktion des internationalen Währungssystems durch neue Währungsturbulenzen gestört wurden, verteidigte der Internationale Währungsfonds das System von Bretton Woods mit einem ungewöhnlichen historischen Argument. Es möge zwar schwierig sein, angesichts der ungleichmäßigen Entwicklung in verschiedenen Ländern ein System fester Wechselkurse bei freier Konvertierbarkeit aufrechtzuer-

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WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

halten, räumten die Direktoren ein, aber ein solches System sei „virtually the invariable object of all countries at all times" (IMF Annual Report 1951, S. 37). Vielleicht nicht in allen Ländern zu allen Zeiten, aber doch in einigen Ländern in wichtigen EntscheidungsSituationen des 20. Jahrhunderts galt ein nach dem klassischen Goldstandard von 1871—1914 modelliertes Währungssystem, das feste Wechselkurse mit freier Konvertierbarkeit verband, als Garant für nationale und internationale wirtschafdiche Stabilität. Nicht das Abwägen konkurrierender Interessen oder gar eine wissenschafdiche Analyse der Effizienz unterschiedlicher Währungssysteme, so die These dieses Beitrags, sondern die Erinnerung an ein verklärtes historisches Modell war das entscheidende Argument für den zweiten Goldstandard von 1919-1933 und für das Bretton Woods-System von 1945-1973. In unserem Beiträg wurde gezeigt, daß der Goldstandard, der im währungspolitischen Diskurs als Garant der Stabilität zitiert wurde, mit dem historischen Goldstandard von 1871—1914 wenig gemein hatte; und ausgehend von dieser Diskrepanz wurde nach den historischen Möglichkeiten und Grenzen eines internationalen Währungssystems mit festen Wechselkursen und freier Konvertierbarkeit gefragt. Toni Pierenkemper (Frankfurt a. Main)

Warum haben die Deutschen Angst vor der Inflation? Lehren aus zwei Währungszusammenbrüchen Die beiden großen Inflationen in Deutschland (1914-1923,1936-1948) haben im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit offenbar ganz unterschiedliche Wirkungen gezeitigt. Die erste ist allgegenwärtig, die letzte mehr oder weniger vergessen. Zunächst sollten daher die Parallelität der beiden Entwicklungen veranschaulicht, ihre Ursachen, Verlaufs formen und Wirkungen nachgezeichnet werden. Dann galt es zu erkunden, wie und auf welche Weise diese Ereignisse als kollektive Erfahrungen in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen sind. Dabei wurde deutlich, daß Veränderungen im Preisniveau, in der Geldmenge und der Wechselkurse nur als vordergründige Manifestationen erscheinen können, die im Rahmen einer „Quantitätstheorie des Geldes" analysierbar sind, Erklärungen für das Funktionieren und die Stabilität des Geldsystems auf tieferliegende Größen wie Erwartungen, Vertrauen u.a. reflektieren müssen. Kurzum: Die Quantitätstheorie des Geldes bedarf einer Fundierung durch eine Qualitätstheorie des Geldes. Die Fintwicklung der deutschen Geldverfassung ist bis in die Gegenwart ganz entscheidend von diesen Erfahrungen geprägt und bietet daher möglicherweise ein gutes Beispiel für das „Lernen aus der Wirtschaftsgeschichte".

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Kainer Fremdling (Groningen)

Die Wirtschaftsdepression der Zwischenkriegszeit und ihr Einfluß auf die niederländische Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg Wie in allen anderen marktwirtschaftlichen Volkswirtschaften erzeugte die „Große Depression" nach 1929 auch in den Niederlanden eine erhebliche Arbeitslosigkeit. Als verschärfender Faktor speziell für die Niederlande wird meistens die Währungspolitik des Kabinetts Colijn angeführt. Durch Colijns Festhalten an der Goldwährung bis zum September 1936 sei der Gulden gegenüber den meisten anderen westlichen Währungen ständig aufgewertet worden. Aus außenwirtschaftlichen Gründen sei die niederländische Regierung deshalb zu einer strikten deflatorischen Politik gezwungen worden, um vor allem mit Lohnsenkungen die Exportposition für niederländische Produkte zu verbessern. Nach klassischer keynesianischer Argumentation (Keesing) habe diese Politik die Arbeitslosigkeit noch zusätzlich verschärft. Diese Argumentation wurde namentlich von Peter Klein revidiert, aber von van Zanden anschließend wieder rehabilitiert. Demgegenüber rückte Jan-Willem Drukker nun ein altes Argument wieder ins Bewußtsein, nach dem die hohe Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren in den Niederlanden durch ein demographisches Phänomen mitverursacht worden sei. Im Vergleich zu allen anderen westeuropäischen Ländern war die Bevölkerung in den Niederlanden nämlich überproportional gewachsen, wodurch das Arbeitsangebot ungewöhnlich angestiegen sei. 1939 wurde ein Bericht der niederländischen Regierung publiziert, der die Ursachen der ,,'blijvende werkloosheid' en haar bestrijding" erforscht. Jan Tinbergen war maßgeblich an diesem Bericht beteiligt. Als Ursachen der beharrlichen Arbeitslosigkeit wurden zu hohe Löhne und eine überproportionale Zunahme der Arbeitsbevölkerung herausgearbeitet. Während der deutschen Besetzung seit 1940 ließen sich die Lösungsvorschläge, die vor allem eine gezielte Industrialisierungspolitik vorsahen, nicht mehr in die Praxis umsetzen. Nach der Befreiung jedoch konnte die niederländische Industrialisierungspolitik unmittelbar an dieses Konzept anknüpfen. Als Quellen für die Wirtschaftspolitik dienten vor allem die Industrialisierungsberichte der niederländischen Regierung seit 1950, die mit dem 1939 erschienenen Bericht verglichen wurden.

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GESCHICHTSDIDAKTIK

Geschichtsdidaktik 36. „Verständnis wecken für das Fremde". Möglichkeiten des Geschichtsunterrichts. Leitung: "Elisabeth Erdmant) (Erlangen-Niirnberg) Ulrich Wagner (Marburg): Psychologische Beiträge zur Erklärung des Fremden Elisabeth Erdmann (Erlangen-Nürnberg): Fremde im römischen Reich Karl Vellens (Weingarten): Im Fremden Eigenes? Zugänge zum Mittelalter Armin Reese (Heidelberg): Fremde in der Frühen Neuzeit Wendelin Scalai (Dresden): Fremdheitsgefühle nach 1945 und 1989 - Geschichtsdidaktische Überlegungen aus autobiographischer Sicht Vorbemerkung und

Veröffentlichungshimveis.

Bei den vorliegenden Beiträgen handelt es sich um die Eposés der Vorträge, die in der Sektion am 18.9.1996 gehalten wurden. Die Sektion fand großes Interesse (vgl. den Bericht von H.J. Verfers in: GEP 7,1996, Heft 11, S. 628f.) Alle Beiträge und darüber hinaus Quellenauszüge für den Unterricht werden im Wochenschau Verlag, Bad Schwalbach/Ts., Ende 1997/Anfang 1998 veröffentlicht. Ulrich Wagner (Marburg)

Psychologische Beiträge zur Erklärung des Fremden Das Verständnis des Fremden und des Umgangs mit dem Fremden macht die Beachtung psychischer Prozesse erforderlich. Fremd sind uns diejenigen, die sich „irgendwie" von uns zu unterscheiden scheinen; Fremdheit entsteht, wenn wir „uns" „den anderen" gegenübersehen. Zwei psychische Prozesse sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: die Wahrnehmungsakzentuierung und die Intergruppendifferenzierung. Wahrnehmungsakzentuierung beschreibt einen Mechanismus der Informationsverarbeitung, wonach große Unterschiede in der wahrgenommenen Welt überbetont und kleinere eher vernachlässigt werden. Bei der Wahrnehmung des Fremden hat der Mechanismus zur Folge, daß uns die anderen, die wir als fremd bezeichnen, noch unterschiedlicher von uns zu sein scheinen, als sie tatsächlich sind. Die Feststellung von Fremdheit führt häufig auch dazu, daß wir die Fremden abwerten und diskriminierend behandeln. Dies kommt durch Prozesse der Intergruppendifferenzierung zustande: Kollektivierung, d.h. die Schaffung von

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Gruppenzugehörigkeiten und die gleichzeitige Abgrenzung von den anderen, von anderen Gruppen, ist identitätsstiftend. Wer wir sind, wird durch unsere Gruppenmitgliedschaften definiert. Menschen streben oft nicht nur danach, bestimmten Gruppen anzugehören, sie möchten auch solchen Gruppen zugehören, die im Vergleich zu anderen Gruppen eine positive Bewertung erfahren, die besser sind. Solche (Gruppen-)Zugehörigkeiten schaffen eine positive Identität. Die beschriebenen psychischen Mechanismen erklären, warum uns die Fremden so fremd sind, und warum wir gegen die Fremden häufig feindseliges Intergruppenverhalten zeigen, mit anderen Worten, warum „wir Deutschen" mit „den Türken" oft schlecht zurechtzukommen meinen. Die Psychologie kann jedoch nicht erklären, warum es gerade spezifische Gruppen wie „die Türken" sind, die wir als die Fremden betrachten. Die Definition von Gruppen und Gruppengrenzen und die inhaltliche Ausgestaltung der gegenseitigen Gruppenstereotypen sind ein gesellschaftlicher Prozeß. Die Antwort auf die Frage, wer die Fremden sind, ist in politischen Prozessen zu suchen. Aus psychologischer Sicht bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten, um individuelle Ressentiments gegen die Fremden abzubauen, in der Terminologie der Sozialpsychologie, um gegen individuelle Vorurteile gegen Mitglieder fremder Gruppen anzugehen. Die Verfahren lassen sich danach ordnen, ob sie primär auf Interaktionen oder Informationen aufbauen. Beide Formen des Abbaus von gegenseitigen Vorurteilen sind im Unterricht einsetzbar, im Geschichtsunterricht dürften dabei vor allem Informationsstrategien von Bedeutung sein. Informationen können darauf abheben, daß sie die Existenz vermeintlicher Unterschiede hinterfragen und dort, wo tatsächlich Unterschiedlichkeit besteht, deren Entwicklung verständlich machen. Je nach theoretischer und politischer Position soll damit eines von zwei Zielen erreicht werden: Entweder soll die Auflösung von Gruppengrenzen und die Umgestaltung von intergruppalen zu interpersonalen Begegnungen erreicht werden; Ausländer und Deutsche sollten als Individuen und nicht länger als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppen interagieren. Oder das Handlungsziel besteht darin, den Gruppenmitgliedern Möglichkeiten aufzuzeigen, mit den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe umzugehen, ohne daß die Interaktionspartner dazu ihre Herkunft, d.h. ihre Gruppenmitgliedschaft, völlig in den Hintergrund stellen müssen. Dies entspricht der Idee einer multikulturellen Gesellschaft.

Elisabeth Erdmann (Erlangen-Nürnberg)

Fremde im römischen Reich In Rom haben Fremde von Anfang an eine Rolle gespielt. Auch wenn der augusteische Geschichtsschreiber Livius in seinem Werk einen Zusammenhang zwischen Integrationsfähigkeit und Expansion herstellt, so läßt sich nachweisen, daß es bereits früher und in der Zeit, als Livius schrieb, auch Vorurteile gegenüber Fremden und soziale Spannungen gab. Doch es gibt keine Hinweise für größere gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Gruppen unterschiedlicher Herkunft. Die Möglichkeit, über die Freilassung römischer Bürger zu werden, und die stark geschichtete Gesellschaft trugen sicherlich zur Stabilität bei. Zum anderen wurden auch die Oberschichten aus den Provinzen in der Kaiserzeit integriert, indem ihnen das römische Bürgerrecht verliehen wurde und sie in den Senat

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GESCHICHTSDIDAKTIK

aufgenommen werden konnten. Überliefert ist die Rede des Kaisers Claudius (41—54 n.Chr.), in der er für die Aufnahme der Gallier in den Senat eintrat. Gerade hieraus wird deutlich, daß es in der Gesellschaft Vorurteile gab, denen der politische Wille, d.h. der Kaiser, entschieden entgegentrat. Fremde kamen nicht nur als Sklaven und Angehörige besiegter Völker nach Rom. Es gab auch Völker und Stämme, die — sei es mit kriegerischer Gewalt oder über Verhandlungen — sich auf dem Boden des römischen Reiches ansiedeln wollten. Die germanischen Ubier, die mit römischer Billigung auf dem linken Rheinufer in dem Gebiet des heutigen Köln angesiedelt wurden, zeigten im Bataveraufstand (69/70), daß sie sich integriert hatten. Als die Bedrohung des römischen Reiches von außen zunahm, insbesondere seit dem Fall des obergermanisch-raetischen Limes (259/60), wurden vermehrt Soldaten und Hilfstruppen von außerhalb des Reichsgebietes aufgenommen. Dabei versuchte man, auf ihre Wünsche Rücksicht zu nehmen. Schwierig wurde das Verhältnis erst, nachdem die Bedrohung des Reiches immer gefährlichere Ausmaße annahm. 382 erhielten die Goten ein geschlossenes Siedlungsgebiet in Niedermoesien an der Donau. Sie konnten unter ihren Herrschern und nach ihren Gesetzen leben und brauchten keine Steuern zu bezahlen. Ihre Aufgabe war, die Donau zu verteidigen und Waffenhilfe zu leisten. Im 4. und 5. Jahrhundert gab es Germanen verschiedener Stammeszugehörigkeit, die zu höchsten militärischen Rängen aufstiegen, aber es gab auch auf römischer Seite Empörung darüber, die sich nicht nur in verschiedenen zeitgenössischen Äußerungen fassen läßt, sondern auch in blutigen Ausschreitungen. Folgerungen für den

Geschichtsunterricht

Am zeitlich weit entfernten Beispiel der römischen Geschichte kann anschaulich gezeigt werden, daß es trotz eines erstaunlich hohen Anteils von Fremden in Rom und im römischen Reich zwar Vorurteile und soziale Spannungen, aber keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Römern und Fremden gab. Erst in der Spätantike kam es zum Umschwung. Daraus folgt, daß das Gelingen des Zusammenlebens nicht selbstverständlich und für immer festgeschrieben ist. Erst wenn man die Voraussetzungen und Gründe für das Gelingen bzw. das Mißlingen der Integration kennt, lassen sich Vergleiche und Kontraste zur Gegenwart herstellen. Karl Vellens (Weingarten)

Im Fremden Eigenes? Zugänge zum Mittelalter I. Migrationen können

Fremdheit, aber auch

Begegnungen führen

Jede Auswanderung oder Einwanderung führt Fremde zueinander; es entstehen Minderheiten. Fremdheitsgefühle bilden sich heraus. Dies ist aber kein unentrinnbares Schicksal: Viele „Fremde" finden im Mittelalter in der Fremde und bei Fremden Eigenes. Jüdische Studenten haben oft jüdische Bildungsstätten im arabischen Raum bzw. in der Diaspora aufgesucht. Jene Juden, die sie dort trafen, waren zunächst objektiv Fremde; sie wurden aber bald nicht mehr als Fremde empfunden. Man hat beim Gegenüber Eigenes entdeckt und überbrückt damit schnell die ursprüngliche Distanz.

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Wenn Hanse-Kaufleute in fernen Ländern Geschäftspartner kennenlemen, so kann auch dabei die anfängliche und objektive Fremdheit der Personen in Vertrautheit umschlagen. Konkurrenten und Betrüger werden als Fremde empfunden; hilfreiche Kollegen können schnell Freunde werden. Gemeinsames und damit Eigenes kann in gemeinsamen Sprachen, im Bildungsstand, in Interessen, in Freizeitgestaltung, in Religion und im Stil gefunden werden. II. Fremdheit in einer mittelalterlichen Stadt Die Gründung einer mittelalterlichen Stadt führt ganz überwiegend einander Fremde zusammen: Der Stadtherr ist den meisten Kaufleuten fremd, der Nachbar im gleichen Beruf ist in vielen Fällen fremd, die Mitglieder jeder anderen Zunft sind einem zunächst fremd, die Bediensteten kommen aus fremden Dörfern und Gemeinden, der Henker und die anderen Unterschichten wecken sicher nicht sogleich Gefühle der Vertrautheit. Selbst alle Gäste und Fernhändler sind den Einheimischen fremd. Trotzdem läßt sich in den Anfangsjahrzehnten - und in Krisenzeiten — wenig oder gar keine Fremdenfeindschaft in mittelalterlichen Städten belegen. In fast allen mittelalterlichen Städten kommt es aber auf die Dauer zu erheblichen Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen, zu intergruppalen Konflikten: Nicht die Zuwanderung stiftet hier Fremdheit, sondern das Zusammenleben! Aus Nahestehenden bzw. Nachbarn werden Fremde, in vielen Fällen Feinde. In der weiteren Gründungsphase verbinden die Fremden eine gemeinsame Hoffnung und gemeinsame Interessen; in Krisenzeiten verbindet die Stadtbewohner oft auch eine gemeinsame Gegnerschaft (z.B. gegen den Stadtherrn, gegen äußere Feinde). Anders im Wohlstand und auf eine gewisse Dauer: Die Abgrenzung einer Gruppe, etwa der der Patrizier, der Meister, nimmt den anderen Gruppen die Hoffnung auf gemeinsame Ziele, das Erlebnis gemeinsamer Interessen. Profit der einen Gruppe wird von anderen als Ausbeutung, Betrug empfunden. Fremdheit, ja Spannungen sind die Folge. Nicht umsonst betonen die Ulmer Schwörbriefe das Gemeinsame der Bürger der einen Stadt, die Verankerung des Eigeninteresses jeder Gruppe im Gemeinsamen! III. Verständnis wecken für das Fremde im Unterricht Erfolg verspricht die Anbahnung von Einsicht, die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem, die Einübung eines Entdeckens von Eigenem im Fremden. a) Geschichtsunterricht kann aufzeigen, daß Fremdsein eine fast allgemeine historische Erfahrung ist. Nicht Fremdsein ist das Entscheidende, sondern all das, was man daraus macht, was daraus gemacht wird und wie man damit umgeht. b) Fast immer kann man zwischen Gruppen, deren Verhältnis zueinander gespannt ist, Gemeinsames in der Herkunft, im Entwicklungsgang, und damit Eigenes im Fremden sachlich aufzeigen. Islam und Christentum sind mit dem Judentum zusammen „Buchreligionen" und damit Partner eines auf Abraham zurückgehenden Traditionsstranges. c) In vielen Fällen liegen gemeinsame Interessen — auch in der Abgrenzung gegenüber gemeinsamen Konkurrenten — vor. Natürlich darf die neue Abgrenzung nicht überbetont werden — man kann sie aber sachlich abwägen. d) Am leichtesten dürften intergruppale Spannungen dadurch abgebaut werden, daß gemeinsame Hoffnungen und Ziele, eine konkrete gemeinsame Zukunft gestiftet und vermittelt werden.

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GESCHICHTSDIDAKTIK

Armin Reese (Heidelberg)

Fremde in der Frühen Neuzeit 1. Wie ist der „Fremde" gesellschaftlich

definiert?

Neben Absonderung des Fremden zwecks Vernichtung, Vertreibung oder abwehrender Isolierung gibt es auch die Tendenz, den Fremden zu integrieren, was schon in nuce auch eine Herabsetzung bedeutet. Columbus berichtet von seiner ersten Begegnung mit Indianern, sie litten „Mangel an allen Dingen", konkret an Kleidung und Waffen, also an den Merkmalen für die persönliche Stellung in einer Gesellschaft, die als sichtbarer Ausdruck der göttlichen Weltordnung aufgefaßt wurde. Das hieß Unordnung und Gottferne. Das Problem der Fremdheit tritt hier in mentalen und gesellschaftlichen Kategorien auf, die uns eher fern liegen. 2. Wer ist Fremder in der Frühen Neuheit? Für uns heute ist die nächsdiegende Antwort: der Auslander, also der Angehörige einer anderen „Nation". Das gab es auch schon in der Frühen Neuzeit („Landfremder"), aber die Nation hatte einen anderen Stellenwert, war nicht so omnipräsent, und sie war in erster Linie Sache von Adel und Klerikern, seit dem Humanismus auch die der Gelehrten. Für den „gemeinen Mann" galten kleinräumigere Identitäten und entsprechende „Fremdbilder". Neben dem „Landfremden" gab es spätestens seit den Kreuzzügen den „Glaubensfremden". Beide Formen waren nicht existentiell bedrohlich. Das änderte sich zu Beginn der Neuzeit mit dem Auftreten des expandierenden Osmanenreiches. Das eigentlich Neue sind aber die Leute in Übersee, besonders in Amerika: Begegnungen nach Columbus brachten zutage, daß diese völlig „uneuropäischen" Leute gewaltige kulturelle Leistungen erbracht hatten. Sie bedrohten damit das Selbstverständnis der Europäer als einzig möglicher Kultur. Europa mußte sich ein Bild von ihnen machen, das die Bedrohung umleitete: Aus kulturellen Konkurrenten wurden Menschenfresser. Das rechtfertigte (kulturelle oder biologische) Auslöschung. So kam es zu Katastrophen, wo immer die Europäer Zugriff hatten, in Afrika (aus verkehrstechnischen und kaufmännischen Gründen) und Asien (wegen der politischen Verhältnisse) anders und später als in Amerika: teils aus „bösem Willen", teils durch beiderseitiges Unverständnis (Eigentumsbegriffe der Siedler und Indianer in Nordamerika) oder unterschiedliche Interessenlage bzw. ökonomische Zwänge (Manikongo). 3. Didaktische Konsequenzen Der konkrete Umgang mit Fremden in der Frühen Neuzeit kann abstrakte Begriffe wie „gesellschaftliche Definition" auch für Kinder faßbar machen. Die Verhaltensweisen und Kategorien sind fremd genug, um erkannt, aber ähnlich genug, um auf uns übertragen zu werden. Wir machen nicht mehr Kleidung, Waffen und Christentum zum Maßstab der Zugehörigkeit, weil alle drei Elemente einen anderen Stellenwert haben (Kontrastbild als Analyse-Instrument). Der Wandel von der „Rettung" zur Vernichtung der Indianer verweist auf die Veränderbarkeit auch unserer Definitionen: Was machen wir zur entscheidenden Gemeinsamkeit? Unterrichtsziel ist Einblick in die Entstehung der Ängste, um sie abzubauen. Die „Entdeckung des Europäers" als Ausgangspunkt macht den Gegenstand gewichtig genug, um von Anfang an zu interessieren. Moralische Urteilsbildung ist möglich, weil die persönliche Betroffenheit gebrochen ist: Man sitzt nicht — wie bei Gegenwartsfragen — sofort auf dem Sünderbänkchen.

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Wendelin Scalai (Dresden)

Fremdheitsgefühle nach 1945 und 1989 — Geschichtsdidaktische Überlegungen aus autobiographischer Sicht Es werden sechs derartige Überlegungen zum Diskurs angeboten. Die erste hat die Frage zum Inhalt, wann und wo sich der Autor intensiv und andauernd dann und dort fremd gefühlt hat, wo er eigentlich zu Hause sein sollte. Er markiert die Zeit nach der Vertreibung aus Ungarn 1948 sowie die Nachwendejahre, und er hebt die lange Dauer des Ein-Gewöhnens in die neuen Verhältnisse hervor. Das geeinte Deutschland stellt sich für ihn als ein Land ohne Eingeborene dar, dessen Bewohner sich erst mit aktiver Geduld ein-wohnen müssen. Die zweite Überlegung thematisiert die Ansicht des Autors, daß beim Abbau von derzeitigen Fremdheiten in Deutschland die Geschichtsdidaktik wegen ihrer spezifischen Vermitdungsfunktion gefordert ist. Bei der dritten Überlegung geht es um geschichtsdidaktische Absichten der DDR-Gesellschaft, um die Dominanz eines Denkens in Freund-Feind-Bildern, um ein polarisierendes Geschichtsbewußtsein, welches die 'Mitte' zwischen Klassenfeind und Klassenfreund vernachlässigte, um eine Liebe-Haß-Erziehung. In ihrer historisch-politischen Bildung wirkten psychosoziale Mechanismen früherer geschlossener Gesellschaften in Deutschland sowie der geschlossenen Gesellschaft der „Besatzungsmacht der Freunde" weiter und zusammen, angefangen von den emotional geladenen öffentlichen Gruppenritualen über die appellative Sprache bis zur Betonung von „Disziplin und Ordnung" in einem weitgehend lehrerzentrierten Frontalunterricht. Gegenstand der vierten Überlegung sind Erinnerungen an DDR-Wirklichkeit. Die Kompetenz zum Fremdverstehen spielte kaum eine Rolle, sie war in der ab- und eingeschlossenen, der selbstgerechten und 'didaktischen' DDR-Gesellschaft nicht notwendig, und sie konnte sich mangels Begegnungsmöglichkeiten mit Fremdem und Fremden kaum ausprägen. Kontakte mit den 'fremden Freunden' aus den Bruderländern hatten häufig offiziell-organisierte Züge. Beziehungen mit dem 'potentiellen Klassenfeind' wurden unterbunden oder erschwert und mißtrauisch beobachtet. Mittels „Kontaktverzichtserklärungen" blieben die meisten Geschichtsdidaktiker von den in den 80er Jahren zunehmenden Berührungen mit „dem Westen" ausgeschlossen. Die fünfte Überlegung handelt von den Nachwendeerlebnissen des Autors. Jetzt ist alltägliches Begegnen mit Fremdem und Fremden möglich und oft unvermeidlich. Die Mitte zwischen Freund und Feind muß vielfältig und differenziert ausgefüllt werden, aber das wurde nicht gelernt. Es ist für die meisten Ostdeutschen anstrengend und verlangt ihr individuelles und kollektives Selbstwertgefühl. Wann und wo das nicht mehr oder noch nicht da ist, wird Neues als Anderes, als Fremdes, als Bedrohliches, als Feindliches betrachtet, und das scheinbar endastende Denken in Freund-Feind-Bildern kann fordeben. Mit der sechsten Überlegung kehrt der Autor zu seiner Sicht von einer spezifischen Mitverantwortung der Geschichtsdidaktik für die innere Vereinigung in Deutschland zurück. Er plädiert für ein noch aktiveres Einmischen in diese Prozesse und benennt einige inhaltlich-stoffliche und didaktisch-methodische Möglichkeiten, wie die Geschichtsdidaktiker zum Abbau von Fremdheiten in Deutschland beitragen könnten.

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GESCHICHTSDIDAKTIK

37. Nation und Europa im Geschichtsunterricht Deutschlands Leitung: Horst Gies (Berlin) Horst Gies (Berlin): Einführung Ina Ulrike Paul (Berlin): Nationale Identität und europäisches Bewußtsein in Westeuropa Klaus Zernack (Berlin): Nationale Identität und europäisches Bewußtsein in Osteuropa Bernd Mütter (Oldenburg): Nation und Europa in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht Deutschlands bis 1945 Michael Toepfer (Berlin): Nation und Europa in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht Deutschlands nach 1945 und in der Zukunft Schlußdiskussion Vorbemerkung und

Veröffentlichungshinweis.

Zunächst stellte der 1. Vorsitzende der als „Verband der Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker Deutschlands e. V." neu gegründeten „Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD)", Herr Prof. Dr. Uwe Uffelmann (Pädagogische Hochschule Heidelberg), die Vereinigung vor, die auch diese Sektion dem Historikerverband vorgeschlagen hatte. Es ist beabsichtigt, die Sektionsbeiträge im Jahr 1997 im Wochenschau Verlag, Bad Schwalbach/Ts., zu veröffentlichen. Das Buch wird einen Anhang mit unterrichtsrelevanten Quellen und Materialien enthalten. Horst Gies (Berlin)

Einführung Nach der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands wurde sehr bald die Frage gestellt, ob nun auch eine erneuerte nationale Identität der Deutschen angestrebt werden müsse. Schnell geriet die Schule ins Blickfeld, ist sie doch der Ort, an dem zu einer kritisch-kontrollierten Identitätsbildung beigetragen wird. Die Leitfrage unserer Sektion war, ob der Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland zur Bildung einer nationalen Identität beitragen sollte und wie diese gegebenenfalls beschaffen sein müßte, um sich vom verordneten „Nationalbewußtsein" vergangener Zeiten zu unterscheiden. Denn Geschichtsunterricht ohne nationale Dimension ist kaum vorstellbar: - Staat und Nation sind historische Realitäten und Akteure in Vergangenheit und Gegenwart;

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- die Nationalstaaten sind (noch) nicht funktionslos. Als Garanten demokratischer Freiheiten und sozialer Sicherheiten, als Faktoren internationaler Friedenssicherung spielen sie nach wie vor eine wichtige Rolle; - eine Tabuisierung des Nationalen ist gefährlich, andere würden das Vakuum auf ihre Weise füllen; - die Hypotheken der deutschen Nationalgeschichte müssen bekannt sein, um die Sorgen mancher, auch unserer Nachbarn, zu verstehen; - die Gefahr, daß der Nationalstaatsgedanke in Chauvinismus umschlägt, ist noch nicht gebannt. Nationale Geschichte muß heute allerdings mit europäischen und globalen Sichtweisen verknüpft werden. Da die nationale Geschichte auch künftig curricular verankert sein wird und eine quantitative Erweiterung der Inhalte nicht möglich ist, wird es erforderlich sein, eine Veränderung der historischen Akzentuierung vorzunehmen. Dabei kommt Europa eine besondere Bedeutung zu, nicht nur, weil deutsche Geschichte und Politik eng mit Europa verbunden sind, sondern auch deshalb, weil Europa als der Kontinent anzusehen ist, der, aufbauend auf antiken Traditionen, seit dem späten Mittelalter „als zivilisatorisches Zentrum der Welt" ( W I N F R I E D S C H U L Z E ) gilt. Zur Problematisierung und Konkretisierung dieser Überlegungen brachten die Sektionsbeiträge unterschiedliche räumliche und zeitliche Aspekte ein, die geeignet waren, die Schwerpunkte des Sektionsthemas in ihrem Beziehungsgeflecht und Spannungsverhältnis anschaulich zu machen: 1. Nationale Identität und europäisches Beivußtsein in Westeuropa Leitfragen: In welchem Verhältnis zueinander stehen diese Elemente kollektiver historischer Identität bei Engländern, Franzosen, Spaniern, Italienern und Niederländern? Gibt deren Geschichtsunterricht Identifikationsangebote in der nationalen und europäischen Dimension? Wird Europa als Addition von Nationalgeschichten oder als eigenständige historische Größe dargestellt? Hat sich das Europabild in den westeuropäischen Ländern seit 1989 verändert? Welche Bedeutung hat Westeuropa für die nationale Identität der Deutschen? 2. Nationale Identität und europäisches Beivußtsein in Osteuropa Leitfragen: In welchem Verhältnis zueinander stehen diese Elemente kollektiver historischer Identität bei Polen, Tschechen, Ungarn und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion? Gibt deren Geschichtsunterricht Identifikationsangebote in nationaler und europäischer Dimension? Wird Europa als Addition von Nationalgeschichten oder als eigenständige historische Größe vorgestellt? Wie hat sich das Europabild in den osteuropäischen Ländern nach 1989 verändert? Welche Bedeutung hat Osteuropa für die nationale Identität der Deutschen? 3. Nation und Europa in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht Deutschlands vor 1945 Leitfragen: Welche Positionen bezogen Geschichtsdidaktik und Schulpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Hinblick auf nationales und europäisches Geschichtsbewußtsein? Welches Gewicht, welche Ausprägung und Zielsetzung wurden ihnen jeweils zugemessen? Gab es Alternativen oder Zwischentöne zur Dominanz des Nationalbewußtseins?

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4. Nation und Europa in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht Deutschlands nach 1945 und in der Zukunft Leitfragen: Welche Positionen bezogen Geschichtsdidaktik und Schulpolitik in der Zeit der Zweistaatlichkeit und nach deren Ende im Hinblick auf nationales und europäisches Geschichtsbewußtsein? Welches Gewicht, welche Ausprägung und Zielsetzung wurden nationalen und europäischen Identifikationsangeboten im Geschichtsunterricht der Nachkriegszeit beigemessen und welche haben sie heute? Gibt es einen Wandel des vermittelten Europabildes? Gibt es Gründe und Möglichkeiten, das Gefüge nationaler, europäischer und weltgeschichtlicher Aspekte zu verändern? Wenn es darum geht, nicht ein nationales durch ein eurozentrisches Geschichtsbild zu ersetzen, sondern Kenntnis und Bedeutung Europas für die Menschheitsgeschichte, insbesondere aber auch die deutsche Geschichte, in den Vordergrund zu stellen, dann muß Europa als historisches Subjekt mit seinen Gemeinsamkeiten, seinen Eigenarten und seinem Wandel bekannt gemacht werden. Im Geschichtsunterricht wäre also mehr und anderes anzubieten als die Addition ausgewählter nationalgeschichtlicher Elemente. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte klärt sich auch die nationale Geschichte und wird zugleich in ihrer Bedeutung relativiert. Europäische Geschichte hat darüber hinaus eine Brückenfunktion zur Weltgeschichte. Hieraus folgt, daß die kollektive Identität der Deutschen — neben regionalen Bezugspunkten — eine Balance aus nationaler und europäischer Identität braucht - und dies im Bewußtsein der Verantwortung für die außereuropäische Welt. In dieser komplexen Identität kann die nationale Dimension eingebunden werden in regionale, europäische und globale Identifikationsaspekte, die durch Verflechtung und Wechselwirkung ein Ganzes bilden. Hieran mitzuwirken sollte eine wichtige Aufgabe des Geschichtsunterrichts sein. Hierzu, auch mit einem Blick über die Grenzen nach Westen und Osten, einen Beitrag zu leisten war das Anliegen der Sektion. Ina Ulrike Paul (Berlin)

Nationale Identität und europäisches Bewußtsein in Westeuropa Wie wird man Europäer? „An erster Stelle, indem man einer ist, und das läßt sich bewerkstelligen, indem man zum Beispiel in den Niederlanden geboren wird. Es scheint aber auch in Sizilien, Ostpreußen, Lappland oder Wales möglich zu sein" — behauptet der niederländische Schriftsteller C E E S NOOTEBOOM in einer ironischen „Gebrauchsanweisung" für Europa. Nein, antworten darauf diejenigen Fachleute, Schulbuchautoren, Lehrer, Vertreter von Forschungsinstituten und Verlagen, die die gebürtigen Europäer unterschiedlicher Nationalitäten — vor allem die jungen und schulpflichtigen — als Zielgruppe vor Augen haben: Weniger durch Geburt als vielmehr durch das Verhältnis, in dem die „sozialen Konstruktionen" ( H E L M U T BERDING, 1 9 9 6 ) nationale Identität und europäisches Bewußtsein zueinander stehen, wird der Einzelne Europäer. Und damit rücken Geschichte, Politische Bildung und Geographie , eben jene Fächer, die die Basis der europäischen Dimension in der schulischen Bildung darstellen, ins Zentrum der Aufmerksamkeiten. Bei der Verwirklichung des „Konzeptfs] einer komplexen, ausbalancierten Identität, die regionale, nationale, europäische und globale ... Dimensionen umfaßt" (HORST G I E S , 1995),

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kommt der Vermittlung der europäischen Geschichte im Geschichtsunterricht besondere Bedeutung zu. Gerade in den letzten Jahren hat die internationale Schulbuchforschung durch den europaweiten Vergleich gültiger Lehrpläne und Lehrbücher wichtige Erkenntnisse zum aktuellen Stand der Realisierung der europäischen Dimension im Unterricht 2u Tage gefördert, die — bei aller Verschiedenheit der Schulsysteme in Europa, der unterschiedlich zwingenden Bindung des Lehrers an die Curricula und vieler anderer Unterschiedlichkeiten mehr — auch Aufschluß über das Verhältnis von nationaler Identität und europäischem Bewußtsein in den jeweiligen europäischen Ländern geben. England;. Trotz positiver Veränderungen seit den 80er Jahren wird englische Geschichte nach wie vor unter weitgehender Ausblendung der kontinentaleuropäischen Entwicklungen gelehrt. Uberstrahlt von einem traditionellen Geschichtsbild, das von der Vorrangstellung Englands in Europa und der Welt geprägt wird, führt der Themenbereich Europa in den britischen Schulgeschichtsbüchern eine Rand- und Schattenexistenz. Das durchaus erwähnte gemeinsame kulturelle Erbe der Europäer manifestiert sich im Zeitalter des Kolonialismus und Imperalismus 'nach außen' — in der Überlegenheit europäischer Technologie, Kultur und Bildung gegenüber den abhängigen Kolonien und damit deren Verbreitung über die Welt. Gemeinsame Traditionen und Wertmaßstäbe, die die 'Innendefinition' Europas ausmachen und an der komplexen Gegenwart gemessen werden müßten, fehlen hingegen für das 20. Jahrhundert; der ohnehin nur auf Westeuropa angewandte Europabegriff bleibt so diffus, daß die Übernahme vorgefertigter Meinungen jenseits der Schulen nahegelegt wird. Bisher existieren Einheit und Vielfalt Europas jedenfalls weder in der Addition von Nationalgeschichten - die Innensicht anderer europäischer Länder fehlt noch als eigenständige historische Größe. Frankreich: Die französischen Geschichtsbücher kombinieren drei verschiedene historische Perspektiven, die nationale, die europäische und die welthistorische. Die dabei zwangsläufigen Reduktionen und Vereinfachungen betreffen meist das nicht leicht greifbare Phänomen Europa. Das Lehrbuch-Europa verändert sich mit dem Fortschreiten des historischen Lehrstoffes vom Mittelalter zur Gegenwart von der zunächst generalisierenden Betrachtung über einen aus unterschiedlichen Teilmengen bestehenden Typus hin zum moralisch-politischen Begriff. Grundsätzlich löst die europäische die nationalgeschichtliche Perspektive nicht ab, Europa stellt vielmehr einen Additivbegriff dar, der mit der eigenen und den fremden Nationalgeschichten kombiniert wird: „Frankreichs Europa ist ein Anfang" (MICHAEL JEISMANN, 1 9 9 5 ) .

Spanien: Die spanischen Geschichtsbücher haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre im Zusammenhang mit der Neuorientierung des Geschichtsunterrichts nach dem Zusammenbruch des Franco-Regimes tiefgreifend verändert. Heute dominiert die Darstellung Spaniens in engem Zusammenhang mit der Geschichte der übrigen westeuropäischen Länder, vor allem was Kunst und Kultur, aber auch soziale, wirtschaftliche und politische Aspekte angeht. Die in naher Zukunft zu erwartende Berücksichtigung einer neuen Richtlinie der spanischen Bildungsplaner wird künftig besonderes Gewicht auf die jeweilige Regionalgeschichte der verschiedenen autonomen Regionen der spanischen Nation legen, weshalb eine Erhöhung des Anteils spanischer (National- und Regional-)Geschichte von 35% auf 40 bis 50% der Gesamtdarstellung zu erwarten steht.

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Bisher werden den spanischen Schülern kaum konkrete, detaillierte Informationen über die benachbarten westlichen (und viel weniger oder gar nicht über die östlichen) Länder Europas vermittelt. Im Gegensatz zu der geringen Aufmerksamkeit, mit der die Einzelheiten der Geschichte der verschiedenen europäischen Länder bedacht werden (10—20%), erscheint die Abhandlung der europäischen (= westeuropäischen!) Geschichte mit etwa einem Drittel des Umfangs relativ ausgedehnt. Dennoch widmet keines der derzeit gültigen spanischen Geschichtsbücher dem historischen Werdegang Europas oder dem derzeitigen europäischen Prozeß ein eigenes Kapitel. Italien·. Die Analyse italienischer Schulbücher zeigt, „daß die europäische Dimension und die Behandlung der Nachkriegszeit in den Schulbüchern selten befriedigend ist", daß Europa weniger als Friedensgesellschaft denn als wirtschaftliche Größe thematisiert wird — mehr ein „Europa der Waren" als ein „Europa der Menschen" (V. CORONA, 1993). Weniger die italienischen Geschichtslehrbücher — bei denen ein breites Spektrum von geringer Aufmerksamkeit für das Thema Europa bis hin zu phileuropäischer Ideologie zwischen Mahnung und Apologie existiert — als die geographischen Lehrwerke bemühen sich um ein allgemeines, auch der politisch-wirtschaftlichen Einigung Rechnung tragendes Europa-Bild. Die innere Identität Europas wird — so die nicht problematisierte Basis des Europa-Bildes — seit der mittelalterlichen Trennung Ost- und Westroms von den Werten der lateinisch-wesdichen Kultur geprägt. Neben Osteuropa bleibt oft auch Nordeuropa außerhalb der historischen oder auch heutigen Betrachtung Europas. Hinsichdich der Einbindung der nationalen und europäischen Geschichte in die Weltgeschichte herrscht eine betont eurozentrische Betrachtungsweise vor. Niederlande·. Die europäische Dimension in den Lehrplänen für niederländische Sekundärschulen war zwischen 1975 und 1990 viermal Gegenstand einer Untersuchung von Lehrplänen und/oder Lehrbüchern. Den englischen Schulbüchern ähnlich, bildet auch in den niederländischen Lehrwerken nicht Europa für die Zeit seit 1945 die historische Bühne, sondern die ganze Welt — thematisiert im Ost-West-Konflikt, der Nord-SüdKontroverse, dem Nahen und Mitderen Osten. Dennoch behandeln ungefähr 80% der Geschichtslehrbücher das Thema Europa, wobei Unterthemen wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, das Europaparlament, die Europäische Kommission, die Landwirtschaftspolitik der EU nicht immer oder (auf veraltete Quellen zurückzuführen) nicht korrekt Erwähnung finden. Für den Untersuchungszeitraum wurde eine deudiche Verbesserung bei der Behandlung europäischer Themen festgestellt, die auf die vereinten Bemühungen niederländischer Bildungseinrichtungen und erziehungswissenschafdicher Institutionen wie der CEVNO zurückzuführen ist. Zusammenfassend gilt das erste Interesse des niederländischen Geschichtsunterrichts deutlich der Nationalgeschichte und in zweiter Linie universalen Themen; die europäische Dimension hat daneben geringe(re) Relevanz. Den heute im Unterricht eingesetzten Geschichtslehrbüchern Englands, Frankreichs, Spaniens, Italiens, der Niederlande sowie der hier noch nicht erwähnten Länder Dänemark und Portugal ist gemeinsam, daß neben der eigenen Geschichte nur die weniger anderer europäischer Nationen — meist sind dies Frankreich, Großbritannien und Deutschland — gesondert abgehandelt und mit eigenen Abschnitten bedacht wird. „Diese Auswahl spiegelt nicht nur die Orientierung der Autoren auf die großen Länder wider, sie belegt ein weiteres Mal die westeuropäische Perspektive." ( F A L K PINGEL, 1993). Ob nach dem Ende

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der Teilung Europas der Osten zum Westen gehöre, bleibt in den Geschichtslehrbiichem Westeuropas eine bisher noch unbeantwortete Frage. Klaus Zernack (Berlin)

Nationale Identität und europäisches Bewußtsein in Osteuropa Beim Thema „Nation und Europa im Geschichtsunterricht Deutschlands" muß heute den östlichen Nachbarländern besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Sie, die seit dem 18. Jahrhundert als bloße Objekte großmächtiger Hegemonialansprüche Deutschlands und Rußlands — zuletzt des Sowjetimperiums - galten, haben in der nationalen Identität und in dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zur europäischen Kultur stets ihrestärksten Selbstbehauptungskräfte gehabt. Die Kenntnis ihrer Unterdrückungs- und Emanzipationsgeschichte ist wichtig für das Selbstverständnis des heutigen Europa. Die nationalstaatliche Welt der kleinen Völker zwischen Deutschland und Rußland ist auf den Trümmern der großen Imperien der Hohenzollern, Habsburger und Romanows entstanden, die die östliche Hälfte Europas unter sich aufgeteilt hatten. Hier bildete sich nach 1917/18 eine neue Staatenwelt. Die großen Verlierer des Ersten Weltkrieges, die Deutschen und die Russen, sprachen von den Saisonstaaten „Zwischeneuropas", auch von jenem, wie man immer noch gerne sagt, „bunten Völkergemisch" zwischen den großen Imperien. Diese vermochten aus ihrem gemeinsamen Anti-Versailles-Komplex neue Expansionskraft aufzubauen und in ihrem Diktatorenbündnis von 1939 die Staatenwelt der „Kleinen" wiederum zu zerschlagen und in Interessensphären aufzuteilen. Auch als die Wege der Tyrannen sich 1941 trennten, erwuchsen aus ihrem tödlichen Konflikt keine Chancen für ein freies Ostmitteleuropa, weil Stalin als Sieger des großen Krieges spätestens seit 1948 erneut die Macht des Imperiums über die Souveränität der „Kleinen Völker" setzte. Heute, fünfzig Jahre später, können die Polen, die Tschechen und die Ungarn wieder über ihre innere Ordnung selbst bestimmen. Sie waren nicht zufällig die treibenden Kräfte bei der Wiedereinsetzung einer europäischen Völkerordnung, die keine Hierarchien zwischen den souveränen Staaten mehr akzeptiert. Und auch die anderen Völker, die nach dem Ersten Weltkrieg dem Zusammenbruch der großen Imperien ihre nationalstaatliche Begründung bzw. Emanzipation und Stärkung zu verdanken gehabt hatten — von Finnland bis nach Griechenland —, stehen wieder auf dem Plan in der Erwartung eines freien Europas der gleichberechtigten Nationen. O S K A R HAI.ECKI hat für diesen riesigen Staatengürtel seinerzeit den Begriff „Ostmitteleuropa" im politischen Sinn vorgeschlagen. In dieser Großregion werden jetzt wieder Demokratie und staatliche Unabhängigkeit der Völker in „heteronomen Nationalstaaten" ( R A I . F D A H R E N D O R F ) als Grundwerte der politischen Lebensordnungen, zugleich aber als Voraussetzung für die dauerhafte Uberwindung der langen Spaltung Europas angesehen. Die befreiten Nationen suchen zugleich ihre Chancen für regionale Zusammenschlüsse, in denen man Stützen für die politische und ökonomische Lebensfähigkeit des Teils und des Ganzen gewinnen will. In Ostmitteleuropa, aber auch in Nordosteuropa, den Ländern rund um die Ostsee, ist dies heute augenfällig, während in Südosteuropa die Katastrophe Jugoslawiens wie die große Widerlegung des Weges von 1989 wirkt und tiefe Skepsis zu bestätigen scheint, mit der viele Beobachter die Wie-

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derkehr des Selbstbestimmungsrechtes im östlichen Europa von Anfang an begleitet haben. Dennoch: daß Europa nur in der Gleichrangigkeit von großen und kleinen Völkern leben kann und leben muß, ist das Europäische an Europa. Es ist zugleich ein fundamentales Ergebnis seiner strukturell begriffenen Politikgeschichte. Aus dieser Aktualität unseres Sektionsthemas gibt es kein Entrinnen. Doch können wir für die aktuelle Lage, für die Einschätzung ihrer Gefahren wie ihrer Zukunftschancen nur dann etwas Erhellendes beitragen, wenn wir die historischen Strukturen und Hypotheken im Auge haben, auf denen der gegenwärtige Ablauf beruht, der das so elementar und natürlich beanspruchte Recht der Völker auf Selbstbestimmung als einen Eckstein ihrer nationalen Identität wiederherzustellen scheint.

Bernd Mütter (Oldenburg)

Nation und Europa in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht Deutschlands bis 1945 Eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in Deutschland existiert bisher nicht. Daher mußte der etwa dreißigminütige Vortrag einen deutlichen Schwerpunkt bilden, in dem auf eigene Forschungen zurückgegriffen werden konnte (BERND MÜTTER, Historische Zunft und historische Bildung. Beiträge zur geisteswissenschafdichen Geschichtsdidaktik, Weinheim 1995). Der Vortrag ging in drei Schritten vor. Im ersten Schritt erfolgte ein summarischer Rückblick auf Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik in Deutschland vor 1914. Dabei traten divergierende Traditionslinien zwischen Neuhumanismus und Wissenschaftsorientierung, wie sie vor allem im gymnasialen Geschichtsunterricht verfolgt wurden, einerseits und einer viel stärker auf Heimat und Nation abhebenden Richtung, die sich vor allem im Volksschulunterricht durchzusetzen vermochte, andererseits hervor. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen schufen neue Voraussetzungen für das Verhältnis von Nation und Europa in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht Deutschlands. Darum ging es im zweiten Schritt, der den Schwerpunkt der Ausführungen bildete und sich vor allem mit der Zeit der Weimarer Republik befaßte. An den Pädagogen Theodor Litt und Erich Weniger, die sich ausgiebig auch mit Fragen der historischen Bildung zwischen Politik und Kultur befaßt haben, wurden zwei unterschiedliche Positionen zum Verhältnis von Nation und Europa im deutschen Geschichtsunterricht vorgestellt. Einige Seitenblicke auf die abweichenden Positionen der gymnasialen, deutschkundlichen und sozialistischen Geschichtsdidaktik (Fritz Friedrich, Ulrich Peters, Siegfried Kawerau) haben das Bild ergänzt. Dabei stellte sich auch die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität der zur Weimarer Zeit vertretenen Positionen zum „Dritten Reich", in dem Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik zu rassenideologischer Gesinnungsbildung verkamen, für die die überkommene Verflechtung und Polarisierung von Nation und Europa obsolet geworden war. Im dritten Schritt des Vortrags wurde ein Ausblick gegeben: Einerseits auf die - allerdings eingeschränkte - Wiederanknüpfung an Positionen aus der Weimarer Zeit nach 1945, andererseits auf einige Schlußfolgerungen, die sich aus der Entwicklung des Spannungsverhältnisses von Nation und Europa in Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik Deutschlands vor 1945 für die Gegenwart ziehen lassen.

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Michael Toepfer (Berlin)

Nation und Europa in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht Deutschlands nach 1945 und in der Zukunft Der Vortrag wurde entwickelt aus noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen über die Darstellung der Geschichte Europas in deutschen Schulgeschichtsbüchern der fünfziger, siebziger und neunziger Jahre. Es sollte auch kein Fazit im Sinne der Themenstellung jener Untersuchung gegeben werden. Aber die Darstellung nationaler und europäischer Geschichte erweist sich über die Präsentation im Schulbuch hinaus als eine der grundlegenden Fragen in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht — und dies in unbestreitbarer Abhängigkeit von den jeweiligen historisch-politischen Entwicklungen. Im ersten Teil des Vortrags wurde erörtert, welches Gewicht und welche Ausprägung nationale und europäische Identifikationsangebote im Geschichtsunterricht der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart hatten. Hierbei wurden die Dominanz der nationalorientierten Betrachtung weit über die sechziger Jahre hinaus, die „Abendland-Begeisterung" der frühen Nachkriegsjahre, die weitgehend additive Darstellung der europäischen Geschichte als Summe von Nationalgeschichten und die schwache Position demokratie- und gesellschaftsgeschichtlicher Ansätze vorgestellt, aber auch der erkennbare und in den letzten Jahren beschleunigte Wandel. Im zweiten Teil wurden Thesen vorgetragen, die die Notwendigkeit einer weiteren Veränderung des Gefüges nationaler, europäischer und weltgeschichtlicher Aspekte im künftigen Geschichtsunterricht begründen sollten. Dies folgte dem Konzept einer komplexen, balancierten Identität, die regionale, nationale, europäische und globale — ebenso bestimmte sektorale — Dimensionen umfaßt, aber nur in Verflechtung und Wechselwirkung zu einem Ganzen führt, wobei diese Verflechtung Voraussetzung dafür ist, Verabsolutierungen einzelner Dimensionen zu vermeiden oder wenigstens abzuschwächen. Dabei wurde erörtert, mit welchen Zielsetzungen nationale Geschichte im künftigen Geschichtsunterricht behandelt werden kann. Außerdem wurden Überlegungen vorgetragen, unter welchen Voraussetzungen die Vermittlung der Geschichte Europas auch die Brücke zur Weltgeschichte sein kann, also zum Wissen um die Verantwortung, die Europa für die positiven und negativen Elemente der heutigen Weldage trägt. Angesichts der Tatsache, daß im heutigen Geschichtsunterricht keine Vermehrung der Inhalte möglich ist und das Verständnis für die komplexe historische Entwicklung den Perspektivenwechsel erfordert, kann die Vermittlung der Geschichte Europas zum Drehpunkt eines umfassenden Geschichtsverständnisses werden. Ihr kommt die wichtige Funktion zu, die traditionelle nationalgeschichtliche Orientierung so weit aufzubrechen, daß über Europa die globalhistorische Dimension eröffnet wird, in der Europa seinen — sicher hervorragenden — Platz neben anderen einnimmt.

Schlußdiskussion: Die Diskussion, für die wegen der sich anschließenden Veranstaltung viel zu wenig Zeit zur Verfügung stand, wurde von folgenden Fragestellungen bestimmt: — Darf der Geschichtsunterricht Identitätskonzepte lediglich bewußtmachen (Schönemann) oder auch positive Identitätsangebote präsentieren (Mütter, Toepfer, Uffelmann)?

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— In welchem Maße kann/darf die nationale Dimension des Geschichtsunterrichts eingeschränkt werden? — Führt die Stärkung der europäischen Dimension zwangsläufig zur Ausgrenzung der „Nicht-Europäer" oder schafft sie erst die Voraussetzung für eine vergleichende Sicht auf andere Kulturkreise? - Wie ist die Umsetzung eines geschichtsdidaktischen Konzepts, das die regionale, nationale, europäische und globale Dimension umfaßt, unterrichtspraktisch vorstellbar? Möglicherweise hatte die Eröffnungsrede von Bundespräsident Roman Herzog die Diskussionsbereitschaft zu diesem Themenkomplex gefördert. Horst Gies

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Junge Historiker stellen sich vor 38. Alte Geschichte Moderation: Manfred Clauss (Frankfurt a. Main) Maria H. Dettenbofer (München): Der Senatsstreik und die lexlulia de senatu habende (17/13 bis 9 v.Chr.) Johannes Engels (Köln): Das Attalidenreich und seine Herrscher in den historischen Notizen derGVegra/^/z^Strabons Hartmut l^eppin (Berlin): Zwischen „Theokratie" und „Byzantinismus": Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Sokrates, Sozomenos und Theodoret Maria H. Dettenbofer (München)

Der Senatsstreik und die lex lulia de senatu habende (17/13 bis 9 v. Chr.) Die Verweigerungshaltung breiter senatorischer Kreise gegenüber der augusteischen Monokratie, wie sie vom Jahr 17 v.Chr. an mit zunehmender Intensität praktiziert wurde, ist ein von der Forschung nahezu unberührtes Thema. Dieser Ausdruck senatorischen Widerstands und Augustus' Reaktion in Form der lex lulia de senatu habendo des Jahres 9 v.Chr. wurden in ihrer Bedeutung für Datierung und Charakter des Konsolidierungsprozesses des Principats bisher nicht berücksichtigt. Bereits ab dem Jahr 17 v.Chr., also nach den grundlegenden Umstrukturierungen des Jahres 18 v.Chr. in Form einer spezifischen Variante einer lectio senatus, die den neuen Senat faktisch in ein Klientelverhältnis zum princeps senatus Augustus brachte, und der Ehegesetzgebung, die zutiefst in den traditionellen Machtbereich der Hausväter eingriff und die Familien der Oberschicht in verschiedener Hinsicht der öffentlichen Kontrolle unterwarf, wurden die Senatssitzungen dermaßen nachlässig besucht, daß die Mindestbeschlußfähigkeitszahl häufig nicht erreicht wurde. Augustus, der bereits im Vorjahr mit Hinrichtungen auf Widerstände gegen seine Reformen reagiert hatte, erhöhte nun die Strafen für säumige Senatoren — und verließ angesichts der gespannten Stimmung im Jahr 16 v.Chr. die Hauptstadt. Die Verweigerungstaktik scheint jedoch beibehalten und auf den senatorischen Nachwuchs ausgeweitet worden zu sein, denn es kam zu Engpässen bei der Besetzung der niederen Ämter. Im Jahr 13 v.Chr., als Augustus nach Rom zurückkehrte, wurde die Weigerung, überhaupt Senator zu werden, sogar eidlich bekräftigt. Demonstratives Fernbleiben vom Senat als Ausdruck des Protests mit der Absicht, das Gremium handlungsunfähig zu machen, diese Form des passiven Widerstands also, war als Verhaltensmuster aus den 50er Jahren beim Kampf gegen Caesar, Pompeius und Crassus zwar bekannt, aber mit der prinzipiellen Verweigerung gegenüber der res publica, die, auf Dauer gesehen, den Fortbestand des Senats in Frage stellte, war nun eine neue Dimension des Widerstandes gegen einen übermächtigen Standesgenossen erreicht. Die republikanische Fassade

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konnte unter diesen Bedingungen nicht aufrechterhalten werden. Augustus reagierte zunächst mit der Zwangsrekrutierung des senatorischen Nachwuchsès, bei der er die jungen Herren einzeln bei sich antreten ließ. Zwei Jahre später, 11 v.Chr., erstellte er eine neue Senatsliste und — was auf mangelnden Erfolg seiner Rekrutierungsmaßnahmen deutet hob das Senatsquorum auf. Im Jahr 9 v.Chr. schritt er zu einer umfassenden Neuregelung in Gestalt der lex Iulia de senatu habendo. Das Gesetz umfaßte reguläre Sitzungstage ebenso wie je nach Verhandlungsgegenstand festgelegte Mindestbeschlußfähigkeitszahlen, verbunden mit einer erneuten Verschärfung der Strafen für Fernbleiben und ein Ruhestandsalter für Senatoren. Der Zweck der Neuregelung war, die patres zum Besuch der Senatssitzungen zu zwingen; sie war Augustus' Antwort auf den Boykott seiner politischen Fiktion. Daß er mit erneuten Widerständen rechnete, zeigt schließlich das spektakuläre und zeitraubende Szenario, das die Vorstellung des neuen Gesetzes begleitete: Augustus ließ die 600 Senatoren den Sitzungssaal nur jeweils paarweise betreten und zwang dabei jeden einzelnen, die Schriftsätze zu lesen, die er, auf Tafeln geschrieben, hatte aufstellen lassen. Die demonstrative Weigerung der Senatoren, die ihnen zugedachte Rolle in der allmählich in eine Monarchie transformierten res publica zu spielen, war dazu geeignet, eine vernichtende Systemkrise des augusteischen Principáis heraufzubeschwören. Diesen Widerstand brach der Machthaber letztlich mit Hilfe seinerlectiones senatus, der lex de senatu habendo sowie sehr wahrscheinlich auch individueller Androhungen von Sanktionen, die wir nur erahnen können. Das Ergebnis muß ein verjüngter und offenbar auch gefügigerer Senat gewesen sein, denn von Beispielen vergleichbar geschlossenen Aufbegehrens hören wir unter Augustus' Herrschaft nichts mehr. Johannes Engels (Köln)

Das Attalidenreich und seine Herrscher in den historischen Notizen der Geographika Strabons Für den pontischen Historiker und Geographen Strabon von Amaseia (ca. 64/63 v.Chr. bis 24/25 n.Chr.) gehörten seine bis heute fast vollständig erhaltene kulturgeographische Beschreibung der Mittelmeerwelt und ihrer Randzonen in 17 Büchern mit dem TitelGeographika und seine bis auf wenige Fragmente verlorene Universalhistorie vom Epochenjahr 146 v.Chr. bis zur Errichtung des augusteischen Prinzipates in 47 Büchern mit dem Titel Historika Hypomnemata methodisch und inhaltlich eng zusammen. Das strabonische Gesamtwerk sollte Gattungstraditionen der hellenistisch-griechischen Universalhistorie und Kulturgeographie, aber auch der gelehrten Traktate und Biographien zu einer neuartigen gelehrten Gattung, einer umfassenden historisch-geographisch akzentuierten Enzyklopädie der augusteischen Mittelmeeroikumene und ihrer hellenistischen Wurzeln zusammenführen. Aufgrund der methodischen Gleichartigkeit und des inhaltlich komplementären Charakters beider strabonischen Werke kann man auf der Basis zahlreicher historischer Notizen in den Geographika bei einer vorsichtig abwägenden Interpretation auch Erkenntnisse über die Auffassungen des Historikers Strabon zu bestimmten Themen gewinnen. Als Beispiel für die historischen Interessen Strabons und den Quellenwert seiner Geographika unter historischen Fragestellungen stellte der Vortrag die Notizen über das

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Attalidenreich, seine Herrscher und den gewaltsamen Usurpationsversuch des Aristonikos vor. Diese Passagen erlauben einen Einblick in die strabonische Auffassung von der Entstehung und dem Wesen einer Monarchie in der hellenistischen E p o c h e und illustrieren die an vielen weiteren Stellen des Gesamtwerkes ebenfalls nachweisbare und für das Verständnis der Geographika als Zeitdokument des römischen Reiches in der frühen Prinzipatsepoche wichtige prorömische u n d zugleich proaugusteische Tendenz Strabons. In der auf den Vortrag folgenden Diskussion wurde zunächst mit Blick auf diese offen erkennbare Tendenz die Glaubwürdigkeit der historischen Notizen Strabons in den Geographika erörtert. Weitere Fragen richteten sich auf den zuweilen unterstellten, aber im Vortrag zurückgewiesenen angeblich sozial-revolutionären Charakter des Aristonikos-,,Aufstandes", insbesondere auf eine inschriftlich bezeugte Zeitangabe έ π ι δ ο ύ λ ω ν π ό λ ε ω ς (zur Zeit der Sklavenpolis) und auf die unklare Bedeutung der Bezeichnung der A n h ä n g e r des Aristonikos als „Heliopoliten", die kein nachweisbares Vorbild für die frühneuzeitliche K o n z e p t i o n der Città del Sole T. Campanellas waren.

Hartmut l^eppin (Berlin)

Zwischen „Theokratie" und „Byzantinismus": Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Sokrates, Sozomenos und Theodoret H. BERKHOF entwickelte die Kategorien „Theokratie" und „Byzantinismus", um prinzipielle Unterschiede des politischen Denkens zwischen der östlichen und westlichen Hälfte des römischen Reiches zu beschreiben. Erstere bezeichnet bei i h m die Unabhängigkeit der Kirche v o m Kaiser, letztere die U n t e r w e r f u n g der Kirche unter den Kaiser. Die in der Nachfolge Eusebs, des profiliertesten Vertreters des „Byzantinismus" steh e n d e n o r t h o d o x e n Kirchenhistoriker des 5. Jahrhunderts, Sokrates, S o z o m e n o s und T h e o d o r e t , werden gewöhnlich unterschiedslos d e m „Byzantinismus" zugeschlagen oder mit vergleichbaren Termini belegt. Der Vergleich zwischen ihren Texten zeigt indessen, daß die Unterschiede zwischen ihnen erheblich sind; dies wird vor allem bei zwei Episoden deutlich: Stellt man die Berichte über den Verlauf des Konzils von Nizäa nebeneinander, so differiert die Darstellung der Rolle des Kaisers in wesentlichen Punkten: Bei Sokrates ist er wie bei Euseb der Moderator zwischen diskutierenden Bischöfen, er treibt sie zur Einigkeit. Bei Sozomenos leitet der Kaiser gleichfalls die Gespräche, aber die Einigkeit entsteht spontan unter den Bischöfen. Bei T h e o d o r e t hält er sich aus den eigentlichen Verhandlungen völlig heraus: D e r Kaiser wird so gewissermaßen aus den Konzilsverhandlungen herausgedrängt. Aufschlußreich ist ferner die Behandlung des Bußakts von Mailand: Sokrates ignoriert dieses Ereignis, bei d e m Kaiser Theodosius d. Gr. sich Bischof Ambrosius fügen mußte, bewußt. Sozomenos berichtet knapp von der Buße des Kaisers und erwähnt, daß dieser daraufhin ein Gesetz erlassen habe, welches eine übermäßig rasche Vollstreckung von Kapitalstrafen untersagte. T h e o d o r e t berichtet in aller Ausführlichkeit über den Bußakt; der Kaiser demütigt sich regelrecht vor d e m Bischof, der ihn sogar dazu veranlaßt, das auch bei Sozomenos erwähnte Gesetz zu verkünden.

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Es zeigt sich mithin, daß die drei Kirchenhistoriker in ihren Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Kaiser und Kirche weit auseinandergehen. Bei Sokrates erscheint eine starke Dominanz des Kaisers als vorbildlich; wenn man den Begriff „Byzantinismus" verwenden will, dann paßt er am ehesten auf ihn. Sozomenos dringt stärker auf die Trennung zwischen den Sphären beider Gewalten; Theodoret schließlich spricht den Bischöfen eine hohe Eigenständigkeit zu und hält es sogar für richtig, daß ein Bischof in die Gesetzgebung eingreift.

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39. Mittelalterliche Geschichte Moderation: Heribert Müller (Köln) BernhardJussen (Göttingen): Jungfrauen - Witwen - Verheiratete. Über eine Konsensformel sozialer Ordnung im Mittelalter Andreas Sohn (Münster/Paris): Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter Göt^-Rüdiger Tentes (Köln/Rom) : Die Beziehungen zwischen der päpstlichen Kurie und den europäischen Diözesen im ausgehenden Mittelalter Peter Schuster (Bielefeld) : Perspektiven einer Sozialgeschichte der Rechtspraxis im Mittelalter Bernhard Jussen (Göttingen)

Jungfrauen —Witwen — Verheiratete. Über eine Konsensformel sozialer Ordnung im Mittelalter Nach der Karriere der Begriffsgeschichte in den letzten drei Jahrzehnten mag die Auffassung Allgemeingut sein, daß Gesellschaften (oder Kulturen) die Prinzipien ihrer sozialen Ordnung in einer (verbalen, rituellen, ikonographischen usw.) Sprechweise tradieren. Diese Auffassung, die den Zusammenhang von kultureller Semantik und sozialer Ordnung ins Zentrum des wissenschaftlichen Blicks stellt, dürfte für zwei Problemstellungen besonders nützlich sein: für die Untersuchung kultureller Reproduktions- und Transformationsprozeduren und im besonderen für die Kontrolle unserer Epochenkonzepte. Ein Zeitraum, den wir durch einen Epochennamen wie „Mittelalter" zur Einheit erklären, müßte seine Kohärenz in spezifischen „Sinnformationen" (JAN ASSMANN) erweisen. Um diese Sichtweise zu erproben, ist der Stand (ordo/nomen/genus) der Witwe — eine christliche Erfindung — ein geeigneter Beobachtungsgegenstand. Die Orthodoxen' (Hieronymus, Ambrosius usw.) haben ihn gegen 400 umfassend konzipiert als kämpferische Antwort gegen massive und weit verbreitete Zweifel am Ideal der Ehelosigkeit. Dabei entfalteten sie die Auffassung von der christlichen vidua als normative Vorgabe für hinterbliebene Frauen, zugleich aber generell als paradigmatische figura der ecclesia auf Erden, der ecclesia poenitens. Die „Sorte" (genus) der Witwen war maßgeblich durch das definiert, was auch die Kirche auf Erden definieren sollte: Klage und Buße. Ihr Sinn ist besonders gut zu verstehen im Zusammenhang der Formel von den „Jungfrauen-Witwen-Eheleuten" (und ihres 100-60—30-fachen Lohns), mit der um 400 erstmals eine Binnenhierarchie der „Gerechten" systematisiert und schnell durchgesetzt worden ist. Dabei ist (besonders in Hieronymus' „Gegen Jovinian") ein Vorrat an Formeln, exempla, Allegorien usw. zusammengestellt worden, der fast ein Jahrtausend als elementares Vokabular moralischer Ordnung diente. Für zentrale 'mittelalterliche' Ordnungsvorstellungen

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war diese Formel die beherrschende Ausdrucksform: Für die Vorstellung des vergeltenden Gottes, des jenseitigen Lohns nach Verdiensten oder die Vorstellung, daß unterschiedliche Lebensformen in unterschiedliche Räume des Jenseits führten. Wenn diese Formel als Paradigma moralischer Klassifikation im Mittelalter gelten kann, dann dürfte man auf das 'Ende' des Mittelalters nicht zuletzt mit der Frage zielen, wie eine „Sinnformation" durcheinandergeriet, die für Generationen von Predigern bestens geeignet war, um die religiösen Praktiken und die politisch-soziale Ordnung begrifflich zu fassen. Die Antwort führt weit weg von Luther, läßt eine Auflösung des Redestandards moralischer Unterscheidung seit etwa 1200 auf verschiedenen Wegen erkennen. Wenn soziale Ordnungen besonders über Redeformeln wiederholt, bestätigt und subjektiv einverleibt werden, so läßt der Blick auf die im Spätmittelalter zunehmende Funktionslosigkeit alter Redeformeln womöglich mehr von den 'Vorbedingungen' der Reformation erkennen als etwa die theologiegeschichtliche Untersuchung der „Reformatoren vor der Reformation".

Andreas Sohn (Münster/Paris)

Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter Im Zuge der politischen Entwicklungen, die sich in Deutschland, Mittel-, Südost- und Osteuropa sowie anderen Teilen der Welt jüngst vollzogen haben oder abzuzeichnen beginnen, findet die Frage nach der Hauptstadt beziehungsweise den Hauptstädten ein neues, größeres Interesse. Die in Gang gekommenen Diskussionen gehen über den engeren Bereich der Geschichtswissenschaft weit hinaus und überwinden nationale Grenzen. Des öfteren wird hierbei Bezug auf Paris genommen. Nicht selten figuriert Paris als „exemplarische Hauptstadt" oder sogar als „Idealtyp einer Hauptstadt" im Sinne Max Webers, freilich, ohne daß die Genese der Seinestadt und der jeweilige historische Kontext hinreichend berücksichtigt werden. Der Vortrag stellte Zwischenergebnisse eines größeren Forschungsprojekts vor, das besonders der Zentralitäts- und Residenzenforschung verbunden ist. Das Untersuchungsinteresse ist von einem tiefergehenden kausalhistorischen Ansatz geleitet, nämlich davon, worauf überhaupt die Bildung von Zentren in der Geschichte zurückzuführen ist. Im Blick auf die Seinestadt wird der Frage nachgegegangen: Wie ist es dazu gekommen, daß sich Paris von einer unter mehreren kapetingischen Königsresidenzen (Compiègne, Senlis, Orléans, Etampes, Melun etc.) zu einer Hauptstadt entwickelt hat? Vier Untersuchungsebenen von Zentralitätsfunktionen werden zugrunde gelegt: erstens die politisch-administrative, zweitens die wirtschaftliche, drittens die kirchlich-religiöse, viertens die kulturelle. Aufgrund der bisherigen Untersuchungen ergibt sich unter anderem, daß Paris weder für die Rolle als Hauptstadt Frankreichs prädestiniert war noch die Entwicklung zur Kapitale hin fast zwangsläufig und geradlinig verlaufen ist, wie von Teilen der älteren stadthistorischen Forschung ( F É L I X - G E O R G E S D E PACHTERS, CAMILLE JULLIAN u.a.) behauptet worden ist. Ebenfalls mit Kritik ist der These zu begegenen, daß seit dem Dynastiewechsel im Jahre 987 Paris der Rang einer Hauptstadt zukam (Louis HALPHEN, PIERRE M I C H A U D QUANTIN u.a.). Vielmehr zeichnet sich besonders vor dem Hintergrund einer militärischstrategisch bestimmten Gesamtlage ein komplexer, differenziert zu beurteilender Prozeß einer Hauptstadtbildung ab, der von Heinrich I. (1031-1060) eingeleitet wird, sich unter

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Ludwig VI. (1108-1137) verdichtet und mit Philipp II. (1180-1223) in einer ersten Phase abgeschlossen wird. Die politisch-administrative Entwicklung, die sich insgesamt als „transpersonale Institutionalisierung von Herrschaft" ( B E R N D S C H N K I D M Ü I . I . K R ) beschreiben läßt, war von Paris, genauer vom Königtum, gelenkt und zugleich auf Paris bezogen. Jüngst vorgenommene siedlungsgeschichtliche, stadttopographische, kunst- und architekturhistorische Forschungen, archäologische Ausgrabungen sowie noch nicht herangezogene schriftliche Quellen erlauben zahlreiche neue Beobachtungen zu der Genese der königlichen Residenz und der Seinestadt als Kapitale (zuerst der Krondomäne, dann ganz Frankreichs), die in vielfachen Schiiben und Wandlungen entsteht. Göt^-Riidiger Temes (Köln/Rom)

Die Be2iehungen zwischen der päpstlichen Kurie und den europäischen Diözesen im ausgehenden Mittelalter Quellenmaterial des Vatikanischen Archivs bildet die Grundlage des Vortrags, seinerseits Teil einer am Deutschen Historischen Institut in Rom erarbeiteten Habilitationsschrift. Die quantitative Analyse der in der päpstlichen Kanzlei ausgestellten Bullen erweist eine so deudiche wie konstante Dichotomie zwischen kuriennäheren Diözesen in den Großräumen Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien und kurienfernen Diözesen in den übrigen Ländern des orbis christianus. Innerhalb der Räume mit engeren Beziehungen zum Papsttum zeichnen sich allerdings bedeutende Verschiebungen ab. Ein drastischer Wandel vollzieht sich in den gut 70 Jahren vor der Reformation besonders in den Königreichen Frankreich und Spanien, in denen die Kurienkontakte nach der Mitte des 15. Jahrhunderts erheblich intensiviert werden (in Frankreich etwa steigen die Kanzleikontakte von 21% unter Calixt III. auf zeitweise über 40% unter Innozenz VIII.), während die Beziehungen des Deutschen Reichs zur Kurie relational immer schwächer werden (sie sinken auf das ganze Reich, bezogen von 21% Mitte des 15. Jahrhunderts, auf 8% im Pontifikat Leos X.) und in Nord- und Nordostdeutschland sogar eine geradezu skandinavische Kälte im Verhältnis zu Rom vorherrscht - ein für die Reformationsgeschichte fundamentaler Tatbestand. Konträr zu diesen Ergebnissen stehen die Einschätzungen der Zeitgenossen und der (maßgeblich von ihnen beeinflußten) Forschung. Dieser Widerspruch stand im Mittelpunkt der auf dem Historikertag vorgetragenen Überlegungen. Warum zeichneten Martin Mayr, Jakob Wimpfeling und andere Verfasser deutscher Gravamina das Bild einer vom Papsttum geknechteten, fremdbestimmten und finanziell ausgesaugten deutschen Kirche, das eben im Vergleich zu den anderen drei Großräumen für Deutschland am wenigsten zutraf? Die stärksten Zugriffe des Papstes auf die Besetzung kirchlicher Stellen und damit auf finanzielle Leistungen an die Kurie gab es hingegen in Frankreich, wo seit der Regierung Ludwigs XI. die 'Pragmatische Sanktion' faktisch aufgegeben wurde. Von den an dieser intensiven Kurienzuwendung Beteiligten kamen jedoch keine Klagen über Rom, weil die Kuriennähe gewollt war, von ihnen bestimmt wurde und weil neben dem König und seinen Amtsträgern auch viele Fürsten von ihr profitierten. Im Gegenzug kam auch der Papst den französischen Interessen in einem überaus starken Maße entgegen, was für Deutsch-

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land nicht einmal in Ansätzen zu konstatieren ist. Das dortige Gefühl einer Knechtschaft resultierte vornehmlich aus der fehlenden Macht wie Bereitschaft, die Beziehungen zur Kurie personell wie sachlich gemäß 'deutschen' Interessen zu gestalten. Peter Schuster (Bielefeld)

Perspektiven einer Sozialgeschichte der Rechtspraxis im Mittelalter Entgegen einer gängigen Methodik, die von Normen her Realität und Wirkung des Rechts im Mittelalter herzuleiten versucht, versuchte der Vortrag darzustellen, daß sich zwischen normativer Vorgabe und tatsächlich vollzogener Strafe im Mittelalter eine breite Kluft auftat, die gleichwohl nicht willkürlich war, sondern mit den spezifischen gesellschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen des Mittelalters im Einklang stand. Die Thesen sollen anhand empirischer Studien in der Reichsstadt Konstanz im 15. Jahrhundert entwickelt werden. Eine bisher für keine mittelalterliche Stadt in Europa in dieser Form nachgewiesene Uberlieferung in Konstanz erlaubt erstmals, den tatsächlichen Strafen- und Bußenvollzug im Spätmittelalter zu beschreiben. Entgegen gängiger Forschungsmeinung war der Strafvollzug im 15. Jahrhundert effektiv. Weniger als zehn Prozent der Bestraften konnten sich der Strafe durch Flucht oder Gnade entziehen. Immerhin 75% der Strafen wurden in vollem Umfang vollzogen. Bemerkenswerter noch ist der Umstand, daß verhängte Strafen zwar erbracht werden mußten, aber durch Äquivalentleistungen nach dem Urteil umgewandelt werden konnten. Ausgehend von festen, informell vereinbarten Tarifen konnten Stadtverweisung oder Turmhaft durch oft über Jahre sich hinziehende Geldzahlungen oder durch Arbeit an städtischen Bauten vermieden werden. Aufgrund dieser Befunde muß das gängige Bild von der Ineffektivität spätmittelalterlicher Strafjusdz revidiert werden. Ebenso ist das oft postulierte sozial ausgrenzende Potential der Rechtsprechung und Strafe in Frage zu stellen. Hinter der spätmittelalterlichen Rechtspraxis in Konstanz, die weitgehend von römischrechtlichen Einflüssen unbeeinflußt war, stehen genossenschaftliche Traditionen, aber auch Einflüsse der spätmittelalterlichen Rechtsphilosophie, die seit Thomas von Aquin für die Rechtspraxis an Bedeutung gewann und ein Modell herrschaftlich gewährleisteter Gerechtigkeit entwickelte. Überraschend ist, daß die Rechtspraxis in einer spätmittelalterlichen Reichsstadt wie Konstanz im wesentlichen dem Ideal fürstlicher Rechtssprechung, wie es in Fürstenspiegeln und der politischen Philosophie entwickelt wurde, entsprach. Elemente einer kommunalen Kultur sind nicht auszumachen. Die Rechtspraxis erweist sich so als ein wichtiger Indikator für das Selbstbild und Selbstverständnis städtischer Herrschaft im späten Mittelalter.

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40. Frühe Neuzeit Moderation: Winfried Schulig (München) Horst Carl (Tübingen): Der Schwäbische Bund 1488-1534 Mark Häberlein (Freiburg i. Br.): Brüder, Freunde und Betrüger: Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts KonradAmann

(Mainz):

Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung in katholischen Territorien Joachim Bauer (Jena): „Eine Sache der Ehre" - Ehre, Duell und studentische Reform Horst Carl (Tübingen)

Der Schwäbische Bund 1488-1534 Der Schwäbische Bund (1488—1534) gilt zwar als verfassungsgeschichdich bedeutendste Landfriedenseinung der deutschen Geschichte, doch wird er meist nur als verlängerte Fußnote zur Verfassungsgeschichte des Alten Reiches thematisiert. Obwohl als komplexe Organisation in vielen Kontexten präsent, erhält er sein Profil erst durch seine bekannten Widersacher — Götz von Berlichingen, Herzog Ulrich von Württemberg, die Eidgenossen oder die Bauern des Bauernkrieges von 1525. Als überregionalen Landfriedensbund kennzeichnet ihn die gleiche Janusköpfigkeit wie das Reich in der Phase der „Reichsreform": Beide wurzeln als politische Organisationsformen tief im Spätmittelalter, dienen aber zugleich als Gehäuse für soziale und verfassungsgeschichtliche Modernisierungsvorgänge an der Schwelle zur Neuzeit. Der Schwäbische Bund ist überdies in zentrale Ereignisse der Reichsreform wie den Wormser Reichstag von 1495, die beiden Reichsregimenter von 1500 und 1521 oder die Entstehung der Reichskreise aufs engste verflochten — sei es durch die handelnden Personen, sei es als alternativer Handlungsrahmen oder geradezu als regionales Experimentierfeld für vergleichbare Lösungen. Deshalb liegt es nahe, den Bund mit dem methodischen Instrumentarium der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches zu untersuchen, das von spätmittelalterlicher Warte aus konzipiert ist und für das die Begriffe „Verdichtung" und „politisches System" methodische Leitfunktion besitzen. Zugleich eröffnen sich Vergleichsmöglichkeiten zu anderen bündischen Organisationsstrukturen, die im Gefüge des Reiches weiterhin eine wichtige Rolle gespielt haben. Genossenschaftlichen Formen politischer Kommunikation im Reichsverband soll damit wieder größeres Gewicht beigemessen werden. Der Ertrag dieses Ansatzes ist im Vortrag an drei Schwerpunkten knapp skizziert worden: 1. der Mitgliederstruktur, 2. der personellen Zusammensetzung und Rekrutierung des Führungspersonals sowie 3. der Praxis der Landfriedenswahrung.

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Am Beispiel des Adels läßt sich die Bedeutung des Bundes für die Transformation genossenschaftlicher Organisationen zu Reichskorpora nachzeichnen. Am Anfang stand 1488 eine exzeptionelle genossenschaftliche Mobilisierung des Adels mit Hilfe der Georgenschildeinungen und der Turniergesellschaften. Eine langfristige Einbindung aller adligen Mitglieder in den Bund gelang jedoch nicht, so daß die Organisation der Reichsritterschaft zwar an einen Präzedenzfall, nicht aber an Institutionen des Bundes anknüpfen konnte. Kernproblem des Bundes war es, in einer sich zunehmend ständisch verfestigenden Gesellschaft Politik ständeübergreifend zu gestalten. Dies erfolgte letztlich nur im Bundesrat als dem zentralen Entscheidungsgremium. Dieses war zwar ständisch untergliedert, doch waren die Bundesräte auf den Bund vereidigt und entschieden nach dem Mehrheitsprinzip. Daß damit die Mindermächtigen die Möglichkeit besaßen, die fürstlichen Mitglieder zu überstimmen, blieb zwar eine Ausnahme, die jedoch prinzipiell möglich war. Die Entscheidungsmechanismen förderten das korporative Selbstverständnis einer bündischen Funktionselite der „Bundesräte", die sich aus Patriziern, gelehrten Räten und qualifizierten Adligen rekrutierte und mit dem Personal der sich ausbildenden Reichsorgane vielfach verflochten war. Eine entscheidende Rolle für die ständeübergreifende politische Kommunikation kam dabei den beiden Bundeszentren Ulm und Augsburg zu. Den Mitgliedern diente der Landfriedensbund einerseits als Friedensgemeinschaft, die interne Streitigkeiten schiedsrichterlich beilegte, andererseits als Fehdegenossenschaft gegen Angriffe von außen. Wenngleich der Schwäbische Bund in diesen Bereichen beträchtliche. Erfolge vorzuweisen hatte, zeigten sich hier doch auch systemimmanente Grenzen bündischer Organisation. Die Institutionalisierung des Schiedsgerichtes wurde so weit getrieben, daß das Bundesgericht den wichtigsten Vorzug der Schiedsgerichtsbakeit, eine kostengünstige und flexible Form der Konfliktregelung zu sein, verlor. Die Untertanenunruhen waren in das Raster Friedens- und Fehdegenossenschaft nur schwer einzuordnen, galten die Untertanen doch nicht als fehdefähig. Wenn schließlich der Bund in der Auseinandersetzung mit den „Raubrittern" vom Schlage eines Götz von Berlichingen ganz in den Formen des traditionellen Fehdewesens verharrte, legt dies den Schluß nahe, daß Fehdewesen und Landfriedensbund einander bedingt haben.

Mark Häberlein (Freiburg i. Br.)

Brüder, Freunde und Betrüger: Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts Die inzwischen abgeschlossene Habilitationsschrift versucht, die in der Literatur bislang dominierende wirtschaftsgeschichtliche Sicht der oberdeutschen Kaufmannschaft des 16. Jahrhunderts durch eine sozialgeschichtlich und historisch-anthropologisch ausgerichtete Perspektive zu erweitern und die starke Fixierung der Forschung auf die größten Augsburger Firmen, insbesondere die Fugger, durch eine Analyse der großen Gruppe 'mittlerer' Handelsfirmen zu ergänzen, die die breite Basis bildeten, auf der die Spitzenleistungen der reichsstädtischen Unternehmen des 16. Jahrhunderts erst möglich wurden. Damit versteht sich die Arbeit auch als Beitrag zur Typologie reichsstädtischer Eliten. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der reichhaltig dokumentierte Bankrott der vor allem im Frankreichhandel aktiven Firma Weyer im Jahre 1557. Dieser Bankrott, der

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paradigmatisch behandelt und mit einer Reihe weiterer Firmenzusammenbrüche verglichen wird, steht am Anfang einer großen Konkurswelle, von der in den folgenden beiden Jahrzehnten mehrere Dutzend reichsstädtische Firmen betroffen wurden. Die Arbeit analysiert am Beispiel dieser Bankrottwelle das Gefüge von sozialen Beziehungen, Normen und Konflikten in der Augsburger Kaufmannschaft um 1550. Methodische und konzeptionelle Anknüpfungspunkte bilden dabei die von der Sozialanthropologie entwickelte Netzwerkforschung zur formalen Analyse von Beziehungen, die Konzeptualisierung sozialer Beziehungen als „Sozialkapital" (P. BOURDIEU), die in den letzten Jahren auch in der deutschen Geschichtswissenschaft intensiver betriebene Untersuchung frühneuzeitlicher Normen, sowie die von Sozialwissenschaftlern und Rechtsethnologen entwickelten Ansätze zur Typologisierung von Konfliktlösungsverfahren. Die Arbeit gliedert sich thematisch in fünf Teile. Der erste Teil nimmt die Entwicklung der Familie Weyer und ihrer geschäftlichen Aktivitäten zum Ausgangspunkt für eine Darstellung zweier parallel verlaufender Prozesse. Zum einen fand die Familie zwischen dem ausgehenden 15. Jahrhundert und der Mitte des 16. Jahrhunderts über ihre Heiratsverbindungen Anschluß an ein ausgedehntes Netzwerk von einflußreichen und kapitalkräftigen Kaufmanns- und Patrizierfamilien. Zum anderen nahmen die Weyer durch ihre Spezialisierung auf den französischen Markt eine wichtige 'Mittlerposition' im System der Handelsbeziehungen Augsburger Firmen ein. Der zweite Teil behandelt die Rolle Augsburger Bankiers auf dem Lyoner Anleihemarkt um 1550, der aufgrund der massiven Verschuldungspolitik der französischen Krone und der hohen Zinsen, die die Könige Frankreichs ihren Gläubigern zahlten, einen in hohem Maße spekulativen Charakter hatte. Die Weyer arbeiteten bei ihren Anleihegeschäften mit einer Gruppe Straßburger Bankiers zusammen, befanden sich damit aber in Konkurrenz zu mehreren anderen reichsstädtischen Finanzgruppen. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht ein Kollektivporträt der Gläubiger der Weyer zum Zeitpunkt ihres Konkurses; der Vergleich mit weiteren Firmenbankrotten soll die Repräsentativität der an diesem Fallbeispiel gewonnenen Ergebnisse verdeutlichen. Dabei zeigt sich, daß es durchaus üblich war, daß die Hälfte bis zwei Drittel der Fremdmittel einer Handelsgesellschaft aus dem Kreis der näheren und ferneren Verwandten der Teilhaber kamen. Der vierte Teil nimmt das Konkursverfahren der Weyer-Firma vor dem Augsburger Stadtgericht zum Ausgangspunkt für eine Analyse von Verhaltens- und Argumentationsweisen in Augsburger Bankrottprozessen in den mitderen Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Besondere Beachtung findet dabei die Frage, inwieweit der Augsburger Rat als städtische Obrigkeit in ökonomische Konflikte wie Bankrottverfahren reglementierend eingriff. Der Faktor Verwandtschaft, der bereits in den ersten drei Teilen unter den Aspekten der sozialen und ökonomischen Verflechtung thematisiert wurde, wird im abschließenden fünften Teil unter dem Blickwinkel der zeitgenössischen Wahrnehmung und Beurteilung von Beziehungen zwischen Geschwistern, zwischen Eheleuten und entfernteren Verwandten nochmals gesondert betrachtet. Die Untersuchung von Konfliktsituationen und verwandtschaftlichen Beziehungen auf der „mikrohistorischen" Ebene konkreter Einzelfälle ergibt, daß innerhalb der reichsstädtischen Elite ein kompliziertes Geflecht von familiären Interessen und Loyalitäten wirksam war. Innerhalb dieses dynamischen und elastischen Systems konnte der Einzelne durch

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den Aufbau eines Netzwerks sozialer Beziehungen „soziales Kapital" akkumulieren und ökonomisch nutzbar machen, dieses im Falle geschäftlichen Scheiterns aber auch wieder verlieren. Die Elastizität des Systems der reichsstädtischen Elite zeigt sich auch auf der Ebene der Konfliktlösungsmuster und -Strategien, die von Vermitdungsversuchen von Seiten Verwandter und angesehener Ratsherren bis hin zu formellen Prozessen vor Rat und Gericht der Stadt, ja bis vor kaiserlichen Gerichten und Schiedskommissionen reichten. Neben der Welle an Firmenbankrotten veranschaulichen auch der Rückzug von Kaufmannsfamilien „auf das Land" und der Aufstieg neuer Familien die dynamischen Tendenzen innerhalb der Augsburger Elite um die Mitte des 16. Jahrhunderts.

Konrad Amatiti (Mainz)

Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung in katholischen Territorien Untersuchungsraum waren Hochstift und Stadt Passau sowie die unter habsburgisch-österreichischer Landesherrschaft stehenden Bistumsteile in Niederösterreich und diejenigen in Niederbayern sowie als zeitlicher Rahmen das 16. Jahrhundert. Mit Visitationsprotokollen und landesherrlichen oder bischöflichen Verordnungen als Quellengrundlage wurden die in der Forschung umstrittenen Begriffe Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung auf katholische Territorien zu übertragen versucht. In der Vielfalt von Begriffsbestimmungen für die Vorkommnisse in derReformationszeit mußte zunächst eine Abgrenzung des Begriffsverständnisses gesucht werden. Ausgehend von der Umschreibung, daß die im Thema vorgegebenen Begriffe von einer obrigkeitlichen Initiative ausgehen und gelenktes Eingreifen bedeuten, wurde anhand der Zusammensetzung derVisitationskommissionen, der Gestaltung der Visitationsprotokolle und der Verwertung der Protokolle in obrigkeitlichen Maßnahmen eine Bestimmung desVerhältnisses von Religion und Herrschaft versucht, die in protestantischen Gebieten nach der Forschung scheinbar gegeben ist. Für die hier untersuchten katholischen Territorien ergaben sich dabei folgende Erkenntnisse: Während der Passauer Fürstbischof als Diözesanherr scheinbar überall gleichen Zugriff haben sollte, trieb er in Stadt und Hochstift mit seinem landesherrlichen Verwaltungsapparat eine Überwachung der konfessionellen Einheit voran, wobei sich Priester und landesherrlicher Beamter gegenseitig zu überwachen hatten. In Bayern und Niederosterreich aber stellte der Diözesanbischof ein eher untergeordnetes, um nicht zu sagen: nachgeordnetes Element dar. Hier initiierten und bestimmten dieLandesherren die Konfessionspolitik und zugleich über diesen Weg einen Ansatz von Sozialdisziplinierung. Schon in den 1520er Jahren kam es dabei zu ersten Aktivitäten in beiden Territorien. Das kirchliche Instrument der Visitation wurde in den 40er und 50er Jahren dann in ein landesherrlich bestimmtes Mittel der Kontrolle umfunktioniert. Dies zeigt etwa die Auseinandersetzung um die Besetzung der Kommissionen ebenso wie die Streitigkeiten um die formale Durchführung der Visitation vor Ort. Über ein angestrebtes landesherrliches Kirchenregiment hinaus wurden nunmehr mit Hilfe der Visitation flächendeckende Bestandsaufnahmen innerhalb landesherrlich definierter Grenzen angestrebt. Die Interrogatorien machen deutlich, daß eine Vereinheitlichung von Glauben und Leben angestrebt wurde. Für den Glauben stehen dabei die geistlichen, für das Leben die landesherrlichen Mitglieder als Verantwortliche ein.

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Diese Maßnahmen laufen, wie besonders das Beispiel Bayern deutlich macht, nahezu unabhängig von der kaiserlichen oder päpstlichen Politik. Daß eine Vereinheitlichung angestrebt wurde, machen etwa die Protokolle über die aufgefundenen und verwendeten Bücher der Geistlichen, die Fragen nach der Sakramentenlehre, nach der Kommunionpraxis oder nach dem Bildungsstand und Werdegang der Kleriker und Schulmeister deutlich, die man erst zu erfassen, dann aber im Religionsrat zu steuern suchte. Das Interesse am Pfarrund Gemeindeleben suchte die Kommission durch gezielte Nachfragen nach den Bruderschaften und dem Gemeindeleben zu befriedigen, freilich auch das Ansehen der Priester und ihren Lebenswandel durch Nachfragen bei Amtskollegen oder „Kirchenvorstehern" ausfindig zu machen. Die zahlenmäßige Erfassung der Kommunikanten in den einzelnen Gemeinden, Gottesdienstbesuch sowie der Überblick über den Priesterstand dienten zugleich, wie das Schlußprotokoll von 1559 für Bayern deutlich machte, ad commodiorem usum, also als Arbeitsunterlage für zu treffende Maßnahmen. Damit wurde eine Vereinbarung der von den bayerischen Landesherren vorangetriebenen Diözesansynode von Mühldorf 1549 umgesetzt. Die Rückendeckung oder -Stärkung der Wittelsbacher zeigte sich auch, als im Passauer Hochstift immer wieder mit dem Einsatz der bayerischen Kreistruppen bei eventuellem Widerstand gedroht wurde. Dieses bayerische Modell fand in Passau Nachahmung, allerdings unter etwas anderen Vorzeichen. Hier griff die landesherrliche Verwaltung vor Ort als Stichwort- und Taktgeber seit den 50er Jahren ein, indem sie nach den fürstbischöflichen Erlässen Kirchen- und Kommunionbesuche, Sakramentenempfang sowie die Predigttätigkeit überwachte, eventuelle Verstöße an den landesherrlichen Hof nach Passau meldete und im gegebenen Fall nach Weisung von dort auch Maßnahmen ergriff. Zu kurz kam dabei aber das kirchenreformerische Element bei der vom Konzil geforderten Priesterausbildung, bei der Pastoral- oder auch bei der christlichen Weiterbildung der Gläubigen. Hier zeigte sich wie in Bayern zunächst ein defensives Abwehrverhalten. Die Protokolle zeigten aber an manchen Orten weniger bewußt reformatorische Elemente als vielmehr Unwissenheit und Unsicherheit. Die Autorität der kirchlichen Verkündigung schien verloren zu gehen. Hier geriet das Wanderleben der Geistlichen und Schulmeister auch in den Blick der Kommissare. Ortsfremde Elemente erregten Aufmerksamkeit. An diesen Irritationen setzten schon die niederösterreichischen Protokolle von 1544 ein, die mehrmals nicht nur die Entfremdung des Kirchenguts, sondern auch von Pfarrherrn und Gemeinde ansprachen, die Verlotterung der Sitten beim Kirchenvolk monierten und die Unbildung bei den Geistlichen heraushoben. Dagegen setzte sich hier eine vom Adel als Gerichts- und Kirchenherrn geförderte Gruppe als Prediger im Schloß durch, die deutlich der Reform im lutherischen Geiste zuneigte, zugleich aber auch Bildung anstrebte. Für diese Bestrebungen wurde Kirchengut umgewidmet, entfremdet oder entzogen. Der Landesherr, der die Visitation angeregt hatte, stand hier also nicht nur auf der katholischen Seite, sondern auch gegen die Interessen des Adels. Dieser Konflikt erhielt damit eine konfessionelle und eine politische Note, wie dies etwa die Reaktionen der österreichischen Landschaften auf die Beschlüsse der Mühldorfer Synode von 1549 auch deutlich ansprachen. Landesherrliche Maßnahmen zur Besserung der kirchlichen Mißstände blieben daher in Niederösterreich weitgehend aus, weil der Landesherr zunächst die Konfrontation mit dem Adel scheute, der Diözesanbischof aber machdos blieb, bzw. alleine nicht agieren konnte.

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Jenseits der Diskussionen um Begriffe in der neueren Geschichtswissenschaft bedeuten die Visitationsprotokolle und die landesherrlich verordneten Maßnahmen demnach in erster Linie eine Darstellung von Anspruch und Wirklichkeit konfessioneller, aber auch gesellschaftlich-politischer Art. Geht man davon aus, daß Begrifflichkeiten nur vollendete Tatsachen oder abgeschlossene Prozesse beschreiben, scheint das 16. Jahrhundert für die beobachteten geographischen Räume nicht nur eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit verteilten Rollen zu bestätigen, sondern auch verschiedeneVerlaufsmodelle zu präsentieren und zugleich das Wollen und Werden darzustellen. Darauf kommt es in dieser Darstellung an. Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung werden als Verlaufsprozesse gesehen, deren erste Regungen im 16. Jahrhundert hier interessieren. In diesem Zusammenhang steht aber auch der Erfolg oder Mißerfolg einer Zusammenarbeit zwischen Diözesanbischof und Landesherr auf dem Prüfstand, der in Niederösterreich nicht am Wollen, sondern an den Gegebenheiten scheiterte, in Bayern dagegen unter landesherrlicher Dominanz gelang, in Passau sich erst verspätet unter wittelsbachischer Assistenz durchsetzte. Dabei standen sakrale und rituelle Kirchlichkeitsformen als Ausdruck einer uniformen Disziplinierung im Mittelpunkt der Visitationen. Damit gingen die Landesherren von ihrer Interessenlage her weit über eine Bestandsaufnahme hinaus in den disziplinierenden Sektor hinein, dies zunächst unter konfessionellen und weniger kirchendienlichen Vorzeichen.

Joachim Bauer (Jena)

„Eine Sache der Ehre" - Ehre, Duell und studentische Reform Kurze Zeit nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 ereignete sich ein Zwischenfall, der Studentenschaft und Senat der Jenaer Universität schockierte. Inmitten der von französischen Truppen besetzten und noch immer von der Katastrophe gekennzeichneten Stadt kam es zum Duell zwischen einem Studenten und einem französischen Offizier. Ursache war eine Frauensache. Der Franzose schimpfte den Studenten als Gassenjungen. Dieser forderte nach jenaischem Brauch - Fechten auf Stoß. La Roche, der den Kampf energisch suchte, wurde jedoch vom Studenten Völcker durchbohrt, so daß er tot seinen Secundanten in die Arme sank. Der Student konnte fliehen. Die Professorenschaft befürchtete eine Vergeltung, die das Schicksal der Universität besiegeln konnte. Auf Wunsch des Prorektors bat Völckers Bruder beim französischen Kommandanten um Vergebung — ein außergewöhnlicher Vorgang. Dieser reagierte gelassen. Wer sich auf ein Duell einlasse, was nicht selten in der französischen Armee geschehe, müsse damit rechnen, sein Leben zu lassen. Man solle die Angelegenheit einfach ignorieren. Das Duell La Roche — Völcker war ein Extremfall, unterstreicht jedoch einmal mehr die Bedeutung von Ehrenhändeln als Konfliktregelungs- und Ausgleichsmittel auch und besonders aus studentischer Sicht. Trotz studentischer Reformbewegung wirkte das Duell als Massenerscheinung zwischen Aufklärungszeit und früher Burschenschaftsbewegung fort. Kaum eine zweite Erscheinung im studentisch-akademischen Leben verband so eng individuelles Erleben und Empfinden mit gruppenspezifischen Erwartungen, Normen und Wertmaßstäben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Anfang des 19. Jahrhunderts an Universitäten Duelle geführt wurden, läßt die Frage aufkommen, ob die massive Duellkritik in

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der aufgeklärten Gesellschaft überhaupt keine Auswirkungen im akademischen Leben hinterließ. 1791/92, 15 Jahre vor dem geschilderten Duell und fast 25 Jahre vor Gründung der Burschenschaft, wurde in Jena versucht, studentische Duellpraktiken abzuschaffen. Es gelang zeitweilig, eine große Anhängerschaft für die sog. Antiduellbewegung zu gewinnen. Jedoch scheiterte der Reformversuch und fand schließlich im altbewährten studentischen Protestverhalten - dem Auszug aus der Universitätsstadt — seine Umkehrung. Gewachsene Reformbereitschaft und Reformerwartung, die von staatlichen Behörden fehlinterpretiert und unerfüllt blieben, provozierten neue Konfliktbereitschaft. Die Studenten machten vor allem das radikale Vorgehen der Behörden gegen studentische Verbindungen und Duelle und die Relegation von Studenten für den Mißerfolg verantwortlich. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Studierenden wären hingegen geeignete Mittel. Alle Ehrenhändel sollten durch ein Ehrengericht mit studentischer Beteiligung geregelt werden. Der regierende Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach sollte unterstützen, Goethe und die Professoren Schnaubert und Schütz die Sache beaufsichtigen, was sich nicht umsetzen ließ. Der Weimarer Hof sah in erster Linie die Chance, alte Rechnungen zu begleichen und studentische Verbindungen (Orden) endgültig zu beseitigen. Hinter diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen um Duell und studentische Organisation verbergen sich eine Reihe wichtiger Fragen. Während die Umrisse studentisch-akademischer Entwicklungsprozesse zwischen Siebenjährigem Krieg und Karlsbader Beschlüssen in den Arbeiten GÜNTER STEIGERS, O T T O D A N N S , K O N R A D JARAUSCHS oder W O L F G A N G H A R D T W I G S deutlich werden, fehlen konkrete Untersuchungen, die Veränderungen in Lebensformen, Normen- und Wertsystemen, Einstellung zum Studium, Staat und Gesellschaft in diesem Zeitraum verfolgen. Dies ist nicht mehr ausschließlich über die Interpretation 'offiziöser' Dokumente der Sozietäten, ihrer Struktur und sozialen Zusammensetzung zu leisten. Die Analyse der von WINFRIED SCHULZE neu akzentuierten sog. „Ego-Dokumente" bringt wichtige Aufschlüsse für bislang fehlende Selbsteinschätzungen und Wahrnehmungen der betroffenen Studenten bzw. der beteiligten Hochschullehrer. Sie stehen im Mittelpunkt meines demnächst abzuschließenden Habilitationsprojekts. Es geht um Studenten und Akademiker, die durch Verbindungserfahrungen geprägt, aber nicht unbedingt aus dem Milieu der Studentenorden stammten, bzw. später bildungsbürgerliche Karriere machten (Professoren), bzw. in der Politik tätig wurden. Zwei Erfahrungsbereichen wird, so die Hypothese, übergreifende Bedeutung zuteil: 1. der Organisationserfahrung, und 2. der Kriegserfahrung. Sie wirkten als subjektives, individuell und kollektiv formendes Moment und als eine Ursache für voranschreitende Politisierung über Generationen hinweg (vom Patriotismus zum Nationalismus). Beide Bereiche galten neben den Einflüssen der Französischen Revolution und den Ideen des deutschen Frühnationalismus (Fichte, Arndt, Jahn usw.) für die bisherige Forschung immer wieder als konstitutive Faktoren der Burschenschaftsbewegung und des Wartburgfestes. Schwerpunktmäßig erfolgt die Analyse: — der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts mit den Umbrüchen im Sozietätswesen, den Einflüssen des Siebenjährigen Krieges und den Reformbestrebungen der Universitätsbehörden,

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— der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts mit massiven Umbrüchen im Sozietätsgefüge und studentischen Protestbewegungen sowie der Reflexion der französischen Ereignisse inklusive der Auswirkung der Koalitionskriege, — des Jahres 1806 und der Widerspiegelung der Ereignisse im studentisch-akademischen Milieu Jenas, — der Phase von ca. 1809—1817 mit abermaligen Umbrüchen im Sozietätsgefüge, zunehmender Reflexion der französischen Besatzungszeit, Kriegserlebnis und wachsender Politisierung. Zurück zum Duell La Roche - Völcker: Es erscheint paradox, daß nicht die geringste Spur der Reformgedanken von 1791/92 aufzufinden ist, und alter Brauch die in der Aufklärungszeit erreichten Positionen verdeckte. Die Arbeit wird auch zeigen, wo und inwieweit es den Studenten- und Akademikergenerationen zwischen Siebenjährigem Krieg und Karlsbader Beschlüssen gelungen ist, sich von alten Traditionen und Vorstellungen zu lösen, und welche Ursachen für eingetretene oder nichteingetretene - jedoch erwartete — Veränderungen zu benennen sind.

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41. 19./20. Jahrhundert Moderation: Wolfgang Schieder (Köln) Marita Krauss (München/Bremen): Ausgleich statt Konfrontation — Studien zu Herrschaft und Gesellschaft in Bayern 1848-

1866 Angelika Schaser (Berlin): Vom Bildungsbürgertum in die große Politik: Helene Lange und Gertrud Bäumer Georg Christoph Berger Waldenegg (Heidelberg): Innenpolitik im Neoabsolutismus (1848/49-1859/60). Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung Wolfgang E. Heinrichs (Wuppertal): Das Judenbild im Protestantismus des „Deutschen Kaiserreichs". Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne Bernd Stöver (Potsdam): Containment - Rollback - Liberation. Die D D R und Osteuropa in der amerikanischen Außenpolitik während der Truman- und Eisenhower-Administration 1945-1961

Marita Krauss (München/Bremen)

Ausgleich statt Konfrontation — Studien zu Herrschaft und Gesellschaft in Bayern 1848-1866 Moderne Regional- und Landesgeschichte, vor allem wenn sie vergleichend angelegt ist, bietet mehr als Lokalkolorit und Detailinformationen. Aus der Perspektive der Regionen werden vielfach Strukturen deutlich, die eine andere Betrachtungsweise des Gesamten nahelegen. Ausgehend von solchen Überlegungen ist zu fragen, ob es nur einen deutschen Weg in die Moderne gab oder mehrere. Deutschland bestand ja aus heterogenen Teilen und seine historisch gewachsene und trotz seiner Nationswerdung weiter bestehende regionale Vielfalt gilt als ein Charakteristikum seiner Entwicklung. Konnten sich möglicherweise in dem seit 1818 konstitutionellen - und insofern 'fortschrittlichen' —, vielfach aber noch von einer traditionalen, agrarisch bestimmten Bevölkerung geprägten Bayern andere Formen sozialer Konfliktbewältigung, von Partizipation und Reformbereitschaft ausprägen als in dem wirtschaftlich 'moderneren' Preußen? Untersucht wurde dieses Problem mit Hilfe des Konzepts der „kulturellen Hegemonie" oder „symbolischen Herrschaft": Es geht um die Betrachtung von Herrschaftspraxis auf den verschiedenen Ebenen, um die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen der alten hegemonialen Gruppen, vor allem des Adels und des Herrscherhauses, dominant zu bleiben und neuer, staatsnaher oder staatsferner (bürgerlicher) Gruppen, an Einfluß zu gewinnen.

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Symbolische Herrschaft definiere ich in Anlehnung an EDWARD P. THOMPSON als die Vorherrschaft einer gesellschafdichen Gruppe nicht durch militärisch-ökonomische, sondern durch politisch-kulturelle, symbolische Mittel. Ziel dieser Herrschaftsform ist die „Zustimmung" der Beherrschten zum bestehenden System. So wird über einen Prozeß der „sozialen Alchimie", wie dies PIERRE BOURDIEU nennt, offenkundige Herrschaft in legitime Autorität verwandelt. Das Gefühl der Legitimität senkt die Kosten der Herrschenden für offene Gewalt, schafft bei den Beherrschten aber auch Spielräume für angstfreiere Teilnahme am Herrschaftsprozeß. Wichtig ist jeweils die Frage, welcher gesellschafdichen Gruppe es gelingt, die Ressourcen der Gesellschaft in ihre Verfügungskompetenz zu überführen und damit, so RAINER LEPSIUS, strukturdominant zu werden. Ist ihr das gelungen, wird sie ihre Stellung durch die Ausprägung eines spezifischen Habitus und eines ganzen Spektrums symbolischer Herrschaftsrituale zu befestigen suchen. Wie läßt sich dieses Modell auf die Frage nach dem süddeutsch-bayerisdien Weg in die Moderne anwenden? Dazu eine knappe Skizze der bayerischen Verhältnisse: Bayern zeigte sich um die Jahrhundertmitte als Staat im langsamen Wandel: Unter Montgelas hatte in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts ein Wechsel der hegemonialen Konzepte stattgefunden; die Gesellschaft trat in die Übergangsphase von traditional-feudaler zur bürokratisch-legitimen Herrschaft ein. Die Stände — Adel, Kirche sowie Städte und Märkte - wurden zugunsten eines modernen, bürokratisch bestimmten Staates zurückgedrängt. Die hohe Beamtenschaft konnte sich zur hegemonialen Gruppe entwickeln, äußeres Symbol der Staatseinheit war die Dynastie. König, Adel und Kirche blieben das ganze Jahrhundert hindurch wichtige Faktoren der Staatsrepräsentation nach innen: Gemeinsame öffentliche Demonstrationen aller staatstragenden Gruppen — unter strikter Einhaltung traditioneller, ständisch strukturierter Hierarchien — bei Prozessionen und Paraden, bei den großen Volksfesten oder an Königsgeburtstagen bestätigten das bestehende System besser als militärische Machtdemonstrationen. Obwohl sich die realen Machtverhältnisse immer mehr zugunsten der bürgerlichen Mittelschicht verschoben, blieb die äußere Welt dadurch scheinbar in Ordnung. Über einem modernen, bürokratischen und - wie es M A X W E B E R nennt - durch „Satzung" bestimmten Staatsgebilde lag die „Verzauberung" traditionaler Herrschaftslegitimation durch Herkommen und Religion. Dies hatte nur Bestand auf der Grundlage eines einschneidenden Machtverlustes der alten Eliten. So verlor der Adel durch Montgelas' Reformen sein Monopol für zivile wie militärische Staatsstellungen; die beiden Säulen staatlicher Macht, das Militär und die Bürokratie, 'verbürgerlichten'. Eine Feudalisierung oder Aristokratisierung der bürgerlichen Oberschicht fand nicht statt. Ähnliches galt für die Armee: Der in Bayern praktizierte Herrschaftsstil ist auch als Folge der grundsätzlichen politischen Entscheidung der Reformepoche zu Beginn des 19.Jahrhunderts zu bewerten, den Staat nicht durch das militärische, sondern durch das zivile Element abzustützen. Als Gewinner erwies sich die hohe Bürokratie, deren Sachkompetenz, Fachgeschultheit und innere Kohärenz sich gegen alte und neue Eliten behauptete. Dies war auch deshalb möglich, da ihre Position nicht wie in Preußen durch das politische Gewicht der Interessen von Großagrariern, „Schlotbaronen" oder adeligen Offizieren in Frage gestellt wurde. Als Charakteristika der bayerischen gesellschafdichen und wirtschafdichen Entwicklung sind, vor allem im Vergleich zu Preußen oder Sachsen, eine geringere Polarisierung

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und ein verzögerter Fortschritt zu erkennen. Die Beamtenherrschaft verhinderte keineswegs eine schrittweise Parlamentarisierung, sondern bezog sie in das schwebende Machtgleichgewicht der konstitutionellen Monarchie mit ein. Dieses Gleichwicht wurde, dies ist zu betonen, künstlich aufrechterhalten und entsprach nicht etwa einer modernen Interessenrepräsentation. Die gemeinsame Orientierung am Modell des Rechts- und Verfassungsstaates erleichterte jedoch den Kompromiß. Insofern war der Herrschaftsstil der kulturellen Hegemonie die angemessene Antwort auf bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse. Doch letztlich wurden in Bayern nur Kosten und Nutzen anders verteilt: Der harte Übergang in die Moderne in Preußen brachte mehr Konfrontation, aber auch schnellere Aufstiegsmöglichkeiten und mehr Mobilität. Nur auf der Basis einer weiterhin stabilen Gesellschaft war die bayerische Toleranz denkbar. Doch die Stabilität bedeutete auch Beharrung und Stagnation. Das preußische Modell war zeitgemäßer, brutaler, effizienter. Es war anders, wenn auch nicht besser. Es gab, so ist zu resümieren, innerhalb des Deutschen Bundes, später des Deutschen Reiches, ganz unterschiedlich praktizierte Herrschaftsmodelle; die „verspätete Nation" Deutschland bildete keineswegs einen monolithischen Block. Möglicherweise, so die historische Spekulation, hätte sich die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anders entwickelt, wäre der in Bayern bzw. Süddeutschland praktizierte Herrschaftsstil wirkungsmächtig geworden. Noch ein Fazit ist anzufügen: Moderne Regional- und Landesgeschichte ist mehr als ein überlebtes Relikt vergangener Eigenstaatlichkeit oder kleinteiliger lokaler Selbstbestätigung. Nutzt man vielfältige methodische Zugänge und vor allem das Mittel des interregionalen Vergleichs, so entstehen Geschichtslandschaften, die einen neuen, differenzierteren Blick auf Politik und Gesellschaft möglich machen. Angelika Schaser (Berlin)

Vom Bildungsbürgertum in die große Politik: Helene Lange und Gertrud Bäumer Im Mittelpunkt meines Habilitationsprojektes steht die von 1899 bis 1930 währende Arbeitsund Lebensgemeinschaft Helene Langes (1848—1930) und Gertrud Bäumers (1873—1954), die als herausragende Vertreterinnen der alten Frauenbewegung, als Pädagoginnen und als erste liberale Politikerinnen bekannt sind. Im biographischen Fokus werden der Lebensstil und die politischen Handlungsspielräume, die sich Lange und Bäumer vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit boten, im Längsschnitt untersucht. Von der Herkunft typische Vertreterinnen des protestantischen Bildungsbürgertums, wußten sie die ihnen zur Verfügung stehenden beruflichen Möglichkeiten maximal zu nutzen. Eine wesentliche Rolle kam dabei der von ihnen gewählten Lebensform einer sog. Bostoner Ehe zu, die sich von den normativen Anforderungen an Frauen ihrer Schicht deutlich unterschied. Ihre Lebensläufe sind deshalb nur partiell repräsentativ für die lediger, berufstätiger Frauen des Bürgertums. An ihnen lassen sich jedoch prototypisch die wachsenden Möglichkeiten aufzeigen, die sich Frauen dieser beiden Generationen auf den Feldern Bildung, Erwerbsarbeit und politischer Partizipation eröffneten. So

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wie Lange und Bäumer in puncto Lebensstil und Bekanntheitsgrad Ausnahmeerscheinungen waren, so repräsentativ waren wiederum ihre Vorstellungen von Aufgaben und Rolle der Frau, die sie in zahlreichen Publikationen und Reden verbreiteten und die in der Frauenbewegung auf breite Resonanz und Akzeptanz stießen. In meinem Münchener Vortrag habe ich den Zusammenhang von Liberalismus, Nationalismus und Emanzipation der Frau im Werk von Lange und Bäumer thematisiert. Ausgehend von der vorausgesetzten Wesensverschiedenheit von Frau und Mann (Stichwort: „geistige Mütterlichkeit"), bemühten sich Lange und Bäumer Zeit ihres Lebens um die Vergrößerung des „Kultureinflusses" der Frau über die Familie hinaus. Dies sahen sie nicht nur als den notwendigen Beitrag der Frauen zur kontinuierlichen Bildungsmehrung an. Durch die „gleichwertige" Beteiligung der Frau am öffendichen Leben versprachen sich Lange und Bäumer eine radikale Veränderung der männlich dominierten Gesellschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, suchten sie die Zusammenarbeit mit den Liberalen, in denen sie „natürliche Bundesgenossen" zu finden hofften. Bereits 1910, als die Aufnahme der Forderung nach politischer Gleichberechtigung für die Frauen in das Vereinigungsprogramm der Liberalen abgelehnt wurde, reduzierte sich der diesbezügliche Optimismus Langes und Bäumers deutlich. In der Erwägung, daß der von ihnen bei der Mehrzahl der Parteimitglieder konstatierte Zwiespalt zwischen verstandesmäßiger Erkenntnis und gefühlsmäßiger Überzeugung nicht schnell zu überwinden sein würde, betonten Lange und Bäumer nun die nationalen Dimensionen der von ihnen angestrebten Frauenemanzipation. Der Internationalismus der Frauenbewegung wurde immer mehr in den Hintergrund gerückt. Lange und Bäumer verstanden sich ein Leben lang als Liberale, die den Idealen der Aufklärung, dem Streben nach Uberwindung der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" verpflichtet waren, die sich zur „deutschen Kulturnation" bekannten und dem deutschen Staat loyal, wenn auch nicht unkritisch, gegenüberstanden. Sie zählten sich zu der kulturellen Elite des Wilhelminischen Deutschlands, die einer zunehmend orientierungslosen Gesellschaft den rechten Weg durch die immer komplizierter werdende Welt zu weisen suchte. Sie beteiligten sich intensiv am kulturellen Diskurs, wobei ihre publizistischen Beiträge, schwankend zwischen Kulturpessimismus und Fortschrittsglaube, ebenso stark durch die kulturellen Ambivalenzen der Jahrhundertwende geprägt waren wie die ihrer männlichen Zeitgenossen. Kultur wurde für Lange und Bäumer zur zentralen Kategorie und fehlte als Schlüsselwort in kaum einer ihrer Abhandlungen. Der Kulturbegriff diente ihnen als ein Code, der die Frauenbewegung als geistige Bewegung kennzeichnen sollte. Damit distanzierten sich Bäumer und Lange von der Einschätzung, die Emanzipation der Frau sei in erster Linie eine ökonomische Frage. Die Forderung nach der Ausdehnung der Menschenrechte auf die Frauen galt Lange und Bäumer schon kurz nach der Jahrhundertwende angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung als zu einseitig und wurde von ihnen als „Frauenrechderei" disqualifiziert, über die man sich längst hinausgewachsen glaubte. Die Gleichberechtigung erschien ihnen nur mehr als „formales Mittel zum Zweck", den Kultureinfluß der Frauen auf die Gesellschaft zu erhöhen. Da die Persönlichkeitsentwicklung, die individuelle Vervollkommnung der Frau, Lange und Bäumer durch die Erfolge der Frauenbildungsbewegung weitgehend gesichert schien (Reform der Mädchenbildung, Zugang zu den Universitäten), zweifelten sie nicht daran, daß die Einführung der politischen Gleichberechtigung der Frau

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nur noch eine Frage der Zeit sein konnte. Die „Doktrin von den Menschenrechten" mußte ihrer Meinung nach den komplexen Erfordernissen der Moderne angepaßt werden, indem die Frau in erster Linie eben nicht mehr als Individuum, sondern als „ein Organ im Volksganzen" betrachtet wurde. Noch bevor die Emanzipation der Frauen vollendet war, wurden sie in den Dienst des Vaterlandes gestellt. Mit dieser Strategie versuchten Lange und Bäumer, die von den Liberalen in den Vordergrund gerückte Integrationsklammer des Nationalismus unter dem Etikett der „Kulturgemeinschaft" auch für die Frauenemanzipation zu nutzen. Wenn Lange im Gegensatz zu vielen männlichen Intellektuellen auch noch 1913 den Frieden als Voraussetzung für jede „Kulturleistung" betrachtete, so fiel sie zusammen mit Bäumer jedoch dann bei Kriegsausbruch schnell in den Chor derer ein, die den Krieg als läuternde Katastrophe begriffen, von der man sich eine Stärkung und Erneuerung des Kulturlebens versprach. Die Verdienste der Frauen an der „Heimatfront" wurden denen der Männer an der Front gleichgestellt, die Bedeutung der beruflichen Fähigkeiten von Frauen für die Kriegsführung unterstrichen. Noch vor Ende des Krieges, im November 1917, forderte Bäumer als Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) unter Hinweis auf die erbrachten Leistungen das Frauenwahlrecht. Nicht der Anspruch auf liberale Grundrechte, sondern die betont nationalistische Haltung ließ die Emanzipation in greifbare Nähe rücken.

Georg Christoph Berger Waldenegg (Heidelberg)

Innenpolitik im Neoabsolutismus (1848/49-1859/60). Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung Mein Habilitationsprojekt beschäftigt sich mit einer innenpolitisch orientierten Analyse der sogenannten neoabsolutistischen Epoche, die häufig sogar als der entscheidende Wendepunkt auf dem Weg zum Untergang der Habsburgermonarchie im Jahre 1918 beurteilt wird. Diese Analyse erfolgt insbesondere mittels einer beispielhaften Untersuchung der damaligen Herrschaftspraxis, und zwar vor dem Hintergrund von zwei nach wie vor kontrovers diskutierten Fragen: Der Frage nach der Überlebensfähigkeit des Neoabsolutismus sowie der Frage nach den Gründen für seinen Zusammenbruch. Hier sei diese Problematik an Hand eines Bereichs dargestellt, der sich als immer wichtiger für mein Erkenntnisinteresse herausgestellt hat und an dem sich - vor allem mit Ausnahme der zentralen Nationalitätenproblematik — wesentliche Aspekte meines Forschungsvorhabens aufzeigen lassen: Der bisher weitgehend unbearbeiteten Staatsanleihe von 1854, von deren eingehender Untersuchung sich bereits HARM-HINRICH BRANDT „(Bedeutsames) zur Aufhellung der Physiognomie und Problematik des Neoabsolutismus" erhofft hat. Den eigentlichen Anlaß zu dieser im Sommer 1854 verkündeten Anleihe bildete die damalige Finanzlage des Reiches (stark angegriffene Währung, hohes Haushaltsdefizit sowie durch den Krimkrieg stark angestiegene Militärausgaben). Deshalb legte man das Unternehmen auf die noch für heutige Finanzhistoriker (JOSEF W Y S O C K I ) „fast unvorstellbar" hohe, alle bisherigen Größenordnungen sprengende und möglichst nicht zu verfehlende Summe von 500 Millionen Gulden aus. Ein erfolgreicher Ausgang sollte dabei die Lösung der sich objektiv gefahrlich zuspitzenden finanziellen Schwierigkeiten der Monarchie „mit einem Schlage" bewirken.

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Die finanzielle stellte aber nur die erste von amtlicherseits insgesamt vier propagandistisch herausgestellten Zielsetzungen dar: Zweitens behauptete man das Ziel einer außenpolitischen Stärkung der angegriffenen Großmachtstellung der Monarchie und erklärte drittens, in sozialpolitischer Hinsicht, der Bevölkerung durch die recht gut verzinsten Obligationen die Gelegenheit zur Bildung einer „wohltätigen Sparkasse" zu eröffnen. Viertens schließlich gab man die Verfolgung eines — für mein Erkenntnisinteresse besonders wichtigen innenpolitischen Ziels an, das aus dem Fehlen einer einigenden Staatsidee resultierte, welche die nationalen, aber etwa auch konfessionellen Differenzen der Einwohner des Vielvölkerstaates zu kompensieren vermocht hätte: der Schaffung der „österreichischen Nation". Der spezifische Zuschnitt der Anleihe wurde für geeignet erklärt, dies zu realisieren: Sie richtete sich nämlich an alle sozialen Schichten, und die Teilnahme an ihr wurde — ebenfalls im Gegensatz zu früheren Anleihen - als dem Einzelnen freistehend proklamiert. Der erfolgreiche Appell an einen spontanen, bei plebiszitär-bonapartistischen Vorbildern anknüpfenden Patriotismus sollte, so Innenminister Bach, „das vaterländische Gemeingefühl stärken und durch einen Wetteifer aller Bürger der Idee der Reichseinheit den würdigsten Ausdruck geben". Daraus erklärt sich auch der offizielle Titel Nationakn\e\he dieser Operation. Tatsächlich wurden die 500 Millionen sogar übertroffen, die damit angestrebten Ziele aber alle verfehlt, ein beeindruckender Mißerfolg, auch wenn die für diesen Fall vereinzelt prophezeite innenpolitische Katastrophe ausblieb. Was dabei die innenpolitische Intention anbetrifft, war es zwar, wie Bach meinte, „erstmals gelungen, Hunderttausende, ja selbst Tagelöhner aus ihrer bisher passiven Rolle gegenüber dem Staatsorganismus herauszulocken", doch von der dem Kaiser versprochenen Schaffung des „wahren Österreichers" war man nunmehr weiter denn je entfernt. Dies war insbesondere Folge einiger - für die damalige Herrschaftspraxis generell kennzeichnender — Praktiken bei der Durchführung des Unternehmens, die dasselbe — im Gegensatz zu der proklamierten Freiwilligkeit - faktisch in eine Zwangsoperation verwandelten: Da war etwa die Anwendung indirekten, sogenannten „moralischen Zwangs", wie die Androhung einer Zwangsanleihe für den Fall des Verfehlens des anvisierten Gesamtbetrags und die massive, oft Drohcharakter annehmende Einwirkung durch die Behörden. Auch kam es durch die zwangsweise Zuweisung der zu leistenden Zeichnungsbeträge vielfach zu offener Nötigung, während Beamte mit sogenanntem „guten Beispiel" vorangehen, also vor allen anderen zeichnen mußten. Und bei Zahlungsunwilligen erfolgten gesetzlich nicht abgesicherte, aber durch die Betroffenen nicht einklagbare sogenannte Exekutionen, also Pfändungen, auch unter Heranziehung von Militär. Nicht nur aufgrund dieser Maßnahmen mußte die Nationalanleihe in den Augen der Öffentlichkeit den Charakter einer „verlarvten", ja „offenen" Zwangsanleihe annehmen. Die Machtträger hatten ihren Untertanen ihre unbarmherzigste Seite offenbart, und die Nationalanleihe gewann wenigstens mittelfristig Symbolcharakter für ein äußerst repressives Herrschaftssystem, das die gegebenen materiell-sozialen Lebensverhältnisse vielfach ignorierte und nicht einmal vor einem völlig durchsichtig geführten falschen Spiel mit der Bevölkerung zurückschreckte. Die von Bach dem Kaiser versprochene „Krönung des Neubaus des Reiches" blieb so auf der Strecke, und die von Christoph Stölzl nur ansatzweise belegte Behauptung von aus der Nationalanleihe erwachsenden „tiefgreifenden Fol-

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gen für das Verhältnis von Bevölkerung und Staat" wird dadurch also zumindest tendenziell nachträglich bestätigt. Dies verweist zurück auf die bereits eingangs angerissene zentrale Frage nach den Gründen für den Zusammenbruch des Neoabsolutismus: Oft werden dabei die militärische Niederlage im Krieg von 1859 und der damit einhergehende finanzielle Bankrott genannt. Aber bereits geraume Zeit zuvor finden sich starke Symptome einer inneren Krise, und zwar nicht nur aufgrund der systemgefährdenden Folgen der bei der Nationalanleihe angewandten Praktiken. Lediglich stichpunktartig seien hier zusätzlich angeführt: die gescheiterte Germanisierung im schulischen Bereich vor allem in Ungarn, der ebenfalls gescheiterte Plan einer sogenannten Kolonisierung dieser Problemprovinz Nummer eins mit deutsch-katholischen Zuwanderern sowie die sich durch zunehmende Radosigkeit auszeichnende staatliche Pressepolitik der Machtträger. Dagegen zeitigte die sogenannte Modernisierungspolitik für einige Bevölkerungskreise auch nachteilige Effekte, was der angestrebten Systemkonsolidierung gleichfalls nicht förderlich war. All dies und anderes mehr rief zunehmende Unzufriedenheit weiter Bevölkerungsteile mit dem Herrschaftssystem hervor, partiell auch der Bauernschaft, wie Wien aufmerksam registrierte. Größere Bedeutung maß man der dem Herrschaftssystem gegenüber teilweise für kritisch erachteten Einstellung des Adels und des Bürgertums bei. Diese Einschätzung beeinflußte das Verhalten der Machtträger wesentlich, deren subjektive Wahrnehmung auch eine wichtige Erklärung für das Scheitern des Neoabsolutismus liefert. Verschiedene, teilweise miteinander verbundene Faktoren führten also bereits vor 1859 zu einer Krise des Herrschaftssystems. Dabei kann der Mißerfolg der Nationalanleihe sogar als direkte Vorstufe auf dem Weg zur schließlich schrittweise erfolgten verfassungspolitischen Öffnung beurteilt werden. Denn der in der Krisensituation von 1859 ausgerechnet von Bach zur Kriegsfinanzierung vorgeschlagene Plan einer erneuten großen, diesmal von vornherein als Zwangsunternehmen deklarierten Anleihe wurde — bezeichnend genug — als innenpolitisch zu gefahrlich und als den Bürgern materiell unzumutbar verworfen. Somit war die Nationalanleihe — wie von vornherein prognostiziert — tatsächlich unwiederholbar, beziehungsweise man erkannte in Wien zunehmend, daß so ein Unternehmen einer vorab eingeholten Zustimmung der Öffentlichkeit bedurfte. Die daraus praktisch gezogenen Konsequenzen bilden nun eben einen Schritt unter anderen bei der im Anschluß an die Ereignisse von 1859 einsetzenden inneren Liberalisierung. Die Forschung hat für das Zeitalter Franz Josephs immer wieder nach dem für den Untergang der Habsburgermonarchie entscheidenden innenpolitischen Wendepunkt gefragt und dabei — wie eingangs angedeutet — auch die rigorose Niederschlagung der politischen und nationalen Ansprüche von 1848 und die damit einhergehende Errichtung des Neoabsolutismus genannt. Wie dem auch sei: Jedenfalls trug diese Epoche das Ihrige dazu bei, daß der so schön klingende Wahlspruch Franz Josephs, Viribus unitis, mit der Wirklichkeit immer weniger übereinstimmen sollte.

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Wolfgang E. Heinrichs (Wuppertal)

Das Judenbild im Protestantismus des „Deutschen Kaiserreichs". Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne 1. Historischer Ansat^ und Fragestellung Wie aus dem Untertitel hervorgeht, will die Habilitationsschrift einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Bürgertums im „Deutschen Kaiserreich" leisten, wobei sie den heuristischen Zugriff über die Kirchengeschichte wählt. Kirchengeschichte versteht sich hier also als integrierter Bestandteil von Sozialgeschichte. Die Erforschung der Judenbilder, d.h. nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, ist schon aufgrund der Langlebigkeit dieser Vorstellungen eine Herausforderung an die Sozial- bzw. Mentalitätsgeschichte. Bilder fallen in den Bereich kollektiver Sinngewißheiten, die nicht mehr rational befragt werden, sondern deren Wert und Wahrheit unreflektiert gelten. Im Blickpunkt steht die Frage nach Kontinuität und Wandel dieser Bilder. Bilder versuchen, komplexe Vorgänge zu vereinfachen, dieselben sogar in ihrer Widersprüchlichkeit auf einen anschaulichen, sozial anerkannten oder plausiblen Nenner zu bringen. Sie können sich verselbständigen und fraglos aus der Tradition heraus auch ohne Realitätskontrolle gelten. Doch beeinflussen eben auch die im Wandel begriffenen kulturellen Bedingungsfaktoren die jeweilige Wahrnehmung und veranlassen neue Projektionen oder variieren die alten. Es versteht sich damit von selbst, daß die Vorstellungen des Protestantismus über die Juden nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit der Judenheit sind. Die Untersuchung unternimmt eine Analyse bürgerlicher Mentalität protestantischer Prägung, nicht jüdischer, wiewohl dadurch auch ein Licht auf die Bedingungen jüdischen Lebens im Kaiserreich geworfen wird. Insofern dem Protestantismus als etablierte religiöse Instanz in einer krisenbestimmten historischen Epoche die Aufgabe zukam, eine Plausibilitätsstruktur zu definieren, kann sein Judenbild die Krise seismographisch aufzeichnen. Vorausgesetzt wird, daß der Protestantismus als einer der wichtigsten Repräsentanten bürgerlicher Kultur des deutschen Kaiserreichs aufzufassen ist, wobei freilich in dieser Epoche sein Selbstverständnis als „Leitkultur" umstritten und deshalb herausgefordert war. Gerade von seiner besonderen, ambivalenten Stellung zur Moderne her eignet sich der Protestantismus vorzüglich zu deren Kennzeichnung; denn wird auf der einen, der liberalprotestantischen Seite die Moderne geradezu als protestantisches Prinzip gedeutet (Friedrich Hegel, Max Weber, Ernst Troeltsch), so erscheint sie aus der Sicht des konservativen Protestantismus als zerstörerische und kirchenfeindliche Macht. Speziell im Bereich des Protestantismus vollzieht sich von daher eine intensive Reflexion der Moderne und ihrer Krise. Die ambivalente Deutung der Moderne im Protestantismus, seine Affinität und seine Kritik wie auch seine Lösungsansätze bezüglich der Krise der Moderne finden — so der Ansatz der Untersuchung — ihren Niederschlag im Judenbild bzw. spiegeln sich darin wider.

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2. Ergebnisse Wichtige Gegenpole innerhalb des Protestantismus bilden das konservative und das liberale protestantische Milieu, wobei wiederum sowohl im Bereich des Konservativismus als auch innerhalb des liberalen Spektrums verschiedene Richtungen zu differenzieren sind. 2.1 Oer konservative Protestantismus Das sogenannte „Moderne Judentum" wird für den konservativen Protestantismus in der Gründerzeit und erst recht in der sogenannten Gründerkrise zu einem Interpretationsschlüssel für einen so gesehenen katastrophalen Umbruch der Werte. „Jüdische" Gesinnung wird mit „liberaler" Gesinnung gleichgesetzt, und diese wiederum als konkurrierend zu der eigenen, protestantisch-konservativen, gesehen. Der Chrisdanisierung und Bewahrung der Gesellschaft werden die Modernisierung und Zerstörung gegenübergestellt und mit der diskriminierenden Vokabel „Verjudung" belegt. „DerJude" von dem man gern im klischeehaften Singular spricht, wird dementsprechend überwiegend als der „Korrumpierer der Gesellschaft "gezeichnet, das alte Klischee vom „Antichristen" und „Verderber" in einen neuen, zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. „Der" Jude kann als derjenige dargestellt werden, der die Christen zum kirchenfremden oder kirchenfeindlichen Leben verleitet, also als Verführer zur Moderne. Er wird aber auch gelegentlich als derjenige definiert, der einer sich von der Kirche entfernenden Gesellschaft ihr aus konservativer Sicht krankhaftes Spiegelbild vorhält. Heftigste Kritik gilt der freien, liberalen Presse, die aus konservativer Sicht respektlos Normen und Traditionen in Frage stellt und eben den Protestantismus als „Leitkultur" anzweifelt. Das entsprechende Bild hierfür ist der sog. „Preßjude", der es verstehe, öffendiche Meinung künstlich zu manipulieren. Auch die moderne Kunst, wie sie sich für den konservativen Protestantismus auf der Theater- und Musikbühne und auf Kunstausstellungen, die „gute Sitte" verletzend, zur Schau stellt, wird mit dem sog. Judentum in Verbindung gebracht. Während bei dem Bild des sog. „Preßjuden"das Motiv einer jüdischen Unaufrichtigkeit verarbeitet wird, ist es bei dem sog. „ Theaterjuden " das Motiv einer jüdischen Frivolität und ein Hang, sich zu exponieren. Der sog.,, Musikjude "wird, entsprechend der Wagnerschen Vorgabe, als oberflächlich beschrieben, wie insgesamt jüdische Kunst als vordergründige Expressivität gesehen wird, nicht als genial. Jüdisches Verhalten gilt dem konservativen Protestantismus insgesamt als „Schaumschlägerei". In ihm will er einen oberflächlichen und substanzlosen Charakter eines modernen Lebensstils kritisieren, der sich gegen die Tradition richtet und eben die ideologisch als „bodenständig" behaupteten Werte der Kirche durch „hochfahrende" Renommage ersetzen will. Der jüdisch e Besitzbürger ist für den konservativen Protestantismus derjenige, der als Parvenu seinen Reichtum prahlerisch zur Schau stellt, künstlich das zu erreichen versucht, was er von seiner natürlichen Anlage her nicht ist. Er verkörpert nach dieser Vorstellung den Charakter der Uneigentlichkeit, der Substanzlosigkeit und darum der inneren Zerrissenheit, Unzufriedenheit und letzdich Heillosigkeit, wodurch die Moderne für den konservativen Protestanten bestimmt ist. Der „moderne Jude" ist für den konservativen Protestanten, der zumeist aus einer kleinbürgerlichen Einstellung urteilt, der gewissenlose und ehrlose „Bourgeois" schlechthin. Er lebt nach dieser Vorstellung auf Kosten anderer und meidet ehrliche Handarbeit. In seiner Anmaßung oder Unbescheidenheit spiegelt er eine als maßlos gesehene Zeit, die über die

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ihr aus konservativer Sicht von Gott gesteckten Grenzen hinausschießt. An Stelle einer Bindung an Grund und Boden spiele er mit mobilem Kapital an der Börse. Ohne sich die Hände schmutzig zu machen, lebt er genüßlich vor sich hin. In ihm spiegelt sich das Bild einer säkularen, „aufgeklärten" Bürgerlichkeit wider. Der verantwortungslose Kapitalist ist zugleich „Raubritter" und „Glücksritter", der ohne soziales Gewissen ausbeutet und das Leben als Spiel nimmt, d.h. an seiner für den konservativen Protestanten so wichtigen Ernsthaftigkeit vorbeisieht. So reflektiert sich für den konservativen Protestantismus in dem Bild des „modernen Juden" der ganze Hochmut und der Zynismus einer als krisenhaft empfundenen Gesellschaft, die die humanen Errungenschaften der Zivilisation, die materiellen Güter und Eitelkeiten, mithin den eigenen Eudämonismus über die Ordnungen Gottes erhebt, dabei „geheiligte Institutionen" wie die Kirche als überholt abtut. Als Mittel jüdischer Herrschaft werden parlamentarische Politik, freie Presse und mobiles Kapital hervorgehoben. Sie markieren moderne Handlungsfelder, die sich aus konservativem Blickwinkel durch Unseriosität und Flüchtigkeit auszeichnen, ein Parkett, das schlüpfrig ist und der so propagierten eigenen „ordentlichen", beständigen Lebensform widerspricht. Eine grundlegende Entwicklung ist nun die, daß der konservative Protestantismus im Kaiserreich zunehmend die Juden als eine eigene Nation hervorhebt. Das Interesse verlagert sich von der Bekehrung des einzelnen Juden ?(u einer nationalen Losung der „Judenfrage", wobei zunehmend das deutsche Judentum zurücktritt und die osteuropäischen, orthodoxen Juden in den Blick gelangen. Hier im Osten sieht man die eigentliche Lösung der sog. Juden/rage. Eine positive Sichtweise dominiert dagegen, wenn der konservative Protestantismus, wie es auch geschieht, Antimodernes an Juden sichtbar zu machen versucht und sie gar als Überwinder der Moderne kennzeichnet. Hier spielt das traditionelle Motiv eine Rolle, daß Juden so etwas wie ein lebendiger Beweis der 'Richtigheit christlicher Lehre seien, ein Stück Unwandelbarkeit im Wandel. Zum einen, dies wird mehr in Krisenzeiten betont und besonders von den Konservativen in bezug auf das sog. „moderne Judentum" ausgesagt, verdeutlichten die Juden den göttlichen Gerichtsernst, indem sie entweder selbst das Gericht Gottes durch Verfolgungen und als Heimatlose in der Verbannung passiv erlitten oder für die Christen als schwer zu ertragende „Geißel Gottes" fungierten, den Christen also zur Buße brächten — gemeint ist damit zur Abkehr von einer modern rationalistisch-materialistischen Lehr- und Lebensform —, zum anderen veranschaulichen die Juden aber auch, daß Gott zu seinen Verheißungen stehe. Sie werden damit zu unverbrüchlichen Denkmälern chrisdicher Wahrheit stilisiert, habe doch Gott die Juden durch die Jahrhunderte bewahrt und an seinen Verheißungen ihnen gegenüber festgehalten. Judenbekehrungen sind aus dieser Sicht Wende anzeigende Signale gegen den Trend einer sich säkularisierenden bzw. entkirchlichenden Gesellschaft. In diesem Zusammenhang beruft sich der konservative Protestantismus gern auf das orthodoxe Judentum, an dem er heilsgeschichtliche Kontinuitäten besonders gut nachzuweisen zu können glaubt. Das orthodoxe Judentum ist für ihn das eigentliche Judentum, während das Reform judentum einen entarteten Zustand darstelle. Bilder von Juden nach dem Vorbild der großen biblischen Patriarchen können als kontraindikatorische Gestalten ^ur Moderne ausgemalt werden. Sie werden als ruhende Pole inmitten einer ruhelosen Zeit beschrieben: altehrwürdig, fromm, treu an der göttlichen Verheißung festhaltend, unbeirrbar in ihrem

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Tun. Getaufte, sogenannte messianische Jude» werden als Zeugnis göttlichen Heilsbandelns gegen allen menschlichen Eigenwillen bzw. Subjektivismus interpretiert, Eigenschaften, die man eben bei Juden als besonders ausgeprägt ansieht. Auf dem religiösen Gebiet werden den Juden besondere rezeptive Fähigkeiten unterstellt. Gerade im Bereich der Judenmission finden sich Judenbilder, die nicht genuin deutsch sind, sondern von der evangelikalen englischen Bewegung inspiriert. „Der" Jude als Erlösergestalt und Zeichen einer neuen Heilsepoche, die inmitten einer finsteren und welken Zeit aufblühen soll, ist im bedeutenden Bereich des deutschen Gemeinschaftschristentums wichtiges Gedanken- und Hoffnungsgut. 2.2 Oer liberale

Protestantismus

Auch der liberale Protestantismus benutzt das Judentum als Chiffre zur Deutung der Krise. Er besitzt jedoch seine eigene Betrachtungsweise. Dabei legt das je verschiedene Judenbild bzw. die Judenkritik der beiden polarisierten protestantischen Milieus einen unterschiedlichen Standpunkt zur Moderne offen. Während die agitatorisch agilen, konservativen Blätter erklären, daß ihr Kampf ausschließlich dem Reformjudentum gelte und nicht etwa den orthodoxen Juden, die an ihrem ehrwürdigen, altväterlichen Glauben streng festhielten, liegt für den liberalen Protestantismus gerade im orthodoxen, aus seiner Sicht nicht assimilierungswilligenTeil derjudenheit die sogenannte Judenfrage begründet. Zu Beginn des Kaiserreichs sieht der liberale Protestantismus die Nichtassimilierung der Juden vornehmlich als Versäumnis der christlichen Gesellschaft, als Folge einer mangelnden politischen und sozialen Toleranz. Im Zuge der „konservativen Wende" von 1878/79 wird jedoch zunehmend die Schuld bei einem fehlenden Assimilierungswillen der Juden selbst gesehen. Die „Partikularität" und die „Exklusivität" der jüdischen Religiosität sei es, die es verhindere, daß Juden „wahre Deutsche" würden. Es wird von liberalprotestantischer Seite immer wieder betont, daß man das Postulat der Assimilation der Juden in eine deutsche und gleichzeitig protestantische Kultur nicht etwa wie der konservative Protestantismus dogmatisch verstanden wissen will. Die protestantische Kultur sei vielmehr gekennzeichnet durch Freiheit, Toleranz, humanen und sozialen Fortschritt. Doch ließe sich das deutsche Volkstum nie trennen vom Christentum in seiner deutsch-protestantischen Aussprägung. Nicht der Richtung dieser Leitkultur zu folgen, wird als rückschrittlich, unsozial und schließlich deutschfeindlich angesehen. Gerade in der Analyse des liberalen Judenbildes zeigt sich, wie seit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Sozialkrise seit 1873, spätestens seit der „konservativen Wende", die Moderne selbst in eine Krise gekommen war. Der Liberalismus als Emanzipationsideologie verliert zusehends an Kraft. In der liberalprotestantischen Auffassung des späten 19. Jahrhunderts verbinden sich altliberale Vorstellungen mit einem gewandelten Nadonsbegriff, in dem ein imperialistisches Sendungsbewußtsein mitschwingt. Ein rein rationaler Emanzipationsprozeß, so die vorwiegende Meinung des liberalen Protestantismus seit 1878/79, genüge nicht für eine völlige Assimilation der Juden. Die Juden benötigten eine gefühlsmäßige Anbindung an die deutsch-protestantische Kultur; denn der Prozeß eines aufgeklärten und gleichzeitig sozialen Fortschritts führe nicht über einen abstrakten Kosmopolitismus, der der liberalen Judenheit unterstellt wird, sondern über die Weiterentwicklung einer Volkskultur. Dies habe, so der liberale Protestantismus, gerade die Krisenentwicklung des Kaiserreichs gezeigt. Über dem Kosmopolitismus stehe das „deutsche Nationalg«/»yf>/". Der der orthodoxen Judenheit unterstellte Hang zum „Partikularismus" befördere ein sozialschädliches Klassendenken, die moderne Form eines überholten

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ständischen Prinzips. Aber auch dem sog. „Jüdischen Kosmopolitismus" fehle es an einer emotional verankerten, solidarischen Sozialbindung. Denn der „jüdische Kosmopolitismus" habe mit dem Partikularismus noch nicht die mit diesem verbundene, von protestantischer Seite so bezeichnete „positivistische Legalitätssittlichkeit" abgelegt. Von daher könne man eine defizitäre Ethik des modernen Judentums verstehen, die einen unsozialen Kapitalismus befördere, der sich gesetzlich, nicht menschlich verhielte, den Buchstaben gegen den Geist des Gesetzes ausnütze, die Freiräume einer offenen Gesellschaft mißbrauche, vom Inneren her nicht zum Besten aller arbeite, sondern nur für sich selbst. Oer liberale Protestantismus erwartet einen Übertritt %u einer protestantisch-deutschen Geisteskultur als Voraussetzung für eine solidarische Gesinnung. Im Zuge des zunehmend auch die protestantische Mentalität besetzenden biologistischen Rassegedankens werden Verknüpfungen von Gesinnung und biologisch determinierten Anlagen in die traditionelle Plausibilität integriert. Festzustellen ist gerade im Bereich des liberalen Protestantismus eine deutliche Differenz zwischen Ideologie und Mentalität. Während auf der einen Seite die Juden gegenüber dem Rasseantisemitismus verteidigt werden, ist doch vom liberalprotestantischen Bürgertum auf der gesellschaftlichen Ebene seit der „konservativen Wende" eine deudiche Distanznahme zu den Juden zu beobachten. Dieser Prozeß wird in den 1890er Jahren auch bewußt wahrgenommen und als sozialer Vorgang sogar selbstkritisch registriert. Kurzfristige Revisionsversuche bleiben ohne nachhaltigen Erfolg. Die Ansichten einer „Germanisierung" des Christentums finden im liberalen Protestantismus auffallig breiten Anklang. Nicht ohne weiteres ist damit ein ideologischer Antisemitismus verbunden. Doch signalisiert das Gefühl des Unbehagens gegenüber Einflüssen fremder, undeutscher Kulturen, speziell auch gegenüber den jüdischen Wurzeln des Christentums ein kritisches Judenbild als Ausdruck eines eigenen gewandelten, kritischen Identitätsgefühls. 2.3 Oie Gemeinsamheiten aller Judenbilder als Verschlüsselungen der Kritik an der Moderne Zusammenfassend läßt sich sagen: „Das" protestantische Judenbild gibt es nicht. Es ist vielmehr von polymorphen Judenbildern auszugehen, die in den verschiedenen Phasen des Kaiserreichs in den differierenden protestantischen Gruppierungen in unterschiedlicher Weise auftauchen. In ihnen kommen unterschiedliche, variierende und z.T. gegensätzliche Erfahrungen der Moderne zum Ausdruck. Die Paradoxie der Moderne findet mithin ihren Niederschlag in der Widersprüchlichkeit der jeweiligen Bilder zueinander und in sich selbst. Die jeweilige 'Stimmungslage' gegenüber den Juden beschreibt stets einen historischen Komplex, der dieselbe evoziert hat, läßt also erkennen, inwieweit die historischen Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Prozesses mit ihren Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten als Umbruchphase wahrgenommen und interpretiert wurden. Judenbilder erweisen sich so als milieuspezifische Artikulationen im Kontext einer umfassenderen Krisenmentalität. In den verschiedenen Phasen werden 'konjunkturell' unterschiedlich Ängste, aber auch Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen in ein „Judenbild" projiziert und insofern chiffriert. Die jeweiligen Judenbilder lösen sich indes nicht einfach ab. Ein mental verfestigtes Klischee, gleich ob positiver oder negativer Art, erweist sich als außerordentlich resistent. Es verschwindet nie ganz, sondern tritt nur mehr oder weniger deutlich hervor. Positive Klischees, wie jüdische Treue, jüdischer Familiensinn, Nüchternheit, Willensstärke, Höflichkeit, missionarische Anpassungsfähigkeit u.a.m., können in Krisenzeiten als Gesetz-

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lichkeit, Starrsinn, Fanatismus, Nepotismus, Kaltschnäuzigkeit, kriecherische Unterwürfigkeit, Verschlagenheit und Profillosigkeit erscheinen und funktionalisiert werden. Es lassen sich sowohl „Judenbilder" erheben, die von Anbeginn des Kaiserreichs an bestehen, allerdings in den verschiedenen Phasen unterschiedliche 'Konjunktur' haben und sich als 'mentaler Fundus' über den gesamten Zeitraum erstrecken, als auch solche, die erst in bestimmten Phasen auftauchen. Konservative wie Liberale empfinden gemeinsam das Unbehagen an einer aus den Fugen geratenen modernen Kultur, wobei allerdings die Konservativen die Moderne an sich als Irrweg deuten, die Krise als eine Folgeerscheinung der Moderne, die Liberalen hingegen davon ausgehen, daß eine noch nicht abgeschlossene Moderne in eine Krise geraten sei. Die Aspekte, die die Moderne aus liberaler Sicht als unvollendet charakterisieren, finden sich nicht selten auf die Chiffre Judentum projiziert. Gegenseitig geben sich die beiden Flügel des Protestantismus die Schuld für die krisenhaften Phänomene und scheuen sich nicht, ihren innerkirchlichen Kontrahenten dadurch zu diskriminieren, daß man dessen Einstellung mit der abwertend gemeinten Vokabel „jüdisch" oder „semitisch" belegt. Alle Judenbilder scheinen für die protestantisch bürgerliche Gesellschaft Identitätsfragen auszudrücken, insofern sie sich als Gegenbilder oder Vorbilder zu einer eigenen auf die Juden projizierten Identität deuten lassen. Sie bringen damit die Krise des Bürgertums, mithin die Krise der Moderne zum Ausdruck. Insgesamt ist das Judenbild des Protestantismus ambivalent angelegt. Hierin äußert sich eine Ambivalenz der Moderne selbst. Der Protestantismus kann das Judenbild sowohl als Fratze als auch als edles Antlitz zeichnen, den Juden als Verderber und gleichzeitig als Retter der Menschheit sehen. Zwar gibt es protestantische Positionen, die die eine, in besonderen Krisenzeiten meist die negative, Seite dieses Judenbildes stärker aktivieren; äußerst selten sind jedoch Haltungen, die ausschließlich antijüdische Reflexionen beinhalten. Diese finden sich ausgeprägt erst im Rasseantisemitismus des Deutschchristentums. Bernd Stöver (Potsdam)

Containment — Rollback — Liberation. Die DDR und Osteuropa in der amerikanischen Außenpolitik während der Truman- und EisenhowerAdministration 1945-1961 I. Übergreifende

Problemstellung

Die entscheidenden Merkmale amerikanischer Außenpolitik gegenüber Osteuropa und der SBZ bzw. der DDR waren nach 1945 das Mißtrauen gegenüber der UdSSR und der auch während des Krieges häufig nur notdürftig kaschierte traditionelle Antikommunismus. Verantwortlich für die Skepsis gegenüber dem ehemaligen Verbündeten war nach wesdicher Interpretation vor allem das Hinwegsetzen der Sowjetunion über die Jalta-Deklaration 1945, die unter anderem die freie Wahl der Regierungsform garantiert hatte. Der griechische Bürgerkrieg zwischen den kommunistischen Partisanen und den vom Westen unterstützten Regierungstruppen war schließlich der unmittelbare Hintergrund, vor dem 1947 die sogenannte „Truman-Doktrin" entstand, die die amerikanische Vorstellung des „Containment", der „Eindämmung" sowjetischen Einflusses formulierte. Die schließlich am 12. März 1947 gehaltene Ansprache Trumans, die dann als „Truman-Doktrin" bezeichnet wurde, beinhaltete ausdrücklich auch eine Darlegung allgemei-

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ner Prinzipien amerikanischer Außenpolitik. Diese lägen, so Truman, in der Schaffung von Verhältnissen, unter denen die USA und andere Nationen in der Lage seien, ein Leben frei von Zwang zu führen. Die Rede gipfelte in der Forderung, freie Völker, die sich gegen die Unterdrückung durch eine bewaffnete Minderheit wehrten, zu unterstützen. Hilfe sollte in erster Linie in Form wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung fließen, denn totalitäre Regime, so Truman, wüchsen auf dem Boden von Armut und Hoffnungslosigkeit. In Griechenland wurde diese Strategie zum ersten Mal erfolgreich durchgeführt: Die Bewaffnung antikommunistischer Einheiten durch die USA wehrte die befürchtete weitere Ausdehnung des sowjetischen Einflusses tatsächlich ab. Innenpolitisch formierten sich vor allem während des Wahlkampfes 1948 die Gegner der „Containment"-Politik, die Truman vor allem eine Passivität in der Außenpolitik vorwarfen. Die Containment-Politik könne, so die Kritik, eine weitere Ausdehnung des Kommunismus offensichtlich nicht verhindern. Insbesondere auch unter dem Eindruck der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1948, aber auch durch das Ausscheren Titos aus dem Ostblock im gleichen Jahr ermutigt, formierte sich in der Republikanischen Partei eine starke Fraktion, die eine offensive Politik gegenüber der UdSSR forderte. Das Gegenkonzept, für das der später als Außenminister unter Präsident Eisenhower tätige John Foster Dulles verantwortlich zeichnete, lag im Mai 1948 vollständig vor, wurde aber in den folgenden Jahren ständig weiter präzisiert. Es propagierte eine aktive Befreiungspolitik, deren Ziel letztendlich darin bestehen sollte, die Satellitenstaaten in Osteuropa aus der sowjetischen Kontrolle zu lösen. Der Begriff des „Rollback" bzw. „Rolling Back" wurde von Dulles erst 1950 offiziell eingeführt. Wie die Ausführungen von Dulles und anderen Vertretern der Liberation-Politik zeigen, sollte die Befreiung von Anfang an keinesfalls mittels einer militärischen Aktion erfolgen. Ziel war, zentrifugale Kräfte in den osteuropäischen Gesellschaften zu motivieren und zu unterstützen. Die Befreiung selbst stellte man sich als „friedliche Revolution" vor, die durch die massenhafte Unterstützung die kommunistischen Regime hinwegfegen würde. Die eigene Aufgabe sah man vor allem in der moralischen und politischen Unterstützung der antikommunistischen Bewegung im Ostblock. Vor allem die Präsidentschaftswahlkämpfe 1948 und 1952 trugen nicht nur zu einer weiten öffentlichen Verbreitung der Begriffe bei, sondern ließen durch die kontinuierliche Diskussion auch den Eindruck in Ost und West entstehen, Rollback und Liberation seien die zukünftigen Eckwerte amerikanischer Osteuropapolitik. II. Einige Bemerkungen %ur Forschungslage und Fragestellung Die amerikanische Außenpolitik im Kalten Krieg gilt allgemein als gut erforscht. Jedoch gibt es erstaunlicherweise nur wenige Arbeiten, die die US-Strategie gegenüber Osteuropa und der DDR unter den Prämissen von Containment, Rollback und Liberation in ihren Einzelaspekten und im Hinblick auf die Einzelstaaten untersuchen. Die vorhandenen Titel beschäftigen sich entweder überblicksartig mit dem Thema, behandeln nur die ersten Jahre (z.B. LUNDESTAD) oder greifen Einzelaspekte heraus (z.B. HEUSER). Hinzu kommt, daß einerseits die amerikanischen Archive zusätzlich zu den bekannten Beständen kontinuierlich neues, bisher gesperrtes Material freigeben, andererseits vor allem die Öffnung ostdeutscher und osteuropäischer Archive eine Fülle bisher unbekannter Dokumente zugänglich macht.

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Offen bleibt in den vorliegenden Arbeiten nach wie vor: 1. ob die offensive Osteuropapolitik, die die Begriffe „Rollback" und „Liberation" umschrieben und die die Republikaner vor 1953 forderten und nach 1953 als Regierungsprogramm proklamierten, eine ernsthaft verfolgte außenpolitische Strategie und eben nicht nur ein innenpolitisch motivierter Wahlkampfslogan war; 2. wann die Umsetzung in die Praxis begann; 3. in welcher Form sie in der Praxis umgesetzt wurde; 4. welche Reaktionen die praktischen Maßnahmen auslösten. III. Ein Beispiel aus der Praxis amerikanischer Osteuropapolitik: Radio Freies Europa Die offensivere Linie der US-Osteuropapolitik, die die Republikaner gefordert hatten und die durch den innenpolitischen Druck vor allem der Wahlkämpfe bereits unter Truman eingeleitet wurde, war in der Praxis durch eine Vielzahl parallel laufender Maßnahmen bestimmt, die generell auf die Schwächung des kommunistischen Systems gerichtet waren. Dazu gehörten unter anderem wirtschaftliche Boykottmaßnahmen, die kontinuierliche Ausstrahlung von Propaganda, die Verschickung von Flugblättern durch Ballons, verdeckte Operationen und humanitäre Hilfsaktionen. Obwohl auf den ersten Blick manchmal kaum erkennbar, waren sie aus amerikanischer Perspektive alle in eine Politik eingebaut, die den Einfluß der Kommunisten sowohl eindämmen als auch zurückdrängen sollte, um die Völker in Osteuropa zu befähigen, ohne sowjetische Bevormundung zu leben. Rollback und Liberation waren zwei Begriffe, die die gleiche Osteuropapolitik beschrieben. Angesichts der begrenzten Zeit für den Vortrag habe ich ein Beispiel aus der Praxis der OsteuropaPolitik herausgegriffen, das meines Erachtens typisch für die praktische Umsetzung der Befreiungspolitik war: die Gründung und Tätigkeit des Senders Radio Freies Europa (RFE). Die Gründung von RFE 1949 war in mehrfacher Hinsicht für die neue Offensivrichtung der US-Osteuropapolitik kennzeichend. 1. Zum einen ging sie unmittelbar auf die angesprochene Entscheidung der USA zurück, eine offensivere und kompromißlosere Politik gegenüber dem Ostblock durchzuführen und eine „Zurückdrängung" des Kommunismus, wenn nicht sogar „Befreiung" der Satelliten anzustreben. RFE sollte dafür - nicht zuletzt auch durch den Namen — ein Zeichen sein. 2. RFE wurde unter der Truman-Administration gegründet. Dies ist auch ein Zeichen dafür, daß der Wandel in der Außenpolitik viel früher als gemeinhin angenommen einsetzte, und ein Zeichen dafür, wie rasch die Truman-Administration sich dem in der Öffentlichkeit immer stärker artikulierten Wunsch einer offensiven Politik beugte. 3. RFE wurde bewußt als private Organisation aufgebaut, um nicht die politischen Rücksichten wie offizielle Institutionen nehmen zu müssen Die Weisungen kamen trotzdem direkt aus dem State Department. RFE war nicht nur das „official unofficial" der amerikanischen Osteuropapolitik: Zugespitzt war RFE-Politik zumindest im ersten Drittel der fünfziger Jahre offizielle amerikanische Osteuropapolitik, die sich jedoch weiter vorwagen konnte als irgendeine amtliche Stelle. Aus der Politik der RFE-Sendeleitung und dem Inhalt der RFE-Sendungen ist m.E. deutlich zu erkennen, worauf die US-Politik gegenüber Osteuropa zielte (Thesen): 1. Sie richtete sich auf eine tatsächliche Herauslösung einzelner Staaten aus dem Ostblock nach dem Vorbild der „Defection" Jugoslawiens. Dabei zielte die Grundlinie fast

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aller Sendungen auf die Unzufriedenheit in der Zivilbevölkerung mit der ökonomischen Situation, aber auch etwa auf schwelende Nationalitätenprobleme. 2. Der offensiv-aggressive Charakter der RFE-Sendungen, der von Anfang an gegeben war, verbunden mit Flugblätteraktionen etc. verfestigte in den Satellitenstaaten die Vorstellung, der Westen werde Aufstandsbewegungen unterstützen. Dies zeigte sich insbesondere während des Aufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR. 3. Der von der offiziellen US-Politik nach dem Aufstand vollzogene Schwenk zu einer Deeskalation wurde von der privaten Organisation RFE, aber auch anderen semi-offiziellen oder privaten Organisationen, nicht mitgetragen. Nicht zuletzt deswegen wurden deren Aktionen nach dem Ungarnaufstand 1956 zum Teil abgebrochen, zum Teil einer scharfen Kontrolle unterstellt. 4. Zusammengefaßt kann man RFE als ein Instrument einer ernsthaft verfolgten Richtung der US-Außenpolitik betrachten, die auf die „Befreiung" von Ostblockstaaten gerichtet war. Sie geriet aber auf der Ebene der privaten oder halbprivaten Organisationen 'außer Kontrolle'. Daß RFE weitgehend unbeeindruckt nach altem Muster weitersendete, liegt an einer Vielzahl einzelner Gründe, wobei der wichtigste darin zu finden ist, daß ein immer stärker werdender 'rechter Flügel' in den USA daran interessiert war.

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Sektionen des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands 42. Gedenkstätten, Denkmäler, Mahnmale Leitung: Herwig Bunt£ (Erlangen) Herwig Bunt% (Erlangen) : Einführung Wolfgang Hardtü'ig (Berlin): Nationaldenkmal und Nationsbildung in Deutschland im Kaiserreich Charlotte Tacke (Bielefeld): Nationaldenkmäler in Europa Bernd Faulenbach (Bochum): Zur politisch-gesellschaftlichen Funktion der Gedenkstätten in den beiden deutschen Staaten und im vereinigten Deutschland Gudrun Steiner (München): Didaktische Überlegungen zu Denkmälern und Mahnmalen

Herwig Bunt^ (Erlangen)

Einführung

Das Thema „Denkmal" hat zur Zeit Konjunktur, was nicht zuletzt eine weitere Sektion des Historikertages zeigt („Denkmalsturz"). In der Öffentlichkeit wird über die Planung und Errichtung von Denkmälern intensiv und kontrovers diskutiert: Das Denkmal für den Grafen Pappenheim in seinem Geburtsort, die Wiedererrichtung des Denkmals am Deutschen Eck oder das Holocaust-Mahnmal in Berlin-Steglitz sind dafür einige Beispiele. Auch die historische Forschung hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt mit Denkmälern beschäftigt, da sie eine vielschichtige Quelle für das Geschichtsbewußtsein eines Volkes sind. Schließlich interessiert sich auch die Geschichtsdidaktik für Denkmäler, so daß diese heute verstärkt im Geschichtsunterricht behandelt werden. Aus der Vielzahl der möglichen Themen greifen die vier Referate drei Fragen heraus: Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts ( H a r d t w i g , Tacke), Mahnmale und Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes (Faulenbach) und die Behandlung von Denkmälern im Unterricht {Steiner).

Wolfgang Hardtwig (Berlin)

Nationaldenkmal und Nationsbildung in Deutschland im Kaiserreich Untersucht werden soll das Verhältnis von lokaler, regionaler und nationaler Loyalität in der Denkmalskultur des späten 19. Jahrhunderts — und damit ein besonders wichtiges Pro-

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blem der deutschen Nationsbildung im Kaiserreich. Es erscheint zweifelhaft, ob die weithin übliche eindeutige Polarisierung von einzelstaatlich-regionaler und nationaler Loyalität der historischen Wirklichkeit gerecht wird. Die Denkmäler als bedeutsame Erinnerungsstätten spiegeln das Problem Region und Nation in bestimmten Facetten wider. Das politische Denkmal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in der Regel das partikularstaatliche. Die Indienstnahme des politischen Denkmals für die Verankerung partikularstaatlicher Identität kommt auch im Kaiserreich noch durchaus vor. Ein gutes Beispiel dafür bietet die Denkmalskultur Münchens. Tiefer hinein in die komplizierte Gemengelage von regionaler bzw. lokaler und nationaler Identität führt z.B. die Denkmalskultur Nürnbergs. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen hier Denkmäler für lokale Größen von überregionaler Bedeutung: das Dürer-Denkmal (1828), das Denkmal für Hans Sachs, 1840 begonnen, aber erst 1873 abgeschlossen, Denkmäler für den Bildschnitzer Veit Stoß oder den Buchdrucker Franz Koberger. Die Nürnberger betrachteten dergleichen Monumente als ihre Nationaldenkmäler. Aus den Beobachtungen vorrangig am Beispiel Münchens und Nürnbergs ergeben sich drei Thesen von allgemeiner Aussagekraft: 1. Wenn man von Regionalismus spricht, sollte man den Lokalismus einbeziehen. Die Stadt ist ein zentraler Ort der Identitätsbildung und der Loyalität. 2. Partikularstaatlicher Regionalismus und Lokalismus einerseits, nationales Bewußtsein andererseits können zwar mehr oder weniger in Konkurrenz zueinander stehen. Wichtiger aber scheint, daß sich nationales Bewußtsein auf partikularstaatliches und lokales Bewußtsein stützte; wichtiger als das Konkurrenzverhältnis ist das Fundierungsverhältnis. Man war Deutscher, weil man Münchner, katholischer Rheinländer oder protestantischer Nürnberger war. Der Nationalstolz speiste sich vielfach aus dem Lokal- und dem Regionalstolz. Das nationale Bewußtsein oder die nationale Identität bauten sich auf aus dem Gefüge von städtischen, einzelstaatlich-regionalen und nationalen Identitäten. 3. Der partikularstaatliche Regionalismus ging im späten 19. Jahrhundert zurück oder wurde überlagert durch reichisches Nationalbewußtsein, aber er verschwand nicht einfach; er stieß die Fixierung auf die Monarchie ab, blieb aber auch unter neuen politischen Vorzeichen ein politisch relevanter Faktor. Charlotte Tacke (Bielefeld)

Nationaldenkmäler in Europa Nationaldenkmäler sind ein europäisches Phänomen, doch ist ein empirisch vergleichender Überblick nicht möglich, da der Forschungsstand in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich ist. Stattdessen sollen Möglichkeiten, Voraussetzungen und Probleme eines europäischen Vergleichs anhand von fünf Fragen erörtert werden. 1. Die Ikonographie von Nationaldenkmälern bietet ein vereinfachtes, stereotypes Bild von nationalen Vorstellungen, das weder dem sozialen Wandel noch der Pluralität nationaler Vorstellungen gerecht wird. Deshalb kann sich eine Untersuchung nicht auf die Interpretation einer kleinen gebildeten Schicht von Denkmalerrichtern und offiziellen Denkmaldeutern beschränken, sondern muß auch die individualisierte Betrachterperspektive be-

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rücksichtigten. Dabei sind unterschiedliche und sich wandelnde Interpretationen möglich. Der offizielle Anspruch ist kein Indikator der nationalen oder sozialen Wirklichkeit. 2. Bei der Ikonographie der Denkmäler gibt es Ähnlichkeiten und Überschneidungen, nicht zuletzt durch ihr Entstehen in einer übernationalen Kunstszene. Oft beteiligten sich Künstler an Ausschreibungen für Denkmäler fremder Nationen. Außerdem entstehen Nationaldenkmäler häufig in einer Mischung aus Übernahme und Abgrenzung gegenüber den Denkmälern anderer Nationen, gleichsam als Zeichen einer „asymmetrischen Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern" und eines „negativen Kulturtransfers" in Europa. 3. Die Vieldeutigkeit aller Symbole verlangt eine Interpretation ganzer Symbolfelder. Gleichzeitig wird die symbolische Praxis und Repräsentation sozial vermittelt. Denn die Denkmäler bilden den Raum für nationale Feste oder Aufmärsche und sind damit ein Ort „kollektiver Sinnzuschreibung". 4. Nationaldenkmäler spiegeln auch zahlreiche lokale und regionale Beziehungen und Loyalitäten. Denn mit ihrer Errichtung setzten sich auch Städte oder Regionen ein Denkmal. Denkmalvereine oder -feste erfolgten vor Ort, und auch bei größeren Festen in den Hauptstädten wurde die Nation oft durch ihre Städte oder Regionen repräsentiert. Dieses „Ineinander von lokalen, regionalen und nationalen Loyalitäten" dürfte eine gesamteuropäische Erscheinung sein und erklärt auch die große Zahl der Denkmalerrichtungen in allen europäischen Ländern. 5. Initiativen oder Spenden für ein Denkmal lassen außerdem erkennen, daß nationale Gefühle oder Begeisterung allein die Entstehung eines Denkmals noch nicht erklären. Vielmehr zeigen gerade Subskriptionsbewegungen und gedruckte Spendenlisten, daß auch persönliche Bindungen und soziale Bedürfnisse dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Initiatoren und Spender denken und fühlen national, vertreten aber gleichzeitig ein konkretes soziales Umfeld. Die europäischen Nationaldenkmäler dürfen also nicht nur als Ausdruck einer nationalen oder nationalstaatlichen Idee untersucht werden. Wichtig ist vielmehr einerseits eine übernationale Perspektive — und hier vor allem die Frage der negativen Abgrenzung - , andererseits die Frage nach dem lokalen, regionalen und sozialen Umfeld der Initiatoren und Betrachter. In der Diskussion wurden vor allem drei Fragen aufgegriffen: 1. Von Interesse für die Forschung sind nicht nur die verwirklichten Denkmäler, sondern auch die geplanten, die aus den verschiedensten Gründen nicht realisiert wurden. In allen Fällen wurde die Planung durch eine breite öffentliche Diskussion begleitet, die in den zeitgenössischen Zeitungen oder in Archiven dokumentiert ist. 2. Nationaldenkmäler sind meistens das Werk von staatsnahen sozialen Gruppen, wobei in Deutschland auch aus einem partikularstaatlichen Nationalbewußtsein heraus Denkmäler entstehen. Oft werden in einem Denkmal mehrere Themen gebündelt; ein Beispiel dafür ist das „deutsch-bayerische Friedens- und Siegesdenkmal" in Edenkoben (errichtet 1899). 3. Die vielen Denkmäler, die zum Beispiel in Nürnberg im 19. Jahrhundert errichtet wurden, zeigen die unterschiedlichen Loyalitäten in der Bevölkerung. Neben dem deutschen und bayerischen Nationalgefühl legte die ehemalige freie Reichsstadt Nürnberg - sie

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war im Gegensatz zur altbayerischen Landeshauptstadt protestantisch und liberal — Wert auf die Verwirklichung lokaler Denkmäler. Ihre Errichtung brachte auch Aufträge für das Handwerk und die Industrie der Stadt. Daß außerhalb Nürnbergs mit Erfolg für solche Denkmäler gesammelt werden konnte, zeigt den überdurchschnittlichen Bekanntheitsgrad der Stadt. Ein Kuriosum ist dabei die Tatsache, daß für ein Hans-Sachs-Denkmal (1874) besonders die Berufsgruppe der Schuhmacher angesprochen wurde.

Bernd Faulenbach (Bochum)

Zur politisch-gesellschaftlichen Funktion der Gedenkstätten in den beiden deutschen Staaten und im vereinigten Deutschland Die an den Orten von Konzentrationslagern in der NS-Zeit errichteten Gedenkstätten, ihre Einrichtung, ihre Aufgabenstellung und politische Funktion in der alten Bundesrepublik, in der DDR und im vereinigten Deutschland sind aufschlußreich für die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins und der Geschichtskultur in Deutschland seit der Zeit des Nationalsozialismus. Aus vergleichender Perspektive fallen Unterschiede in Gestaltung und Funktion, doch auch ein gemeinsamer antagonistischer kommunikativer Zusammenhang auf: 1. Die großen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten" der DDR wurden in der zweiten Hälfte der 50er Jahre errichtet - unter Führung von Partei und Staat, die dafür Mittel und Engagement von Teilen der Bevölkerung mobilisieren konnten. Die Gedenkstätten in der Bundesrepublik wurden deutlich später aufgebaut, teils in den 60er Jahren, teils erst in einer zweiten Welle seit den 70er Jahren. Widerstrebten hier nicht selten anfanglich Kommunal- und Landespolitiker, so wurde von der Politik seit den 60er Jahren eine Wende vollzogen; die zweite Welle der Gründung von Gedenkstätten seit den 70er Jahren war politisch und gesellschaftlich breit fundiert. 2. Die Gedenkstätten in der DDR dienten - überpointiert formuliert - weniger dem Gedenken an die Opfer, als der Feier des Sieges des antifaschistischen Kampfes. Besonders die Plastiken und die architektonische Gestaltung, teilweise aber auch die Ausstellungen, ließen diese Tendenz erkennen. Gedacht wurde nicht eigentlich der vielen Opfer, sondern weitgehend nur der antifaschistischen Kämpfer, wodurch die Geschichte aus einer sehr spezifischen Perspektive in den Blick kam. — Die Gedenkstätten im Westen haben demgegenüber mehr der Opfer, vor allem der aus rassistischen Gründen Verfolgten, gedacht. In der Gestaltung herrschten Motive der Trauer, der religiösen Besinnung und einer recht allgemein gehaltenen Mahnung vor. Der politische Widerstand spielte dabei - abgesehen vom Widerstand des 20. Juli, für den bereits in den 50er Jahren Gedenkstätten geschaffen worden waren — keine herausragende Rolle, wofür auch politische Momente, insbesondere die Distanz zum kommunistischen Widerstand und der Gegensatz zur kommunistischen Geschichtspolitik, maßgeblich waren. Dienten mithin die Gedenkstätten in der DDR einer spezifischen Politik und enthielten sie eindeutig politische Botschaften, so waren die Gedenkstätten in der Bundesrepublik eher historisch, in einem weiteren Sinne religiös und dabei eher unpolitisch orientiert. 3. Die Gedenkstätten in der DDR hatten — durch ihre Gestaltung, die Ausstellungen etc. als Rahmen für Feiern, Kundgebungen, Aufmärsche, Vereidigungen usw. - eine unmit-

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telbar legitimatorische Funktion. Mit Hilfe der Gedenkstätten versuchte sich die DDR als der 'bessere' deutsche Staat darzustellen. Die Bundesrepublik hat generell in ungleich geringerem Maße als die DDR versucht, sich über Geschichte zu legitimieren. Zwar gab es für die führenden politischen Kräfte keinen Zweifel, daß die Bundesrepublik und ihre Verfassung in diametralem Gegensatz zur NS-Gewaltherrschaft standen, doch war hier der Bruch mit der NS-Zeit zunächst lediglich ein Moment - neben anderen — der Legitimationsbeschaffung der „provisorischen" Bundesrepublik. Keine Frage, daß die früher errichteten Gedenkstätten in der DDR, ihre relativ großzügige Ausstattung und ihre Arbeit trotz ihrer einseitigen Orientierung Defizite der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Westen deudich machten. Die anfangs asymmetrische Struktur zu Gunsten des SED-Systems schwächte sich seit den 60er Jahren ab, als der Westen verstärkt begann, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Während sich die DDR — keineswegs nur die SED-Führung, sondern unter deren Anleitung auch die Bevölkerung — zu den „Siegern der Geschichte" rechnete, „externalisierte" oder „universalisierte" man im Westen die Frage von Schuld und Verantwortung zunehmend nicht mehr. Gudrun Steiner (München)

Didaktische Überlegungen zu Denkmälern und Mahnmalen Auf Vergangenheitsrekonstruktion und Auseinandersetzung mit zurückliegendem und gegenwärtigem Geschichtsbewußtsein stützt sich der Geschichtsunterricht bei seinem Bestreben, ein transparentes Kontinuum von Geschichte von der Steinzeit bis zur Gegenwart zu vermitteln - Ganzheit ist gefragt. Einen möglichen Weg zu diesem Ziel stellt der Umgang mit authentischen historischen Mosaiksteinen dar, die außerhalb der Schule etwa in Museen oder Ausgrabungsstätten zu finden sind. Auch Denkmäler sind als solche Bruchstücke der Geschichte einzustufen, sie werden bei der direkten Begegnung zum „Erlebnisraum Geschichte". Die Konfrontation mit „Geschichte vor Ort" bedeutet eine sinnvolle Erweiterung der Erfahrungsmöglichkeiten für Schüler, Geschichte ein Stück weit aus dem persönlichen Blickwinkel heraus zu rekonstruieren. Jeder Geschichtslehrer kennt insbesondere die organisatorischen Hürden von Unterrichtsgängen. Hier kann das Denkmal Abhilfe leisten: Präsentiert als Bild im Unterricht geht zwar ein Teil des ursprünglichen Charakters dieses für den öffentlichen Raum geschaffenen Mediums verloren, ertragreich auswertbar u.a. hinsichtlich Ikonographie und Inschrift bleibt es aber dennoch. Daß die Begegnung mit Denkmälern keinesfalls als Kürprogramm zur methodischen Auflockerung eines lehrbuch- und lehrerzentrierten Geschichtsunterrichts mißverstanden werden darf, wollte der Vortrag, der anhand von konkreten Bildbeispielen Leistungen und Grenzen der Denkmalanalyse aufzeigte, verdeudichen. Denkmalinterpretation erfordert die Auseinandersetzung mit einem strukturierten Kriterienkatalog. Dieser hat im wesentlichen folgende Aspekte zu berücksichtigen: Thematik des Denkmals, Denkmalgestaltung, Widmungsgruppe, Zeitpunkt der Denkmalsetzung, Aufstellungsort, Denkmalinitiatoren, Rezeptionsvarianten und Funktionalität. Die Vernetzung und Hierarchie der Wichtigkeit dieser Analysekategorien ist bei der Vielzahl

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von Denkmälern, die sich in eine Art „überzeitliche Gedenkkultur" einbinden lassen, sehr unterschiedlich. Die Geschichtslehrpläne unterschiedlicher Schultypen bieten vielfältige Möglichkeiten, Einblicke in die historische Dimension des Denkmals zu gewinnen. Fast alle im Unterricht zu thematisierenden Epochen haben Geschichte mit jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen in Monumenten materialisiert - etwa in griechischen Porträtstatuen, römischen Friedensaltären, mittelalterlichen Grabdenkmälern, absolutistischen Reiterstatuen, Nationaldenkmälern, Heldendenkmälern des Ersten Weltkrieges oder Mahnmalen nach 1945. Im Rahmen des Referates wurde insbesondere der zuletzt genannte Denkmaltypus, das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus, vorgestellt. Besonders hervorgehoben wurden dabei Denkmäler, die einen bemerkenswerten Akzent auf die Frage von Schuld und Opferrolle setzen: so etwa Mahnmale für die „Schreibtischmörder" im Dritten Reich, für den „Kulturmord" im Rahmen der Bücherverbrennung oder für den „umstrittenen" Deserteur. Die Auswertung von Denkmälern als Geschichtsquelle kann auch in fächerübergreifenden Unterricht einmünden. Zu denken ist dabei vor allem an die Fächer Kunst, Deutsch und Musik. Hier kann etwa das Motiv Krieg vergleichend in der Malerei (z.B. Dix, Klapheck), der Literatur (z.B. Brecht, Kunert) oder in der Musik (z.B. Schostakowitsch, Schönberg) betrachtet werden. Auch Projektarbeit zum Thema Denkmal ist möglich, beispielsweise in Form einer regionalgeschichtlichen Fotoausstellung oder in Form eines von Schülern ausgearbeiteten Denkmalrundgangs durch ihre Stadt. In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere über Bedeutung und Möglichkeiten einer schülergerechten thematischen Hinführung zu Mahnmalen für die Opfer des Nationalsozialismus und über die Frage des 'gewünschten' Rezeptionsverhaltens von Schülern beim Umgang mit Denkmälern dieser Art gesprochen.

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43. Fächerübergreifende Projekte im Geschichtsunterricht Leitung: Bernd Heinloth (München) Bernd Heinloth (München): Einleitung Diethard Hennig (Erlangen): Die Behandlung der Münchner Räterepublik im facherübergreifenden Unterricht Dieter Rossmeissl (Nürnberg): Re-education unter der amerikanischen Militärregierung Manfred Ludwig Miimmler Erhard —(Emskirchen): Erste Schritte in eine freiheitliche Wirtschaftsgesellschaft Bernd Heinloth (München)

Einleitung Die Sektion „Fachübergreifende Projekte im Geschichtsunterricht" befaßte sich mit einer Thematik, die angesichts der Diskussion um die Oberstufenreform des Gymnasiums von besonderer Bedeutung ist. Die Vorsitzende der bayerischen Direktorenvereinigung, Barbara Loos, formulierte das Anliegen in einem Arbeitspapier folgendermaßen: „Die Fächer müssen darauf verpflichtet werden, in kooperativen Anstrengungen sowohl ihr spezifisches als auch das im Fächerkanon als Gesamtheit liegende Potential zur Verknüpfung und Reflexion der verschiedenen Fachperspektiven zu entwickeln, damit die Oberstufenschüler darin unterstützt werden, die fachspezifischen Inhalte und Verfahren, Fragestellungen und Denkweisen nicht nur selbstbezüglich „abzuspeichern", sondern sie als Instrumentarien für komplexe und fachübergreifende Problemlösungsprozesse zu gebrauchen lernen, vor allem in Anwendungszusammenhängen, die sich von der ursprünglichen Aneignungssituation unterscheiden." Am Beispiel dreier Referate, die sich mit relevanten historischen Ereignissen und Personen des 20.Jahrhunderts befassen, wurde aufgezeigt, wie sich bei der Behandlung im Unterricht mehrere Fächer so integrieren lassen, daß die Schüler mehrere Perspektiven der Betrachtung kennenlernen. Diethard Hennig (Erlangen)

Die Behandlung der Münchner Räterepublik im fächerübergreifenden Unterricht 1. Die Münchner Räterepublik wird im bayerischen Lehrplan für Geschichte sowohl in der Sekundarstufe I (9. Klasse) als auch im Grund- und Leistungskurs des Gymnasiums (12. Klasse) im Kontext der Revolutionsentwicklung 1918/19 behandelt. Fächerübergreifend ließe sich das Thema am besten in der Oberstufe realisieren.

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2. Als facherübergreifende Bildungs- und Erziehungsaufgaben nennt der Lehrplan in der Sekundarstufe II für die gesamte Weimarer Republik „Politische Bildung", und er verweist außerdem auf das Fach „Deutsch" in der 13. Jahrgangsstufe, in der im Rahmen der Literatur des 20. Jahrhunderts auch die wichtigsten literarischen Strömungen der Weimarer Republik und die entsprechenden Autoren behandelt werden sollen. 3. Bei den angegebenen Lektürevorschlägen im Lehrplan finden sich Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf und Ernst Toller, die sich in ihren Werken mit der Münchner Räterepublik auseinandergesetzt haben, bzw. die — wie Toller — zu den Exponenten dieser kurzen radikalen Revolutionsphase im Frühjahr 1919 gehörten. Quellen sind somit vornehmlich auch literarische Zeugnisse, die im Rahmen einer kritischen Quellenanalyse im Geschichtsunterricht erschlossen, daneben aber auch unter ästhetischen Gesichtspunkten behandelt werden können. 4. Da in der ersten Phase der Münchner Räterepublik — sie wurde nach der vom Landtag eingesetzten Regierung Hoffmann im April 1919 proklamiert - Literaten wie Erich Mühsam und Gustav Landauer eine wichtige Rolle spielten, lassen sich im Geschichtsunterricht ebenfalls Bezüge zur Literatur herstellen. Man erarbeitet mit Schülern der Sekundarstufe II, wie die politischen Ereignisse jener Zeit in den literarischen Zeugnissen der beteiligten Autoren aufgearbeitet und reflektiert werden. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Erinnerungsbuch von Ernst Toller „Eine Jugend in Deutschland" wichtig. 5. Die Räterepublik wurde sowohl von ihren Befürwortern als auch von ihren Gegnern in literarischen Tagebüchern aufgearbeitet. Multiperspektivisch ließen sich die Ereignisse, die sich nach der Ermordung Eisners vom 21.2.1919 bis zur Proklamation der Räterepublik am 7.4.1919 vollzogen, in den Tagebüchern von Joseph Hofmiller, Thomas Mann und Oskar Maria Graf mit Schülern behandeln. 6. Durch Einbeziehung von politischen Plakaten (z.B. Wahlplakate der bayerischen Parteien), Karikaturen (z.B. Karl Arnold, Thomas Theodor Heine, Olaf Gulbransson im „Simplizissimus"), Fotographien (z.B. Heinrich Hoffmann) und zeitgenössischen Gemälden (z.B. Heinrich Ehmsen) ließe sich das Thema „Münchner Räterepublik" auch auf den Kunstunterricht ausweiten, indem ausgewählte Arbeiten exemplarisch als Zeugnisse der Kunst des 20. Jahrhunderts behandelt werden. 7. Im Rahmen der „Politischen Bildung" könnten am Beispiel der Räterepublik auch die strukturellen Unterschiede zwischen parlamentarischem System und Rätesystem erarbeitet und damit ein Bezug zum Sozialkundeunterricht der 12. Klasse („Politischer Prozeß") hergestellt werden. Ein Unterrichtsprojekt, das auf sieben Stunden verteilt detailliert dargestellt wurde, könnte — verkürzt — so aussehen: In der ersten Stunde sollen sich die Schüler einen Überblick über die Ereignisse von der Ermordung Kurt Eisners bis zur Liquidierung der Räterepublik verschaffen, indem sie in Gruppenarbeit anhand einer vorgegebenen Datenleiste Schlagzeilen für eine Zeitung formulieren. In der Sekundarstufe II könnte man zusätzlich verlangen, daß die konkurrierenden Ideologien in den Schlagzeilen deutlich herausgestellt werden, indem man Texte für die „Rote Fahne" der Räterepublik und für den „Freistaat" der Regierung Hoffmann entwirft.

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Zweite Stunde: In der Gruppe wird diskutiert, welche Ergebnisse wesentlich sind, es wird eine Strukturierung und Gewichtung vorgenommen. Folgende Möglichkeiten des facherübergreifenden Unterrichts bieten sich an: — Der Eisnermord könnte multiperspektivisch behandelt werden, indem Ausschnitte aus verschiedenen Erinnerungsbüchem (Müller-Meiningen, Felix Fechenbach, Oskar Maria Graf, Ernst Toller) gelesen werden. Berichte über die Trauerfeier, Fotos über den Attentatsort ergänzen die Aussagen. — Das knappe Protokoll der konstituierenden Landtagssitzung vom 21.2.1919 soll in Form einer Spielszene präsentiert werden. — Die Schüler verfassen Aufrufe der verschiedenen Parteien zum Eisnermord oder entwickeln politische Plakate. Dritte Stunde: Die Auseinandersetzungen, die zur Bildung der Regierung Hoffmann führen, werden anhand der stenographischen Landtagsprotokolle thematisiert. Ergänzend können Tollers Erinnerungen „Eine Jugend in Deutschland" herangezogen werden. Vierte Stunde: Die Proklamation der Räterepublik vom 7.4.1919 kann in vielfaltiger Form behandelt werden: Vortrag und Reproduktion des Faksimiles, Tagebuchaufzeichnungen von Viktor Klemperer vom 8.4.1919 und Gedichte von Erich Mühsam dienen als Ergänzung. Fünfte Stunde: Die Schüler informieren sich über die intellektuellen Exponenten und Gegner der Räterepublik anhand von Literaturlexika (Erich Mühsam, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Thomas Mann, Joseph Hofmiller, Ludwig Thoma, Harry Graf Kessler) und arbeiten mit Karikaturen aus dem „Simplizissimus". Sechste Stunde: Der „Rote Terror", der sich in der kommunistischen Räterepublik um Leviné/Levien verstärkte, wird anhand des Geiselmordes im Münchner Luitpoldgymnasium in einer szenischen Collage verdeutlicht. Siebte Stunde: Das abschließende Thema „Die militärische Liquidierung der Räterepublik" sollte durch Fotos, Gemälde und Zeichnungen und durch ein Gerichtsspiel anhand der Toller-Memoiren erschlossen werden. Ausgewählte

Uteratur.

K A R L - L U D W I G AY: Appelle der Revolution, München 1 9 6 8 ; Die Regierung Eisner 1 9 1 8 / 1 9 Ministerratsprotokolle ..., hg. v. FRAN/J. B A U E R , Düsseldorf 1 9 8 7 ; Bayern im Umbruch, hg. v. K A R L B O S L , München/Wien 1 9 6 9 ; D I E T H A R D H E N N I G , Johannes Hoffmann ..., München/London/New York/Paris 1 9 9 0 ; A L L A N MITCHELL, Revolution in Bayern 1 9 1 8 / 1 9 ..., München 1 9 6 7 ; M I C H A E L SELIGMANN, Aufstand der Räte ..., Grafenau 1 9 8 9 ; Geschichte des modernen Bayern ..., hg. v. M A N F R E D T R E M L , München 1 9 9 4 .

Dieter Rüssmeissl (Nürnberg)

Re-education unter der amerikanischen Militärregierung Die Erziehung der Deutschen zur Demokrade war mit hohem Anspruch auf der Potsdamer Konferenz festgelegt worden, blieb in der praktischen Politik der amerikanischen Militärregierung jedoch immer ein Aschenputtel. Ihr Ergebnis scheint dennoch über alle Er-

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Wartungen hinaus positiv. Die Frage nach den Gründen für diesen Widerspruch führt in breit gefächerte Felder politischer, ökonomischer und mentaler Befindlichkeit und eignet sich deshalb ideal für eine fächerübergreifende Annäherung. 1. Der Mythos der „Stunde Null" war als kontrafaktischer Generalhansens politisch

notwendig.

Die Bereitschaft der Deutschen, sich Vorträge über Demokratie in den Amerika-Häusern anzuhören, steht in unübersehbarem Kontrast zum Fortwirken nationalsozialistischer Wertvorstellungen. Die Wiederöffnung der Schulen ist weit mehr von der personellen wie institutionellen Restauration geprägt als vom Aufbruch zu neuen Ufern. Auch die US-Militärregierung selbst stand relativ ratlos vor dem Dilemma, den Deutschen Demokratie von oben verordnen zu sollen, und zog sich bald auf das vorsichtigere Ziel einer bloßen „reorientation" zurück. So läßt sich im Geschichtsunterricht (generell oder an lokalen Beispielen) aufzeigen, daß die „Stunde Null" zwar nie Realität war, als gewollter Grundkonsens von Siegern und Besiegten jedoch zur Basis künftiger Entwicklung wurde. 2. Oie „Stunde Null" als optimistische Ausgangsposition

der Intellektuellen.

Günter Eichs „Inventur" steht als lyrische Metapher für das Gefühl einer literarischen Generation, der alle vertrauten Begriffe abhanden gekommen sind, die sich fragen muß, ob denn Literatur nach Auschwitz überhaupt noch möglich sei. Aber schon die ersten Spielpläne der wiedereröffneten Theater lesen sich programmatisch, die Volkshochschulen erlebten einen nie geahnten Aufschwung, und zahlreiche Zeitschriften markierten — auch in Distanz zu den amerikanischen Behörden — den Abbruch des geistigen Ghettos. Eine von der üblichen Borchert-Lektüre abgesetzte Textauswahl im Deutschunterricht kann diese Aufbruchstimmung im Trümmermeer konkretisieren. 3. Soviel Anfang war nie ... Populäre Erwartungen an eine desolate Zukunft Aufbruchstimmung zeigt sich nicht nur bei den Intellektuellen, sondern erfaßt zunehmend das gesamte Kulturleben. Der Rundfunk sprengt dabei nicht nur durch eine endlich grenzüberschreitende Nachrichtenpolitik den völkischen Emotionspfuhl, sondern setzt auch im neuen Institut der Wunschkonzerte Sehnsüchte frei. Beispiele aus der populären Musikszene der Besatzungsjahre („Don't fence me in", „Rum und Coca Cola") können imM»sikunterricht den Zusammenhang von politischer Funktion, emotionaler Erwartung und amerikanischer re-education aufzeigen und damit auch den Unterschied in der politischpsychologischen Wirkung von Musik in der Gegenwart gegenüber dem 19. Jahrhundert deutlich machen. 4. Vom BDM ^ur Trümmerfrau: Die kleine Naturalwirtschaft

als ökonomische

Notlösung

Die Kriegsfinanzierung als Wechsel auf den Endsieg hat Markt, Geld und die Bedingungen einer marktwirtschaftlichen Preisbildung ruiniert. Der Naturaltauschmarkt ist die Folge. Er funktioniert für wenige prächtig, stellt aber die vor kaum lösbare „Organisations"Probleme, denen Kriegsverluste die „ursprüngliche Akkumulation" von Tauschwerten unmöglich gemacht haben. Die Beschäftigung mit dem Uberleben reduziert so in den Anfängen der Besatzungszeit die Volkswirtschaft auf die Hauswirtschaft. Organisatoren dieser Wirtschaft sind ganz überwiegend die Frauen. Auffällig traditionell kehren sie je-

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doch wieder in die alte Arbeitsteilung zurück, als die Männer heimkehren und die vertraute Makro-Ökonomie re-installieren - bereits mit tatkräftiger Hilfe der US-Militärregierung. In Wirtschafts künde lassen sich die Bedingungen der Marktwirtschaft an diesem oft ohnehin im Lehrplan mit verankerten Zeitraum vor der Währungsreform kontrastiv entwickeln. 5. Re-education: Die Stunde der Opportunisten Die Umerziehung, so wie sie OMGUS aufgetragen worden war, fand in dem kurzen Zeitraum zwischen Besatzung und gemeinsamer Frontbildung im beginnenden Kalten Krieg nicht statt. Die Erfolglosigkeit der amerikanischen Schulreform-Versuche symbolisiert dies deutlich. Die Solidarität der Mitläufer setzte sich weitgehend gegen die amerikanische Erziehungs-Kombination von Zuckerbrot und Entnazifizierungs-Peitsche durch. Dennoch konnten die Militärs 1949 ein leidlich demokratiefähiges Volk in die Teil-Staatlichkeit entlassen und sich auf die Aufsichtsposition am Petersberg zurückziehen. Dieser Erfolg ist freilich kaum als Ergebnis der Re-education zu werten, sondern resultiert aus der Attraktivität des ERP, dem sich die Besiegten durch individuelle wie politische Anpassung am sichersten nähern konnten. So war nicht die Demokratisierung, sondern der Marshall-Plan die eigendiche Grundlage der beginnenden west-deutschen Demokratie. Die wirtschafdiche Krise der 60er Jahre wird so konsequenterweise zum Auslöser einer Krise der Gesellschaft, die sich die Auseinandersetzung mit ihren politischen Grundlagen zunächst erspart hatte. Manfred Miimmler (Emskirchen)

Ludwig Erhard - Erste Schritte in eine freiheitliche Wirtschaftsgesellschaft Im Auftrag der „Reichsgruppe Industrie" erstellte Ludwig Erhard 1943/44 die Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung", die am Tage X als Grundlage für den Aufbau einer neuen deutschen Wirtschaftsordnung nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs" zur Verfügung stehen sollte. Dabei lehnte Erhard alle Verstaatlichungsideen grundweg ab, sondern forderte den Aufbau einer freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit basierte. Es war ihm wichtig, daß die zukünftige Friedenswirtschaft der „menschlichen Wohlfahrt" dienen sollte, denn nur auf diese Weise könne das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden. Durch diese Denkschrift war die amerikanische Militärregierung auf Erhard aufmerksam geworden. Durch ihre Repräsentanten wurde er aufgefordert, auf lokaler Ebene „Inventur" zu machen. Dabei empfahl sich Erhard den Amerikanern als Wirtschaftsexperte, so daß er im Oktober 1945 zum bayerischen „Staatsminister für Wirtschaft" im Kabinett des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner ernannt wurde. Fast alle lebensnotwendigen Güter waren vom regulären Markt verschwunden, praktisch alle Waren wurden „bewirtschaftet". Im Einvernehmen mit der Militärregierung erließ Erhard Verordnungen, um dieser Warenverknappung und dem Geldwertverfall entgegenzuwirken. Nach der Gründung der „Bizone" entschloß sich der Wirtschaftsrat, „eine dem Direktor der Verwaltung für Finanzen angegliederte Stelle" einzurichten, um die notwendigen Vorbereitungen für den geplanten Währungsschnitt voranzutreiben. Am 10. Oktober 1947

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nahm die „Sonderstelle Geld und Kredit" ihre Arbeit auf. Ludwig Erhard wurde zum Vorsitzenden dieser Sachverständigen-Kommission ernannt. Immer wieder griff er in die Diskussion um den Wiederaufbau und die Gesundung der wirtschaftlichen Zustände in Zeitungsartikeln und Rundfunkansprachen ein, machte aus seiner liberalen Gesinnung kein Hehl, distanzierte sich aber mit deudichen Worten von einer „einseitigen kapitalistischen Interessenvertretung", da diese die tragenden Prinzipien der gesunden marktwirtschaftlichen Ordnung untergrabe, wandte sich aber auch gegen sozialistische Ziele. Er stemmte sich vehement gegen die Vorstellung, daß die Zeit und ihre Umstände nach Planwirtschaft verlangten. Im März 1948 schied Erhard aus der Sonderstelle aus, da er zum „Direktor der Verwaltung für Wirtschaft" in Frankfurt gewählt wurde. In seiner denkwürdigen Programmrede vor der 14. Vollversammlung des Wirtschaftsrates forderte Erhard die sofortige Durchführung der Währungsreform. Sie sollte zur Grundlage geordneter Geldverhältnisse werden, so daß auch die menschliche Arbeit wieder einen Sinn bekäme. Er wies deutlich auf schmerzliche Strukturumschichtungen hin, die ohne Zweifel eine Art Schockwirkung haben würden. Das wirtschafdiche Handeln war seiner Meinung nach wieder auf mehr Selbstverantwortung abzustellen, und es galt, dem Wettbewerb unbedingten Vorrang einzuräumen. Nicht nur der harte Währungsschnitt vom 20. Juni 1948 war Voraussetzung für den Wiederaufbau einer neuen Wirtschaftsordnung, ebenso wichtig war für Erhard die Aufhebung der Bewirtschaftungspolitik. Da das heiß umkämpfte Leitsätzegesetz noch nicht in Kraft war, handelte Erhard ohne Rechtsgrundlage und auch ohne Genehmigung der Alliierten, als er kurzentschlossen die Bewirtschaftung einer Reihe von Gütern aufhob. Er baute auf seine These, daß die Währungs- und Wirtschaftsreform gleichzeitig durchgeführt werden müßten, damit Anbieter und Konsumenten Vertrauen in einen wirklichen Neuanfang gewinnen könnten. Durch diese Maßnahmen war Erhard sehr populär geworden. Auch Konrad Adenauer und seine Mitstreiter erkannten, daß sie in ihm einen Wirtschaftsexperten gefunden hatten, der auf die Massen überzeugend wirkte. Erhard erklärte sich bereit, die CDU-Landesliste in Baden-Württemberg anzuführen und stellte sich auch — als Parteiloser — der CDU als Direktkandidat für den Deutschen Bundestag zur Verfügung. Unermüdlich versuchte er, sein wirtschaftspolitisches Konzept den Bürgern nahezubringen. Er kämpfte für die CDU und die Soziale Marktwirtschaft, die damit fast zu Synonymen wurden. Als Adenauer denkbar knapp zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt worden war, erschien es fast als eine Selbstverständlichkeit, daß er Ludwig Erhard in das Amt des Wirtschaftsministers berief. Dieser Thematik kann man sich im Unterricht aus verschiedenen Perspektiven nähern: aus der historischen, wenn es grundsätzlich um die Rolle Erhards in der Wiederaufbauphase Bayerns, der Bizone und der Bundesrepublik Deutschland geht, aus der politischen, wenn die Mitwirkungs- und Entscheidungsbefugnisse eines deutschen Politikers im Beziehungsgeflecht der alliierten Besatzungsmächte, der politischen Parteien, der Verbände und regionalen Regierungsstellen im Zentrum stehen, oder aus der wirtschaftlich-sozialen Perspektive, wenn die Realisation der Sozialen Marktwirtschaft und die damit verbundenen Vorentscheidungen Erhards als Wissenschaftler, als bayerischer Wirtschaftsminister oder als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft vor allem beim Währungsschnitt und bei der Aufhebung der lähmenden Bewirtschaftungspolitik ins Blickfeld rücken.

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Die unterschiedlichen Perspektiven sollen dann - fächerübergreifend und fächerverbindend - ein komplexes Bild dieser „ersten Schritte in eine freiheitliche Wirtschaftsgesellschaft" ergeben.

Themenvorschläge für den Geschichtsunterricht — — — —

Allgemeine Analyse der Ausgangslage in Deutschland aus der Sicht Ludwig Erhards. „Der Staat fangt beim Landrat an": Die Aufbauarbeit in den Ländern — hier: Bayern. Die entscheidende Phase: Die Jahre 1948/49. Die Rolle der bizonalen Verwaltungsorgane — hier des Frankfurter Wirtschaftsrates beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland.

So^ialkundeunterricht — Die Auseinandersetzungen von Parteien und Verbänden am Beispiel des Untersuchungsausschusses im „Fall des bayerischen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard". — Die wirtschaftspolitische Konzeption im Wahlprogramm der CDU („Düsseldorfer I Leitsätze"). — Die Stärkung des Demokratisierungsprozesses durch die Erfolge in der Wirtschaftspolitik. — Der Gesetzgebungsprozeß unter der Kontrolle der Alliierten im Vergleich zur späteren Bundesrepublik. — Die sozialen Auswirkungen der Währungs- und Wirtschaftsreform: Infragestellen der Nivellierungs these. Unterricht im Fach Wirtschaftskunde — „Plan der Überführung der Kriegswirtschaft in eine neue Friedenswirtschaft" (Denkschrift Erhards von 1943/44). — Grundlagen und Auswirkungen der Währungs- und Wirtschaftsreform unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten. — Gründe für die Bewirtschaftungspolitik in der unmittelbaren Nachkriegszeit und ihre Aufhebung. — Die Vorstellungen Ludwig Erhards von einer sozialen Marktwirtschaft.

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44. Die Attraktivität von Geschichte: Im Geschichtsunterricht ein Opfer des staatlichen Pflichtprogramms? Leitung: Freya Stephan-Kühn (Mönchengladbach) Freya Stephan-Kühn (Mönchengladbach): Einführung Marko A. Otten (Eindhoven): Geschichtsmarketing: Werbung für ein faszinierendes Produkt innerhalb und außerhalb der Schule Gisbert Gemein (Köln): „Wenn man uns nur ließe!" — Geschichtslehrer aus Köln, Lille und Turin und das Projekt 'Europa von unten' Rolf Brütting (Dortmund): Geschichte im Film: Kann der Geschichtsunterricht daraus lernen? Hans Walter Hütter (Bonn): Wie bringt man Geschichte im Museum unter die Leute? Freya Stephan-Kühn (Mönchengladbach): Jugendbücher als Geschichtsbücher - Geschichtsbücher als Jugendbücher: Überlegungen und Anregungen einer Gratwanderin Freya Stephan-Kühn (Mönchengladbach)

Einführung Die Sektion ging der Frage nach, ob und gegebenenfalls was der Geschichtsunterricht mehr leisten könnte, wenn er nicht in das Korsett staatlicher Richtlinien und Lehrpläne eingezwängt wäre. Anlaß hierzu gab die Feststellung, daß befragte Schülerinnen und Schüler der Geschichte im Feld der Schulfächer selten einen hohen Rangplatz einräumen und daß da, wo Geschichte in der Oberstufe wählbar ist, diese Option nicht in einem Umfang wahrgenommen wird, der der Bedeutung des Faches entspricht. Andererseits hat Geschichte in Gesellschaft, Politik und Freizeit, sei es nun bei der Urlaubsplanung oder im FantasySpiel, durchaus Konjunktur. Das wissenschaftliche Ethos des Geschichtslehrers wie auch der hohe theoretische Anspruch der meisten Richtlinien- und Lehrplanwerke verhindern aber oft die Offenheit gegenüber tatsächlich oder scheinbar popularisierten Formen des Umgangs mit Geschichte. Die Sektion hatte in dieser Hinsicht keine Berührungsängste. Sie sollte untersuchen, welches Potential in Zugängen zur Geschichte steckt, die jenseits von Lehrplanzwängen ohnehin auf Schülerinnen und Schüler einwirken, und wie dieses Potential für den Unterricht nutzbar gemacht werden könnte, ohne die berechtigten Skrupel der Geschichtslehrerinnen und -lehrer zu vernachlässigen.

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Marko A. Often (Eindhoven)

Geschichtsmarketing: Werbung für ein faszinierendes Produkt innerhalb und außerhalb der Schule In den niederländischen Stundentafeln ist für die Schülerinnen und Schüler ein großer Freiraum vorgesehen. Nur in den unteren drei Jahrgangsstufen der Schule für die Zwölfbis Achtzehnjährigen ist der Geschichtsunterricht verbindlich. Im Alter von fünfzehn Jahren fällt die Verpflichtung fort, Geschichte wird zum Wahlfach und konkurriert dabei mit vielen anderen Fächern. Außerdem kam es in den letzten Jahren häufig zu Sparmaßnahmen im Bereich des Unterrichts. Es drohten Einschränkungen am Stundenplan und gar die Beseitigung des Faches in den unteren und oberen Stufen. Im Erwachsenenunterricht war die Situation noch schlimmer. Geschichte kann sich in den Niederlanden leider nicht länger wie selbstverständlich auf dem Stundenplan behaupten. Diese Lage forderte einen historischen Umbruch, eine neue Mentalität der Geschichtslehrer. In dieser Situation wurde das Geschichtsmarketing ins Leben gerufen. Instrumente und Strategien hierfür entwickelten sich aber nicht von selbst. Die VGN, die Vereinigung der niederländischen Geschichtslehrer, ergriff die Initiative und organisierte Tagungen und Kongresse zur Sache. Der Referent, Vorstandsmitglied des Geschichtslehrerverbandes, wurde mit der Aufgabe „Public Relations und Marketing" beauftragt und nahm diese von 1990 bis 1995 wahr. Die Werbung wurde zentral angekurbelt, und im Bereich der Landespolitik wurde eine Lobby organisiert. Die Presse wurde mit einbezogen. Der Beitrag handelte von diesem Umbruch und bezog sich auf konkrete Wahlentscheidungen. Er stellte das VGN-Marketinginstrumentarium im breitesten Sinne vor und berichtete über Erfolge und Mißerfolge, aus denen möglicherweise interessante und übertragbare Schlußfolgerungen zu ziehen sind. Gisbert Gemein (Köln)

„Wenn man uns nur ließe!" - Geschichtslehrer aus Köln, Lille und Turin und das Projekt 'Europa von unten' Der Vortrag berichtete über ein in Europa einmaliges Projekt. Seit 1990 führen Geschichtslehrer aus Köln, Lille und Turin im Rahmen der Städtepartnerschaft Kongresse zu gemeinsam interessierenden Themen der Geschichte durch. Inhaltlich waren diese als Lehrerfortbildung konzipiert, die sich in einer Anfangsphase mit dem Vergleich der Richtlinien und Curricula, der Schulbücher und Lehrerausbildung beschäftigte. Der gegenseitige Besuch von Unterricht führte zu einer intensiven Diskussion der didaktisch-methodischen, aber auch der dahinter stehenden grundsätzlichen pädagogischen Konzeptionen. Dabei war nicht verwunderlich, daß sich auf der fachwissenschaftlichen Ebene die geringsten Unterschiede ergaben, weil alle auf die gleiche wissenschaftliche Literatur zurückgriffen. Die Gemeinsamkeit bei vielen fachdidaktischen Grundbegriffen differenzierte sich in eine Vielheit ihrer jeweiligen 'nationalen' Interpretation, zeigte erhebliche Unterschiede im je-

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weiligen Zugriff, vor allem aber in der methodischen Umsetzung, wobei die Italiener oft eine Mittelposition zwischen „schülerorientierten" Deutschen (mit unterschiedlichen Sozialformen von Unterricht) und „lehrerzentrierten" Franzosen (mit dominierendem Lehrervortrag) bildeten. Die vergleichende Diskussion von Unterrichtsentwürfen, vor allem aber die Analyse und Bewertung von konkreten Stunden nach den Maßstäben und Standards des anderen Landes öffneten Perspektiven, Provinzialismus zu überwinden. Denn nach den NRW-Maßstäben von Unterricht, die die Kölner Kollegen mehr oder weniger vertraten, müßten die Franzosen längst auf den Stand eines Drittweltlandes abgesunken sein, während umgekehrt unsere französischen Kollegen bei uns die massiv ausgeprägte Gefahr der Indoktrination und des Nichtwissens vermuteten. Während auf dem ersten Kongreß in Turin 1990 die Erfahrung der Unterschiede vorherrschte, haben die Jahre der Zusammenarbeit über inzwischen gewachsene persönliche Freundschaften allgemein zu Formen gegenseitigen Verstehens und Lernens geführt. Da zu den regelmäßigen Kongreßteilnehmern aller Delegationen Schulbuchautoren gehören, haben Einzelergebnisse schon Eingang in deren Bücher gefunden. Dies zu systematisieren, ist der derzeitige Stand der Arbeit: Die ursprüngliche Konzeption einer Lehrerfortbildung, die durch Systemvergleich zu gegenseitigem Verstehen führen sollte, ist längst von der Konzeption eines Arbeitskongresses überlagert, der — in das europäische SocratesProgramm eingebettet — sich der Erarbeitung didaktischer Modelle und Materialien für einen europäischen Geschichtsunterricht widmet. Wenn Europa viel zu wichtig ist, um es Politikern allein zu überlassen, wenn „Europa nur von unten wachsen kann" (Kölns OB Burger zu den Prinzipien Kölner Städtepartnerschaften), dann dürfen auch Geschichtslehrer 'europäischen Geschichtsunterricht' nicht allein Ministerialreferenten überlassen. Köln, Lille und Turin setzen hier ein Zeichen. Rolf Brütting (Dortmund)

Geschichte im Film: Kann der Geschichtsunterricht daraus lernen? Die Darstellung und Untersuchung der 'objektiven' Gegebenheiten und 'materiellen' Strukturen gilt als klassisches Paradigma des Geschichtsunterrichts, ergänzt und vertieft durch Alltags- und Geschlechtergeschichte. Kaum berücksichtigt wurde bislang die Mentalitätsgeschichte: Gesellschaftliche Erfahrung konstituiert sich auch in Symbolsystemen, in denen und durch die gesellschaftliche 'Wirklichkeit' auf je eigentümliche Art und Weise 'gewußt' wird. Solche Mentalitäten - von scheinbaren kulturellen Selbstverständlichkeiten bis zu an sich abstrakten Legitimationstheorien - sind vor allem durch die Bilder und Vorstellungen, die Großgruppen von sich und der 'Welt, aus der sie kommen' und ihren Zukunftshoffnungen oder -ängsten haben, erschließbar. Diese symbolischen Sinnwelten ordnen die subjektiven Deutungsversuche der persönlichen Erfahrung, bergen allerdings durch die manipulativen Möglichkeiten der Bewußtseinsindustrie die dauernde Gefahr der unmerklichen Entfremdung in sich. Gerade der Geschichtsunterricht muß bestrebt sein, die raffinierte Machart vieler Geschichts-Filme ins Bewußtsein zu heben und damit gegen sie zu immunisieren. Dies kann nur gelingen, wenn die jeweilige Wirkungspsychologie der Filme, ihre affektiven

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Identifikationsangebote und ihre oft subtile Verweisstruktur reflektiert werden und die Überwältigung durch filmische Qualität in kritische Distanz zum historischen Gegenstand umgeformt, der Unterhaltungswert durch den Bildungswert ersetzt wird. Besonders bewegte Bilder glaubt man ohne Lernvoraussetzungen lesen zu können, aber das Produkt erklärt sich nicht von selbst; notwendig ist eine Doppeidecodierung von Bild und Sprache im Sinne einer Visual literacy'. Im Aufklärungsdiskurs sind also soziologischpolitische wie psychologisch-mythische und ästhetisch-semiotische Probleme zu erörtern. An der Überredungs-Dramaturgie des Films in der NS-Zeit wurde dies exemplifiziert und wurden Thesen zur Bedürfnisstruktur des Publikums wie ein Katalog manifester rechtsextremer Inhalte entwickelt. Hans Walter Hütter (Bonn)

Wie bringt man Geschichte im Museum unter die Leute? Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigt in seiner Dauerausstellung deutsche Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart — besucherfreundlich und erlebnisorientiert. Das zeithistorische Museum moderner Prägung spricht die 'Alltagsmenschen' - Besucher jeden Alters, unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft sowie verschiedener Bildungs- und Erfahrungshorizonte - in ihrer Lebenswirklichkeit an und will ihnen so historische Themen näherbringen. Das Museum will Kenntnisse über die jüngste Zeitgeschichte vermitteln und zur Diskussion anregen. Hierzu werden Objekte - Gegenstände, Fotos, Dokumente und AV-Medien - lebendig in Szene gesetzt. Eine differenzierte Vermittlungszielhierarchie hilft, dem Besucher je nach Vorwissen, Zeitbudget, Interessenlage etc. individuell Zugang zu den vielschichtigen Themen zu ermöglichen. Die Einbeziehung moderner audio-visueller Medien ist unumgänglich: Einerseits sind sie selbst historische Quellen, andererseits können zeitgeschichtliche Zusammenhänge ohne Film- und Tondokumente nicht authentisch vermittelt werden. Neben der permanenten Präsentation regen Wechselausstellungen zu unterschiedlichen Themen das breite Zielpublikum immer wieder zu erneutem Besuch an. Hinzu kommen zahlreiche Veranstaltungen und museumspädagogische Aktivitäten, die das Haus der Geschichte auch für Zielgruppen, die gemeinhin nicht als typisches Museumspublikum gelten, attraktiv machen. Der Europarat verlieh dem neuen Museum wenige Monate nach der Eröffnung seinen Museumspreis für das Jahr 1995 - neben den hohen Besucherzahlen in Dauer-und Wechselaustellungen, dem großen Medienecho und dem nachhaltigen Interesse in der Fachwelt Anerkennung für die Bemühungen, Geschichte im Museum als Erlebnis zu präsentieren. Zur begleitenden Lektüre bietet das Haus der Geschichte sowohl zur Dauerausstellung wie auch zu den jeweiligen Wechselausstellungen Publikationen an, die themenspezifisch und leserfreundlich ein möglichst breites Publikum ansprechen. Zur vertiefenden fachlichen Diskussion publiziert das Haus der Geschichte drei Reihen: „Nach-Denken", „Zeit-Fragen" und „Museums-Fragen". Ein viermal im Jahr erscheinendes Museumsmagazin informiert über aktuelle Ereignisse, Hintergründe und neue Entwicklungen in der Museumswelt. Seit einigen Monaten bietet der Museumsshop - gemeinsam mit dem Museumscafé ein wesentliches Merkmal eines besucherorientierten Hauses — neben den üblichen Postkar-

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ten- und Diareihen auch ein VHS-Video zur Dauerausstellung an. Gemeinsam mit dem Klett-Verlag entsteht eine CD-ROM mit dem Titel „Deutschland seit 1945", die sich in Struktur und inhaklichen Schwerpunkten eng an der Dauerausstellung des Hauses der Geschichte orientiert. Eine CD mit Tondokumenten - wie die CD-ROM auch für den Einsatz im Geschichtsunterricht geeignet - ist in Vorbereitung. Aktuelle Hinweise über die Ausstellungen und das umfangreiche Programm des Museums bieten nicht nur die Informationsterminals im Foyer, sondern auch die ständige Präsentation im Internet. Die museumspädagogischen Materialien sind für die ersten Themenschwerpunkte erstellt und wurden mit Lehrerinnen und Lehrern verschiedener Schulformen erprobt sowie mit Vertretern von Lehrerverbänden diskutiert. Eine offensive Presse- und Öffendichkeitsarbeit helfen mit, Ziele und Themen zu publizieren, das Museum als Diskussionsort für zeithistorische und gegenwärtige Fragen im Gespräch zu halten. Ferner bietet das Haus der Geschichte in seinem Informationszentrum — Bibliothek und Mediathek — ergänzend zu den Ausstellungen an, sich vertiefend mit zeithistorischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Das Angebot des Museums wird schließlich erweitert durch ein individuelles Besucherbegleitsystem, das für die Dauerausstellung im Uberblick wie auch für thematisch orientierte Schwerpunkte zusätzliche Erläuterungen und Tondokumente anbietet. Die Dauerausstellung und das Angebot des Hauses werden seit der Eröffnung aktualisiert und fortentwickelt. Ergebnisse aus umfangreichen Evaluationen bilden hierfür eine wichtige Basis. Freya Stephan-Kühn (Mönchengladbach)

Jugendbücher als Geschichtsbücher — Geschichtsbücher als Jugendbücher: Überlegungen und Anregungen einer Gratwanderin Im Prinzip haben Schul- und Jugendbücher das gleiche Interesse und den gleichen Adressatenkreis: Sie wollen Geschichte an Jugendliche vermitteln. Dennoch scheint die Kluft, jedenfalls von einer Seite, unüberbrückbar. Die Jugendbuchverlage allerdings arbeiten daran: Klassensätze sind lukrativer als der mühselige Einzelverkauf. Ganze Reihen zielen bewußt auf den Sachunterricht der Grundschule; im Taschenbuchsektor fehlt ein Roman wie Damals war es Friedrich — mit Recht — in kaum einer Lektüresammlung. Andererseits hat offensichdich kein Schulgeschichtsbuch eine Chance, sich ein Segment auf dem allgemeinen Buchmarkt zu erobern. Das liegt unter anderem an den Produktionsbedingungen dieser Bücher. Fachwissenschaft, Lehrpläne, tatsächliche oder antizipierte Vorbehalte von Zulassungskommissionen, Spezialgebiete der Mitglieder des Lehrbuchteams, Vorgaben des Verlags usw. zwingen zu zahlreichen Kompromissen. Kreative Ansätze, im Team zuerst begeistert begrüßt, werden zugunsten unerläßlicher Fachinformation gestutzt und schließlich ganz gestrichen, um kein Risiko mit einer im Lehrplan nicht ausdrücklich erwähnten Methode einzugehen. Die fertigen Produkte genügen in der Aufmachung höchsten Qualitätsansprüchen, sind fachwissenschaftlich nicht zu beanstanden und überzeugen durch Lehrplankonformität, sind aber nach der Einschätzung ihrer Adressatinnen und Adressaten langweilig.

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Demgegenüber sind die Autorinnen und Autoren von Jugendbüchern viel freier, eigene Vermittlungsvorstellungen zu verwirklichen (und eigene Fehler zu machen). Sie unterliegen nicht dem Zwang, Arbeitsaufgaben zu entwerfen — müssen diese eigendich im Lehrbuch sein? —, sie können vielfältige Formen der Erzählung nutzen, sie brauchen bei der Auswahl ihrer Gegenstände nicht auf wirklich Interessantes zu verzichten, weil es nicht im Lehrplan steht. Sie müssen sich einem Leser-Markt, nicht einem Vermittler-Markt stellen und sind, wenn sie hier erfolgreich sind, näher am Jugendlichen als die Lehrbücher. Das führt dazu, daß etwa zwanzig gut ausgewählte und mit Freude gelesene Jugendbücher zu historischen Themen vermutlich ein umfassenderes und haltbareres Geschichtsbild aufbauen würden als der Geschichtsunterricht mit seinem Glauben an kontrollierten Wissenszuwachs. Dies kann nicht in unserem Interesse liegen. Wir sollten grundsätzlich noch einmal darüber nachdenken, was wir mit Schulgeschichtsbüchern wollen. Das projektorientierte Lernen beweist es: Es gibt einen Unterricht auf der Basis von Materialien, die nicht durch die mehr oder weniger sanfte Zensur der Lehrbuchzulassungskommissionen und die intensive Diskussion in den Fachkonferenzen vorsortiert sind, ja die sich sogar einer VorabSichtung durch die Unterrichtenden entziehen. Dennoch sind die Ergebnisse mit unserem fachwissenschaftlichen Gewissen zu vereinbaren. Der Geschichtsunterricht sollte sich weniger mit der Frage beschäftigen, was unbedingt auf den Weg zu den Lernenden gebracht werden muß, als vielmehr damit, was bei den Rezipienten ankommt und dort in bleibenden Besitz übergeht und ein fest verwurzeltes Interesse an historischen Fragestellungen verankert. Dazu dient ein Blick über den Tellerrand des Schulgeschichtsbuches auf den Jugendbuchmarkt mit seinen vielfältigen Angeboten, die Lust auf Experimente und neue Wege machen.

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PREISVERLEIHUNG

Verleihung des Preises fur „hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses" des Verbandes der Historiker Deutschlands Laudatio auf den Preisträger Privatdozent Dr. Winfried Schmitz von Prof. Dr. Peter Funke Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einheit der Geschichtswissenschaft droht ins Gerede zu kommen. Wer in der letzten Zeit die schul- und hochschulpolitischen Debatten um die Effektivierung von Studiengängen und die Entrümpelung der Lehr- und Lerninhalte mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, daß in zunehmendem Maße einer epochalen Zersplitterung und einer räumlichen und zeitlichen Beschneidung unseres Faches das Wort geredet wird. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, daß nach einhelligem Urteil und einstimmigem Votum der „Preis für hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses", den der Verband der Historiker Deutschlands zum vierten Mal vergibt, erstmalig einem Althistoriker zuerkannt wurde. Ich halte dies für ein ermunterndes Zeichen, das auch nach außen hin den unabdingbaren Zusammenhalt aller historischen Teildisziplinen deutlich werden läßt. Die heute auszuzeichnende Freiburger Habilitationsschrift über „Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland" von Herrn Winfried Schmitz verdeutlicht in diesem Sinne paradigmatisch die gemeinsamen, epochenübergreifenden Grundlagen historischen Forschens. Die historisch-anthropologisch angelegte Untersuchung zeigt auf besonders gelungene Weise, wie Theorien und Denkmodelle, die für andere Räume und Zeiten entwickelt wurden, durch einen komparatistischen Ansatz auch auf die Alte Geschichte ertragreich Anwendung finden können — und auch vice versa fruchtbar zu werden versprechen. Winfried Schmitz gewinnt seine Fragestellungen und Ergebnisse in ständigem Vergleich mit anderen Gesellschaften, ohne jedoch der Gefahr zu erliegen, durch vorschnelle Analogieschlüsse Informationen zu ergänzen, die das verfügbare Quellenmaterial nicht hergibt. Was die Arbeit u.a. auszeichnet, das ist der sichere methodische Zugriff, mit dem die Übertragbarkeit und die Tragfähigkeit der rezipierten Deutungsmuster durch den steten kritischen Rekurs auf die Quellen überprüft und nachgewiesen werden. Winfried Schmitz hat mit seiner Arbeit Neuland betreten für eine an sich bereits viel behandelte Epoche der Alten Geschichte; es ist ihm gelungen, einen Ausweg aus der Sackgasse zu weisen, in die die Erforschung der griechischen Sozialgeschichte geraten ist. Für die Diskussion über die gesellschafdichen Strukturen im archaischen Griechenland hat sich in den vergangenen Jahren eine gewisse Aporie ergeben: Das alte, noch von den romantisierenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägte Bild von einem festgefügten, gentilizisch strukturierten Geschlechterstaat als die Archaik prägendes Merkmal wurde zu Recht endgültig verworfen; statt dessen hat sich nunmehr die Vorstellung herausgebildet,

LAUDATIO

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daß das Grundmuster der archaischen Gesellschaftsordnung durch die einzelnen oikoi, „Häuser", von Adligen und Bauern bestimmt worden sei, die je für sich unabhängige und eigenständige, auf Autarkie ausgerichtete soziale Einheiten gebildet und in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander gestanden hätten. Weitgehend unbeantwortet blieb in diesem interpretatorischen Neuansatz allerdings die Frage nach den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Ausbildung oikosübergreifender Vergesellschaftungsformen und für die damit einhergehende Genese der antiken Polis; die Frage also, wie es aus der angenommenen, ungefugten Vereinzelung der archaischen Zeit zu der beachtlichen inneren Kohäsion der klassischen Polis kommen konnte. Für das - schon in der aristotelischen Politik thematisierte — Spannungsgefüge zwischen oikos und polis war bisher noch kein hinlänglich befriedigender Lösungsansatz gefunden worden. Hier weist Winfried Schmitz mit seiner Arbeit der Forschung neue Wege, indem er sich auf der Suche nach Gemeinschaftsbewußtsein aus der einseitigen Fixierung auf den griechischen Adel löst und den Blick verstärkt auf die Schicht der nichtadligen Bauern richtet, deren gesellschaftlichen und politischen Interaktionsrahmen er in das Zentrum seiner Untersuchung stellt. Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft in der bäuerlichen Gesellschaft dienen hierbei als Schlüsselkategorien und werden als entscheidende soziale Konfigurationen für die Vergesellschaftung in der griechischen Archaik aufgefaßt. Es gelingt so, die archaische Gesellschaft außerhalb der Adelswelt schärfer zu konturieren und das Bild einer sehr differenzierten dörflichen Gemeinschaft zu entwerfen: Während die adligeno/^o/ aufgrund ihres Reichtums und der damit verbundenen dauernden Verfügbarkeit über einen vergleichsweise großen Personalbestand quasi autark und eigenständig waren, waren die nichtadligen Bauern in einem weitaus höherem Maße auf das Funktionieren einer dörflichen Solidargemeinschaft angewiesen. Nachbarschaft definiert sich in einem solchen Kontext nicht über bloß räumliche Nähe, sondern faßt alle diejenigen nichtadligen Bauern zusammen, die über einen eigenen oikos im Dorf verfügen. Winfried Schmitz entwickelt das „Modell einer zweigeteilten Gesellschaft" und löst auf diese Weise die bäuerliche Schicht aus der Abhängigkeit vom Adel und weist ihr einen besonderen eigenständigen Stellenwert im Rahmen des Vergesellschaftungsprozesses der archaischen Zeit zu. Im Gegensatz zur landläufigen Forschungsmeinung kann er nachweisen, daß die Schicht der nichtadligen Bauern vom adligen Normensystem grundsätzlich zu unterscheidende, eigenständige Wertvorstellungen ausgebildet hatte, denen eine bisher weit unterschätzte, stark normsetzende Kraft zukam, die sich dann auch entscheidend auf den Prozeß der Poüs-Genese auswirkte. Es ist ein besonderes Verdienst der Arbeit, dieses bäuerliche Werte- und Normensystem aus dem überaus spröden und disparaten Quellenmaterial herausdestilliert zu haben. Durch die Anwendung von Methoden und Interpretationsansätzen auch aus den Nachbardisziplinen — insbesondere aus der Volkskunde, der Agrarsoziologie und der historischen Sozialanthropologie - werden die Zeugnisse der Zeit ganz neu zum Sprechen gebracht. Winfried Schmitz vermag überzeugend nachzuweisen, daß insbesondere den Werken Hesiods und Teilen der frühgriechischen Lyrik in starkem Maße bäuerliche Sprichwörter und Regeln zugrunde liegen und diese Dichtungen damit ein Spiegel des die bäuerliche Dorfgemeinschaft bestimmenden Normensystems sind. Es läßt sich ein enges, den gesamten Rhythmus der bäuerlichen Existenz mit starren Rollenvorgaben regelndes Normensystem fassen, das als konsequenter Ausdruck einer Nothilfegemeinschaft erscheint, die

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PREISVERLEIHUNG

infolge der ökonomischen Beengtheit eben nur funktionieren konnte, wenn sie mit hohen Anforderungen an die Berechenbarkeit, Verläßlichkeit und nicht zuletzt den permanenten Arbeitseinsatz aller Beteiligten verknüpft ist. Zu Recht stellt Winfried Schmitz die besondere Bedeutung dieses bäuerlichen Normen- und Regelsystem für die Ausbildung der frühen Polisverfassung heraus, indem er überzeugend darlegen kann, in wie starkem Maße die Gesetzgebung der archaischen Zeit von Rechtsbräuchen abhängig war, die sich bereits lange vor der schrifdichen Kodifizierung herausgebildet hatten und deren Ursprünge offenkundig in den sozialen Bedingungen der von ihm charakterisierten bäuerlichen Dorfgemeinschaft zu finden sind. Ein herausragender Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang der eingehenden Untersuchung der Rügegebräuche und Schandstrafen im archaischen und klassischen Griechenland zu. In diesem Kernstück seiner Arbeit läßt Winfried Schmitz die Traditionen der archaischen Gesetzgebung in einem ganz neuen Licht erscheinen und kann die Abhängigkeit vieler Gesetze und Rechtsverfahren von älteren Rechtsbräuchen nachweisen. Als gemeinschaftsstiftende Regulative und zugleich auch als Zwangsmittel zur Einhaltung der Regeln der bäuerlichen Solidargemeinschaft geben die Rügegebräuche wichtige Aufschlüsse über die Entstehung von Vor- und Frühformen von Staatlichkeit. Die teilweise Überleitung dieser Rügegebräuche und Schandstrafen in reguläre Prozeßverfahren stellt sich dann als ein entscheidender Schritt bei der Ausformung von Polisstaatlichkeit dar, an der die Bauern als normbildende und normtragende soziale Schicht einen großen, bisher unbeachteten Eigenanteil hatten. Winfried Schmitz hat mit seiner Arbeit ein solides Fundament für eine neue Sicht der sozialen und staatlichen Entwicklung nicht nur im Griechenland der archaischen und klassischen Zeit gelegt. Ausgehend von der Alltags- und Familiengeschichte hat er neue Ansätze zu den Grundlagen der antiken Politik-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte entwickelt und von dort eine Brücke geschlagen zur systematischen und historischen Sozialwissenschaft. Er hat eine in der Tat wegweisende Untersuchung vorgelegt, von der man sicher sein darf, daß sie im eigentlichen Sinne des Wortes an-stößig wirken wird. Wir gratulieren Ihnen, Herr Schmitz, und uns zu diesem Werk und zu dieser Leistung.

ÄGYPTEN ALS ARGUMENT

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Abendvortrag Prof. Dr. Jan Assmann

Ägypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskrkikim 17. und 18. Jahrhundert (Zusammenfassung) Die Grenzen zwischen Wahrheit und Unwahrheit bzw. Heil und Verdammnis, die von den Offenbarungsreligionen und ihren verschiedenen Glaubensrichtungen gezogen werden, erwiesen sich in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts als tödlich. In den Debatten, die um eine .Überwindung dieser ausgrenzenden Religionsform kreisten, spielte Ägypten eine zentrale Rolle. Die altägyptische Kultur wurde als historischer Kontext der mosaischen Gesetzgebung erforscht, hieß es doch, daß Moses „in aller Weisheit der Ägypter unterrichtet worden war" (Apg 7,22). Schon der jüdische Philosoph Maimonides (1135-1204) hatte die als unbegründbar geltenden Ritual- oder „Zeremonialgesetze" der Juden (buqqîm, leges caeremomales) aus dem historischen Kontext heraus erklären wollen (Führer der Unschlüssigen, 1190) und sie als eine Umkehrung und Umwidmung heidnischer „Idolatrie" erklärt. Diese Frage nach dem historischen Kontext führte aber bei ihm ebensowenig wie bei Thomas von Aquin (1224—1274), dessen Traktat De legibus in der theologischen Summa Maimonides' Theorie von christlicher Seite aufgreift und weiterführt, zu einer durchgreifenden Historisierung der Offenbarung. Davor schützte sich Maimonides durch seine philosophische Verallgemeinerung des Begriffs „Idolatrie", die er als eine zeitlose, auch nach dem Ende des Heidentums fortbestehende Gefährdung der wahren Gotteserkenntnis erklärte, während Thomas von Aquin zwar das Gesetz durch Christus aufgehoben sah, aber nicht die Grenze zwischen „heiliger" und „profaner" Geschichte. Erst der englische Hebraist John Spencer (1630—1693), der in seinem Werk De Legibus Hebraeorum Ritualihus et Barum Rationibus (1685) das Projekt des Maimonides wieder aufgriff und für jede einzelne der zahllosen Ritualbestimmungen der Torah eine historische Erklärung vorlegte, führte eine tiefgreifende Relativierung des Offenbarungsbegriffs herauf. Spencer hatte im Unterschied zu Maimonides den historischen Kontext der Gesetze nicht bei den imaginären „Sabiern", sondern bei den soviel besser bezeugten Ägyptern gesucht. Aus antiken, patristischen und rabbinischen Quellen konnte er - 200 Jahre vor Sir James Frazer und William Robertson Smith — eine solche Fülle von Informationen über ägyptische und sonstige „heidnische" Riten zusammentragen, daß praktisch jeder biblische Ritus eine Parallele in der Religionsgeschichte fand. Vor allem ergänzte Spencer Maimonides' Prinzip der „normativen Inversion", demzufolge sich die Mosaischen Gesetze in Kontradistinktion zu den Riten der Heiden erklären, durch das Prinzip der „Translation", das sie umgekehrt als Übernahme und Weiterbildung einer schon den Heiden erschlossenen Wahrheit versteht. Von den Deisten und Freidenkern wurde Spencers Beitrag, vielleicht gegen seine eigenen Absichten, als der Nachweis verstanden, daß die mosaischen Institutionen von den Ägyptern übernommen worden waren, was ihnen wiederum als Argument in ihrem Kampf für Toleranz und den Abbau religiöser Ausgrenzung galt. Besonders bedeutsam war in diesem Zusammenhang der Begriff des Mysteriums. Schon Spencer hatte erklärt, daß es Gott darauf ankam, einen Mann zum Medium seiner Gesetz-

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ABENDVORTRAG

gebung zu berufen, der in der „hieroglyphischen Literatur" zuhause ist. Auch die Gesetze sollten „hieroglyphisch" sein, indem sie eine „fleischliche" Außenseite - die scheinbar irrationalen Opfer- und Reinheitsvorschriften — mit einer „spirituellen" Innenseite verbanden. Daraus entwickelte sich, insbesondere bei den Freimaurern, das Modell der Mysterienreligion. Der Philosoph und Illuminât K.L. Reinhold berief sich 100 Jahre nach Spencer auf dessen Thesen, um auch den biblischen Monotheismus selbst als eine Mysterienreligion zu deuten (Die hebräischen Mysterien oder die älteste Freymaurerej, 1788). Die Wahrheit war und blieb immer die Sache Weniger, die sie im Schutze des Geheimnisses überlieferten. Hinter „Isis" und „Jehovah" verbarg sich ein und dieselbe namenlose Gottheit, das „wesendiche Daseyn". Reinholds Freund Friedrich Schiller griff diese Deutung auf (Die Sendung Moses, 1790) und machte Moses zum Verräter der ägyptischen Mysterien. Die ägyptischen Weisen hätten den erhabensten Begriff von der allumfassenden Einheit der bild- und namenlosen Gottheit gefunden und im Schutz ihrer hieroglyphischen Kryptographie den Wenigen übermittelt, die stark genug waren, diese Einsicht fassen zu können. Dieses höchste Mysterium habe Moses seinem Volk vermitteln wollen. Dabei habe er aber, da er ja nicht an die Einsicht der wenigen Berufenen appellieren, sondern nur auf den blinden Glauben und Gehorsam der Masse bauen konnte, die erhabene Reinheit der Gottesidee zum Bild eines für sein Volk eifernden Nationalgottes verfalschen müssen, um darauf ein Volk und einen Staat gründen zu können. Die Ägypter aber waren der Wahrheit am nächsten gekommen, bevor sie bei ihnen zur reinen Geheimniskrämerei degenerierte. Der Begriff der Offenbarung wurde schrittweise ersetzt durch den der Einweihung. An die Stelle exklusiver Wahrheit trat die Idee eines Lernprozesses (Die Erziehung des Menschengeschlechts, Lessing), der die zunächst nur den Weisen und Philosophen zugängliche Einsicht in die Gottesbedingtheit der Welt letztendlich zum Gemeinbesitz der Menschheit werden läßt und alle Menschen zu Brüdern macht. Die Wahrheit ist jedoch nie anders als verschleiert in Bildern, Mysterien und symbolischen Riten zu haben und in dieser Hinsicht sind sich alle Religionen ebenbürtig. Damit war die Grenze zwischen „Heidentum" und „Offenbarung" eingerissen. Mit der Entstehung der Ägyptologie als historisch-kritischer Wissenschaft hat sich dieses erhabene Bild eines esoterischen Urmonotheismus aufgelöst. Dafür hat archäologische Quellenforschung jedoch untrügliche Nachweise einer real existierenden monotheistischen Revolution gebracht, die der Ketzerkönig Amenophis IV. — Echnaton im 14. Jahrhundert v.Chr. für 20 Jahre durchgesetzt hatte. Diese Entdeckung war für Sigmund Freud der Anlaß, in seinem letzten Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) nochmals die These vom ägyptischen Ursprung der mosaischen Offenbarungsreligion aufzugreifen. Auch Freud ging es mit diesem Argument um ein Plädoyer für Toleranz. Er führte den mörderischen Judenhaß, der in der nationalsozialistischen Judenverfolgung bislang unbekannte Ausmaße annahm, auf den Monotheismus zurück und glaubte den Konflikt durch radikale Historisierung der „monotheistischen Religion" analysieren und entschärfen zu können. Veröffentlichungshinweis·. Der Vortrag erscheint in vollständiger und mit Anmerkungen versehener Form in: Historische Zeitschrift 264, Heft 3,1997.

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Schlußvortrag Prof. Dr. Lothar Gall

Das Argument der Geschichte Die herausfordernde, stellen- und existenzbedrohende Frage „Wozu noch Historie?" ist weitgehend verstummt. Das Fach erfreut sich im Kreis der Wissenschaften wie in der Öffentlichkeit der Anerkennung und des Zuspruchs. Auch Bereiche, die längere Zeit, zumal innerwissenschaftlich, eher etwas im Schatten standen, stoßen, begünstigt nicht zuletzt durch den unerwarteten Gang der Ereignisse, zunehmend auf Resonanz: die sogenannte Ereignisgeschichte, die Geschichte der internationalen Beziehungen, die Geistesgeschichte, die Geschichte von Religion und Kirche. Aber so erfreulich dieser Befund für das Fach als Ganzes und für seine Stellung in der Öffentlichkeit und im Kreis der Wissenschaften ist: Die Frage „Wozu (noch) Historie?" ist so aktuell wie eh und je. Ja, sie stellt sich vielleicht heute noch dringlicher als zu den Zeiten einer verstärkten Infragestellung des Faches, der Disziplin von außen in den 1960er und 1970er Jahren. Fukuyamas in der Diskussion vielfach ins Banale verdrehte These vom „Ende der Geschichte" enthielt und enthält ja durchaus einen wahren Kern, auch wenn ihr Autor mit seiner optimistischen Blauäugigkeit ihrer konsequenten Entfaltung eher im Wege stand. Denn in der Tat ist das, was die Geschichte als eigenständige Wissenschaft zunächst konstituierte und begründete und ihr über anderthalb Jahrhunderte ihren außerordentlichen Einfluß auf das Weltbild und das Selbstverständnis vieler Menschen sicherte, in zentralen Aspekten definitiv zum Ende gekommen. Kaum jemand geht heute noch ernsthaft davon aus, daß hinter den Geschichten als in ihrer Mannigfaltigkeit praktisch unendlichen Geschehnisabläufen und Entwicklungen eine einheitliche Geschichte als sinnhaltiger und sinnvermittelnder Prozeß wirksam und zugleich erkennbar sei. Ob man mit Hegel von der Geschichte als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" sprach, ob man im Gegensatz dazu jeder Epoche mit Ranke ihren eigenen „Sinn", ein Verhältnis „unmittelbar zu Gott" zuerkannte, ob man das Ziel der Geschichte in einer dann unüberholbaren Moderne erblickte oder mit Marx in der klassenlosen und letztlich auch staats- und herrschaftslosen Gesellschaft — stets stand dabei „Geschichte" für einen sinnerfüllten Prozeß, den herauszuarbeiten und erkennbar zu machen das wesentliche, das zentrale, sie legitimierende Ziel der Geschichtswissenschaft sei. Das war das eigentliche, in dieser Form spezifisch neuzeitliche, in der Aufklärung entwickelte „Argument der Geschichte" neben dem viel älteren, sozusagen traditionellen Argumentieren mit Geschichte, präziser gesagt mit Geschichten, mit bestimmten historischen Vorgängen, Konstellationen, Ereignissen, Geschehnisabläufen, Situationen usw. Anders gewendet: Der Begriff „Geschichte" war seit dem Entstehen der modernen Geschichtswissenschaft im Zentralen, im sie letztlich Begründenden und Rechtfertigenden zunächst faktisch identisch mit Geschichtsphilosophie, wobei, nur scheinbar paradox, in der Substanz ganz unterschiedliche Geschichtsphilosophien hinter dem Begriff, also hinter dem Postulat stehen konnten, daß man von einem einheitlichen und sinnerfüllten historischen Prozeß ausgehen müsse. Vor einem Menschenalter, auf dem Kölner Historikertag von 1970, ist Reinhart Koselleck von einem ähnlichen Befund her zu dem Schluß gelangt, daß nach dem als sicher ins Auge

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zu fassenden Ende des Historismus als wie auch immer geartete Philosophie der Geschichte, als Geschichtsphilosophie, die Einheit und eigenständige Bedeutung des Faches neben dem unbestreitbar fortbestehenden praktischen Gewicht einzelner seiner Disziplinen vor allem in seiner Methode gesehen werden müsse. Das war, in sich schlüssig und überzeugend formuliert, sehr pragmatisch gedacht und errichtete, in einer für das Fach recht bedrohlichen Situation, eine vergleichsweise sichere Verteidigungslinie. Hinter ihr konnten, um im Bilde zu bleiben, Eindringlinge aus den zu Zeiten begünstigteren Nachbardisziplinen als Gelehrte bezeichnet werden, die von ihrem Ansatz und ihrer Vorgehensweise her faktisch dem eigenen Verband zugehörten. Die weitere Entwicklung, und zwar bis zum heutigen Tag, hat meines Erachtens freilich gezeigt, daß solche, ob nun taktische oder faktische Selbstbescheidung weder der äußeren Einschätzung des Faches — und zum Teil auch der Selbsteinschätzung durch viele seiner Vertreter — entsprach und entspricht noch vor allem den Erwartungen, die an es gestellt wurden, und vielleicht stärker als je zuvor, gestellt werden. Im Gegenteil, wir befinden uns, so scheint es, wieder in einer ähnlichen Situtation wie der, die unser Fach in seinen Anfängen als wissenschaftliche Disziplin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so wesentlich, ja, vielleicht entscheidend begünstigt und zugleich herausgefordert hat. Wie damals werden tiefgreifende politische, wirtschaftliche und gesellschafdiche, auch geistig-kulturelle Umbrüche begleitet von wachsenden Verunsicherungen und einem ihnen entsprechenden verstärkten Orientierungsbedürfnis. Das aber heißt, ob wir das wollen oder nicht, daß sich an das Fach gesteigerte Ansprüche und Erwartungen richten — jenseits dessen, was man Wissenschaft als Betrieb nennen kann und was in unserem Fall mittlerweile den Charakter eines Großunternehmens angenommen hat. Sich ihnen zu entziehen, sich nicht zumindest der Auseinandersetzung mit ihnen zu stellen, könnte am Ende für das Fach, ungeachtet seiner gegenwärtigen Blüte, leicht erneut lebensgefährlich werden — von den inneren Folgen eines solchen Ausweichens vor den Herausforderungen der Gegenwart ganz zu schweigen. Was aber haben wir anzubieten, nachdem das Argument offenkundig seine Uberzeugungskraft endgültig verloren hat, die wissenschafdiche Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit enthülle den inneren Charakter, die eigentliche Struktur der Geschichte und des geschichtlichen Prozesses und vermöge so zumindest sichere Orientierungsmarken und auch -maßstäbe für die Bewältigung von Gegenwart und Zukunft zu vermitteln? Unbeschadet ihres eigenen geschichtsphilosophischen Fundaments hatte es Geschichtswissenschaft von allem Anfang an immer auch mit Demontage von Geschichtsphilosphie, von im letzten geschichtsphilosophisch fundierten historischen Konstruktionen zu tun. Das ergab sich nicht zuletzt mit innerer Konsequenz aus der Zahl konkurrierender Entwürfe, die sich gegenüberstanden und jeweils mehr oder weniger universale Geltung beanspruchten. Dadurch verstärkte und verfeinerte sich das kritische Potential der Geschichtswissenschaft laufend, ohne daß darüber zunächst der Anspruch verlorenging, den Sinn des historischen Prozesses als ganzen empirisch erschließen zu können — mit all dem, was sich daraus für den richtigen Weg in Gegenwart und Zukunft ergab. So war es nicht überraschend, sondern entsprach und entspricht einer inneren Logik, daß die historische Methode die Krise des Historismus überlebte, ja, diese Krise dann geradezu als zusätzlicher Beleg für die Überlegenheit und Ideologieunabhängigkeit der Methode als solcher dienen konnte.

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Ungeachtet ihrer eigenen Voraussetzungen und Anfänge ist Geschichtswissenschaft also dank ihrer Methode in der Lage, so könnte man sagen, Geschichtsphilosophie von sich und von denen, die sich die Einsichten der Geschichtswissenschaft zunutze machen, fernzuhalten, und zwar ohne über diesem kritischen Geschäft den Anspruch aufzugeben, gesicherte und vor allem zusammenhängende Einsichten über die Vergangenheit zu gewinnen und zu vermitteln. Ein Beispiel: Der geschichtsphilosophisch überhöhte Klassenbegriff ist im Säurebad kritischer Geschichtswissenschaft weitgehend aufgelöst worden, seine Bedeutung als Instrument zur begrifflichen Erfassung und Analyse moderner Gesellschaften aber hat er darüber nicht verloren. Man kann im Gegenteil sagen, daß er sich im Prozeß der Relativierung außerordentlich verfeinert und seine Brauchbarkeit zur adäquaten Erfassung von Wirklichkeit erheblich gesteigert hat. Ähnliches gilt für den Nationsbegriff und viele andere historisch in sehr verschiedenartiger Weise gefüllte und aufgeladene Begriffe. Diese, in Anlehnung an Popper zu sprechen, Falsifizierungskapazität moderner Geschichtswissenschaft wird man nicht gering schätzen. Ja, sie ist angesichts der um sich greifenden Neigung zu wild schweifenden Deutungsansätzen und Erklärungsmodellen unverzichtbar, die auf eine vordergründige Plausibilität setzen und kaum je auf angebliche historische Beispiele, wenn nicht gar vorgebliche Beweisführungen verzichten. Falsifizierungen stoßen freilich ihrerseits sehr rasch an Grenzen. Poppers These, Theorien und Annahmen, deren zu ihren Gunsten ins Feld geführte Argumente und angebliche Belege sich falsifizieren ließen, würden sehr bald aufgegeben und damit schreite der Prozeß der adäquaten Erfassung der Wirklichkeit mehr oder weniger zügig voran, ist nicht ohne eine gewisse Naivität. Denn Theorien und die für sie angeführten Beweise und Belege sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften logischerweise nicht kongruent, und nur wenige Autoren verzichten darauf, aus dieser Inkongruenz unter zusätzlichem Hinweis auf die je unterschiedliche Dimension und Reichweite von Theorie und Beleg Kapital zugunsten der Theorie, ihrer Theorie zu schlagen. Das Ganze spielt sich zudem in den meisten Fällen als Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Theorien ab und nicht nach dem Schema Theorie-Falsifikation. Das entspricht nicht nur einem wissenschaftlichen, sondern einem allgemeinen Bedürfnis: Wissenschaft soll nicht in erster Linie widerlegen, sondern positiv erklären, nachdem in einer historisch ersten Phase, der Phase der Aufklärung, ein mehr oder minder fest gefügtes Weltbild - nicht zuletzt durch Widerlegung - aus den Angeln gehoben worden war. Damit aber sind wir wieder an dem Punkt angelangt, was eine Geschichtswissenschaft, die ihrer wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen und Voraussetzungen, ihres Erbes aus dem 19. Jahrhundert weitgehend ledig geworden ist, denn jenseits ihrer methodisch kontrollierten und abgesicherten Zensorfunktion anzubieten hat gegenüber allem, was als angebliche Einsicht in die Vergangenheit daherkommt. Es sind, so meine ich, die schärfsten Kritiker des nach ihrer Einschätzung gängigen und am weitesten verbreiteten Geschichtsbewußtseins, die hier den deutlichsten Zugang zu einem zentral wichtigen Aspekt öffnen. Am vertrautesten ist hier im deutschen Sprachraum wohl der Name Friedrich Nietzsches, flankiert, je nach Perspektive, etwa von Schopenhauer, Jacob Burckhardt, bisweilen auch von Richard Wagner. Uns näher und in mancher Hinsicht auch bezeichnender erscheint mir eine Figur wie Gottfried Benn, dem Lyriker und nicht minder bedeutenden

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Essayisten. Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung und das von ihnen vermittelte Bild von Geschichte basierten, so hat er in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer wieder betont, wo man sich nicht einfach von Ereignis zu Ereignis, von Schlacht zu Schlacht, von Held zu Held hangele, auf einem zentralen Gedanken: daß der (eindimensional verstandene) Gang der Zeit und das mit ihm verbundene Prinzip der Kausalität nicht nur alle Verhältnisse in immerwährender Bewegung halte, sondern daß diese Bewegung als ganze in positiver Weise sinnerfüllt sei und das heißt, den Fortschritt des Menschen und der Menschheit vorantreibe, wenngleich auf manchmal verschlungenen Wegen. Darüber hat Benn Zeit seines Lebens und in vielfältigen Variationen seinen ganzen Hohn ausgegossen. Im Zeichen dieser Idee werde, wie in einer Bastelstunde für Kleinkinder, stets aufs neue versucht, Unzusammenhängendstes zusammenzufügen und aufeinander zu beziehen. In einem vermutlich 1943 entstandenen, erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Essay „Zum Thema Geschichte" heißt es in schärfster Zuspitzung: „Wir wissen nicht im entferntesten, was gespielt wird, universal gesehen, wer oder was wir überhaupt sind, woher und wohin, Arbeit und Erfolg ist in keinen Zusammenhang zu bringen, auch Leben und Tod nicht. Wir wissen nicht, wer oder was Cäsar ermordete, Napoleon das Magenkarzinom erst auf St. Helena schickte, den Nebel sandte, als die Nivellesche Offensive beginnen sollte, wer manche Winter so hart machte oder die Winde so stellte, daß die Armada zerschellte. Was sich abhebt, ist immer nur das durcheinandergehende Spiel verdeckter Kräfte." Und er fügte, gleichsam seine eigene Existenz und sein eigenes Werk rechtfertigend, hinzu: „Ihnen nachzusinnen, sie zu fassen in einem Material, das die Erde uns an die Hand gibt, in 'Stein, Vers, Flötenlied', in hinterlassungsfähigen abgeschlossenen Gebilden — diese Arbeit an der Ausdruckswelt, ohne Erwartung, aber auch nicht ohne Hoffnung — etwas anderes hat die Stunde für uns nicht." Etwas anderes hat sie auch für den Historiker nicht und letztlich nie gehabt, könnte man, Klio beschwörend, unsere Frage mit einigen Argumenten abschneiden. Aber gerade der Weg, auf dem Benn definitiv zu dieser bei ihm schon lange vorgebildeten Einschätzung gelangt ist, macht deutlich, daß dies in der Tat ein Abschneiden wäre. Denn er dokumentiert, in weitestgehender Distanz von einer oft befangenen und theoretisch verstrickten Fachdiskussion, entscheidende Stationen der Ablösung von der geschichtsphilosophischen Konzeption von Geschichte, von dem auf diese Weise fundierten „Argument der Geschichte". Die erste dieser Stationen, von der aus er dann für einen kurzen historischen Augenblick in bedenklichste geistige Allianzen geriet, war, einer mächtigen Strömung des wohl nicht nur damaligen Zeitgeistes entsprechend, die konsequente Umkehr der Idee der Geschichte als Fortschrittsgeschichte in die der Dekadenzgeschichte. Verächdich sprach Benn in diesem Zusammenhang vom „Fortschritt im zivilisatorischen Sinne", der den Kern der vorherrschenden „Geschichtsdeutung" ausmache, von der platt materialistischen Lehre von einer angeblichen „Kulturentwicklung" und von den sich darauf berufenden „Zivilisationshorden", die in der Unterwerfung und dauerhaften Unterjochung alles Primären, sprich der Natur, die auch sie hervorgebracht habe, das Ziel aller Geschichte sähen. Die Natur aber, das eigentliche Leben werde sie schließlich verschlingen, „die das Meer als ein Nährklistier achten um ihre Austernbänke und das Feuer als Bierwärmer unter ihre Asbestplatten". Wahrer Geschichtsdeutung, so bemerkte er 1933 in dem berühmt-berüchtigten Aufsatz zum Thema „Der neue Staat und die Intellektuellen", müsse es zu tun sein

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um „die Bindung rückwärts als mythische und rassische Kontinuität". Davon hat er sich rasch wieder gelöst, als er sah, worauf alles in Wahrheit hinauslief, nämlich, wie er in Anspielung auf die Beschwörung Nietzsches durch die Nationalsozialisten notierte, auf ein „tiefgreifendes Experiment, für das sich die Halluzination des Einsiedlers durch die Konzentrationslager und die Genickschüsse der Staatsverwaltung ergänzte". Den Glauben an den Fortschritt in der Geschichte konnte ihm das schwerlich zurückgeben, aber es kurierte ihn auch von der Vorstellung, daß das Heil in der „Bindung rückwärts als mythische und rassische Kontinuität" liege. Die Geschichte, so der Schluß, sei generell heillos, weil ohne irgend erkennbaren Sinn. Beziehungsweise, und das markiert die zweite entscheidende Station von Benns Überlegungen, der angebliche Sinn der Geschichte präsentiere sich als Bewußtseinsphänomen und als solches nicht nur in vielfältiger Gestalt, je nach Herkunft, Erziehung und Ausbildung, nach Weltanschauung und besonderer Perspektive des Betrachters, sondern zugleich in spezifischer Begrenztheit. Die Vorstellung von Geschichte, so Benn schon früh, sei, wie überhaupt alle Kultur, an die Individualität gebunden, und Individualität, zumindest im modernen Sinne, kann es nicht geben ohne dezidiertes Ichbewußtsein mit seinem spezifischen Subjektivismus und der Entfremdung von übergreifenden Zusammenhängen. Was bei Benn dabei zunächst unter dem Begriffspaar Natur und Geschichte gefaßt war, erschien bei ihm dann wie bei vielen anderen - man denke nur an Heidegger — unter den Vokabeln „Sein" und „Bewußtsein", wobei Benn dazu 1940 qualifizierend bemerkte: „Das Bewußtsein, nach Nietzsche tierischer Natur und Herdenmerkzeichen, ist wacher und sublimer als je." Der Zusammenhang und Sinn der Geschichte, das über Generationen so oft herangezogene „Argument der Geschichte" stellte sich für Benn also nun als ein bloßes Bewußtseinsphänomen dar, geschieden und sorgfältig zu scheiden von der Realität des „Seins", vom wahren „Leben", von der dunklen Ewigkeit der „Natur". Das hatte viele Aspekte und Konsequenzen. Nur ein Strang soll uns hier beschäftigen. Zu Beginn der 1960er Jahre hat Michel Foucault, in vielem bewußt oder unbewußt an Horkheimer und Adorno anknüpfend, seine an der Geschichte des Wahnsinns und der Psychatrie exemplifizierte, epochemachende Kritik an dem Rationalitätsparadigma des in der Aufklärung entwickelten okzidentalen Wissenschaftsverständnisses formuliert. Sein Angriff zielte auf eine für die Humanwissenschaften insgesamt konstitutive Praxis, Sinnstiftung zu betreiben durch fortschreitende Ausgrenzung heterogener Kulturelemente, die den Vernunft- und fortschrittsorientierten Diskurs — Foucault bezeichnete ihn als Monolog— störten. Foucaults sogenannte „genealogische Geschichtsschreibung" beanspruchte dagegen, die Ausschlußregeln und Praktiken jenes herrschaftsbezogenen Diskurses freizulegen, der seiner Auffassung nach das historische Bewußtsein und die Humanwissenschaften, ja, unsere Wissenskultur überhaupt konstituiert. Es ging ihm vor allem darum, jene „falschen", weil konstruierten historischen Kontinuitäten zu brechen, einen eindimensional wirkungsgeschichtlich gedeuteten Zeitzusammenhang aufzulösen, der das Erbe einer auf Privilegierung der Gegenwart gerichteten sinnstiftenden Geschichtsphilosophie und ihrer spezifischen wissenschafdichen Praxis sei. Der Foucaultsche Historiker dagegen sollte gleichsam wie ein Archäologe agieren, der verschüttete Sinnfundamente ans Tageslicht zieht, der „die Geschichte der Grenzen" schreibt, „mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie

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außerhalb liegt". Die Tatsache, daß sich fast alle neueren Strömungen in der Geschichtswissenschaft auf Foucaults radikale Kritik des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses berufen — ihn dabei zum Teil auch völlig beliebig für abstruseste Vorstellungen in Anspruch nehmen — beweist zusätzlich, wie wenig das „alte", das geschichtsphilosophische, auf linearen Fortschritt und zeitübergreifende Sinnstiftung gründende Argument der Geschichte gegenwärtig noch verfängt. Was wir Geschichte nennen, präsentierte sich in solchem Horizont nun definitiv als individuelle, gegebenenfalls dann kollektiv vermittelte Vorstellung von der Vergangenheitsdimension gegenwärtiger Vorgänge, Entwicklungen und Problemzusammenhänge, die ihrerseits individuell und kollektiv in durchaus subjektiver Weise gewichtet werden. Es ist damit in doppelter Weise „Wirklichkeit aus Hirnrinde", wie Benn es formuliert hat, mit der Konsequenz, in der umständlich-sorgfältigen Formulierung Max Webers, daß „Erkenntnis von Kulturvorgängen" letztlich nicht anders „denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat". Allein die konsequent angewandte historische Methode, so kann man mit Weber einschränkend hinzufügen, erlaubt es, das Produkt subjektiver Wirklichkeitserfassung und Wirklichkeitsdeutung zumindest an einer Reihe von Punkten sicher zu verankern, also das Abgleiten der Subjektivität in reine Willkür zu verhindern. Wieder erscheint als der Endpunkt, als das eigentlich, wenngleich sicher begrenzt Haltgebende, die Methode. Diese Methode ist freilich gleichsam wert- und bedeutungsneutral: Sie läßt sich auf die unterschiedlichsten Gegenstände, Probleme und Zusammenhänge anwenden, stiftet zwischen ihnen keine Hierarchie und keinen übergreifenden Kontext. Dieser wird und bleibt, bei aller geschichtsphilosophischen oder pseudogeschichtsphilosophischen Einkleidung, außerwissenschaftlich und lebensweldich vermittelt. Nun mag man einwenden, daß das in den Naturwissenschaften ja letztlich auch nicht anders sei. Auch hier ist die Natur als Ganzes ein außerwissenschaftlicher Begriff, das Argumentieren mit ihr, so verbreitet es lebensweltlich ist, wissenschaftlich nicht haltbar. Die Naturwissenschaften sind nur einfach weiter, so könnte man sagen. Der Abschied von der Naturphilosophie sei hier viele Jahrzehnte früher und auch entschiedener erfolgt als der von der Geschichtsphilosophie in den sogenannten Geisteswissenschaften. Gerade der Blick auf die Naturwissenschaften lehrt freilich zugleich, und das macht ihn in diesem Zusammenhang sinnvoll, daß ohne übergreifende Ordnungsvorstellungen, mag man sich gegen deren philosophische Überhöhung und spezifische Füllung und Interpretation auch noch so sehr wehren, offenbar in keiner Wissenschaft auszukommen ist. Denn auch im Bereich der Naturwissenschaften erhebt sich regelmäßig die Frage und der Ruf nach dem übergreifenden Erklärungszusammenhang, nach der umfassenderen, am Ende System und Weltbild konstituierenden Theorie, nach der sinnstiftenden und sinnvermittelnden Synthese. Allerdings bleibt dabei stets unbestritten, daß es sich um eine wirkliche Synthese, also um eine Zusammenfassung und einordnende Gewichtung von empirisch erhärteten Einsichten und Erkenntnissen handeln müsse, nicht um apriori-Annahmen nach Art der Naturphilosophie. Unbeschadet dessen aber steckt natürlich auch hier in jedem Versuch einer Synthese, der Einfügung von Einzelerkenntnissen in übergreifende Zusammenhänge, die den Namen verdienen, die Grundannahme, daß es solche Zusammenhänge in für Menschen erkennbarer Form gebe, daß also die Natur als ganze eine

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Ordnung bilde und diese aus der Perspektive des menschlichen Verstandes prinzipiell intelligibel sei. Der Verzicht auf diese Annahme führt in einen öden Positivismus und letztlich zu einem sehr weitgehenden Agnostizismus. Das Gleiche gilt fraglos wie für das Gebiet der Natur auch für das Gebiet der menschlichen Kultur, mit deren geschichtlichen Erscheinungsformen und Entwicklungen es die Historie, die Geschichtswissenschaft zu tun hat. Von menschlicher Kultur und mit ihr von ihrer Geschichte, also von Geschichte allgemein zu sprechen, heißt, sie grundsätzlich für innerlich zusammenhängend und in diesem Zusammenhang für intelligibel zu erklären. So betreiben wir denn auch, was immer uns im einzelnen konkret beschäftigt, unser Fach. Kaum jemand verteidigt heute noch die Grundthese aller Geschichtsphilosophie, daß sich der Sinn der Geschichte im Verlauf des geschichtlichen Prozesses selbst enthülle; die Frage nach einem solchen Sinn gilt als prinzipiell unbeantwortbar. Wohl aber beharren wir auf der Vorstellung, daß die geschichtliche Welt in der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte einen einsehbaren, aus verschiedenen Perspektiven und von unterschiedlichen Fragestellungen her erschließbaren Zusammenhang bildet. Was aber stiftet diesen Zusammenhang? Immanuel Kants Antwort hatte einst, aller auf ihn folgenden Geschichtsphilosophie den Weg bahnend, ganz im Sinne der Aufklärung gelautet: die Perspektive auf die Menschheit, auf deren Geschichte, Gegenwart und vor allem auch Zukunft. Heute, zweihundert Jahre später, sind wir in vielfältiger Weise darüber belehrt worden, daß dies das Fundament und Einfallstor von Geschichtsideologien aller Art wurde und zugleich ein empirisch nie ernsthaft einlösbares Programm darstellte und darstellt. Eine im Sinne des Fortschrittsgedankens voranschreitende einheitliche Menschheitsgeschichte — das erscheint heute nicht einmal mehr als idealistische Utopie. Ist damit aber auch der Gedanke erledigt, daß alle Geschichte im Letzten eine Einheit bilde, daß es also nur noch eine leere Formel sei, von der Geschichte zu sprechen, von dem Argument der Geschichte ganz zu schweigen? Die geschichtswissenschaftliche Praxis, ja, die Praxis in den meisten Geistes-, den meisten Kulturwissenschaften hat hier, meine ich, längst eine Antwort formuliert: Alle Geschichte hat, unter welchen Aspekten und in welchem zeitlichen Rahmen man sie auch im einzelnen immer betrachten mag, in einem ihre Einheit und ihren zusammenführenden Bezugspunkt: im Menschen, im Menschen als Gattungswesen, in seiner Grundstruktur, aber auch in der nahezu unendlichen Variabilität seiner Existenz- und historischen Erscheinungsformen. Um es in der altertümlichen Sprache Wilhelm von Humboldts zu sagen: „Wie die Philosophie nach dem ersten Grunde der Dinge, die Kunst nach dem Ideale der Schönheit, so strebt die Geschichte nach dem Bilde des Menschenschicksals in treuer Wahrheit, lebendiger Fülle und reiner Klarheit." Die Geschichtswissenschaft ist in diesem Sinne wie alle benachbarten Geistes- und Kulturwissenschaften eine Humanwissenschaft, eine Wissenschaft vom Menschen. Die Humanwissenschaften privilegieren den Menschen, gehen von der Prämisse einer „Sonderstellung" (Arnold Gehlen) des Menschen aus, der, um es mit Schiller zu sagen „unter allen bekannten Wesen das Vorrecht [genießt], in den Ring der Notwendigkeit, der für bloße Naturwesen unzerreißbar ist, durch seinen Willen zu greifen". In Abkehr von materialistischen Geschichtstheorien hat die philosophische Anthropologie, allen voran Max Scheler und Arnold Gehlen, die conditio humana als besondere Fähigkeit beschrieben, „nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern umweit-

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SCHLUSSVORTRAG

frei und weltoffen" handeln zu können. Als Kulturwesen sei der Mensch als einziges Lebewesen mit einer besonderen Verhaltensintelligenz ausgestattet: „Der Mensch lebt nicht, er führt sein Leben". Ihn als Einzelwesen wie auch in der Fülle seiner Interaktionsformen immer besser zu verstehen bis in die Abgründe menschlicher Existenz, ist das letzte Ziel aller Humanwissenschaft, die einheitsstiftende Perspektive ihres Erkenntnisstrebens. Zu definitiven, generalisierbaren, gar universalisierbaren Ergebnissen wird sie dabei, der Natur ihres Erkenntnisobjekts entsprechend, nie gelangen. Aber sie wird, so kann man zumindest hoffen, zunehmend differenzierte Einsichten gewinnen über das Verhalten des einzelnen und menschlicher Gemeinschaften in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und unter den unterschiedlichsten Bedingungen, sei es im Bereich der Religion oder der Politik, auf dem Gebiet der Wirtschaft oder dem Feld gesellschaftlicher Beziehungen, im Arbeitsleben oder in militärischen Verbänden, unter den unterschiedlichsten Herrschaftssystemen oder im Banne großer Ideologien und nicht zuletzt in der sogenannten Alltagswelt und der alltäglichen 'Lebensformen'. Stets ist dabei das Erkenntnisobjekt im Letzten der Mensch. Er bestimmt, bei aller Unterschiedlichkeit der Fragestellungen und der thematischen Schwerpunkte, das erkenntnisleitende Interesse des Forschenden und nicht zuletzt desjenigen, der seine Ergebnisse in der einen oder anderen Form aufnimmt und sich zu eigen macht. Gegenüber den immer hybrider werdenden Welterklärungsmodellen und -entwürfen, die in unser Jahrhundert, in das „Zeitalter der Ideologien" überleiteten, hat schon Jacob Burckhardt, auch in Abwehr der Ansprüche des sogenannten Neoidealismus und seiner Geschichtsphilosophie, davon gesprochen, Zentrum und wesentlicher Gegenstand aller Beschäftigung mit der Geschichte im weitesten Verständnis des Begriffes müsse der „duldende, strebende und handelnde Mensch" sein und bleiben. Und er hatte im gleichen Zusammenhang darauf insistiert, daß man, wolle man nicht den Boden verlieren und in grenzenlosen Relativismus verfallen, auf der Idee beharren müsse, daß der Mensch durch die Zeiten hindurch und über alle tiefgreifenden Veränderungen seiner Lebensbedingungen im Entscheidenden seine Identität, seine Grundstruktur bewahrt habe und bewahre. Es gehe also, in Burckhardts Worten, um den „duldenden, strebenden und handelnden Menschen" „wie er ist und immer war und immer sein wird". Hinter dieser Prämisse hat die moderne Wissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die historische Anthropologie, ja, das Ensemble der historisch arbeitenden Kulturwissenschaften, in vieler Hinsicht ein Fragezeichen gesetzt. Aber auch sie bestreiten letztlich nicht, daß die Grundvoraussetzung jeder in sich konsistenten, überhaupt Vergleiche und Generalisierungen erlaubenden Humanwissenschaft als Wissenschaft vom Menschen in der Annahme bestehe, daß der Mensch bei aller Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit seiner Existenz- und Erscheinungsformen mit sich selbst identisch sei und bleibe und sich darauf alle Einzelerkenntnis beziehen lasse. Darauf beruht ja in letzter Instanz auch die Idee der Menschenrechte, soviel sich über die spezifische historische und kulturelle Bedingtheit ihrer konkreten Ausformung sagen läßt. Mit Blick auf jene Grundidentität jedes Menschen mit dem Menschen als Gattungswesen hat auch Burckhardt emphatisch von ,4er Menschheit" gesprochen, dabei jedoch kein geschichtsphilosophisch gefülltes und übersteigertes Kollektivsingular im Auge gehabt, sondern das „Menschsein", das aus der unendlichen Fülle und Mannigfaltigkeit des Individuellen hervortretende, besser gesagt: herauszuarbeitende Humanum.

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In diesem Sinne und Verständnis läßt sich aus den Ernährungsgewohnheiten und Bestattungsriten einzelner Menschengruppen, aus der Rolle der Geschlechterbeziehungen und Verwandtschaftsverhältnisse bei ihnen, ja, aus der Art des Sichkleidens, des Wohnens, des Sehens und Hörens in entsprechender Perspektive ebenso etwas über „den" Menschen jenseits der unendlichen Fülle seiner konkreten Existenzformen in Erfahrung bringen wie aus der subtilen Analyse hochkomplexer politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und rechtlicher Systeme. Gewicht, Zusammenhang und damit übergreifende Aussagekraft erhält all dies allerdings erst in einem Rahmen und Bezugssystem, das seinerseits für die gesamte reale Existenz des Menschen in der jeweiligen Zeit bestimmend ist und ihn darüber hinaus als Gattungswesen in entscheidender Weise charakterisiert. Es ist das, was man die kulturelle Tradition, das „kulturelle Gedächtnis" im weitesten Verständnis des Wortes nennen kann, also die Vermittlung von Kenntnissen und Einsichten, von Vorstellungen und Werthaltungen, von „Sitten" und Verhaltensweisen, nicht zuletzt, als wesentlicher Träger all dessen, von Sprache, von Bild und am Ende von Schrift. „Der Mensch ist", um es in die scheinbar paradoxe Formulierung Arnold Gehlens zu kleiden, „von Natur ein Kulturwesen." Die F^ntwicklung einer solchen kulturellen Tradition, die Formierung eines je spezifischen „kulturellen Gedächtnisses" ist, wie jedermann weiß, kein gleichsam linearer Prozeß, sondern einer, bei dem sich in nur geschichtlich verständlicher Weise die verschiedensten Strömungen überschneiden, kreuzen und bisweilen gegenseitig lahmlegen und vor allem die jeweils dominierenden Tendenzen und Einflüsse ein Muster erzeugen, das dann wieder durch andere überlagert und abgelöst wird. Dieser Vorgang der Entstehung, Veränderung und Ablösung bestimmter Kulturen läßt sich in seiner Dimension und Bedeutung eben erst erahnen. Ihn zu erforschen und darzustellen, umschreibt die Aufgabe einer facher- und disziplinenübergreifenden Kulturwissenschaft, die gerade in Ansätzen sichtbar wird. Soviel aber läßt sich immerhin schon sagen, daß ihr eigentlicher Gegenstandsbereich und ihr Erkenntnisobjekt die Formung des biologischen Gattungswesens Mensch durch das ist, was auf außerbiologischem, außergenetischem Wege an Erfahrungen und Erkenntnissen, an Vorstellungen und Überzeugungen, an Wissen und Verhaltensweisen, in je spezifischer Weise akzentuiert, tradiert wird. Anders gewendet: Ihr Gegenstand ist die den Menschen formende und bestimmende je besondere kulturelle Tradition im weitesten Verständnis des Begriffes, wobei den fortwirkenden, Epochen und einzelne Kulturen transzendierenden Elementen und Faktoren natürlicherweise ein besonderes Augenmerk gehört — nicht im Sinne irgendeiner Fortschrittsidee, wie der an Foucault geschulte und geschärfte Argwohn gleich einzuwenden geneigt ist, sondern mit Blick auf die gestaltende Macht jener Elemente und Faktoren bis hin zu unserer eigenen Gegenwart und Zukunft. Was eine in diesem Sinne zur historischen Kulturwissenschaft geweitete Geschichtswissenschaft zum Gegenstand hat, ist, ganz allgemein gesprochen, die Beschreibung und Analyse des überaus dynamischen und wandlungsreichen Prozesses der Selbstdefinition und Selbstidentifizierung des Menschen auf außerbiologischem, außergenetischem Wege. Wie als organisches Lebewesen ist er dabei vielfältigen, im Code der jeweiligen kulturellen Tradition und Ordnung festgeschriebenen Zwängen und Bestimmungsgründen ausgesetzt, ist er Teil kollektiver Existenzformen. Aber zugleich kommen von ihm fast ununterbrochen und auf allen Ebenen Impulse, die jenen Code laufend verändern und sich am Ende

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SCHLUSSVORTRAG

zu mehr oder weniger dramatischen Strukturwandlungen summieren. Derartige Impulse bleiben, was sonst keinem anderen Lebewesen beschieden ist, die irdische Erbschaft eines jeden Menschen und aller Generationen seit Adams Zeiten, ohne doch die nachfolgenden unentrinnbar zu fesseln und zu binden. Es sind, wenn man so will, die aus der Freiheit, aus der Individualität des einzelnen resultierenden Mutationen. Und wie in der biologischgenetischen Welt so halten derartige Mutationen auch in der geschichtlichen Welt die Entwicklung in Gang, erlauben die ständige Erneuerung des Lebens unter veränderten Bedingungen und öffnen die Vergangenheit zur Zukunft. Wenn man heute noch irgend sinnvoll von einem „Argument der Geschichte" sprechen kann, so mit Blick hierauf: daß stets und zu allen Zeiten die Ordnung der Freiheit bedurfte, um sich zu entwickeln, und die Freiheit der Ordnung, um sich entfalten zu können. Veröffentlichungshinweis·. Der Vortrag ist leicht erweitert und mit Anmerkungen versehen erschienen in: Historische Zeitschrift 264, Heft 1,1997, S. 1-20.

Verzeichnis der Sektionsleiter/innen und der Referenten und Referentinnen Amann, Konrad 280-282 Ameling, Walter 66f. Anweiler, Oskar 209f. Assmann, Jan 323f. Azaryahu, Maoz 143 Baar, Lothar 235-237 Bähr, Johannes 240f. Ballof, Rolf 5-7 Bauer,Joachim 282-284 Becher, Matthias 82f. Bepler, Jill 112f. Berger Waldenegg, Georg Christoph 289291 Blickle, Peter 104 Blickle, Renate 107 f. Borodziej, Wlodzimierz 165 Böschung, Dietrich 72f. Boskovska Leimgruber, Nada 232—234 Brandt, Susanne 34£ Bredekamp, Horst 123f. Breen, Timothy H. 125 Bremmer, Jan N. 61 Brenner, Michael 178-180 Brewer, John 125f. Brückner, Wolfgang 58 Brüggemeier, Franz-Josef 159f. Brüning, Rolf 316f. Buchheim, Christoph 237-239 Bund, Konrad 79f. Buntz, Herwig 301 Burkhardt, Johannes 42-49 Busch, Werner 124 Carl, Horst Tili. Chauré, Elisabeth 225-227 Clauss, Manfred 269 Condrau, Flurin 135f. Connelly, John 207f. Conrad, Christoph 185 Dahlmann, Dittmar 34 Daniel, Ute 113

Dettenhofer, Maria H. 269f. Dharampal-Frick, Gita 29 Dietrich, Gerd 219-221 Dinges, Martin 114-117 Dolezel, Heidrun 170f. Dross, Fritz 132f. Eck, Werner 71 Eckert, Rainer 211-213 Ehmer, Josef 152f. Elm, Kaspar 86-88 Engelhardt, Dietrich von 37 Engels, Johannes 270f. Erdmann, Elisabeth 254—256 Ernst, Christoph 157f. Faulenbach, Bernd 304f. Flierl, Thomas 202f. Förster, Stig 34 François, Etienne 47f. Frank, Michael 120 Fremdling, Rainer 253 Frühbrodt, Lutz 249f. Funke, Peter 320-322 Gall, Lothar 1 ^ , 3 2 5 - 3 3 4 Gantet, Ciaire 47f. Gehrke, Hans-Joachim 33f. Gemein, Gisbert 315f. Gies, Horst 260-262, 267f. Godei, Brigitta 230-232 Goetz, Hans-Werner 84f. Götz von Olenhusen, Irmtraud 144£, 147f. Goodman, Martin 66 Gradmann, Christoph 39f. Grimm, Claus 58f. Hachtmann, Rüdiger 183 Häberlein, Mark 278-280 Hahn, Hans-Henning 165 Hahn, Johannes 68f. Hansen, Reimer 44f. Hardach, Gerd 251 f. Hardtwig, Wolfgang 121 f., 301 f.

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VERZEICHNIS DER REFERENTEN

Hartig, Sandra 251 f. Haupt, Heinz-Gerhard 155 Heinloth, Bernd 307 Heinrichs, Wolfgang E. 292-297 Heldrich, Andreas 8£ Hellmuth, Eckhart 125-127 Hennig, Diethard 307-309 Hergemöller, Bernd-Ulrich 118 Herzog, Roman 16-23 Hesberg, Henner von 71 Heumos, Peter 171-173 Hill, Thomas 95 Hockerts, Hans Günter 181 f. Hoffmann, Christhard 177f. Holtfrerich, Carl Ludwig 249f. Hübner, Peter 189-191 Hütter, Hans Walter 317f. arausch, Konrad 197 enal, Georg 88-90 essen, Ralph 206f. ütte, Robert 37f., 118f. ussen, Bernhard 273f. Kampmann, Christoph 43f. Karisch, Rainer 239f. Kersken, Norbert 164 Kleßmann, Christoph 189 Kluge, Ulrich 242f. Koch, Walter 78 Kocka, Jürgen 204£, 209f. Kockel, Valentin 72 Kowalczuk, Ilko-Sascha 213—218 Krauss, Marita 285-287 Kren, Jan 173 Kriedte, Peter 154f. Krumeich, Gerd 33-36 Kümin, Beat 106 f. Labisch, Alfons 136f. Laudage, Johannes 90f. Laufer, Jochen 248 Leidinger, Barbara 133f. Lenger, Friedrich 151 f. Leppin, Hartmut 271 f. Lokatis, Siegfried 200f. Lottes, Günther 139

Maas, Annette 141 f. Mazohl-Wallnig, Brigitte 150 Merl, Stephan 244f. Merz, Johannes 101 Middell, Matthias 199f. Mollenhauer, Daniel 145f. Mooser, Josef 195 Mühle, Eduard 163-165 Müller, Heribert 273 Müller, Michael G. 164f. Müller, Rainer A. 55f. Mümmler, Manfred 311-313 Mütter, Bernd 266 Neuhaus, Helmut 104f. Nollé, Johannes 61 f. Otten, Marko A. 315 Paul Ina Ulrike 262-265 Pellens, Karl 256f. Pierenkemper, Toni 252 Pietrow-Ennker, Bianka 227f. Pfister, Christian 161 f. Poeck, Dietrich W. 95-97 Reese, Armin 258 Reith, Reinhold 153f. Rietzschel, Almut 191-193 Roeck, Bernd 122f. Roelcke, Volker 40f. Rösener, Werner 50f. Roesler,Jörg 193f. Roodenburg, Hermann 119 Rossmeissl, Dieter 309-311 Rudersdorf, Manfred 102f. Rudioff, Wilfried 186-188 Rürup Bert 251 Rürup, Reinhard 175f. Rütten, Thomas 38f. Rutgers, Leonard V. 67 f. Sabrow, Martin 196-199 Sarnowsky, Jürgen 92f. Schaffner, Martin 149 Schaser, Angelika 287-289 Scheer, Tanja S. 62f. Scheide, Carmen 228—230 Schieder, Wolfgang 285

VERZEICHNIS DER REFERENTEN

Schieffer, Rudolf 74 Schindling, Anton 98 Schlich, Thomas 39 Schmale, Wolfgang 31 f. Schmidt, Georg 1 OOf. Schmidt, Hans-Joachim 93f. Schmitt, Hatto H. 60 Schmitz, Gerhard 74—76 Schneider, Herbert 77 Schneidmüller, Bernd 81 f. Schnitzer, Claudia 111 f. Schreiner, Klaus 55f. Schulin, Ernst 174f. Schulte, Regina 109-111 Schulz, Günther 185f. Schulze, Winfried 277 Schuster, Peter 276 Seibt, Ferdinand 166-168 Selzer, Stephan 96 Siemann, Wolfram 48f., 156f. Sohn, Andreas 274f. Speitkamp, Winfried 138f., 140 Sperber, Jonathan 146 f. Spree, Reinhard 128-130 Stauber, Reinhard 126f. Steiner, Gudrun 305f. Stephan-Kühn, Freya 314, 318f. Stievermann, Dieter 98f. Stöver, Bernd 297-300 Stoiber, Edmund 12-15 Stolberg, Michael 158f. Stratmann, Martina 76 Stylow, Armin U. 71 f. Süß, Winfried 183-185 Suter, Andreas 53f. Szalai, Wendelin 259 Tacke, Charlotte 302-304 Tamas, Pal 208f. Tewes, Götz-Rüdiger 275f. Thamer, Hans-Ulrich 142f. Theobald-Berti, Stephanie 224f. Toepfer, Michael 267 Tremi, Manfred 55,57 Troßbach, Werner 51 f.

Ude, Christian lOf. Vierhaus, Rudolf 168-170 Vögele, Jörg 134f. Völker-Rasor, Anette 24f. Waechter, Matthias 30f. Wagner, Bernd J. 130-132 Wagner, Ulrich 254f. Wagner-Hasel, Beate 25f. Warnke, Martin 124 Weber, Wolfgang 26-29 Weiß, Peter 73 Weyer-von Schoultz, Martin 132f. Wiesehöfer, Josef 64f., 69f. Woelk, Wolfgang 134f. Wolfrum, Edgar 201 f. Wolle, Stefan 221-223 Würgler, Andreas 105f. Zapperi, Roberto 123 Zernack, Klaus 265f. Ziegler, Walter 99f. Zimmermann, Clemens 52f. Zotz, Thomas 83 f. Zschaler, Frank 246f.

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SCHLAGWORTREGISTER

Schlagwortregister zu den Sektionsbeiträgen Agrargeschichte 5 0 - 5 4 Alemannien, mittelalterliches Herzogtum 83f. Alexandria, antike jüdische Gemeinde in 66f. Alkoholismus (Frühe Neuzeit) 120 Altenstetter, David, A u g s b u r g e r Goldschmied 122f. Alterssicherung (20. Jh.) 185 Anna Sophie, Herzogin von BraunschweigLüneburg, „Witwe von S c h ö n i n g e n " 112f. Antijudaismus 55£, 118f. Antisemitismus im Kaiserreich 177f. Arbeitergeschichte 189-195 Arbeitspolitik (20. Jh.) 183 Armenfürsorge, staatliche (19. Jh.) 128— 137 Artusgesellschaften im Ostseeraum (Spätmittelalter) 96 Asketentum, frühmittelalterliches 88—90 Athen, antike Polis 61 Attalidenreich 270f. Augsburger Kaufmannschaft (16. Jh.) 2 7 8 -

280 Augusteischer Principat 269f. Ausstellungen, historische 55-59, 317f. Baden, Großherzogtum - Revolution von 1848/49 147f. Bäumer, Gertrud, deutsche Frauenrechtlerin 287-289 Balkanstaaten, nationale Identitäten 265f. Baltische Staaten, nationale Identitäten 265f. Bayern, Königreich 285—287 Bergisel, Schlacht am (1809) 34 Berlin nach 1989 143 Bettelorden, mittelalterliche 93f. Bilder als Quellen 55-59, 121-124 Bildungsbürgertum (19./20. Jh.) 287-289 B o i s - R e y m o n d , Emil du, N a t u r w i s s e n schafder und Kulturhistoriker 39f.

Bremen - Krankenhauswesen (19. Jh.) 133f. - städtisches Selbstverständnis (15. Jh.) 96f. Bundesrepublik Deutschland - Alterssicherung 185 - Arbeiterbewegung 195 - Arbeitspolitik 183 - Denkmalpolitik 142f. - Einwanderungspolitik 251 - Frauen- und Familienpolitik 185f. - Fürsorge 186-188 - Gedenkstätten 304f. - Geschichtspolitik 201 f. - Geschichtsunterricht 267 - Gesundheitspolitik 183-185 - nationale Identität 267 - Sozialpolitik 181-188 Burschenschaften 2 8 2 - 2 8 4 „Byzantinismus" 271 f. Containment-Politik

297-300

Dänemark, Nationalbewegung 44f. Denkmäler 138-143, 2 0 2 f , 301-306 - im Geschichtsunterricht 305f. Denkmalsturz 138-143 Deutsch-tschechische Beziehungen (19./20. Jh.) 168-170 Deutsch-tschechisch-slowakische Historikerkommission 166—170 Deutsche Demokratische Republik (DDR) - Alterssicherung 185 - Arbeitergeschichte 189-195 - Arbeitsbrigaden 193f. - Arbeitspolitik 1 8 3 , 1 8 9 - 1 9 5 - Denkmalpolitik 142f., 2 0 2 f , 304f. - Firmenabwanderung 240f. - Frauen-und Familienpolitik 185f., 191— 193 - Fürsorge 186-188 - Gedenkstätten 304f.

SCHLAGWORTREGISTER

-

Geschichtspolitik 201-203 Geschichtswissenschaft 196-203 Gesundheitspolitik 183-185 Hochschulpolitik und-system 204—207, 209f. - in det amerikanischen Außenpolitik 297300 - Konsumpolitik 244£ - Kriegserinnerung 34f. - Kriegsfolgen für die Wirtschaft 2 3 5 248 - Kulturpolitik 219-221 - Landwirtschaft 242f. - Sozialpolitik 181-188 - Staatsgründung und frühe Geschichte 211-223 - Währungsreform (1948) 246-248 - Wiederaufbau der Industrie 239f. - Wirtschaftswachstum 237-239 - Zensur 200f. - siehe auch Sowjetische Besatzungszone Deutsches Reich (wilhelminisches Kaiserreich) - Antisemitismus 177E, 292-297 - Bürgertum 292-297 - Einwanderungspolitik 251 - Frauenbewegung 287—289 - Geschichtsunterricht 266 - Nationaldenkmäler 301 f. - nationale Identität 266 - Nationsbildung 44£, 301 f. - Protestantismus 292-297 Diözesen, europäische im Spätmittelalter 275f. Dreißigjähriger Krieg 4 6 - 4 8 , 1 1 2 „Drittes Reich" siehe Nationalsozialismus Duelle, studentische 282-284 Düsseldorf - Armen- und Krankenhauswesen (19. Jh.) 132-135 Editionen mittelalterlicher Quellen 74—80 EDV in den Geisteswissenschaften 74—76 Ehe im Mittelalter 273f.

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Eisenhower, Dwight David, 34. Präsident der USA 297-300 Eliten, städtische in der römischen Kaiserzeit 71-73 Elsaß-Lothringen 141 f. Emissionsschutz (19. Jh.) 158-160 England - Gleichgewichtspolitik 43f. - Petitionenwesen 106f. - Revolution von 1649 106f. Erhard, Ludwig, deutscher Politiker 311— 313 Erster Weltkrieg 46f. Ethnogenesen, mittelalterliche 81—85 Europa - als Mythos 31 f. - Gleichgewicht 43f. - Identität 31 f., 260-266 - im Geschichtsunterricht 260-268,315f. - Nationaldenkmäler 301-304 Fächerübergreifender Unterricht 307-313 Familienpolitik (20. Jh.) 185f. Filme, historische 316f. Flodoard von Reims, mittelalterlicher Geschichtsschreiber 76 Florenz - „Revolution" von 1848/49 150 „Fortschritt", medizinischer 37-41 Frankreich - Februarrevolution 1848 145£, 148 - Geschichtsunterricht 263 - nationale Identität 263 Französische Revolution 144—150 - Denkmalstürze 139f. - Mythos 145-148 Frauengeschichte 109-120,191-193,224234, 287-289 Frauenpolitik (20. Jh.) 185f., 191-193,228232 „Fremde" 254f. - in der griechischen Antike 61 f. - im römischen Reich 255f. - im Mittelalter 256f.

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SCHLAGWORTREGISTER

- in der Frühen Neuzeit 258 - in der DDR 259 - im vereinigten Deutschland 259 „Frieden" 42-49 Friedensfeste, süddeutsche 47£ Friedrich II., mittelalterlicher König u. Kaiser 78 Frontier-Mythos, amerikanischer 30f. Fürsorgepolitik (20. Jh.) 186-188 Gedenkstätten 57, 301-306 - im Geschichtsunterricht 305f. Gegenbilder der Moderne 26 f. gentes, mittelalterliche 84f. Geschichtsmarketing 315 Geschichtspolitik 201 f. Geschichtsunterricht 260-268, 305-319 Geschichtswissenschaft - Geschichte der 39f. - in der DDR 196-203 - und bildende Kunst 121-124 - und Mythen 26-29 Geschlechtergeschichte 109—120 Gesundheitspolitik (20. Jh.) 183-185 Gewerbegeschichtsschreibung 151—155 Goldstandard, klassischer (1871-1914) 251 f. Gravamina (Frühe Neuzeit) 104—106 Großbritannien - Geschichtsunterricht 263 - Musik, Literatur, Kunst (18./19. Jh.) 125f. - nationale Identität 34, 125f., 263 - Sozialpolitik (19./20. Jh.) 135f. Habsburgermonarchie 126f., 280—282 - Staatsanleihe („Nationalanleihe") von 1854 289-291 Hallier, Ernst, Naturwissenschaftler und Kulturhistoriker 39f. Handwerksgeschichte 151—155 Hanse, norddeutsche 95-97 „Hausindustrie" (19./20. Jh.) 151-155 Heinrich von Avranches, mittelalterlicher Dichter 79f. Herkulaneum, antike Stadt 72

Herzogtümer, mittelalterliche 81—85 Hessen-Kassel, Kurfürstentum 105f. Hippokrates, griechischer Arzt 38f. Hispanien, römische Provinz 71 f. Historische Schule der Nationalökonomie 151-155 Hobbes, Thomas, englischer Staatstheoretiker 123 f. Höfische Welt 109-113 Hofer, Andreas, Tiroler Freiheitskämpfer 34 Homosexualitätsgeschichte 116f. Howard, John, englischer Gefängnisreformer 124 Identität — konfessionelle 47f. — nationale 29-31,33-36,125-127,149, 260-268 Indien, nationale Identität 29, 34 „Industriezeitalter" 158-160 Ion, mythischer Stammvater der Ionier 61 Italien — Geschichtsunterricht 264 — nationale Identität 264 Jena, Universität 282-284 Jubiläen, historische 46-49 Judenemanzipation (18./19.Jh.) 175f. Judentum 118f. — antikes 64—70 — - Übertritt zum 66 — im wilhelminischen Kaiserreich 292—297 — in der modernen Gesellschaft 174—180 — Selbstverständnis (1. Drittel 20. Jh.) 178180 Jugendbücher 318f. Kaiserreich, wilhelminisches siehe Deutsches Reich „Kalter Krieg" 297-300 Kanonikertum, mittelalterliches 90f. Kleinasien — antike Münzen 73 Klostergeschichtsschreibung im Mittelalter 95

SCHLAGWORTREGISTER

Konfessionalisierung 98—103 — evangelische 98f. — katholische 99£, 280-282 Konstanz im Spätmittelalter 276 Konzilsordines, mittelalterliche 77 Krankenhauswesen (19. Jh.) 128—137 Kresphontes, mythischer Herrscher von Messenien 61 „Krieg" 42-49 „Kulturelle Hegemonie" 285-287 Kunstgeschichte 121—126 Kurie, päpstliche im Spätmittelalter 275f.

341

Mythologie, antike 25f. Mythopolitik 29 Mythos 24-29 - in der Antike 60-63 - der Französischen Revolution 144—150 Mythosforschung 24—32

Männergeschichte 114—120 Mahnmale 301-306 — im Geschichtsunterricht 305f. Mailand — „Revolution" von 1848/49 150 Marathon, Schlacht bei (490 v.Chr.) 33f. Marienbilder, mittelalterliche 55f. 'Market-place'-Modell 64—70 Maskeraden (Frühe Neuzeit) 111 f. Maximilian I., Kurfürst von Bayern 107f. Medici, Florentiner Dynastie 123 Medizingeschichte 3 7 - 4 1 , 1 2 8 - 1 3 7 Messenien, antiker Staat 61 Migrationsforschung 251,255—257 Militärregierung, amerikanische im Nachkriegsdeutschland 309—311

Nachkriegsdeutschland 48f., 142f., 204207, 209f., 219f., 2 3 5 - 2 4 3 , 246-248, 309-313 - amerikanische Militärregierung 309—311 - siehe auch Sowjetische Besatzungszone Nachkriegszeit 161 f. Nation(en) - Identität 2 9 , 3 3 - 3 6 , 1 2 5 - 1 2 7 , 1 4 9 - im Geschichtsunterricht 260-268 Nationaldenkmäler 301-304 Nationalismus 125-127 Ν ationalsozialismus - Alterssicherung 185 - Arbeitspolitik 183 - Denkmalpolitik 142f. - Film-Dramaturgie 316f. - Frauen-und Familienpolitik 185f. - Fürsorge 186-188 - Gesundheitspolitik 183-185 - Inflation 252 - „Seelenheilkunde" 40f. - Sozialpolitik 181-188 Nationsbildung, mittelalterliche 81—85 Neoabsolutismus 289-291 Niederlande - Geschichtsunterricht 264,315 - Malerei, Theater (17./18. Jh.) 119 - nationale Identität 264 - Zwischenkriegszeit 253 - Wirtschaftspolitik nach 1945 253

Mönchtum, frühmittelalterliches 88-90 Montgelas, Maximilian Graf von, bayerischer Minister 285-287 Münzen, antike Kleinasiens 73 Museen 55-59, Museumspädagogik 317f. Musikgeschichte 125f.

Österreich, Kaisertum 126£, 280-282 - Staatsanleihe („Nationalanleihe") von 1854 289-291 Orden, mittelalterliche 86-94 Ordenszöten, mittelalterliche 86-94 Ordnung, soziale im Mittelalter 273f.

Lange, Helene, deutsche Frauenrechtlerin 287-289 Liberalismus (19. Jh.) 287-289 Literaturgeschichte 125f., 225-227 Lübeck — städtisches Selbstverständnis (15. Jh.) 96f. Luther, Martin, Reformator 120

342 'Ostforschung', deutsche 173

SCHLAGWORTREGISTER 163-165, 1 7 1 -

Paris (Mittelalter) 274f. Partei des D e m o k r a t i s c h e n Sozialismus (PDS) 2 2 1 - 2 2 3 Passau, Fürstbistum (16. Jh.) 280-282 Patriotismus in Preußen (18. Jh.) 126 Pejpussee, Schlacht am (1242) 34 Polen — Geschichtsbilder der deutschen 'Ostforschung' 163—165 — Hochschulpolitik und-system 207—210 — nationale Identität 265f. Pompeji, antike Stadt 72 Preußen — nationale Identität 126 — Krankenhausfinanzierung 130—132 — Patriotismus 126 — Royalismus 126 Preußen-Renaissance 201 £ Propaganda in der griechischen Antike 61 Proselytismus im Imperium Romanum 66 Proteste, soziale (19. Jh.) 140 Quaternionenlehre (Frühe Neuzeit)

56

Radio Freies Europa 299f. Räterepublik, Münchner 307-309 Rechtspraxis (Spätmittelalter) 276 Reformation 9 8 - 1 0 3 — in Landstädten 101 Reformationsfürsten 102f. Reichsintegration, frühneuzeitliche lOOf. Residenzenforschung 274f. Revolution von 1848/49 48f., 144-150 Rheinland — Revolution von 1848/49 146f. Ripen, Privileg von (1460) 44f. Ritterorden, geistliche 92f. Rom, antike jüdische Gemeinde 67f. Romney, George, englischer Porträtmaler 124 Royalismus in Preußen (18. Jh.) 126 Rußland — Frauenbewegung 227—232

— Frauenliteratur (19. Jh.) 2 2 5 - 2 2 7 — Frauenrolle in der Frühen Neuzeit 232— 234 — Frauenrolle im 18. Jh. 224f. Rußlandforschung 224-234 Sachsen, mittelalterliches Herzogtum 82f. Sagen, griechische 60f. Schlachtenmythen 33—36 Schleswig-Holstein-Frage 44f. Schulbuchforschung 170f, 262-265,318f. Schulgeschichtsbücher 318f. Schwäbischer Bund (1488-1534) 277f. Schweiz — Bundesverfassung (1848) 149 — nationale Identität 149 „Seelenheilkunde", nationalsozialistische 40f. Seelower Höhen, Schlacht auf den (1945) 34f. Sirangapatna, Fall von (1799) 34 Sodomiterverfolgung in Venedig (Spätmittelalter) 118 Sokrates, spätantiker Kirchenhistoriker 271 f. Sophie, Kurfürstin von Hannover 113 Sowjetunion — Frauenpolitik 228—232 — in der amerikanischen Außenpolitik 297— 300 Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 211— 223 — Demontage der Industrie 239f. — Firmenabwanderung 240f. — Hochschulpolitik 206f. — in der amerikanischen Außenpolitik 297— 300 — Kriegsfolgen für die Wirtschaft 2 3 5 248 — Landwirtschaft 242f. — Währungsreform (1948) 2 4 6 - 2 4 8 — Wirtschaftswachstum 2 3 7 - 2 4 0 Sozialdisziplinierung (16. Jh.) 2 8 0 - 2 8 2 Soziale Ordnung im Mittelalter 273f. Soziale Proteste (19. Jh.) 140

343

SCHLAGWORTREGISTER Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 1 8 9 - 1 9 5 , 2 1 1 - 2 2 3 Sozialpolitik - 19. Jh. 128-137,151f. - 20. Jh. 181-188 Sozialstaatsgeschichte 181-188 Sozomenos, spätantiker Kirchenhistoriker 271 f. Spanien - Geschichtsunterricht 263f. - nationale Identität 263f. - römische Provinz Hispanien 71 f. Sparta, antiker Staat 61 Stadtgeschichte, mittelalterliche 96£, 257, 274-276 Stämme, mittelalterliche 81—85 Stalinismus 2 2 1 - 2 2 3 Stiftungen in der römischen Kaiserzeit 72f. Strabon von Amasela, antiker Historiker und Geograph 270f. Strafjustiz, spätmittelalterliche 276 Straßennamen, Umbenennung 143 Suppliken (Frühe Neuzeit) 104-108 „Symbolische Herrschaft" 2 8 5 - 2 8 7 Syrien, antike jüdische Gemeinden 68f. Thälmann, Ernst, deutscher Politiker 202f. Theodoret, spätantiker Kirchenhistoriker 271 f. „Theokratie" 271 f. Tschechien - Hochschulpolitik und-system 208-210 - nationale Identität 265f. Tschechisch-deutsche Beziehungen (19./20. Jh.) 168-170 Tschechische Geschichtswissenschaft 173 Tschechoslowakeiforschung, deutsche 171— 173 Territorien, frühneuzeitliche 98—105 Truman, Harry Spencer, 33. Präsident der USA 2 9 7 - 3 0 0 Tuberkulosebehandlung (19./20.Jh.) 135f. Umweltgeschichte 156—162 Umweltverschmutzung (19. Jh.)

158-160

Ungarn — Hochschulpolitik und-system 208-210 — nationale Identität 265f. — Volkskollegien 208f. Universitätsgeschichte 204-210, 282-284 Urkunden-Edition 78 USA — Außenpolitik 297-300 — Frontier-Mythos 30f. — Geschichtsbewußtsein 30f. — nationale Identität 30f., 125 — Osteuropapolitik 2 9 7 - 3 0 0 — Wirtschaftspolitik 249f. Vasari, Giorgio, italienischer Maler 123 Vend, Christina, Bäuerin der Klosterhofmark Rottenbuch (17. Jh.) 107f. Venedig — im Spätmittelalter 118 — „Revolution" von 1848/49 150 Verbindungen, studentische 2 8 2 - 2 8 4 Verkleidungsdivertissements (Frühe Neuzeit) l l l f . Völker, mittelalterliche 8 1 - 8 5 Währungsdiskussion, internationale 251 f. Waldwirtschaft (18./19. Jh.) 157f. Weimarer Republik — Geschichtsunterricht 266 — Inflation 252 — nationale Identität 266 Weyer, Augsburger Kaufmannsfamilie 278— 280 Witwen im Mittelalter

273f.

Zentralitätsforschung

274f.