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German Pages [484] Year 2021
Martin Palauneck
Gescheiterte Tugend Hegels Kritik des aristotelischen Politikverständnisses in seiner Darstellung der griechischen Stadtstaaten
BAND 98 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495823873
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B
Martin Palauneck Gescheiterte Tugend
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 98
https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Martin Palauneck
Gescheiterte Tugend Hegels Kritik des aristotelischen Politikverständnisses in seiner Darstellung der griechischen Stadtstaaten
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Martin Palauneck The failure of virtue Hegel’s critique of the Aristotelian notion of politics in his portrayal of the Greek city-states In his lectures, G. W. F. Hegel sketches an unorthodox interpretation of the Aristotelian conception of virtue: He sees the concept as an attempt to reconcile the philosophical conditions of individual autonomy and social self-determination. For Hegel, this attempt leads to the first historical manifestation of political freedom, albeit one still imperfect and severely limited. This book systematically examines Hegel’s criticism of Aristotle’s model of self-determination, and shows how Hegel finds the kernel of our modern understanding of freedom in the failure of the Greek city-states.
About the author: Martin Palauneck studied philosophy, mathematics and theoretical physics at the University of Leipzig and the University of Basel. He received his PhD in 2018 from the University of Leipzig on Hegel’s critique of the Aristotelian understanding of politics. The dissertation thesis was awarded the Karl Alber Prize in 2020.
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Martin Palauneck Gescheiterte Tugend Hegels Kritik des aristotelischen Politikverständnisses in seiner Darstellung der griechischen Stadtstaaten In seinen Vorlesungen entwirft G. W. F. Hegel eine unkonventionelle Deutung der aristotelischen Tugend: Er interpretiert den Begriff als philosophischen Entwurf zur Vereinbarkeit von individueller Autonomie und gemeinschaftlicher Selbstbestimmung. Für Hegel handelt es sich hierbei um eine erste, wenngleich noch unvollkommene und stark beschränkte Erscheinung der politischen Freiheit. Das Buch untersucht mit systematischen Mitteln Hegels Kritik an diesem Modell von Selbstbestimmung und zeigt, wie er im Scheitern der griechischen Stadtstaaten den Keim eines modernen Freiheitsverständnisses angelegt sieht.
Der Autor: Martin Palauneck, Studium der Philosophie, Mathematik und Theoretischen Physik in Leipzig und Basel. Promotion 2018 an der Universität Leipzig zu Hegels Kritik am aristotelischen Politikverständnis. Die Dissertation wurde 2020 mit dem Karl-Alber-Preis ausgezeichnet.
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Gewinner des Karl-Alber-Preises 2020
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49174-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82387-3
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei . . . . . . I.1 Ein Ärgernis in der aristotelischen Philosophie . . . . . I.2 Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven . . . . . I.3 Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.4 Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei I.4.1 Güter, Zwecke und der gelungene Lebensvollzug . I.4.2 Bloß biologische und ethisch relevante Standards des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.4.3 Typologie der Privationen: Lasterhafte, Kinder und natürliche Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . I.5 Vergebliche Modifikationsversuche . . . . . . . . . . .
27 27 32
Teil II: Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik . II.1 Drei Arten der Kritik: intern, extern und immanenthistorisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1 Externe Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2 Interne Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3 Immanente und historische Kritik . . . . . . . II.2 Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen . . . II.2.1 Aristoteles und Hegels Griechen . . . . . . . II.2.2 Die Tugend als Prinzip des griechischen Geistes II.2.3 Selbstbestimmung und Tugend . . . . . . . . II.3 Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze . . . . . . .
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41 60 64 72 80 89 97 104 104 106 111 119 123 128 137 145
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Inhaltsverzeichnis
Teil III: Tugend und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . III.1 Das Paradox der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . III.1.1 Einführung zum Paradox . . . . . . . . . . . . III.1.2 Das Paradox auf individueller Ebene . . . . . . . III.1.3 Das Paradox auf sozialer Ebene . . . . . . . . . III.1.4 Hobbes’ vermeintliche Lösung für das soziale Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2 Das griechische Zwei-Phasen-Modell als Antwort auf das Paradox der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . III.2.1 Vorbemerkung und Übersicht über das Kapitel . . III.2.2 Textliche Hinweise für das Zwei-Phasen-Modell . III.2.2.1 Metapher des plastischen Kunstwerks . . . . . . III.2.2.2 Historizität der Gestaltungsphase . . . . . . . . III.2.2.3 Die griechische Sittlichkeit als Gleichgewicht der Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1 Darstellung der systematischen Notwendigkeit in Hegels Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.2 Lernprozess und Zweiphasigkeit in modernen Tugendethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil IV: Normanwendung und Objektivität . . . . . . . . . . IV.1 Einleitung und Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . IV.2 Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese . . . . . . . . . . . . . . IV.2.1 Erste These: Objektivität der Normen . . . . . Die Umsetzung der ersten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2 Zweite These: Objektivität der Handlung . . . Die Umsetzung der zweiten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.3 Dritte These: Objektivität des Charakters . . . Die Umsetzung der dritten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen . . . . . . . . . . . . . . . .
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155 155 155 158 166 174 179 179 186 194 196 201 206 206 213
. 223 . 223 . 228 . 230 . 233 . 237 . 240 . 248 . 250
Inhaltsverzeichnis
Teil V: Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel . V.1 Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.1 Einführung und Überblick . . . . . . . . . . . . V.1.2 Die Sophisten als Vertreter der Bildung . . . . . . V.1.3 Beredsamkeit und Begründungsskeptizismus . . . V.1.4 Die Selbstaufhebung der sophistischen Kritik . . . V.2 Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend . . . . . . V.2.1 Die Bedeutung der Orakel für den griechischen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.2 Das naive Argument: äußere Zufälle und die Erfolgsdimension der Tugend . . . . . . . . . . . V.2.3 Systematischer Exkurs: Erfolgsdimension der Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.3.1 Tugenden setzen praktische Fertigkeiten voraus . V.2.3.2 Abweisung des Egozentrismus-Vorwurfs . . . . V.2.4 Das modifizierte Argument: innere Kontingenz und Willkür der Entschließung . . . . . . . . . . . . V.2.4.1 Endlichkeit im Wollen und Begründungsabbruch . V.2.4.2 Die Mehrdeutigkeit der Handlungssituation . . . V.2.4.3 Orakel als Entlastungsinstanz . . . . . . . . . . V.2.4.4 Die Doppelsinnigkeit der Orakelsprüche . . . .
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Teil VI: Sokrates und das Ende der Tugend . . . . . . . . . . . VI.1 Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2 Sokrates als weltgeschichtlicher Heros . . . . . . . . . VI.3 Sokrates und die Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . VI.4 Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens . . VI.5 Der Konflikt zweier Prinzipien im Prozess gegen Sokrates VI.5.1 Der attische Gerichtshof der Heliaía und das Prinzip der Tugend . . . . . . . . . . . . . . . VI.5.2 Drei Deutungen des Prozesses gegen Sokrates . . VI.5.3 Das Rätsel der achtzig Richter und die Verweigerung des Sokrates . . . . . . . . . . . VI.5.4 Hinrichtung, Gesetzeskonformismus und die Wahrheit der anderen Tugend . . . . . . . . VI.5.5 Gewissen und Selbstgerechtigkeit . . . . . . . .
339 339 346 360 372 397
261 261 264 270 279 284 284 290 301 301 303 306 309 316 322 329
401 412 424 435 447 9
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Inhaltsverzeichnis
. . . . . 454
VI.6 Ausblick: Die Folgen des Untergangs der pólis
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . Siglen . . . . . . . . . . Klassische Literatur . . . Zeitgenössische Literatur
475 475 475 477
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So lange ein Staat auf der Woge seines Glücks fortrollt, ist in dem freudigmuthigen Gefühl dieses erhebenden Anblicks nichts Einzelnes zu unterscheiden; das Nachdenken wird weniger, als die Mitempfindung erregt; die zusammenwirkenden Kräfte werden nur in ihren einfachen Resultaten wahrgenommen; viele scheinen zu schlummern, da nicht in die Augen fallender Widerstand sie einzeln erweckt. Wann aber den künstlichen Bau die Klippe des Unglücks zerschellt, springen augenblicklich die verschiedenartigen Bestandtheile ins Auge; die Betrachtung erwacht; an die Stelle frohen Mitgefühls tritt tief ergreifende Wehmuth; mit dem Falle des Einen scheint Alles zu wanken; und Gedanke und Empfindung schweifen in weitere Ferne. Daher ist die Geschichte des Verfalls der Staaten meistentheils anziehender, als die ihrer Blüthe, oder vielmehr die letztere erst dann recht anziehend, wenn sie von dem Verfall aus betrachtet wird. 1 Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt, »Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten«, Werke in fünf Bänden, Darmstadt 1986, S. 73 f.
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Einleitung
Anlass dieser Arbeit ist eine Irritation: Inmitten der praktischen Philosophie des Aristoteles, die vielleicht zu den klügsten und sicherlich zu den einflussreichsten Werken der Geschichte der Ethik gehört, begegnet uns eine Rechtfertigung der Sklaverei. Bei bestimmten Menschen, so Aristoteles, sei es angemessen und gut, sie mit Gewalt zu unterwerfen und auszubeuten. Sie seien von ihrer Natur dazu geschaffen, ein »lebendiges Besitzstück« zu sein. 1 Fänden wir eine derartige Bemerkung einfach in irgendeinem beliebigen antiken Text, verfasst vor über zweitausend Jahren von dem Vertreter einer Sklavenhalterkultur, wäre sie wohl kaum der Rede wert. Sie würde uns lediglich als typischer Beleg für den Mangel an Humanität in dieser Zeit dienen. Bei Aristoteles scheint mir die Lage jedoch anders zu sein: nicht nur, weil er ein klassischer Autor ist, dessen Werke nicht wegzudenkender Bestandteil jedes Philosophie-Curriculums sind. Er gilt vielen modernen Philosophen immer noch als eine ernstzunehmende Quelle und als Referenzautor. Dies zeigen zum einen die Anhänger der verschiedenen neoaristotelischen Strömungen, die sich um eine Vergegenwärtigung seines Denkens bemühen, zum anderen aber auch die Renaissance der Tugendethik in den vergangenen Jahrzehnten. Hierbei werden oft, wie Christoph Halbig mit vorwurfsvollem Beiklang schreibt, […] die traditionellen Tugendlehren – unter denen weiterhin die aristotelische, vielfach in ihrer thomistischen Aneignung, dominiert – schlicht übernommen und als ihrerseits nicht weiter zu prüfende Prämissen für die eigene Argumentation in Anspruch genommen. 2
Aristoteles’ praktische Philosophie ist für diese Autoren demnach mehr als bloß ein Zeugnis einer längst vergangenen historischen 1 2
Aristoteles, Pol. I.3. Halbig (2013), S. 17.
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Einleitung
Epoche. Offenbar scheint sein Denken auch heute noch lebendig zu sein und seine Gedanken für uns moderne Leser attraktiv und lehrreich. Gerade diese vermeintliche Nähe und Zugänglichkeit der aristotelischen Ethik lassen seine Doktrin vom natürlichen Sklaven besonders abstoßend wirken: Sein Denken, dass uns zunächst vertraut erscheint, zeigt sich in einer unvermittelten Fremdheit. Vor allem aber halte ich die Doktrin vom natürlichen Sklaven für einen Grund zur Beunruhigung, weil Aristoteles systematisch denkt. Seine Rechtfertigung der Sklaverei ist keine nebenbei hingeworfene Bemerkung, wie ich im Verlauf dieser Arbeit zeigen werde, sondern mit zentralen Bestandteilen seines Denkgebäudes verbunden. Der natürliche Sklave ist fest in die aristotelische Anthropologie, seine Vorstellung von Gerechtigkeit und seine Metaphysik des Guten eingebunden. Dies bedeutet allerdings, dass der Denkfehler, der Aristoteles zu seiner unmenschlichen Behauptung verführt, unter Umständen sei Sklaverei gerecht, möglicherweise weitere Folgen nach sich zieht. Die systematische Einbettung der Rechtfertigung der Sklaverei legt nahe, dass sie sich nicht ohne Weiteres mit einem chirurgischen Schnitt aus der praktischen Philosophie des Aristoteles entfernen lässt, sondern dass noch weitere seiner Überzeugungen von dem gleichen Denkfehler infiziert sind. In der Figur des natürlichen Sklaven wird für uns moderne Leser unabweisbar deutlich, dass Aristoteles an dieser Stelle einen Irrtum begeht. Der gleiche Irrtum mag sich allerdings anderswo fortsetzen, ohne dass es für uns mit der gleichen Drastik ersichtlich ist. In diesem Fall wäre es freilich fatal, irgendwelche aristotelischen Lehren unkritisch als »nicht weiter zu prüfende Prämissen« zu übernehmen, wie es Halbig der modernen Tugendethik ankreidet. Aristoteles’ Rechtfertigung der Sklaverei fordert uns daher zu einer umfassenden, systematischen Auseinandersetzung mit der aristotelischen praktischen Philosophie heraus, die weit über seine Erläuterungen zum natürlichen Sklaven im ersten Buch der Politik hinausgeht und die grundsätzlich in Frage stellt, welche seiner Überzeugungen wir für uns heute noch übernehmen können, ohne dass wir uns der intellektuellen Fahrlässigkeit schuldig machen. Eine solche systematische Kritik halte ich auch deshalb für unumgänglich, weil die vermeintliche Alternative, die aristotelischen Lehren einfach vollständig für eine moderne Ethik abzulehnen, in ähnlicher Weise nicht ratsam erscheint wie eine unkritische Übernahme seiner Position: Zum einen schüttet ein solches anti-aristotelisches Vorgehen das Kind mit dem Bade aus und ignoriert die philosophischen Leistungen, 14 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
die Aristoteles nicht ohne Grund als einen Klassiker unserer Geistesgeschichte auszeichnen. Zum anderen riskiert jeder radikale Neubeginn, der nicht zuerst eingehend die Irrtümer seiner Vorgänger identifiziert, dass er in seinem Projekt die gleichen oder ähnliche Irrtümer selbst begeht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei empfiehlt sich daher sowohl für moderne Neoaristoteliker wie auch für die Vertreter anderer ethischer Strömungen. Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, eine solche kritische Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Denken zu leisten. Für diese nicht unbescheidene Aufgabe schien es mir ratsam, mich nicht allein auf meine eigenen philosophischen Kräfte zu verlassen. Ich habe mir für diese Arbeit deshalb G. W. F. Hegel als Ausgangspunkt und Gewährsmann gewählt. Für diese Entscheidung sprechen vor allem zwei Gründe: Erstens bietet sich Hegel für die Auseinandersetzung mit Aristoteles aufgrund seines eigenen Verhältnisses zu dem antiken Denker an. Hegel tritt in vielen Hinsichten als Aristoteliker auf: Zahlreiche seiner Fragestellungen und Konzepte übernimmt er von Aristoteles. Etliche seiner Begrifflichkeiten sind unmittelbare Übersetzungen der aristotelischen Terminologie. Als Schlusswort seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften zitiert er unkommentiert einen Ausschnitt aus der aristotelischen Metaphysik zur Göttlichkeit der Vernunft, 3 weshalb manche Kommentatoren rätseln, ob es sich um das Fazit Hegels zu seinem eigenen Denken handle. 4 In jedem Falle spricht Hegel von Aristoteles fast immer mit großer Bewunderung und lobt ihn in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wie keinen zweiten: […] er ist eins der reichsten und umfassendsten (tiefsten) wissenschaftlichen Genies gewesen, die je erschienen sind, – ein Mann, dem keine Zeit ein Gleiches an die Seite zu stellen hat. […] Aristoteles ist in die ganze Masse und alle Seiten des realen Universums eingedrungen und hat ihren Reichtum und Zerstreuung dem Begriffe unterjocht; und die meisten philosophischen Wissenschaften haben ihm ihre Unterscheidung, ihren Anfang zu verdanken. […] Er ist so umfassend und spekulativ wie keiner. 5
3 4 5
Hegel, Enz.III S. 395, siehe auch Aristoteles, Metaphysik XII.7. Vgl. Kern, W. (1957). Hegel, VGPhil.II S. 132.
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Einleitung
Trotz dieser Hochachtung, mit der Hegel sich auf Aristoteles bezieht, lehnt er jedoch die politische Philosophie des Aristoteles – wie überhaupt das gesamte politische Denken der Antike – als vollständig überholt und ungeeignet für die Bedingungen der Moderne ab. Aus dem antiken Staats- und Gemeinschaftsverständnis lasse sich »für das Prinzip unserer Zeiten sozusagen nichts […] erlernen.« 6 Hegel verwirft somit die aristotelischen Überzeugungen zur politischen Philosophie gänzlich. 7 Dies bedeutet nicht etwa, dass er sie für wertlos hält und die Beschäftigung mit ihnen für vertane Zeit. In einem unmittelbaren Sinn können wir aber aus ihnen »nichts […] erlernen«, das heißt, wir können sie nicht einfach als gültige Einsichten für uns übernehmen. Hegel wendet sich somit gegen jeglichen Eklektizismus, der sich bei den antiken Schriften bedient, und gegen einen naiven Aristotelismus, der im Grunde nichts anderes ist als ein auf die Spitze getriebener Eklektizismus. Lehrreich ist die Beschäftigung mit der aristotelisch-antiken Politik dennoch, aber nur, wenn sie als ein insgesamt gescheitertes Projekt betrachtet wird. Aus dem Scheitern dieses philosophischen Versuches, das sich unter anderem in der Doktrin vom natürlichen Sklaven zeigt, folgt für die moderne AristotelesRezeption, dass wir auf seine Einsichten nur in gewandelter Gestalt zurückgreifen dürfen, angepasst an das moderne Menschenbild. Die praktische Philosophie des Aristoteles verlangt also nach einer erheblichen Arbeit der Vergegenwärtigung. Aufgrund dieser besonderen Beziehung Hegels zu Aristoteles zwischen Respekt und Abgrenzung können wir Hegels eigene Position auch als einen transformierten Aristotelismus bezeichnen. In ihm findet eben diese kritische und zugleich würdigende Auseinandersetzung mit Aristoteles statt, die für die vorliegende Untersuchung erforderlich ist. Der zweite Grund, weshalb mir Hegel als Bezugspunkt für diese Arbeit vielversprechend erscheint, ist die Tatsache, dass er in seiner Diskussion des Aristoteles die Kategorien anwendet, die ich für eine richtige Einschätzung der Doktrin vom natürlichen Sklaven für entHegel, VPhGes S. 67. Vgl. auch ebd., S. 17: »Nichts ist verschiedener als die Natur dieser Völker und die Natur unserer Zeiten.« 7 Diese Feststellung ist in der Sekundärliteratur zu Hegel allerdings umstritten. Manche Interpreten gehen davon aus, dass Hegels Begriff der Sittlichkeit nichts anderes als ein Rückgriff auf die antike pólis-Gemeinschaft darstelle. Ein Ziel dieser Arbeit besteht auch darin, zu zeigen, dass dem nicht so ist und Hegel keine naive Wiederherstellung der griechischen Sittlichkeit erstrebt. Siehe hierzu die Diskussion in Ritter (1957), Ilting (1963) und Shklar (1976). 6
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Einleitung
scheidend halte: Hegel deutet die praktische Philosophie des Aristoteles als ein Denken der Freiheit. Dies bedeutet insbesondere, dass Hegel die aristotelische Tugend als selbstbestimmte Normativität auffasst und die antike pólis, die auf diesem Ideal der Tugend basiert, als eine selbstbestimmte Gemeinschaft interpretiert. Mit Hilfe der Tugenden, so Hegels Deutung, formen die Griechen ihr Wollen von bloßen Äußerungen der präsentischen Willkür zu einem vernünftigen Willen um, der ihnen ein langfristig selbstbestimmtes Handeln erlaubt. Die entsprechenden Normen finden sie nicht in der Welt vor, sondern schaffen sie sich selbst. Als Aristoteles-Lesart ist diese Deutung sicherlich unorthodox und geht gegen den Strich der gängigen Interpretationen der aristotelischen Ethik und Politik. Auch in der Sekundärliteratur zu Hegel wird die Radikalität und Eigenheit seiner Deutung des aristotelisch-griechischen Denkens nicht ausreichend erkannt und gewürdigt. Allerdings verhilft uns gerade dieser unkonventionelle Ansatz Hegels, der die praktische Philosophie des Aristoteles als einen Versuch deutet, Selbstbestimmung zu denken, zu einem Verständnis der Bedeutung des natürlichen Sklaven: Die aristotelische Doktrin ist kein Produkt von Bösartigkeit, ideologischer Verblendung oder elitärer Überheblichkeit. Vielmehr entsteht die Figur des natürlichen Sklaven durch ein unvollkommenes Konzept der Selbstbestimmung. Aristoteles denkt die Freiheit des Menschen mangelhaft, so dass sein Begriff der Selbstbestimmung nur einige Menschen mit einbezieht, aber nicht alle, wie es angemessen wäre. 8 Hegels Aristoteles-Deutung erlaubt uns, den natürlichen Sklaven in seinen systematischen Zusammenhang einzuordnen. Die Rechtfertigung der Sklaverei ist kein isoliertes Theorem, sondern folgt aus dem aristotelischen Verständnis von Freiheit. Die Unmenschlichkeit der Sklaverei tritt gewissermaßen an den Rändern des aristotelischen Konzepts der Selbstbestimmung auf, das für seine Aufgabe nicht ausreicht. Durch diesen Bezugsrahmen, den Hegels Deutung steckt, gestaltet sich das Thema dieser Arbeit als Untersuchung der aristotelischen Auffassung von Selbstbestimmung. Dies heißt: Wie können die Normen der aristotelischen Tugend als Normen der Selbstbestimmung aufgefasst werden? Welches Verständnis von Selbstbestimmung liegt diesem Ansatz zugrunde? Und schließlich: Wie sieht eine adäquate Kritik aus, die den aristotelischen Versuch als mangelhaft ausweist? 8
Vgl. Hegel, VPhGes S. 31 und Enz.III § 482, S. 301.
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Einleitung
Die Doktrin vom natürlichen Sklaven ist zwar der Stein des Anstoßes für unsere Ablehnung des aristotelischen Verständnisses von Freiheit, sie kann diese Ablehnung aber nicht begründen. Um einen Begriff zu kritisieren, können wir uns nicht darauf beschränken, einen eigenen, abweichenden Begriff entgegenzustellen, der uns aufgrund unserer womöglich partikulären Intuitionen besser gefällt. Vielmehr verlangt die philosophische Redlichkeit den Nachweis, dass der aristotelische Begriff den inneren und notwendigen Ansprüchen an einen Begriff der Selbstbestimmung nicht genügt. Eine Aufgabe dieser Arbeit ist es daher, zu prüfen, wie eine geeignete Methode der Kritik aussieht. Hegel stellt hierzu fest, dass es in der Regel nicht ausreicht, einen Begriff der Selbstbestimmung ausschließlich auf der Ebene der theoretischen Erörterung zu betrachten. Ein hinreichend anspruchsvolles Konzept der Selbstbestimmung kann nicht erschöpfend durch die abstrakten Beschreibungen und durch die Selbstkommentierungen der Vertreter dieses Konzepts erfasst werden. Selbstbestimmung ist wesentlich Tätigkeit und muss daher auch als wirkliche Tätigkeit betrachtet werden. Für die Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Begriff bedeutet dies, dass nicht nur die Erläuterungen zur Tugend in den Ethiken und der Politik hinzugezogen werden müssen, sondern zusätzlich seine Verwirklichung in einer Gemeinschaft, die sich tatsächlich über diesen Begriff definiert und selbst konstituiert. Laut Hegel finden wir eine solche Gemeinschaft in der griechischen pólis: In den Institutionen und Praktiken der antiken griechischen Stadtstaaten sei der Begriff von Selbstbestimmung am Werke, den Aristoteles unter dem Etikett der Tugend in seinen philosophischen Schriften untersucht. Zur Kritik der aristotelischen Tugend gehört es daher für Hegel, ein historisches Panorama des griechischen politischen Lebens zu entwerfen. Indem Hegel die praktische Philosophie des Aristoteles auf diese Weise mit der antiken pólis verbindet, deutet er die griechischen Stadtstaaten ebenfalls in den Kategorien der Freiheit. Er sieht die griechische pólis – vor allem und paradigmatisch die attische Demokratie – als ein Projekt der Freiheit: Den Griechen sei es mit ihrer »schönen Freiheit« 9 als erstem Volk der Weltgeschichte gelungen, eine vergleichsweise stabile Gemeinschaft der selbstbestimmten Kooperation zu schaffen. Bei den Griechen beginne daher die »konkrete 9
Hegel, VPhGes S. 31.
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Einleitung
Lebensfrische des Geistes« 10, der Mensch trete das erste Mal in eine Gemeinschaft ein, die seinem Wesen zumindest in Grundzügen angemessen ist. Die überschäumende Kreativität der Griechen, die sich mit der Philosophie und den Wissenschaften die Welt auf neue Weise erschließen und so gewissermaßen einen geistigen Urknall für die weitere Entwicklung des Abendlands darstellen, führt Hegel nicht zuletzt darauf zurück, dass sich die Griechen als erste bewusst werden, dass sie sich die Normen ihrer Lebensform selbst geben und selbst für sich verantwortlich sind. Eine Kritik der aristotelischen Tugend bedeutet für Hegel daher zunächst eine Würdigung der antiken pólis als Wirklichkeit der Freiheit. Zugleich interpretiert Hegel das historische Schicksal der griechischen Staaten derart, dass die griechische Freiheit nur beschränkt gelingt und in sich bereits den Keim ihres Untergangs trägt. Die politischen Institutionen und Gremien können nicht die inneren Fliehkräfte bändigen, die die griechischen Verfahren der Selbstbestimmung entfalten. In der Folge dieser Entwicklung verlieren die griechischen Stadtstaaten ihre innere Einheit und reiben sich in Fraktionskämpfen und Bürgerkriegen auf. Hegel zufolge werden dieser Bedeutungsverlust und Verfall der pólis-Gemeinschaft nicht allein durch zufällige Umstände verursacht – anders als etwa der Untergang Pompejis, der durch das rein äußerliche Ereignis des Vesuvausbruchs ausgelöst wird –, sondern aus einer inneren Krise heraus. Die griechischen Institutionen und Praktiken, so beeindruckend und innovativ sie sind, ermöglichen keine dauerhafte, langfristig stabile Kooperation. Laut Hegel ist dieses Unvermögen begrifflich bedingt. Das Scheitern der griechischen pólis sieht er als Folge eines verfehlten Verständnisses von Selbstbestimmung, welches er im Wesentlichen mit dem aristotelischen Begriff der selbstbestimmten Tugend gleichsetzt. Hegels Methode der historischen Begriffskritik geht folglich den Umweg über die Betrachtung einer geschichtlichen Krise konkreter Gemeinschaften und Institutionen, in denen dieser Begriff seinen Ausdruck findet: Indem Hegel mit seiner Kritik zeigt, dass ein bestimmter Begriff von Selbstbestimmung nicht in der Lage ist, dauerhaft die Grundlage einer selbstbestimmten Gemeinschaft zu bilden, weist er nach, dass dieser bestimmte Begriff den eigenen Ansprüchen nicht genügt. Auf diese Weise werden für die Kritik keine fremden,
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Ebd., S. 275.
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Einleitung
möglicherweise partikulären Maßstäbe an ein Verständnis von Selbstbestimmung herangetragen, sondern es wird nachgewiesen, dass es seine eigentliche Aufgabe der Ermöglichung von Selbstbestimmung nicht erfüllt. Mit dem weltgeschichtlichen Untergang der pólis betrachtet Hegel daher das griechisch-aristotelische Projekt des Denkens der Freiheit in seiner konkreten Form gescheitert. Aus einer Untersuchung dieses Scheiterns können wir allerdings ablesen, so Hegel, wie ein besseres, dem menschlichen Handeln angemesseneres Verständnis von Selbstbestimmung auszusehen habe. In der weltgeschichtlichen Betrachtung sind die Bemühungen der Griechen nicht vergeblich. Der transformierte Aristotelismus Hegels besteht somit vor allem in der Einsicht, dass wir aus den Fehlern des Aristoteles und seiner Zeitgenossen lernen können und müssen. Hegels besondere Methode der Kritik macht es daher für die Aufgabe dieser Arbeit erforderlich, seine Darstellung der antiken pólis als eine Verwirklichung des aristotelischen Begriffs von Selbstbestimmung interpretatorisch und systematisch zu rekonstruieren. Ich gehe hierbei in folgenden Schritten vor: In Teil I widme ich mich unmittelbar der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei im ersten Buch der Politik. Ich stelle die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven vor und diskutiere gängige Ansätze der Sekundärliteratur, sie als widersprüchlich auszuweisen. Solche Widerlegungsversuche scheitern allerdings: Der Begriff des natürlichen Sklaven und die zugehörige Rechtfertigung der Sklaverei lassen sich als in sich konsistent darstellen und sind zudem mit zentralen Prinzipien der aristotelischen Ethik verbunden, nämlich der Kontextabhängigkeit des praktischen Guten und der Selbstbewusstseinsbedingung guten Handelns. Somit bildet die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei einen integralen Bestandteil seines ethischen Systems und lässt sich nicht ohne Weiteres davon abtrennen. Ich gehe auch beispielhaft auf Modifikationsversuche ein, welche die aristotelische Ethik um moderne Prinzipien ergänzen wollen, um so die Figur des natürlichen Sklaven zu vermeiden, und zeige, dass diese Ansätze zu oberflächlich bleiben, um dem Kern des Problems zu begegnen. Dieser erste Teil der Arbeit hat vor allem die Aufgabe, die systematische Verwurzelung der aristotelischen Doktrin des natürlichen Sklaven herauszuarbeiten, und soll auf diese Weise die Notwendigkeit einer grundlegenden und umfassenden Kritik ausweisen. 20 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
In Teil II dieser Arbeit leite ich über zu Hegel und stelle die Methode des weiteren Vorgehens sowie die Grundlagen meiner HegelLesart vor. In Anlehnung an Rahel Jaeggis Typologie der Kritik diskutiere ich die Anforderungen an einen angemessenen kritischen Umgang mit einem in sich weitgehend geschlossenen und anspruchsvollen System wie dem aristotelischen, und skizziere die Umrisse von Hegels historisch-immanenter Kritik, die diesen Anforderungen zu entsprechen scheint. Anschließend stelle ich drei Hypothesen vor, die die heuristische Ausgangsbasis meiner Hegel-Interpretation bilden und von denen aus ich meine systematische und exegetische Rekonstruktion der hegelschen Kritik an Aristoteles entwickle: Die erste These betrifft das Verhältnis von Aristoteles zum »griechischen Geist«, den Griechen sowie der griechischen pólis in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hegel sieht Aristoteles als paradigmatischen Denker seiner Zeit an, dessen Philosophie die griechische Weltanschauung und das Selbstverständnis der Griechen auf philosophisch-geordnete Art ausdrückt. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies insbesondere, dass Hegel in seinen Erörterungen der pólis auch das notwendige Material für seine historischimmanente Kritik des aristotelischen Denkens vorbereitet. Die zweite These besagt, dass für Hegel das grundlegende Prinzip des »griechischen Geistes«, welches Aristoteles in seiner praktischen Philosophie formuliert und das seine institutionelle Verwirklichung in der antiken pólis findet, der Begriff der Tugend ist. Hegel versteht die griechische Sittlichkeit als ein System der Tugend. Er zeichnet ein Bild der antiken pólis, das durch das Ideal des tugendhaften Bürgers geprägt ist, auf den die Institutionen und Praktiken ausgerichtet sind. An dieser Stelle gehe ich näher auf die Eigenschaften des Tugendbegriffs ein, den Hegel seiner Untersuchung zugrunde legt. Die dritte These betrifft schließlich die schon angesprochene unorthodoxe Deutung Hegels der griechischen Tugendsittlichkeit als ein Bewusstsein der Freiheit: Er schreibt den antiken Griechen die Erkenntnis zu, dass ihre Tugendnormen selbstgeschaffene Normen sind, und betrachtet demnach die pólis-Gemeinschaft, die auf dem Begriff der Tugend beruht, als eine wesentlich selbstbestimmte Gemeinschaft. In Teil III der Arbeit gehe ich näher auf die Frage ein, was es bedeutet, dass die Tugend als das Prinzip der Selbstbestimmung einer Gemeinschaft aufgefasst wird. Ich erläutere, dass Hegel die griechisch-aristotelische Tugend als einen Lösungsansatz für ein spezifisches Problem betrachtet, das ich das »Paradox der Selbstbestim21 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
mung« nenne. Dieses Paradox, das sich sowohl auf der Ebene individueller Autonomie als auch auf der Ebene gemeinschaftlicher Selbstbestimmung wiederfindet, besteht im Wesentlichen darin, dass zum Begriff der Selbstbestimmung die beiden scheinbar widerstrebenden Momente der Selbstgestaltung und Selbstverpflichtung gehören. Das selbstbestimmte Subjekt muss zwei gegensätzliche Rollen einnehmen: Es ist gleichermaßen Gesetzgeber und Adressat des eigenen Gesetzes. Somit erscheint es allerdings unklar, wie ein Subjekt sich durch seine eigenen Normen binden kann, wenn ihm doch die gleiche Autorität, mit der es die Normen einsetzen kann, erlaubt, diese auch wieder aufzuheben. Ich diskutiere dieses Problem zunächst abstraktsystematisch auf seinen beiden Ebenen und stelle anschließend den Lösungsansatz vor, den Hegel in seinen Geschichtsvorlesungen den antiken Griechen zuschreibt: Hegel zufolge lösen die Griechen den scheinbaren Widerstreit der gegensätzlichen Momente der Selbstbestimmung, indem sie sie auf zwei zeitlich getrennte Phasen aufteilen, in denen jeweils ein anderes Verhältnis zu den eigenen sittlichen Normen herrscht. In der Gestaltungsphase werden die Normen gemeinsam frei ausgehandelt, in der Anwendungsphase gelten diese Normen verbindlich. Ich stelle einige Textbelege vor, wie Hegel dieses Zwei-Phasen-Modell selbstbestimmter Normen in der griechischen Sittlichkeit verwirklicht sieht, und erläuterte die systematischen Gründe, die für Hegels These sprechen, dass Tugendnormen als zweiphasige Normen gedacht werden müssen. Der Teil IV der Arbeit untersucht kooperationstheoretische und begrifflich-systematische Bedingungen des griechischen ZweiPhasen-Modells der Selbstbestimmung. Insbesondere betrachte ich hierbei die Anforderungen, die das Modell an die Anwendungsphase stellt: Die Anwendungsphase wird durch ein Verhältnis zu den selbstbestimmten Normen geprägt, welches die Normen als stabil, fixiert, für alle qualifizierten Gemeinschaftsmitglieder erkennbar und als verbindlich behandelt. Ich zeige, dass dieses Verhältnis an drei Überzeugungen gekoppelt ist, die ich die drei Objektivitätsthesen nenne und die sich auf die Erkennbarkeit der Normen an sich, die Beurteilbarkeit einer guten Handlung sowie auf die Einschätzbarkeit des Charakters des Handelnden beziehen. Ich stelle diese drei Thesen vor, zunächst unabhängig von Hegels Text, und diskutiere ihren inneren Zusammenhang. Anschließend erörtere ich, wie Hegel diese Anforderungen sowie die zugehörige vergegenständlichende Auffassung praktischer Normen in der Tugendsittlichkeit der Griechen und in 22 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
den Institutionen ihrer pólis verwirklicht sieht. Dieser Teil erläutert somit, auf welche Weise sich die Griechen bei Hegel als eine selbstbestimmte Gemeinschaft auf der Grundlage der Tugend verstehen, und legt zugleich die systematischen Angriffspunkte der griechischen Normauffassung frei, gegen die sich Hegels Kritik richtet. In den Teilen V und VI der Arbeit untersuche ich schließlich, wie sich bei Hegel die historische Kritik am Prinzip der Tugend entfaltet. Nach Hegels Verständnis handelt es sich hierbei um eine Kritik, die nicht von außen an die griechische Lebensform herangetragen wird, sondern sich aus dem griechischen Denken selbst entwickelt. Die antiken Griechen, so Hegel, stoßen auf die Krisenanfälligkeit ihres Modus der Selbstbestimmung und beginnen an den normativbegrifflichen Annahmen zu zweifeln, auf denen ihre zweiphasige Kooperation beruht. Diese Zweifel führen schließlich zu einem Vertrauensverlust in die Institutionen und Praktiken ihrer pólis und weiten sich zu einer umfassenden Krise aus. An drei Orten in seinen Geschichtsvorlesungen beschreibt Hegel solche Zweifel: Am offensichtlichsten treten die Sophisten als Kritiker der griechischen Sittlichkeit auf. Eine implizite Kritik finden wir in der Praxis der Orakelbefragungen verkörpert. Die endgültige Kritik, die der pólis den Todesstoß versetzt, äußert Hegel zufolge Sokrates. Alle drei Formen der Kritik haben gemeinsam, dass sie sich in der einen oder anderen Weise gegen die Auffassung richten, in der Anwendungsphase könnten praktische Normen als objektiv verstanden werden (siehe Teil IV). In Teil V gehe ich auf die ersten beiden Arten der Kritik ein, die Hegel bei den Sophisten und der griechischen Orakelpraxis verortet. Die sophistische Kritik richtet sich in Hegels Darstellung vor allem gegen die griechischen Institutionen der gemeinsamen Beratung und Beurteilung. Indem die Sophisten durch ihre rhetorische Kunstfertigkeit beweisen, dass diese Institutionen beliebig manipuliert werden können, führen sie vor, dass der griechische Glaube an die Objektivität der Güte von Handlungen, das heißt an ihre gemeinsame Begründbarkeit und Beurteilbarkeit fehlgeht. Ein ähnliches Bewusstsein für die Problematik von Handlungsbeurteilungen vermutet Hegel als Grund für die griechischen Praktiken der Orakelbefragungen: Die Griechen hatten erkannt, so Hegel, dass jede Beschreibung einer Handlungssituation notwendigerweise unvollständig ist. Handlungssituationen sind stets unüberschaubar und mehrdeutig. Dies bedeutet, dass jede Entscheidung auf unzureichendem Wissen beruht und daher die Kette des praktischen Über23 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
legens nicht zu seinem natürlichen Ende geführt werden kann, sondern an einem willkürlichen Punkt abgebrochen werden muss. Hegel bezeichnet diesen Abbruch als »Entschließung«. Für die Griechen bedeutet die Einsicht in das irreduzible Willkürmoment der Entschließung eine Bedrohung der Objektivität tugendhaften Handelns, so Hegel, da sie durch die Entschließung ebenfalls ihre Praktiken der gegenseitigen Handlungsbeurteilung und -begründung empfindlich gestört sehen. Die griechischen Orakel deutet Hegel als einen – von Anfang an fragwürdigen – Versuch, die subjektive Willkür der Entschließung durch die vermeintlich objektive Zufälligkeit der Orakelzeichen zu ersetzen, um so die scheinbare Objektivität des tugendhaften Handelns aufrecht zu halten. In beiden Erscheinungen, den Sophisten und den Orakeln, sieht Hegel bereits ein aufkommendes Bewusstsein der Griechen für die Irrtümer ihrer vergegenständlichenden (»objektiven«) Auffassung praktischer Normen in der Anwendungsphase. In den Sophisten und den Orakelpraktiken äußert sich explizit und implizit ein Unbehagen der Griechen mit ihrer Auffassung von Selbstbestimmung. Allerdings ist Hegel der Ansicht, dass dieses Unbehagen noch nicht ausreicht, um als historisch-immanente Kritik am griechischen Prinzip zu wirken. Er spricht somit den Orakeln und Sophisten lediglich eine propädeutische Rolle für die eigentliche Entwicklung der historischimmanenten Kritik zu, welche erst von Sokrates geäußert wird. Ich skizziere einige Gründe für diese Einschätzung Hegels, aus der sich einige der Anforderungen ablesen lassen, die er an die Form historisch-immanenter Kritik stellt und die er weder bei den Sophisten noch bei den Orakeln für erfüllt hält. In Teil VI dieser Arbeit untersuche ich schließlich Hegels Darstellung des Sokrates. Für Hegel ist Sokrates der weltgeschichtliche Heros, der den Untergang der pólis einleitet und die Unvollkommenheit der griechischen Tugend als Prinzip der selbstbestimmten Kooperation aufzeigt. Sokrates ist somit bei Hegel die geschichtliche Gestalt, die die historisch-immanente Kritik äußert, welche den griechischen Geist in eine Krise stürzt und zugleich das nächste weltgeschichtliche Prinzip andeutet, das mit einem angemesseneren Verständnis von Selbstbestimmung verbunden ist. Durch diese Deutung der historischen Konstellation schafft Hegel den scheinbaren Anachronismus, dass es ausgerechnet Sokrates ist, der die entscheidende Kritik am aristotelischen Begriff der Tugend äußert. Für Hegel stellt diese Verkehrung der zeitlichen Ordnung allerdings kein Problem 24 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung
dar, weil er davon ausgeht, dass einerseits die historischen Prozesse, die Sokrates anstößt, geraume Zeit zur Entfaltung benötigen, und dass andererseits die philosophische Erkenntnis immer in der Rückschau operiert: Sokrates ist also seiner Zeit voraus, während Aristoteles in seiner Politik eine Gemeinschaftsform beschreibt, die schon längst untergegangen war. Sokrates knüpft für seine Kritik an die Einsichten der Sophisten und das griechische Unbehagen mit den Orakeln an. Anders als die Sophisten schließt Sokrates jedoch nicht aus der Problematik von Handlungsbegründungen und -beurteilungen, dass es überhaupt keine festen, verbindlichen Maßstäbe des guten Handelns mehr gäbe. Stattdessen fordert Sokrates, die Notwendigkeit des subjektiven Willkürelements im Entscheiden anzuerkennen. Eine solche Anerkennung bedeutet, dass auch Entscheidungen, die wir nicht unmittelbar nachvollziehen können, rechtmäßig sein können. Sokrates plädiert somit für die Zulässigkeit einer Gewissensentscheidung, für die dem Einzelnen ein Ermessensspielraum zugestanden wird, innerhalb dessen er sich für seine Entscheidungen nicht vollständig rechtfertigen muss. Die wechselseitige Anerkennung der Ermessensspielräume für Gewissensentscheidungen schafft so eine neue, objektive Ordnung der Toleranz. Hegel nennt Sokrates daher auch den »Erfinder der Moral« 11, also einer neuen Art der Handlungsbeurteilung, die anders als die Tugend nicht auf die inhaltliche Normentsprechung einer Handlung achtet, sondern auf ihre formale Vereinbarkeit mit einem Prinzip der Universalisierung. Sokrates’ Einsichten und Forderungen haben weitreichende Folgen, beispielsweise für die griechische Korrekturpraxis in den Gerichtsversammlungen, und überfordern das griechische Verständnis sowie ihre Institutionen der Kooperation. Aus diesem Grund überrascht es nicht, so Hegel, dass die Griechen ihm mit Unverständnis und sogar Feindseligkeit begegnen. Hegel rekonstruiert den Prozess gegen Sokrates als ein tragödienartiges Geschehen, in dem das griechische Prinzip der Tugend auf die sokratische Forderung nach einer Praxis des Gewissens trifft, die bereits auf das neue weltgeschichtliche Prinzip verweist. Erst mit dem Tod des Sokrates, so Hegel, können die Griechen die Radikalität seiner Position verstehen und erkennen, dass seine Kritik am Prinzip der Tugend zutrifft. Ich diskutiere Hegels Darstellung des Prozessgeschehens und zeige zum einen, was Hegels 11
Hegel, VPhGes S. 329.
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Einleitung
Deutung der Ereignisse über seine Auffassung einer effektiven historisch-immanenten Kritik besagt. Zum anderen erörtere ich, weshalb laut Hegel die Begriffe des Gewissens und der Moral bei Sokrates noch problematisch sind – Sokrates macht sich notwendigerweise der Selbstgerechtigkeit schuldig –, und skizziere, welche Vorstellung Hegel von geschichtlicher Entwicklung mit dieser Feststellung verbindet. Am Schluss dieser Arbeit werfe ich im Epilog einen Blick zurück auf den Ausgangspunkt dieser Untersuchung, die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei, und überlege, wie wir der Figur des natürlichen Sklaven mit den sokratischen Einsichten in die fehlende Objektivität der Tugendnormen und die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens begegnen können.
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Teil I: Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
I.1 Ein Ärgernis in der aristotelischen Philosophie Für einen modernen Denker, der sich aufgeschlossen mit Aristoteles beschäftigt oder sich gar als Aristoteliker versteht, ist die Haltung des Philosophen zur Sklaverei ein Ärgernis. Wenn Aristoteles Sklaverei »natürlich« nennt und es somit für ethisch akzeptabel erklärt, dass einige Menschen zum rechtlosen Dasein als Sklave geboren seien, dann finden wir das heute beschämend. Aristoteles ist einer der Urväter der Philosophie, seine Überlegungen, Begriffe und Argumente prägen noch heute die wissenschaftliche Debatte. Es scheint nahezu unfassbar, wie ein kluger Kopf, der so scharfsinnig ist, zugleich einem derart entsetzlichen Irrtum aufsitzt. In der Rezeptionsgeschichte spielt die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei eine äußerst unrühmliche Rolle: Immer wieder zogen Befürworter der Sklaverei Aristoteles als Gewährsmann heran, beispielsweise 1550 bei den Disputen von Valladolid über den rechtlichen Status der amerikanischen Ureinwohner. Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas ließ sich deshalb zu dem Wutausbruch hinreißen, dass Aristoteles nicht mehr als ein Heide sei, der in der Hölle brenne und dessen Denken gegen die christliche Religion verstoße – eine durchaus brisante Äußerung, wenn wir bedenken, dass die aristotelische Philosophie über den Thomismus längst Eingang in die katholische Orthodoxie gefunden hatte. Etwas diplomatischer äußerte sich Papst Paul V., der sich 1537 in seiner Bulle Deus Sublimis grundsätzlich gegen eine Anwendung der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven aussprach. 1 Noch im 19. Jahrhundert bedienten sich Intellektuelle der amerikanischen Südstaaten bei der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei, um die Argumente der Abolitionisten zu kontern. 2 1 2
Vgl. Hanke (1959). Siehe Wish (1949).
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
Natürlich ist es nicht unproblematisch, Aristoteles für all das historische Unrecht verantwortlich zu machen, das über zweitausend Jahre nach seinem Tod in seinem Namen verübt wurde, aber die unselige Wirkungsmacht seiner Lehre ist zumindest ein erster Grund, dass die entsprechenden Äußerungen in einer modernen Auseinandersetzung mit Aristoteles nicht einfach ignoriert werden sollten. Hinzu kommt, dass es sich bei der aristotelischen Doktrin einer gerechten Sklaverei nicht etwa um eine marginale Bemerkung handelt, die zu irgendeiner kleineren Schrift des Corpus Aristotelicum gehört. Stattdessen vertritt Aristoteles sie an zentralen Orten seiner Politik und seiner Ethiken, er erwähnt sie mehrfach und diskutiert sie ausführlich. Somit ist sie Teil seiner wichtigsten Schriften zur praktischen Philosophie, die uns überliefert sind, und nimmt dort einen exponierten Platz ein. Diese textliche Prominenz und die historische Rezeption der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei sind jedoch nur zwei Aspekte, die für die rein philosophische Betrachtung nachrangig sind im Vergleich zur Frage nach ihrem systematischen Stellenwert: Wie wichtig ist die Idee vom »natürlichen Sklaven« für das aristotelische Gedankengebäude? Wie tief reicht die Rechtfertigung, wie fest ist sie mit den übrigen ethischen und politischen Überzeugungen verschmolzen? Da Aristoteles sich zu einer beeindruckenden Vielfalt von Themen äußert und auf den verschiedensten Gebieten wissenschaftliche Pionierarbeit leistet, unterlaufen ihm natürlich hin und wieder Irrtümer, die wir heute geradezu absurd finden, etwa den Gedanken, dass Frauen weniger Zähne besitzen als Männer, 3 oder seine Überlegungen zur Spontanzeugung von Belebtem aus Unbelebten – Fliegen entstehen aus Dung, schleimiger Meeresgrund könne sich in Austern verwandeln, und dergleichen mehr. 4 Solche Fehlgriffe können wir aber in der Regel problemlos ausblenden, weil sie nicht den argumentativen Gehalt der entsprechenden Texte betreffen. Je enger jedoch die Rechtfertigung der Sklaverei mit dem Wesenskern des aristotelischen Denkens verwoben ist, umso schwerer dürfte es uns fallen, seine Einsichten für unsere moderne Debatte zu aktualisieren. Sollte sich herausstellen, dass die Sklaverei ein zentraler Bestandteil der praktischen Philosophie des Aristoteles ist, dann können wir heute in der Ethik keine Aristoteliker sein, zumindest nicht ohne tiefgreifende Transformationen des Gedankenguts. Insofern ist die Frage 3 4
Aristoteles, Historia Animalium, II.3. Ebd., V.15 und 19.
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Ein Ärgernis in der aristotelischen Philosophie
nach der systematischen Einbettung der Rechtfertigung existenziell. Mit ihr steht und fällt die Möglichkeit eines modernen Aristotelismus. Die Lehre vom »natürlichen Sklaven« ist für den Neoaristoteliker also mehr als eine bedauerliche »Peinlichkeit«. 5 Vielmehr sollte sie eine systematische Auseinandersetzung mit ihr erzwingen. Die häufigste Strategie moderner Aristoteliker besteht allerdings immer noch darin, die entsprechenden Bemerkungen stillschweigend auszuklammern. Diese Vogel-Strauß-Technik scheint mir jedoch wenig sinnvoll. Sie beraubt uns der Möglichkeit eines tieferen Verständnisses des aristotelischen Systems. In gewisser Weise ermangelt es ihr sogar an Respekt gegenüber dem antiken Denker: Aristoteles hat es verdient, so finde ich, dass wir ihm zutrauen, auch auf unbequeme Fragen eine Antwort zu haben – selbst wenn uns diese Antwort möglicherweise nicht gefällt. Drei weitere neoaristotelische Strategien seien hier genannt, die zumindest versuchen, einen intellektuell aufrichtigen Umgang mit der Doktrin des natürlichen Sklaven zu finden: Ein Ansatz besteht darin, die Lehre vom natürlichen Sklaven als einen Fremdkörper im aristotelischen Text zu betrachten. Er deutet die Doktrin als ein unreflektiertes Vorurteil seiner Zeitgenossen oder als ein ideologisches Einsprengsel, welches entweder unabhängig von den übrigen Einsichten oder sogar im Widerspruch dazu steht. Träfe diese Annahme zu, könnten wir die Lehre vom natürlichen Sklaven von Aristoteles’ übrigen metaphysischen und ethischen Überlegungen säuberlich abtrennen. Seine Rechtfertigung der Sklaverei wäre ein schwerwiegender, aber lokal begrenzter Fehler. Ein solcher Fremdkörper könnte aus allerlei sachfremden Gründen in das aristotelische Werk gelangt sein. Wir wissen beispielsweise aus Aristoteles’ Testament, dass er selbst Sklaven hielt. 6 Es wäre somit vorstellbar, dass Aristoteles die Rechtfertigung der Sklaverei nur aus Schuldgefühl vorbringt, ohne wirklich von der Rechtmäßigkeit der Sklaverei überzeugt zu sein. Eine weitere Strategie hält die Verteidigung der Sklaverei für in sich widersprüchlich. Gemäß dieser Strategie habe Aristoteles zwar versucht – aus welcher Motivation auch immer –, die Institution der Sklaverei zu rechtfertigen, sei aber daran gescheitert. Sein Begriff des natürlichen Sklaven sei inkonsistent und daher nichtssagend. Ebenso wie der ideologische Erklärungsansatz baut Vgl. z. B. McDowell (1995), S. 201, MacIntyre (1995), S. 213 und Kraut (2002), S. 277. 6 Vgl. Diogenes Laertius, Vitae Philosophorum V.1. 5
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
auch die Strategie der Widersprüchlichkeit auf die Hoffnung, dass sich die Rechtfertigung der Sklaverei von dem übrigen aristotelischen Gedankengebäude abtrennen lasse. Die letzte und hintersinnigste Strategie schließlich geht davon aus, dass der Begriff des natürlichen Sklaven von Aristoteles absichtlich so restriktiv gestaltet worden sei, dass fast niemand unter diesen Begriff falle. 7 Dies bedeute, dass die reale zeitgenössische Institution der Sklaverei in Athen und anderswo eben nicht die aristotelischen Kriterien einer gerechten Sklaverei erfülle, sondern ein ungerechtes, unnatürliches Gewaltverhältnis darstelle. Unter dem Deckmantel einer philosophischen Rechtfertigung der Sklaverei verberge sich eigentlich eine Kritik der bestehenden Sklaverei. Der Vorteil dieser letzten Strategie besteht darin, dass sie in einem geschickten Schachzug das ursprüngliche Ärgernis im aristotelischen Text in ein Zeugnis mutiger Liberalität und Fortschrittlichkeit umdeutet. Aristoteles erscheint so als einer der ersten Abolitionisten der Geschichte. Ich denke allerdings, dass die Hoffnungen, auf die sich diese vier genannten Strategien gründen, trügen. Aristoteles verteidigt die Sklaverei nicht bloß beiläufig, aufgrund unreflektierter Vorurteile oder aus schlecht verstecktem Eigeninteresse eines Sklavenhalters. Erst recht dürfen wir ihn auch nicht als einen geheimen Helden der Sklavenbefreiung verklären. Im antiken Athen gab es durchaus kritische Stimmen gegen die Sklaverei, die sie offen und deutlich als ein widernatürliches Gewaltverhältnis bezeichneten, und nichts deutet daraufhin, dass Aristoteles Repressalien gedroht hätten, hätte er sich ihnen angeschlossen. Stattdessen diskutiert er diese Ansicht in seiner Politik und positioniert sich ausdrücklich gegen sie. 8 In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, dass diese Haltung des Aristoteles für uns heute zwar beklagenswert sein mag, sich in der Sache aber konsequent und folgerichtig zu seinen übrigen Überzeugungen verhält. Die Lehre vom natürlichen Sklaven ist kein Fremdkörper im aristotelischen System, sondern tief in seinem ethischen und metaphysischen Denken verwurzelt. Die Sklaverei ist ein integraler Bestandteil der aristotelischen Ethik, Anthropologie und Politik. Wir können sie nicht einfach ignorieren und die aristotelischen Einsichten abgetrennt von der Lehre des natürlichen Sklaven betrachten. FolgSo etwa Nichols (1992), S. 23 und Nussbaum (2001), S. 348. Einen Überblick zu dieser Debatte bietet Parker (2012). 8 Aristoteles, Pol. I.3, 1253b20 f. Eine solche Auffassung findet sich beispielsweise in Euripides’ Ion (Verse 854–856). 7
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Ein Ärgernis in der aristotelischen Philosophie
lich können wir heute keine Aristoteliker mehr in einem unmittelbaren Sinn sein. Zugleich bedeutet die tiefe Verwurzelung der Sklaverei im aristotelischen System, dass wir es uns mit einer Kritik dieser Position nicht allzu leicht machen dürfen. Die Doktrin des natürlichen Sklaven berührt viele fundamentale Überzeugungen und Argumente des Aristoteles, darunter auch solche, die unverdächtig und sogar philosophisch fruchtbar erscheinen. Es handelt sich nicht einfach um einen einzelnen, gut verortbaren Denkfehler, der Aristoteles zur Rechtfertigung der Sklaverei verführt. Dementsprechend müssen wir einerseits auf der Hut sein, wenn wir die aristotelischen Argumente nachvollziehen, dass wir nicht unversehens den gleichen Irrtümern unterliegen. Andererseits müssen wir uns der Grundlage versichern, von der aus wir die aristotelische Rechtfertigung kritisieren. Es genügt nicht, die aristotelische Lehre vom natürlichen Sklaven einfach aus modernem Selbstverständnis, unphilosophischem Ekel oder unreflektierter Überzeugung zu verwerfen. In den folgenden Teilen dieser Arbeit zeige ich mit Hegel, dass die Kritik der aristotelischen Doktrin genauso ›tief‹ ansetzen muss, wie diese Lehre bei Aristoteles verankert ist. Eine gehaltvolle Kritik ist nur als Nachfolge und Weiterentwicklung des aristotelischen Denkens möglich. In den folgenden Kapiteln werde ich die aristotelische Definition und Rechtfertigung der natürlichen Sklaverei genauer betrachten. Hierzu werde ich zunächst die aristotelische Beschreibung des natürlichen Sklaven erläutern (Kapitel I.2). Anschließend werde ich einige Probleme dieser Beschreibung nennen, die häufig für Widersprüche gehalten werden, und Vorschläge diskutieren, wie diese vermeintlichen Widersprüche aufgelöst werden können (I.3). Die Hoffnung vieler Neoaristoteliker, eine einfache Inkonsistenz im Begriff des natürlichen Sklaven zu finden, trügt also. Aristoteles’ Verteidigung der Sklaverei ist in sich schlüssig und folgt aus seiner metaphysischen Theorie des Guten. In Kapitel I.4 werde ich diesen Zusammenhang näher erläutern. Ich zeige, dass in der aristotelischen Rechtfertigung zwei Prinzipien angewendet werden, die für sich genommen durchaus plausibel und philosophisch fruchtbar erscheinen, nämlich das Prinzip der Kontextabhängigkeit des Guten und die Einsicht, dass die entscheidenden Standards menschlichen Handelns und Lebens eine selbstbezügliche Struktur besitzen – menschliches Handeln ist wesentlich selbstbewusstes Handeln. Beide Prinzipien führen jedoch dazu, dass Aristoteles denkt, nicht alle Menschen erfüllten gleicher31 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
maßen die Bedingungen, um als ebenbürtige Subjekte anerkannt zu werden. Auf diejenigen, für die dies nicht zutreffe, seien die Kategorien des Guten und der Gerechtigkeit nicht anwendbar, und es verbleibe für sie nur der Status eines natürlichen Sklaven. Schließlich gehe ich in Kapitel I.5 auf einige gängige Versuche ein, diese aristotelische Auffassung zu modifizieren, um die Doktrin vom natürlichen Sklaven zu vermeiden, und zeige, dass solche Lösungsansätze die systematische Verwurzelung der Doktrin unterschätzen.
I.2 Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven Für Aristoteles gehört Sklaverei zu den grundlegenden Formen menschlicher Beziehungen. Die kleinste und ursprünglichste Gemeinschaft, der Haushalt, besteht nicht nur aus Mann, Frau und Kindern, sondern bereits auch aus Sklaven. 9 Ein Sklave (δοῦλος) ist ein »lebendiges Besitzstück« (κτῆμά τι ἔμψυχον) 10 und ein »lebendiges Werkzeug« (ἔμψυχον ὄργανον). 11 Sklaven haben im Haushalt die unterste Stellung. Sie sind für einfache, körperlich anstrengende Tätigkeiten zuständig – genauso wie gezähmte Tiere. Aristoteles spricht recht allgemein davon, dass Sklaven im Haushalt für die »lebensnotwendigen Dinge« (τἀναγκαῖα) sorgen. 12 Vermutlich meint er damit grobe Arbeiten in der Landwirtschaft und im Garten; Sklaven pflügen den Acker, graben das Feld um, ziehen den Wagen mit der Ernte, betätigen die Winde am Brunnen und dergleichen. Ärmere Bürger, die sich nicht die teure Anschaffung eines Sklaven leisten können, mussten daher die entsprechenden Aufgaben durch Nutztiere erledigen lassen: »denn der Ochse vertritt bei den Armen die Stelle des Hausknechts«. 13 Wir können uns den typischen Sklaven, den Aristoteles hier charakterisiert, wohl auch ein bisschen wie einen Ochsen vorstellen: Kräftig und robust, so dass er seine schweren körperlichen Arbeiten durchführen kann, von gebeugter Statur und etwas unschön, möglicherweise nicht besonders flink (anders als der Freie sind Sklaven nicht für den Kriegsdienst geeignet) und
Aristoteles, Pol. 1253b4. Ebd., 1253b33. 11 Ebd., 1253b34 und Aristoteles, NE 1161b3. 12 Aristoteles, Pol. 1254b25. 13 Ebd., 1252b12. 9
10
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Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven
einfältig. 14 Aristoteles schreibt dem typischen Sklaven also ganz bestimmte physische und geistige Eigenschaften zu, aufgrund derer er sich für seinen Aufgabenbereich eigne. Mit der antiken Realität der Sklaverei hat diese aristotelische Beschreibung natürlich nur wenig gemeinsam. Sklaven waren häufig Kriegsgefangene. Sie rekrutierten sich aus allen Schichten und Ständen der unterworfenen Völker, auch Adelige und Könige wurden in die Sklaverei verkauft. Vielleicht die berühmteste, wenngleich bloß mythologische Sklavin der griechischen Antike ist die trojanische Prinzessin Kassandra, die vom griechischen Heerführer Agamemnon als Kriegsbeute verschleppt wurde: Die Tochter des Priamos war von höchster Geburt, klug, gebildet und von sagenhafter Schönheit. Sie stellt in jeder Beziehung den Gegenentwurf zu dem tumben, ochsenhaften Sklaven dar, den uns Aristoteles skizziert. Den zeitgenössischen Hörern des Aristoteles, die nicht nur mit der Geschichte der Kassandra vertraut waren, sondern die auch tagtäglich die Wirklichkeit der Sklaverei beobachten konnten, muss bewusst gewesen sein, dass die aristotelische Schilderung des Sklaven keine faktische Beschreibung sein kann, sondern offenbar eine Norm darstellen soll. Aristoteles selbst weist auf diese Verwendung hin, indem er zwei Bedeutungen des Wortes »Sklave« unterscheidet: Erstens werde jeder als »Sklave« bezeichnet, der eine bestimmte rechtliche Stellung habe, etwa durch Kriegsgefangenschaft oder durch Geburt. Diese Sklaverei »nach dem Gesetz« (κατὰ νόμον) könne jeden treffen, auch den Tugendhaften und den Adeligen. 15 Die Sklaverei nach dem Gesetz könne ungerecht und unethisch sein, etwa wenn jemand als Opfer eines ungerechten Krieges versklavt werde. 16 Zweitens gebe es neben dieser rein konventionellen Sklaverei auch Sklaven »von Natur« (φύσει). Hierbei handle es sich um Menschen, auf welche die obige Beschreibung zutreffe, das heißt, die aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur Sklavenarbeit geeignet seien. Für diese natürlichen Sklaven sei die Sklaverei »zuträglich und gerecht«. 17 Mit dieser Abgrenzung von der faktischen, konventionellen Sklaverei führt Aristoteles seine Lehre von der natürlichen Sklaverei ein. Den modernen Aristoteliker bringt er so in ein Dilemma. Einerseits stellt der Begriff vom natürlichen Sklaven ein kriti14 15 16 17
Vgl. ebd., 1254b25–55a1. Ebd., 1255a1–10. Ebd., 1255a20 ff. Ebd., 1255a1 f.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
sches Instrument bereit, an dem sich die antike Praxis der Sklaverei messen lassen muss. Es ist fraglich, auf wie viele der verschleppten Kriegsgefangenen tatsächlich die aristotelische Beschreibung vom natürlichen Sklaven passt. Somit ist es durchaus nachvollziehbar, dass einige Interpreten in der Lehre vom natürlichen Sklaven einen versteckten Versuch des Aristoteles sehen, den Großteil der antiken Sklaverei als unmoralisch zu entlarven (siehe voriges Kapitel I.1). Selbst wenn die Hoffnung überzogen ist, Aristoteles auf diese Weise rehabilitieren zu können, besitzt die aristotelische Lehre dennoch ein nicht zu unterschätzendes kritisches Potential. Andererseits ist die affirmative Komponente dieser Doktrin nicht zu übersehen: Aristoteles denkt, dass Sklaverei gerecht, ethisch geboten und sogar notwendig sein könne, weil einige Menschen zur Existenz als Sklaven geboren seien. Es wäre daher schädlich und unangemessen, sie anders zu behandeln. Für uns moderne Leser, die an Menschenrechte und an eine angeborene Würde glauben, klingen solche Aussagen entsetzlich. Dieser Eindruck wird verschärft, wenn Aristoteles erklärt, dass der natürliche Sklave vollkommen rechtlos sei. Er versteht die Sklaverei grundsätzlich als ein reines Ausbeutungsverhältnis, von dem allein die Sklavenhalter profitieren. Das Wohl der Sklaven wird nicht berücksichtigt. 18 Wie kann Aristoteles aber davon sprechen, dass ein solches reines Ausbeutungsverhältnis in gewissen Fällen, nämlich wenn es die sogenannten natürlichen Sklaven betrifft, gerecht sei? Eine ›gerechte Ausbeutung‹ ist offenbar ein Widerspruch in sich. Aus der bloßen Tatsache, dass natürliche Sklaven ochsenstark und einfältig sind, lässt sich die Rechtfertigung ihrer Versklavung nicht ableiten. In diesem Kapitel werde ich auf die aristotelische Definition des natürlichen Sklaven und seine Bemerkungen zur rechtlichen Stellung des Sklaven sowie zum Verhältnis von Sklavenhalter und Sklaven eingehen. Indem Aristoteles dieses Verhältnis als eine tyrannische Beziehung charakterisiert, verschärft er jedoch eher die Frage nach der Rechtfertigung der Sklaverei, als dass er sie beantwortet. Wie wir sehen werden, genügen die Bemerkungen in den Ethiken und der Politik nicht für ein wirkliches Verständnis des Begriffs des natürlichen Sklaven. Die aristotelische Lehre vom natürlichen Sklaven ist tief in seiner Metaphysik und seinem Verständnis vom menschlichen Guten verwurzelt. In dem Kapitel I.4 werde ich auf
18
Siehe meine Erläuterungen zur Sklaverei als Ausbeutungsverhältnis weiter unten.
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Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven
diese Fundamente näher eingehen, auf denen die Doktrin der natürlichen Sklaverei aufbaut. In seiner Politik unternimmt Aristoteles einen ersten Erklärungsversuch, um das Wesen des natürlichen Sklaven zu beschreiben: Derjenige Mensch nämlich, welcher von Natur nicht sich selber, sondern einem anderen angehört, der ist Sklave von Natur. Es gehört aber einem anderen an, wer dessen Besitztum ist, und ein Besitztum ist ein dem Handelndes dienendes Werkzeug, welches für sich besteht. 19
Dieser Erklärungsversuch beschränkt sich anscheinend auf eine Wiedergabe des rechtlichen Status: Der natürliche Sklave ist ein Besitzstück, ein Werkzeug seines Herrn. Er hat keine Ansprüche auf sich selbst, und dies aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften. Wenige Absätze später wiederholt Aristoteles diese Beschreibung, erweitert ihn aber um einen Zusatz, der eine Erläuterung der relevanten Eigenschaft zu sein scheint, die einen Menschen zu einem natürlichen Sklaven macht: Von Natur Sklave ist mithin derjenige, welcher einem anderen anzugehören vermag – und deshalb eben gehört er auch wirklich einem anderen an – und der an der Vernunft nur so weit teilhat, um ihre Gebote zu verstehen, ohne sie zu besitzen. 20
Die relevante Eigenschaft des Sklaven ist offenbar ein Vermögen, einer anderen Person zu gehören. Die gängige Lesart – und auch meine Interpretation – versteht den zweiten Satzteil als Erläuterung dieses Vermögens: Der Sklave besitze zwar selbst keine Vernunft, er könne aber auf irgendeine Weise die Vernunft wahrnehmen (αἰσθάνεσθαι). Damit meint Aristoteles, dass der Sklave zwar nicht selbstständig denken kann, aber durchaus in der Lage ist, auf die (mehr oder weniger vernünftigen) Befehle seines Sklavenhalters zu hören. Um eine Fähigkeit handelt es sich bei dieser Wahrnehmung der Vernunft nur in einem abgeleiteten Sinn. Eigentlich müsste der Sklave, da er ein Mensch und somit ein vernünftiges Lebewesen ist, eigenständig Vernunft besitzen. Dies ist im Falle des natürlichen Sklaven definitionsgemäß nicht so. Die vermeintliche Fähigkeit ist also genaugenommen ein Defizit – sein Vernunftvermögen ist derart eingeschränkt, dass es lediglich empfänglich für fremde Vernunft ist. Aristoteles nimmt hier eine feine Differenzierung vor, die auf den ersten 19 20
Ebd., 1254a10 ff. Ebd., 1254b20 ff.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
Blick zwar nicht völlig verständlich ist, aber anscheinend die schwerwiegenden Folgen nach sich zieht, dass ein natürlicher Sklave dazu geeignet sei, »einem anderen anzugehören«. Offenbar will Aristoteles dem natürlichen Sklaven die Vernunft nicht restlos absprechen. Natürliche Sklaven sind keine vernunftlosen Tiere. Was meint nun Aristoteles damit, ihre Vernunftfähigkeit sei darauf beschränkt, fremde Vernunft »wahrzunehmen«? Tiere besitzen dieses Wahrnehmungsvermögen laut Aristoteles nicht. Der Ochse gehorcht zwar auch den Befehlen seines Herrn, aber auf einer anderen Grundlage: »Die anderen Lebewesen vermögen die Gebote der Vernunft (lógos) auch nicht zu verstehen, sondern sind nur Empfindungen (páthēma) unterworfen.« 21 Tiere müssen abgerichtet und konditioniert werden, damit sie ihre Arbeit verrichten. Sie werden mit Futter belohnt, wenn sie sich richtig verhalten, und mit Schlägen bestraft, wenn sie ihre Aufgaben nicht erfüllen. Sklaven hingegen verstehen die Sprache ihres Herrn. Sie müssen zu ihrer Arbeit ermuntert und ermahnt werden, ähnlich wie Kinder – wie Aristoteles bemerkt, »sogar noch viel mehr als die Kinder«. 22 Natürliche Sklaven sind somit nicht die einzigen Menschen, die laut Aristoteles ein unvollständiges Vernunftvermögen haben. In der Politik vergleicht Aristoteles natürliche Sklaven mit Frauen und Kindern: »Denn dem Sklaven fehlt überhaupt die Kraft zur Überlegung (bouleutikón), das Weib besitzt sie, aber ohne Entschiedenheit, das Kind gleichfalls, aber noch nicht zur Vollendung entwickelt.« 23 Nur der männliche, freie Bürger verfügt demnach in vollem Maße über die Vernunft. Für Aristoteles ist das Vernunftvermögen ausschlaggebend für den rechtlichen Status einer Person. Aristoteles formuliert hierzu folgendes Prinzip: »denn für verschiedene Menschen ist auch die Art der Herrschaft (archē) verschieden.« 24 Vernünftige Männer müssten anders regiert werden als Frauen, Frauen werden anders behandelt als Kinder, unvernünftige Menschen schließlich wiederum anders. Offenbar gilt dieses genannte Prinzip nicht für alle Unterschiede. Verschiedene Haarfarben, Nasenlängen, künstlerische oder musische Begabungen verlangen anscheinend keine rechtliche Sonderbehandlung. Dass Aristoteles glaubt, nur Unterschiede in der Vernunftbegabung könnten solche 21 22 23 24
Ebd., 1254b20 ff. Ebd., 1260b1 ff. Ebd., 1260a12–14. Aristoteles, NE 1160b30 f.
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Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven
rechtlichen Unterschiede konstituieren, ist in gewisser Weise nachvollziehbar. Eine Person braucht gewisse vernünftige Kapazitäten, um bestimmte Rechte einfordern zu können und bestimmte Pflichten auszufüllen. Auch in modernen Demokratien haben Minderjährige kein Wahlrecht und dürfen keine wichtigen politischen Ämter übernehmen. Geistig Behinderte oder schwer Demenzkranke können unter bestimmten Umständen entmündigt werden und verlieren so einen Teil ihrer Bürgerrechte und -pflichten. Das Prinzip »Verschiedene Arten von Herrschaft für verschiedene Menschen« ist daher, so scheint es, an sich nicht verwerflich und auch mit den Grundsätzen eines modernen Rechtsstaats vereinbar. Vor allem folgt aus diesem Prinzip allein nicht, dass Menschen, die der aristotelischen Beschreibung eines natürlichen Sklaven entsprechen, völlig rechtlos sind und ausgebeutet werden dürfen. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass sie eine begrenzte Vernunftfähigkeit besitzen (die Fähigkeit, auf Vernunft zu hören), scheint nahezulegen, dass sie zumindest begrenzte Rechte haben, die dieser Fähigkeit korrespondieren. Aristoteles sieht dies jedoch anders. Am deutlichsten zeigt sich seine Haltung, die natürliche Sklaven zu rechtlosen Objekten herabwürdigt, in seiner Analyse der verschiedenen Beziehungen im Haushalt. 25 Dort macht Aristoteles unmissverständlich klar, dass er den Sklaven nur als ein Werkzeug seines Herren ohne eigene Ansprüche sieht. Ausgangspunkt seiner Erörterung der zwischenmenschlichen Beziehungen und Machtstrukturen im Haushalt ist das oben genannte Prinzip »Verschiedene Arten von Herrschaft für verschiedene Menschen«. Männer, Frauen, Kinder und Sklaven haben laut Aristoteles unterschiedliche Fähigkeiten und Aufgaben, deshalb müsse auch unterschiedlich mit ihnen umgegangen werden. Sie müssen unterschiedlich »regiert« werden. Innerhalb eines Haushalts herrschen deshalb verschiedene Machtstrukturen. Diese können angemessen sein – wenn der Haushalt wohlgeordnet ist – oder in Schieflage geraten. Aristoteles führt nun vor, wie diese Machtstrukturen innerhalb des Haushalts analog zur verschiedenen Staatsformen seien: So wie im Großen eine pólis auf unterschiedliche Weise verfasst sein könne, so verhalten sich im Kleinen auch die zwischenmenschlichen Beziehungen im Haushalt. Dabei gebe es, genauso wie bei den Staatsverfassungen, Idealformen und Verfallsformen der Ordnung. Beispielsweise stellt sich Aristoteles die ideale Beziehung eines Vaters zu seinen Kindern analog zur mo25
Ebd., VIII.12–13.
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narchischen Herrschaft vor: Wie ein guter König, der unbestrittene Autorität besitzt, aber seine Macht nicht missbraucht, sondern sie für das Wohl seiner Untertanen einsetzt, kümmere der Vater sich um das Kindeswohl. 26 Falls der Vater allerdings kein Durchsetzungsvermögen besitze, verkomme der Haushalt, so wie eine pólis zur Fehlform der Demokratie degeneriere, wenn es keinen entscheidungsstarken Herrscher gebe. Auf diese Weise dekliniert Aristoteles die verschiedenen Staatsverfassungen durch und sucht für sie Entsprechungen im Haushalt: Zwischen gleichaltrigen Brüdern solle ein timokratisches Verhältnis herrschen, die ideale Beziehung von Ehemann und Ehefrau hingegen denkt sich Aristoteles in Analogie zur Aristokratie: Keiner der Ehepartner besitze uneingeschränkte Entscheidungsgewalt, sondern jeder habe – gemäß seinen jeweiligen Fähigkeiten und Talenten – einen spezifischen Bereich des Haushalts, in dem er beziehungsweise sie die Entscheidungen treffe. 27 Die Beziehung zwischen Sklaven und Sklavenhalter schließlich vergleicht Aristoteles mit der Regierungsform der Tyrannis: So wie die Untertanen eines Tyrannen rechtlos sind und willkürlich ausgebeutet werden, so seien die Sklaven ihrem Herrn unterworfen. 28 Anders als ein König, der paternalistisch für das Wohl seiner Untertanen sorge, habe der Tyrann nur seine eigenen Wünsche im Sinn. Dementsprechend brauche der Sklavenhalter auch nicht für das Wohlergehen seiner Sklaven sorgen – außer aus Eigennutz. Wer kräftige und gesunde Sklaven für die Feldarbeit wolle, werde sich aus eigenem Interesse um eine anständige Ernährung für sie kümmern. Dies bedeutet aber, dass Aristoteles den Herrn nicht für verpflichtet hält, den Sklaven medizinische Versorgung oder ein ›Gnadenbrot‹ zur Verfügung zu stellen, wenn sie zu alt oder zu schwach für ihre Aufgaben werden. Die Analogie der Sklaverei zur Tyrannis macht das Ausmaß der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven deutlich und lässt sich nicht durch interpretatorische Kniffe beschönigen. Allerdings beschreibt uns die Analogie lediglich, wie sich Aristoteles das Sklavenverhältnis vorstellt, sie erklärt nicht, warum er ihm diese Gestalt gibt. Wir könnten uns schließlich vorstellen, ein moralisch angemessenes Verhältnis zu den natürlichen Sklaven sei nicht die tyrannische Herrschaft, sondern die monarchische. Wenn natürliche Sklaven mit ihren 26 27 28
Ebd., 1160b25 ff. Ebd., 1160b40 ff. Ebd., 1160b30–61a10.
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Aristoteles’ Definition des natürlichen Sklaven
geistigen Fähigkeiten auf einer Stufe mit kleinen Kindern stehen, müssten sie doch eigentlich ähnlich behandelt werden – also sollte ein wohlwollender Herr paternalistisch für sie sorgen, ließe sich gegen Aristoteles einwenden. Ein Kritiker könnte den Verdacht schöpfen, Aristoteles sei Opfer seines Drangs zur Systematik geworden: Vielleicht strapaziert Aristoteles einfach die Analogie zwischen Staatsverfassungen und den Beziehungen im Haushalt über, indem er auch eine Entsprechung zur Tyrannis im Haushalt unterbringen will. Hätte Aristoteles nicht unbedingt diese systematische Parallele zwischen Staatsverfassungen und Beziehungen im Haushalt etablieren wollen, so der Verdacht, hätte er den Sklaven vielleicht ein milderes Los zugedacht. Ich denke aber, dieser Verdacht lockt uns auf eine falsche Fährte. Aristoteles hat die besondere Stellung des Sklaven nicht aus Systemzwang erdacht, eher im Gegenteil: Ausgerechnet beim Vergleich von Tyrannis und Sklaverei bricht Aristoteles mit der Parallelisierung von Beziehungen im Haushalt und Staatsverfassungen. Schließlich betrachtet er die Tyrannis nicht als eine reguläre Verfassung, sondern als eine Verfallsform – sogar die schlechteste aller möglichen Regierungsformen. 29 Die Tyrannis ist eine Perversion der Monarchie. Aristoteles betont, dass die Tyrannis für die Beherrschten am schädlichsten ist, dass sie die Übel aller Verfallsformen vereinigt, das Volk schikaniert, auf Gier und Misstrauen aufbaut, das Recht missachtet, mit Gewalt und Mord regiert und besonders die tugendhaften Bürger verfolgen lässt. 30 Würde Aristoteles diese Analogie konsequent durchhalten, dann müsste er folglich auch das Verhältnis der Sklaverei im Haushalt als die schlimmste Verfallsform zwischenmenschlicher Beziehungen charakterisieren. Die Beschreibung der Sklaverei als tyrannische Beziehung birgt ein kritisches Potential, mit dem Aristoteles sich gegen diese unmenschliche Praxis hätte wenden können. Dieses Potential nutzt er jedoch nicht, wie ein moderner Leser erwarten könnte, sondern er unterläuft unsere Erwartungen und bezeichnet die tyrannische Beziehung der Sklaverei als angemessen und gerecht, sofern sie die sogenannten natürlichen Sklaven betrifft. Aristoteles kreiert mit der Beschreibung der Sklaverei als gerechte Tyrannis – also als gerechtes Ausbeutungsverhältnis – ganz bewusst ein Paradox. Diese Beschreibung erscheint nicht nur uns modernen Lesern in der historischen Rückschau widersprüchlich. 29 30
Vgl. Aristoteles, Pol. 1290b1 f. Ebd., 1310b15–11a20.
39 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
Die aristotelische Verurteilung der Tyrannis als Staatsform fällt viel zu deutlich aus, als dass er die innere Spannung in seiner Bewertung einer »gerechten Tyrannis« überhören könnte. Der Vergleich der Sklaverei mit der Tyrannis stellt somit ein radikales Urteil des Aristoteles dar, aus der wir Folgendes schließen können: Erstens verklärt Aristoteles die Sklaverei nicht. Er vertritt kein romantisiertverfälschtes Bild vom Sklaven als geliebten Hausdiener, wie wir es aus manchen Geschichten der amerikanischen Südstaaten kennen, sondern erkennt die Härte des Ausbeutungsverhältnisses an. Zweitens können wir ausschließen, dass Aristoteles über den natürlichen Sklaven leichtsinnig oder bloß beiläufig spricht, wie es die Lesarten nahelegen, die die entsprechenden Stellen als ideologische Verirrung abtun wollen. Die Schärfe der Beschreibungen legt vielmehr nahe, dass Aristoteles sich der Tragweite seiner Behauptung bewusst ist. Drittens schließlich muss Aristoteles klar gewesen sein, dass seine Bewertung der Sklaverei als gerechte Tyrannis provoziert und zumindest erklärungsbedürftig ist. Die Spannung in dieser Bewertung ist so offenkundig, dass Aristoteles glauben muss, einen gewichtigen Grund für sie zu haben. Der natürliche Sklave ist in den Augen des Aristoteles so beschaffen, dass die Gesetze der Gerechtigkeit für ihn keine Geltung haben. Um diesen Grund zu verstehen, müssen wir einen genaueren Blick auf die metaphysischen Grundlagen dieser Beurteilung werfen, auf die aristotelische Werttheorie und seine Anthropologie (Kapitel I.4). Bevor ich auf die metaphysischen Grundlagen des Begriffs vom natürlichen Sklaven eingehe, werde ich mich gängigen Einwänden widmen, die nicht erst die aristotelische Bewertung der natürlichen Sklaverei, sondern bereits den Begriff selbst für widersprüchlich halten (Kapitel I.3). Ich denke, dass diese Einwände fehlgehen. Der Begriff vom natürlichen Sklaven ist konsistent und steht im Einklang mit dem übrigen aristotelischen Denkgebäude. Die Kritiker haben allerdings insofern recht, dass dieser Begriff nicht einfach zu verstehen ist, sondern ein schillerndes, schwieriges Konzept darstellt, wie wir in diesem Abschnitt gesehen haben: Der natürliche Sklave ist ein Mensch, dem die Vernunft fehlt. Seine geistigen Fähigkeiten sind äußerst beschränkt; er kann zwar Befehle befolgen, aber nicht selbstständig denken – er besitzt kein »bouleutikón«, die Fähigkeit zum Planen und Überlegen. All dies macht ihn in den Augen des Aristoteles zu einem Besitzgegenstand, einem beseelten Werkzeug, das tyrannisch regiert werden sollte. Die vermeintlichen Widersprüche, die ich im nächsten Abschnitt diskutieren werde, kön40 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
nen uns helfen, weitere Facetten des Begriffs vom natürlichen Sklaven zu verstehen, und geben darüber hinaus einige Hinweise auf die aristotelische Argumentation zur Rechtfertigung der Sklaverei.
I.3 Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich? In der Literatur zur aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei ist die Auffassung weit verbreitet, der Begriff des natürlichen Sklaven sei in sich widersprüchlich. Diese Vermutung erscheint aus mehreren Gründen attraktiv: Erstens fühlen sich vermutlich viele moderne Leser grundsätzlich von dem Gedanken abgestoßen, es könne eine schlüssige Rechtfertigung der Sklaverei geben. Der Gedanke der Menschenwürde ist so tief in das moderne Bewusstsein eingegraben, dass wir geneigt sind, ihn für eine begriffliche Wahrheit zu halten. Wäre dies der Fall, ließe sich der aristotelische Begriff eines Menschen, dessen Versklavung seiner Natur angemessen ist, nicht einmal sinnvoll formulieren, geschweige denn argumentativ rechtfertigen. Zweitens spielt die Vermutung der Widersprüchlichkeit der Strategie vieler Neoaristoteliker in die Hände, welche die Doktrin vom natürlichen Sklaven nicht nur widerlegen wollen, sondern sie auch möglichst scharf von den übrigen Teilen des aristotelischen Denkens abtrennen möchten. Für sie wäre eine Fassung der aristotelischen Ethik, Politik und Metaphysik wünschenswert, die gänzlich von der Doktrin gesäubert ist (siehe voriges Kapitel I.2). Ließe sich ein innerer Widerspruch im Begriff des natürlichen Sklaven nachweisen, wäre klar, dass er kein notwendiger Bestandteil des aristotelischen philosophischen Systems sein kann. Die Fragen, in welchem Denkzusammenhang der Begriff steht und mit welchen Folgerungen er verknüpft ist, würden sich erübrigen. Wir müssten dann lediglich die philosophiehistorischpsychologische Frage klären, weshalb Aristoteles der Fehler unterlaufen sei, einen widersprüchlichen Begriff zu verwenden. Einige Interpreten beantworten letztere Frage, indem sie von einer bloßen Nachlässigkeit ausgehen: Aristoteles halte die Institution der Sklaverei schlichtweg deshalb für vernünftig, weil sie zu seiner Zeit allgegenwärtig und selbstverständlich gewesen sei. Die aristotelische Philosophie besitze zwar das kritische Potential, die Sklaverei zu hinterfragen, aber Aristoteles sei gar nicht auf die Idee gekommen, dies zu tun. Gemäß dieser Ansicht wäre Aristoteles einfach den Vorurteilen 41 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
seiner Zeit unterlegen. 31 Andere Autoren spekulieren, Aristoteles habe absichtlich eine widersprüchliche Theorie der Sklaverei verfasst, um die zeitgenössischen Praktiken der Sklavenhaltung zu kritisieren. Aristoteles wolle auf diesem Weg zeigen, so vermutet beispielsweise Wayne Ambler, dass die Anforderungen einer gerechten Sklaverei nicht einmal widerspruchsfrei formulierbar seien. Sklaverei müsse daher immer ungerecht sein, ganz gleich in welchen Formen sie auftrete. 32 Beide Vermutungen scheinen mir jedoch an den aristotelischen Texten vorbeizugehen, in denen Aristoteles die Sklaverei ausführlich diskutiert. Hierbei erwähnt er zum einen die abweichende Auffassung von Sklaverei-Gegnern, welche die Sklaverei als gewaltsame, unnatürliche Konvention kritisieren. 33 Zum anderen ist er offensichtlich der Ansicht, dass die Institution der Sklaverei eben nicht selbstverständlich sei, sondern einer Rechtfertigung bedürfe. Solche Textstellen scheinen mir eindeutig zu belegen, dass seine Haltung zur Sklaverei keine unreflektierte Meinung ist, sondern eine philosophische These. Amblers Hoffnung, Aristoteles habe bewusst einen inkonsistenten Begriff konstruiert, um insgeheim die Praxis der Sklaverei zu kritisieren, erscheint ebenfalls allzu gewagt, wenn wir uns vor Augen führen, welche zentrale Bedeutung die Gestalt des natürlichen Sklaven in der aristotelischen Diskussion der antiken Gemeinschaft spielt. Selbst im Entwurf einer idealen pólis gehört der Sklave zum Haushalt. Schließlich scheut Aristoteles nicht davor zurück, die reale Praxis der Sklaverei seiner Zeitgenossen zu kritisieren, indem er die Unterscheidung zwischen dem natürlichen Sklaven und bloßen Kriegsgefangenen oder Schuldnern, die zu Unrecht versklavt wurden, einführt. Aristoteles hat also keine Hemmungen, seine Ansicht zur Sklaverei zu äußern, selbst wenn dies den gängigen Praktiken seiner Zeit widerspricht. Somit finden sich im Text jedenfalls keine Hinweise darauf, er könnte den Begriff des natürlichen Sklaven unaufrichtig meinen. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass Aristoteles von diesem Begriff und seiner Rechtfertigung der Sklaverei überzeugt ist. Dies schließt zwar nicht aus, dass der Begriff dennoch innere Widersprüche aufweisen könnte, die Aristoteles verborgen geblieben sind. Die hermeneutische Last, solche Widersprüche nachzuweisen, ist in diesem Fall jedoch erheblich höher, als wenn wir es mit einer nur bei31 32 33
Vgl. Schofield (1987) und Kahn (1987). Ambler (1987), S. 400. Aristoteles, Pol. 1253b20–23.
42 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
läufigen Äußerung, einer unreflektierten Meinung oder gar einer ironischen Redeweise zu tun hätten. Ambler und andere Autoren weisen allerdings mit Recht auf einige Merkwürdigkeiten und Schwierigkeiten in den aristotelischen Textstellen hin, die sich mit dem Begriff des natürlichen Sklaven befassen. In diesem Abschnitt werde ich einige solcher Schwierigkeiten nennen und diskutieren. Meine Liste der vermeintlichen Widersprüche erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr habe ich solche Schwierigkeiten ausgewählt, die entweder zentral für den aristotelischen Begriff sind oder deren Untersuchung uns hilft, eine zusätzliche Facette des Begriffs zu verstehen. Dabei wird sich herausstellen, dass etliche scheinbare Widersprüche sich nur deshalb ergeben, weil die Interpreten von einem allzu schlichten Bild des natürlichen Sklaven ausgehen. Mein Hauptziel in diesem Abschnitt ist jedoch nicht, restlos alle hermeneutischen Schwierigkeiten aufzuklären, die der Begriff des natürlichen Sklaven bei Aristoteles aufwirft. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Aristoteles im Wesentlichen diesen Begriff konsistent formuliert. An den Rändern und in einigen Details mögen gewisse Unschärfen und Unklarheiten verbleiben, aber diese berechtigen uns nicht, den Begriff im Ganzen als widersprüchlich zu verwerfen. Die Hoffnung vieler Neoaristoteliker, mit dem Hinweis auf begriffliche Inkonsistenzen sich des Problems der Sklaverei bei Aristoteles auf schnelle Weise entledigen zu können, muss enttäuscht werden. Es bleibt nichts anderes übrig, als den steinigen Weg einer tiefergehenden Auseinandersetzung zu wählen, bei der auch grundlegende Bausteine des aristotelischen Denkens in Zweifel gezogen werden müssen. In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst auf die vermeintlichen Widersprüche eingehen, wie sie in der Sekundärliteratur zu Aristoteles genannt werden, und sie anschließend kommentieren. 1. Fehlendes Wesensmerkmal: Natürliche Sklaven werden wie tierische oder tierartige Menschen beschrieben, so weit von freien Bürgern verschieden wie »der Mensch vom Tier«. 34 Somit stellt sich die Frage: Zählt Aristoteles die natürlichen Sklaven überhaupt noch zu den Menschen oder bilden sie in seinen Augen eine eigene Art? 35 Es scheint taxonomisch ausgeschlossen, den natürlichen Sklaven als Menschen zu klassifizieren, weil ihm die Vernunft, das wichtigste 34 35
Ebd., 1254b15. Vgl. Ambler 1987, S. 400.
43 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
menschliche Wesensmerkmal fehlt. Die Bezeichnung »tierischer Mensch« suggeriert die Zugehörigkeit der natürlichen Sklaven zu einer Unterart des Menschen, mit der spezifischen Differenz »tierisch«. Für solch eine Einordnung spricht auch, dass Aristoteles den natürlichen Sklaven ausgehend vom Begriff Mensch definiert, nämlich als Menschen, der von Natur aus nicht sich selbst, sondern einem anderen gehört (siehe Kapitel I.2). Gemäß der traditionellen Lesart schließt Aristoteles solche Unterarten jedoch aus. Für ihn bildet die Art des Menschen eine sogenannte infima species (ἔσχατον εἶδος), das heißt, es handelt sich um eine Art, die keine Unterarten mehr zulässt. 36 Selbst wenn Aristoteles solche Unterarten zuließe, müssten sie dennoch das Wesensmerkmal der übergeordneten Art teilen. Ein »unvernünftiger Mensch« wäre demnach ein »unvernünftiges Vernunftwesen«, also eine in sich widersprüchliche Begriffsbestimmung. Wenn natürliche Sklaven folglich nicht zur Art Mensch gehören und auch keine Unterart zum Menschen bilden, scheint nur die dritte Möglichkeit übrig zu bleiben, dass natürliche Sklaven eine eigene, vom Menschen unabhängige Art konstituieren. Eine solche Lösung wäre jedoch mehr als fragwürdig. Rein phänomenologisch muss Aristoteles klar gewesen sein, dass natürliche Sklaven Menschen sind. Er gibt uns auch nirgendwo eine Definition, die den natürlichen Sklaven als eigene Art ausweist. Der natürliche Sklave scheint sich somit nicht in das aristotelische System der Lebewesen einordnen zu lassen, er liegt zwischen den bekannten Kategorien. Dieses scheinbar rein taxonomische Problem wirft weitere Schwierigkeiten auf, wenn Aristoteles die Möglichkeit der Freundschaft zwischen einem Sklaven und seinem Herrn diskutiert – eine solche Freundschaft sei unmöglich für den Sklaven als Sklaven, aber möglich für den Sklaven als Mensch. 37 Aristoteles’ Bemerkung über die Freundschaft zwischen Sklaven und Herrn ist tatsächlich irritierend. In seiner Erörterung der Freundschaft betont Aristoteles, dass eine gewisse Gleichheit zwischen Freunden notwendig sei. 38 Wenn Unterschiede zwischen zwei Menschen sehr groß werden, etwa an Tugendhaftigkeit, sozialer Stellung, Wohlstand und dergleichen, kann es keine Freundschaft zwiVgl. etwa die Beispiele, die Aristoteles in Metaphysik V(Δ).10 verwendet. Schofield hält dies für keinen Widerspruch (Schofield (1987), S. 11), Kahn vertritt die gegenteilige Auffassung (Kahn (1987), S. 31). 38 Aristoteles, NE VIII.9. 36 37
44 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
schen beiden geben. Angesichts der enormen sozialen Ungleichheit zwischen Sklavenhalter und Sklaven hält Aristoteles daher eine Freundschaft zwischen ihnen für recht unwahrscheinlich. Die Tatsache, dass er dennoch eine solche Freundschaft zwischen Sklavenhalter und Sklaven nicht kategorisch ausschließt, ist erhellend, denn sie verdeutlicht, dass Aristoteles die natürlichen Sklaven zu den Menschen rechnet. Sklavenhalter und Sklave teilen trotz ihrer Unterschiede zumindest die Artzugehörigkeit und haben daher eine gemeinsame Basis für ihre Freundschaft, wenngleich diese recht schmal zu sein scheint. Anders als beim obigen Einwand angenommen, ist es für Aristoteles kein Hindernis bei der Klassifizierung eines Individuums zu einer Art, wenn wichtige Artmerkmale fehlen. Dies hat mit seinem logisch-metaphysischen Verständnis einer Lebensform zu tun. Aristoteles versteht die generischen Sätze, mit denen die Merkmale einer Lebensform beschrieben werden, nicht als allquantifizierte Sätze, welche Eigenschaften behaupten, die allen Exemplaren dieser Art zukommen. Die Artbeschreibung darf also nicht als Kriterienkatalog missverstanden werden, mittels dem wir überprüfen, ob ein Individuum zu dieser Art gehört (falls es alle Kriterien erfüllt) oder nicht (falls es einzelne oder mehrere Kriterien verfehlt). Stattdessen ist das Verhältnis der Artbeschreibung zum Individuum normativ. Die generischen Sätze, mit denen eine Art beschrieben wird, drücken eine Norm aus, indem sie das arttypische gelungene Leben beschreiben (siehe hierzu auch Kapitel I.4). Eine Norm kann in der Regel aber auch verfehlt werden. Ein Individuum, das einer bestimmten Art gehört, aber nicht völlig der Artbeschreibung entspricht, ist in dieser Hinsicht defizitär. Es kann das artbezogene Gute nicht vollständig verwirklichen und somit kein in jeder Hinsicht gelungenes Leben führen. Die Abweichung eines Individuums von seiner Artbeschreibung erlaubt es uns daher, von einer Privation beziehungsweise von einem Defekt zu sprechen. Diese Normativität der Artbegriffe ist keine Eigentümlichkeit der aristotelischen Metaphysik des Lebens, sondern spiegelt sich in unserem Alltagsverständnis der natürlichen Phänomene wider: Wir wissen zum Beispiel, dass die Flugfähigkeit typisch für Tauben ist. Zur Beschreibung der Art der Tauben gehört daher ein generischer Satz wie »Tauben können fliegen.« Dieser Satz schließt nicht aus, dass manche Tauben flugunfähig sind, etwa aufgrund eines Geburtsfehlers oder eines Unfalls. Eine Taube, die sich den Flügel bricht, hört nicht auf, eine Taube zu sein. Sie verwandelt sich durch den Verlust ihrer Flugfähig45 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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keit nicht schlagartig in einen Kiwi oder ein Seidenhuhn. Die Tatsache, dass eine Taube mit gebrochenem Flügel ein wesentliches Artmerkmal nicht erfüllt, erlaubt uns ja gerade zu erklären, weshalb es sich um ein defizitäres Exemplar handelt. Die Taube mit gebrochenem Flügel kann nicht in derselben Weise ein gelungenes Taubenleben führen wie ihre gesunden Artgenossen. Ähnlich können wir auch Aristoteles’ Bemerkungen über den natürlichen Sklaven deuten. Natürliche Sklaven sind seiner Ansicht nach Menschen, die aufgrund eines Geburtsfehlers oder einer erworbenen Schwäche ihre vernünftigen Fähigkeiten nicht entwickeln konnten. Trotz dieser Einschränkung gehören sie zur Art des Menschen, allerdings sind sie wesentlich eingeschränkt. Ihr Vernunftdefizit hindert sie entscheidend daran, ein gelungenes menschliches Leben zu führen (Kapitel I.4). Auf den obigen Einwand kann daher geantwortet werden, dass der aristotelische Begriff des natürlichen Sklaven als vernunftloser Mensch keinesfalls widersprüchlich ist, sondern lediglich auf ein schweres Defizit eines Individuums hinweist, ähnlich wie es bei der Bezeichnung »flugunfähige Taube« geschieht. Der oben aufgeführte Einwand kann allerdings noch verschärft werden: Gegen die eben dargestellte Erläuterung ließe sich vorbringen, dass die Vernunftfähigkeit des Menschen nicht mit der Flugfähigkeit eines Vogels verglichen werden könne. Der Verlust der Vernunftfähigkeit trifft den Kern des menschlichen Daseins, während die Flugfähigkeit nur einen (zugegebenermaßen wichtigen) Aspekt der Existenz eines Vogels ausmacht. Tiere beherrschen normalerweise verschiedene Fähigkeiten und können daher den Verlust oder die Einschränkung mancher Fähigkeiten ausgleichen. So ist es zwar typisch für Vögel, dass sie fliegen können, aber diese Fähigkeit macht nicht in der gleichen Weise ihr Wesen aus, wie die Vernunftfähigkeit das Wesen des Menschen charakterisiert. Beispielsweise ist es typisch für Löwen, dass sie Gazellen jagen. Die Fähigkeit, Gazellen zu jagen und zu erlegen, gehört zu ihrer Artbeschreibung. Ein dreibeiniger Löwe allerdings, der zu langsam für die Gazellenjagd ist, muss sich stattdessen von anderen Tieren oder sogar Aas ernähren. Er verwirklicht seine Artform nur defizitär, aber deswegen ist er noch nicht zwangsläufig zum Hungertod verurteilt und kann viele andere löwentypische Dinge tun. Sein individuelles Leben weicht also möglicherweise nur in einigen Aspekten vom artbezogenen gelungenen Leben eines Löwen ab. Im Gegensatz zu diesen Beispielen ist die Vernunft aber nicht nur eine Eigenschaft (wie das vierte Bein des Löwen) oder eine einzelne Fähig46 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
keit (wie die Fähigkeit zur Gazellenjagd), die der Menschen neben vielen weiteren Fähigkeiten und Eigenschaften besitzt. Vielmehr ist die Vernunft in außergewöhnlicher Weise zentral für das menschliche Wesen. Die Vernunft formt das menschliche Leben in einer Weise, wie es die Fähigkeit zur Gazellenjagd beim Löwen nicht tut. Ein Großteil menschlicher Fähigkeiten sind Vernunftfähigkeiten. Menschen besitzen viele Fähigkeiten, die wir auch bei Tieren finden, aber im Menschen werden diese Fähigkeiten durch seine Vernunft aktualisiert und nicht etwa durch Instinkte und Reiz-ReaktionsAbläufe wie bei Tieren. So sind Menschen natürlich ebenfalls in der Lage, Gazellen zu jagen, aber sie tun dies durch vernünftige Handlungen. Die Vernunft transformiert gewissermaßen die Fähigkeiten des Menschen auf ein anderes Level. Die menschliche Fähigkeit zur Gazellenjagd und diejenige des Löwen sind genauer betrachtet lediglich analog und keinesfalls die gleiche Fähigkeit. 39 Ein Mensch, dem eine bestimmte Fähigkeit fehlt, etwa die Fähigkeit zur abstrakten Mathematik, kann im Großen und Ganzen ein unauffälliges, normales Leben führen, solange nicht die Anwendung dieser einen Fähigkeit gefordert wird. Sein Defizit zeigt sich nicht zwangsläufig in den anderen alltäglichen Verrichtungen. Ein Mensch hingegen, dem die Vernunft fehlt, kann überhaupt nicht in einem menschlichen Sinne handeln. Die Vernunft durchzieht daher alle Bereiche des menschlichen Lebens. Der Mensch ohne Vernunft mag zwar gewisse körperliche Fähigkeiten besitzen wie Laufen, Schwimmen und Essen, die den entsprechenden menschlichen Fähigkeiten ähneln. Er kann diese Fähigkeiten aber nicht durch eine vernünftige Entscheidung aktualisieren, sondern nur in tierischer Weise. Es scheint so, als sei sein Leben nicht dasjenige eines Menschen, auch nicht in einem defizitären Sinn, sondern als unterscheide es sich kategorial vom menschlichen Leben – so wie sich Handlungen und instinkthafte Reaktionen unterscheiden. Der Einwand weist also mit Recht darauf hin, dass das Fehlen der Vernunft beim Menschen ein Mangel ist, der schwerer wiegt als die Dreibeinigkeit eines Löwen oder die Flugunfähigkeit einer Taube. Die Vernunft benennt nicht irgendeine Fertigkeit des Menschen, sondern sie ist die besondere Fähigkeit des Menschen, die sein Mensch-Sein ausmacht – in aristotelischer Terminologie ausgedrückt, ist vernünf-
Siehe hierzu die Unterscheidung zwischen additiven und transformativen Seelentheorien in Boyle (2016).
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47 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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tiges Handeln das érgon des Menschen. 40 Brisanterweise finden sich bei Aristoteles Bemerkungen, die scheinbar einen strengen Funktionalismus in Bezug auf das wesentliche érgon einer Sache implizieren: Jedes Ding wird natürlich durch seine besonderen Fähigkeiten (érgon) und Möglichkeiten (dýnamis) bestimmt; und wenn es diese nicht mehr besitzt, so ist es nicht mehr dasselbe Ding, und es sollte nicht mehr als dasselbe Dinge bezeichnet werden, es sei denn im Sinne bloßer Namensgleichheit. 41
Das Auge einer Steinstatue bezeichnen wir zwar als »Auge«, aber da es nicht sehen kann, fehlt ihm die wesentliche dýnamis für das érgon eines Auges. Es handelt sich hierbei nur um eine Äquivokation. Das Auge einer Steinstatue ist für Aristoteles kein wirkliches Auge. Ebenso verhält es sich mit Dingen, die im Laufe der Zeit die Fähigkeit verlieren, ihre wesentliche Funktion auszuüben. Eine tote Hand, so Aristoteles, ist nur noch dem Namen nach eine Hand, also im äquivoken Sinn. 42 Wenden wir diesen strengen Funktionalismus auf den natürlichen Sklaven an, scheint es so, als könne Aristoteles ihn ebenfalls nicht als einen Menschen im eigentlichen Sinn bezeichnen, da dem natürlichen Sklaven definitionsgemäß die Fähigkeit zum vernünftigen Handeln fehlt, dem menschlichen érgon. Gemäß dieser Deutung werden natürliche Sklaven nur aufgrund einer äußerlichen Wortgleichheit als »Menschen« bezeichnet, so wie wir auch eine Steinstatue oder eine Puppe als »Mensch« bezeichnen. Dieser strenge Funktionalismus führt wieder in die ursprüngliche taxonomische Schwierigkeit: Wenn natürliche Sklaven keine Menschen im eigentlichen Wortsinn sind und auch keiner Unterart des Menschen angehören können, was sind sie dann? Sollte Aristoteles sie als eine andere, vom Menschen verschiedene Art betrachten, widerspricht er nicht nur den offenkundigen Phänomenen, sondern auch seiner oben zitierten Bemerkung über die Freundschaft zwischen Sklaven und Sklavenhalter. Will Aristoteles hingegen die Phänomene wahren und den natürlichen Sklaven als Menschen einordnen, scheint dies unvereinbar mit seinem strengen Funktionalismus. In jedem Fall, so scheint es, verstrickt er sich in Widersprüche. Genauer betrachtet zeigt uns dieser Einwand jedoch keine Inkonsistenz in der aristotelischen Doktrin, sondern deutet bereits an, wie sich Aristoteles die Vgl. Aristoteles, NE I.6, 1097b30–98a10. Aristoteles, Pol. I.2, 1253a23–25. Nahezu identische Bemerkungen finden sich in Meteorologica IV.12 und De Anima I.3. 42 Aristoteles, Pol. 1253a21–23. 40 41
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Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
Existenz eines natürlichen Sklaven vorstellt: Für sich allein gesehen kann der natürliche Sklave kein menschliches Leben führen, da ihm die eigenständige Vernunft fehlt. Er ist zum menschlichen érgon nicht in der Lage und daher kann er auch nicht – in dieser isolierenden Abstraktion – als Mensch im eigentlichen Wortsinn bezeichnet werden. Aristoteles stattet den natürlichen Sklaven in seiner Definition allerdings mit der Fähigkeit aus, auf die Vernunft anderer zu hören. 43 Eingebettet in das vernünftige Umfeld eines oîkos, unter der Führung seines Herrn, kann er ein vernunftgemäßes Leben führen. Unter diesen Umständen verwirklicht der natürliche Sklave das menschliche érgon, wenngleich mit erheblichen Einschränkungen und nicht aus eigener Kraft. Diese soziale Einbindung in den Haushalt rechtfertigt es für Aristoteles, den natürlichen Sklaven trotz seiner wesentlichen Privation als Menschen im Wortsinn zu betrachten, nicht nur äquivok. Die Angewiesenheit des natürlichen Sklaven auf die Vernunft eines anderen verdeutlicht allerdings, dass Aristoteles zufolge der natürliche Sklave in einem viel höheren Maße von seiner Gemeinschaft abhängig ist, als dies bei anderen Menschen der Fall ist. Als soziale Wesen sind wir zwar alle auf eine Gemeinschaft angewiesen. Nur Götter oder Tiere leben außerhalb der Gemeinschaft, so Aristoteles. 44 Der Unterschied zwischen gewöhnlichen Bürgern und natürlichen Sklaven besteht bei Aristoteles jedoch in der Tatsache, dass der Bürger in der pólis sein érgon, sein gelungenes Leben verwirklichen kann. Der natürliche Sklave hingegen lebt durch die Vernunft eines anderen. Streng genommen lebt er daher nicht sein eigenes Leben in der Gemeinschaft, sondern trägt nur zum Leben seines Sklavenhalters und der anderen Mitglieder seines Haushalts bei. 45 2. Die Arbeit der Sklaven: Wayne Ambler zufolge ist es unklar, worin die Aufgabe eines natürlichen Sklaven bestehen solle. Aristoteles erklärt, dass natürliche Sklaven Werkzeuge des Handelns (πρᾶξις) seien und nicht Werkzeuge des Produzierens (ποίησις). 46 Die Beispiele allerdings, die Aristoteles für die Arbeit von Sklaven aufzähle, seien Tätigkeiten des Hervorbringens, wie etwa das Pflügen der Erde, Kochen oder andere Aufgaben im Haushalt. 47 Aristoteles
43 44 45 46 47
Ebd., 1254b20 ff., siehe auch Kapitel I.2. Ebd., 1253a3. Siehe hierzu auch Punkt 4 in diesem Kapitel zum Nutzen der Sklaverei. Aristoteles, Pol. 1254a5 ff. Ebd., 1252b12, 1330a25 f. und 1255b26.
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wirke unentschlossen, ob natürliche Sklaven fürs Handeln oder fürs Hervorbringen dienlich sind. 48 Abgesehen von dieser Ungereimtheit sei ohnehin zweifelhaft, ob natürliche Sklaven überhaupt auf irgendeine Weise ihren Herren nützlich sein können, so Ambler. Natürliche Sklaven verfügen schließlich nur über einen beschränkten Verstand, sie können deshalb keine technischen Fertigkeiten erlernen und kein Herstellungswissen erwerben. Der Sklavenhalter stehe somit vor dem Dilemma, entweder legitimerweise tierische Menschen zu versklaven, die über keine nützlichen Fähigkeiten verfügen – oder unmoralisch zu sein und sich Sklaven zu suchen, die zumindest gewissen Verstand und gewisse Fähigkeiten besitzen, die aber dann nicht mehr der Definition eines natürlichen Sklaven entsprechen. 49 Aristoteles bleibt in der Tat vage, was die konkreten Aufgaben natürlicher Sklaven betrifft. Diese Zurückhaltung muss allerdings nicht bedeuten, dass er sich insgesamt im Unklaren ist, ob die natürlichen Sklaven aufgrund ihrer fehlenden Vernunft ihren Sklavenhaltern überhaupt in irgendeiner Weise nützlich sein können. Aristoteles macht deutlich, dass die natürlichen Sklaven am besten für niedere Tätigkeiten geeignet seien, die vor allem körperliche Stärke erfordern, und für lebensnotwendige Güter im Haushalt sorgen. 50 Vermutlich stellt sich Aristoteles die natürlichen Sklaven als Hausdiener vor, die unter der Aufsicht ihrer Herren vielfältige Aufgaben verrichten. Auf diese Weise werden sie von Handwerkern abgegrenzt, die auf bestimmte Fähigkeiten spezialisiert sind und ihre Tätigkeit selbstständig durchführen. Die natürlichen Sklaven werden dagegen mit Aufgaben betraut, die nicht spezialisiert genug sind, um ein Herstellungswissen (τέχνη, bei Ambler: »craft«) zu erfordern. Zudem sind sie stets auf die unmittelbare Anleitung durch den Sklavenhalter angewiesen. Dass sie auf diese Weise ihren Sklavenhaltern nützlich sein können, scheint unbestreitbar. Es bleibt dennoch unklar, weshalb Aristoteles sich auf die These festlegt, Sklaven seien Werkzeuge des Handelns und keine Werkzeuge des Hervorbringens. Mit dieser Behauptung scheint er die Aufgaben des natürlichen Sklaven unnötig zu verengen – weshalb sollte der natürliche Sklave beispielsweise nicht in der Lage sein, im Wald Feuerholz zu sammeln oder Steine vom Acker zu tragen? Möglicherweise möchte Aristoteles mit dieser Unterscheidung 48 49 50
Ambler (1987), S. 409 Fußnote 11. Ebd., S. 400. Aristoteles, Pol. 1254b25.
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Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
weniger auf die Art der Tätigkeit eingehen, welche von den natürlichen Sklaven verrichtet wird, als auf die Abhängigkeit des Sklaven vom Leben seines Herren (siehe Punkt 1 in diesem Kapitel). Die Tätigkeiten des natürlichen Sklaven bilden einen integralen Bestandteil der Hausgemeinschaft und im Leben seines Herrn. Aristoteles stellt sich die Rolle des natürlichen Sklaven folglich nicht wie eine Arbeitskraft in einem Industriebetrieb vor, welche Güter herstellt, die der Fabrikant für Gewinn verkauft. Der Industriearbeiter hat für das Leben des Fabrikanten nur eine indirekte Bedeutung, nämlich durch den Erlös der produzierten Güter. Der Sklave hingegen gehört zur Hausgemeinschaft, er begleitet seinen Sklavenhalter und unterstützt diesen bei dessen Tätigkeiten. Für das Verständnis dieser Unterscheidung ist ein Beispiel hilfreich, in dem Aristoteles die Sklaven mit Kleidung und Betten vergleicht: 51 Betten und Kleidung bringen nicht etwas hervor, das wir für unser Leben nutzen können, sondern sie helfen uns direkt bei unserem Lebensvollzug. Dies zeigt sich auch daran, dass wir Bett und Kleidung in unserer Nähe brauchen, damit sie für uns nützlich sind. Bei Werkzeugen des Hervorbringens, etwa bei einem Webstuhl, ist dies nicht notwendigerweise so. Der Webstuhl kann in einer Werkstätte fern von meinem Haus stehen und von einer anderen Person bedient werden, um mir zu nutzen. Die Tätigkeit des natürlichen Sklaven, wie Aristoteles sie sich vorstellt, kann hingegen nicht ausgelagert und auch nicht im gleichem Maße vervielfältigt werden, denn ein gewöhnlicher Vollbürger kann nur eine bestimmte Anzahl solcher Hausdiener beaufsichtigen und von ihrer Tätigkeit profitierten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der aristotelische natürliche Sklave deutlich von den neuzeitlichen Wirtschafts- und Plantagensklaven, die als gesichtslose, austauschbare Produktivkräfte behandelt und ausgebeutet wurden. Die vermeintliche Unklarheit in den aristotelischen Texten, auf die Wayne Ambler hinweist, entsteht dann, wenn sie mit dem neuzeitlichen Bild im Kopf gelesen werden. 3. Sind alle Barbaren natürliche Sklaven? Aristoteles scheint eine widersprüchliche Auffassung über Barbaren als natürliche Sklaven zu vertreten. Natürliche Sklaven sind seiner Definition gemäß schwer geistig eingeschränkt, sie haben keine Vernunft. 52 Offensichtlich meint Aristoteles, ein Großteil der Barbaren sei natürliche Skla51 52
Ebd., 1254b1. Ebd., 1254b20 f.
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ven, weil angebliche klimatische oder kulturelle Einflüsse ihre Vernunft hemmen. 53 Trotzdem gesteht Aristoteles ausdrücklich den asiatischen Völkern Intelligenz zu (διανοητικός), 54 obwohl er sie ebenfalls als Barbaren bezeichnet. Aristoteles erwähnt beispielsweise voller Anerkennung die logistische Meisterleistung, mit der der Perserkönig Xerxes seine Feldzüge organisiert hatte. An anderer Stelle lobt er die Ägypter für die Erfindung der Mathematik. 55 Auf den ersten Blick scheinen die abfälligen Bemerkungen des Aristoteles zu den nicht-griechischen Völkern, die er allesamt als natürliche Sklaven bezeichnet, nichts anderes zu sein als unverhohlener Rassismus. Andererseits erkennt Aristoteles offenbar an, dass die sogenannten »Barbaren« oft hochzivilisierte Völker seien, die brillante Ingenieure, Wissenschaftler, Soldaten, Priester und Aristokraten hervorgebracht haben. Wie lässt sich dies mit seiner Charakterisierung des natürlichen Sklaven in der Politik als ochsenstarker Mensch mit den geistigen Fähigkeiten eines Kleinkindes vereinbaren? Sicherlich kann Aristoteles nicht glauben, dass die ägyptischen Baumeister und die persischen Heerführer den Verstand von Vierjährigen besaßen. Eine Möglichkeit, mit dieser Ungereimtheit in den aristotelischen Texten umzugehen, bestünde darin, sie lediglich mit Bedauern zur Kenntnis zu nehmen, aber für die weitere Untersuchung zu ignorieren. Schließlich erwarten wir nicht, dass Rassismus in sich logisch ist. Eine rassistische Haltung speist sich in der Regel eher aus Emotionen als aus rationalen Überlegungen. Es wäre auch gut möglich, dass dieser Widerspruch keine Auswirkungen auf den Begriff des natürlichen Sklaven hat: So wäre denkbar, dass Aristoteles zwar einen konsistenten Begriff des natürlichen Sklaven entwirft, sich aber bei der Verwendung dieses Begriffs irrt, insofern er die nicht-griechischen Völker pauschal darunter rechnet. Die Problematik läge dann lediglich in der Anwendung des Begriffs, nicht im Begriff selbst. Ich denke aber, dass wir eine andere Interpretation in Betracht ziehen sollten, die zwar Aristoteles nicht von rassistischen Vorurteilen freispricht, aber zumindest den vermeintlichen Widerspruch zwischen seiner Anerkennung der geistigen Leistung nicht-griechischer Völker und ihrer Bezeichnung als natürliche Sklaven auflöst. Gemäß dieser zweiten Interpretation entsteht lediglich der Eindruck eines Widerspruchs, 53 54 55
Ambler (1987), S. 393 und Heath (2008), S. 253. Aristoteles, Pol.1327b27–29. Ambler (1987) und Heath (2008).
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Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
weil sich an den fraglichen Textstellen zwei unterschiedliche Bilder vom natürlichen Sklaven überlagern. Das erste Bild zeichnet den ochsenstarken Einfältigen, der keine vernünftigen Entscheidungen treffen kann und deshalb ohne fremde Hilfe nicht lebensfähig ist. In diesem ersten Bild ist vergleichsweise klar, wie Aristoteles sich das geistige Defizit des natürlichen Sklaven vorstellt. Zu diesem ersten Bild kommt nun eine weitere Gestalt hinzu, die Aristoteles ebenfalls für einen natürlichen Sklaven hält, obwohl in ihrem Fall das vermeintliche geistige Defizit weniger augenscheinlich ist. Diese zweite Gestalt ist der »Barbar«, der Nicht-Grieche. Für Aristoteles sind die »Barbaren« offensichtlich ohne griechische Hilfe überlebensfähig, ja zum Teil sogar geschickte Planer, technisch versiert und hochintelligent. Trotzdem glaubt Aristoteles, dass auch sie durch ein geistiges Defizit gekennzeichnet seien – allerdings keine individuelle geistige Behinderung, wie er sie beim ersten Bild des natürlichen Sklaven beschreibt, sondern ein soziales und kulturelles Defizit. Darell Dobbs vermutet, dass für Aristoteles die »Barbaren« natürliche Sklaven sind, weil sie in ihrer Sozialisation nicht gelernt haben, das kalón – das griechische Ideal des Schönen und Edlen – wahrzunehmen. 56 Für Aristoteles bildet dieses Ideal eine unabdingbare Voraussetzung der Tugend und somit auch des guten Lebens. Da die nicht-griechischen Völker nach ihren eigenen kulturspezifischen Wertvorstellungen leben, die vom griechischen Ideal des kalón abweichen, bleibt ihr Handeln für Aristoteles und seine griechischen Mitbürger letztlich unverständlich und verfehlt in ihren Augen den Maßstab eines gelungenen, tugendhaften Lebens. Nach Dobbs’ Interpretation kann Aristoteles zwar erkennen, dass die »Barbaren« effizient und umsichtig bei der Verfolgung ihrer Zwecke handeln. Aber aus griechischer Sicht fehle den »barbarischen« Handlungen die Formvollendung und ethische Bewunderungswürdigkeit, die sich im kalón ausdrücke. 57 Gemäß dieser Lesart ist Aristoteles Opfer seines kulturellen Chauvinismus, da er die kulturabhängigen Wertvorstellungen der Griechen absolut setzt und somit denjenigen anderer Völker die Geltung abspricht. Einen ähnlichen Interpretationsansatz verfolgt auch Malcolm Heath, der aber die aristotelische Abwertung der »Barbaren« nicht auf inkompatible, kulturell geprägte und quasi-ästhetische Maßstäbe 56 57
Dobbs (1994). Ebd., S. 83.
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des Handelns zurückführt, sondern auf die Fähigkeit zur politischen Teilhabe, die charakteristisch für das demokratische System der griechischen Stadtstaaten sei. Heath vermutet, dass für Aristoteles diese Fähigkeit zur selbstbestimmten Lebensführung innerhalb einer pólisGemeinschaft den Status einer Meta-Fähigkeit einnimmt, welche die übrigen vernünftigen Fähigkeiten ordnet und in die Struktur eines tugendhaften Lebens einbindet. Heath spricht von einer Fähigkeit der »architectonic practical reason« und identifiziert diese mit dem aristotelischen Begriff der prohaíresis. 58 Die prohaíresis helfe uns, in allem, was wir tun, den Bezug zum gelungenen Leben herzustellen. Sie sage uns weniger, wie wir eine bestimmte Tätigkeit auszuführen haben, sondern zeige uns, ob diese Tätigkeit insgesamt dazu beitrage, dass wir ein gutes, tugendhaftes Leben führen. Ohne prohaíresis sei es demnach durchaus möglich, geistig höchst anspruchsvolle Tätigkeiten durchzuführen. Diesen Tätigkeiten fehle dann allerdings der Zusammenhang zum guten Leben. Das heißt, eine Person, der die prohaíresis fehlt, könne durchaus höhere Mathematik oder Ingenieurskunst beherrschen, aber sie übe diese Fähigkeiten nicht in einer Weise aus, die zu einem tugendhaften Leben im Sinne der aristotelischen eudaimonía beitrage. Das gelungene Leben der eudaimonía und somit die vernünftige Fähigkeit der prohaíresis knüpfe Aristoteles allerdings eng an das partizipative System der pólis: Nur durch politische Teilhabe könne ein Bürger ein freies Leben führen, das durch seine eigenen, reflektierten Entscheidungen (die Ergebnisse der prohaíresis) bestimmt werde. Die Mehrzahl der Nicht-Griechen hingegen, von denen Aristoteles Wissen hat, leben in Stammesgemeinschaften oder Königtümern ohne solche Mechanismen der politischen Mitbestimmung, 59 das heißt, sie sind entweder in tribalistische Familienstrukturen eingebunden oder einem despotischen Herrscher unterworfen. Aus diesem Grund haben sie gar keine Gelegenheit, die entsprechenden Fähigkeiten zum selbstbestimmten Leben und somit zur autonomen Zwecksetzung zu entwickeln. Der Heath (2008), S. 247. Vgl. Aristoteles, Pol. VII.7, 1327b20 ff.: »Die Völkerschaften nämlich, die in den kalten Gegenden Europas wohnen, sind zwar voll Mut (thymós), aber weniger mit Denkvermögen (diánoia) und Kunstfertigkeit (téchnē) begabt. Daher behaupten sie zwar leichter ihre Freiheit, aber sind zur Bildung staatlicher Gemeinschaften untüchtig (apolíteutos) und die Herrschaft über Nachbarvölker zu gewinnen unvermögend. Die Völker Asiens dagegen sind mit Denkvermögen und Kunstfertigkeit begabt, aber ohne Mut. Daher leben sie in Unterwürfigkeit und Sklaverei.«
58 59
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Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
persische Untertan, wie Aristoteles ihn sieht, mag noch so intelligent und geistig rege sein, er muss seine Ziele und seine Lebensführung dem Willen seines Herrschers unterordnen. Die Fähigkeit der »architectonic practical reason«, über die höhere Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeiten zu reflektieren, hat keinen Platz in seinem Leben, weil ihm die Möglichkeiten zur politischen Mit- und Selbstbestimmung fehlen. Für Aristoteles ist die griechische pólis nicht nur die einzige Gemeinschaftsform, die wahrhaft der menschlichen Natur angemessen ist, sie ist in seinen Augen auch eine einzigartige griechische Innovation, zu der es keine Äquivalente bei anderen Völkern gibt. Dementsprechend muss er annehmen, dass die Angehörigen der nichtgriechischen Völker gar nicht die entsprechenden Fähigkeiten erwerben können, die zum Leben in einer freiheitlichen pólis nötig sind. Das geistige Defizit, das Aristoteles bei den Nichtgriechen diagnostiziert, ist somit das der fehlenden Sozialisation in die Institutionen und Praktiken der pólis-Bürgerschaft. Die Interpretationen von Dobbs und Heath lassen zwar die aristotelische Abwertung der Nicht-Griechen nicht unbedingt in einem besseren Licht erscheinen, sie erlauben uns aber, den oben genannten, scheinbaren Widerspruch im Text aufzulösen und ein vielschichtigeres Verständnis des natürlichen Sklaven zu entwickeln. Für Aristoteles ist der natürliche Sklave nicht notwendigerweise ochsenstark und tumb. Auch hochintelligente Menschen können unter diesen Begriff fallen, falls sie aufgrund ihrer kulturellen Herkunft das griechische Ideal des kalón nicht kennen und nicht gelernt haben, ein freies Leben als pólis-Bürger zu führen. Aristoteles hält die »Barbaren« also nicht für geistig zurückgebliebene Wilde, wenn er sie als natürliche Sklaven bezeichnet, aber er spricht ihnen die Fähigkeit zur politischen Teilhabe in einer selbstbestimmten Gemeinschaft ab. Statt des Vorwurfs des Rassismus ist folglich eher der Vorwurf der kulturellen Arroganz angemessener. Dennoch beantwortet diese Lesart nicht die Frage nach der ethischen Rechtfertigung der Sklaverei. Angenommen, Aristoteles hätte Recht mit seiner Behauptung, es gäbe Personen, die aufgrund einer geistigen Behinderung oder eines Mangels an angemessener Sozialisierung kein selbstständiges, selbstbestimmtes Leben führen können. Aus dieser Unfähigkeit zur Freiheit ließe sich möglicherweise folgern, dass wir übrigen Menschen die Verpflichtung haben, für solche Personen die Entscheidungen in ihrem Interesse zu treffen, das heißt, ein paternalistisches Verhältnis zu ihnen einzunehmen. Ihre Unfähigkeit würde uns aber keinesfalls da55 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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zu berechtigen, sie als rechtlose Besitzgegenstände zu behandeln und auszubeuten. Mit der Lesart von Dobbs und Heath kann also lediglich gezeigt werden, dass der Begriff, den Aristoteles vom natürlichen Sklaven entwirft, nicht in der genannten Hinsicht inkonsistent ist. Für eine Rekonstruktion der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei sind noch weitere Schritte nötig (siehe Kapitel I.4). 4. Wem nützt die Sklaverei? In Politik I.7 scheint Aristoteles zu behaupten, dass das Verhältnis der Sklaverei beiden Seiten nütze – sowohl dem Sklavenhalter als auch dem Sklaven. 60 In der Eudemischen Ethik dagegen betont Aristoteles, dass der Nutzen der Sklaverei nicht geteilt werde, sondern allein dem Sklavenhalter zukomme. Das Verhältnis der Sklaverei sei somit ein reines Ausnutzungsverhältnis. 61 Ähnliche Aussagen über die Sklaverei als Ausnutzungsverhältnis finden wir auch in der Nikomachischen Ethik, wo Aristoteles die Beziehung zwischen Sklaven und Sklavenhalter als tyrannische Beziehung bezeichnet. 62 Aristoteles muss glauben, dass die Sklaverei irgendeinen Nutzen habe, sonst würde er sie nicht als vernünftige Institution ansehen. Der Nutzen des Sklavenhalters scheint klar auf der Hand zu liegen: Die Sklaverei versorgt ihn mit billigen Arbeitskräften, die für ihn schwere körperliche Aufgaben erledigen und ihm so mehr Zeit für Muße und Politik verschaffen. Auf die Frage, ob auch der Sklave irgendeinen Nutzen aus der Sklaverei bezieht, gibt uns Aristoteles an den oben genannten Textstellen scheinbar widersprechende Antworten: ja, die Sklaverei helfe beiden Seiten, und nein, die Sklaverei sei eine reine Ausbeutung des Sklaven. Thornton Lockwood versucht die Spannung zwischen diesen Antworten aufzulösen, indem er zwei Arten unterscheidet, in denen Nutzen einer Gruppe von Menschen zukommen könne: Einerseits könne es sich um einen gemeinschaftlichen Nutzen handeln (common benefit), der jedem Mitglied dieser Gruppe zugutekomme. Damit wir von einem solchen »common benefit« sprechen können, müssen die Mitglieder der Gruppe ähnliche oder vergleichbare Ziele haben, die alle durch die nützliche Sache befördert werden. Andererseits könne es sich aber auch um einen Nutzen handeln, der lediglich einem Mitglied der Gruppe zugutekomme. Die übrigen Mitglieder profitierten lediglich indirekt durch ihre Zu60 61 62
Aristoteles, Pol. 1255b10–15. Ders., EE 1241b. Siehe hierzu Lockwood (2007). Z. B. in Aristoteles, NE 1160b30–61a10.
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Ist Aristoteles’ Begriff des natürlichen Sklaven widersprüchlich?
gehörigkeit zur Gruppe von diesem Nutzen. Lockwood spricht in diesem Fall von »same benefit«. 63 Wenn Aristoteles verneint, dass der Sklave Nutzen aus der Sklaverei erhalte, dann interpretiert dies Lockwood als einen Nutzen in Gestalt des »common benefit«. Sklave und Herr seien eben keine Geschäftspartner, die zusammen arbeiten und anschließend den gemeinsamen Gewinn unter sich aufteilen. Stattdessen steht der Sklave unter Zwang. Er arbeitet also nicht, um ein nützliches Gut für sich zu erlangen, sondern um die Strafe seines Sklavenhalters zu vermeiden. Seine Ziele spielen für die Beschaffenheit seiner Aufgaben keine Rolle. Die Tätigkeiten des Sklaven im Haushalt werden einzig durch die Ziele und Pläne des Sklavenhalters festgelegt. Der Nutzen, der durch diese Tätigkeiten entsteht, ist daher auch allein auf dessen Ziele und Pläne zugeschnitten. An der Einseitigkeit dieses Verhältnisses ändert sich auch nichts durch die Tatsache, dass der Sklave in der Regel von seinem Sklavenhalter mit Essen und einem Dach über dem Kopf versorgt wird. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Maßnahme des Sklavenhalters, um sich die Arbeitskraft des Sklaven zu erhalten, die aber keinesfalls mit Lohn oder gar Gewinnbeteiligung verwechselt werden darf. Ein echter »common benefit« liegt nur dann vor, wenn die Mitglieder einer Gruppe ein gemeinsames Projekt verwirklichen, um ihre jeweiligen Ziele zu verwirklichen. Eine solche Kooperationsgemeinschaft ist in der Sklaverei nicht gegeben, und deshalb kann sie auch nur als ein Zwangsverhältnis aufrechterhalten werden. Aus diesem Grund vergleicht Aristoteles das Verhältnis der Sklaverei mit der tyrannischen Regierung (siehe Kapitel I.2): Auch die Untertanen eines Tyrannen werden ausgebeutet und müssen unter Zwang für ihren Herrscher arbeiten, ohne dass ihre eigenen Ziele Beachtung finden. Die Textstellen hingegen, in denen Aristoteles vom Nutzen des Sklaven spricht, erläutert Lockwood mit dem »same benefit«: Es gehe hierbei nicht um einen Nutzen für den Sklaven, sondern lediglich um einen Nutzen für den Haushalt, dem der Sklave angehört. Die Beziehung des Sklaven zum nützlichen Gut sei daher lediglich indirekt, vermittelt über die Teil-Ganze-Beziehung, in der der Sklave zum Haushalt steht. 64 Auf den ersten Blick mag der »same benefit« lediglich wie eine Variante des »common benefit« erscheinen, den der Sklave erwirtschaftet: Dem Haushalt kommt die Arbeit des Sklaven 63 64
Lockwood (2007), S. 208. Ebd., S. 212 ff.
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unmittelbar zugute, weil der Sklave für die lebensnotwendigen Güter sorgt. 65 Als Mitglied des Haushalts erhält der Sklave aber auch einen Teil der lebensnotwendigen Güter. So isst er beispielsweise von der Nahrung, die er vom Acker erntet. Tatsächlich ist diese Verbindung rein akzidentiell und vollständig abhängig vom Gutdünken des Sklavenhalters. Das bedeutet, dass der Sklave nicht wirklich von seiner Tätigkeit auf dem Feld profitiert, sondern dass der Sklavenhalter entscheidet, ob er die erwirtschafteten Nahrungsmittel einsetzen will, um sich die Arbeitskraft des Sklaven länger zu erhalten. Die Akzidentialität dieses Bezugs zeigt sich auch daran, dass es dem Sklaven nicht einfach besser geht, nur weil der Haushalt durch seine harte Arbeit floriert. 66 Der »same benefit« beschreibt hingegen einen Nutzen, der eigentlich dem Haushalt zukommt und somit in einem formalen Sinn auch allen Parteien, aus denen sich der Haushalt zusammensetzt, unabhängig davon, ob diese tatsächlich Anteil an dem Nutzen haben oder nicht. Der Bezug des Sklaven zum »same benefit« ist einzig durch diese formale Teil-Ganze-Beziehung vermittelt. Mit anderen Worten: Von einem »same benefit« im Sinne Lockwoods können wir auch dann sprechen, wenn der Herr durch die Sklavenarbeit im Luxus schwimmt und dennoch seine Sklaven hungern lässt. In solch einer Situation überhaupt noch das Wort »Nutzen« zu verwenden, scheint freilich äußerst zynisch, aber zunächst erlaubt Lockwoods Unterscheidung zwischen »same benefit« und »common benefit« den vermeintlichen Widerspruch im aristotelischen Text aufzulösen. In einem nächsten Schritt lässt sich mit Hilfe der Unterscheidung ein klareres Bild des natürlichen Sklaven bei Aristoteles gewinnen. Der Begriff des »same benefit« mag merkwürdig abstrakt wirken – wozu soll die Information gut sein, dass dem Sklaven qua Mitglied des Haushalts formal ein Nutzen zukommt, wenn ihm dieser Nutzen letztlich doch gar nicht zugute kommt? Tatsächlich verdeutlicht Aristoteles durch diese Begriffsverwendung die vollständige Abhängigkeit des natürlichen Sklaven vom Haushalt, wie sie schon in der aristotelischen Definition des natürlichen Sklaven anklingt: Der naAristoteles, Pol. 1254b25. Zumindest kennen wir aus der Antike Berichte, dass die Sklaven umso knausriger behandelt wurden, je wohlhabender ihre Sklavenhalter waren. So schildert es Theophrast als ein typisches Merkmal des Geizigen, dass er die Essensrationen seiner Sklaven durch allerlei Tricks kürzt, um sich zu bereichern: »Und weiter: mit pheidonischem Maß, das unten eingebeult ist, mißt er seinem Gesinde die Verpflegung zu, wobei er viel abstreicht.« Theophrast, Charaktere, 30.11.
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türliche Sklave sei so beschaffen, dass er »einem anderen anzugehören vermag – und deshalb gehört er auch wirklich einem anderen an«. 67 Die »Angehörigkeit«, von der Aristoteles hier spricht, ist weniger ein Rechts- als ein Abhängigkeitsbegriff. Er denkt sich die Beschaffenheit des natürlichen Sklaven so, dass dieser mit Notwendigkeit als ein abhängiges Wesen existiert. Der »same benefit« ist somit die einzige Art und Weise, wie dem natürlichen Sklaven laut Aristoteles überhaupt ein Nutzen zukommen kann, nämlich indirektformal über seine Zugehörigkeit zum Haushalt. In dieser Abhängigkeit liegt auch der Schlüssel zur aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei, wie ich in den folgenden Abschnitten argumentieren werde. Aristoteles behauptet nicht, dass es für den Sklaven eigentlich gut und nützlich sei, in der Abhängigkeit von seinem Herrn zu leben. Er stellt sich den Sklavenhalter nicht als wohlwollenden Diktator vor. Eine solche Rechtfertigung der Sklaverei wäre in der Tat nichts anderes als blanker Zynismus. Stattdessen beschönigt Aristoteles das Verhältnis der Sklaverei nicht, er deutet es als ein tyrannisches Verhältnis, aus dem nichts Gutes für den Sklaven erwächst. Die wesentliche Abhängigkeit des natürlichen Sklaven verhindere jedoch, dass es in irgendeiner Form Nutzen für den Sklaven selbst geben könne. Es handelt sich hier in Aristoteles’ Augen um eine so starke Abhängigkeit, dass der Sklave gar nicht als ein eigenständiges Wesen gedacht wird, für das der klassische Nutzenbegriff (im Sinne des »common benefit«) überhaupt anwendbar ist. Dementsprechend hält Aristoteles die Sklaverei auch nicht für ungerecht, obwohl der Sklave keine angemessene Entlohnung für seine Arbeit erhält. Der Nutzen, den der Sklave für seinen Sklavenhalter erzeugt, kann aus seiner Sicht nicht mit einem äquivalenten Nutzen für den Sklaven vergolten werden, weil der natürliche Sklave wesentlich so beschaffen sei, dass es für ihn keinen Nutzen gibt. Die Gerechtigkeit der tyrannischen Beziehung besteht also nicht in einer proportionalen Gütergerechtigkeit, sondern in der Angemessenheit der Beziehung für seine Unfähigkeit. Eine Analyse der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei muss demnach zeigen, wie Aristoteles das geistige Defizit des natürlichen Sklaven versteht und weshalb er glaubt, dass aus diesem Defizit die Unfähigkeit des natürlichen Sklaven folgt, Nutzen oder Güter zu empfangen.
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Aristoteles, Pol. 1254b20 ff.
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In der Diskussion zu Punkt 3 in diesem Kapitel habe ich bereits erläutert, dass Aristoteles das geistige Defizit des natürlichen Sklaven als eine Unfähigkeit zur prohaíresis versteht. Natürliche Sklaven sind für ihn demnach solche Personen, die nicht in der Lage sind, ihr Handeln auf eine Vorstellung des gelungenen Lebens der eudaimonía zu beziehen. In dem folgenden Kapitel I.4 werde ich erläutern, dass für Aristoteles diese Vorstellung des gelungenen Lebens eng mit dem Begriff des Nutzens verknüpft ist. Ein Gut oder ein Nutzen sind nur solche Dinge, die einen Bezug auf das menschliche gute Leben herstellen. Ohne diesen Bezug kann es auch keinen Nutzen geben, so Aristoteles. Mit dieser Erläuterung lässt sich auch die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei nachvollziehen: Aus Sicht des Aristoteles wird dem natürlichen Sklaven in der Sklaverei keinesfalls ein verdienter Nutzen vorenthalten. Vielmehr führe das geistige Defizit des Sklaven, seine Unfähigkeit zur prohaíresis dazu, dass es für den natürlichen Sklaven überhaupt keinen Nutzen gebe. Wenn Aristoteles Recht hätte, dass es eine solche Unfähigkeit gäbe, dann wäre dies die einzige Unfähigkeit, die tatsächlich Sklaverei rechtfertigen könnte.
I.4 Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei Viele gängige Interpretationen der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei verfehlen schlichtweg ihr Thema, indem sie auf die falschen Kategorien zurückgreifen und beispielsweise nach einer ökonomischen oder gesellschaftspolitischen Begründung der Sklaverei bei Aristoteles suchen. Mit solchen Ansätzen ließe sich aber bestenfalls behaupten, dass Aristoteles die Sklaverei für zweckmäßig halte, sie können aber nicht erläutern, weshalb er die Versklavung eines natürlichen Sklaven gerecht nennt. Eine Rekonstruktion der aristotelischen Rechtfertigung kann erst dann als gelungen gelten, wenn sie diese ethische Kategorie aufgreift. Aus diesem Grund scheitert etwa der Hinweis auf wirtschaftliche Zwänge, welche angeblich die antike Sklaverei notwendig machten: So argumentiert zum Beispiel Walter Schweidler, dass erst die schwere körperliche Arbeit der Sklaven der kleinen Minderheit von pólis-Bürgern die erforderliche Muße für das gute Leben verschaffte. Ohne die Sklaverei, so die Deutung, wären die politische Freiheit, die Philosophie, die Wissenschaften und Künste, die die griechische pólis auszeichneten, nicht 60 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
möglich gewesen. 68 Die Sklaverei erscheint in Schweidlers Rekonstruktion als notwendiges Übel für die Verwirklichung des höchsten Guts, die eudaimonía der geistig und künstlerisch hochbegabten Elite. Diese Argumentation ist freilich schon ökonomisch fragwürdig: Vermutlich hätten die Griechen auch Zeit für Philosophie und Politik gehabt, wenn sie ihre Arbeiter angemessen bezahlt hätten. In noch stärkerem Maße ist sie aber ethisch anrüchig: Selbst wenn die Sklaverei ökonomisch vorteilhaft wäre, folgt daraus nicht ihre Rechtmäßigkeit. Könnte niemand ein gutes Leben führen, ohne dass eine Gruppe von Menschen ausgebeutet würde, dann wäre das gute Leben eben moralisch unmöglich. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Es wäre sogar pervers, das Elend der Sklaven mit der Qualität eines philosophischen Dialogs oder anderen Ergebnissen der Muße aufzuwiegen. Derartige Interpretationen der aristotelischen Rechtfertigung übersehen, dass für Aristoteles die Tugend der Gerechtigkeit ebenfalls ein zentraler Bestandteil des guten Lebens ist. Eine Gesellschaft, die auf Ungerechtigkeit aufbaut, kann auch nach aristotelischen Maßstäben keine gute Gesellschaft sein. Dies bedeutet, dass für Aristoteles die Sklaverei nur dann als ökonomische Bedingung des guten Lebens der pólis-Bürger akzeptiert werden kann, wenn sie tatsächlich gerecht ist – und nicht umgekehrt aus ihrer vermeintlichen ökonomischen Vorteilhaftigkeit ihre ethische Rechtfertigung abgeleitet werden kann. Weniger offensichtlich, aber dennoch verwandt ist der Irrtum einer anderen gängigen Interpretation, die davon ausgeht, dass für Aristoteles die gesellschaftliche Stellung des Sklaven schlichtweg die angemessene Position für eine Person mit beschränkten geistigen Fähigkeiten sei. 69 Diese Deutung geht davon aus, dass Aristoteles eine gute Gesellschaft mit einer Gemeinschaft gleichsetzt, in der jedes Mitglied eine soziale Stellung entsprechend seiner Fähigkeiten und Tugenden einnimmt. Der natürliche Sklave sei aufgrund seiner starken geistigen Einschränkung nicht in der Lage, selbstständig zu denken. Folglich müsse es jemanden geben, der für ihn Entscheidungen trifft und ihn anleitet, damit der Sklave seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen könne. Diese Deutung verfehlt allerdings in doppelter Hinsicht den aristotelischen Text: Zum einen ist Aristoteles gar nicht so sehr daran interessiert, in seiner idealen pólis eine angemes68 69
Vgl. Schweidler (2012), S. 77. Z. B. Fortenbaugh (1977), S. 137.
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sene Rolle für den Sklaven zu schaffen. Vielmehr denkt er die Sklaverei allein vom Nutzen für den Sklavenhalter her (siehe auch hierzu I.3, Punkt 4). Dies wird insbesondere an jener berühmten Stelle der Politik deutlich, in der Aristoteles sich eine Gesellschaft mit vollkommen automatisierten Werkzeugen vorstellt: »[…] wenn so die Weberschiffe selber webten und die Zitherschlägel von selber die Zither schlügen, dann freilich bedürfte es für die Meister nicht der Gehilfen und für die Herren nicht der Sklaven.« 70 Anders als für Platon besteht für Aristoteles eine gerechte Gesellschaft nicht unbedingt in einer politischen Ordnung, in der jeder nach seinen Fähigkeiten untergebracht ist. Stattdessen hat Aristoteles keine Hemmungen, den natürlichen Sklaven für überflüssig zu erklären, sobald dessen Tätigkeiten durch andere Instrumente effizienter und besser erledigt werden können. Die Verantwortung der Gemeinschaft für die natürlichen Sklaven scheint mit deren Nützlichkeit zu enden. Zum anderen lässt sich aus beschränkten geistigen Fähigkeiten einer sozialen Gruppe vielleicht die Notwendigkeit einer paternalistischen Fürsorge für diese Gruppe ableiten, aber nicht deren Ausbeutung, wie es Aristoteles für die natürlichen Sklaven vorsieht. Bestenfalls liefert uns diese Deutung eine faktische Erklärung für die Sklaverei, denn Personen mit starker geistiger Einschränkung können sich weniger gegen ihren rechtlosen Status wehren. Diese Art der Erläuterung darf aber nicht als Rechtfertigung der Sklaverei missverstanden werden. Eine wohlwollende Rekonstruktion der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei muss daher diese ethische Ebene einfangen und zeigen, weshalb Aristoteles die Sklaverei für gerecht hält, und nicht etwa bloß für zweckmäßig oder lukrativ. Einen vielversprechenden Weg schlägt Thornton C. Lockwood mit seiner Interpretation ein, der vermutet, dass Aristoteles Sklaven nicht als Personen anerkennt. Für Aristoteles gebe es verschiedene Grade des Mensch-Seins. Nicht allen davon komme Personalität zu. 71 Lockwood scheint mir mit seiner Diagnose das richtige Gespür zu beweisen, auch wenn er keinen Grund ausführt, weshalb Aristoteles den natürlichen Sklaven Personalität abspricht. Aristoteles betrachtet die natürlichen Sklaven nicht als anerkennungsfähige Subjekte. Dies bedeutet insbesondere, dass seiner Ansicht nach die ethischen Begriffe auf sie nicht anwendbar seien. Ein Sklave könne demnach genauso wenig ungerecht be70 71
Aristoteles, Pol. 1253b37 f. Lockwood (2007).
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Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
handelt werden, wie es unhöflich ist, einen Stein nicht zu grüßen. In den folgenden Abschnitten (I.4.1–3) werde ich zeigen, weshalb die aristotelische Theorie des Guten verschiedene Grade des MenschSeins und somit auch die Möglichkeit natürlicher Sklaven zulässt. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die aristotelische Theorie des Guten in aller Ausführlichkeit zu beleuchten. Stattdessen beschränke ich mich nur auf diejenigen Bestandteile, die für das Problem des natürlichen Sklaven relevant sind. Vor allem werde ich mich hierfür mit den aristotelischen Begriffen des Zwecks, des Guts, des gelungenen menschlichen Lebens sowie des Defekts beziehungsweise der Privation auseinandersetzen, die in seinem Denken eng miteinander verknüpft sind und die für das Konzept des natürlichen Sklaven eine besondere Rolle spielen: In den vorigen Kapiteln I.2 und I.3 habe ich gezeigt, dass Aristoteles den natürlichen Sklaven als einen Menschen definiert, dessen vernünftige Fähigkeiten durch einen wesentlichen Defekt eingeschränkt sind. Dieser Defekt, so werde ich in den folgenden Abschnitten erläutern, berührt die interne Zweckstruktur menschlichen Handelns und führt dazu, dass der aristotelische Begriff des Guts beim natürlichen Sklaven ins Leere greift. Dies hat fatale Folgen innerhalb des aristotelischen Verständnisses von Gerechtigkeit, das im Wesentlichen mit Gütern operiert, etwa im Rahmen der distributiven Gerechtigkeit, die je nach Verdienst Güter zuteilt, oder im Rahmen der kommutativen Gerechtigkeit, die den freiwilligen und unfreiwilligen Austausch von Gütern behandelt. Ein Mensch, für den es prinzipiell keine Güter geben kann, fällt für Aristoteles durch das Raster der Gerechtigkeit – ihm kann weder geschadet werden, noch kann er ungerecht behandelt werden. Die beiden grundlegenden metaphysischen Prinzipien, die an dieser Stelle ineinandergreifen und eine wichtige Rolle für das aristotelische Verständnis von Gütern spielen, sind die Kontextabhängigkeit des Guten (Abschnitt I.4.1) und die Selbstbezüglichkeit ethischer Standards (I.4.2). Auf beide Prinzipien werde ich in den folgenden Abschnitten eingehen und schließlich erläutern (I.4.3), wie sie bei Aristoteles in der Figur des natürlichen Sklaven münden. Für sich genommen, erscheinen beide Prinzipien unverdächtig und sogar so plausibel, dass sie von der späteren aristotelischen Tradition vom Thomismus bis hin zum modernen Neoaristotelismus dankbar übernommen wurden. 72 Der Irrtum, so werde ich in den späteren Teilen dieser Arbeit argu72
Z. B. in Hursthouse (1999), Foot (2001) und Thompson (2008).
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mentieren, liegt nicht in diesen Prinzipien selbst, sondern in einer Überstreckung ihrer Geltung, indem sie als Grundlage für ein politisches Modell der Anerkennung verwendet werden. Um diesen Irrtum zu erkennen, müssen die Grenzen der ethischen Urteilssphäre eingesehen werden – dies ist aber nicht mit Mitteln der Ethik möglich (vergleiche Abschnitt I.5).
I.4.1 Güter, Zwecke und der gelungene Lebensvollzug Ein aristotelisches Prinzip, das eine wichtige Rolle für seine Annahme spielt, es gebe keine Güter für natürliche Sklaven, ist die Kontextabhängigkeit von Gütern. Aristoteles lehnt verabsolutierende Redeweisen über Güter als (naiven) Platonismus ab. Für ihn ist es offensichtlich, dass es zumindest in der irdischen Sphäre keine Dinge gibt, die ohne Bedingung gut oder schlecht sind. Stattdessen erkennt Aristoteles, dass Dinge, die in einer bestimmten Situation, für einen bestimmten Zweck und für ein bestimmtes Lebewesen gut sind, unter anderen Umständen schlecht, gefährlich und schädlich sein können. Ein Medikament, das für einen Kranken als Heilmittel geeignet ist, kann einen Gesunden vergiften. Eine Pflanze, die einer bestimmten Tierart als bevorzugte Nahrung dient, ist für eine andere Tierart ungenießbar, und so fort. Diese Kontextabhängigkeit bezieht Aristoteles auch auf Entitäten, die in anderen ethischen Theorien als Basisgüter und -übel gewertet werden, wie beispielsweise Lust und Leid: Das Gefühl der Lust kann schädlich sein, wenn es etwa zu übermäßigen Genuss verleitet. Leiden und Schmerzen hingegen können etwa als Warnsignale des Körpers eine gute und nützliche Funktion erfüllen. Um zu entscheiden, ob etwas gut ist, müssen wir also zuerst mehr über die Umstände und den weiteren Zusammenhang erfahren, in dem diese Sache steht: Für wen soll es gut sein? Für welche Aufgabe? Ein zentrales Kriterium für eine derartige Kontextbeurteilung ist die Frage nach dem Zweck und der Zweckmäßigkeit: Eine Sache gilt dann als gut, wenn sie einen guten Zweck erfüllt und wenn sie dies auf gute Weise tut. Der Zweck einer Sache ist dementsprechend der Standard ihrer Güte. Mit einer bloß lokalen Beurteilung, ob eine Sache für einen bestimmten Zweck dienlich und angemessen ist, können wir allerdings lediglich ihre Güte prima facie feststellen. Um zu erkennen, ob etwas wirklich ein Gut für uns ist, müssen wir zusätzlich auch prüfen, ob dieser konkrete Zweck selbst ein guter Zweck ist. Schließ64 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
lich sind Werkzeuge denkbar – beispielsweise ein besonders perfider chemischer Kampfstoff –, die für schlechte Zwecke perfekt geeignet sind. Ein solches Werkzeug können wir nur in einem abstrakten Sinn »gut« nennen, wenn wir von der Schlechtigkeit seines Einsatzes absehen. Aristoteles weist in seiner Einleitung zur Nikomachischen Ethik darauf hin, dass unsere Handlungen und Tätigkeiten in der Regel in längere Verkettungen von Zweck-Mittel-Beziehungen eingebunden sind: So seien »die Sattlerei und die übrigen Kenntnisse, die mit der Ausstattung von Pferden zu tun haben, der Reitkunst untergeordnet«, die Reitkunst hingegen diene der Kriegskunst, und so fort. 73 Eine umfassende Beurteilung der Güte müsse die vollständige Kette von Handlungen und Tätigkeiten berücksichtigen, in welche die fragliche Sache eingebunden ist. Wenn wir also die Handlung a durchführen, um den Zweck b erreichen, der Zweck b aber nur ein untergeordnetes Mittel für das eigentliche Ziel c darstellt, dann muss eine umfassende Beurteilung unserer Werkzeuge, die wir für die Handlung a verwenden, auch die Zwecke b und c mit einschließen. Erst wenn wir sagen können, das a, b und c gute Zwecke sind, und unser entsprechendes Werkzeug für all diese Zwecke unmittelbar oder indirekt gute Dienste leistet, können wir es als ein gutes Werkzeug – oder schlicht als ein Gut für uns – bezeichnen. In einer derartigen teleologischen Verkettung ist die Güte der untergeordneten Zwecke von der Güte der hierarchisch höherstehenden Zwecke abhängig, die in der »um-zu«-Kette später folgen. Aus diesem Grund stellt Aristoteles fest, dass derartige Ordnungen nicht endlos verlaufen können, sondern auf einen Abschlusspunkt ausgerichtet sein müssen: Andernfalls »ginge der Prozess ins Unendliche, so dass das Streben leer und vergeblich würde«. 74 Ohne einen solchen teleologischen Endpunkt unserer Handlungen könnten wir weder die einzelnen Handlungen noch die verwendeten Mittel abschließend bewerten, wir könnten Dinge lediglich als Prima-facie-Güter bezeichnen und wüssten nicht, ob sie wirklich gut für uns sind. Die Güte der untergeordneten Zwecke wird in diesem Bild in letzter Konsequenz von der Güte eines höchsten Zwecks abgeleitet. Aristoteles identifiziert den höchsten Zweck, das höchste Gut, auf das alle Tätigkeiten des menschlichen Lebens ausgerichtet sind und das nur noch um sich selbst willen und nicht für andere Zwecke erstrebt wird, bekannter73 74
Aristoteles, NE 1094a10–15. Ebd., 1094a20 f.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
maßen als eudaimonía 75 – ein Begriff, der traditionell etwas schief mit »Glück« übersetzt wird und eigentlich ein gelungenes, gutes menschliches Leben in seiner Gänze meint. In seiner Untersuchung hält sich Aristoteles nicht mit der Frage auf, ob wir berechtigt sind, überhaupt von der Existenz eines einzigen, höchsten Guts auszugehen, welches direkter oder indirekter Zweck all unserer Handlungen ist. Bei modernen Kommentatoren hat das Ausbleiben einer Begründung für diese Existenzannahme für gewisse Irritationen gesorgt. Schließlich, so wendet beispielsweise G. E. M. Anscombe gegen die aristotelische Argumentation ein, verfolgen wir im Leben viele verschiedene Zwecke und Pläne; bisweilen tun wir sogar etwas, ohne damit überhaupt irgendein Ziel anzustreben. 76 Die Vorstellung eines singulären höchsten Guts, welches wir immer und mit allen Handlungen erstreben, so wie die Gralsritter der Artussage ihr Leben der Suche nach dem Kelch Christi widmeten, erscheint in der Tat unplausibel. Es ist jedoch ratsam, den Begriff des höchsten Guts, wie Aristoteles ihn zu Beginn seiner Erörterung der Nikomachischen Ethik einführt, ohne großen metaphysischen Ballast zu lesen, sondern als ein Konzept, welches seinen zeitgenössischen Lesern intuitiv und alltagssprachlich verständlich ist. Zunächst bedeutet die Redeweise vom »höchsten Gut« nicht mehr als die schlichte Feststellung, dass es in der Welt echtes Streben gibt und dass wir Werturteile über Güter wirklich treffen und nicht nur prima facie. Folglich darf die Kette der »Warum?«-Fragen nach dem Zweck unserer Handlungen nicht endlos ins Leere laufen, sondern muss irgendwann bei Zwecken enden, die wir um ihrer selbst willen erstreben. Die aristotelische Gleichsetzung des höchsten Guts mit dem gelungenen Leben besagt weiterhin, dass sich unsere vielfältigen Handlungszwecke in eine vernünftige teleologische Ordnung einfügen müssen, um sich nicht gegenseitig zu behindern, und dass die Beurteilung einzelner Zwecke und Güter eine ganzheitliche, nicht-lokale Perspektive einnehmen muss, die das Leben in seiner Gesamtheit in den Blick nimmt. Wie sich Aristoteles das gelungene menschliche Leben inhaltlich vorstellt und welche konkrete Gestalt er dieser vernünftigen Zweckordnung der eudaimonía zuweist, ist in der Forschungsliteratur seit langem
75 76
Ebd., 1095a17. Vgl. Anscombe (1957) § 21, S. 33 f.
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Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
umstritten. 77 Aristoteles selbst ist an dieser Debatte nicht unschuldig, da er im X. Buch seiner Nikomachischen Ethik zwischen zwei Konzeptionen des guten Lebens zu schwanken scheint, nämlich dem politischen Lebensentwurf, der offenbar eine Vielzahl gleichberechtigter Güter einschließt, und dem Leben des Philosophen, welches scheinbar vollständig auf die kontemplative Tätigkeit des Intellekts ausgerichtet ist. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es jedoch nicht nötig, sich in dieser Debatte zu positionieren. Im Folgenden verwende ich den Begriff der eudaimonía als formale Bezeichnung für die skizzierte teleologische Ordnung des gelungenen menschlichen Lebensvollzugs und lasse offen, ob Aristoteles sich diese als eine strenge Hierarchie mit einem monolithischen Gut an der Spitze oder als eine flachere Struktur mit mehreren gleichberechtigten Gütern vorstellt. Wichtig ist stattdessen, dass das oben eingeführte aristotelische Prinzip der Kontextabhängigkeit von Gütern eine holistische Betrachtung von Dingen im Bezug auf die Gesamtheit des menschlichen Lebens verlangt: Für Aristoteles zählt eine Sache nur dann als Gut, wenn sie einen angemessenen Platz in der wohlgeordneten Zweckstruktur des Lebensvollzugs einnimmt. Der Gedanke, dass jedes Gut seine Güte vom höchsten Gut der eudaimonía ableitet, besagt daher zunächst nichts anderes, als dass eine umfassende Kontextbewertung von Gütern nötig ist. Ein Gut ist demnach eine Sache, die entweder Teil des gelungenen Lebensvollzugs ist oder ihn zumindest befördert, ein Übel ist etwas, das diesen Lebensvollzug hindert oder beeinträchtigt. Beispielhaft lässt sich dieses aristotelische Verständnis von Gütern und ihrem Zusammenhang zur teleologischen Struktur des gelungenen Lebens bereits bei Pflanzen und Tieren zeigen – auch wenn Aristoteles es ablehnt, bei nicht-vernünftigen Lebewesen von eudaimonía zu sprechen, verlaufen doch die begrifflichen Abhängigkeiten analog. Ich werde daher im Folgenden kurz die Güter-Zweckzusammenhänge bei tierischen und pflanzlichen Lebewesen schildern und an diesen Beispielen das aristotelische Verständnis eines Defekts beziehungsweise einer Privation einführen, welches für seine Doktrin des natürlichen Sklaven zentral ist. Michael Thompson stellt in seinem Buch Life and Action die neoaristotelische Beobachtung vor, dass die typische Lebensweise einer Tier- oder Pflanzenart mit einer bestimmten logischen KategoVgl. z. B. Nagel (1972), Ackrill (1977), Kenny (1977), Keyt (1983), Lawrence (1993 und 2005) und Richardson Lear (2005).
77
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rie von Aussagen beschrieben werden kann, die er »naturhistorische Urteile« (natural-historical judgments) nennt. Diese Urteile werden in der Regel mit generischen Sätzen formuliert und begegnen uns etwa in naturkundlichen Abhandlungen oder dokumentarischen Tierfilmen: »The domestic cat has four legs, two eyes, two ears, and guts in its belly;« oder »The yellow finch breeds in spring, attracting its mate with such and such song«. 78 Offensichtlich sollen derartige Sätze keine konkreten Individuen und ihre Einzelschicksale beschreiben, sondern sprechen allgemein über eine bestimmte Tierart, etwa die der Hauskatze oder des Goldzeisigs. Thompson betont, dass es sich bei solchen enzyklopädischen Aussagen nicht um statistische Durchschnittswerte handelt, die etwa anhand einer repräsentativen Stichprobe von Beobachtungen berechnet wurde. 79 Vielmehr stellen sie eine idealtypische Beschreibung eines Exemplars der entsprechenden Art dar. Die naturhistorischen Urteile Thompsons sind die sprachliche Entsprechung zu den anatomischen Zeichnungen in einem medizinischen Atlas: Auch diese illustrieren weder durchschnittliche Werte, noch bilden sie das Innenleben einer einzelnen, konkreten Person ab. Stattdessen zeigen sie exemplarisch die menschliche Anatomie. Auf diese Weise besitzen die naturhistorischen Urteile genauso wie die Bildtafeln des Anatomieatlanten eine generische Allgemeinheit, die von einer bloß statistischen oder auch allquantifizierten Allgemeinheit verschieden ist. Während die Bilder des Atlanten nur eine beispielhafte Momentaufnahme der Anatomie festhalten, können die naturhistorischen Urteile verschiedene physiologische Abläufe und Verhaltensmuster beschreiben und auf diese Weise sogar den vollständigen Lebenszyklus der entsprechenden Art erläutern, etwa die Entwicklung einer bestimmten Pflanzenart vom Keimling bis zum ausgewachsenen Exemplar, von der Blüte bis zur Samenbildung und schließlich ihrer Weiterverbreitung. Auch wenn die naturhistorischen Urteile in der Regel in der Zeitform des Präsens geäußert werden (zum Beispiel: »Die bestäubten Blüten der Heckenrose vertrocknen und ihre Früchte, die Hagebutten, bilden sich heraus«), hanThompson (2008), S. 64 f. Eine statistische Auswertung beispielsweise der Anzahl der Beine und Augen der durchschnittlichen Hauskatze felix catus würde Zahlen ergeben, die leicht unter vier beziehungsweise zwei liegen: Da nahezu keine Hauskatze mehr als vier Beine oder mehr als zwei Augen besitzt, aber eine gewisse Anzahl bedauernswerter Exemplare Augen oder Beine im Verlaufe ihres Lebens eingebüßt hat, liegt das arithmetische Mittel unter dem idealen, gesunden Wert. Vgl. Thompson (2008), S. 68.
78 79
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Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
delt es sich hierbei nicht um ein konkretes Geschehen in der Gegenwart des Sprechers, sondern um Entwicklungsphasen und generische Ereignistypen, die vielfach und zu verschiedenen Zeiten instanziiert werden können. Die Eigenart der naturhistorischen Urteile jedoch, die sie im Besonderen von konkreten Beschreibungen oder statistischen Untersuchungen abgrenzt, liegt in ihrer normativen Kraft: Als allgemeine Beschreibungen einer Lebensform, sei es eine Tier- oder Pflanzenart, formulieren sie zugleich einen spezifischen Standard der Güte für die Individuen dieser Art. Da es sich um idealtypische biologische Beschreibungen handelt, drücken sie Standards der Gesundheit und des gesunden Verhaltens aus. So wird etwa ein Tierarzt, der einen Löwen im Naturpark untersucht, dieses konkrete Exemplar mit den entsprechenden naturhistorischen Urteilen über Löwen in seinem veterinärmedizinischen Handbuch vergleichen. Aus diesem Buch könnte er zum Beispiel erfahren, dass ausgewachsene männliche Löwen um die zweihundert Kilo wiegen, rund sieben Kilo Fleisch am Tag fressen und in Rudeln leben. Weichen die Untersuchungsergebnisse des Tierarztes von den idealtypischen Beschreibungen in seinem Handbuch ab, weil der Löwe deutlich leichter ist und alleine lebt, wird der Arzt wahrscheinlich nicht sein Handbuch für widerlegt halten, sondern aus der Abweichung schließen, dass das konkrete Individuum in dieser Hinsicht den Standard eines gesunden Löwen verfehlt. Der Arzt wird vermutlich folgern, dass er einen kranken, unterernährten Löwen vor sich hat, der vom Rudel verstoßen wurde. Der Inhalt der generisch-allgemeinen Artbeschreibung stellt so eine Norm für die Lebewesen auf, die dieser Art angehören – bei Aristoteles finden wir diese Überlegung in der metaphysischen Formulierung, die Art eines Lebewesens sei seine Form und sein Wesen (sein eîdos und seine ousía). 80 Ein konkretes Exemplar fällt unter den normativen Standard seiner Art, einfach, weil es eine Verkörperung dieser Art ist. Das Sein (seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art) bestimmt das Sollen (der Standard der Gesundheit, nach dem wir dieses Exemplar beurteilen). Ein Individuum, das von diesem Standard abweicht, gilt für Aristoteles als privativ, es ist in der Hinsicht seiner Abweichung von der Art defekt. Der typisch neuzeitliche Reflex, hinter dieser normativen Ordnung einen naturalistischen Fehlschluss zu vermuten, trifft Aristoteles an dieser Stelle zu Unrecht. Die Frage, weshalb es für das konkrete Individuum überhaupt 80
Vgl. Aristoteles, Metaphysik VII(Z).1–3.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
relevant sein sollte, ob es der idealtypischen Beschreibung seiner Art entspricht oder nicht, wird durch die teleologische Verknüpfung der naturhistorischen Urteile beantwortet. Auch wenn die oben aufgeführten Beispielsätze auf einer oberflächlich sprachlichen Ebene den Mittel-Zweck-Zusammenhang nicht kenntlich machen, stehen sie doch nicht unterbunden nebeneinander, sondern beschreiben zahlreiche zweckhafte Verschränkungen. Dies gilt besonders offensichtlich für das physiologische Zusammenspiel der Organe. So ist beispielsweise der Blutkreislauf der meisten Tiere ein äußerst komplexes, vielfach verwobenes teleologisches System: Der Herzmuskel pumpt das Blut durch die Adern und erlaubt so der Lunge, die anderen Organe – einschließlich des Herzens selbst – mit Sauerstoff zu versorgen. Zugleich reguliert der Blutkreislauf die Körpertemperatur, transportiert Nährstoffe aus dem Verdauungstrakt und Abfallprodukte zu den Ausscheidungsorganen. Die Tätigkeit jedes Organs dient als Mittel für andere Organe und zugleich zu seiner eigenen Selbsterhaltung. Der übergeordnete Zweck aller Organe ist jedoch die Tätigkeit des Organismus als Ganzes. Ähnlich verhält es sich mit den Merkmalen und Verhaltensweisen eines Lebewesens insgesamt: Auch sie sind in organische Zweckstrukturen eingebunden. Die einzelnen Lebensvorgänge stehen daher nicht für sich, sondern verweisen wesentlich teleologisch aufeinander. Ihr übergeordneter Zweck ist das Dasein der Lebensform selbst, von der Selbsterhaltung des Individuums bis zu seiner Reproduktion, das heißt der Erhaltung der Art. Die Beschreibungen einer Art, wie sie durch Thompsons naturhistorische Urteile ausgedrückt werden, erläutern uns, auf welche spezifisch-zweckmäßige Weise die Vertreter dieser Art ihr Leben führen, das heißt, wie sie sich ernähren, fortbewegen, vor Feinden schützen, fortpflanzen und dergleichen. Die komplexe zweckhafte Verknüpfung dieser Artmerkmale und Lebensvollzüge bedeutet, dass nicht einfach auf einzelne Bestandteile verzichtet werden kann, ohne dass dies weitreichende Folgen für die gesamte Struktur seines Daseins nach sich zieht. Ein konkretes Individuum, dass in einem bestimmten Punkt von der idealtypischen Beschreibung abweicht, wird auch in anderen Bereichen seines Lebensvollzugs Einschränkungen erleiden. Dies führt dazu, dass viele der organisch angelegten Mittel-ZweckBeziehungen in diesem konkreten Lebewesen ins Leere greifen. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, dass Aristoteles bei individuellen Abweichungen von der Art-Form von einer Privation oder einem Defekt des Individuums spricht: Ein dreibeiniger Wolf beispielsweise 70 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
wird nicht nur deshalb als defizitär betrachtet, weil er einfach ein Bein weniger als der typische Wolf besitzt. Die Vierbeinigkeit der Wölfe ist keine einzelne, isolierte Norm, sondern ist Voraussetzung und Bedingung für zahllose Tätigkeiten, die das Wolf-Leben ausmachen. Der dreibeinige Wolf kann nicht mehr schnell rennen und jagen, muss sich von minderwertiger Nahrung ernähren, findet gegebenenfalls keinen Partner zur Paarung und dergleichen mehr. Die Abweichung von der allgemeinen Artbeschreibung bedeutet somit ein echtes Übel für das individuelle Exemplar. Die Abweichung führt dazu, dass seine Verwirklichung der artgemäßen Zweckstruktur ›aus dem Gleichgewicht‹ gerät. Ein defizitäres Individuum kann vielleicht noch am Leben bleiben, seine Organe oder sein Verhalten sind aber nicht mehr vollständig zweckdienlich. Ein defizitäres Individuum lebt in irgendeiner Hinsicht schlechter. Umgekehrt betrachtet Aristoteles alle Dinge, die dem Individuum den arttypischen Lebensvollzug erlauben, als Güter. Darunter fallen sowohl jene Entitäten, die die entsprechenden Tätigkeiten ausmachen, also auch jene, die sie instrumentell ermöglichen, wie auch jene, die dazu dienen, Defekte zu beheben (beispielsweise das Medikament, welches eine Krankheit heilt). Die Begriffe des Guts sowie des Übels, des Nutzens und des Schadens werden bei Aristoteles somit immer abhängig vom arttypischen Lebensvollzug gedacht. Eine bemerkenswerte Folgerung aus diesen Erläuterungen ist, dass es im Pflanzen- und Tierreich keine Entsprechung zum aristotelischen natürlichen Sklaven gibt, das heißt: es existiert kein Pendant eines privativen Individuums, für welches es aufgrund seines Defekts keine Güter gibt. Da Aristoteles jene Dinge als Güter versteht, die zum gelungenen Lebensvollzug beitragen und somit die spezifische Weise der Art- und Selbsterhaltung einer Lebensform ermöglichen, würde ein konkretes Tier oder eine konkrete Pflanze, für die überhaupt keine Güter existieren, gar nicht lebendig sein. Umgekehrt formuliert: Solange ein Tier oder eine Pflanze am Leben ist, ganz gleich, wie kümmerlich und unnatürlich seine Existenzweise ist, gibt es immer noch Aspekte seines Lebens, die es auf arttypische Weise verwirklicht (und seien es nur die primären, basalen Lebensfunktionen). Dementsprechend existieren immer noch Dinge, die die Aufgabe von Gütern erfüllen, weil sie entweder diese basalen Lebensfunktionen am Laufen erhalten oder weil sie in der Lage wären, eine Verbesserung des Zustands des Individuums herbeizuführen. Einem völlig überzüchteten Masthuhn im Käfig beispielsweise, welches weit ent71 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
fernt von der natürlichen Lebensweise eines freilebenden Huhnes sein Dasein fristet, können wir immer noch etwas ›Gutes‹ tun, indem wir ihm etwa die bevorzugte Nahrung verabreichen oder ihm mit Medikamenten seine Qualen lindern. Sofern noch gewisse Zweckzusammenhänge intakt sind – und dies ist die Voraussetzung dafür, dass das Tier am Leben ist –, können wir von Gütern, Nutzen, Übeln und Schaden sprechen. Beim natürlichen Sklaven verhält sich dies nach aristotelischer Auffassung anders. Für den Menschen, so Aristoteles, ist das bloße Lebendig-Sein keine graduelle Abstufung des gelungenen menschlichen Lebens. Stattdessen ist die eudaimonía kategorial von den einfachen Lebensfunktionen unterschieden, weil sie eine Verwirklichung des menschlichen Selbstbewusstseins ist, wie ich in den folgenden Abschnitten erläutern werde.
I.4.2 Bloß biologische und ethisch relevante Standards des Guten Der Schlüssel zu Aristoteles’ ethischem Naturalismus liege in der Einsicht, so erläutert Philippa Foot in ihrem einflussreichen Buch Natural Goodness, dass der Mensch auch nur eine Art Tier sei: Die Lebensform des Menschen könne ebenfalls mit naturhistorischen Urteilen beschrieben werden, so wie es im vorigen Abschnitt anhand der Lebensformen der Heckenrose, des Löwen, der Hauskatze und des Goldzeisigs demonstriert wurde. Insbesondere bedeute dies, dass auch die Standards des Guten, unter denen ein Mensch stehe, sich durch die teleologisch geordnete, generische Beschreibung seines gelungenen Lebensvollzugs ergeben. 81 Foot schränkt diese Analogie zwischen Mensch und Tier jedoch an mehreren wichtigen Punkten ein: Erstens sei menschliches Verhalten wesentlich vielfältiger und die menschlichen Tätigkeiten viel diverser, als dies bei anderen Arten von Lebewesen der Fall sei. 82 Eine umfassende enzyklopädische Darstellung der menschlichen Lebensform, etwa nach dem Vorbild von Brehms Tierleben, ist notwendigerweise zum Scheitern verurteilt, nicht nur aufgrund der großen historischen und kulturellen Bandbreite menschlicher Lebensweisen, sondern vor allem aufgrund der menschlichen Erfindungsgabe. Selbst wenn es einem ausdauernden Forscher gelänge, eine vollständige Beschreibung der menschlichen 81 82
Foot (2001), S. 38 f. Ebd., S. 39.
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Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
Kulturen zu verfassen, würde dieses Werk in kürzester Zeit veralten. Menschliche Praktiken und Institutionen sind schließlich nicht statisch, sondern offen und kreativ in einem Maße, das sich so bei keiner anderen Lebensform findet. Es gibt somit eine unermessliche Fülle von möglichen generischen Urteilen über die menschliche Lebensform. Zweitens werde laut Foot die Zweckordnung menschlichen Lebens nicht in der gleichen Weise von Selbsterhaltung und Reproduktion geprägt, wie dies bei Tieren und Pflanzen geschehe – beziehungsweise müsse der Begriff der Selbsterhaltung beim Menschen auf andere, komplexere Art verstanden werden. 83 Wir reduzieren ein gelungenes menschliches Leben nicht auf die Frage, wer sich besonders erfolgreich im Überlebenskampf durchsetzt und wer die meisten Nachkommen hervorbringt. Durch die Kulturalität des Menschen erhält seine Lebensform eine zusätzliche Ebene, zu der beispielsweise die Bereiche der Politik, Kunst, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft gehören, für die wir bei den Tieren keine wirkliche Entsprechung finden, die aber eine wesentliche Rolle für unsere Vorstellung eines gelungenen menschlichen Lebens spielen, das über das nackte Überleben hinausgeht. Im menschlichen Leben sind Überleben und Fortpflanzung nicht mehr die höchsten Selbstzwecke, wie es bei Tieren noch der Fall ist. Dementsprechend sei es auch möglich, so Foot, dass eine Person freiwillig zölibatär lebe, um sich etwa ausschließlich der Kunst oder der Philosophie zu widmen, ohne dass sie wegen ihrer Kinderlosigkeit als defizitär betrachtet werde. 84 Diese ›zusätzliche Ebene‹ menschlichen Lebens, die uns von Tieren und Pflanzen unterscheidet, führt dazu, dass wir in der Beschreibung der menschlichen Lebensform zwei grundlegend verschiedene Standards der Güte unterscheiden können. Wir haben zwar auch bei den naturhistorischen Urteilen über Tiere die Möglichkeit, beispielsweise zwischen anatomischen, physiologischen und verhaltensbezogenen Standards zu differenzieren. Die Grenzen verlaufen hier allerdings fließend. Letztlich handelt es sich bei all diesen Standards aus der Tier- und Pflanzenwelt um verschiedene Normen der Gesundheit, so dass wir keinen Kategorienfehler begehen, wenn wir Abweichungen von diesen Normen als »krankhafte Erscheinungen« bezeichnen, ganz gleich, ob wir uns etwa auf physiologische Erkrankungen oder krankhaftes Verhalten beziehen. Beim Menschen hingegen müssen wir zwei grund83 84
Ebd., S. 42. Vgl. ebd.
73 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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legend unterschiedliche Standards auseinanderhalten, die ich im Folgenden die bloß biologischen Standards und die ethisch relevanten Standards nenne. Mit den bloß biologischen Standards beziehe ich mich auf die physiologisch-anatomischen Normen der Gesundheit, die wir im Großen und Ganzen genauso bei Tieren und Pflanzen finden können. Die Bezeichnung »ethisch relevant« hingegen verwende ich in einem möglichst weiten Sinn: Gemeint sind nicht ausschließlich moralische Normen, sondern alle normativen Standards, die sich auf menschliche Handlungen beziehen. Diese Normen legen beispielsweise fest, wie wir einen guten Musiker, einen guten Politiker, eine gute Mutter oder einen guten Vater beurteilen. Im Bezug auf die ethisch relevanten Standards benutzen wir in der Regel nicht das Vokabular von Gesundheit und Krankheit, es sei denn, wir meinen dies im metaphorischen Sinn, wenn wir etwa eine bösartige Tat als »krankhaft« bezeichnen. Der Unterschied zwischen beiden Standards ist kategorial, wie ich im Folgenden erläutern werde: Eine Erblindung ist beispielsweise eine Privation in Hinsicht auf die bloß biologischen Standards des Sehens, ein gebrochenes Versprechen oder eine schlampige Handwerksarbeit sind Privationen in Hinsicht auf ethisch relevante Standards – beide Arten von Urteilen nehmen ganz unterschiedliche Stellungen in unserem praktischen Überlegen ein und es wäre fatal, diese zu vermengen, auch wenn sie laut Aristoteles beide in der teleologischen Struktur des gelungenen menschlichen Lebens miteinander verbunden sind. Wichtig ist hierbei, dass die bloß biologischen Standards für das gelungene menschliche Leben eine untergeordnete, lediglich instrumentelle Rolle einnehmen: Gesundheit ist nicht das höchste Gut des Menschen, sondern dient nur der Ermöglichung des guten Handelns. Körperliche Gebrechen wertet Aristoteles erst dann als Übel, wenn sie der Verwirklichung guter Handlungen im Wege stehen. Dies bedeutet zum einen, dass beispielsweise eine blinde Person nicht zwangsläufig ein schlechteres Leben führt – zumindest wenn es für sie genügend Hilfsmittel gibt, ihre gesundheitliche Benachteiligung auszugleichen. Andererseits ist Gesundheit für Aristoteles kein Wert an sich: Wenn ein miserables Leben durch robuste Gesundheit verlängert wird oder ein böser Mensch besonders langlebig ist, dann handelt es sich hierbei nicht um ›Glück im Unglück‹, sondern vielmehr trägt die Gesundheit in solchen Fällen zur Vermehrung des Übels bei. Wenn wir systematisch den Versuch unternehmen würden, alle generischen Urteile über die menschliche Lebensform in zwei Grup74 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
pen zu sortieren – in Urteile, die die ethisch relevanten Standards im oben genannten weiteren Sinn abbilden, und alle restlichen, bloß biologischen Urteile –, dann fiele uns diese Einteilung vermutlich nicht allzu schwer. Von einigen Grenzfällen abgesehen, haben wir in der Regel starke Intuitionen, die uns helfen, zwischen Urteilen wie »Menschen haben zwei Beine« und »Menschen sind großzügig« zu unterscheiden. Die Tatsache, dass es eine solche Unterscheidung gibt, ist vermutlich unumstritten. Die bloß biologischen Urteile gehören in den Bereich empirisch-medizinischer Wissenschaften, wie der Physiologie, Neurologie und Anatomie. Sie verraten uns etwas über den körperlichen Zustand, über Gebrechen und Krankheiten. Das Gute gemäß der bloß biologischen Standards ist, wie bereits oben festgehalten, das Gesunde. Die ethisch relevanten Standards dagegen beschreiben richtiges und gutes Verhalten. Sie sind verbunden mit Begriffen wie Lob und Tadel, Verdienst, Wertschätzung, Strafe, Belohnung und dergleichen, die im Bereich der Gesundheit wenig Sinn ergeben. Wir tadeln beispielsweise einen faulen Arbeiter, aber es wäre merkwürdig, wenn wir einen Kranken für seine Krankheit rügen – es sei denn, die Erkrankung ist eine Folge schlechten Verhaltens im Sinne der ethisch relevanten Standards. Obwohl wir offenbar ein intuitives Verständnis besitzen, welche Normen zu den bloß biologischen und welche zu den ethisch relevanten Standards gehören, ist eine Definition dieser Unterscheidung nicht trivial. Generische Urteile, welche die eine oder die andere Art von Normen ausdrücken, können jedenfalls nicht einfach thematisch oder aufgrund der Verwendung bestimmter Signalwörter unterschieden werden. Dies lässt sich dadurch zeigen, dass wir Sätze über die Tierwelt bilden können, die sprachlich und inhaltlich nahezu deckungsgleich mit ethisch relevanten Urteilen der menschlichen Lebensform sind. So gilt beispielsweise für Menschen und Braunbären gleichermaßen die Norm, dass sie sich um ihre Kinder kümmern. In beiden Fällen können wir dies durch ein naturhistorisches Urteil folgendermaßen beschreiben: »Braunbären leben mit ihren Jungen zusammen und sorgen für sie.« »Menschliche Eltern leben mit ihren Kindern zusammen und sorgen für sie.«
Beide Urteile scheinen ein ähnliches Geschehen zu beschreiben und kommen ohne ethisch-moralische Signalwörter wie »gut«, »gerecht«, »großzügig« oder »pflichtgemäß« aus. Dennoch spricht das Urteil über Menschen einen ethisch relevanten Standard aus, dasjenige über 75 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
Braunbären hingegen nicht. Menschliche Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern (und keine guten Gründe für diese Unterlassung haben), können wir mit Recht tadeln: Sie haben eine schlechte Entscheidung getroffen, ihre Pflicht nicht bedacht oder einfach einen Fehler gemacht. Bei einem Braunbären, der seine Jungen vernachlässigt, wäre ein solcher Tadel lächerlich, und zwar nicht nur, weil der Braunbär unsere Sprache nicht versteht, sondern vor allem, weil dieser Tadel die Kategorie des tierischen Verhaltens missversteht. Die Bärenmutter beschützt instinktiv ihre Jungen. Falls sie dies aus irgendwelchen Gründen nicht tut und ihre Kinder im Stich lässt, dann ist sie verhaltensgestört. Sie verhält sich krankhaft, nicht etwa »nachlässig«, »unbedacht« oder »verantwortungslos«. Wenn wir solche ethischen Begriffe im Bereich der Tiere verwenden, nutzen wir sie als unglückliche Metapher, mit der die zentralen normativen Unterschiede verdeckt werden. Indem Philippa Foot die naturhistorischen Urteile im Wesentlichen als Funktionsbeschreibung innerhalb des Lebensvollzugs betrachtet, gerät sie ebenfalls in Gefahr, den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Arten von Urteilen zu übersehen. In einer gewissen Hinsicht erfüllt schließlich die Nachwuchspflege bei Menschen und bei Braunbären dieselbe Funktion. Der Unterschied zwischen diesen Tätigkeiten liegt aber nicht darin, welchen Zweck sie erfüllen, sondern auf welche Weise der Zweck erfüllt wird und wie er den entsprechenden Lebewesen präsent ist. Für Aristoteles zeigt sich der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Standards in ihrer logischen Form, wie ich im Folgenden erläutern werde: Bloß biologische und ethisch relevante Urteile sind nicht unbedingt im Hinblick auf ihren Inhalt verschieden. Vielmehr sind ethisch relevante Urteile durch eine Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet, die es bei bloß biologischen Urteilen nicht gibt. Aristoteles verweist in seiner Nikomachischen Ethik für diese Unterscheidung auf seine Seelenlehre. Die einzelnen Vermögen der Seele, die für Aristoteles das Prinzip der Lebensvollzüge einer Lebensform ist, sind für die verschiedenen Tätigkeiten des Lebewesens zuständig, die mit den generischen Urteilen beschrieben werden können. In seiner Ethik unterteilt Aristoteles die Seelenvermögen in zwei Gruppen, die den bloß biologischen und den ethisch relevanten Standards entsprechen: die Vermögen ohne Vernunft (λόγος) und die Vermögen mit Vernunft (λόγον ἔχων). 85 Auch wenn es auf den ersten Blick den 85
Z. B. Aristoteles, NE 1098a1–5.
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Anschein haben mag, als unterscheide Aristoteles hier zwischen Tätigkeiten, für die ein intensives Nachdenken nötig ist, und Tätigkeiten, die ohne Nachdenken durchgeführt werden können, versucht Aristoteles stattdessen, nicht den Inhalt, sondern die Form der Tätigkeit zu charakterisieren. Dies zeigt sich beispielsweise in seiner Diskussion der Tugenden, die paradigmatisch für die Vermögen mit lógos stehen. Dort erläutert Aristoteles, dass sich die Tugendhaftigkeit sogar in besonderem Maße zeigt, wenn die jeweilige Person aus dem Bauch heraus handelt und sich ohne großes Zögern oder Abwägen entscheidet. 86 Der Begriff des lógos, der bekanntermaßen schwer zu übersetzen ist, meint hier eben kein konkretes geistiges Vermögen wie etwa Vernunft, Verstand oder die Fähigkeit zum praktischen Überlegen. Vielmehr bezeichnet Aristoteles an dieser Stelle damit eine bestimmte Form der Vernünftigkeit oder Verständlichkeit des jeweiligen Vermögens. Im II. Buch seiner Nikomachischen Ethik erläutert er dieses Kriterium der vernünftigen Form näher: Eine Tätigkeit erfüllt es nur dann, wenn sie »wissentlich« (εἰδώς) und »vorsätzlich« (προαιρούμενος) geschieht. 87 Diese Bedingungen des »Wissens« und des »Vorsatzes« verlangen jedoch nicht, dass eine konkrete Handlung genau geplant werden und von bewussten Gedanken begleitet werden muss, sondern sie fordern, dass der Handelnde sein Tun als vernünftig erkennen und für gut halten muss. Dies bedeutet unter anderem, dass die ethisch relevanten Standards von einer Person nicht zufällig erfüllt werden können. Jemand handelt Aristoteles zufolge erst dann im ethisch relevanten Sinn gut, wenn ihm bewusst ist, dass er gemäß einem Standard des Guten handelt. Mehr noch: Der Standard des Guten muss der Grund sein, weshalb die entsprechende Person so handelt, wie sie handelt. Die ethisch relevanten Standards müssen folglich dem Handelnden auf irgendeine Weise präsent sein, um verwirklicht zu werden. Diese Präsenz der ethischen Standards muss aber nicht zwangsläufig durch praktische Deliberation geschehen, sondern kann, wie beim Beispiel des spontan handelnden Tugendhaften, in der Gestalt des vernünftigen Habitus sein, der die Ursache für solche Handlungen ist und der im Verlauf jahrelanger Übung und Reflexion entstanden ist. Für die bloß biologischen generischen Urteile gibt es hingegen keine solchen Bedingungen. Ich muss nicht wissen, wie häufig und kräftig ein gesundes Herz schlägt, damit 86 87
Z. B. ebd., 1117a15–25. Ebd., 1105a30–35.
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mein Herz tatsächlich seine Aufgabe gut erfüllt. Ich brauche nicht einmal zu wissen, dass ich ein Herz habe. Mein Herz schlägt unabhängig von meinem Wissen über das Herz. Eine formale Kennzeichnung ist diese Unterscheidung zwischen bloß biologischen und ethisch relevanten Standards, weil sie nicht auf den Inhalt der Handlung zielt, sondern auf die Art und Weise, wie diese Standards für den Handelnden wirksam sind. Die ethisch relevanten Standards fordern nicht allein ein bestimmtes Verhalten – sie verlangen also nicht nur von mir, dass ich X tue –, sondern sie verlangen zusätzlich, dass sie mir als Standard und Grund meines Handelns bewusst sind. Die ethisch relevanten generischen Urteile sind somit selbstbezüglich, sie enthalten einen Verweis auf sich selbst. Aristoteles spricht hier von lógos oder Vernünftigkeit, weil diese generischen Urteile eine Einsicht in sich selbst fordern. In gewisser Weise können mir natürlich auch die bloß biologischen Standards präsent sein und zum Grund meines Handelns werden: Beispielsweise kann mein Wissen über gesunde Ernährung bewirken, dass ich fettige und einseitige Nahrung meide. Auf diese Weise führt mein Bewusstsein des bloß biologischen Standards der Ernährung dazu, dass er verwirklicht wird. Diese Verknüpfung ist dem Standard selbst allerdings äußerlich. Es ist für die Tatsache, dass ich mich gesund ernähre, unerheblich, ob ich mich aufgrund meiner Einsicht so verhalte oder rein zufällig. Würde ich mich nur deshalb gesund ernähren, weil ein wohlwollender Koch mir die entsprechenden Speisen präsentiert, wäre dennoch der bloß biologische Standard der gesunden Ernährung ausreichend erfüllt, weil ihm die Bedingung der Selbstbezüglichkeit fehlt. Am deutlichsten wird diese Bedingung der Selbstbezüglichkeit bei den Tugenden: 88 Großzügig im eigentlich Sinn nennen wir eine Person erst dann, wenn sie weiß, dass eine bestimmte Handlung großzügig ist und sie diese Handlung auch genau aus diesem Grund ausführt. Wenn wir beispielsweise ein Kind auffordern, einem HilfsDie Bedingung der Selbstbezüglichkeit gilt allerdings auch in anderen Bereichen, die wir im modernen Sinn nicht unbedingt der Ethik zurechnen, beispielsweise in den Techniken und Fertigkeiten: Ein Handwerker baut erst dann einen guten Dachstuhl, wenn er die Balken nicht zufällig auf die richtige Weise zusammenfügt, sondern wenn er weiß, wie ein guter Dachstuhl auszusehen hat und dieses Wissen Grund für sein Handeln ist. Natürlich wäre es möglich (wenn auch unwahrscheinlich), dass ein völlig Ahnungsloser zufällig einen Dachstuhl richtig zusammenbaut – wir wären aber mit Recht misstrauisch, diesen Dachstuhl, der ohne Kunstfertigkeit entstanden ist, einen »guten Dachstuhl« zu nennen und ihm unser Leben anzuvertrauen.
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bedürftigen eine bestimmte Summe Geld zu geben, oder wenn das Kind zufällig eine angemessene Münze in dessen Hut wirft, dann genügt dies noch nicht, dass die Handlung wirklich den Standard der Großzügigkeit erfüllt. Ein wahrhaft Großzügiger muss den ethisch relevanten Standard der Großzügigkeit selbst kennen und sein Handeln danach ausrichten. Aristoteles stellt in seiner Nikomachischen Ethik klar, dass er die Selbstbezüglichkeit der ethisch relevanten Standards für eine höchst anspruchsvolle Bedingung hält. 89 Zunächst erfordert sie, dass der Handelnde überhaupt über die notwendigen sprachlichen und begrifflichen Fähigkeiten verfügt, um das Konzept einer Norm zu verstehen und richtig anzuwenden. Schon aus diesem Grund kann es im Tier- und Pflanzenreich keine ethisch relevanten Normen geben. Weiterhin reicht es aber in der aristotelischen Vorstellung nicht aus, nur einzelne der ethisch relevanten Standards zu kennen. In gleicher Weise, wie die biologischen Normen der Gesundheit in einer aufwändigen Zweckstruktur miteinander verflochten sind, gelten auch die ethisch relevanten Normen nicht isoliert, sondern stehen in vielfältiger Wechselwirkung. Die Tugenden bedingen sich beispielsweise gegenseitig, so dass eine Handlung nicht großzügig sein kann, wenn sie zugleich ungerecht wäre. Diese Eigenschaft habe ich in Abschnitt I.4.1 mit dem Prinzip der Kontextabhängigkeit von Gütern eingeführt: Um zu erkennen, ob etwas wirklich gut ist, muss der Handelnde es in einem umfassenden Kontext beurteilen, der letztlich die gesamte menschliche Lebensform einschließt. Um die Selbstbezüglichkeit der ethisch relevanten Standards zu erfüllen, muss ein Handelnder demnach ein Verständnis vom höchsten Gut, der eudaimonía, haben. Dazu gehört ein umfassendes Wissen über das menschliche Dasein, über gemeinschaftliche Kooperation, das Leben in der pólis, Kunst, Kultur, Wissenschaft, Religion, Poesie, Freundschaft und dergleichen mehr. Wirklich gutes Handeln ist demnach für Aristoteles nur möglich, wenn der Handelnde umfassend gebildet und philosophisch begabt ist. Dieses anspruchsvolle Ideal können freilich nur wenige Menschen erfüllen. Der häufige Vorwurf, Aristoteles’ Ethik sei ein elitäres Modell für die happy few, ist daher sicherlich nicht aus der Luft gegriffen. Aristoteles wendet sich mit seiner Ethik nicht an jedermann, sondern an den erfahrenen, wohlhabenden
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So z. B. in seinen Ausführungen über die rechte Erziehung in NE X.10.
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und gebildeten pólis-Bürger. 90 Ein Großteil der Athener Bevölkerung verfehlt diesen Standard. Dennoch glaubt Aristoteles nicht, dass all diese Menschen natürliche Sklaven seien, nur weil er sie für unfähig hält, ein rundum gelungenes menschliches Leben zu führen. Zwar scheitern viele daran, die ethisch relevanten Standards des menschlichen Lebens zu erfüllen. Für Aristoteles hat das Scheitern des natürlichen Sklaven jedoch eine extreme, fundamentale Qualität, die in seinen Augen dazu führt, dass überhaupt kein Bezug zur Güterstruktur der eudaimonía mehr möglich sei. Im folgenden Abschnitt gehe ich auf dieses Scheitern näher ein, grenze es vom Scheitern anderer Typen ab, die Aristoteles lediglich für schlecht oder unvollkommen hält, und erläutere, wie sich daraus im aristotelischen Denken die besondere Stellung des natürlichen Sklaven ergibt.
I.4.3 Typologie der Privationen: Lasterhafte, Kinder und natürliche Sklaven In Aristoteles’ elitärer Vorstellung haben nur sehr wenige Menschen Anteil am elitären Ideal der eudaimonía: Nicht nur sämtliche nichtgriechischen Völker verfehlen den Standard eines gelungenen menschlichen Lebens, wie Aristoteles es versteht, sondern auch unter den Griechen scheitern die meisten daran. Frauen, Kinder, Tagelöhner, Handwerker, Kaufleute und Sklaven hält Aristoteles für grundsätzlich ungeeignet, die eudaimonía zu erreichen. Aber selbst der Status als gebildeter, männlicher und wohlhabender pólis-Bürger ist kein Garant für das gelungene Leben. Auch in diesem privilegierten Kreis gelingt es der Mehrheit nicht, die aristotelischen Standards zu erfüllen – sei es, weil die Betroffenen zu jung, zu willensschwach, schlecht erzogen, zu lasterhaft oder schlicht vom Pech verfolgt sind. Aristoteles zufolge gibt es aus systematischen Gründen unzählige Arten, das Ideal der eudaimonía zu verfehlen. Eine vollständige Liste aller möglichen Privationen und Abweichungen vom Standard des gelungenen menschlichen Lebens ist für ihn logisch ausgeschlossen: »Denn das
Aristoteles erläutert diese Anforderungen an die Hörer seiner Ethik in NE I.1, 1095a1–14 und in 1095b4–6 Dort heißt es: »Daher muss, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte (kalon) und Gerechte (dikaion), allgemein über die Themen der politischen Untersuchung (politika), geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben.«
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Schlechte gehört auf die Seite des Unbegrenzten.« 91 Ich werde mich deshalb in diesem Kapitel auf die exemplarische Vorstellung dreier Typen beschränken, die laut Aristoteles ein unvollkommenes Leben führen, nämlich den Lasterhaften, das Kind und den natürlichen Sklaven, und untersuchen, wie sich ihr Unvermögen, das höchste Gut der eudaimonía zu verwirklichen, auf die Güter- und Zweckstruktur ihres Handelns auswirkt. Schließlich führt das aristotelische Prinzip der Kontextabhängigkeit des Guten dazu, dass alle Dinge, die wir gemeinhin als gut schätzen, beispielsweise Freunde, Reichtum, politische Macht, gute Herkunft, wohlgeratene Kinder, Schönheit und dergleichen, nur durch ihren Beitrag zur eudaimonía tatsächlich Güter sind. 92 Die Tatsache, dass ein konkreter Mensch die eudaimonía nicht erreichen kann, verhindert jedoch nicht grundsätzlich, dass es für ihn Güter gibt. So wie der dreibeinige Wolf aufgrund seiner Privation zwar nicht mehr alle Lebensvollzüge eines Wolfes auf die arttypische, angemessene Weise verwirklichen kann, aber doch in der Lage ist, mit Einschränkungen ein wolfshaftes Leben zu führen, so gilt dies auch für Menschen, die auf die eine oder andere Weise vom Ideal des gelungenen menschlichen Lebens abweichen. Die Rede von Gütern bleibt in diesen Fällen sinnvoll, weil es immer noch Dinge gibt, die entweder näherungs- oder teilweise einen Bezug auf dieses Ideal herstellen und im beschränkten Umfang die arttypischen Lebensvollzüge erlauben. Beim natürlichen Sklaven hingegen ist dies laut Aristoteles anders. Hier sei der Defekt, der den natürlichen Sklaven kennzeichnet, derart radikal, dass auf ihn der Begriff der eudaimonía nicht einmal in Näherung oder Analogie anwendbar sei. Um diese Eigenart herauszuarbeiten, werde ich zunächst auf die aristotelische Darstellung des Lasterhaften und des Kindes eingehen, die in ihren Unvollkommenheiten dem natürlichen Sklaven in gewisser Weise ähneln, um zu untersuchen, wie Aristoteles sich bei ihnen den Bezug zum menschlichen Guten vorstellt. Anschließend erläutere ich die Besonderheit des natürlichen Sklaven, die laut Aristoteles diesen Bezug gänzlich zerstört. Aristoteles lässt in seiner Nikomachische Ethik vielfältige Beispiele für Lasterhafte auftreten: Er nennt unter anderem den Feigling, den Tollkühnen, den Geizhals, den Verschwender, den Kleinmütigen, den Ehrgeizigen, den Jähzornigen, den Apathischen, den 91 92
Ebd., 1106b30. Ebd., 1099a30-b5, vgl. auch Cooper (1985).
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pathologischen Aufschneider, den Possenreißer und etliche mehr. All diesen Lasterhaften ist gemeinsam, dass sie das Ideal des tugendhaften Handelns entweder durch ein »Übermaß« oder durch einen »Mangel« verfehlen: Denn diese [die Charaktertugend, MP] hat mit Affekten und Handlungen zu tun und in diesen gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere. Zum Beispiel kann man Furcht, Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und allgemein Lust und Unlust ebenso zu viel wie zu wenig empfinden, und beides ist nicht die richtige Weise. 93
Lasterhaft ist also derjenige, der schlecht handelt, weil er das rechte Maß verfehlt und sich beispielsweise durch zu heftige Emotionen leiten lässt, zu gefühllos handelt, zu viel oder zu wenig Vorsicht walten lässt, zu sehr auf die körperlichen Genüsse achtet oder auch Lust an den falschen Dingen beziehungsweise bei unpassenden Gelegenheiten empfindet. Wir können vermuten, dass Aristoteles einen Großteil seiner Mitmenschen zu den Lasterhaften zählt. Gerade weil es so anspruchsvoll ist, in allen Dingen die tugendhafte Balance zu halten, scheitern die meisten in der einen oder anderen Hinsicht. Dennoch sieht Aristoteles eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem Laster und der Tugend: Erstens versteht er das Laster genauso wie die Tugend als einen Habitus. Dem Feigen ist seine Feigheit ebenso zur zweiten Natur geworden wie der Mut dem Mutigen. Das Laster ist Teil des Charakters, es bestimmt die Affektivität und formt das Denken. Der Lasterhafte unterscheidet sich also vom Willensschwachen, der sich zwar gute Vorsätze vornimmt, aber unter Druck der Versuchung nicht standhalten kann. Stattdessen ist der Lasterhafte gewissermaßen mit sich im Reinen, weil er glaubt, dass seine Reaktion in der jeweiligen Handlungssituation die Richtige ist. Er handelt daher, zweitens, im aristotelischen Sinne vorsätzlich und aufgrund der eigenen Entscheidung. Somit erfüllt das lasterhafte Handeln die drei formalen Kriterien, die Aristoteles an das tugendhafte Handeln knüpft: Es ist ein bewusstes und vorsätzliches Handeln aus einer festen Disposition heraus. 94 Der Unterschied zum Tugendhaften besteht jedoch darin, dass der Lasterhafte schlichtweg das Falsche für das Richtige hält. Der Lasterhafte handelt somit aufgrund verkehrter Prinzipien, sein ethisches Koordinatensystem ist verzerrt. 93 94
Ebd., 1106b17–21. Vgl. ebd., 1105a30–35.
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Beispielsweise schreibt der Unmäßige dem Angenehmen und den Vergnügen einen zu hohen Stellenwert zu. 95 Seine Einschätzung, dass das Angenehme und Vergnügen erstrebenswert sind, ist im Grunde nicht verkehrt, er sieht nur nicht, dass viele andere Dinge im Leben wichtiger sind. Er entscheidet sich deshalb gegen Handlungen, die Opferbereitschaft und Selbstdisziplin verlangen, und geht lieber den Weg des geringsten Widerstands. Dies liege aber nicht daran, so Aristoteles, dass der Unmäßige sich nicht zu diesen Handlungen überwinden könne. Vielmehr fehle ihm die Einsicht, dass es unter bestimmten Umständen richtig sei, auf das Angenehme zu verzichten. 96 Ebenso verhält es sich mit den übrigen Lastern: Der aristotelische Lasterhafte glaubt, im Recht zu sein. Aus seiner subjektiven Perspektive erscheint er selbst tugendhaft. Demnach ist der Lasterhafte offensichtlich in der Lage, einen Begriff vom gelungenen Leben zu bilden, das eine teleologische Ordnung von Werten und Gütern verwirklicht. Auf dieser Grundlage urteilt und handelt der Lasterhafte. Er erkennt, welche Handlungen seine Vorstellung vom guten Leben umsetzen können. Der entscheidende Unterschied ist daher vor allem inhaltlicher Natur: Die Vorstellung des gelungenen Lebens, von eudaimonía, die sich der Lasterhafte macht, ist falsch. Er versteht beispielsweise nicht, weshalb die Maxime, stets dem Angenehmen zu folgen, keine tragfähige Handlungsmaxime ist. Dennoch besitzt der aristotelische Lasterhafte einen Begriff von eudaimonía, wenngleich dieser Begriff schief, inkonsistent und unangemessen ist. In vielen Punkten gibt es sogar Überschneidungen zur eudaimonía des Tugendhaften – auch der Tugendhafte strebt nach Lust und dem Angenehmen, nach Ehre und Geld, aber nicht in dem überzogenen Maße, wie es beispielsweise der Unmäßige, der Ehrgeizige und der Geldgierige tun. Die Lasterhaften irren sich über den Stellenwert dieser Güter, aber nicht über die Tatsache, dass es sich um Güter des menschlichen Lebens handelt. Ihre Irrtümer sind in gewisser Weise für den Tugendhaften nachvollziehbar, selbst wenn sich letztlich das Leben des Tugendhaften gravierend von den Lebensweisen der Lasterhaften unterscheidet. Der Lasterhafte besitzt somit ein teilweises, Ebd., 1150a20 ff. Aus diesem Grund hält Aristoteles den Lasterhaften auch für schlechter als den Willensschwachen. Der Willensschwache erkenne zumindest, dass sein Handeln vom vernünftigen Maß abweicht, und habe deshalb das Potential zur Verbesserung. Der Lasterhafte hingegen sei unverbesserlich, weil ihm die Einsicht fehle (ebd., 1150b30 f.).
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eingeschränktes Verständnis des Guten. Daraus folgt, dass wir beim Lasterhaften trotzdem von Gütern sprechen können, obwohl er die entsprechenden ethisch relevanten Standards des Guten verfehlt. In drei unterschiedlichen Hinsichten gibt es »Güter« für den Lasterhaften: Erstens können wir die Sichtweise des Lasterhaften annehmen und alle Dinge, Ereignisse und Sachverhalte »gut« nennen, die zur Verwirklichung seiner lasterhaften Vorstellung eines guten Lebens beitragen. Inhaltlich unterschieden sich diese »Güter« zwar von den Gütern eines Tugendhaften, aber sie stehen in der gleichen formalen teleologischen Beziehung auf den eudaimonía-Begriff des Lasterhaften wie die Güter des Tugendhaften zu dessen eudaimonía-Begriff. Zweitens gibt es gewisse Dinge, die sowohl für den Tugendhaften als auch für den Lasterhaften als Güter gelten, obwohl sich der Tugendhafte und der Lasterhafte über den Ort dieser Dinge in der Güterhierarchie eines gelungenen Leben uneins sind, wie beispielsweise das Angenehme. Drittens schließlich können jene Dinge zu den Gütern für den Lasterhaften gerechnet werden, die ihn vom Laster abbringen und auf den Weg der Tugend verhelfen. Da der Lasterhafte offensichtlich zu einem prinzipiengeleiteten, selbstbewussten Handeln in der Lage ist, erfüllt er zumindest einige Voraussetzungen der Tugend. Es scheint also nicht unmöglich, ihm den tugendhaften Begriff der eudaimonía nahezubringen. Aristoteles zeigt zwar wenig Zuversicht, was die Erfolgsaussichten solcher Umerziehungsversuche angeht, aber er schließt sie nicht kategorisch aus. Diese drei Arten von Gütern für den Lasterhaften – Güter in formaler Hinsicht, überoder unterbewertete Güter im eigentlichen Sinn und schließlich erzieherische Güter, die zu einem echten Verständnis von eudaimonía verhelfen könnten – führen dazu, dass wir auch die Begriffe des Nutzens, des Schadens und des Übels auf den Lasterhaften anwenden können. Aus diesem Grund können wir ebenfalls gehaltvoll von gerechter oder ungerechter Behandlung eines Lasterhaften sprechen – er ist also kein natürlicher Sklave im aristotelischen Sinn. Während das Leben des aristotelischen Lasterhaften gewissermaßen ein Zerrbild der tugendhaften eudaimonía darstellt, weil das lasterhafte Handeln in mehrfacher Hinsicht dem tugendhaften Handeln ähnelt und auf eine (wenngleich verfehlte) Vorstellung vom Guten abzielt, weichen Kinder deutlich stärker vom Ideal des tugendhaften Handelns ab: Sie sind noch zu jung, um einen festen Habitus ausgebildet zu haben. Weil sie dazu neigen, ihren Affekten zu folgen, verhalten sie sich launenhaft und unbeherrscht. Kinder – und laut 84 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Aristoteles selbst noch »junge Menschen« (νέοι) – sind unerfahren, noch ungebildet, und haben deshalb keine Vorstellung eines gelungenen menschlichen Lebens. Sie leben viel zu sehr im Augenblick, um ihr gegenwärtiges Handeln von langfristigen Plänen beeinflussen zu lassen. Sie sind daher insgesamt nicht in der Lage, anspruchsvolle Überlegungen zum guten menschlichen Leben zu formulieren, und selbst wenn sie es wären, besäßen sie nicht die Selbstdisziplin, den entsprechenden vernünftigen Prinzipien zu folgen. 97 Kinder sind Aristoteles zufolge sowohl von ihrer emotionalen und charakterlichen Beschaffenheit als auch aufgrund ihrer geistigen Unreife unfähig zu den Handlungen, die ein gelungenes menschliches Leben konstituieren. Aus diesem Grund lehnt Aristoteles es ab, bei Kindern von einer Verwirklichung der eudaimonía zu sprechen. 98 Insofern teilen Kinder viele der Beschränkungen und Unvermögen, die für den natürlichen Sklaven charakteristisch sind. Der entscheidende Unterschied ist allerdings, dass sie laut Aristoteles das Potential besitzen, in ihrer weiteren Entwicklung die entsprechenden Fähigkeiten zu erlernen, ein Konzept der eudaimonía auszubilden und ihre Handlungen danach auszurichten. Diese zukünftige eudaimonía muss in gewisser Weise bereits im Leben der Kinder präsent sein: Damit Kinder zu tugendhaften Erwachsenen heranreifen können, benötigen sie Eltern und Lehrer, die sie anleiten, für sie sorgen und durch ihre Erziehung dazu beitragen, dass die Kinder die notwendigen Fähigkeiten ausbilden, die die zukünftige eudaimonía ermöglichen werden. Das angemessene Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern besteht laut Aristoteles in einer paternalistischen Beziehung, die er mit der monarchischen Herrschaft vergleicht: »Denn der König tut seinen Untertanen Gutes, wenn er als ein Guter wirklich für sie sorgt, damit es ihnen gut geht, so wie der Hirte für seine Schafe sorgt (weshalb auch Homer den Agamemnon den »Hirten der Völker« nannte). Von solcher Art ist auch die väterliche Freundschaft […].« 99 Unter der elterlichen Fürsorge wirkt die zukünftige eudaimonía jetzt schon als Zweck und Handlungsprinzip. Durch die Handlungen der Eltern ist Ebd., 1095a1–15. Ebd., 1100a1–5: »Aus diesem Grund sind auch Kinder nicht glücklich, da sie wegen ihres Alters noch nicht zu solchen Handlungen [der Tugend, MP] fähig sind. Wenn wir ein Kind dennoch glücklich preisen, tun wir das wegen der Hoffnung auf sein Glück, da das Glück, wie wir gesagt haben, sowohl völlige Gutheit wie ein volles Leben verlangt.« 99 Ebd., 1161a10–16 97 98
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die zukünftige eudaimonía der Kinder bereits präsent, auch wenn die Kinder dies noch nicht wissen können; sie ist also nicht nur eine vage zukünftige Möglichkeit, sondern hat auf diese Weise gegenwärtige Wirklichkeit, nämlich als Handlungszweck der Eltern. Dies bedeutet aber, dass wir auch schon bei Kindern sinnvoll von Gütern sprechen können: Alle Dinge, die zur Verwirklichung der zukünftigen eudaimonía beitragen, sind zweckmäßig auf diese eudaimonía ausgerichtet und gelten daher als Güter. Diese Güter stehen allein in einer instrumentellen Beziehung zur künftigen eudaimonía, das heißt, sie räumen Hindernisse aus und schaffen notwendige Bedingungen für das zukünftige Leben, sind aber noch nicht Teil dieses gelungenen Lebensvollzugs selbst. Auf diese Weise nehmen sie einen Platz in der Zweckordnung der eudaimonía ein und können mit Recht (instrumentelle) Güter genannt werden. Für das Kind selbst wird dieser Zusammenhang zwar erst in der Rückschau erkennbar, wenn es selbst erwachsen geworden ist und sich eine Vorstellung vom guten Leben gebildet hat. Für die Eltern sind die Güter aber schon vorher als Güter sichtbar. Die Vernünftigkeit des Handelns, welche die Kinder nicht aus eigener Kraft erreichen können, wird durch die Eltern gewährleistet, die eine Stellvertreterrolle einnehmen. Der natürliche Sklave schließlich teilt nach aristotelischer Sicht die Unfähigkeit des Kindes, einen Begriff von eudaimonía zu bilden. Da er keine Vorstellung eines gelungenen menschlichen Lebens besitzt, nicht einmal eine schlechte Vorstellung wie der Lasterhafte, kann er seine Handlungen nicht auf diese vernünftige Zweckordnung ausrichten. Anders als bei Kindern ist diese Einschränkung des natürlichen Sklaven jedoch dauerhaft, es gibt für ihn keine »Hoffnung auf sein Glück«, wie es Aristoteles ausdrückt. 100 Der natürliche Sklave besitzt per definitionem kein Potential zur eudaimonía. Aristoteles bietet uns in seinen Texten einige Hinweise an, wie er sich die Ursache dieser Einschränkung vorstellt: Ein möglicher Defekt besteht in einer schweren geistigen Schädigung, die verhindert, dass der Betroffene überhaupt irgendwelche anspruchsvollen abstrakten Begriffe verstehen oder langfristige Pläne schmieden kann. Ein Erwachsener, der aufgrund einer irreversiblen geistigen Behinderung den Intellekt eines Kleinkindes besitzt, fiele für Aristoteles in diese Kategorie. Auch von den Angehörigen der nichtgriechischen Völker, den sogenannten Barbaren, glaubt Aristoteles, dass ihnen die begrifflichen 100
Ebd., 1100a3 f.
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Das Gute bei Aristoteles und die Metaphysik der Sklaverei
Fähigkeiten zur eudaimonía fehlen – allerdings nicht, weil er ihnen einen kindlichen Verstand zuschreibt, sondern weil er der Meinung ist, dass sie durch ihr Leben in unfreien Gemeinschaftsformen nicht die erforderlichen Fähigkeiten ausbilden konnten. Ein Mensch, der jahrzehntelang als Untertan, Abhängiger oder Leibeigener sich seinem König oder Stammesführer unterordnen musste, habe laut Aristoteles gar keine Gelegenheit gehabt, das selbstständige Entscheiden über das eigene Leben zu erlernen (siehe hierzu die ausführlichere Diskussion in Abschnitt I.3, Punkt 3). Ob dieser Habitus eines Unfreien tatsächlich das Kriterium einer permanenten Einschränkung erfüllt und ob die Mehrheit der Nichtgriechen wirklich in derartigen unfreien Gemeinschaften lebten, sei hier dahingestellt. Plausibel erscheint zumindest der Gedanke, dass die Fähigkeit, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, von bestimmten politischen Systemen stärker befördert wird als von anderen. Die Diskussion, ob Aristoteles manche Menschen zu Unrecht unter seinen Begriff des natürlichen Sklaven subsumiert, weil er ihnen Fähigkeiten abspricht, die sie in Wirklichkeit besitzen, soll an dieser Stelle jedoch nicht geführt werden. Entscheidend ist stattdessen, dass Aristoteles den Begriff des natürlichen Sklaven mit der dauerhaften Unfähigkeit verknüpft, sein Handeln auf das anspruchsvolle, umfassende Konzept eines gelungenen Lebens auszurichten – und nichts im Begriff des Menschen verhindert zumindest, dass Individuen denkbar sind, die diese Unfähigkeit besitzen. Ohne die grundlegende vernünftige Fähigkeit, sein Handeln in eine umfassende teleologische Zweckstruktur einzuordnen, kann es aber laut Aristoteles für diese Individuen keine Güter geben. Dies ist eine direkte Folge aus seinem Prinzip der Kontextabhängigkeit von Gütern (siehe Abschnitt I.4.1) und dem Prinzip der Selbstbezüglichkeit des menschlichen Guten (siehe Abschnitt I.4.2): Erstens sind für Aristoteles Dinge nur dann gut, wenn sie in diese Zweckstruktur der eudaimonía eingebettet sind. Zweitens begreift Aristoteles die Standards des gelungenen menschlichen Lebens als wesentlich selbstbewusste Standards, das heißt als Normen, die nicht zufällig erfüllt werden können, sondern nur als Resultat und Grund bewusster Handlungen. Die geistige Unfähigkeit des natürlichen Sklaven schließt Aristoteles zufolge aus, dass irgendwelche Tätigkeiten diese Selbstbewusstseinsbedingung erfüllen. Somit trägt keine seiner Handlungen zum gelungenen menschlichen Lebensvollzug bei, weder konstituierend noch rein instrumentell – und daher gibt es für ihn auch keine Dinge, die ihn bei diesen Lebensvollzügen 87 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
unterstützen und aus diesem Grund als Güter gewertet würden. Der natürliche Sklave ist zwar lebendig, das heißt, auf der bloß biologischen Ebene erfüllt er (zumindest teilweise) die Standards menschlicher Gesundheit. Für Aristoteles nehmen diese Standards der Gesundheit beim Menschen jedoch lediglich die Rolle einer Vorbedingung der eudaimonía ein und sind kein unmittelbarer Teil von ihr (siehe I.4.2). Mit anderen Worten: Auch Gesundheit gilt für Aristoteles nur dann als erstrebenswertes Gut, wenn es in die Zweckordnung der eudaimonía eingeordnet ist. Körperliches Wohlbefinden ist im menschlichen Leben kein Wert an sich, anders als beim Tier oder bei der Pflanze. Das Angenehme und Gesunde haben bestenfalls den Status von Prima-Facie-Gütern, und die aristotelische Einsicht in die Kontextabhängigkeit des Guten besagt, dass daraus nicht folgt, dass es sich tatsächlich um Güter handelt. 101 Auf den aristotelischen natürlichen Sklaven lassen sich folglich nur die Begriffe des Gesunden und Ungesunden, des Angenehmen und Unangenehmen anwenden, aber nicht die des Guts oder Übels. Der natürliche Sklave ist somit aus aristotelischer Sicht unfähig, Güter zu empfangen. Dies schränkt laut Aristoteles erheblich die Arten und Weisen ein, wie mit solchen Menschen umgegangen werden kann: Wir können dem natürlichen Sklaven keine Güter zuteilen oder vorenthalten, weil dieser Begriff bei ihm keine Anwendung findet. Folglich erscheint auch eine paternalistische Beziehung der Vormundschaft, wie sie für Kinder angemessen ist, unmöglich. Für Aristoteles gibt es keine vernünftige Basis, auf deren Grundlage wir im Interesse des natürlichen Sklaven entscheiden könnten. Insgesamt greift die gesamte aristotelische Kategorie der Gerechtigkeit beim natürlichen Sklaven ins Leere: Ohne die Existenz von Gütern für den natürlichen Sklaven kann nicht festgelegt werden, worin beispielsweise eine angemessene Bezahlung für seine Arbeit bestünde. Aus diesem Grund hält Aristoteles die Ausbeutung des natürlichen Sklaven auch nicht im eigentlichen Sinn für gerecht, sondern vielmehr für nicht ungerecht. Es handelt sich hierbei um eine Zurückweisung der Anwendung der Kategorie der Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit. Der natürliche Sklave des Aristoteles ist ein Outlaw im wörtlichen Sinn: Er lebt außerhalb der Gerechtigkeit, da er aufgrund seiner Privation von ihren Kategorien nicht erfasst wird. Dementsprechend erklärt Aristoteles, die Behauptung, ein Sklavenhalter behandle seinen Sklaven ungerecht, sei lediglich meta101
Ebd., 1104b5–15.
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Vergebliche Modifikationsversuche
phorisch oder äquivok möglich. 102 Solche Bemerkungen verraten, dass es Aristoteles letztlich um eine Schwierigkeit der Anerkennung geht: Das Ausbeutungsverhältnis, in dem der Sklave zum Sklavenhalter steht, ist ein radikal einseitiges Verhältnis, weil Aristoteles nicht verstehen kann, wie dem natürlichen Sklaven auf Augenhöhe begegnet werden könnte. Aus hermeneutischem Wohlwollen ist es angebracht, hinter diesem aristotelischen Unverständnis keine Boshaftigkeit zu vermuten; vielmehr stößt Aristoteles an dieser Stelle auf das nichttriviale philosophische Problem, dass eine Kooperation ebenbürtiger Subjekte offenbar gewisse Fähigkeiten auf beiden Seiten verlangt. Die Figur des natürlichen Sklaven – ganz gleich, wie Aristoteles dessen Privation ausformuliert und begründet – weist uns darauf hin, dass in einer solchen Konstellation immer Subjekte denkbar sind, denen die nötigen Fähigkeiten zur ebenbürtigen Kooperation fehlen. Solche Subjekte können per definitionem nicht auf Augenhöhe und fair behandelt werden. Wir sind folglich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass wir, wenn wir von einem gehaltvollen Verständnis einer solchen ebenbürtigen Kooperation ausgehen, immer die Möglichkeit von Individuen mitdenken, die aufgrund ihrer Schwächen nicht in der Lage sind, an dieser Kooperation teilzunehmen. Die Alternative, einfach als Setzung, gewissermaßen per Dekret, jedem Subjekt die Anerkennung als ebenbürtiges Kooperationssubjekt bedingungslos zuzusprechen, kommt Aristoteles offenbar nicht in den Sinn, weil sie den Begriff dieser Kooperation zu entleeren droht: Entweder wir gehen davon aus, dass ein gemeinsames, selbstbestimmtes Leben anspruchsvoll ist und daher gewisse geistige Fähigkeiten erfordert – dann scheinen wir aber die Figur des natürlichen Sklaven in Kauf zu nehmen, der diese Fähigkeiten nicht besitzt –, oder wir können nicht mehr sagen, worin dieses gemeinsame, selbstbestimmte Leben noch besteht.
I.5 Vergebliche Modifikationsversuche In den vorigen Kapiteln wurde gezeigt, dass die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei nicht einfach als ein beiläufiger Lapsus des großen Denkers abgetan werden kann. Vielmehr ist die Doktrin vom natürlichen Sklaven tief im Gesamtsystem der praktischen Philo102
Ebd., 1138b5 ff.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
sophie des Aristoteles verwurzelt. Die These, es seien Menschen denkbar, für die keine Güter existierten, und die demnach nicht an einem gerechten Austausch ebenbürtiger Subjekte teilhaben könnten, ergibt sich aus der konsequenten Anwendung zweier Prinzipien, nämlich der Kontextabhängigkeit des Guten und der Selbstbezüglichkeit ethischer Standards, die beide zu den Fundamenten der aristotelischen Metaphysik des Guten gehören. Zwar liegt der verständliche Reflex nahe, eines oder beide Prinzipien aufzugeben, um die hässliche Folgerung zu vermeiden. Ein solcher Verzicht hat allerdings seinen Preis: Beide Prinzipien lösen für sich genommen eine Reihe ontologischer, metaphysischer und logischer Probleme, so dass sie auch heute noch von vielen Neoaristotelikern für philosophisch attraktive Grundsätze gehalten werden – und das mit gewissem Recht. 103 Die Gegenposition zur Kontextabhängigkeit des Guten beispielsweise, die von der Existenz unbedingter Güter ausgeht, leidet unter unplausiblen und sogar absurden Folgen, etwa der Konsequenz, dass es immer noch gut wäre, diese unbedingten Güter anzusammeln, wenn sie allen Beteiligten ausschließlich schadeten. Solch ein Konzept der nicht-kontextabhängigen Güte droht schnell, die Bedeutung des Wortes »gut« zu entleeren. Ähnliches Gewicht besitzt das Prinzip der logischen Selbstbezüglichkeit der ethischen Standards. Es speist sich aus der aristotelischen Einsicht, dass menschliches Leben wesentlich selbstbewusstes Leben ist. Das vernünftige Handeln ist das Charakteristikum des Menschen. Dies bedeutet aber, dass ein Dasein in blinder Gewohnheit und stumpfer, instinkthafter Reaktion auf äußere Reize nicht seinem Wesen gerecht werden kann. Hinter diese Einsicht zurückzugehen, hieße, den Menschen zu einem geschickteren Tier herabzuwürdigen und seine Autonomie zu verkennen (vergleiche Teil III). 104 Die Folgen aus der Ablehnung dieses Prinzips wären möglicherweise mindestens ebenso ethisch fragwürdig wie die aristotelische Sklaverei. Aus Scheu vor der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei auf dieses zweite Prinzip zu verzichten, würde daher bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gibt also gute Gründe, an beiden Prinzipien festzuhalten, nicht nur für Neoaristoteliker. Zugleich wird wohl kein moderner Denker diese Prinzipien für den Preis erkaufen wollen, mit ihnen die aristotelische Rechtfer103 Vgl. Anscombe (1958), siehe auch Hursthouse (1999), Foot (2001) und Thompson (2008). 104 Vgl. auch die Diskussion hierzu bei Korsgaard (2009), Chap. 1.
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Vergebliche Modifikationsversuche
tigung der Sklaverei akzeptieren zu müssen. Es ist also nicht verwunderlich, dass der moderne Neoaristotelismus ein großes Interesse daran hat, die Konsequenz der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei zu vermeiden, möglichst ohne allzu große Beschneidungen an den ethischen Einsichten des Aristoteles vorzunehmen. Ich möchte in diesem Kapitel zwei solcher Modifikationsversuche der aristotelischen Ethik skizzieren, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Möglichkeiten, an kleinen philosophischen Stellschrauben das aristotelische System der Ethik nachzujustieren, sind sicher endlos. Ich diskutiere hier deshalb nur beispielhaft zwei Ansätze, da sie einerseits recht nahe zu liegen scheinen und andererseits uns andeuten, weshalb solche Feinjustierungen eben nicht genügen. Die aristotelische Ethik kann nicht ohne Weiteres in die Moderne überführt werden, wie Hegel warnt. 105 Ein moderner Aristotelismus wird nur durch eine radikale Transformation möglich – eine solche Umbildung, wie sie Hegel mit seinem System selbst vorschlägt, und die letztlich zu einer Einhegung des ethischen Urteils und zur Neubegründung der politischen Kooperations- und Anerkennungsmodi führt (siehe Teil VI). Ein erster Versuch, den Begriff des natürlichen Sklaven zu vermeiden, ohne das Fundament der aristotelischen Ethik aufzugeben, besteht in dem Hinweis auf das faktische Elend der Sklaven. Sklaverei verursacht immer Leid. Ein Tugendhafter sollte ein derartiges, systemisch verursachtes Leid eigentlich nicht zulassen. Es scheint daher, als ließe sich die Rechtfertigung der Sklaverei mit den Mitteln der aristotelischen Tugendethik aushebeln. Schließlich ist ein aristotelischer Tugendhafter schwer vorstellbar, der aus Gedankenlosigkeit oder um des ökonomischen Vorteils willen andere Menschen quält – erst recht nicht, wenn es sich um schutzbedürftige, unselbstständige Personen handelt, die unter die aristotelische Beschreibung des natürlichen Sklaven fallen. Wäre es nicht wahrhaft tugendhaft, die Institution der Sklaverei mit allen politischen Mitteln zu bekämpfen, um das Elend der Wehrlosen zu vermeiden, selbst wenn dies eine Einschränkung des eigenen Lebensstandards bedeuten würde? Ein solcher Argumentationsversuch greift allerdings an zwei Stellen ins Leere. Erstens verkennt er, dass die Sklaverei vorrangig ein Problem der Grundrechte und nicht des Leids ist. Der Wert der Freiheit lässt sich nicht darüber erfassen, ob sie ein schmerzloses, angenehmeres Leben 105
Hegel, VPhGes S. 66 f.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
bedeutet. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall, wie uns das Buch Exodus der Bibel mit den murrenden Israeliten vorführt, die sich in der Wüste nach den Fleischtöpfen Ägyptens sehnen – also zu einer Rückkehr in die Sklaverei. Für Aristoteles steht fest, dass der natürliche Sklave unter der Ägide des Tugendhaften angenehmer lebt als in Freiheit, zu der er definitionsgemäß unfähig ist. Aristoteles ist daher nicht auf die These verpflichtet, dass die Sklaverei notwendig mit Leid verbunden ist. Das Skandalöse an der Sklaverei aus moderner Sicht ist ohnehin nicht die Tatsache, dass sie Leid verursacht, sondern dass sie einen Menschen als Besitzgut behandelt. Zweitens kämpft der hier vorgestellte Argumentationsansatz mit der Schwierigkeit, dass sich aus aristotelischer Sicht das Leid des Sklaven nicht in seiner Schlechtigkeit erfassen lässt (siehe Abschnitt I.4.3). Leid ist schließlich für Aristoteles kein absoluter Unwert in sich, sondern nur in der Beziehung auf den Zweckzusammenhang der eudaimonía. Der natürliche Sklave kann daher zwar Leid empfinden, aber Aristoteles ist nicht in der Lage zu erklären, dass es sich hierbei um etwas Schlechtes handelt. Somit bleibt der argumentative Weg verschlossen, die aristotelische Rechtfertigung mit dem Hinweis zu entkräften, dass der Tugendhafte kein unnötiges Leid verursacht, denn Aristoteles ist zum einen nicht an die Prämisse gebunden, dass Sklaverei Leid verursacht, und zum anderen erkennt er das Leid des Sklaven nicht als Übel. Ein zweiter Modifikationsversuch geht von der Annahme aus, dass die Rechtfertigung der Sklaverei dadurch vermieden werden könne, indem das aristotelische System durch den Begriff der Menschenwürde ergänzt werde. Offenbar steht hinter diesem Ansatz die Vorstellung, dass der Begriff der unbedingten Würde eine spätere Idee ist, die erst durch die Sakralisierung des Subjekts im Christentum oder durch die emanzipatorischen Gedanken der Aufklärung in die Welt gekommen sei. Aristoteles und seine Zeitgenossen konnten diese Idee daher zwar noch nicht kennen, sie sei aber mit dem Kern der aristotelischen Ethik nicht unvereinbar, so die Hoffnung. Eine modernisierte Fassung der aristotelischen Ethik, erweitert um den Begriff der Menschenwürde, welcher die Sklaverei absolut verbiete, sei daher möglich. Dieser Modifikationsversuch hat freilich den Nachteil, dass er lediglich eine Ausbesserung ad hoc darstellt und nicht den Begriff der unbedingten Würde aus der aristotelischen Ethik selbst entwickelt. Abgesehen von diesem Schönheitsfehler muss ein derartiger Ansatz jedoch scheitern, weil er zu Unrecht davon ausgeht, dass die aristotelische Ethik mit dem Begriff der unbe92 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Vergebliche Modifikationsversuche
dingten Würde vereinbar sei. Aristoteles’ Denken weist keine Leerstelle auf, die wir mit einem modernen Begriff von Würde füllen können. Vielmehr trifft sogar das Gegenteil zu: Die aristotelische Ethik, insbesondere ihr Konzept von Gerechtigkeit, schließt einen solchen Begriff systematisch aus. Für Aristoteles – und vermutlich für die meisten seiner Zeitgenossen – besteht Würde eines Menschen in der Würdigkeit (ἀξία), die dessen Leistungen entspricht. Dieser meritokratische Würdebegriff hat seine Wurzeln bereits bei Homer, in dessen Ilias die griechischen Heroen miteinander um den Vorrang an kriegerischer Tüchtigkeit wetteifern. Im archaischen Verständnis besteht Gerechtigkeit darin, dass der größte Krieger die höchsten Ehren erhält. 106 Die Würdigkeit gemäß der kriegerischen Tüchtigkeit ist das Maß der Gerechtigkeit, an dem die archaischen Menschen sich gegenseitig beurteilen. Bei Aristoteles liegt das Augenmerk für sein Verständnis von Würdigkeit zwar nicht mehr ausschließlich auf der kriegerischen Tüchtigkeit, aber Gerechtigkeit versteht er dennoch über Leistung und Verdienst. Dies zeigt sich insbesondere in seiner Charakterisierung der Gerechtigkeit als Proportionalität. Gleiche sollen gleiche Anteile erhalten, Ungleiche ungleiche Anteile: […] und hier haben die Streitigkeiten und Anklagen ihren Ursprung, wenn Gleiche ungleiche Anteile und Ungleiche gleiche Anteile haben und zugeteilt bekommen. Die Verteilung nach der Würdigkeit (axia) macht dies ebenfalls deutlich. Denn alle stimmen darin überein, dass das Gerechte bei Verteilungen einer Art von Würdigkeit entsprechen muss […]. Das Gerechte ist also eine Art des Proportionalen (analogon). […] Proportionalität ist Gleichheit der Verhältnisse (logos) […]. 107
In seiner Nikomachischen Ethik erwähnt Aristoteles verschiedene Systeme, nach denen Würdigkeit bemessen wird, etwa nach Reichtum, adeliger Abstammung oder Güte des Charakters. All diesen Systemen ist gemein, dass sie die Würdigkeit an eine graduell abstufbare Eigenschaft der beteiligten Personen knüpfen. Ein solcher Standard ist eine notwendige Voraussetzung, damit der Begriff der Gerechtigkeit als Proportionalität greifen kann. Aus diesem Verständnis von Gerechtigkeit folgt zweierlei: Erstens ist ein derartiger Gerechtigkeitsbegriff mit der Vorstellung von unbedingter Würde nicht vereinbar. Eine unbedingte Würde, die allen Personen unterschiedslos zukommt, erlaubt keine Beurteilung nach Proportionalität. Der Ge106 107
Vgl. MacIntyre (1988), Chap. I und II. Aristoteles, NE V.7, 1131a20–30.
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I · Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei
danke der Würde verlangt, in gewissen Hinsichten alle Menschen gleich zu behandeln, selbst wenn sie ungleich sind – dies ist aber nach aristotelischer Vorstellung ein Paradebeispiel für Ungerechtigkeit. Zweitens folgt aus der Verbindung von Würdigkeit und einer bestimmten graduellen Fähigkeit, dass immer eine Figur wie der natürliche Sklave existiert, der diese Fähigkeit überhaupt nicht besitzt und somit aus dem Bewertungsschema fällt. Für jede relevante, nichttriviale Fähigkeit, die Menschen in Graden besitzen können, wird sich ein Mensch finden, der diese Fähigkeit nicht besitzt – sofern diese Fähigkeit nicht mit basalen biologischen Lebensfunktionen zusammenfällt. Der Begriff einer unbedingten Menschenwürde erfordert, dass wir bereit sind, auch von wesentlichen Unfähigkeiten einer Person zu abstrahieren. Für Aristoteles erscheint jedoch die Forderung widersinnig, von wesentlichen Eigenschaften eines Menschen zu abstrahieren, um ihn als Menschen angemessen zu behandeln. Der Begriff der unbedingten Würde verlangt aber beispielsweise, auch jenen Menschen die Grundrechte anzuerkennen, die sie gar nicht sinnvoll ausüben können – mit anderen Worten: Sie fordert als angemessenen Umgang eine Behandlung, die den Fähigkeiten der Betroffenen eben nicht angemessen ist. Für das aristotelisch-meritokratische Verständnis der griechischen Antike ist der Begriff der unbedingten Würde paradox. Der Versuch, die aristotelische Ethik einfach um diesen Begriff zu erweitern, unterschätzt daher massiv die revolutionäre Neuerung, die mit der Idee der unbedingten Würde verbunden ist. Einen Eindruck, wie fremd den antiken Menschen dieses Konzept erschienen sein musste, vermittelt der Evangelist Matthäus mit dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg: 108 Am Ende des Tages erhalten alle Arbeiter den gleichen Lohn, ganz gleich, ob sie zwölf Stunden im Weinberg gearbeitet haben oder nur eine einzige – dies sei die Ordnung des »Himmelreichs«, wie sich Matthäus ausdrückt. Die Arbeiter protestieren verständlicherweise gegen die Gleichbehandlung ihrer ungleichen Leistung. Aus ihrer Irritation spricht die meritokratische Gerechtigkeitsauffassung, die wir genauso bei Aristoteles finden. Die Gerechtigkeit des »Himmelreichs« hingegen ist nicht proportional und entkoppelt den Lohn von Leistung. Dem Gleichnis zufolge handelt es sich bei der Gerechtigkeit des »Himmelreichs« nicht nur um eine alternative Auffassung zur klassischen Gerechtigkeit, sondern um eine, die ihr diametral entgegengesetzt ist. Die Gerechtigkeit des 108
Mt 20,1–16.
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Vergebliche Modifikationsversuche
»Himmelreichs« bewirke daher, dass »die Letzten Erste sein [werden] und die Ersten Letzte.« Das klassische Konzept wird so auf den Kopf gestellt. Die textliche Gestaltung des Gleichnisses verrät uns, dass der Evangelist seine Zeitgenossen mit einem unerhörten, radikalen Verständnis von Gerechtigkeit konfrontiert – auch ihnen erscheint der Begriff einer unbedingten Würde paradox. Ein solcher Begriff lässt sich nicht ohne Weiteres, nebenbei und ad hoc in die meritokratische aristotelische Ethik einführen. Stattdessen erfordert er, wie Hegel sagen würde, dass sich die ganze Welt ändert – und mit ihr das Denken. Eine Kritik an der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei muss demnach eine Fundamentalkritik sein, die bis ins Herz der aristotelischen Philosophie vorstößt. In Teil II dieser Arbeit skizziere ich in Umrissen die Methode einer solchen Kritik bei Hegel.
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Teil II: Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
Wie können wir als moderne Leser vernünftigerweise mit der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven umgehen? Im Teil I dieser Arbeit habe ich den Versuch unternommen, zwei scheinbar gegensätzliche Eigenschaften der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei herauszuarbeiten, nämlich ihre Fremdheit und ihre Kontinuität zu unserem Denken. Einerseits beweist Aristoteles’ Doktrin vom natürlichen Sklaven, dass ihm zentrale moralische Begriffe fehlen. Er kennt nicht die Idee der Menschenwürde oder eines unendlichen Werts der Person, sondern lässt durch sein theoretisches Konstrukt einer wesentlichen Privation Grade des Mensch-Seins zu (siehe Kapitel I.4). Der natürliche Sklave ist aufgrund seiner geistigen Einschränkung für Aristoteles so wenig Mensch, dass dieser die Begriffe der Gerechtigkeit, der Güter und des gelungenen Lebens gar nicht auf ihn anwendbar hält. Als Outlaw im Wortsinne verdient der natürliche Sklave Aristoteles zufolge keine Achtung oder Anerkennung, weil ihm die entsprechenden Voraussetzungen fehlen, an die Aristoteles die Angemessenheit einer menschenwürdigen Behandlung knüpft. Das einzige Verhältnis zwischen Bürger und Sklave, welches laut Aristoteles bestehen kann, ist daher das der Ausbeutung. Die Doktrin des natürlichen Sklaven ist kein isoliertes Theorem, keine beiläufige Inkonsistenz und kein ideologisch bedingter blinder Fleck im aristotelischen Denken, sondern folgerichtig mit seinen grundlegenden Auffassungen verknüpft, wie ich im vorigen Teil argumentiert habe. Somit kann die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei nicht einfach ignoriert oder ausgeklammert werden, wie manche Neoaristoteliker hoffen. Die Doktrin vom natürlichen Sklaven ist vielmehr ein Anzeichen für eine Kluft, die uns moderne Leser von Aristoteles’ Denken trennt. Sie zeigt, dass das aristotelische Menschenbild mit unseren modernen Auffassungen unvereinbar ist. Andererseits bedeutet diese Kluft nicht, dass das aristotelische Denken für uns völlig opak oder radikal anders sei. Die lange Rezep97 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
tionsgeschichte und nicht zuletzt die neoaristotelische Renaissance der vergangenen Jahrzehnte beweisen, dass die praktische Philosophie des Aristoteles nicht einfach historisiert und als Produkt einer abgeschlossenen Epoche abgetan werden kann. Selbst diejenigen Bestandteile seiner Metaphysik des Guten wie beispielsweise die Selbstbewusstseinsbedingung des guten menschlichen Handelns und die Kontextabhängigkeit des Guten, die systematisch mit der Doktrin des natürlichen Sklaven zusammenhängen (siehe I.4), lassen sich nicht nur als in sich vernünftig und plausibel rekonstruieren, sondern sie erscheinen vielen modernen Neoaristotelikern so attraktiv, dass diese sie als Eckpfeiler ihrer eigenen praktischen Philosophie übernehmen. Wir sehen Aristoteles und seine Bedeutung für die Philosophie erst dann auf angemessene Weise, wenn wir zugleich die Kontinuität erfassen, in der wir zu seinem Denken stehen. Eben diese Kontinuität zeichnet die aristotelischen Werke als Klassiker der Philosophie aus: Sie reichen über ihre Entstehungszeit hinaus und besitzen eine Lebendigkeit, die es anscheinend ermöglicht, auch heute noch mit ihnen in einen Dialog zu treten. Wir stehen also als moderne Leser in einem Verhältnis zu Aristoteles, das sowohl durch eine Kluft als auch durch eine Kontinuität gekennzeichnet wird. Ein Indikator für dieses schwierige Verhältnis scheint mir die Empörung zu sein, welche die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei immer noch hervorruft (siehe I.1). Auf den ersten Blick ist Empörung keine angemessene Reaktion auf einen Text, der vor über zweitausend Jahren verfasst wurde. Wir treffen dort schließlich nicht auf die skandalösen Behauptungen eines Zeitgenossen, bei dem wir voraussetzen können, dass er mit unseren modernen Werten, Überzeugungen und Weltwissen vertraut sein sollte. Eine moralische Verurteilung von Autoren früherer Epochen hantiert in der Regel mit anachronistischen Zuschreibungen und bewirkt nichts außer einem wohlfeilen Überlegenheitsgefühl, bei dem wir Nachgeborenen die Balken im eigenen Auge übersehen. Allerdings denke ich, dass es dennoch nachvollziehbar ist, wenn die aristotelische Rechtfertigung ein »Ärgernis« oder eine »Peinlichkeit« genannt wird (siehe I.1). Bei diesen Empfindungen handelt es sich nicht bloß um Projektionen oder um die Folge einer falschen Identifizierung mit dem antiken Autoren, sondern sie sind eine Reaktion darauf, dass der Leser sich trotz der weltanschaulichen Distanz im Text wiedererkennt. Die aristotelische Rechtfertigung wird nicht etwa zum Skandalon, weil sie uns zu fremd ist, sondern weil sie uns in einem Denken begegnet, das uns vertraut 98 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
erscheint. Im Gefühl der Empörung drückt sich daher auf noch unartikulierte Weise das schwierige Verhältnis der Befremdung und Vertrautheit zu Aristoteles aus. Eine angemessene Lesart von Aristoteles’ praktischer Philosophie und somit auch eine anspruchsvolle Kritik seiner Doktrin vom natürlichen Sklaven muss diesen Widerstreit von Kluft und Kontinuität herausarbeiten. Dies verlangt einerseits, eine möglichst wohlwollende Interpretation zu entwerfen, die sich auf seinen systematisch-philosophischen Anspruch einlässt und ihn nicht einfach als Vertreter eines vermeintlich dunklen Zeitalters in Bausch und Bogen verwirft. Andererseits muss die Fremdheit des Textes und des Denkens deutlich werden, um vorschnelle Aktualisierungen zu vermeiden. Eine gelungene Lesart zeichnet also den genauen Verlauf der Kluft nach, die Aristoteles von uns trennt, und diagnostiziert die Irrtümer, die eine Weiterentwicklung des aristotelischen Denkens zu einem neuen, modernen Verständnis notwendig machen. Die Doktrin vom natürlichen Sklaven bietet sich als Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung an, da sie eindeutig und unabweisbar einen Unterschied zwischen Aristoteles und der Moderne markiert. Die Doktrin ist zwar nicht das einzige Element, welche Aristoteles vom modernen Denken trennt – wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird –, aber in ihr wird die Differenz unbestreitbar. In der Figur des natürlichen Sklaven zeigt sich die Unvereinbarkeit des modernen Menschenbilds mit demjenigen des Aristoteles, welcher die exklusive und diskriminierende pólis für die dem Menschen angemessene Gemeinschaftsform hält. Zugleich bedeutet die Verwurzelung der Doktrin vom natürlichen Sklaven in der aristotelischen praktischen Philosophie, auf die ich im Teil I dieser Arbeit hingewiesen habe, dass es nicht bloß um einen lokalen Unterschied geht, der Aristoteles’ Politik von der Moderne trennt, sondern dass offenbar wichtige metaphysisch-ethische Grundüberzeugungen mit einbezogen sind. Die Rechtfertigung der Sklaverei kann uns also als ein Symptom für die tiefergehende Kluft dienen, die sich durch weite Teile des aristotelischen politischen Denkens zieht und unter anderem sein Menschenbild sowie seine Vorstellungen von Gemeinschaft, Kooperation und den Charakter geteilter Normen betrifft. Allerdings darf eine Auseinandersetzung mit der aristotelischen Doktrin des natürlichen Sklaven nicht bei einer bloßen Feststellung der Unterschiede stehen bleiben. Es genügt nicht nachzuweisen, dass Aristoteles offenbar ein anderes Menschenbild als wir heute vertritt. 99 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
Schließlich wäre es fatal, wenn die ethische Berechtigung der Sklaverei lediglich von einer willkürlichen Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Menschenbild abhinge. Ein richtiges Verständnis der Kontinuität zwischen Aristoteles und dem modernen Denken hingegen kann helfen, eine innere philosophische Entwicklung aufzuzeigen, die dazu geführt hat, dass bestimmte Elemente seines Denkens für uns heute noch Bestand haben, während andere untragbar geworden sind. Wenn unsere eigene Position mehr sein soll als ein bloß beliebiger Eklektizismus, der sich nach Geschmack seine Überzeugungen aus der Philosophiegeschichte heraussucht, müssen wir auf philosophisch gehaltvolle Weise das Verhältnis von Kluft und Kontinuität als notwendig begründen. Um eine solche Notwendigkeit nachzuweisen, ist eine Kritik der aristotelischen Position erforderlich, welche weder bei den Gemeinsamkeiten noch bei den Unterschieden Halt macht, sondern die Entwicklung von Aristoteles zum modernen Menschenbild als einen geschichtlichen Lernprozess versteht. Diese Art der Kritik verhilft uns im Idealfall sowohl zu einem besseren Verständnis der aristotelischen Position als auch zur Selbstverständigung. Sie verrät uns, weshalb der aristotelische Ansatz, die Tugend zum politischen Prinzip sowie zum Maßstab der Anerkennung und Würdigkeit des Einzelnen zu erheben, zunächst durchaus sinnvoll erscheint und eine vermeintlich robuste Lösung für die Frage nach einer gerechten und selbstbestimmten Kooperationsform bietet – eine Lösung, die abstrakt besehen, auch heute noch eine gewisse verführerische Anziehungskraft besitzt. Zugleich erlaubt uns diese Art der philosophisch anspruchsvollen Kritik eine Erläuterung der inneren Notwendigkeit, weshalb wir den aristotelischen Ansatz heute ablehnen, und begründet so unsere eigene Position als diejenige, die die aristotelischen Ansprüche einer gerechten und selbstbestimmten Kooperation besser erfüllt. Eine zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet, dass wir genau eine solche angemessene Lesart und Kritik der aristotelischen Position in Hegels Untersuchung des »griechischen Geistes« finden können. Hegel entwickelt mit seiner Geschichtsphilosophie das notwendige begriffliche Werkzeug, um das Verhältnis von Kluft und Kontinuität zwischen antik-aristotelischem und modernem Denken auf die richtige Weise nachzuzeichnen. Die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei versteht Hegel einerseits als ein charakteristisches Merkmal des griechischen Geistes, andererseits interpretiert er sie als Ausdruck eines fundamentalen Selbstmissverständnisses des 100 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
griechischen Denkens. Dieses Selbstmissverständnis des Aristoteles und seiner Zeitgenossen beschränkt sich nicht allein auf die Institution der Sklaverei, sondern durchzieht nahezu alle Bereiche und Praktiken des griechischen Lebens. Die Konflikte und inneren Widersprüche, die das Selbstmissverständnis im griechischen Geist auslöst, stoßen Hegel zufolge den Entwicklungsprozess an, der im Verlauf der Geschichte schließlich zum modernen Menschenbild führt und der unter anderem die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei als einen Auswuchs des zugrundeliegenden Irrtums entlarvt. In der Weltgeschichte, so Hegel, können wir die Dynamik der inneren Notwendigkeit beobachten, mit der sich das aristotelisch-griechische Selbstmissverständnis widerlegt und zu einem neuen Denken umgestaltet, welches zwar die aristotelischen Einsichten in gewandelter Form bewahrt, aber die alten Irrtümer vermeidet. Hegel selbst versteht sein eigenes philosophisches System als ein Ergebnis dieses geschichtlichen Lernprozesses. Deshalb tritt Hegel weder als unmittelbarer Neoaristoteliker auf, der einfach aristotelische Positionen in modernisierter Sprache übernimmt (auch wenn manche Interpreten seine praktische Philosophie derartig deuten) 1, noch ist er AntiAristoteliker, der sich dezidiert durch eine Opposition zu klassischaristotelischen Überzeugungen versteht. Hegels zahlreiche Verneigungen vor Aristoteles 2 stehen nicht im Widerspruch zu seiner ausdrücklichen Ablehnung der aristotelischen – und insgesamt aller antiken – politischen Philosophie als ungeeignet für die Bedingungen der Moderne. 3 Stattdessen reiht sich Hegel in eine philosophische Tradition mit Aristoteles ein und erkennt an, dass ihm sein Denken nur möglich ist, weil er mindestens ebenso viel den aristotelischen Einsichten verdankt, wie er aus Aristoteles’ Irrtümern lernt. Hegels
Vgl. z. B. Kern, W. (1957). Beispielsweise die Tatsache, dass er seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften unkommentiert mit einem wörtlichen Zitat aus Aristoteles’ Metaphysik XII.7 abschließt, als handle es sich um ein Fazit und den Höhepunkt seines eigenen philosophischen Systems. 3 Vgl. z. B. Hegel, VPhGes S. 66: »Die Verfassungen, worin die welthistorischen Völker ihre Blüte erreicht haben, sind ihnen eigentümlich, also nicht eine allgemeine Grundlage, so daß die Verschiedenheit nur in bestimmter Weise der Ausbildung bestünde, sondern sie besteht in der Verschiedenheit der Prinzipien. Es ist daher in Ansehung der Vergleichung der Verfassungen der früheren welthistorischen Völker der Fall, daß sich für das letzte Prinzip der Verfassung, für das Prinzip unserer Zeiten sozusagen nichts aus demselben lernen läßt.« 1 2
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
politische Philosophie kann daher als ein durch Kritik vermittelter und folglich transformierter Aristotelismus verstanden werden. Hegel entwickelt somit zum einen die Methoden für einen wohlwollenden und zugleich kritischen Umgang mit der aristotelischen Lehre, zum anderen führt er in seinem eigenen Denken vor, wie ein angemessenes Verständnis von Kluft und Kontinuität aussehen kann. In den folgenden Kapiteln dieses Teils stelle ich die Methodik vor, mittels derer ich Hegels Lesart und Kritik des aristotelischen politischen Denkens rekonstruiere. Zunächst gehe ich auf die Form einer angemessenen Kritik und die Anforderungen ein, die diese Untersuchung an sie stellt. Hierfür skizziere ich in Kapitel II.1 in Anlehnung an Rahel Jaeggi eine kleine Typologie dreier Arten der Kritik. Ich zeige, dass die ersten beiden Arten, die sogenannte interne und externe Kritik, ungeeignet sind, um auf die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven zu reagieren (II.1.1–2). Die dritte Art hingegen, die immanente beziehungsweise historische Kritik, lässt sich als eine dialektische Weiterentwicklung der internen und externen Kritik beschreiben und bietet das geeignete Instrumentarium für diese Aufgabe (II.1.3). Sie ist Hegels Methode der Kritik an Aristoteles und Grundlage seines transformierten Aristotelismus. In Kapitel II.2 gehe ich auf drei Hypothesen ein, die die Grundlage meiner Hegel-Lesart bilden und die erläutern, wie ich Hegels Umgang mit dem aristotelischen politischen Denken aus seinen Texten rekonstruiere. Hegel ist ein notorisch schwieriger Autor, der gewissen hermeneutischen Aufwand erfordert. In den drei Interpretationsthesen lege ich deshalb offen, welche Annahmen ich treffe und von welchen Voraussetzungen ich ausgehe, um ein möglichst systematisch gehaltvolles Verständnis von Hegels Aristoteles-Bild und seiner historisch-immanenten Kritik an Aristoteles zu erarbeiten. Die erste Interpretationsthese geht davon aus, dass Hegel in seinen Vorlesungen über das antike Griechenland am Beispiel der Institutionen und Strukturen der pólis das aristotelische politische Denken diskutiert. Hegel sieht in der antiken pólis das aristotelische Menschenund Weltbild verwirklicht und versteht daher auch die historische Krise der pólis als eine Krise der aristotelischen Weltanschauung (II.2.1). Die zweite Interpretationsthese nimmt an, dass für Hegel der Begriff der Tugend im Zentrum des politischen Denkens des Aristoteles und der Sittlichkeit der antiken pólis steht. Hegels Diskussion der normativen Verfasstheit der pólis ist somit eine Diskussion der Tugend als Prinzip einer Kooperationsgemeinschaft (II.2.2). Die dritte 102 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Interpretationsthese geht schließlich auf diesen Begriff der Tugend näher ein und verortet ihn als ein »Bewußtsein der Freiheit« in Hegels weltgeschichtlicher Entwicklung des Geistes. Entgegen traditioneller Annahmen über antike Ethiken bestimmt Hegel die griechische Tugend als Normativität der Freiheit. Hegels Griechen erkennen ihre Tugendnormen als selbstgeschaffene Normen, mit denen ihnen selbstbestimmtes Handeln möglich wird (II.2.3). Ausgehend von diesen drei Interpretationsthesen deute ich Hegels Kritik an Aristoteles und dem »griechischen Geist« als Kritik an einem bestimmten, teilweise einsichtigen, teilweise unausgereiften Verständnis von Selbstbestimmung und Autonomie. Im letzten Kapitel dieses Teils (II.3) skizziere ich Terry Pinkards Lesart von Hegels Darstellung des griechischen Denkens. Terry Pinkards Deutung ist für diese Untersuchung vor allem deshalb interessant, weil er eine Variante der dritten Interpretationsthese vertritt: Pinkard erkennt, dass Hegel schon den antiken Griechen ein Verständnis von selbstbestimmter Normativität zuschreibt. Die Unvollkommenheit der griechischen Freiheit führt Pinkard darauf zurück, dass sich diese Einsicht in die Selbstbestimmung nur auf einen Teil der sittlichen Normen erstreckt habe. Pinkard unterscheidet zwischen zwei Arten von Normen, welche seiner Ansicht nach in der griechischen Sittlichkeit vorherrschten, nämlich das sogenannte »menschliche Gesetz« und das sogenannte »göttliche Gesetz«. Während die Normen des »menschlichen Gesetzes« von den Griechen als selbstbestimmt erkannt würden, befolgten sie die Normen des »göttlichen Gesetzes« dogmatisch. Ich argumentiere allerdings, dass Pinkard mit dieser Unterscheidung weder Hegels Texten gerecht wird, noch ein systematisch sinnvolles Verständnis einer beschränkten Freiheit entwirft. Ausgehend von Pinkards gescheitertem Interpretationsansatz erörtere ich, welche Eigenschaften eine angemessenere Lesart und ein überzeugenderes Verständnis der endlichen Freiheit der Griechen haben muss.
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II.1 Drei Arten der Kritik: intern, extern und immanent-historisch II.1.1 Externe Kritik Rahel Jaeggi spricht von »externer Kritik«, wenn Maßstäbe an eine Theorie oder Lebensweise angelegt werden, die nicht Teil dieser Theorie sind beziehungsweise von den Vertretern dieser Lebensweise nicht anerkannt werden. 4 Als Beispiel für eine solche Kritik »von außen« nennt Jaeggi die Situation, in der die Praktiken einer fremden Kultur mit Hilfe partikularer Normen kritisiert werden, die von der betrachteten Kultur nicht geteilt werden. In dieser Spielart erscheint die externe Kritik fragwürdig, weil offenbar die beschränkte Geltung der partikularen Normen überstreckt wird: Die Kritik wendet die Normen in einem Rahmen an, in dem sie keine Grundlage besitzen. Anders verhält es sich scheinbar bei den von Jaeggi sogenannten »universalistischen Varianten externer Kritik«. Diese greifen für ihre Kritik auf Maßstäbe zurück, die »beanspruchen, außerhalb jeder partikularen Bindung einem ›Blick von nirgendwo‹ zu entsprechen, also nicht mit dem normativen Gefüge einer besonderen Gemeinschaft verbunden zu sein […].« 5 Ausgangspunkt einer solchen universalistischen externen Kritik seien meist »anthropologische Grundlegungen« von Normen. Es geht also um Normen, die dem Anspruch nach für »alle Menschen qua ihres Menschseins überhaupt, ungeachtet ihres konkreten soziokulturellen Ortes und ihrer Geschichte« 6 gelten sollen, selbst wenn sie in der kritisierten Kultur nicht bekannt oder anerkannt sind. Eine solche Variante der externen Kritik liegt vor, wenn wir Aristoteles für seine Doktrin des natürlichen Sklaven kritisieren, weil sie unserem modernen Konzept von unveräußerlicher Menschenwürde widerspricht. Der Vorwurf der externen Kritik gegen Aristoteles hat hierbei eine zweifache Stoßrichtung: Zum einen kritisiert sie Aristoteles für seine Rechtfertigung der Sklaverei, die sie
4 Jaeggi (2014), S. 261: »Von den verschiedenen Varianten externer Kritik werden also Kriterien geltend gemacht, die an die Normen und Praktiken einer gegebenen sozialen Formation von außen herangetragen werden. Die Ansprüche, an denen eine bestehende Situation gemessen wird, gehen über die in ihr geltenden Prinzipien hinaus oder teilen diese nicht.« 5 Ebd. 6 Ebd., S. 262.
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für eine menschenverachtende Lehre hält, zum anderen hält sie Aristoteles vor, dass ihm der zentrale moralische Begriff der unbedingten Würde fehlt. Aristoteles’ Denken sei daher unmoralisch und in seiner philosophischen Anthropologie defizitär, so der Vorwurf einer externen und universalistischen Kritik. Eine derartige Kritik ist allerdings gerade dann strukturell problematisch, wenn sie sich wie bei Aristoteles gegen ein ausgefeiltes und einigermaßen geschlossenes Gedankengebäude wendet. Das Fehlen eines Begriffs der Würde bedeutet nicht, dass in der aristotelischen Ethik eine konzeptuelle Leerstelle existierte, in die sich dieser Begriff wie ein fehlendes Puzzleteil einfügen ließe. Im Gegenteil: Wie ich in Teil I dieser Arbeit gezeigt habe, ist für Aristoteles der Gedanke einer unbedingten Würde nicht nur unbekannt, sondern sogar eine paradoxe Vorstellung. Der Begriff der Würde verlangt, dass alle Menschen in gewissen Hinsichten gleich behandelt werden, auch wenn sie in Bezug auf wesentliche Eigenschaften ungleich sind. Eine solche Gleichbehandlung von Ungleichen ist aber für Aristoteles das Paradigma der Ungerechtigkeit (vgl. Kapitel I.5). Hinzu kommt, dass Aristoteles den natürlichen Sklaven als einen Menschen definiert, dem aufgrund von geistiger oder kultureller Privation die notwendige Fähigkeit fehlt, ein eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft zu führen. Daher dürfte es Aristoteles nicht nur ungerecht erscheinen, einem natürlichen Sklaven die gleichen Partizipationsrechte wie einem Tugendhaften zuzubilligen, sondern unsinnig und sogar schädlich. Eine Person, die unfähig zur Freiheit ist, kann schließlich nicht in selbstbestimmter Weise an den Institutionen und Praktiken der pólis teilnehmen, selbst wenn sie von niemandem daran gehindert würde. Aus Aristoteles’ Sicht wird dem natürlichen Sklaven die Anerkennung als ebenbürtiges Subjekt nicht verweigert. Vielmehr glaubt er, die privative Beschaffenheit des Sklaven verhindere, dass ihm auf Augenhöhe begegnet werde (vgl. Kapitel I.4). In dem aristotelischen Welt- und Menschenbild hat daher der Begriff der unbedingten Würde keinen Platz. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Versuch einer anthropologischen Fundierung externer Kritik schnell an seine Grenzen stößt, wenn er einer Position begegnet, die auf einem anderen Menschenbild beruht. Ausgehend vom aristotelischen Menschenbild lässt sich die unbedingte Würde eben nicht begründen. Die externe Kritik kann in einem solchen Fall lediglich bemerken, dass Aristoteles über kein Äquivalent für bestimmte moderne Begriffe der Moral verfügt. Sie scheitert aber an ihrem eigenen An105 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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spruch, da es ihr nicht gelingt zu zeigen, dass Aristoteles mit Notwendigkeit diese Begriffe und die zugehörigen ethischen Maßstäbe anerkennen müsste. Die externe Kritik verfehlt aber nicht nur ihr argumentatives Ziel, sie ist auch deshalb philosophisch problematisch, weil sie gegen ihre Intention die Legitimität der eigenen Position untergräbt. Statt die aristotelische Position als solche zu entkräften, wie eigentlich gewünscht, stellt der Vertreter der externen Kritik lediglich die Verschiedenheit und Distanz zu seiner eigenen Position fest. Auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, als handle es sich um zwei Welt- und Menschenbilder, die unverbunden nebeneinander stehen und die somit im Grunde gleichwertige Alternativen darstellten. Eine rein externe Kritik legt also – wenngleich unbeabsichtigt – einen Dezisionismus nahe, von dem ausgehend es willkürlich erscheint, ob wir den modernen Begriff der unbedingten Würde vertreten oder den aristotelischen Begriff der meritokratischen Würdigkeit (ἀξία). Es wäre jedoch fatal, wenn der einzige Grund, weshalb wir die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven kritisieren, im Zufall der späteren Geburt bestünde. Unser Hauptargument gegen die Sklaverei darf nicht ein anerzogener Ekel vor dieser Position sein. Eine rein externe Kritik ist jedoch kaum mehr als eine Artikulierung dieses Ekels und der resultierenden Empörung.
II.1.2 Interne Kritik Die Strategie der internen Kritik kann als unmittelbare Reaktion auf die Schwäche der externen Kritik gesehen werden: Anders als die externe Kritik trägt die interne Kritik keinen Maßstab an eine betrachtete Position heran, der dieser Position fremd ist, sondern greift auf einen Maßstab zurück, welcher von der kritisierten Position selbst geteilt wird. Während die externe Kritik vor allem die Distanz zwischen der eigenen Position und der kritisierten Position betont, werden bei der internen Kritik zunächst die Sichtweise, die Überzeugungen und Normen der kritisierten Position übernommen. Es findet also ein vorläufiger Perspektivenwechsel statt. Im nächsten Schritt versucht die interne Kritik, aus dieser inneren Sichtweise heraus Widersprüche und Probleme der kritisierten Position aufzuzeigen. Charakteristischerweise zielt die interne Kritik daher laut Jaeggi auf »eine Inkonsistenz entweder zwischen Behauptungen und Fakten, zwi-
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schen Schein und Wirklichkeit oder zwischen Anspruch und Verwirklichung« 7: Die Kritik an einer solchen Situation verfährt dementsprechend so, dass sie die entsprechenden Normen, Ansprüche, Ideale oder Gattungsprinzipien hervorhebt, den festzustellenden Widerspruch zwischen diesen und der bestehenden Wirklichkeit aufweist und diese mit dem Hinweis auf den Widerspruch kritisiert, sie also als defizitär und falsch darstellt. Die zu beurteilende Wirklichkeit – die existierenden Praktiken, das fertige Werk – wird so an einem von den Kritisierten selbst akzeptierten Maßstab gemessen. 8
In der hier von Jaeggi beschriebenen Spielart der internen Kritik geht es vor allem um Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Praktiken, Institutionen und Lebensweisen. Analog können wir ebenfalls von interner Kritik sprechen, wenn auf einer rein theoretischen Ebene Widersprüche aufgedeckt werden. Bei dieser Spielart richtet sich die interne Kritik auf Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Bestandteilen eines theoretischen Systems, zwischen unterschiedlichen Prämissen oder Folgerungen sowie zwischen den Ansprüchen der eigenen Methodologie und der tatsächlichen Anwendung der theoretischen Methode. Interne Kritik bedeutet daher im Wesentlichen Kritik durch Anwendung des kritisierten Denkens auf sich selbst. Auf den ersten Blick scheint die interne Kritik somit gleichermaßen fair wie überzeugend zu sein: Das Gegenüber wird schließlich nur an Maßstäben gemessen und mit Argumenten konfrontiert, die es bereits für sich anerkannt hat. Das klassische Paradebeispiel interner Kritik führt uns Platon in seinen frühen Tugenddialogen vor, in denen Sokrates zuerst die Überzeugungen seiner Gesprächspartner abfragt, um sie anschließend in innere Widersprüche zu verwickeln und ihnen auf diese Weise das Zugeständnis abringt, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Angewandt auf die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei kann der Ausgangspunkt einer internen Kritik demnach natürlich nicht der Vorwurf sein, dass wir bei Aristoteles bestimmte moderne moralische Konzepte nicht wiederfinden. Das Fehlen eines Konzepts der unantastbaren Menschenwürde stellt zwar gewissermaßen den Stein des Anstoßes dar, weshalb wir Aristoteles für seine Doktrin vom natürlichen Sklaven kritisieren. Für das Vorgehen der internen Kritik muss dieser Vorwurf jedoch ausgeblendet werden und das aris7 8
Jaeggi (2014), S. 265. Ebd.
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totelische Menschenbild in einer Art sokratischer Verstellung vorläufig angenommen werden. Diesen strategischen Umweg der internen Kritik verfolgen all jene Autoren, die den aristotelischen Begriff des natürlichen Sklaven als in sich widersprüchlich entlarven oder Konflikte zwischen diesem Begriff und anderen Bestandteilen des aristotelischen Denkens aufdecken wollen. Im vorangegangenen Teil I dieser Arbeit habe ich jedoch anhand einiger exemplarischer Vorwürfe gezeigt, dass derartige Selbstwidersprüche in der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei nicht ohne Weiteres angenommen werden können. Vielmehr fügt sich die Figur des natürlichen Sklaven konsequent in die aristotelische Auffassung von Gerechtigkeit und seine Metaphysik des Guten ein, so meine These. Bei einem derart umfangreichen und anspruchsvollen System wie der aristotelischen praktischen Philosophie lässt sich freilich keine vollständige Widerspruchsfreiheit beweisen, so dass die Vertreter einer internen Kritik immer Hoffnung schöpfen können, irgendeinen Ansatz für innere Widersprüche zu finden. Diese Hoffnung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die interne Kritik lediglich eine recht beschränkte Aussagekraft besitzt. Da die interne Kritik alle äußeren Standards und Normen ausblendet, bleibt ihr als einziger Prüfstein die Konsistenz einer Position, das heißt sowohl die Stimmigkeit der Theoriebestandteile eines Systems untereinander als auch die Konsistenz zwischen eigenem Anspruch und Handeln. Die innere Geschlossenheit eines Gedankengebäudes weist dieses jedoch nicht als richtig aus, genauso wenig wie die konsequente Umsetzung eigener Überzeugungen im Handeln nicht die Güte dieses Handelns garantiert. So kann beispielsweise der menschenverachtende Verhaltenskodex eines Mafioso schlüssig formuliert sein und konsequent umgesetzt werden. Diese Konsistenz und Konsequenz adeln allerdings nicht seinen Verhaltenskodex als ein ethisches System, sondern führen zu besonderer Grausamkeit und Bösartigkeit. Gegen eine solche in sich geschlossene Ideologie ist die interne Kritik machtlos. Rahel Jaeggi nennt diese Schwäche der internen Kritik ihren »normativen Konventionalismus«: Sofern interne Kritik von einem Widerspruch im Bestehenden lebt, kann sie nur dort wirksam werden, wo sich eine der Praxis widersprechende Norm überhaupt vorfinden lässt. […] In einer Gesellschaft ohne Ideale oder einer Gesellschaft, die sich gänzlich dem Zynismus verschrieben hätte, fände die interne Kritik gewissermaßen keinen Halt. Und auch eine Gesellschaft, die ihr Normengefüge konsistent und in Übereinstimmung mit ihrer
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Praxis auf Grausamkeit und Boshaftigkeit gestellt hätte, ließe sich intern nicht dafür kritisieren. 9
Selbst wenn es also einem Vertreter der internen Kritik gelingen sollte, einen Widerspruch in der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei ausfindig zu machen, dann würde dies nur diese konkrete Version der Rechtfertigung betreffen, die der Kritiker untersucht, nicht aber eine modifizierte Version, welche an der Sklaverei festhält und dafür die anderen Überzeugungen aufgibt, die mit ihr im Konflikt stehen. Als Reaktion auf interne Kritik könnte daher ein Denksystem entstehen, welches immer noch menschenverachtend ist, aber dafür konsistent. Diese Beschränktheit der internen Kritik zeigt uns, dass sie letztlich an der falschen Stelle nach Fehlern sucht – wir wollen die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven schließlich deshalb kritisieren, weil Sklaverei menschenunwürdig ist, und nicht, weil die Doktrin möglicherweise Inkonsistenzen enthält. Der scheinbare Vorteil der internen Kritik, keine fremden Maßstäbe an eine kritisierte Position heranzutragen, entpuppt sich so als Nachteil, da sie ihre Untersuchung auf Stellvertretergefechte beschränkt und den Kern der Auseinandersetzung ausblendet. Ein weiterer Grund für Zweifel an der Eignung der internen Kritik ist hermeneutischer Natur: Insbesondere bei schwierigen Texten wie den aristotelischen Ethiken und der Politik sind uns die Thesen und Überzeugungen des Autoren nicht unmittelbar zugänglich, sondern müssen durch Interpretation herausgearbeitet werden. 10 Aufgrund der Notwendigkeit dieses Vermittlungsschrittes sieht sich der interne Kritiker stets vor der Herausforderung, dass ein vermeintlicher Widerspruch im Text nicht dem Autor selbst, sondern der Unzulänglichkeit der Interpretation des Kritikers angelastet werden kann. Das hermeneutische principle of charity legt nahe, immer erst von der Konsistenz eines zu deutenden Textes auszugehen. Bei scheinbaren Widersprüchen, die uns als Leser ins Auge fallen, ist daher anzunehmen, dass sie auch dem Autor aufgefallen wären. Dies
Ebd., S. 272 f. Vgl. auch Jaeggi, die ein ähnliches Problem in der soziologischen Variante der internen Kritik diagnostiziert: »In vielen Situationen, die nach interner Kritik verlangen, sind schon die Normen selbst nur mehr oder weniger ausdrücklich gegeben, sie müssen also von der Kritikerin erst artikuliert und aktualisiert werden; oder aber sie sind mehrdeutig und müssen von ihr auf einen bestimmten Fall erst angewendet werden.« (Jaeggi (2014), S. 270 f.) 9
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gilt umso mehr, je offensichtlicher diese vermeintlichen Widersprüche und je zentraler die fraglichen Überzeugungen für das gesamte Denkgebäude sind. Eine gelungene Interpretation inszeniert daher den entsprechenden Autor nicht als Strohmann für eine Position, die mit Leichtigkeit zu Fall gebracht werden kann, sondern schreibt ihm eine möglichst starke, philosophisch plausible – und daher auch konsistente – Position zu. Ein interner Kritiker befindet sich folglich in der Zwickmühle, entweder den Anforderungen der internen Kritik nachzukommen und einen schwerwiegenden Widerspruch herauszuarbeiten oder den hermeneutischen Anforderungen einer möglichst konsistenten Lesart zu entsprechen, nach denen ein derartiger Widerspruch als Zeichen für das Ungenügen der Lesart gewertet wird. Diese Zwickmühle besteht in besonders scharfer Form bei einem Autor wie Aristoteles, bei dem erstens aufgrund der großen zeitlichen Distanz, der Uneinheitlichkeit der überlieferten Texte sowie philologischer Streitfragen eine Mehrzahl von Interpretationen miteinander konkurrieren, die uns hinreichend viele Alternativen zu einer widersprüchlichen Lesart bieten. Zweitens gebietet es die intellektuelle Redlichkeit, gerade bei einem Klassiker der Philosophiegeschichte wie Aristoteles in hohem Maße das hermeneutische Wohlwollen walten zu lassen und im Zweifelsfall für den Angeklagten zu entscheiden. Dieser methodologische Anspruch verlangt freilich nicht, alle Ansichten des Aristoteles kritiklos als irrtumsfrei zu deklarieren, aber er empfiehlt doch, auf die Zuschreibung grober Schnitzer und augenfälliger Widersprüche zu verzichten. Interne Kritik bietet sich daher eher in Gesprächssituationen an, in denen Rückfragen an den Vertreter der kritisierten Position gestellt werden können, so wie es Sokrates in den Platonischen Dialogen vorexerziert, der seinem Gegenüber keine Annahme unterstellt, ohne ihm mit bohrenden Nachfragen die Zustimmung zur fraglichen These abzunötigen. Für historische Texte wie die aristotelischen Ethiken und die Politik, bei denen intensive Textarbeit nötig ist, scheint die interne Kritik hingegen wenig geeignet, da ihre Methode im Konflikt mit grundlegenden interpretatorischen Anforderungen steht.
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Drei Arten der Kritik: intern, extern und immanent-historisch
II.1.3 Immanente und historische Kritik Neben der internen und der externen Kritik beschreibt Rahel Jaeggi noch eine dritte Art der Kritik, welche sie »immanente Kritik« nennt und die eine dialektische Weiterentwicklung der beiden erstgenannten Arten darstellt. Die immanente Kritik gibt uns schließlich das begriffliche und interpretatorische Werkzeug an die Hand, um der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven angemessen zu begegnen. Zugleich ist sie der umfangreichste Ansatz und erfordert eine Untersuchung, die sich nicht auf einzelne Überzeugungen oder Theoriestücke beschränken kann, sondern den gesamten historischen Komplex von Institutionen und Praktiken betrachtet, in dem sich die entsprechenden Überzeugungen verwirklichen. Hegels eigene Kritik der antiken Sklaverei, unter anderem angedeutet in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts sowie ausführlicher in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, verläuft im Wesentlichen nach der Methode der immanenten Kritik. In diesem Absatz stelle ich in Kürze die immanente Kritik in Abgrenzung zur externen und internen Kritik vor, wobei ich mich vor allem an Jaeggis Formulierungen orientiere. Anschließend skizziere ich, weshalb sich die immanente Kritik zur Entgegnung auf die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei empfiehlt. Am Ende des Abschnitts gehe ich schließlich auf einen Unterschied zwischen Jaeggis und Hegels Konzeption dieser Art von Kritik ein, der für die vorliegende Untersuchung beachtet werden muss. Um Missverständnisse zu vermeiden und diesen Unterschied zu betonen, spreche ich in dieser Arbeit deshalb von »historischer Kritik« oder »historisch-immanenter Kritik«, wenn ich mich spezifisch auf die Eigenarten von Hegels Variante der immanenten Kritik beziehe. Wie die interne Kritik greift auch die immanente Kritik auf einen Maßstab zurück, welcher in der betrachteten Position enthalten ist und nicht von außen an sie herangetragen wird. Anders als die interne Kritik beschränkt sich die immanente Kritik jedoch nicht auf eine bloße Konsistenzprüfung des Kritisierten, sondern weist über diese Position hinaus. Hierfür beginnt die immanente Kritik mit den internen Normen und Überzeugungen des zu begutachtenden Standpunkts. Diese werden allerdings nicht wie ein bloß statisches Gebilde betrachtet. Vielmehr besteht die Eigenart der immanenten Kritik darin, eine innewohnende normative Dynamik im Standpunkt festzustellen, deren Entwicklung über den Ist-Zustand hinausgeht. Die 111 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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immanente Kritik misst daher den beurteilten Standpunkt mithilfe eines Maßstabs, der diesem Standpunkt zueigen ist, aber zugleich auf Veränderung des Standpunkts drängt: Immanente Kritik tritt dann, wie Marx sagt, »nicht mit einem vorgefertigten Ideal der Wirklichkeit entgegen«, sie entnimmt es ihr auch nicht einfach, sondern entwickelt dieses Ideal aus dem widersprüchlichen »Bewegungsmuster der Wirklichkeit« selbst. Immanente Kritik vereinigt also die Idee des in der Sache liegenden Maßstabs mit dem Anspruch einer kontextübergreifenden Kritik […]. 11
Diese Besonderheit der immanenten Kritik begründet sich vor allem dadurch, dass sie einen weiteren Blick besitzt als die interne Kritik: Während die interne Kritik Normen, Überzeugungen, Theoriegebilde und Ideologien auf abstrakte Weise prüft, als ob es sich nur um eine Struktur prädikatenlogisch darstellbarer Aussagen handle, die in formaler Übereinstimmung oder in Kontradiktion zueinander stehen können, untersucht die immanente Kritik darüber hinaus, wie die entsprechenden Normen und Überzeugungen in Praktiken und Institutionen umgesetzt werden. Somit schaut die immanente Kritik nicht nur auf formale Konsistenz, sie betrachtet auch, wie sich die Normen und Überzeugungen in ihrer Verwirklichung bewähren. Laut Jaeggi beruht die immanente Kritik »auf einem Verständnis davon, wie Normen in sozialen Praktiken wirksam sind […].« 12 Mit anderen Worten: Die immanente Kritik berücksichtigt, dass Normen und Überzeugungen nicht bloß theoretische Gebilde in Satzform sind, sondern sie erkennt, dass diese in ihrer Verwirklichung immer auch eine Funktion besitzen, nämlich die Orientierung der Subjekte in der Welt beziehungsweise die Koordination von Handlungen der Subjekte für sich und untereinander. Mit der Betrachtung dieser Funktion führt die immanente Kritik keinen zusätzlichen, sachfremden Maßstab ein. Stattdessen bezieht sie den notwendigen Anspruch einer Norm qua Norm mit ein, verwirklicht zu werden. In gewisser Weise schließt die immanente Kritik die interne Kritik mit ein, da ein ethisches System nur dann in stabilen Institutionen und Praktiken verwirklicht werden kann, wenn es keine eklatanten Widersprüche aufweist. Die immanente Kritik erschöpft sich allerdings nicht in der Prüfung auf formale Konsistenz: Für eine äußerst simpel gestrickte Ideologie beispiels-
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Jaeggi (2014), S. 277 f. Ebd., S. 276.
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weise, die auf wenigen Glaubenssätzen beruht, ist es nicht schwer, das Kriterium der Konsistenz zu erfüllen, da sie auf die meisten Situationen die immer gleichen Antworten gibt. Gerade diese Einfachheit, die der Forderung der bloß internen Kritik nach Konsistenz entgegen kommt, führt jedoch dazu, dass die praktische Umsetzung eines solchen Glaubenssystems – etwa in der Gestalt einer fundamentalistischen Gemeinschaft – anfällig für Krisen ist. Eine allzu schlichte Ideologie ist ungeeignet, auf die Vielschichtigkeit der Welt angemessen zu reagieren. Sie kann nicht mit Ereignissen umgehen, die einen differenzierten Blick erfordern. Wird aber das Glaubenssystem immer häufiger mit Phänomenen konfrontiert, die es nicht einordnen kann, geraten auch die zugehörigen Institutionen und Praktiken in eine Krise – so die Grundidee der immanenten Kritik. Aus dem Auftreten solcher sozial-institutioneller Krisen leitet die immanente Kritik eine Unzulänglichkeit der zugrundeliegenden Weltanschauung, Überzeugungen, Normen oder Theorien ab. Die »widersprüchlichen Bewegungsmuster der Wirklichkeit«, von denen die immanente Kritik laut Jaeggi ausgeht, 13 sind daher keine widersprüchlichen Aussagen in der Form von p und non-p, sondern notwendige Krisen sozialer Verwirklichungen der jeweiligen Normen: Immanente Kritik setzt an der Krisenhaftigkeit eines bestimmten sozialen Arrangements an. Charakteristisch für die Art von Widersprüchen einer sozialen Praxis oder Institution, die von der immanenten Kritik ins Visier genommen wird, ist die mit ihr einhergehende Instabilität und Defizienz. Ein solcher Zustand ist gekennzeichnet von praktischen Hemmnissen und Dysfunktionalitäten. […] Aus Sicht der immanenten Kritik sind die von ihr diagnostizierten Widersprüche nicht nur ein Konsistenzproblem und auch nicht ein rein normatives Problem, sondern eine Frage praktischer Verwerfungen und Krisen. 14
Eine wichtige Aufgabe der immanenten Kritik besteht folglich in dem Nachweis, dass eine beobachtete Krise einer konkreten Gesellschaft, Praxis oder Institution kein rein zufälliges Geschehen ist, sondern letztlich auf das zugrundeliegende Fundament aus Normen und Überzeugungen zurückgeführt werden kann. Dabei kann die Krise durchaus von einem zufälligen Ereignis ausgelöst werden. Die immanente Kritik muss in solchen Fällen aber zeigen können, dass die Anfälligkeit für solche Zufälle sich aus einer Unzulänglichkeit des ent13 14
Ebd., S. 277. Ebd., S. 292.
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sprechenden Systems von Normen und Überzeugungen ergibt. Eine gelungene immanente Kritik erläutert, dass es beispielsweise in der Natur einer konkreten Norm liegt, sich nur in instabilen Institutionen zu manifestieren. Eine solche Norm verfehlt daher den eigenen Anspruch qua Norm, angemessen in Institutionen und Praktiken verwirklicht zu werden. Aus diesem Nachweis eines Zusammenhangs von normativer Struktur und sozialer Krise ergibt sich, dass die Krise nur durch eine Modifikation der zugrundeliegenden Normen und Überzeugungen überwunden werden kann. Eine rein technische Lösung, etwa eine effizientere Gestaltung der betroffenen Institutionen oder die schärfere Sanktion von Normübertretungen, genügt nicht. Stattdessen kann sich die jeweilige Gemeinschaft nur durch einen radikalen Wandel aus der Krise befreien, bei dem die grundlegenden Normen oder Überzeugungen geändert werden. Im Erfolgsfall erweist sich dieses modifizierte System als krisenresistenter und somit als stabiler als die vorige Fassung. Seine Verwirklichung erfüllt den inneren Anspruch besser, Orientierung in der Welt zu bieten und eine reibungslose Koordination von Handlungen zu erlauben. Die immanente Kritik gibt uns mit ihrer Betrachtung somit einen Maßstab an die Hand, mit dem konkrete Weltanschauungen kritisiert und sogar untereinander vergleichend bewertet werden können. Die höhere Krisenresistenz eines Systems von Normen zeichnet dieses System gegenüber instabileren Systemen als »rationaler« und »besser« aus, so Jaeggi: Der vernünftige Charakter dieser Normen [d. h. der neuen Fassung, die als Reaktion auf die Krise entwickelt wurden, MP] besteht also weder allein in ihrer faktischen Geltung noch einem die entsprechenden Normen und Praktiken überschreitenden Kriterium. Er macht sich, wie ich behauptet hatte, vielmehr am Kriterium der erfolgreichen Überwindung der in den zu kritisierenden Verhältnissen liegenden Probleme, Krisen und Widersprüche fest – und letztlich am rationalen und sich zum Besseren anreichernden Charakter des durch die immanente Kritik angestoßenen Entwicklungsprozesses selbst. 15
Immanente Kritik diagnostiziert also fundamentale Krisen von Institutionen und Praktiken und untersucht, wie diese Krisen gemeistert werden, indem durch die Veränderung grundlegender Normen oder Überzeugungen robustere Institutionen und Praktiken geschaffen werden. Auf diese Weise zeichnet die immanente Kritik einen ge15
Ebd., S. 304.
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schichtlichen Entwicklungsprozess nach, in dessen Verlauf sich in der wiederholten Abfolge von Neubildung eines Normen- und Überzeugungssystems, fundamentaler Krise und schließlich Überwindung dieser Krise durch radikale Veränderung immer raffiniertere Praktiken und Institutionen herausbilden. Dieser Prozess stellt sich laut Jaeggi als »Anreicherungs- und Fortschrittsbewegung – also als ein Lernprozess – dar.« 16 Die immanente Kritik ist allerdings nicht nur das Werkzeug eines neutralen Beobachters, der aus der Vogelschau die geschichtliche Entwicklung einer solchen Krise protokolliert und den Verlauf des Lernprozesses rekonstruiert. Stattdessen spielt die immanente Kritik selbst eine entscheidende Rolle in der Perspektive der Beteiligten und wirkt sogar als »Katalysator« einer solchen Entwicklung. 17 Den Betroffenen einer fundamentalen Krise gelingt die Überwindung nur dann, wenn sie ausreichend selbstreflektiert sind, um zu begreifen, dass diese Krise ihrer Institutionen und Praktiken aus einer Schwachstelle in ihrem grundlegenden System von Normen und Überzeugungen resultiert. Sie müssen also den Bezug zwischen den augenfälligen Symptomen der Krise, etwa einem politischen Vertrauensverlust und einem Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts, und den normativen und theoretischen Eckpfeilern ihrer Weltanschauung herstellen. Schließlich müssen sie auch in der Lage sein, sich ihren grundlegenden Irrtümern zu stellen und diese zu revidieren: Zu einem sich anreichernden Erfahrungsprozess wird die Entwicklung von einer defizitären zu einer neuen Praxis (und einem neuen Selbstverständnis) genau deshalb, weil sie nicht einseitig in der Destruktion und Überwindung einer falschen Position besteht, sondern aus der Erfahrung des Scheiterns eine neue Position gewinnt. 18
Der Ausweg aus einer fundamentalen Krise kann somit erst dann gelingen, wenn die Betroffenen selbst immanente Kritik an ihrem weltanschaulichen Standpunkt üben. Nur auf diese Weise können sie die entsprechenden Zusammenhänge erkennen und die nötige begriffliche Arbeit leisten. Jaeggi nennt die immanente Kritik daher auch »das kritische Ferment der Selbsttransformation einer Lebensform.« 19 In dieser Funktion ist die immanente Kritik wesentlich in16 17 18 19
Ebd., S. 296. Ebd. Ebd. Ebd., S. 259.
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volviert, sie gehört zum Standpunkt der Betroffenen einer solchen Krise. Selbst wenn wir die immanente Kritik in der historischen Rückschau verwenden, um aus der Beobachterperspektive den Verlauf einer solchen Krise zu rekonstruieren und das Scheitern der betroffenen Position zu verstehen, distanzieren wir uns nicht völlig: Da wir den Verlauf der Krise als einen Lernprozess darstellen, an dessen Ende unsere heutige, moderne Position steht, stellen wir uns in gewisser Weise in eine Kontinuität zu der kritisierten Position. Die Anwendung der immanenten Kritik in der Rückschau bedeutet immer auch ein Begreifen, wie unser eigenes Denken sich aus dem kritisierten Denken entwickelt hat. Somit zeigt die immanente Kritik nicht nur die Unterschiede zur gescheiterten Position auf, sondern auch, wie viel unsere Position ihrem Vorgänger verdankt. Das Verhältnis des Kritikers zum kritisierten Standpunkt ist daher bei der immanenten Kritik niemals so fremd wie bei der externen Kritik. Aus diesem Grund erlaubt uns die immanente Kritik, den Prozess des Scheiterns einer historischen Lebensform als einen Lernprozess zu erfassen, der zu unserer modernen Lebensform führt. Weiterhin ermöglicht sie einen respektvollen, hermeneutisch verantwortungsvollen Umgang mit einer philosophischen Position wie derjenigen des Aristoteles. Die immanente Kritik bietet zum einen eine Methode, die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven zu verwerfen, indem sie aufzeigt, wie das zugrundeliegende Menschen- und Gemeinschaftsbild notwendigerweise zu sozialen Krisen führt. Auf diese Weise kann die Doktrin als Irrtum erkannt werden, auch wenn sie sich als intern konsistent erweist. Zum anderen gesteht die immanente Kritik zu, dass die aristotelischen Überlegungen eine wichtige Vorstufe zu unserer modernen Position bilden, die in sich bereits den Keim des modernen Menschenbildes trägt. Die immanente Kritik hilft uns daher, sowohl die Kluft als auch die Kontinuität zu erfassen, die zwischen dem aristotelischen und dem modernen Denken bestehen. An dieser Stelle halte ich einen terminologischen Hinweis für sinnvoll: Rahel Jaeggi greift ausdrücklich für ihre Definition der immanenten Kritik auf Hegel zurück: In der Einleitung seiner Phänomenologie des Geistes entwerfe Hegel als erster programmatisch das Instrument der immanenten Kritik, so Jaeggi. 20 Auch in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte stelle die immanente Kritik einen methodischen roten Faden dar: 20
Ebd., S. 281.
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Drei Arten der Kritik: intern, extern und immanent-historisch
Hier [in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, MP] treten das Werden und Vergehen historischer Zivilisationen, von den Hochkulturen Asiens über die griechische Welt bis zu Hegels Zeit, als unterschiedliche Stadien eines Verlaufs auf, der sich als Entwicklung auf- und auseinander folgender sozialer Formationen auffassen lässt, in dem sich das »Bewußtsein der Freiheit« verwirklicht. 21
Jaeggi nimmt allerdings Hegels Methode einer immanenten Kritik nur als Ausgangspunkt und fasst ihr eigenes Verständnis der Methode weiter. So rechnet sie beispielsweise auch John Deweys Konzept eines experimentellen Lernprozesses, Alasdairs MacIntyres Verständnis der Entwicklung und Krisenbewältigung kultureller Traditionen sowie bestimmte psychoanalytische Therapieverfahren als Varianten immanenter Kritik. 22 Hegels dialektisches Verfahren in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ist daher nicht deckungsgleich mit Jaeggis Konzept der immanenten Kritik. In der vorliegenden Arbeit spreche ich daher von »historischer Kritik« oder »historisch-immanenter Kritik« statt von »immanenter Kritik«, wenn es nötig ist, Hegels Methode von derjenigen Jaeggis abzugrenzen, um Missverständnisse zu vermeiden. Ein wichtiger Unterschied zwischen Jaeggis allgemeinerem und Hegels engerem, spezifisch auf seine Philosophie der Weltgeschichte bezogenem Verständnis besteht darin, dass Hegel den Gegenstand der Kritik holistisch auf eine epochale Kultur bezieht. Für Jaeggi geht es bei der immanenten Kritik um die Entwicklungen, Krisen und Lernprozesse von »Lebensformen«. Unter dem Terminus der »Lebensform« versteht Jaeggi »Bündel« oder »Ensembles« von Praktiken, die einen »Interpretations- und Funktionszusammenhang« bilden. 23 Als Beispiele für Lebensformen zählt Jaeggi so disparate Gebilde auf wie die Lebensform der Großstadt, 24 die »klassische bürgerliche Familie«, 25 die Lebensform der »Erziehung und Elternschaft«, 26 die »akademische Lebensform« 27 sowie die »konsumistisch-hedonistische Lebensform des Spätkapitalismus« 28. Entsprechend zu diesem vergleichsweise 21 22 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 353. Ebd., S. 394, S. 411 und S. 278. Ebd., S. 104 ff. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 108. Ebd., S. 105. Ebd.
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abstrakten und weitgefassten Begriff von Lebensform betrachtet Jaeggi mit ihrer Variante der immanenten Kritik die unterschiedlichsten Ereignisse als Krisen und Transformationsprozesse. Eine Krise der »akademischen Lebensform« ist demnach eine vergleichsweise lokale Entwicklung, die möglicherweise dem Großteil der Bevölkerung außerhalb von Universitäten verborgen bleibt. Bei Hegel hingegen bestimmt die historische Kritik die Schicksale ganzer Staaten und Völker, ihre Kulturen und eigentlichen Weltanschauungen. Die Krisen, an die er denkt, sind etwa der Zusammenbruch des persischen Großreichs, der Untergang der griechischen pólis, der Fall Roms oder die Französische Revolution. Es sind also nicht bloß einzelne Institutionen oder »Bündel« von Praktiken betroffen, sondern der »Geist«, das heißt die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken eines weltgeschichtlichen Volkes. 29 Demnach sind die Krisen für Hegel stets existentieller Natur. In ihnen steht die Lebensweise eines gesamten Volkes auf dem Spiel. Ihre Folgen verändern den Lauf der Geschichte. Dieser Unterschied im Skopus der Krisen bei Jaeggi und Hegel wird nicht allein durch die Tatsache begründet, dass Hegel sich in seiner Weltgeschichte naturgemäß mit weltbewegenden Krisen beschäftigt. Vielmehr ist Hegels Krisenbegriff eine Folge seines sittlichkeitstheoretischen Holismus. Hegel geht davon aus, dass eine fundamentale Krise, die aus der Unzulänglichkeit grundlegender Normen und Überzeugungen resultiert, sich nicht auf einzelne, isolierte Institutionen oder Praktiken beschränkt. Die Krise einer Lebensform zeigt sich möglicherweise in bestimmten Institutionen besonders deutlich, so wie Hegel den Gerichtsprozess gegen Sokrates als ein Beispiel wählt, um die Instabilität der griechischen Stadtstaaten zu erläutern (siehe Teil VI). Derartiges Versagen konkreter Institutionen wertet Hegel jedoch lediglich als ein lokales Symptom für ein ganzheitliches Problem, das sich durch nahezu alle Lebensbereiche zieht. In der Krise der griechischen Gerichtsversammlung manifestiert sich somit eine Krise des griechischen Geistes, der sich in allen Facetten der griechischen Kultur ausdrückt. Hegels historische Kritik zielt daher stets auf solche umfassenden, existenziellen Krisen eines Volkes. Diese Unterscheidung zu Jaeggis immanenter Kritik ist für die vorliegende Untersuchung wichtig, weil sie verdeutlicht, dass auch Hegels Kritik an der griechischen Institution der Sklaverei und der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven eine solche holistische Stoßrich29
Vgl. Hegel, GPhR §§ 346 f., S. 505 f.
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tung besitzt. Die griechische Sklaverei ist für Hegel ein Symptom für eine gesamtgesellschaftliche Beschränkung der Selbstbestimmung, die auch in vielen anderen Bereichen des griechischen Lebens Symptome zeigt, etwa in einer restriktiven Ökonomie, bei der Orakelgläubigkeit der Griechen, in ihrer Unfähigkeit, größere Staatengebilde zu formen, sowie im Mangel an politischer Pluralität in der pólis. 30 Dieses Wissen um den holistischen Anspruch Hegels hilft uns bei dem Verständnis seiner Vorgehensweise: Zum einen wird so klar, dass Hegel weder die Kritik vereinzelter Thesen oder Argumente (wie etwa der Rechtfertigung der Sklaverei bei Aristoteles) für ausreichend hält, um die Unzulänglichkeiten des griechischen Denkens zu erfassen, noch die Kritik an isolierten Institutionen. Ein solches rein lokales Vorgehen verfehlt den eigentlichen Kern der Probleme. Zum anderen verlangt Hegels Holismus, dass wir durchaus auch seine Erläuterungen zu anderen Phänomenen in der griechischen pólis betrachten müssen, etwa seine Ausführungen zu den Orakelpraktiken oder zur sophistischen Demagogie, um seine Deutung der Krise des griechischen Geistes vollständig zu erfassen und den Weg seiner historischen Kritik nachzuvollziehen. Hegel kritisiert zwar die griechische Sklaverei als eine schlechte, menschenunwürdige Institution. Die Schlechtigkeit der griechischen Form der Sklaverei lässt sich aber nur über den Umweg zeigen, indem die Fehler des griechischen Weltund Menschenbilds aufgedeckt werden, welches sich in der Sklaverei manifestiert.
II.2 Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen Wie schon eingangs erwähnt, halte ich Hegel für den geeigneten Verbündeten und Gewährsmann, um mittels historisch-immanenter Kritik der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei zu begegnen. Hegel empfiehlt sich für diese Aufgabe nicht nur, weil er laut Jaeggi als erster überhaupt die Methode der historisch-immanenten Kritik entworfen und philosophisch ausformuliert habe, sondern insbesondere auch, weil Hegel sein eigenes politisches Denken unter anderem als das Ergebnis einer solchen historischen Kritik aristotelischer Positionen sieht. Wir können also von Hegels Texten erwarten, dass er Vgl. z. B. Hegel, VPhGes S. 310 ff., Enz.III § 482, S. 552 und GPhR, Zusatz zu § 260, S. 407.
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uns die Ressourcen für eine prinzipielle Kritik der aristotelischenantiken Überzeugungen bereitstellt und den Finger auf den grundlegenden Irrtum legt, der zur Rechtfertigung der Sklaverei führt, sowie – noch entscheidender – uns demonstriert, wie dieser Irrtum als Irrtum entlarvt werden kann und zugleich den Weg für ein angemesseneres Menschenbild eröffnet. Allerdings entbehrt der Versuch, sich Hegel zu Hilfe zu nehmen, um sich einen anderen Autor zu erschließen, nicht einer gewissen Ironie. Hegel ist schließlich für seine schwierige Sprache und komplexe Darstellungsformen berüchtigt. Es stellt sich also die berechtigte Frage, ob es überhaupt ratsam ist, bei einem anspruchsvollen und bisweilen dunklen Autor wie Aristoteles einen mindestens ebenso anspruchsvollen und dunklen Autor wie Hegel heranzuziehen. Tatsächlich ergeben sich für den Leser, der von einem derartigen systematischen Interesse geleitet wird, eine Reihe interpretatorischer Schwierigkeiten, welche verhindern, dass wir Hegels Texte einfach unmittelbar wie einen kritischen Kommentar zu Aristoteles konsultieren können. Zu diesen Schwierigkeiten gehört beispielsweise Hegels eigenwillige Terminologie, die zu zahlreichen Missverständnissen einlädt, weil Hegel seine Begrifflichkeiten nicht durch starre Definitionen festlegt, sondern ihre Bedeutungen im Verlauf seiner Ausführungen entwickelt. Die Begrifflichkeiten zeichnen so selbst die Denkbewegungen nach, die Hegel jeweils untersucht. 31 Seine Begriffsverwendung muss daher stets im Kontext verstanden werden. Unter anderem muss geprüft werden, welche systematischen Kontraste Hegel an der entsprechenden Stelle mit Hilfe des Begriffs entwirft, ob er lediglich vorläufig oder resümierend spricht und auf welche philosophischen Autoren beziehungsweise ideengeschichtlichen Debatten er sich dort bezieht. Diese Schwierigkeit wird verstärkt durch seine häufige Weigerung, die Namen der Autoren ausdrücklich zu nennen, die er diskutiert. Insbesondere gilt dies für seine Phänomenologie des Geistes, die so zu einem nahezu verschlüsselten Werk gerät. Aber auch in seinen verschiedenen Vorlesungen sind die Bezüge bei weitem nicht immer klar. 32 Weiterhin trägt es zur VielschichBeispiele hierfür sind die Begriffe der »Sittlichkeit« und des »Gewissens«, die jeweils etwas anderes bedeuten, wenn Hegel sie auf die antiken Griechen oder auf den modernen Staat bezieht, siehe auch Teil VI. 32 So kann beispielsweise über Hegels Kapitel über Afrika in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte genauso mit einiger Berechtigung behauptet werden, es behandle die aristotelische Auffassung vom natürlichen Sklaven (vgl. Bull [1998]), 31
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tigkeit seiner Texte bei, dass Hegel sich den Gegenständen seiner Erörterungen meist aus verschiedenen Blickwinkeln nähert, um unterschiedliche Aspekte zu beleuchten. Es bleibt allerdings in der Regel dem Leser überlassen, den Zusammenhang dieser Blickwinkel und der jeweiligen Erläuterungen zu rekonstruieren. So erklärt Hegel das Ende der antiken Sklaverei in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte mit unterschiedlichen Formulierungen. An einer Stelle wählt er beispielsweise eine Terminologie, die sprachlich deutlich an seine Behandlung der Kantischen Moraltheorie in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts erinnert: Die Sklaverei hört erst auf, wenn der Wille unendlich in sich reflektiert ist, wenn das Recht gedacht ist als dem Freien zukommend, der Freie aber der Mensch ist nach seiner allgemeinen Natur als mit Vernunft begabt. 33
Etwa hundert Seiten später greift Hegel das Thema in seiner Geschichtsphilosophie wieder auf, verwendet aber diesmal eine religiöse Sprache, die statt der Formulierungen eines »unendlich in sich reflektierten« Willens und des Rechts auf die Begrifflichkeiten der göttlichen Gnade und eines göttlichen Endzwecks zurückgreift: Erstens: die Sklaverei ist im Christentum unmöglich, denn der Mensch ist jetzt als Mensch nach seiner allgemeinen Natur in Gott angeschaut; jeder Einzelne ist ein Gegenstand der Gnade Gottes und des göttlichen Endzwecks: Gott will, daß alle Menschen selig werden. Ganz ohne alle Partikularität, an und für sich hat also der Mensch, und zwar schon als Mensch, unendlichen Wert, und eben dieser unendliche Wert hebt alle Partikularität der Geburt und des Vaterlandes auf. 34
Beide Zitate stammen aus den gleichen Vorlesungen und greifen dasselbe Thema auf, sprechen jedoch auf unterschiedliche Weise über die »allgemeine Natur« des Menschen. Offensichtlich besteht eine Verbindung zwischen diesen Bemerkungen, die Hegel allerdings nicht anspricht. So lässt er seine Hörer rätseln, ob er etwa die Formulierungen für ineinander übersetzbar hält, ob eine der beiden Bemerkungen die Voraussetzung für die andere darstellt, oder ob er womöglich sich nur die erste der beiden Formulierungen zu Eigen macht und im anwie auch, es handle sich um eine Seitenhieb gegen Hobbes’ Konzeption eines Naturzustands (z. B. Inwood [1983]). 33 Hegel, VPhGes S. 311, vgl. ders., GPhR § 105, S. 203: »Der moralische Standpunkt ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich ist […].« 34 Ders., VPhGes S. 403.
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deren Zitat lediglich eine bestimmte Auffassung des Christentums referiert. Weitere Fallstricke ergeben sich für den Interpreten, weil uns in den Vorlesungen nur vermittelte Texte vorliegen, die aus mehreren Mit- und Nachschriften seiner Hörer kompiliert wurden und die deshalb natürlich immer in der einen oder anderen Weise anfechtbar bleiben. Eine weitere Schwierigkeit liegt schließlich in der Tatsache, dass die verschiedenen Texte Hegels, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, aus unterschiedlichen Jahrzehnten stammen. Da die Möglichkeit besteht, dass Hegel im Verlauf seines Lebens manche seiner Überzeugungen revidiert hat, können seine verschiedenen Schriften und Vorlesungen nicht ohne Weiteres als eine einheitliche Textgrundlage aufgefasst werden. Es scheint zumindest unwahrscheinlich, dass Hegel seine Ansichten zu Aristoteles und der antiken pólis bereits in jungen Jahren vollständig entwickelt und über die Jahrzehnte nicht geändert habe – schließlich wurde nur die Göttin Athene in voller Rüstung geboren. 35 Allerdings wäre es interpretatorisch unredlich, jede vermeintliche Unstimmigkeit auf der Textoberfläche mit einem Meinungsumschwung Hegels wegerklären zu wollen. Angesichts dieser Schwierigkeiten überrascht es nicht, wenn es eine Unzahl unversöhnlicher Hegel-Lesarten gibt. Auch meine Hegel-Interpretation der vorliegenden Arbeit erhebt nicht den Anspruch, die einzig richtige oder ausschließlich sinnvolle Lesart zu Hegels Kritik des aristotelischen Denkens vorzustellen. Wie Sokrates über Heraklit feststellt, erfordert auch Hegel die Ausdauer eines delischen Tauchers und zudem Ehrlichkeit über die Grenzen des eigenen Verständnisses. 36 Somit trifft auch diese Interpretation wie jede andere eine Auswahl unter den Textstellen und kann daher nur bestimmte Aspekte von Hegels Ansatz beleuchten. Zugleich soll aber nicht nur ein willkürliches Schlaglicht auf bestimmte Versatzstücke des Textes geworfen werden. Die Leitlinie meiner Lesart besteht in dem Ziel, Hegels Analyse des aristotelisch-antiken Politikverständnisses möglichst stimmig zu rekonstruieren, so dass deutlich wird, weshalb aus Hegels Sicht die griechische Gemeinschaftsform notwendig mit Sklaverei verbunden und zugleich langfristig zum Scheitern verurteilt war. Der Ansatz wird von der Hoffnung getragen, auf 35 36
Zur Entwicklungsgeschichte von Hegels Antikenbild siehe z. B. Franco (1999). Diogenes Laertius, Vitae II.22.
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diese Weise etwas systematisch Interessantes zu den aristotelischen Irrtümern zu sagen sowie zu dem Spannungsverhältnis von Kluft und Kontinuität, in dem wir zu Aristoteles stehen. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels stelle ich drei Arbeitshypothesen meiner Interpretation vor, die ich jeweils kurz skizziere. Die drei Thesen bilden einen heuristischen Ausgangspunkt, von dem aus ich meine Lesart entwickeln werde. Ich werde deshalb an dieser Stelle nicht ausführlich für die Berechtigung dieser hermeneutischen Vorentscheidungen argumentieren. Vielmehr soll die eigentliche Untersuchung, die in den nächsten Teilen III bis VI dieser Arbeit folgt, durch ihre systematischen Ergebnisse die drei Thesen im Nachhinein rechtfertigen und ihre Angemessenheit für Hegels Texte bestätigen.
II.2.1 Aristoteles und Hegels Griechen Erste Interpretationsthese: Die entscheidenden Hinweise für Hegels Kritik an der aristotelischen Politik finden wir in seinen Beschreibungen der griechischen pólis und ihres Untergangs. Die erste These zur Interpretation legt vor allem die Textgrundlage für die vorliegende Untersuchung fest: Statt lediglich Texte zu verwenden, in denen Hegel Aristoteles namentlich nennt und ausdrücklich die aristotelische Ethik und Politik diskutiert, werden auch jene Texte herangezogenen, in denen Hegel allgemein über die griechische pólis spricht und ihre Gemeinschaftsstruktur sowie ihre institutionellen Schwächen analysiert. Konkret bedeutet dies, dass sich diese Untersuchung nicht etwa auf die knappen Kapitel in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie beschränkt, in denen Hegel vergleichsweise oberflächlich die aristotelische praktische Philosophie abhandelt, sondern auch all jene Texte als möglicherweise relevant betrachtet, in denen Hegel die Beschaffenheit und Krise der pólis erläutert. Zu diesen Texten zählen vor allem seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die Grundlinien der Philosophie des Rechts sowie die Diskussion des Prozesses gegen Sokrates in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zusätzliche Hinweise finden sich in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, den Vorlesungen zur Religion und Ästhetik sowie in der Phänomenologie des Geistes. Die Entscheidung für diese Textgrundlage erfolgt aus zwei Gründen: Zum einen soll so Hegels Neigung 123 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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begegnet werden, bestimmte Autoren auch ohne namentliche Erwähnung zu diskutieren. Durch eine breitere Textbasis besteht gewisse Hoffnung, dass auch jene Auseinandersetzungen mit Aristoteles berücksichtigt werden, die gewissermaßen in anonymisierter Form stattfinden. Der zweite, tiefere Grund für die erweiterte Betrachtungsweise liegt im Wesen von Hegels historisch-immanenter Kritik und ihrem charakteristischen holistischen Ansatz (siehe Abschnitt II.1.3). Hegel nimmt mit seiner Kritik die Gesamtheit sittlicher Institutionen und Praktiken eines Volks in den Blick und betrachtet Krisen, die eine solche Lebensweise in Gänze erschüttern. Sein kritischer Ansatz prüft also, wie sich ein bestimmtes weltanschauliches Fundament in seiner Umsetzung in eine gemeinschaftliche Lebensweise bewährt. Die Besonderheiten dieser Methode erklären, weshalb Hegel sich beispielsweise nicht isoliert mit der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei auf theoretischer Ebene auseinandersetzt und sie auf argumentative Fehler oder falsche Prämissen hin untersucht, wie es das Vorgehen einer internen Kritik wäre. Stattdessen muss Hegel für seine historisch-immanente Kritik des politischen Denkens des Aristoteles die Verwirklichung dieses Denkens in Institutionen und Praktiken einer Gemeinschaft betrachten. Hegel schaut also an den Ort, an dem das aristotelische Denken historisch geworden ist. Dieser Ort ist für Hegel die antike pólis, so der Grundgedanke hinter der ersten Arbeitsthese meiner Interpretation. Im Scheitern der griechischen Stadtstaaten glaubt Hegel, die Unzulänglichkeiten des aristotelischen Welt- und Menschenbildes zu erkennen. Deshalb sind auch jene Textstellen für eine Kritik an Aristoteles einschlägig, an denen Hegel Krise und Untergang der pólis thematisiert. Diese erste Interpretationsthese muss allerdings von einigen Einschränkungen eingerahmt werden: Hegel behauptet offensichtlich nicht, die griechische pólis sei zu irgendeinem Zeitpunkt eine Einszu-eins-Umsetzung der aristotelischen Politik gewesen. Gegen eine solche platte Identifizierung spricht, dass Hegel sein Bild der antiken pólis und des »griechischen Geistes« aus einer Vielzahl von Quellen gewinnt. Neben zeitgenössischer Sachliteratur 37 bezieht sich Hegel
Z. B. greift Hegel in seinen Vorlesungen folgende zeitgenössische Übersichtswerke auf: Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, in vier Bänden, Leipzig 1810–12, Karl Otfried Müller, Geschichten hellenischer Stämme und Städte, in zwei Bänden, Breslau 1820–24, Johann Heinrich Meyer, Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen, in drei Bänden, Dresden
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auch auf eine Fülle antiker Autoren und zitiert beispielsweise Thukydides’ Peloponnesischen Krieg, Herodots Historien, Xenophons Memorabilien, Hellenika und Anabasis sowie die Vitae Philosophorum des Diogenes Laertius, die Noctes Atticae des Aulus Gellius, Plutarchs Viten und Strabons Geographie. Schließlich bilden auch Homer, Hesiod, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes und nicht zuletzt Platon eine wichtige Grundlage seiner Vorlesungen. Es darf mit einiger Gewissheit behauptet werden, dass Hegel über kein anderes Volk der Geschichte mit Ausnahme der Römer so umfassend und differenziert spricht wie über die antiken Griechen. Hegels Schilderungen der antiken pólis, der griechischen Kultur und ihrer Weltanschauung stützen sich daher keinesfalls ausschließlich auf Aristoteles, sondern erinnern eher an ein Mosaik, dessen Steine aus vielen verschiedenen Quellen stammen. Trotzdem nimmt Aristoteles für Hegel eine Sonderstellung unter seinen antiken Gewährsmännern ein. Die aristotelische Politik interessiert Hegel als eine philosophische Artikulation des griechischen Denkens. Somit ist für ihn Aristoteles mehr als nur ein Zeitzeuge oder Historiker, in dessen Werken sich die griechischantike Weltanschauung widerspiegelt. Vielmehr finden wir laut Hegel bei Aristoteles die Selbstverständlichkeiten seiner Zeitgenossen expliziert und reflektiert. Hegel bezeichnet Aristoteles als den »tiefsten und auch umfangreichsten Denker des Altertums« 38. Diese Formulierung kann gleichermaßen als genitivus subjectivus als auch als genitivus objectivus gelesen werden. Das heißt, dass Hegel Aristoteles nicht nur außerordentlich schätzt unter den antiken Autoren, sondern auch, dass Aristoteles in Hegels Augen sein Zeitalter in besonderem Maße begreift. Bei Aristoteles erfüllt die Philosophie ihre eigentliche Aufgabe, ihre »Zeit in Gedanken« zu erfassen, wie es von Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts in der berühmten Formulierung beschrieben wird: Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. 39
1824–36, Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie, in 11 Bänden, Leipzig 1789–1819. 38 Hegel, VPhGes S. 332. 39 Ders., GPhR S. 26.
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Aristoteles ist daher für Hegel – neben Platon – der paradigmatische Denker der griechischen Antike. Die aristotelischen Beschreibungen der Funktion und Struktur der pólis in der Politik dienen Hegel als theoretische Grundlage der wirklichen, historischen pólis. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich im Untergang der realen pólis die Grenzen der aristotelischen Politikauffassung offenbaren. In einem gewissen Sinn hält Hegel die antiken Griechen für Aristoteliker; freilich nicht als erklärte Anhänger irgendwelcher bestimmter Lehren, sondern in der Weise, dass Hegel den »griechischen Geist« bei Aristoteles in außerordentlicher Weise artikuliert sieht. Diese Engführung von aristotelischer Politik und Hegels Darstellung der historischen pólis können wir auch für jene Fälle annehmen, in denen Aristoteles die Ansichten und Verhaltensweisen seiner Landsleute ausdrücklich ablehnt. Beispielsweise verbirgt sich in der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven auch eine Kritik bestimmter Formen existierender Sklaverei. Aristoteles’ Rechtfertigung der Sklaverei in Politik I.4–6 bezieht sich nicht rein affirmativ-explizierend auf die Sklavenhaltung im antiken Athen. Mit der Unterscheidung zwischen dem phýsis-Sklaven, der aufgrund seiner geistigen Beschaffenheit berechtigterweise in der Sklaverei lebe, und dem nómos-Sklaven, dem zu Unrecht die Freiheit genommen worden sei, entwirft Aristoteles in Politik I.6 ein Vokabular, um bestimmte Verhältnisse als Herrschaftsmissbrauch zu brandmarken: »Daß nun also der ganze Streit einen gewissen Grund hat und daß nicht alle, die tatsächlich frei oder Sklaven, es auch von Natur sind, ist hiernach klar […].« 40 Obwohl Aristoteles seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen an dieser Stelle nur sehr zurückhaltend formuliert, 41 können wir seine Äußerungen so verstehen, dass er einige konkrete Fälle von Sklaverei in seinem Umfeld als ungerecht verwirft. Zumindest in Bezug auf diese Fälle – seien sie nun wenige Ausnahmen oder sogar die Mehrheit der historisch existierenden Sklaven in Athen – scheint zu gelten, dass die reale Institution der griechischen Sklaverei keine Umsetzung der aristotelischen Doktrin vom natürlichen Sklaven darstellt. Trotzdem untergräbt ein solches Auseinanderklaffen von aris-
Aristoteles, Pol. I.6, 1255b5 ff. So erläutert Aristoteles beispielsweise, dass auch Sklaverei aufgrund von Kriegsgefangenschaft nicht notwendigerweise ungerecht sei, sondern ebenfalls in die Kategorie der physís-Sklaverei falle, falls der Sieger dem Verlierer an Tugend überlegen und die Ursache des Krieges nicht ungerecht sei (Aristoteles, Pol. I.6).
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totelischen Ansichten und der Realität der pólis nicht die hier vorgestellte Interpretationsthese. Zum einen liegt dies daran, dass die aristotelische Kritik, anhand derer die Unterscheidung von nómos und physís entwickelt wird, in der Terminologie Jaeggis als interne Kritik verstanden werden kann. Dies bedeutet, dass Aristoteles mit seiner Doktrin vom natürlichen Sklaven nicht die griechische Institution der Sklaverei als solche angreift, sondern eben nur bestimmte Instanzen dieser Sklaverei. Das Weltbild und Wertesystem, auf das Aristoteles für seine Doktrin zurückgreift, entspricht im Großen und Ganzen dem Denken seiner Zeitgenossen. Aristoteles’ Kritik ist also deutlich weniger radikal, als es manche seiner modernen Apologeten sich wünschen. Er appelliert lediglich an die sittlichen Überzeugungen seiner Mitbürger, einen Machtmissbrauch zu vermeiden, der nach ihren eigenen Maßstäben als schlechtes Verhalten erkennbar ist. Zum anderen geht es in Hegels holistischem Ansatz der historischen Kritik nicht darum, die isolierte Umsetzung einzelner Theoriestücke in Praktiken und Institutionen zu prüfen, sondern um die Verwirklichung fundamentaler Überzeugungen und Normen in der Gesamtheit der Sittlichkeit eines Volkes. Für diese Methode ist es unerheblich, dass einige Institutionen der pólis nicht so beschaffen sind, wie Aristoteles dies gerne hätte. Stattdessen kommt es darauf an, dass das zugrundeliegende Selbstverständnis der Griechen, welches ihre Praktiken und Institutionen prägt, in wichtigen Hinsichten das gleiche Selbstverständnis ist, welches Aristoteles in seinen ethisch-politischen Schriften artikuliert. Die Tatsache, dass Aristoteles eine philosophisch fundierte Rechtfertigung der Sklaverei unter gewissen Umständen und mit gewissen Einschränkungen verfasst, zeigt uns jedenfalls, dass sein Menschenbild und seine Auffassung von Gerechtigkeit die Sklaverei nicht kategorisch ausschließen und in bestimmten Fällen sogar für gut und notwendig erklären. Somit ist dem aristotelischen Menschenbild eine unbedingte Würde des Einzelnen genauso fremd wie dem Alltagsverständnis der Griechen. Hegel deutet diesen Zusammenhang wie folgt: In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen; aber sie, wie auch die Römer, wußten nur, daß einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Dies wußten selbst Platon und Aristoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, ver-
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gängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen. 42
Dass es zwischen der gehobenen, philosophisch geordneten Fassung des »griechischen Geistes« bei Aristoteles und dem vulgären Vorverständnis seiner Mitbürger gewisse Unstimmigkeiten gibt, ist natürlich zu erwarten. Dieses Verhältnis zwischen einem unreflektierten und einem reflektierten Selbstbild führt uns Aristoteles beispielsweise in seinen Doxographien im ersten Buch der Nikomachischen Ethik vor, wo er die »Meinung der Vielen« (οἱ πολλοὶ) auf ihren vernünftigen Kern hin untersucht und in eine systematische Ordnung bringt. Auf diese Weise formuliert Aristoteles das Selbstverständnis seiner Mitbürger gewissermaßen besser, als es ihnen selbst möglich wäre, und wird deshalb von Hegel mit Recht als paradigmatischer Vertreter der Griechen herangezogen. Innerhalb der genannten Einschränkungen und mit der gebotenen Vorsicht können wir also, so die erste Arbeitsthese, Aristoteles’ Denken als eine ausgezeichnete Formulierung des »griechischen Geistes« bei Hegel verstehen. Die griechische pólis hingegen stellt für Hegel die objektive Verwirklichung dieses Geistes dar. Somit dürfen wir, erstens, Hegels Bemerkungen über die antike pólis als einen Kommentar zur politischen Philosophie des Aristoteles lesen – und demnach umgekehrt auch die aristotelische Politik heranziehen, um Hegels Erörterungen gegebenenfalls zu erhellen. Zweitens heißt dies, dass Hegels Schilderungen von Krise und Untergang der pólis uns in der Methode der historischen Kritik eine Unzulänglichkeit des aristotelisches Denkens offenbaren – eine Unzulänglichkeit, die laut Hegel unter anderem für die Zulässigkeit und sogar Notwendigkeit der Sklaverei bei Aristoteles verantwortlich ist.
II.2.2 Die Tugend als Prinzip des griechischen Geistes Zweite Interpretationsthese: Das Prinzip des griechischen Geistes ist für Hegel die Tugend. Seine Ausführungen über die griechische pólis sind daher auch ein Traktat über Tugend als Grundlage einer Gemeinschaft.
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Hegel, VPhGes S. 31, meine Hervorhebung, MP.
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In seiner philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte 43 ordnet Hegel allen weltgeschichtlich relevanten Völkern jeweils ein sogenanntes »Prinzip« zu, welches er auch die »Bestimmtheit des Geistes« oder »bestimmte Besonderheit« nennt. 44 Dieses Prinzip markiert für Hegel die Einheit und Eigentümlichkeit eines »besonderen Volksgeistes« 45. Die besondere Kultur eines Volkes, seine Religion, seine Sitten und Gebräuche, sein Politikverständnis, seine Kunst und Mythen, seine Selbst- und Weltwahrnehmung, aber auch seine Wissenschaften und Philosophie werden laut Hegel durch dieses Prinzip geprägt: Solches Prinzip ist in der Geschichte Bestimmtheit des Geistes – ein besonderer Volksgeist. In dieser drückt er als konkret alle Seiten seine Bewußtseins und Wollens, seiner ganzen Wirklichkeit aus; sie ist das gemeinschaftliche Gepräge seiner Religion, seiner politischen Verfassung, seiner Sittlichkeit, seines Rechtssystems, seiner Sitten, auch seiner Wissenschaft, Kunst und technischen Geschicklichkeit. Diese speziellen Eigentümlichkeiten sind aus jener allgemeinen Eigentümlichkeit, dem besonderen Prinzipe eines Volkes zu verstehen, so wie umgekehrt aus dem in der Geschichte vorliegenden faktischen Detail jenes Allgemeine der Besonderheit herauszufinden ist. 46
Das Prinzip der Bestimmtheit eines Volkes kennzeichnet also, welche geistigen Errungenschaften als besonders charakteristisch oder typisch für dieses Volk gelten, und erläutert zugleich, wie diese charakteristischen Eigenschaften zusammenhängen. Dieses besondere Prinzip eines Volkes kann daher als das vorherrschende Menschenbild im weiteren Sinn oder als die Weltanschauung einer Kultur verstanden werden. Zum Prinzip eines Volkes gehört beispielsweise seine Auffassung, wie ein gelungenes menschliches Leben aussieht, welche Rolle die Gemeinschaft für den Einzelnen in diesem Leben spielt und welche Ziele es für erstrebenswert hält. Die grundlegenden sittlichen Normen und Überzeugungen einer Kultur zählen ebenfalls zum Prinzip oder hängen direkt mit ihm zusammen, etwa die Vorstellungen von Gerechtigkeit und sittlichem Anstand. Auf diese Weise scheint das besondere Prinzip in nahezu allen Bereichen einer Lebensweise durch. Kunst, Literatur, Philosophie und Religion einer 43 44 45 46
Vor allem in den VPhGes und im dritten Teil der GPhR. Hegel, VPhGes S. 87. Ebd. Ebd.
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Epoche verleihen dem jeweiligen Menschenbild und den grundlegenden Überzeugungen einer Kultur ihren Ausdruck, die sich unter anderem auch in der rechtlichen und ökonomischen Ordnung niederschlagen. Für Hegel ist es daher möglich, beispielsweise ein Kunstwerk als typisch griechisch oder typisch römisch zu charakterisieren, weil sich in ihm das entsprechende Menschenbild widerspiegelt. Aber auch die Tätigkeit eines griechischen Handwerkers oder Bauern ist in diesem Sinne typisch griechisch, weil sie durch das Selbstverständnis und die politischen, ethischen und wirtschaftlichen Realitäten ihrer Zeit bedingt wird. Den Gedanken, dass »Verfassung, Religion, alles, was sich in einem Staate findet, eine Totalität ausmacht« 47, die durch ein entsprechendes Prinzip beschrieben wird, übernimmt Hegel aus Montesquieus De l’esprit de lois. Wie Montesquieu identifiziert auch Hegel die Tugend als das Prinzip der antiken Griechen. 48 Alternativ bezeichnet Hegel dieses Prinzip der Tugend auch als die »schöne sittliche Individualität«. Er nennt es »eine Sittlichkeit, welche der Individualität eingeprägt ist und somit das freie Wollen der Individuen bedeutet« 49. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erläutert Hegel das griechische Prinzip der Tugend folgendermaßen: Am Menschen ist die natürliche Seite das Herz, die Neigung, die Leidenschaft, die Temperamente; diese wird nun ausgebildet zur freien Individualität, so daß der Charakter nicht im Verhältnis zu den allgemeinen sittlichen Mächten, als Pflichten, steht, sondern daß das Sittliche als eigentümliches Sein und Wollen des Sinnes und der besonderen Subjektivität ist. Dies macht eben den griechischen Charakter zur schönen Individualität, welche durch den Geist hervorgebracht ist, indem er das Natürliche zu seinem Ausdruck umbildet. 50
Hegel legt für seine Untersuchung großen Wert auf die methodologische Feststellung, dass dieses Prinzip einer weltgeschichtlichen Kultur nicht einfach dogmatisch behauptet werden dürfe, etwa aufgrund von Vorurteilen oder einer abstrakt-allgemeinen Geschichtserzählung. Vielmehr müsse das charakteristische Prinzip durch sorgfältige Untersuchungen am historischen Material empirisch nachgewiesen
47 48 49 50
Hegel, VGPhil.III S. 304. Ders., VPhGes S. 307. Ebd., S. 137, vgl. auch GPhR § 353, S. 508. Ders., VPhGes S. 293.
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Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen
werden, so Hegels Forderung. 51 Hegel nutzt daher seine ausführlichen Vorlesungen zur griechischen Kultur und Geschichte, um ein möglichst umfassendes Bild des griechischen Denkens zu zeichnen, das seine These von der Tugend als Prinzip des griechischen Geistes belegt. Die Tugend zieht sich somit wie ein roter Faden durch Hegels Vorlesungen über die Griechen, nicht nur in den Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie, sondern auch in seinen Texten zu Religion, Recht, Kunst und Philosophie der Griechen. In diesen Erörterungen führt Hegel vor, wie eine Lebensweise gestaltet ist, in der alle Bereiche durch die Tugend geprägt sind. Das Ideal der Tugend zeigt sich beispielsweise in der griechischen Staatsauffassung, nach der ein guter Staat seinen Bürgern ein gelungenes, das heißt tugendhaftes Leben ermöglicht. Die griechischen Gesetze der pólis sind daher erzieherisch angelegt. Sie zielen darauf, ihre Bürger tugendhaft zu machen. 52 Der beste Staat ist zum Beispiel für Aristoteles derjenige, der von dem Tugendhaftesten regiert wird. 53 Ein Sittenverfall hingegen bedeutet für die Griechen eine Staatskrise. Die pólis, in der die Tugend nicht mehr herrscht, ist in ihren Augen zum Untergang verdammt. Auf drastische Weise kommt diese Auffassung im Gerichtsprozess gegen Sokrates zum Tragen: Der Vorwurf der Anklage, Sokrates verderbe die Jugend, benennt ein Vergehen, das für die Griechen die Existenzgrundlage ihrer Gemeinschaft angreift. Es ist nach griechischem Verständnis gleichwertig zu Hochverrat und wird dementsprechend mit dem Tod bestraft (siehe Teil VI). Eine liberale Vorstellung wie Mandevilles private vices, public benefits ist in diesem Weltbild undenkbar. In die aretokratische Ideologie der Griechen fügt sich auch Aristoteles’ Figur des natürlichen Sklaven konsequent ein: Die Griechen verstehen ihre pólis als Gemeinschaft der Tugendhaften, die auf der Grundlage der Tugendnormen miteinander kooperieren. Alle Menschen, die nicht im vollen, griechischen Sinn tugendhaft sind, werden in einer solchen Gemeinschaftsform an den Rand gedrängt. Im extremen Maße betrifft diese Ausgrenzung den sogenannten natürlichen Sklaven, der als gänzlich unfähig zur Tugend
Vgl. Hegel, VPhGes S. 87: »Daß eine bestimmte Besonderheit in der Tat das eigentümliche Prinzip eines Volkes ausmacht, dies ist die Seite, welche empirisch aufgenommen und auf geschichtliche Weise erwiesen werden muß.« 52 Vgl. z. B. Aristoteles, NE X.10. 53 Vgl. Aristoteles, Pol. III.13 und Hegel, VGPhil.II S. 228. 51
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
betrachtet wird. Er kommt für die Griechen nicht als ebenbürtiger Kooperationspartner in Frage. Ihm wird jegliche Form der sozialen Anerkennung verweigert, so dass er praktisch auf einer Stufe mit den Haustieren steht (siehe Teil I). Im Bereich des Politischen bedeutet die Redeweise von der Tugend als Prinzip folglich, dass die Tugend das Anerkennungskriterium der Kooperationsgemeinschaft ist und alle sozialen Institutionen und Praktiken nach den Maßgaben der Tugend strukturiert sind. Das Ziel einer solchen Gemeinschaft ist die Verwirklichung der Tugend im Zusammenleben. Wert und Verdienst eines Menschen werden in ihr nach seiner Tugendhaftigkeit bemessen. Sogar in der griechischen Religion und Mythologie regiert laut Hegel die Tugend als übermächtiger Maßstab, so dass der tugendhafte Heroe einen höheren Status einnehme und größere Verehrung genieße als die olympischen Götter selbst. 54 Die einzelnen Vorlesungstexte Hegels zu den Griechen verfolgen daher in der Regel einen doppelten Zweck: Auf einer ersten Ebene bespricht Hegel ein konkretes historisches Phänomen, etwa die Entwicklung der griechischen Tragödien als Kunstform, 55 den religiösen Mythos vom Kampf der Titanen gegen die Götter 56 oder den militärischen Sieg der Griechen über die Perser bei den Thermopylen und Salamis. 57 Ziel dieser Erörterungen ist es zunächst, seinen Hörern das entsprechende konkrete Phänomen der griechischen Geschichte näher zu bringen, und zwar beispielsweise als Thema der Ästhetik, Religionswissenschaft oder der Geschichtsschreibung. Auf einer weiteren Ebene trägt ein großer Teil dieser Erörterungen jedoch zur systematischen Diskussion der Tugend als politisches Prinzip bei, etwa, wenn Hegel erläutert, dass die militärische Überlegenheit der Griechen auf die größere Effektivität einer Tugend-Kooperation im Gegensatz zur Gewaltherrschaft der Perser zurückzuführen war:
Hegel erläutert diese Vorrangstellung des Tugendhaften in der griechischen Religion am Beispiel des Herakles in VPhRel.II S. 108: »Er ist [sic] menschlicher Individualität, hat es sich sauer werden lassen; durch seine Tugend hat er den Himmel errungen. Die Heroen daher sind nicht unmittelbar Götter; sie müssen erst durch die Arbeit sich in das Göttliche setzen. […] So steht die geistige Individualität der Heroen höher als die der Götter selbst; sie sind, was die Götter an sich sind, wirklich, die Betätigung des Ansich, und wenn sie auch in der Arbeit ringen müssen, so ist dies eine Abarbeitung der Natürlichkeit, welche die Götter noch an sich haben.« 55 Z. B. in Hegel, VÄsth.II, S. 33 ff. 56 Z. B. in ders., VPhRel.II, S. 108 f. 57 Ders., VPhGes S. 274 und S. 313 ff. 54
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Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen
Es standen gegeneinander der orientalische Despotismus, also eine unter einem Herrn vereinigte Welt, und auf der andern Seite geteilte und an Umfang und Mitteln geringe Staaten, welche aber von freier Individualität belebt waren. Niemals ist in der Geschichte die Überlegenheit der geistigen Kraft über die Masse, und zwar über eine nicht verächtliche Masse, in solchem Glanze erschienen. 58
Hegels Vorlesungen verlangen daher nach einer Lesart des »mehrfachen Schriftsinn«, bei dem die Themen und Ereignisse auch in ihrem anagogischen Sinn verstanden werden, der auf die Struktur und Entwicklung des Prinzips der Tugend hinweist. Diese anagogische Ebene der Vorlesungen illustriert, wie eine Gemeinschaft auf der Grundlage der Tugend möglich ist und welche Eigenarten sie notwendigerweise ausprägt. Die Vorlesungen über die Griechen können daher, so die zweite Interpretationsthese, als ein philosophisch-systematischer Traktat zur Tugend als politisch-sittliches Prinzip gelesen werden. Die institutionellen Strukturen der pólis, wie sie von Hegel geschildert werden, tragen die Eigenschaften einer Kooperationsgemeinschaft, in der die Normen wesentlich als Tugendnormen gedacht werden. Die begriffliche Beschaffenheit der Tugend spiegelt sich in der institutionellen Beschaffenheit der griechischen pólis wider (siehe hierzu auch Teil III und IV). Indem Hegel die griechische pólis wesentlich als eine praktische und institutionelle Verwirklichung der Tugend begreift, liefern ihm die Krise der griechischen pólis im Peloponnesischen Krieg und schließlich ihr weltgeschichtlicher Bedeutungsverlust nach der Eroberung Griechenlands durch die Makedonier das erforderliche Anschauungsmaterial für eine historisch-immanente Kritik der Tugend (siehe Kapitel II.1.3). Hegel versteht den Untergang der griechischen pólis als eine Notwendigkeit, die sich aus den begrifflichen Unvollkommenheiten der Tugend ergibt. Er nutzt das historische Geschehen als Diagnoseinstrument, um die begrifflichen Mängel der Tugend aus den institutionellen Dysfunktionalitäten und der Krise griechischer Selbstverständlichkeiten herauszulesen. Wie ich im vorigen Abschnitt II.2.1 mit der ersten Interpretationsthese festgestellt habe, gehe ich davon aus, dass Hegel das Weltbild und Denken der antiken Griechen hauptsächlich aristotelisch versteht. Dementsprechend nehme ich an, dass er den Begriff der Tugend, den er zum Prinzip des griechischen Geistes erklärt, in gro58
Ebd., S. 315.
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
ben Zügen mit einem aristotelischen Begriff der Tugend gleichsetzt. Diese Annahme ist mit einem Körnchen Salz zu lesen: Hegels Bild der antiken Griechen speist sich aus vielen Quellen. Seine Vorstellung der griechischen Tugend zeigt daher Einflüsse von Platon bis Thukydides, aber auch die Vorstellungen späterer Autoren, beispielsweise aus dem christlichen Neuplatonismus, aus der Aufklärung und der Romantik spielen eine gewisse Rolle und färben Hegels Bild der antiken Tugend ein. 59 Trotz dieser vielfältigen Einflüsse gibt es bei Hegel deutliche Hinweise, dass Aristoteles sein wichtigster Referenzautor für die griechische Tugend ist. Hegel übernimmt hierbei zwar nicht alle Details der aristotelischen Darstellung zur Tugend, 60 sondern beschränkt sich auf den vergleichsweise abstrakt-allgemeinen Begriff der »schönen Individualität«, der hinreichend weit gefasst ist, so dass darunter auch die Konzepte anderer Autoren fallen können. Dennoch ist dieser Begriff in seinen Umrissen aristotelisch: Dies zeigt sich zum einen dadurch, dass Hegel den Begriff der griechischen Tugend ausdrücklich von den späteren Konzepten der Stoa und demjenigen der Aufklärung abgrenzt, der die ideologische Grundlage von Robespierres Tugendregime bildet. 61 Ebenfalls übernimmt Hegel auch die aristotelische Kritik an der sokratisch-platonischen Gleichsetzung der Tugend mit intellektueller Einsicht und erläutert, dass zum Begriff der Tugend neben dem Moment der Vernunft auch »die alogische Seite der Seele« gehört. 62 Zum anderen verraten nicht nur diese Abgrenzungen die Nähe von Hegels Begriff der griechischen Tugend zu Aristoteles’ Begriff der Tugend, sondern auch eine Reihe inhaltlicher Festlegungen, die Hegel in seinen Vorlesungen trifft. Hegel greift in seiner Beschreibung der griechischen Tugend und seiner Auseinandersetzung mit ihr häufig ausdrücklich oder implizit auf aristotelische Argumente zurück, wie ich im weiteren Verlauf dieser Vgl. Ferrarin (2001), S. 39. Alfredo Ferrarin hält diese jüngeren Einflüsse sogar für derart prägend, dass er vermutet, Hegels Auseinandersetzung mit dem griechischen politischen Denken richte sich vornehmlich gegen neuzeitliche Auffassungen (siehe ebd., S. 349). Ihm widerspricht z. B. Ludwig Siep, der Hegels Bezüge auf die Griechen für wesentlich akkurater und eindeutiger als Ferrarin hält (Siep (2008), S. 278). 60 Beispielsweise klammert Hegel die aristotelische Mesotes-Lehre aus, die für ihn nicht wesentlich zur aristotelischen Begriffsdefinition der Tugend gehört. Vgl. Hegel, VGPhil.II S. 224: »Dieses scheint keine bestimmte Definition zu sein, und es wird eine bloß quantitative Bestimmung, eben weil nicht bloß der Begriff das Determinierende ist, sondern auch die Seite des Empirischen darin ist.« 61 Vgl. Hegel, PhG S. 156 ff. und S. 283 ff. 62 Ders., VGPhil.II S. 223. 59
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Arbeit immer wieder nachweisen werde. An dieser Stelle werde ich nur in aller Kürze die wichtigsten Elemente nennen, die Hegels Begriff der griechisch-aristotelischen Tugend im Großen und Ganzen charakterisieren: Erstens versteht Hegel die Normen der griechischen Tugend als wesentlich auf den Charakter bezogen. Sie bilden einen Standard der Güte, der nicht nur die äußere, isolierte Handlung betrifft, sondern auch Haltung und Affektstruktur des Handelnden. Tugenden werden daher durch Habitualisierung erworben, sie erfordern einen ausgedehnten Lernprozess und sind Gegenstand der Erziehung. Zweitens orientieren sich die Tugenden am Begriff der eudaimonía, dem gelungenen menschlichen Leben eines Einzelnen und dem Zusammenleben in der Gemeinschaft. Mit dieser Ausrichtung auf den Begriff des gelungenen Lebens ist verbunden, dass die Tugenden nicht allein als Charaktereigenschaften und Handlungsdispositionen verstanden werden, sondern zugleich die Fähigkeit zum guten Handeln sind. Dies bedeutet, dass die griechische Tugend beispielsweise im Gegensatz zur Tugend der Stoa eine sogenannte »Erfolgsdimension« (Halbig) besitzt, die auf das Bewirken eines äußeren Zwecks zielt. Die griechische Tugend beschränkt sich nicht auf eine gute Gesinnung, sie ist laut Hegel vielmehr eine »sittliche Virtuosität« 63. Drittens erschöpfen sich die griechischen Tugendnormen nicht in moralisierenden Forderungen, sondern sind direkt in den sozialen Rollen und Institutionen der pólis verwirklicht. Die Tugend ist den griechischen Bürgern »Sitte und Gewohnheit« 64. Folglich strukturieren die Tugendnormen die griechische Kooperation und bestimmen das Zusammenleben. Zugleich sind sie mit der sozialen Identität der Bürger verschmolzen, die Bürger definieren ihr Selbstbild durch ihre Tugend. Viertens schließlich glauben die Griechen an die Objektivität ihrer Tugendnormen. Sie betrachten die Tugendnormen als geteilte, öffentlich verfügbare Standards, auf die sich jedes kompetente Mitglied der Gemeinschaft gleichermaßen beziehen kann. Somit gehen Hegels Griechen davon aus, dass jeder hinreichend fähige Bürger die Tugendnormen kennt und anwenden kann. Insbesondere gehört zum griechischen Glauben an die Objektivität die Annahme, dass die Tugendnormen mit gleichem Recht drittpersonal wie auch erstpersonal 63 64
Ders., GPhR Zusatz zu § 150, S. 300. Ders., VPhGes S. 308.
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angewendet werden können. Dies bedeutet, dass der Tugendhafte idealerweise nicht nur fähig ist, in einer konkreten Situation die angemessene Handlung zu wählen, sondern auch die Tugendhaftigkeit oder Lasterhaftigkeit von Handlungen anderer Subjekte beurteilen kann. Gerade an dieser vierten Eigenschaft der Tugend, ihrer vermeintlichen Objektivität setzt Hegels historisch-immanente Kritik an und entlarvt sie als ein hochproblematisches Fehlverständnis von Normativität, wie ich im Verlauf dieser Arbeit zeigen werde (siehe Teile V und VI). Allerdings ist die Annahme der Objektivität der Tugend zugleich eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Tugend überhaupt als politisches Prinzip etabliert werden kann: Nur wenn die grundlegenden Normen einer Gemeinschaft für alle Kooperationsteilnehmer zugänglich sind und sie sich in ihren Handlungen gegebenenfalls auch gegenseitig korrigieren können, schaffen diese Normen die Einheit der Gemeinschaft und geben einen stabilen Maßstab für das Handeln vor. Es sind zwar durchaus Tugendethiken möglich, die auf diese vierte Eigenschaft verzichten und somit gegen Hegels historisch-immanente Kritik der griechischen Tugend immun sind. In solchen Ethiken kann die Tugend allerdings nur noch als erstpersonale Norm auftreten, die dem handelnden Subjekt Orientierung für seine Lebensführung bietet. Ihre Geltung bleibt dann aber auf diese Perspektive beschränkt. Die Beachtung solcher rein erstpersonalen Tugendnormen kann beispielsweise nicht mehr vom Gegenüber eingefordert werden, weshalb sie auch keine Grundlage einer gemeinsamen Kooperation bilden können (siehe vor allem Kapitel VI.6). Während bei vielen modernen Tugendethiken offen bleibt, ob sie von objektiven Normen ausgehen, ist für Aristoteles die Objektivität notwendig, damit die Tugend als Grundlage der pólis-Gemeinschaft dienen kann. Als fünfte Eigenschaft schreibt Hegel der griechischen Tugend zu, dass ihre Normen wesentlich als selbstbewusste und selbstbestimmte Normen verstanden werden. Die griechische Tugendethik ist nach dieser Auffassung eine Ethik der Freiheit und Autonomie. Diese Behauptung scheint mir einerseits diejenige zu sein, die in der philosophischen Literatur auf den größten Widerstand trifft, andererseits halte ich sie für zentral für Hegels Verständnis der Griechen und des Aristoteles. Angesichts dieses Widerstreits gehe ich auf diese Eigenschaft im nächsten Abschnitt II.2.3 mit der dritten Interpretationsthese ausführlicher ein.
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Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen
II.2.3 Selbstbestimmung und Tugend Dritte Interpretationsthese: Hegels Griechen erkennen ihre Tugendnormen als Normen der Selbstbestimmung. Die dritte Interpretationsthese widerspricht einem gängigen Schema der Ideengeschichte, dem zufolge Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie zum Paradigma der modernen politischen Philosophie und Ethik gehören, während das antike Paradigma durch die Vorstellung einer natürlichen Ordnung bestimmt werde. 65 Nach diesem Schema gehen antike Denker wie Platon und Aristoteles davon aus, dass die praktischen Normen unseres Handelns und Zusammenlebens nicht vom Menschen selbst gesetzt werden, sondern Teil einer teleologisch strukturierten Ordnung der Natur seien, die durch Kontemplation erkannt werden könne. Dementsprechend dachten die Menschen der Antike – und je nach Zuschnitt des Schemas reicht diese Denkweise noch bis zum Ende des Mittelalters –, dass derjenige gut handle, der die von der Natur vorgegebenen Normen des Mensch-Seins erfülle. Mit der Moderne vollziehe sich allerdings ein Bruch mit dem antik-mittelalterlichen Glauben an eine natürliche Ordnung, so das gängige Schema. Die Welt werde entzaubert, an die Stelle eines teleologisch geordneten Kosmos trete die Vorstellung eines kausalgesetzlich beschreibbaren Universums. Der moderne Mensch sehe sich als vernünftiges Subjekt, welches kategorial von der Natur getrennt sei. 66 Demnach finde der Mensch die Normen seines Handelns auch nicht in der Welt vor, sondern schaffe sie sich selbst. Aus diesem Grund werde der zentrale antike Begriff der Natur durch die modernen Begriffe der Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung ersetzt. 67 Gemäß dieser Dichotomie zwischen Antike und Moderne könne die aristotelische Tugend nicht auf Normen der Selbstbestimmung beruhen, sondern sei ein heteronomer Standard, der durch die Natur des Menschen festgelegt werde. Offenbar ist dieses dichotomische Schema der Ideengeschichte derart zu einer Selbstverständlichkeit geronnen, dass auch zahlreiche Interpreten dieselbe Zweiteilung in Hegels Weltgeschichte wiederVgl. z. B. Franco (1999), S. 2: »Whereas modern political philosophy begins, ends, and is animated throughout by the idea of freedom, ancient political philosophy takes its bearings from the idea of a natural order discernible by reason to which human beings ought to conform.« 66 Vgl. Taylor (1975), Kapitel III. 67 Franco (1999), Chapt. 1, vgl. auch Hösle (1996) und MacIntyre (1981). 65
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zufinden glauben. Albrecht Wellmer beispielsweise deutet Hegels Darstellung der antiken Griechen als Beschreibung einer »irreduzibel dogmatischen« Gemeinschaft, die kritiklos an den »mythologischen Grundlagen« ihres Weltbildes festhalte: Die konkrete Sittlichkeit der griechischen Polis ist die einer traditionalen Gesellschaft, die »den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität des Willens, noch nicht in sich« hat. Die Grenzen rationaler Selbstverantwortung in der griechischen Polis, bezeichnen zugleich einen irreduzibel dogmatischen Charakter der griechischen Sittlichkeit; die mythologischen Grundlagen der griechischen Welt- und Selbstdeutung, der griechischen Demokratie, sind noch nicht zum möglichen Gegenstand rationaler Kritik geworden. Der dogmatische oder konventionelle Charakter der griechischen Sittlichkeit ist die Bedingung ihrer exemplarischen Schönheit. 68
Diese Lesart ist allerdings in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen ignoriert sie eine Reihe von Hinweisen in Hegels Texten, nach denen Hegel den Begriff der Freiheit – den ich im Folgenden als Oberbegriff für Selbstbestimmung und Autonomie verwende – von Anfang an als den zentralen Begriff der Geschichte des Geistes bestimmt (s. u.). Zum anderen führt diese Lesart dazu, dass sie Hegels Kritik der antiken Tugend äußerst verflacht. Im dichotomischen Schema erscheint die aristotelisch-griechische Auffassung der Tugend als ein naiver Realismus, demzufolge die praktischen Normen des MenschSeins einfach in der Welt vorgefunden werden können, so wie wir auch die biologischen Normen der Gesundheit eines Wildpferdes durch Naturbeobachtung erfassen können. Ein solches Verständnis von Normativität müssen wir allerdings schlechtweg verwerfen, so Hegel, weil es den Menschen als geistiges Wesen verkennt, der »nur das [ist], zu was er sich selbst macht« 69. Mit anderen Worten: Für den Menschen sind nur diejenigen Handlungsnormen verpflichtend, deren Geltung er für sich anerkennt. Ein naiver Realismus, der diese Einsicht in die menschliche Autonomie ignoriert, versteht weder die Grundzüge vernünftigen Handelns noch das Wesen praktischer Normen. Mit der dritten Interpretationsthese nehme ich allerdings an, dass Hegel Aristoteles und den antiken Griechen keinen solchen naiven Realismus zuschreibt – anders als es das dichotomische Schema 68 69
Wellmer 1993, S. 25. Hegel, VPhGes S. 75.
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vermutet. Stattdessen gehe ich davon aus, dass Hegel den Griechen ein Verständnis von Selbstbestimmung und die grundlegende Einsicht in die menschliche Autonomie zuspricht. Hegel zufolge haben sich die Griechen als »Geist« erkannt. Ihre Tugendnormen betrachtet er demnach als Normen der Freiheit, die durch einen selbstbestimmten Akt geschaffen werden und nicht bloß durch Kontemplation eingesehen werden. Diese Lesart erlaubt Hegel eine deutlich anspruchsvollere Kritik: Die griechische Tugend wird nicht schon im Ansatz verworfen, wie es mit einem naiven Realismus geschehen würde, sondern sie muss als ein Verständnis der Selbstbestimmung aufgefasst werden und als solches differenziert kritisiert werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass wir modernen Leser uns nicht schon deshalb gegenüber Aristoteles überlegen fühlen dürfen, nur weil wir Autonomieethiker sind. Stattdessen muss genau geprüft werden, in welcher Hinsicht die aristotelische Auffassung von Selbstbestimmung fehlgeht – und ob wir mit einem allzu schlichten Autonomieverständnis nicht einen ähnlichen Irrtum begehen. Somit können wir durch Kritik der griechisch-aristotelischen Tugend eine vielschichtigere, angemessenere Auffassung von Selbstbestimmung gewinnen. Diese Arbeit leistet Hegel mit seiner Untersuchung des griechischen Prinzips, so die Vermutung meiner dritten Interpretationsthese. Textliche Hinweise, die für meine dritte Interpretationsthese sprechen, finden wir bereits in der Einleitung zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Dort stellt Hegel fest, dass die Freiheit von Anfang an das Prinzip der Entwicklung der Weltgeschichte und die eigentlich treibende Kraft hinter grundlegenden sozialen Veränderungen ist: »Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar.« 70 Dabei darf die historische Entwicklung nicht etwa als eine Entwicklung zur Freiheit hin verstanden werden, sondern stellt eine Entwicklung der Freiheit selbst dar, von den unausgereiften Anfängen staatlicher Gemeinschaften hin zum modernen Rechtsstaat. Die Evolution des Bewusstseins der Freiheit skizziert Hegel wie folgt: Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist, aber ebendarum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Dumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit der70
Ebd., S. 77.
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selben, die selbst nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann. – In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen; aber sie, wie auch die Römer, wußten nur, daß einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Dies wußten selbst Platon und Aristoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen. – Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als Mensch frei [ist], die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht. 71
Schon auf der ersten Stufe, der sogenannten »orientalischen Welt« verortet Hegel eine gewisse Auffassung von Selbstbestimmung. Auf dieser Stufe tritt das Bewusstsein der Freiheit allerdings vor allem in dem Bewusstsein eines Konflikts des individuellen Wollens mit dem Handeln in Gemeinschaft auf. Die Autonomie des Einzelnen scheint der Notwendigkeit von Gemeinschaft zu widersprechen. Demnach ist in Hegels »Orient« Kooperation nur auf der Grundlage von Gewalt und Unterwerfung möglich. Die einzige Form von Freiheit ist die primitive Willkürfreiheit des Despoten. Auf der nächsten Stufe der Weltgeschichte gelingt den Griechen Hegel zufolge ein begrifflicher, politischer und kooperationstheoretischer Durchbruch: Ihnen sei »das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen« und sie seien daher als erstes Volk der Menschheitsgeschichte »frei gewesen«. Die antiken Griechen versöhnen die individuelle Autonomie mit dem Leben in Gemeinschaft. Sie erkennen, dass gemeinschaftliche und individuelle Selbstbestimmung nicht nur vereinbar sind, sondern sich, richtig verstanden, gegenseitig bedingen: Wirkliche Autonomie kann der Einzelne nur in einer Gemeinschaft erlangen. Zugleich kann nur diejenige Gemeinschaft im vollen Sinne selbstbestimmt genannt werden, die ihren Mitgliedern die individuelle Selbstbestimmung ermöglicht (siehe Kapitel III.1). In den Institutionen und Praktiken der pólis setzen die antiken Griechen diese Einsicht um. Sie schaffen eine vergleichsweise stabile Kooperationsform, in der die Teilnehmer nicht durch äußere Gewalt oder internalisierten Zwang zum gemeinsamen Handeln diszipliniert werden, sondern die auf Praktiken der gemeinsamen Selbstbestimmung beruht. Der Schlüsselbegriff für 71
Ebd., S. 31.
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diesen griechischen Ansatz der Versöhnung individueller und gemeinschaftlicher Freiheit ist die Tugend. Nach griechischer Auffassung schafft der Begriff der Tugend ein gehaltvolles Verständnis von Selbstverpflichtung, das dem Einzelnen ein vernünftiges, selbstbestimmtes Handeln ermöglicht, in dem er sich langfristig affirmativ zu seinem Wollen verhalten kann und in dem er seine eigenen, selbstgesetzten Maßstäbe verwirklicht. Für die Gemeinschaft wiederum bietet die Tugend ihrer Mitglieder zum einen die Fähigkeit, miteinander einen Konsens über die geteilten Standards auszuhandeln, und zum anderen stellt die Tugend des Einzelnen eine Berechtigung dar, ihn als legitimen Vertreter der Gemeinschaft anzuerkennen, ohne dass dadurch die Mitbestimmung der übrigen Subjekte beschnitten wird. Um Hegels Darstellung der griechischen pólis und ihres Prinzips der Tugend angemessen zu verstehen, muss sie folglich innerhalb des Entwicklungsbogens der Freiheit eingeordnet werden, den Hegel für seine Weltgeschichte aufspannt. Dies bedeutet aber, dass die griechische Tugend als ein Bewusstsein der Freiheit verstanden werden muss, als Lösungsansatz für das begriffliche und kooperationstheoretische Problem der individuellen und gemeinschaftlichen Selbstbestimmung. Für eine solche Lesart ist es jedoch nötig, Hegels Bemerkungen ernst zu nehmen, nach denen die Tugendnormen den Griechen nicht als vorgefundene natürliche Normen begegnen, sondern von ihnen selbst geschaffen sind. 72 Die Tugendnormen der Griechen sind geistig, nicht natürlich. Hegels Griechen sind frei, weil sie ihre Lebensweise in einem emphatischen Sinn als ihr eigenes Erzeugnis erkennen. Hegel bezeichnet daher die griechische Sittlichkeit, die Institutionen der pólis und sogar die freie Individualität der Griechen als »Kunstwerk«. 73
Bezeichnenderweise finden wir in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auch die Vorstellung einer natürlich-teleologisch fundierten sozialen Ordnung. Anders als die dichotomische Auffassung schreibt Hegel diese Vorstellung aber nicht den antiken Griechen zu, sondern sieht sie vielmehr im indischen Kastensystem verwirklicht. Für Hegel ist das Kastensystem jedoch gleichbedeutend mit einer Kooperation auf der Grundlage eines internalisierten Zwangs. Vgl. Hegel, VPhGes, S. 84: In den Kasten werden soziale Unterschiede zu »Naturbestimmungen […] versteinert«. Daher fehle bei den Indern »die Freiheit sowohl als an sich seiender Wille wie auch als subjektive Freiheit.« Der »eigentümliche Boden des Staats, das Prinzip der Freiheit [ist] gar nicht vorhanden« (ebd., S. 201). 73 Vgl. ebd., S. 295, S. 298 und S. 306. 72
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In gleicher Weise kann auch Hegels Kritik an der pólis und der griechischen Tugend nur sinnvoll rekonstruiert werden, indem sie als Kritik an einem bestimmten Verständnis der Selbstbestimmung aufgefasst wird. Die »schöne Freiheit« der Griechen ist zwar eine Form der Freiheit, allerdings krankt sie an gewissen Missverständnissen, die dazu führen, dass die Selbstbestimmung in der pólis nur eine »zufällige, vergängliche und beschränkte Blume« sein kann. 74 Drei zentrale Beispiele, die Hegel in seinen Vorlesungen für die Beschränkungen der griechischen Freiheit nennt und auf die ich im Verlauf dieser Arbeit an mehreren Stellen zurückkommen werde, sind die Existenz der Sklaverei, die beschränkte Größe der Stadtstaaten und die Angewiesenheit der Griechen auf Orakelsprüche. 75 Bei diesen Beschränkungen handelt es sich nicht etwa nur um institutionelle Schwächen, kontingente Irrtümer oder einen dogmatischen Aberglauben, wie etwa die dichotomische Lesart vermutet. Stattdessen resultieren sie direkt aus dem griechischen Missverständnis der Selbstbestimmung und beschneiden diese Selbstbestimmung empfindlich: Die Sklaverei zeigt die Bedingtheit der individuellen Selbstbestimmung, die bei den Griechen an den Besitz bestimmter, kontingenter Fähigkeiten geknüpft ist. Die Größenbeschränkung der pólis verrät, dass die griechische selbstbestimmte Kooperation nur durch die persönliche Vertrautheit ihrer Gemeinschaftsmitglieder sowie bei vergleichsweise homogenen Ansichten und Interessen funktioniert. Die Angewiesenheit auf Orakel deutet schließlich darauf hin, dass auch der Tugendhafte, obwohl er nach der Ansicht der Griechen die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln besitzt, nur eingeschränkt Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen vermag (siehe vor allem Kapitel V.2). In diesen Beschränkungen verrät sich also die Unangemessenheit der Tugend als Prinzip der Selbstbestimmung. Um diesen Zusammenhang zu sehen, müssen wir jedoch zuerst mit Hegel die griechischen Tugendnormen als eine Variante selbstbestimmter Normen auffassen, wie es die dritte Interpretationsthese vornimmt. Angesichts der Verbreitung der dichotomischen Auffassung in der Ideengeschichte mag Hegels Lesart, die die aristotelische Tugendethik als eine Ethik der Selbstbestimmung deutet, unorthodox erscheinen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, neben der Rekonstruktion von Hegels Lesart zusätzlich noch mit philologisch74 75
Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 310–312.
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Drei Interpretationsthesen zu Hegels Griechen
exegetischen Mitteln zu zeigen, dass diese Lesart Aristoteles auf angemessene Weise wiedergibt. Es gibt allerdings einige systematischphilosophische Gründe, die empfehlen, Hegel zunächst einmal beim Wort zu nehmen und seiner Deutung der griechisch-aristotelischen Tugend als Norm der Selbstbestimmung zu folgen: Der erste Grund ist die bereits angesprochene Möglichkeit einer anspruchsvolleren Kritik. Für Hegel ist die griechische Tugend vor allem deshalb interessant, weil sich an ihr ein begriffliches Missverständnis der Selbstbestimmung zeigen lässt. Eine Auseinandersetzung mit ihr hat somit für ihn den besonderen Wert, dass wir aus dem Scheitern der griechischen Selbstbestimmung etwas für unser eigenes Konzept lernen können. Die Zuschreibung eines naiven Realismus durch die dichotomische Interpretation erlaubt keinen derartigen Erkenntnisgewinn. Hegels Lesart hat also den Vorteil, eine möglichst wohlwollende Interpretation der griechisch-aristotelischen Tugend anzubieten, die zugleich eine gehaltvolle Kritik erlaubt. Zweitens spricht für Hegels Deutung, dass sie uns hilft, die Selbstbewusstseinsbedingung der Tugendnormen zu erläutern (siehe Teil I.4). Aristoteles zufolge sind Tugendnormen selbstbezüglich, das heißt, eine Handlung gilt nicht bereits dann schon als tugendhaft, wenn sie äußerlich oder zufällig der Norm entspricht, sondern erst, wenn der Tugendhafte bewusst und vorsätzlich mit seiner Handlung einer Norm folgt. 76 Tugendhaftes Handeln ist also selbstbewusstes Handeln. Handlungen im Zustand paradiesischer Unschuld erfüllen diese Bedingung nicht. Auf diese Weise sind Tugendnormen beispielsweise gegenüber bloß biologischen Normen der Gesundheit ausgezeichnet, denn ein Lebewesen gilt unabhängig von der Frage als gesund oder krank, ob ihm etwa die Funktionsweise seines Herzens bekannt und bewusst ist. Solange wir die Tugendnormen wie die dichotomische Lesart nur als natürlich-vorgefundene Normen ansehen, erscheint die Selbstbewusstseinsbedingung wie eine zusätzliche und kontingente Bedingung. Es bleibt unklar, weshalb eine Handlung schlechter sein sollte, allein weil das handelnde Subjekt sich nicht bewusst auf diese Normen bezieht. Begreifen wir die Tugendnormen jedoch mit Hegel als selbstbestimmte Normen, das heißt als Normen, auf die das Subjekt sich selbst verpflichtet hat, wird die Notwendigkeit dieser Bedingung deutlich: So wie beispielsweise ein Vgl. Aristoteles NE, 1108a30–35: Eine tugendhafte Handlung muss »wissentlich« (εἰδώς) und »vorsätzlich« (προαιρούμενος) geschehen.
76
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
Versprechen nur dann im vollen Sinn als erfüllt gilt, wenn ich die versprochene Handlung nicht zufällig tue, sondern sie bewusst als Erfüllung des Versprechens ausführe, so handle ich auch nur dann im vollen Sinn selbstbestimmt, wenn ich weiß, dass ich mit meiner Handlung meine eigenen Normen erfülle. Hegels Deutung der Tugendnormen klärt uns somit über den Zusammenhang der Bedingungen tugendhaften Handelns bei Aristoteles auf. Drittens schließlich lässt sich die Bedeutung der griechischen Sklaverei und der aristotelischen Doktrin des natürlichen Sklaven erst durch den Kontrast zur Freiheit der griechischen Bürger wirklich erfassen. Nur weil die antiken Griechen sich selbst und ihre Gemeinschaft als selbstbestimmt verstehen, wird das Verhältnis der Sklaverei außergewöhnlich und es wird verständlich, weshalb Aristoteles glaubt, eine besondere Rechtfertigung dafür vorbringen zu müssen. In einer Lebensweise hingegen, in der sich alle entweder in ihre Stellung fügen, weil sie an eine natürliche Ordnung glauben, oder in der jeder durch Zwang der Willkür des Herrschers unterworfen ist, verschwindet der Gegensatz zwischen Freien und Sklaven. Der vermeintlich freie Untertan handelt gleichermaßen fremdbestimmt wie der Sklave. In gewisser Weise haben daher Hegels Griechen nicht nur das erste Bewusstsein der Freiheit verwirklicht, sondern auch die Sklaverei erfunden. Hegel spricht zwar auch bei den »orientalischen« Kulturen von Sklaverei, die er in der weltgeschichtlichen Entwicklung vor den Griechen ansiedelt. In diesen Kulturen sei der Unterschied zwischen Sklave und Untertan allerdings nur graduell vorhanden, etwa durch brutalere Gewaltanwendung gegen den Sklaven oder möglicherweise größere materielle Annehmlichkeiten für den gewöhnlichen Untertan. Dennoch stehen beide in einem Unterwerfungs- und Zwangsverhältnis, wie Hegel am Beispiel des antiken Chinas erläutert: »Doch ist notwendig in China der Unterschied zwischen der Sklaverei und Freiheit nicht groß, da vor dem Kaiser alle gleich, d. h. gleich degradiert sind.« 77 Das Wesen der griechischen Sklaverei besteht somit für Hegel darin, dass sie die Kehrseite der griechischen Freiheit auf der Grundlage der Tugend ist. Deshalb ist für Hegel die griechische »schöne« Freiheit auch »zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen.« 78
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Hegel,VPhGes S. 164. Ebd., S. 31.
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Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze
II.3 Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze Im vorigen Abschnitt II.2.3 habe ich ein gängiges Deutungsschema angesprochen, dass einen scharfen Kontrast zieht zwischen dem politischen Denken der Moderne, welches auf dem Prinzip der Freiheit beruhe, und der praktischen Philosophie der Antike, welche mit einem naiven Wertrealismus seine Normen von der Natur vorgegeben glaube. Interpreten, die Hegel dieses Schema zusprechen, sehen seine Griechen als dogmatische Traditionalisten, welche den Gesetzen und sittlichen Vorschriften ihrer pólis völlig unreflektiert gehorchen. Eine solche Lesart, so habe ich argumentiert, wird allerdings Hegels Texten zu den antiken Griechen in keiner Weise gerecht. Für Hegel sind die Griechen das erste Volk in der Weltgeschichte, das eine wenngleich noch unvollkommene Freiheit verwirklicht hat. Eine scheinbar vielversprechende Möglichkeit, wie diese unvollkommene Freiheit von Hegels Griechen verstanden werden könnte, bietet Terry Pinkard in seinen Hegel-Interpretation an. Terry Pinkard verwirft ebenfalls das gängige Deutungsschema, das die Griechen bei Hegel als blinde Dogmatiker sieht, und beschreibt sie stattdessen als Übergangsfigur auf der Schwelle zwischen antikem Traditionalismus und moderner Selbstbestimmung. Pinkard zufolge sei es den Griechen gelungen, Praktiken der Normbegründung und -kritik zu entwickeln, mit denen sie zumindest einen Teil ihrer Normen selbstbestimmt gestalten. Allerdings seien sie keine moderne, vollständige rationale Gesellschaft. Einen bestimmten Teil ihrer sittlichen Normen betrachteten sie immer noch als sakrosankt, unverfügbar für jede Kritik und als Ausdruck einer ewigen Ordnung der Natur. Auf diese Weise seien die Griechen teilweise frei und teilweise noch im dogmatischen Aberglauben gefangen. Pinkards Interpretation erscheint deshalb vielversprechend, weil sie zu Recht versucht, die Sittlichkeit der Griechen als eine beschränkte Freiheit zu deuten. Ich werde in diesem Kapitel zunächst Pinkards Vorgehen in seiner Interpretation skizzieren, um anschließend zu zeigen, weshalb seine Version einer beschränkten Freiheit weder exegetisch noch systematisch überzeugt. Aus den Unzulänglichkeiten von Pinkards Interpretation leite ich schließlich einige Anforderungen ab, die eine angemessenere Lesart von Hegels Griechen erfüllen muss. Pinkard beschreibt die Struktur der griechischen Sittlichkeit, deren Normen teilweise als selbstbestimmt, teilweise als unveränder-
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
lich-dogmatisch wahrgenommen werden, mit der Unterscheidung zwischen »göttlichem Gesetz« und »menschlichem Gesetz«: It is not, however, the case that the Greeks saw everything about »the way things are done« as being both natural and immutable. Indeed, one of the striking features of Greek thought was its distinction between the artificial and the natural. Much of life was understood by them to be a social feature of themselves, a »way they did things« that was not universal but peculiar Greek. Nevertheless the Greeks also saw certain ultimate aspects of »the way things are done« – in everything from family life to the treatment of prisoners of war – as being expressions of what was natural and immutable, as resting on »laws« whose legitimacy was eternal. This distinction between what was peculiar Greek and what was immutable is expressed as the difference between human and divine law. Human law may be understood and altered, but divine law must be simply acknowledged and obeyed. 79
Das göttliche Gesetz beinhalte bestimmte Schlüsselelemente der griechischen Gemeinschaft. Dazu rechnet Pinkard nicht nur kultische Vorschriften und religiöse Gebote, sondern auch die Normen jener Bereiche, die direkt mit der Konstitution persönlicher Identität zusammenhängen, sowie solche Normen, welche die grundlegenden Erfahrungen des Mensch-Seins regelten, wie beispielsweise Geburt, Tod und Sexualität. 80 Somit fielen insbesondere die Geschlechterrollen von Frau und Mann unter das göttliche Gesetz, aber auch die sittlichen Anforderungen anderer sozialer Rollen, etwa die Pflichten zwischen Eltern und Kindern oder die Anforderungen an politische Amtsträger. 81 All diese Verhaltensregeln, so Pinkard, gehörten für die Griechen zur göttlichen Zweckordnung in der Natur der Dinge. 82 Aus griechischer Sicht durften diese Normen des göttlichen Gesetzes nicht angefochten oder verändert werden, ohne das Funktionieren der pólis-Gemeinschaft und das individuelle Gedeihen zu gefährden. In die Kategorie des menschlichen Gesetzes fielen hingegen alle übrigen sittlichen Normen, Regeln und Gesetze. Bei jenen Normen, die nicht als Teil der notwendigen, göttlich-natürlichen Ordnung angesehen wurden, hätten Hegels Griechen erkannt, dass sie nur zufällige, historisch gewachsene und menschengemachte Vorschriften seien, die kritisiert werden konnten, für die ein Begründungsanspruch be79 80 81 82
Pinkard (1994), S. 137. Ebd., S. 142. Ebd., S. 136 f. Vgl. auch Pinkard (2012), S. 129.
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Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze
stand und die auch umgestaltet werden konnten. Im Hinblick auf das menschliche Gesetz seien die Griechen daher selbstbestimmt und reflektiert, im Hinblick auf die Normen des göttlichen Gesetzes hielten sie dagegen noch an einem unvernünftigen Denkverbot fest. Für den Schritt zu einer modernen, aufgeklärten und wahrhaft selbstbestimmten Gemeinschaft fehle den Griechen daher noch die Einsicht, das nicht bloß einige Normen selbstgeschaffen seien, sondern dass alle sozialen Normen menschengemacht seien und somit offen für Reflexion, Kritik und Verbesserung. Terry Pinkards Lesart besitzt zwei Vorzüge gegenüber der dichotomischen Interpretation, die ich im vorigen Abschnitt II.2.3 vorgestellt habe. Erstens entwirft Pinkard ein dreischrittiges Schema der Geschichte, welches besser als die bloße Zweiteilung von Antike und Moderne zu Hegels Gliederung der Geschichte zu passen scheint. Hegel spricht beispielsweise in seiner Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von drei großen Epochen der Weltgeschichte, nämlich der »orientalischen« Epoche, der Epoche der Griechen und Römer sowie schließlich der »germanischen« Epoche. 83 Diese drei Epochen scheinen auf den ersten Blick den drei Gemeinschaftstypen zu entsprechen, die Pinkard skizziert: Demnach wäre die erste, »orientalische« Epoche von traditionalistisch-dogmatischen Gemeinschaften geprägt, welche ihre überlieferten Bräuche und Gesetze völlig unkritisch und unreflektiert befolgten. Die zweite Epoche könnte als Übergangsepoche gedeutet werden, in der einige Normen bereits selbstbestimmt erfasst werden, während andere noch von der Reflexion ausgespart blieben. Die dritte, »germanische« Epoche schließlich wird in dieser Interpretation durch ein vollständig aufgeklärtes und selbstbestimmtes Verhältnis zu den eigenen sittlichen Normen charakterisiert. Zweitens spricht für Pinkards Lesart, dass er zumindest eine Erklärung anbietet, in welcher Hinsicht Hegel den Griechen eine »schöne Freiheit« zuspricht (nämlich im Hinblick auf das menschliche Gesetz) und wie diese Freiheit zugleich als beschränkt verstanden werden kann (durch das göttliche Gesetz). Im Gegensatz zur dichotomischen Auffassung, welche den Begriff der Selbstbestimmung gar nicht in der Antike verorten möchte, beschreibt Pinkard daher durchaus im Sinne Hegels die antiken Griechen als Übergangsfigur und als einen Schritt in der Entwicklung des Bewusstseins der Freiheit. Den 83
Hegel, VPhGes S. 31.
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
geschichtlichen Fortschritt der Freiheit in Hegels Weltgeschichte interpretiert Pinkard hierbei als einen quantitativen Fortschritt der Aufklärung: Pinkard zufolge beginnt Hegels Menschheitsgeschichte bei rein traditionalistischen Gemeinschaften, in denen keine sittlichen Normen als selbstbestimmt verstanden werden und kritisiert werden können, durchläuft mit den antiken Griechen eine Übergangsphase, in der einige Normen als selbstbestimmt erkannt werden, bis hin zur modernen Gesellschaft, in der alle Normen offen für Kritik und Änderung sind. Demnach sei eine Gemeinschaft umso freier, je mehr Normen in ihr als Normen der Selbstbestimmung aufgefasst werden. Hegels Fortschrittsgeschichte deutet Pinkard daher auch als eine schrittweise Aufklärung, bei der eine dogmatische Norm nach der anderen durch selbstbestimmte Normen ersetzt werden: »[…] it is also hard not to notice at work here the overall Enlightenment picture of the gradual displacement of superstitious barbarism by rational reflection«. 84 Trotz dieser scheinbaren Vorzüge kann Pinkards Interpretation jedoch nicht überzeugen. Zum einen bleibt Pinkards Darstellung der griechischen Freiheit unbefriedigend, zum anderen missversteht Pinkard Hegels Gegensatz von menschlichem und göttlichem Gesetz und verallgemeinert ihn unzulässigerweise, indem er ihn zur Struktur der griechischen Sittlichkeit erhöht. Pinkards Interpretation hat somit systematische und exegetische Schwächen, vor allem aber verkennt sie das Wesen der griechischen Freiheit und ihre Rolle, die sie in Hegels Geschichtsphilosophie spielt. Ich werde im folgenden Teil dieses Abschnitts auf diese beiden Kritikpunkte eingehen. Zum ersten Kritikpunkt: Pinkard zufolge wird die Freiheit der Griechen durch ihren dogmatischen Glauben an eine natürliche Zweckordnung (das »göttliche Gesetz«) beschränkt. Das heißt, die Ordnung der Natur gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich der griechische Geist entfalten kann. Betrachten wir allerdings die Beispiele näher, die Pinkard für Normen gibt, in denen sich die Ordnung der Natur ausdrückt, fällt auf, dass er Hegels Griechen weder viel Entscheidungsfreiheit lässt noch besonders tiefes Nachdenken zutraut. Die vermeintlich natürlichen Normen betreffen insbesondere die Gestalt der sozialen Rollen und die obersten Ziele (ultimate ends), die das Leben strukturieren:
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Pinkard (2012), S. 65.
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Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze
The Greeks expressed this in a rigid understanding of social roles: Men do one thing, women another; rules do one thing, subjects another; masters do one thing, slaves another; that is just the way the world is, and, if the social world is to function correctly, it cannot be different. What one ultimately is to do is given to one by one’s own social and cultural order […]. The ultimate ends of life, just like the rules of thought, will seem given and unalterable, existing from time immemorial. 85
Nach Pinkards Deutung hinterfragen die Griechen also weder, welche sozialen Rollen es in der griechischen pólis gibt oder wie diese Rollen beschaffen sein sollten, noch, wie das gelungene Leben eines Einzelnen aussehe. Diese obersten Ziele werden laut Pinkard als gegeben und unveränderlich betrachtet. Träfe dies zu, so bliebe den Griechen als einzige Freiheit die Wahl der Mittel und Etappenziele, die zur Verwirklichung der vorgegebenen obersten Ziele dienen sollen. Diese Freiheit wird noch stärker beschränkt, weil auch die sozialen Rollen als natürlich betrachtet werden, die ja einen erheblichen Einfluss auf die Wahl der Mittel haben – eine Frau kann in der griechischen pólis nur bestimmte Dinge tun, ein Sklavenhalter hat andere Mittel zur Verfügung als ein Sklave und dergleichen mehr. In Pinkards Interpretation verkommt somit die Freiheit des griechischen Denkens zu einer rein instrumentellen Rationalität, bei der auch die Auswahl der geeigneten Mittel zum vorgegebenen Zweck extrem eingeengt ist. Bei Pinkard bildet die natürliche Ordnung ein enges Korsett der Selbstbestimmung. Die griechische Freiheit würde sich demnach darauf beschränken, die Bausteine eines guten Lebens, die durch die Natur vorgegeben werden, geschickt zu kombinieren, um die ebenfalls vorgegebenen Zwecke zu erreichen. Mir scheint es fraglich, ob eine derart minimalistische Freiheit ihren Namen überhaupt noch verdient. Schließlich hat sie genau die gleiche Form wie tierischinstinktives Verhalten: Die Zwecke der Tiere werden ebenfalls von der Natur gesetzt und die Wahl der Mittel wird durch die Natur beschränkt. Tiere reflektieren auch nicht über diese Vorgaben – genauso, wie es Pinkard von Hegels Griechen behauptet –, sondern nutzen unvermittelt ihre vorgegebenen Mittel, um ihre vorgegebenen Ziele zu erreichen. Auch Tiere können unter Umständen zwischen verschiedenen Mitteln wählen, wenn es ihre Intelligenz und die Situation erlauben. Eine bloße Zweck-Mittel-Rationalität, wie sie Pinkard Hegels Griechen zubilligt, scheint daher nicht zu genügen, um 85
Pinkard (1994), S. 136 f.
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II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
menschliches, selbstbestimmtes Handeln auszumachen. Dies bedeutet allerdings, dass ein Subjekt, das seine obersten Zwecke nicht reflektiert und einfach als vorgegeben hinnimmt, kein selbstbestimmtes Leben führt, auch nicht in einem beschränkten Sinn. Selbstbestimmung muss sich immer auch auf die obersten Zwecke beziehen. Zum zweiten Kritikpunkt: Pinkard bezieht sich für seine Interpretation der griechischen Sittlichkeit hauptsächlich auf Hegels Diskussion der Antigone in seiner Phänomenologie des Geistes. Die Tragödie des Sophokles belege einerseits den griechischen Dualismus von »göttlichem Gesetz« und »menschlichem Gesetz«, andererseits führe sie vor, dass die Griechen ihre sozialen Rollen und die damit verbundenen Normen unreflektiert und undistanziert übernehmen. 86 Diese Annahmen sind auf mehreren Ebenen problematisch. So ist erstens keinesfalls ausgemacht, ob Hegel mit seiner Diskussion der Antigone in der Phänomenologie über ein spezifisches Problem der antiken griechischen Sittlichkeit spricht oder ob er das Tragödiengeschehen als eine allegorische Darstellung eines allgemeinen Konflikts zwischen den Sphären der Familie und des Staats versteht, der an keine bestimmte historische Kultur gebunden ist. 87 Der Umstand, dass Hegel zum einen im entsprechenden Abschnitt der Phänomenologie die antiken Griechen nicht erwähnt, zum anderen aber in seinen Geschichtsvorlesungen über Griechenland den Dualismus zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz nicht anspricht, deutet auf die zweite Option. Zweitens scheint Pinkard die Ereignisse und die Protagonisten der antiken Tragödie mit den tatsächlichen, historischen Griechen zu verwechseln, den Schöpfern und Zuschauern solcher Tragödien. Pinkard hat zwar Recht, dass sich der Konflikt zwischen Antigone und Kreon in Sophokles’ Drama als Konflikt zweier unterschiedlicher sozialer Rollen deuten lässt. Die Unversöhnlichkeit der Forderungen, die Antigone und Kreon gegeneinander stellen, hat auch damit zu tun, dass beide unfähig sind, sich von ihrer sozialen Rolle als Schwester beziehungsweise als Herrscher Thebens zu distanzieren. Antigone und Kreon vertreten ihre jeweilige soziale Rolle unmittelbar und absolut, deshalb können sie die Berechtigung der anderen Position nicht anerkennen. Auf diese Weise identifizieren sie sich vollkommen mit 86 87
Vgl. z. B. Pinkard (1994), S. 137–146. Siehe z. B. Stekeler-Weithofer (2014). Kapitel 48.
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Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze
ihrer sozialen Rolle und handeln wie deren Personifizierung. Aber gerade weil Sophokles’ Drama diesen Rollenkonflikt thematisiert, ist es falsch zu folgern, die Griechen könnten ihre sozialen Rollen nicht hinterfragen und würden sich rückhaltlos mit ihnen identifizieren. Die antike Tragödie ist gerade das Mittel, mit denen Sophokles seinen Zuschauern vorführt, dass eine soziale Rolle keine unbedingte Quelle guten Handelns sein kann. Sophokles und seine aufmerksamen Zuschauer sind eben klüger als Kreon und Antigone auf der Bühne. Hegel ist sich dessen bewusst, dass die Tragödie kein naiver Bericht des griechischen Lebens ist, sondern vielmehr ein Ausdruck der Selbstreflexion der Griechen über ihre Lebensform. Somit ist die Antigone kein Beleg für Pinkards Interpretation, sondern eine Widerlegung. Hegel hingegen nimmt das Tragödiengeschehen nicht wörtlich, er versteht es stattdessen als einen Hinweis für den kritischen Umgang der Griechen mit ihren sozialen Rollen, die sie durchaus als selbstgeschaffen begreifen (siehe hierzu auch Abschnitt III.2.2). Drittens schließlich missversteht Pinkard Hegels Verwendung bestimmter Schlüsselworte wie »natürlich«, »göttlich« oder »ewig«. Er übersieht, dass solche Adjektive nicht einfach eine feste inhaltliche Bedeutung besitzen, deren Verständnis Hegel voraussetzt. Vielmehr markieren diese Worte je nach Kontext unterschiedliche logische und inhaltliche Kontraste. Selbst wenn Hegel also die Formulierung des »göttlichen Gesetzes« aus Sophokles’ Drama entlehnt, dürfen wir deswegen nicht folgern, dass er damit zugleich auch die Bedeutung übernimmt, welche die Dramenfigur Antigone diesen Worten beimisst. Antigone benutzt im Eifer des Wortgefechts die Wendung als Kampfbegriff. Im Grunde will sie Kreon darauf hinweisen, dass seine legitime Autorität beschränkt ist und er daher auf gewisse Sphären des Familiären und Privaten keinen Zugriff haben sollte. Diese Forderung ist für sich genommen vernünftig. Falsch wird sie erst dann, wenn wir sie verabsolutieren – wie Pinkard es den Griechen zuschreibt – und glauben, dass niemand in diesen Sphären Gestaltungsrecht habe. Dieses absurde Denkverbot erlegen sich Hegels Griechen jedoch nicht auf. Sie sind sich im Klaren, dass alle Regeln ihres Zusammenlebens durch ihre eigene Akzeptanz und Zustimmung geformt werden. Wenn bestimmte Gesetze bei den Griechen als »göttlich« bezeichnet werden, bedeutet dies nicht, dass diese Gesetze unverfügbar wären. Das Adjektiv »göttlich« markiert in diesem Fall solche Gesetze als sittliche Normen, etwa im Gegensatz zu bloßen Konventionen oder willkürlichen Festlegungen. Die Griechen ver151 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
II · Von Aristoteles zu Hegel – Interpretation und Kritik
stehen bei Hegel die »göttlichen Gesetze« aber dennoch als ihre eigenen, menschengemachten Normen: Die Menschen [hier: die Griechen, MP] ehren das Göttliche an und für sich, aber zugleich als ihre Tat, ihr Erzeugnis und ihr Dasein: so erhält das Göttliche seine Ehre vermittels der Ehre des Menschen und das Menschliche vermittels der Ehre des Göttlichen. 88
Hegels Griechen markieren also mit dem Adjektiv »göttlich« wichtige und fundamentale Bereiche des Lebens, die einen gewissen Respekt und Ernsthaftigkeit einfordern. Trotzdem wissen sie, dass sie diejenigen sind, die mit derartigen fundamentalen Fragen im Leben umgehen müssen, und dass die Antworten auf diese Fragen nicht etwa von externen, mystischen Wesenheiten vorgegeben sind. Hegel betont ausdrücklich, dass die Griechen sich als »Schöpfer« ihrer Götter und der »göttlichen« Belange sehen, sie sind für sie »Menschenwerk«: Er [der griechische Geist, MP] hat Achtung und Verehrung vor diesen Anschauungen und Bildern, vor diesem Zeus zu Olympia und dieser Pallas auf der Burg, ebenso vor diesen Gesetzen des Staates und der Sitte; aber er, der Mensch, ist der Mutterleib, der sie konzipiert, er die Brust, die sie gesäugt, er das Geistige, das sie groß und rein gezogen hat. 89
Die Rede über das »Göttliche« bezeichnet bei den Griechen folglich eine abstrahierende Rede über Sittliches und ist somit in letzter Konsequenz eine idealisierte Rede über sich selbst. Die griechische Rede über Göttliches ist insofern Teil einer Selbstreflexion und widerspricht nicht ihrer Selbstbestimmung: »Aus seinen Leidenschaften, sagt ein Alter, hat der Mensch seine Götter gemacht, d. h. aus seinen geistigen Mächten.« 90 Aus diesen Hinweisen können wir schließen, dass Hegel die griechische Freiheit wesentlich umfassender versteht, als Pinkard vermutet. Hegel gesteht den antiken Griechen zu, dass sie sich als die Schöpfer ihrer gesamten Sittlichkeit verstehen. Dies schließt also auch das Geschlechterverhältnis mit ein, sowie soziale Rollen, Familienverhältnisse, religiöse Vorschriften und dergleichen mehr. In dieser Hinsicht ist die Freiheit der Griechen radikal: Sie erkennen, dass der Mensch sich seine Lebensweise selbst gestaltet. Zugleich heißt diese Einsicht für uns jedoch, dass die Beschränktheit und Unvoll88 89 90
Hegel, VPhGes S. 294. Ebd. Ders., VPhRel.II S. 95.
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Terry Pinkards Lesart der zwei Gesetze
kommenheit der griechischen Freiheit anders erläutert werden muss, als Pinkard dies versucht. Pinkard zufolge besteht die Endlichkeit der griechischen Freiheit in der Reichweite der Selbstbestimmung, die sich nur auf einige der sittlichen Normen erstreckt, auf andere hingegen nicht. Diese Lesart wird Hegels Bild nicht gerecht: Für Hegel sind alle Normen der griechischen Sittlichkeit selbstbestimmt. Somit kann eine Beschränkung der Selbstbestimmung nur in der Art und Weise liegen, wie die Griechen ihre Selbstbestimmung auffassen. Die Endlichkeit der griechischen Freiheit zeigt sich demnach in jeder einzelnen sittlichen Norm und im Umgang der Griechen mit ihr. Weiterhin kann in Abgrenzung zu Pinkard geschlossen werden, dass der geschichtliche Fortschritt einer Entwicklung der Freiheit bei Hegel nicht in einem bloß quantitativen Fortschritt besteht. Hegel vertritt nicht das aufklärerische Geschichtsbild, das Pinkard ihm zuschreibt, nach dem der Zuwachs an Freiheit sich in einem bloßen Mehr an Kritik und Reflexion erschöpft. Stattdessen muss auch der geschichtliche Fortschritt radikaler gedacht werden: die griechische Vorstellung von Selbstbestimmung kann nicht einfach ausgeweitet werden, sondern muss zu einem neuen Verständnis von Selbstbestimmung umgewandelt werden, welches sich in jedem Akt der Reflexion und Normkritik äußert.
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Teil III: Tugend und Selbstbestimmung
III.1 Das Paradox der Selbstbestimmung III.1.1 Einführung zum Paradox Hegel deutet die griechische Sittlichkeit mit ihrer spezifischen Struktur und dem zugehörigen Verständnis praktischer Normen als einen Lösungsversuch für ein historisches, politisches und philosophischsystematisches Problem: das Paradox der Selbstbestimmung. Jede freie Gemeinschaft, das heißt, jede historische Gruppe, die in einer Form der freien Kooperation zusammenlebt, stößt auf dieses Problem und muss zumindest irgendeine Art von Lösungsansatz finden. Für Hegel ist das Paradox der Selbstbestimmung ein zentrales Problem der praktischen Philosophie. 1 Es begegnet uns in unterschiedlichen Variationen in Hegels Texten und bildet so ein Leitmotiv seiner Philosophie. Das Paradox der Selbstbestimmung folgt unmittelbar aus dem Prinzip der Autonomie, das Hegel von der Rousseau-Kant-Tradition übernimmt und welches besagt, dass für ein Subjekt nur solche praktischen Normen verbindlich sind, die es für sich selbst als verbindlich betrachtet. Als vernünftige Subjekte sind wir die Schöpfer unserer eigenen Normen. Dieses Prinzip der Autonomie ist keine eigenständige These und benennt auch keine zusätzliche Eigenschaft, die vernünftige Lebewesen neben anderen Fähigkeiten besitzen, sondern erklärt vielmehr, was es überhaupt bedeutet, ein Subjekt von Handlungen zu sein. Ein vernünftiges Subjekt ist genau dadurch charakterisiert, dass es Urheber seiner eigenen Normen ist. In dieser Beschreibung des vernünftigen Subjekts offenbart sich bereits das Paradox der Selbstbestimmung: Ein Vernunftsubjekt muss zwei verAuch in Hegels theoretischer Philosophie spielt das Paradox der Selbstbestimmung eine wichtige Rolle, aber diese Bedeutung des Paradoxes klammere ich in meiner Untersuchung aus.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
schiedene Rollen einnehmen, nämlich die Rolle desjenigen, der die eigenen Normen erschafft, und die Rolle desjenigen, der unter diesen selbstgeschaffenen Normen steht. Das Subjekt ist also Gesetzgeber und Adressat des Gesetzes zugleich. In dieser Doppelrolle und Selbstbezüglichkeit liegt die Spannung, die ich hier mit dem Paradox der Selbstbestimmung bezeichne: Wie ist es möglich, dass ein Subjekt sich auf konkrete Normen verpflichtet, wenn es doch anscheinend selbst die Autorität besitzt, diese Normen jederzeit zu ändern oder außer Kraft zu setzen? Es scheint so, als stehe die Fähigkeit, Normen einzusetzen, sich selbst im Weg, weil sie zugleich die Fähigkeit ist, diese Normen wieder aufzuheben. Das Paradox der Selbstbestimmung ist somit gleichermaßen das Paradox der Selbstbindung oder der Selbstverpflichtung. 2 Gemäß der Interpretation von Robert Brandom und David Landy finden wir bereits im ersten Abschnitt des Selbstbewusstseinskapitels der Phänomenologie des Geistes (B. IV. »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst«) eine Diskussion dieses Paradoxes in Bezug auf das individuelle Subjekt. 3 In dieser Variante entspricht das Paradox der Frage, wie wir verstehen können, dass ein Einzelner einer Regel folgt, die er sich selbst gibt. Hegel zeige in diesem Abschnitt der Phänomenologie, so Brandom und Landy, dass Selbstverpflichtung nicht auf rein individueller Ebene möglich oder verständlich sei, sondern immer schon in einen sozialen Zusammenhang eingebettet sein müsse. Selbstbestimmung ist also wesentlich eine gemeinschaftliche Tätigkeit. Durch diese Verknüpfung zwischen individueller und sozialer Ebene wird das Paradox jedoch nicht endgültig aufgelöst. Ich werde in diesem Teil der Arbeit exemplarisch anhand einiger Textstellen aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte untersuchen, wie Hegel dort das Problem der Selbstbestimmung auf gemeinschaftlicher Ebene neu stellt: Wie kann sich eine freie Kooperationsgemeinschaft selbst auf bestimmte Normen verpflichten? Die Gemeinschaft muss ebenfalls die Doppelrolle von Gesetzgeber und Adressat ausfüllen. Sowohl die Formulierung des Paradoxes auf der individuellen Ebene als auch auf der sozialen Ebene stellen folglich die gleiche Frage nach der Vereinbarkeit der beiden
In der Literatur wird dieses Paradox daher auch unter dem Titel »problem of moral obligation« diskutiert, so z. B. bei Stern (2012). 3 Siehe hierzu die ausführliche Darstellung Brandoms und Landys in den Abschnitten III.1.2 und III.1.3. 2
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Das Paradox der Selbstbestimmung
Rollen der Selbstbestimmung. Auf der sozialen Ebene verkompliziert sich diese Frage jedoch noch zusätzlich, weil die Gemeinschaft kein von vornherein einheitlicher Akteur ist, sondern sich aus verschiedenen Individuen zusammensetzt, welche jeweils für sich selbstbestimmte Autorität ausüben. Es muss also gleichermaßen geklärt werden, wie die Gemeinschaft die Doppelrolle als Gesetzgeber und Adressat ihrer Normen ausfüllen kann und wie sich die je Einzelnen, welche ebenfalls autonome Gesetzgeber und Adressaten ihrer Normen sind, zur Gemeinschaft und untereinander verhalten. Das Paradox der Selbstbestimmung darf auf der gemeinschaftlichen Ebene nicht etwa derartig aufgelöst werden, indem die beiden Rollen der Selbstbestimmung auf verschiedene Akteure oder Gruppen verteilt werden, so dass einige Mitglieder der Gemeinschaft immer die Normen einsetzen und andere stets nur gehorchen (siehe Abschnitt III.1.4 zu Hobbes’ vermeintlicher Lösung des Paradoxes). Vielmehr muss die individuelle Selbstbestimmung der Einzelnen gewährleistet sein, damit von freier Kooperation gesprochen werden kann. Es ist also erforderlich, dass jeder Einzelne für sich selbstbestimmt handelt und zugleich alle gemeinschaftlich selbstbestimmt handeln. Somit muss erklärt werden, wie wir verstehen können, dass der Einzelne sich selbst verpflichtet und die Gemeinschaft sich selbst verpflichtet, aber auch wie der Einzelne die anderen Gemeinschaftsmitglieder verpflichten und wiederum von ihnen verpflichtet werden kann. Das Paradox der Selbstbestimmung darf also nicht durch den bloßen Verweis auf die soziale Einbettung des Einzelnen abgetan werden. Vielmehr erhält es durch die verwobene Struktur der vielfachen wechselseitigen und selbstbezogenen Verpflichtung eine neue Komplexität. In diesem Kapitel III.1 stelle ich das Paradox der Selbstbestimmung vor, wie es sich auf der individuellen und auf der sozialen Ebene präsentiert. Zunächst diskutiere ich das Paradox auf individueller Ebene und stütze mich dabei vor allem auf die oben erwähnten Interpretationen der Phänomenologie des Geistes von Robert Brandom und David Landy (Abschnitt III.1.2). Brandom und Landy zeigen mit Recht, dass Selbstbestimmung stets nur als eine soziale Tätigkeit verstanden werden kann. Mit dem Verweis auf die Gemeinschaftlichkeit der Selbstbestimmung ist das Paradox jedoch noch nicht überwunden, wie ich in Abschnitt III.1.3 erläutere. Auf der sozialen Ebene stellt sich das Paradox neu. Es kann erst dann befriedigend gelöst werden, wenn die innere Struktur der Gemeinschaft auf richtige Wei157 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
III · Tugend und Selbstbestimmung
se gestaltet ist. Die widerspruchsfreie Verwirklichung der Selbstbestimmung erfordert angemessene Institutionen, welche die Einheit der Gemeinschaft schaffen und dem Individuum die politische Mitgestaltung ermöglichen, so dass die Gemeinschaft als Ganzes und das Individuum für sich selbstbestimmt handeln können. In Hegels Augen verfügt die griechische Sittlichkeit über eine solche Gestalt mit entsprechenden Institutionen. Sie stellt daher eine erste, wenngleich noch unvollkommene Lösung des Paradoxes dar. In den nächsten Kapiteln III.2 und III.3 gehe ich auf die griechische Sittlichkeit als Antwort auf das Paradox näher ein. Zuvor stelle ich in Abschnitt III.1.4 mit Thomas Hobbes’ Leviathan einen weiteren, allerdings missglückten Lösungsversuch vor. Ich zeige, dass Hobbes’ Staatsmodell offenkundig vom Paradox der Selbstbestimmung motiviert ist, aber aufgrund eines einseitigen Verständnisses des Begriffs der Selbstbestimmung wichtige Anforderungen missachtet. Insbesondere scheitert Hobbes’ Ansatz, weil er die Verflechtung der individuellen und der sozialen Selbstbestimmung ausblendet und zudem den Begriff der Selbstbestimmung nur statisch und nicht dynamisch denkt. Hegels Griechen hingegen haben aus Hobbes’ Fehlern gelernt – wenn diese anachronistische Formulierung erlaubt ist – und verwirklichen in ihrer pólis eine Selbstbestimmung, die beiden Anforderungen gerecht wird.
III.1.2 Das Paradox auf individueller Ebene Das Paradox der Selbstbestimmung auf der individuellen Ebene ist kein psychologisches Problem. Das heißt, es fällt nicht mit der empirischen Frage zusammen, wie ich die Selbstdisziplin aufbringe, um mich an meine guten Vorsätze zu halten; wie ich es beispielsweise auch im Februar noch schaffe, regelmäßig Sport zu treiben, wenn ich mir dies in der Silvestereuphorie vorgenommen habe. Solch ein empirisch-psychologisches Problem der Selbstdisziplin setzt bereits voraus, dass ich Wissen von meinen guten Vorsätzen und selbstauferlegten Normen besitzen kann, welches über einen längeren Zeitraum stabil ist. Zu diesem stabilen Wissen gehört auch, dass ich erkennen kann, wann derartige Normen erfüllt sind und welche meiner Handlungen die Vorsätze einlösen oder ihnen zuwiderlaufen. Das Paradox der Selbstbestimmung liegt tiefer als die psychologische Frage der Selbstdisziplin, denn es setzt bei der begrifflichen Voraussetzung 158 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Paradox der Selbstbestimmung
für derartige Selbstverpflichtungen an. Das Paradox der Selbstbestimmung entsteht nicht durch die Möglichkeit, dass ich meinen Willen ändere oder dass ich einen bereits gefassten Vorsatz nur halbherzig verfolge. Es zielt vielmehr auf die Frage, wie ich überhaupt erkennen kann, ob ich einer früher formulierten Norm folge oder ob ich sie verletzte, wenn der einzige Standard meines Handelns durch meine Anerkennung einer Norm festgelegt wird – genauer gesagt durch meine Anerkennung zum jeweiligen Zeitpunkt, an dem ich urteile. Der Standard des Handelns, den ich durch frühere Urteile aufgestellt habe, wirkt schließlich nicht unmittelbar auf mich, als sei er losgelöst von mir, könne von außen zu mir hinzutreten und mich an meine alten Vorsätze erinnern. Stattdessen muss ich stets neu beurteilen, ob meine aktuellen Handlungen meinem früher aufgestellten Standard entsprechen. Die Anwendung des einmal gefassten Vorsatzes ist also abhängig von meinem jeweils neu formulierten Verständnis davon, wie die Erfüllungsbedingungen dieses Vorsatzes aussehen. Der problematische Fall, der das Paradox der Selbstbestimmung konstituiert, ist also nicht der Fall der Willensschwäche oder der mangelnden Selbstdisziplin, bei dem ich weiß, dass ich meinen ursprünglichen Vorsatz verfehle. Im Gegensatz zu solchen psychologischen Problemen entsteht die eigentliche Schwierigkeit des Paradoxes dadurch, dass ich nicht wirklich wissen kann, ob ich meinen eigenen, früher gefassten Standard erfülle, wenn mein einziger Hinweis darin besteht, dass es mir zum jetzigen Zeitpunkt so erscheint. Robert Brandom formuliert diese Problematik folgendermaßen: Der Autonomiethese zufolge sind wir strenggenommen nur durch solche Regeln und Normen gebunden, die wir selbst aufstellen bzw. bejaht haben. Das, was sie bindend macht, ist der Umstand, dass wir sie als bindend betrachten. Es ist allerdings eine heikle Angelegenheit, solch eine Auffassung zu vertreten. Denn es kann sich die Frage aufdrängen, wie denn mein Tun als etwas gelten kann, durch das ich mich binde, wenn ich selbst es bin, der mich bindet. Wenn alles richtig ist, was ich als richtig anerkenne – als einer Pflicht nachkommend, die ich übernommen habe –, inwiefern lässt sich dann das, was ich getan habe, überhaupt noch als eine Selbst-Bindung verstehen? (Man vergleiche hiermit Wittgensteins Behauptung, dass es keinen Unterschied zwischen Richtig und Falsch geben kann, wenn alles Mögliche schon deswegen richtig ist, weil es mir als richtig erscheint.) Die Autonomiethese besagt, dass wir nur auf das verpflichtet sind, worauf wir uns jeweils selbst verpflichtet haben. Dies darf aber nicht in die Behauptung umschlagen, man sei genau auf das verpflichtet, worauf man sich als ver-
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III · Tugend und Selbstbestimmung
pflichtet betrachtet. So liefen wir nämlich Gefahr, den Begriff Verpflichtung inhaltlich zu entleeren, so dass er als solcher unkenntlich wird. 4
David Landy zufolge beschäftigt sich Hegel genau mit dieser Schwierigkeit, wie wir den Inhalt einer Selbstverpflichtung bestimmen können, in der Einleitung zum Abschnitt »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« der Phänomenologie. Hegel diskutiere dort unter dem Titelwort »Begierde« ein Selbstbewusstsein, dessen einziger Maßstab für die Feststellung, ob es einer Regel folgt, in seinem eigenen Urteil besteht, dass dies der Fall ist. Unter der Bezeichnung »Begierde« verhandle Hegel folglich die Behauptung, »man sei genau auf das verpflichtet, worauf man sich als verpflichtet betrachtet«, die Brandom im obigen Zitat erwähnt. Das Selbstbewusstsein der Begierde gehe somit davon aus, dass sich Regelfolgen darin erschöpft, selbst seine Regeln zu schaffen und ebenfalls selbst zu bestimmen, welche Handlungen als Erfüllung dieser Regeln zählen. 5 Diese Prämisse der Begierde ist aber, wie sich schnell zeigt, unhaltbar: Zum einen lässt sich durch nichts ausschließen, dass das Selbstbewusstsein der Begierde zu einem konkreten Zeitpunkt urteilt, dass eine Handlung seinem Vorsatz entspricht (also gemäß der selbstgeschaffenen Regel ist), und dennoch zu einem späteren Zeitpunkt widersprechend urteilt, dass diese Handlung nicht dem Vorsatz genügt. Gemäß der Prämisse der Begierde müssten die beiden kontradiktorischen Urteile gleichermaßen zutreffen. Zum anderen ist das Selbstbewusstsein der Begierde nicht nur unfähig, solche Widersprüche zu vermeiden, es kann sie nicht einmal angemessen beschreiben. Das Selbstbewusstsein der Begierde vermag vielleicht festzustellen, dass seine Urteile sich zu verschiedenen Zeitpunkten unterscheiden, es kann aus diesem Abweichen der Urteile jedoch nicht die notwendigen Schlüsse ziehen. Es weiß, dass es früher eine konkrete Handlung für regelkonform hielt und jetzt dieselbe Handlung nicht mehr für konform hält. Es liegt zwar nahe, zu vermuten, dass es sich zum früheren Zeitpunkt in seinem Urteil geirrt hatte – aber genau diese Vermutung ist auf-
Brandom (2015), S. 285. Vgl. Landy (2008), S. 175. Wie so oft ist in der Sekundärliteratur zur Phänomenologie des Geistes umstritten, ob der genannte Absatz (B.IV. »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst«) tatsächlich das entsprechende Thema behandelt. Ich werde mich zu dieser exegetischen Frage nicht positionieren. Für die Zwecke der vorliegenden Abhandlung genügt die in meinen Augen plausible Annahme, dass Hegel sich an dieser oder einer ähnlichen Stelle mit dem diskutierten Paradox befasst. 4 5
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Das Paradox der Selbstbestimmung
grund der Prämisse der Begierde unmöglich, nach der sein eigenes Urteil den einzigen Maßstab der Angemessenheit von Handlungen bietet. Sollte das Selbstbewusstsein der Begierde nun annehmen, dass beide Urteile trotz ihrer Widersprüchlichkeit zutreffen, verliert seine Selbstverpflichtung jegliche inhaltliche Bestimmung, denn unter eine widersprüchliche Regel lässt sich alles Verhalten sowohl als konform wie auch als abweichend subsumieren. Das Selbstbewusstsein der Begierde kann diesen Widerspruch auch nicht vermeiden, indem es etwa annimmt, dass sich die Angemessenheit seiner Handlungen über die Zeit verändert habe – das heißt, dass seine Verpflichtung zum Zeitpunkt t1 durch andere Erfüllungsbedingungen bestimmt werde als zum Zeitpunkt t2 –, oder indem es seine ursprüngliche Prämisse in der Weise einschränkt, dass nicht alle seine Urteile den Standard für Angemessenheit bilden, sondern eben nur seine aktuellen Urteile zum jeweils jetzigen Zeitpunkt. Alle derartigen Ansätze unterlaufen die Idee der Selbstverpflichtung, denn sie scheitern daran, einen stabilen Standard der Angemessenheit zu schaffen, so Landy. 6 Wenn ich mich jetzt auf eine Norm verpflichte, dann bedeutet dies, dass ich durch diese Selbstbestimmung festlege, welche zukünftigen Handlungen dieser Norm entsprechen. Das Selbstbewusstsein der Begierde hingegen lebt gewissermaßen nur von Augenblick zu Augenblick, es ist stets von seinem präsentischen Urteil abhängig. Weil es nicht weiß, ob sein zukünftiges Urteil sich von seinem gegenwärtigen Urteil unterscheidet, weiß es auch nicht, welche Handlungen es in Zukunft als Erfüllung seines gegenwärtigen Vorsatzes ansieht. Mit anderen Worten: Es weiß nicht, ob es zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich dieselbe Norm anwendet, auf die es sich jetzt zu verpflichten vorgibt. Für das Selbstbewusstsein der Begierde gibt es daher keine Möglichkeit, zwischen dem Regelfolgen und dem bloß scheinbaren Regelfolgen zu unterscheiden. Dadurch »entleert« sich der Begriff der Verpflichtung für das Selbstbewusstsein der Begierde, wie Brandom im oben angeführten Zitat erläutert. 7 Für das individualistische Selbstbewusstsein der Begierde, das seinen praktischen Maßstab nur in sich selbst zu finden glaubt, kann es keine Selbstverpflichtung und somit auch keine Selbstbestimmung geben. Um Selbstbestimmung zu denken, benötigt ein Subjekt folglich einen Maßstab für die Korrektheit seiner Urteile, der von ihm selbst ver6 7
Vgl. Landy (2008), S. 175 f. Vgl. eine ähnliche Argumentation ebd., S. 177.
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schieden und unabhängig ist, so Landy. 8 Zugleich darf dieser unabhängige Maßstab nicht gegen das Prinzip der Autonomie verstoßen, das heißt, es kann kein vorgefundener Maßstab sein, der dem Subjekt von außen aufgezwungen wird. Ein solcher äußerer, vorgefundener Maßstab ist schon deshalb ausgeschlossen, weil dies bedeuten würde, dass er durch das Subjekt vorgefunden und beurteilt würde. Etwas Äußeres, dem Subjekt Externes, ist für das Subjekt ein Objekt seines Urteils. Ein solches Urteilsobjekt kann nur dann zum Maßstab für das Urteilen des Subjekts werden, wenn das Subjekt es zu einem solchen Maßstab macht – durch diese Anerkennung durch das Subjekt ist der Maßstab aber weder etwas bloß Vorgefundenes noch etwas vom Subjekt Unabhängiges. Um die Idee der Selbstverpflichtung zu verstehen, benötigt es somit einen Maßstab, der einerseits vom Subjekt unabhängig ist und von ihm als Maßstab seines Urteilens anerkannt werden kann. Andererseits muss das Subjekt diesen Maßstab auf eine bestimmte Weise erfahren; er darf ihm nicht bloß als ein Objekt seines Urteilens erscheinen, sondern muss ihm gewissermaßen subjekthaft begegnen. Das Subjekt muss zulassen, dass es durch den Maßstab korrigiert wird. Es bedarf also eines Standards, der gleichermaßen unabhängig und anerkannt vom Subjekt ist, ihm gegenübertritt und zugleich subjekthaft und nicht objekthaft ist. Brandom und Landy zufolge erläutert Hegel, dass diese spannungsreichen Anforderungen nur durch ein weiteres Subjekt erfüllt werden, welches vom ersten Subjekt als ebenbürtig anerkannt wird. Nur ein weiteres, anerkanntes Subjekt begegnet dem ersten Subjekt nicht bloß als Objekt seiner Urteile, sondern als ein selbst Urteilender. Das erste Subjekt spricht durch seine Anerkennung dem Gegenüber Autorität zu, es akzeptiert – bis zu einem gewissen Grad – dessen Urteile und schafft sich so die Möglichkeit, in seinem eigenen Urteilen korrigiert zu werden. Der Standard, der die Erfüllungsbedingungen der eigenen Vorsätze, Verpflichtungen und anderer praktischer Normen festlegt, ist vom Subjekt unabhängig, weil er in einem anderen Subjekt liegt. Zugleich handelt es sich nicht um einen äußeren, aufgezwungenen Standard, weil das zweite Subjekt nur durch die Anerkennung des erstens Subjekts die Rolle des Korrektors einnimmt. Die Autonomie des ersten Subjekts wird nicht gefährdet, indem es durch seine Anerkennung des zweiten seine Autorität über seine praktischen Normen delegiert, sie wird vielmehr erst durch diesen 8
Ebd., S. 176.
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Das Paradox der Selbstbestimmung
Vorgang ermöglicht. Selbstverpflichtung kann es nur geben, weil sie wesentlich auch eine Verpflichtung gegenüber einem Anderen ist. In diesem Sinne interpretiert Landy die entsprechenden Passagen des Abschnitts »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« der Phänomenologie als Hinweis auf den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Anerkennung des Anderen: Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein. […] Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein. Erst hierdurch ist es in der Tat; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Anderssein. 9
Das Selbstbewusstsein ist folglich auf die Gegenwart eines Anderen angewiesen, nicht bloß aus angeborenem Bedürfnis nach psychischer Anerkennung und Nähe, 10 sondern aus logischer Notwendigkeit, weil Selbstbestimmung und somit auch vernünftiges Handeln nur über gemeinschaftlich geteilte Normen verständlich sind: Ich erkenne den Anderen als gleichwertiges Subjekt an und ernenne ihn so zum Verwalter meiner selbstgeschaffenen Normen – und der andere verfährt umgekehrt mit mir ebenso. Brandom beschreibt diese wechselseitige Aufgabenteilung wie folgt: Hegels Idee ist, dass die Bestimmtheit dessen, worauf ich mich verpflichtet habe – der Teil, welcher nicht in der gleichen Hinsicht in meiner Hand liegt wie die Entscheidung, ob ich mich auf ihn verpflichte oder nicht, – durch die Einstellungen anderer sichergestellt wird, denen ich zumindest implizit diese Autorität zugestanden habe. Die Normen von jemand anderem verwalten zu lassen ist nach Hegel die einzige Möglichkeit, um den erforderlichen Abstand zu meiner Akzeptanz […] zu erlangen, während die Form von Autorität gegenüber meinen Verpflichtungen bestehen bleibt, auf welcher die Tradition von Rousseau und Kant beharrt. Ich verpflichte mich, aber sie ziehen mich dann dafür zur Verantwortung. 11
In einem gewissen Sinn ist uns die Gemeinschaftlichkeit unserer Selbstbestimmung so vertraut, dass Hegels Einsicht, wie sie hier von Brandom und Landy präsentiert wird, möglicherweise trivial erscheint. Schließlich sind wir in all unseren praktischen Überlegungen, beim Formulieren unserer guten Vorsätze sowie bei all unseren anderen Formen der Selbstverpflichtung notwendigerweise auf die Hegel, PhG S. 144 f. Siehe hierzu Landys Interpretation in Landy (2008), S. 178. Vgl. Honneth (1994), v. a. S. 114 ff. 11 Brandom (2015), S. 287. 9
10
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Sprache angewiesen. Unser Denken ist stets sprachlich geformt (vielleicht von einigen Ausnahmefällen symbolischen Denkens oder bildlich-sinnlicher Assoziationen abgesehen). Offensichtlich ist aber die Sprache eine soziale, geteilte Errungenschaft. Wir greifen also für unsere Selbstverpflichtungen auf sprachliche Ausdrücke zurück, die nicht durch uns allein festgelegt sind und deren Bedeutung wir auch nicht völlig willkürlich bestimmten können – denn damit wir für uns selbst verständlich sind, müssen wir zumindest der Möglichkeit nach für andere verständlich sein. Die Handlungsformen und Erfüllungsbedingungen, auf die wir uns mit unseren Selbstverpflichtungen beziehen, werden von uns offensichtlich nicht aus dem Nichts geschaffen. Wir greifen vielmehr auf die bereits in unserer Sprache fixierten Gestalten zurück. Die Sprache lässt uns zwar Raum für Kreativität und spontane Neuschöpfungen, aber dieser Freiraum wird ebenfalls durch unsere gemeinsame Sprachpraxis abgesteckt. Wir nutzen also für unsere Selbstverpflichtungen einen Standard, über den nicht jeder selbst für sich allein vollständig verfügt, sondern der ein gemeinsamer Standard ist. Wenn ich mir selbst verspreche, regelmäßig Sport zu treiben, dann unterliegt es nicht völlig meinem Belieben, was ein »Versprechen« ist, welche Tätigkeiten unter »Sport« fallen und auch welche Frequenz als »regelmäßig« gilt, selbst wenn es in solchen Fällen natürlich einen breiten Spielraum für Deutungen gibt. Ich kenne diese gemeinschaftlich geteilten Bedeutungen, weil ich sie durch meinen Spracherwerb und meine Sozialisation gelernt habe. Andere, welche mich meinen Vorsatz aussprechen hören, kennen die Bedeutungen ebenfalls und können mich daher gegebenenfalls an meinen Vorsatz erinnern. Aufgrund der Sprachlichkeit unseres Denkens erscheint die Gemeinschaftlichkeit unserer Selbstbestimmung, so selbstverständlich, dass es schwer fällt, sich das rein individualistische Selbstbewusstsein der Begierde überhaupt vorzustellen. Hegel will mit dem Titelwort »Begierde« auch keine realistische Alternative zu unserem Denken und Handeln entwerfen, welcher wir möglicherweise auf einem anderen Planeten oder zumindest in einer Fabelwelt begegnen könnten. Stattdessen dient das Selbstbewusstsein der Begierde Hegel nur als Kontrastfigur, um ein gehaltvolleres Verständnis von Selbstbestimmung zu entwickeln. Das Selbstbewusstsein der Begierde kann lediglich negativ charakterisiert werden, denn es ist nicht sinnvoll als eine eigenständige oder konsistente Lebensform denkbar. Seine Funktion besteht somit darin, uns zu zeigen, wie wir Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung nicht denken dürfen. 164 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Paradox der Selbstbestimmung
Ich stimme Brandom und Landy in ihrer Interpretation zu, dass für Hegel die soziale Dimension der Selbstbestimmung eine wichtige Einsicht darstellt. Autonomes Handeln ist nur im Rahmen einer Gemeinschaft mit geteilten praktischen Normen möglich und nicht für einen isolierten, individualistischen Einzelnen. Wir können diese Einsicht mit einigem interpretativen Wohlwollen bereits bei Hegels Vorgängern Rousseau und Kant finden, aber erst Hegel formuliert sie mit dem notwendigen Nachdruck. Allerdings dürfen wir nicht dem Irrtum verfallen, mit der Einsicht in die Gemeinschaftlichkeit der Selbstbestimmung sei das Paradox der Selbstbestimmung bereits gelöst. Brandom und Landy erwecken mit ihrer Deutung den Eindruck, als gebe die Gemeinschaftlichkeit mit ihren verschiedenen Perspektiven und geteilten Normen die Antwort, wie das Subjekt zugleich Gesetzgeber und Adressat des eigenen Gesetzes sein könne – nämlich indem die Gemeinschaft den Einzelnen für seine eigenen Normen verantwortlich macht. Tatsächlich will Hegel durch seinen Hinweis auf die soziale Dimension der Selbstbestimmung das Paradox nicht lösen, sondern reformulieren und in seiner eigentlichen Gestalt zur Geltung bringen: Das Paradox der Selbstbestimmung ist im Wesentlichen das Paradox einer freien Gemeinschaft. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie greift Hegel das Paradox der Selbstbestimmung erneut auf, das er in der Phänomenologie des Geistes einführt. In den Vorlesungen zeigt Hegel, dass mit der bloßen Feststellung, Selbstbestimmung sei eine wesentlich soziale Tätigkeit, noch wenig geklärt wurde. Stattdessen wirft die soziale Dimension viele neue Fragen und Schwierigkeiten auf, die nach einer noch umfangreicheren Untersuchung verlangen. Nicht nur im Individuum, sondern auch in der selbstbestimmten Gemeinschaft müssen die beiden Rollen von Gesetzgeber und Adressaten der Gesetzes miteinander vereinbart werden. Das Paradox der Selbstbestimmung wiederholt sich somit auf der gemeinschaftlichen Ebene. Hierbei verkompliziert es sich jedoch durch die Tatsache, dass eine Gemeinschaft nicht von vornherein ein klar bestimmbarer Handelnder ist, sondern sich aus vielen Individuen zusammensetzt. Es ist folglich nicht trivial, zu entscheiden, ob eine bestimmte Äußerung oder Handlung ausschließlich dem Einzelnen zuzurechnen ist oder der gesamten Gemeinschaft zugeschrieben werden kann. Der Einzelne, der im Sinne Brandoms die Gemeinschaft zum »Verwalter« seiner selbstbestimmten Normen ernennt, hat daher kein einfaches Gemeinschafts-Subjekt als Gegenüber, welches ihn zur Pflichteinhaltung ermahnen und 165 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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ihn in seinen Handlungen korrigieren kann. Stattdessen begegnet das Subjekt einer Vielzahl anderer Einzelner, die genauso wie es selbst zur Gemeinschaft gehören und zugleich nicht mit ihr identisch sind. Auf diese Weise ist es erklärungsbedürftig, wer wann berechtigterweise für die Gemeinschaft spricht und beispielsweise den Einzelnen korrigieren darf, und auf welche Weise die geteilten Normen in der Gemeinschaft existieren, so dass dennoch das einzelne Subjekt als Urheber seiner Normen angesehen werden kann. Für Hegel gehören all diese Fragen und Schwierigkeiten zur historischen Herausforderung, eine freie Gemeinschaft zu gestalten, in der der Einzelne ein selbstbestimmtes Leben führt.
III.1.3 Das Paradox auf sozialer Ebene Im vorigen Abschnitt III.1.2 habe ich das Paradox der Selbstbestimmung auf individueller Ebene vorgestellt. Das Paradox zeigt, dass es nicht möglich ist, den Begriff der Selbstbestimmung auf ein isoliert betrachtetes Individuum anzuwenden, weil für dieses der Begriff der Selbstverpflichtung keinen Sinn besitzen kann. Brandom und Landy interpretieren beide die Phänomenologie des Geistes derartig, dass Hegel sich dort mit dem Paradox auf individueller Ebene auseinandersetze und es durch die Einsicht in die Gemeinschaftlichkeit der Selbstbestimmung auflöse wolle: Selbstbestimmung sei nur möglich, wenn zum ›Ich‹ ein ›Du‹ hinzukomme, welches die Autorität über die selbstbestimmten Normen vermitteln könne. Die Wortwahl in Hegels Phänomenologie legt in der Tat die Vermutung nahe, dass Hegel hierbei an die Dynamik einer Zweierbeziehung denkt. Hegel spricht von einer »Verdopplung« des Selbstbewusstseins und beschreibt das Verhältnis dieses verdoppelten Selbstbewusstseins zu seinem Gegenüber: »Es ist für das Selbstbewußtsein ein anderes Selbstbewußtsein«, das »Selbstbewußtsein« sehe »sich selbst im Anderen.« 12 Es sprechen allerdings zwei gewichtige Gründe dagegen, diese Bemerkungen über die Zweierbeziehung als Hegels Lösung des Paradoxes anzusehen: Erstens kann eine Zweierbeziehung die systematische Aufgabe nicht leisten, den beiden beteiligten Subjekten durch wechselseitige Verpflichtung die Selbstbestimmung zu ermöglichen. Eine Zweierbeziehung wiederholt zunächst nur die gleichen Probleme, vor 12
Hegel, PhG S. 144 f.
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Das Paradox der Selbstbestimmung
denen wir auch bei der Betrachtung des isolierten Individuums standen. Erst wenn wir von der Zweierbeziehung zu einer Beziehung des Subjekts zur Gemeinschaft übergehen, ändert sich dies. Wir benötigen also statt eines ›Du‹ ein ›Wir‹, um das Paradox der Selbstbestimmung auf individueller Ebene zu überwinden. Der Schritt vom ›Du‹ zum ›Wir‹ geschieht jedoch nicht automatisch, etwa durch eine größere Anzahl beteiligter Subjekte. Eine Gruppe von Subjekten ist noch lange keine Gemeinschaft. Es ist hier vielmehr ein Übergang in ein neues logisches Register nötig, der selbst erläuterungsbedürftig ist. Die Gruppe der Subjekten muss auf irgendeine Art eine Einheit bilden, ihre Äußerungen müssen von bloß individuellen Äußerungen zu den Urteilen einer Gemeinschaft aufsteigen. Der bloße Hinweis auf die Gemeinschaftlichkeit von Selbstbestimmung genügt also nicht als Antwort auf die Frage, wie Selbstbestimmung möglich ist, wenn nicht zugleich die Frage nach der Einheit und der Konstitution von Gemeinschaften beantwortet wird. Brandom und Landy lassen aber gerade diese Anschlussfrage nach dem einheitsstiftenden Prinzip von Gemeinschaften außer Acht. Der zweite Grund, weshalb der Verweis auf die Gemeinschaftlichkeit der Selbstbestimmung nicht ausreicht, um das Paradox zu lösen, liegt darin, dass das Paradox auf der Ebene der Gemeinschaft in leicht variierter Form erneut auftritt. Auch im Fall der Gemeinschaft können wir uns fragen, wie Selbstbestimmung möglich ist, das heißt, wie eine Gemeinschaft sich selbst auf ihre eigenen Gesetze verpflichten kann. Solange diese Frage nicht beantwortet wird, bedeutet Brandoms und Landys Hinweis auf die Gemeinschaftlichkeit von Selbstbestimmung lediglich eine Verschiebung des Paradoxes von der individuellen Ebene hin zur sozialen Ebene. In diesem Abschnitt stelle ich zunächst Argumente vor, weshalb eine bloße Zweierbeziehung wechselseitiger Anerkennung zwischen Subjekten nicht genügt, um das Paradox der Selbstbestimmung auf individueller Ebene zu lösen und stattdessen die Beziehung zur Gemeinschaft nötig ist. Ich begründe, weshalb dieser Schritt nicht nur eine quantitative Änderung, sondern auch eine logische Änderung bedeutet. Anschließend zeige ich, wie sich auf der Ebene der Gemeinschaft das Paradox der Selbstbestimmung wiederholt, solange wir die Einheit der Gemeinschaft nur unvermittelt und abstrakt denken. Eine befriedigende Antwort auf das Paradox ist nur möglich, wenn die Konstitution der Gemeinschaft entsprechend erläutert wird und die Verflechtung von individueller und sozialer Selbstbestimmung hinreichend verstanden ist. 167 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
III · Tugend und Selbstbestimmung
Das isolierte Individuum, das Landy zufolge Hegel im Abschnitt der Phänomenologie zum Selbstbewusstsein der Begierde beschreibt, scheitert am Begriff der Selbstbestimmung, weil es nicht in der Lage ist, zwischen dem wirklichen Befolgen einer Norm und dem lediglich scheinbaren Befolgen zu unterscheiden. In Brandoms Deutung ändert sich dies angeblich durch die Anerkennung eines zweiten Subjekts. Dieses könne als »Verwalter« der Normen des ersten Subjekts dienen und zugleich durch sein unabhängiges Urteil einen objektiven Standard der Normerfüllung einführen. Auf diese Weise werde den Subjekten die Unterscheidung zwischen wirklicher und bloß scheinbarer Normerfüllung ermöglicht. Tatsächlich scheitert jedoch eine Zweierbeziehung an dieser systematischen Aufgabe. Das andere Subjekt, das dem ersten Subjekt gegenübertritt und von diesem zum »Verwalter« seiner Normen ernannt wird, ist in dieser Darstellung ebenso nur ein einzelnes Subjekt wie das erste und sieht sich daher in derselben problematischen Ausgangslage. Das erste Subjekt (das ›Ich‹) erkennt sein Gegenüber (das ›Du‹) als ein weiteres, ebenbürtiges Subjekt an (ein anderes ›Ich‹). Insofern spricht es seinem Gegenüber zwar Autorität im Urteilen zu, es ist aber unklar, weshalb diese Autorität diejenige des ersten Subjekts übersteigen sollte. Die wechselseitige Anerkennung der beiden Protagonisten bedeutet, dass sie sich gegenseitig als Quelle von Urteilen und somit als Quelle von Wahrheit betrachten. Es gibt für sie jedoch keinen Grund, den anderen irgendwie als eine zuverlässigere, mächtigere oder andersartig überlegene Quelle anzusehen als sich selbst. Dies bedeutet, dass die Urteile des zweiten Subjekts für das erste Subjekt ebenfalls nicht die Unterscheidung zwischen scheinbarer und wirklicher Normerfüllung treffen können. Mit anderen Worten: Kommt es zu einem Dissens zwischen den Urteilen der beiden Subjekte, ist unklar, wer hier wen korrigiert und wer überhaupt zur Korrektur berechtigt ist. Da eine Zweierbeziehung von Subjekten eine symmetrische Beziehung ist, steht also bei einem Dissens Aussage gegen Aussage. Versucht eines der beiden Subjekte, sein Gegenüber zu korrigieren, kann dieses trotz seiner grundsätzlichen Anerkennung darauf beharren, dass der Korrigierende sich selbst irre und daher der eigentlich Korrekturbedürftige sei – wenn es den Subjekten mit ihren jeweiligen Urteilen ernst ist, werden sie vermutlich auch genau dies tun. Statt der Schaffung eines unabhängigen Standards führt die Zweierbeziehung also nur zu einem Urteilspatt. Dieses Urteilspatt kann nicht einfach durch eine Vervielfältigung der Zweierbeziehung überwunden werden, wie es Brandom vorzuschwe168 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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ben scheint. 13 Eine Gruppe von Subjekten, die durch wechselseitige Ich-Du-Beziehungen verknüpft ist, steht vor dem gleichen Problem wie eine vereinzelte Zweierbeziehung. Landy erklärt daher zu Recht, dass wir statt der Zweierbeziehung einzelner Subjekte die Beziehung eines Subjekts zu einer von ihm anerkannten Gemeinschaft in den Blick nehmen müssen. Nur so kann die Symmetrie der Zweierbeziehung durch eine asymmetrische Beziehung ersetzt und das Urteilspatt aufgehoben werden. 14 Die Asymmetrie wird durch den Umstand hervorgerufen, dass das Urteil einer Gemeinschaft auf andere Weise entsteht und logisch anders beschaffen ist als das Urteil eines Einzelnen. Das Urteil eines Einzelnen ist das Ergebnis seiner Tätigkeit des Urteilens, es ist eine Aktualisierung seiner vernünftigen Urteilsfähigkeit. Eine Gemeinschaft hingegen urteilt nicht unmittelbar. Vielmehr sind es ihre Mitglieder, die urteilen. Damit wir dennoch von einem Urteil der Gemeinschaft sprechen können, muss es sich in irgendeiner Weise um ein gemeinsames Urteil der Mitglieder handeln. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind an diesem Gemeinschaftsurteil beteiligt und bringen es zusammen hervor – auch wenn ihr jeweiliger Beitrag äußerst indirekt oder abstrakt sein kann, wie wir später sehen werden. Für ein Gemeinschaftsurteil ist also nötig, dass sich die Mitglieder in irgendeiner Weise auf das gemeinsame Urteil einigen. 15 Tritt in diesem Fall ein Urteilsdissens auf, dann wird das Subjekt nicht bloß mit einem abweichenden Urteil eines anderen Subjekts konfrontiert, wie dies in der Zweierbeziehung geschieht. Stattdessen hat das Subjekt selbst auf irgendeine, noch näher zu bestimmende Weise zu dem Gemeinschaftsurteil beigetragen, durch das es korrigiert werden soll. Das Subjekt hat also gewissermaßen bereits in seine Korrektur eingewilligt, da es als Mitglied der Gemeinschaft sich auch auf das Gemeinschaftsurteil geeinigt hat. In dem Modell der Zweierbeziehung findet ebenfalls eine Zustimmung zur Korrektur statt, aber nur in abstrakter Form: Das Subjekt willigt zwar durch die Anerkennung des Anderen ein, sich gegebenenfalls durch dessen Urteil korrigieren zu lassen. Hier erkennt das Subjekt allerdings nur die bloße Möglichkeit der Korrektur an. Jedes konkrete Urteil des Anderen kann das Subjekt hingegen anfechten und bestreiten, dass dieses konkrete Urteil auf angemessene Weise die Möglichkeit der 13 14 15
Vgl. z. B. in Brandom (2015), S. 271–300. Landy (2008), S. 180 f. Vgl. ebd., S. 181.
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Korrektur einlöst. Wird das Subjekt jedoch mit einem Gemeinschaftsurteil konfrontiert, hat es zuvor nicht nur die Gemeinschaft als »Verwalter« seiner Normen anerkannt, sondern durch seine Beteiligung am Gemeinschaftsurteil hat es auch dieses konkrete Urteil anerkannt. Das zu korrigierende Subjekt korrigiert sich durch das Gemeinschaftsurteil folglich selbst. Während ein einzelnes Gegenüber nicht die Selbstbestimmung des Subjekts garantieren kann, scheint eine Gemeinschaft, zu der das Subjekt gehört, folglich der geeignete Kandidat für diese systematische Aufgabe zu sein. 16 Der Vorzug der Gemeinschaft gegenüber der simplen Zweierbeziehung von Subjekten liegt nicht einfach im bloßen ›Mehr‹ der Gruppe, also der Tatsache, dass in der Gruppe eine größere Anzahl von Personen vorhanden ist, die den Einzelnen durch ihre vereinten Kräfte zur Urteilskorrektur bewegen können. Stattdessen besitzt das Urteil der Gemeinschaft eine andere Qualität als das Einzelurteil, es hat wortwörtlich eine höhere Form der Allgemeinheit. In das gemeinsame Urteil fließt eine Vielzahl von subjektiven Perspektiven ein. Auch in der Zweierbeziehung spielt selbstverständlich die Perspektive des Gegenübers eine Rolle. Allerdings ist das Urteil des Anderen, der mich korrigieren will, dennoch nur ein individuelles Urteil aus der Perspektive eines Einzelnen. Dagegen geht das gemeinsame Urteil aus einem Einigungsprozess hervor. Es verlangt somit einen mehrfachen Perspektivenwechsel und reflektiert diesen Perspektivenwechsel in sich. Wir wissen zwar aus leidvoller Erfahrung, dass die Urteile von Gemeinschaften ebenso irrig und beschränkt sein können wie die eines Einzelnen. Dennoch sind sie aufgrund ihrer inneren Reflexion des Perspektivenwechsels nicht auf die gleiche Weise willkürlich oder zufällig. Der Wechsel des logischen Registers vom Einzelnen zum ›Allgemeineren‹ der Gemeinschaft geschieht jedoch nicht von selbst, sondern muss in der Struktur der Gemeinschaft begründet sein. Eine Gruppe von Einzelnen, die zufällig alle die gleiche Meinung teilen, zählt nicht als Gemeinschaft. Aus dem gleichen Grund wird eine vielfach wiederholte Einzeläußerung nicht plötzlich zur Äußerung einer Genaugenommen können wir auch eine Zweierbeziehung als Gemeinschaft betrachten, eben als eine Gemeinschaft aus nur zwei Mitgliedern. Durch diese Betrachtung verändert sich jedoch die Beziehung der beiden: Sie ist nicht mehr die Beziehung eines einzelnen Subjekts zu einem anderen, ebenfalls einzelnen Subjekt, sondern sie ist die Beziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft. Die Beziehung des einen Subjekts zum anderen ist nicht mehr unmittelbar, sondern vermittelt als Mitglieder der Gemeinschaft.
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Gemeinschaft. Damit wir verstehen können, wie eine Gemeinschaft die Selbstbestimmung ihrer Mitglieder als Subjekte ermöglicht, müssen wir zuvor klären, wie sich eine solche Gemeinschaft bildet, damit sie mehr als eine bloß zufällige Ansammlung von Einzelnen ist, und wie die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft sich auf Äußerungen und Urteile einigen, so dass diese zu Äußerungen und Urteilen der Gemeinschaft werden. Diese beiden Fragen hängen offenkundig zusammen, denn die Einigung in der Gemeinschaft spiegelt die Einheit der Gemeinschaft wider. Brandom und Landy vernachlässigen diese Fragen. 17 Beide lassen die Gemeinschaft wie einen kollektiven Akteur auftreten, der unmittelbar urteilt, Normen einsetzt und kontrolliert sowie gegebenenfalls seine Mitglieder korrigiert. Auf diese Weise unterschlagen Brandom und Landy jedoch den wichtigen Schritt der Gemeinschaftskonstituierung. Gemeinschaften sind eben keine unvermittelten Akteure, sie sind nicht im einfachen Sinne »subjektiv«, sondern setzen sich aus ihren Mitgliedern zusammen. Die Gemeinschaft begegnet dem Einzelnen stets in der Gestalt anderer Einzelsubjekte. Auf diese Weise tritt wieder das Problem auf, das sich in der unmittelbaren Zweierbeziehung ergeben hatte: Der Einzelne kann schlichtweg bezweifeln, dass das Urteil des Anderen ein angemessenes Korrektiv darstellt. Das heißt hier: Der Einzelne kann bestreiten, dass das andere Subjekt berechtigterweise die Gemeinschaft vertritt. Eine solche Situation führt wieder zu dem gleichen Urteilspatt, das sich auch in der Zweierbeziehung ergeben hatte und weswegen sie sich als unzureichend erwiesen hatte, die Selbstbestimmung des Subjekts zu ermöglichen. Die Frage, wie eine Gemeinschaft sich als Gemeinschaft konstituiert, ist also keine Frage, die lediglich am Anfang steht – sie beschränkt sich nicht auf die Frage nach dem Ursprung der Gemeinschaft –, sondern sie tritt in jedem Gemeinschaftsurteil sowie in jedem Vorgang von Normsetzung und Korrektur erneut auf. Brandom und Landy vernachlässigen somit die Frage nach der Seinsweise und Wirklichkeit selbstbestimmter Gemeinschaften. Eine solche Gemeinschaft muss derartig gestaltet sein, dass beispielsweise die Einigung der Mitglieder auf konkrete Normen und Urteile auf eine Weise stattfindet, dass oben geschilderte Pattsituationen vermieden werden. Brandom hält, wie es scheint, die Frage nach der Konstitution der Gemeinschaft bereits durch die Zweierbeziehung der wechselseitigen Anerkennung für beantwortet. Für ihn ist demnach eine Gemeinschaft nichts mehr als das Gewebe vieler solcher Ich-Du-Beziehungen. Siehe hierzu auch Pippin (2016).
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Dazu gehört auch die Anforderung, dass die Legitimation von Vertretern, welche in konkreten Situationen für die Gemeinschaft sprechen und andere Mitglieder korrigieren dürfen, hinreichend geklärt ist. Die Frage nach der Seinsweise und Wirklichkeit selbstbestimmter Gemeinschaften berührt somit zahlreiche weitere Fragen, etwa nach geeigneten Institutionen der Mitbestimmung, der Repräsentation, der Arbeitsweise von Schiedsgerichten und dergleichen mehr. Hierbei handelt es sich nicht um nachrangige, technisch-politische Schwierigkeiten, die für das eigentliche philosophische Paradox der Selbstbestimmung nur eine untergeordnete Bedeutung besitzen. Stattdessen demonstriert Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, dass das Paradox der Selbstbestimmung erst gelöst wird, wenn diese institutionellen Voraussetzungen der freien Kooperation entwickelt werden. Dies gilt zum einen für das Verständnis individueller Selbstbestimmung: Die Institutionen der Partizipation müssen auf eine Weise beschaffen sein, dass das Subjekt nicht nur am gemeinsamen Urteil mitwirkt, sondern durch seine Mitwirkung auch seine Zustimmung zu einer möglichen Selbstkorrektur gibt, im anderen Subjekt den legitimen Vertreter der Gemeinschaft anerkennt und zugleich dessen abweichendes Urteil als die berechtigte Gestalt seiner Selbstkorrektur sieht. Auf dieser individuellen Ebene bezeichnet das Paradox der Selbstbestimmung eine Schwierigkeit im Verständnis von Autonomie. Das Subjekt gilt erst dann als selbstbestimmt, wenn es eine gewisse Form der Fremdbestimmung – das heißt, eine Form der Korrektur durch andere – zulässt. Wie soll es nun möglich sein, dass der Einzelne sich durch das gemeinsame Urteil selbst korrigiert, beziehungsweise wie ist es verständlich, dass ein Subjekt einem gemeinsamen Urteil zustimmt, obwohl dieses seinem individuellen Urteil widerspricht? Die entscheidende Anforderung und Aufgabe besteht folglich darin, gemeinschaftliche Institutionen der Mitbestimmung zu beschreiben, welche diese Spannung zwischen Autonomie und Korrektur auflösen, die im Paradox ausgedrückt wird. Zum anderen spielt das Verständnis dieser Institutionen der Partizipation eine wichtige Rolle, um die Einheit der Gemeinschaft als Ganzes zu verstehen. Brandom und Landy denken diese Einheit zu stark und zu abstrakt, indem sie die Gemeinschaft wie ein kollektives Subjekt auftreten lassen. So übersehen sie jedoch, dass für ein derartig monolithisches Gemeinschaftssubjekt sich das Paradox der Selbstbestimmung auf genau die gleiche Weise wie bei individuellen Subjekt wieder stellt: Die selbstbestimmten Normen des Subjekts, die von 172 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das Paradox der Selbstbestimmung
der Gemeinschaft »verwaltet« werden, wie Brandom es nennt, sind schließlich zugleich die Normen der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist nicht nur der Treuhänder der Normen jedes Einzelnen – wir dürfen sie uns nicht wie eine Bank vorstellen, die in ihren Schließfächern die je individuellen Vorsätze und Selbstverpflichtungen der einzelnen Kunden verwahrt. Vielmehr ›bewahrt‹ die Gemeinschaft die selbstbestimmten Normen des Einzelnen auf, indem sie die Normen als ihre eigenen Normen verwirklicht. Die selbstbestimmten Normen des Einzelnen müssen daher auch die Normen der Gemeinschaft sein. Die Gemeinschaft ist also genauso wie das Individuum zugleich Gesetzgeber und Adressat ihrer Gesetze. Eine selbstbestimmte Gemeinschaft nimmt folglich ebenfalls eine Doppelrolle ein und muss die Spannung zwischen beiden Rollen überwinden. Ein rein äußerlicher Blick auf Gemeinschaften, der sie als monolithische Einheiten wahrnimmt, kann nicht erklären, wie eine Gemeinschaft diese Doppelrolle ausfüllt. Folglich stehen Brandom und Landy auf der Ebene der Gemeinschaften vor dem gleichen Paradox wie auf der Ebene des Individuums. 18 Hegel zeigt uns in seinen Vorlesungen, dass wir dieses Problems nur habhaft werden, wenn wir nicht beim äußerlich-abstrakten Blick auf die Gemeinschaften als oberflächliche Einheiten stehen bleiben, sondern stattdessen ihre innere institutionelle Struktur sezieren. Die gleichen Institutionen, welche dem einzelnen Subjekt die Mitbestimmung erlauben, verraten uns, wie die Gemeinschaft sich selbst ihre eigenen Gesetze gibt. Beide Ebenen des Paradoxes des Selbstbestimmung hängen für Hegel untrennbar zusammen, das heißt, wir können die Autonomie des Individuums nur durch seine Einbindung in eine selbstbestimmte Gemeinschaft verstehen und eine selbstbestimmte Gemeinschaft nur als Beziehung autonomer Individuen. 19 Wir können das Paradox auf individueller Ebene also Landy erkennt offenbar, dass an dieser Stelle ein Problem für seine Auffassung entsteht, und schlägt die Idee einer »Gemeinschaft von Gemeinschaften« (community of communities) vor, also eine Art von Supergemeinschaft, welche den Gemeinschaften einen unabhängigen Standard des Urteilens garantieren soll (Landy (2008), S. 187). Bezeichnenderweise schweigt sich Landy darüber aus, welche Instanz wiederum der Supergemeinschaft ihren Urteilsstandard bieten könnte, und blendet so die Gefahr eines unendlichen Regresses aus, die sich ihm stellt. 19 Diese wechselseitige Abhängigkeit der Ebenen ist begrifflicher Natur. Es soll hier nicht ausgeschlossen werden, dass es beispielsweise in einer Diktatur einzelne Personen gibt, die autonom handeln. Allerdings zeigt uns diese begriffliche Abhängigkeit, dass das Ideal des stoischen Weisen, der sich in seiner Autonomie völlig unbeeinträchtigt von den äußeren Umständen und seinem Gesellschaftssystem glaubt, auf 18
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nicht isoliert lösen, indem wir auf die soziale Dimension der Selbstbestimmung verweisen, wie dies Brandom und Landy suggerieren, sondern wir müssen das Paradox auf beiden Ebenen angreifen. Dies bedeutet vor allem, dass wir die einheitsstiftenden Institutionen untersuchen müssen, durch welche die Gemeinschaft sich als Gemeinschaft konstituiert und welche den Mitgliedern ihre aktive Mitwirkung ermöglichen.
III.1.4 Hobbes’ vermeintliche Lösung für das soziale Paradox Thomas Hobbes’ Leviathan ist einer der klassischen Texte, die sich mit dem Paradox der Selbstbestimmung auf sozialer Ebene beschäftigen. Als Hobbes seinen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag entwirft, ist er durch die Frage motiviert, wie eine Gemeinschaft zugleich Gesetzgeber und Adressat der eigenen Gesetze sein kann. Für die vorliegende Untersuchung ist Hobbes’ Lösungsversuch des Paradoxes vor allem aus zwei Gründen interessant: Obwohl Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Hobbes nicht namentlich erwähnt, bildet dessen Staatstheorie eine deutlich erkennbare Kontrastfolie zu Hegels Konzept der freien Kooperation. 20 Die demokratische Struktur der griechischen pólis, wie Hegel sie beschreibt, ist ein klares Gegenmodell zu Hobbes’ absolutistischer Gesellschaft des Leviathan. Zweitens lässt sich anhand von Hobbes’ Scheitern die Notwendigkeit zweier Anforderungen an den Begriff der Selbstbestimmung illustrieren, auf die Hegel großen Wert legt, nämlich die Dynamik von Selbstbestimmung sowie die Verflechtung von individueller und sozialer Selbstbestimmung. Hobbes konstruiert ein Verständnis von Selbstbestimmung, welches ohne diese beiden Anforderungen auskommt und das durch sein Scheitern als einseitig entlarvt wird. In seinem Leviathan begeht Hobbes gewissermaßen den gegenteiligen Fehler zu Brandom und Landy (siehe Abschnitt III.1.3), indem er das Paradox der Selbstbestimmung rein auf sozialer Ebene als Kooperationsproblem diskutiert und somit von der Frage individueller Autonomie entkoppelt. Der Grund für diese einseitige Betrachtung liegt darin, dass für Hobbes der Gedanke der einem Irrtum beruht. Seneca kann unter Kaiser Nero eben nicht so selbstbestimmt leben, wie er dies in seinen Selbstversicherungen behauptet. 20 Vgl. auch Hegel, VGPhil.III S. 225–229.
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Das Paradox der Selbstbestimmung
Selbstverpflichtung in sich widersprüchlich ist, das heißt, für ihn ist es unvorstellbar, wie eine Person zugleich Normen vorschreibt und diesen Normen gehorcht. Hobbes erklärt den Begriff eines autonomen Willens ausdrücklich zu einem widersinnigen Begriff. 21 Daraus folgt für ihn erstens, dass es keine individuelle Selbstbestimmung geben könne und der Begriff ausschließlich soziale Bedeutung habe, also die Souveränität eines Staates meine. 22 Zweitens bedeutet dies für Hobbes, dass die Doppelrolle der Selbstbestimmung unmöglich von einer einzelnen Person ausgefüllt werden könne. Folgerichtig verteilt Hobbes die beiden Aufgaben der Selbstbestimmung auf zwei unterschiedliche, streng voneinander getrennte soziale Rollen: Auf der einen Seite steht ein Souverän, der über die Gemeinschaft herrscht, auf der anderen Seite sieht Hobbes die Untertanen, die den Befehlen des Souverän gehorchen. Der Herrscher selbst ist von seinen Gesetzen ausgenommen, er ist also nicht zugleich Adressat seiner eigenen Gesetzgebung. Eine solche staatliche Gemeinschaft entsteht gemäß Hobbes, indem alle beteiligten Personen ihre gesamte »Macht und Stärke« auf den Souverän übertragen. Dies bedeutet, dass jeder der Untertanen sich vollständig dem Willen des Herrschers unterwirft und dessen Urteile als seine eigenen Urteile anerkennt: Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen […], liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen […]. Das heißt so viel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor 21 Vgl. Hobbes, Leviathan I.5, S. 34: »Und Wörter, durch die wir nur den Schall erfassen, nennen wir widersinnig, nichtssagend und sinnlos. Und sollte mir deshalb einer mit einem runden Viereck und Akzidenzien von Brot im Käse oder mit immateriellen Substanzen kommen, oder mit einem freien Untertanen, einem freien Willen oder irgend einer anderen Freiheit außer der des Freiseins von hindernden Widerstand, so darf ich nicht sagen, er befinde sich in einem Irrtum, sondern seine Worte seien ohne Bedeutung, das heißt widersinnig.« 22 Ebd., II.21, S. 166: »Die Freiheit, die so häufig in der Geschichtsschreibung und Philosophie der alten Griechen und Römer sowie in den Schriften und Reden derer gepriesen wird, die aus diesen Quellen ihr ganzes politisches Wissen geschöpft haben, ist nicht die Freiheit von Einzelmenschen, sondern die Freiheit von Staaten. […] Die Athener und Römer waren frei, das heißt, ihre Staaten waren frei.«
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III · Tugend und Selbstbestimmung
all dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft. 23
Hobbes zielt mit seinem Konstrukt auf einige der genannten Schwierigkeiten, die mit dem Paradox der Selbstbestimmung auf gemeinschaftlicher Ebene verbunden sind (siehe hierzu auch Abschnitt III.1.3): Die Person des Souverän verkörpert die Einheit der Gemeinschaft des Leviathans. Er tritt nicht nur als legitimer Stellvertreter der Gemeinschaft auf, sondern seine Äußerungen und Urteile gelten als identisch mit den Äußerungen und Urteilen der Gemeinschaft. Auch die Fragen, wie die Korrektur des Einzelnen vonstattengeht oder mit einem Urteilsdissens umgegangen wird, beantwortet Hobbes eindeutig: Die Anerkennung der Gemeinschaft durch das Subjekt entspricht bei Hobbes einer vollständigen Unterwerfung des Einzelnen unter den Souverän. In der Gestalt des Souveräns begegnet der Einzelne der Gemeinschaft und übernimmt gänzlich dessen Urteile. Ein Urteilsdissens kann somit nur als ein Irrtum des Einzelnen gedeutet werden. Durch seine Unterwerfung nimmt sich der Einzelne jegliches Recht auf Kritik oder Widerspruch – das Wort des Souveräns ist für ihn der einzig richtige Ausdruck seiner Normen. Die Institutionen des Leviathans erwecken den Eindruck, als habe Hobbes sie allein für den Zweck zugeschnitten, die Einheit der Gemeinschaft so eindeutig und robust wie möglich zu gestalten, um auf diese Weise einem staatlichen Zerfall wie im verheerenden englischen Bürgerkrieg vorzubeugen. Die Schwächen von Hobbes’ Verständnis gemeinschaftlicher Kooperation werden allerdings genau durch den Umstand verursacht, dass Hobbes den Begriff der Selbstbestimmung einseitig in seiner sozialen Dimension betrachtet. Indem er die Frage nach der individuellen Selbstbestimmung als absurd abweist, bricht auch die vermeintliche soziale Selbstbestimmung des Leviathans zusammen. Zum einen zeigt sich dies in der Gestalt des herrschenden Souveräns: Der Herrscher wird zwar von all seinen Untertanen durch ihre Unterwerfung als gesetzgebende Autorität anerkannt, er selbst erkennt aber niemanden als gleichwertiges Subjekt an. 24 Der Herrscher sieht somit nur Untertanen, keine Subjekte. Ohne ein subjekthaftes Gegenüber, das den Herrscher für seine eigenen Normsetzungen verantwortlich macht und ihn in seinem Urteilen gegebenenfalls korrigiert, kann der Herrscher jedoch nicht selbstbestimmt handeln. 23 24
Ebd., II.17, S. 134. Ebd., II.18, S. 137.
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Das Paradox der Selbstbestimmung
Der Herrscher wird so Opfer des Paradoxes der Selbstbestimmung auf individueller Ebene. Für ihn gibt es keinen unabhängigen Standard, der ihm ein vernünftiges Überlegen, Planen und Handeln erlaubt. Seine Äußerungen und Urteile sind daher keine vernünftigen, selbstbestimmten praktischen Urteile, sondern lediglich erratische Äußerungen seiner Willkür. Hobbes’ Souverän ist ein typisches Beispiel für Hegels Selbstbewusstsein der Begierde (siehe Abschnitt III.1.2). Zum anderen ist offenkundig, dass die Untertanen nicht selbstbestimmt handeln: Die Untertanen unterwerfen sich zwar aus eigenem Antrieb dem Souverän – für Hobbes gilt diese Unterwerfung auch dann als freiwillig, wenn sie aus Furcht oder Androhung von Gewalt geschieht – 25, aber dieser Akt der Anerkennung und Übertragung der eigenen Urteilsautorität auf den Souverän geschieht seltsam absolut und einseitig. In einem rein abstrakten Sinn mag die Unterwerfung vielleicht selbstbestimmt erscheinen, aber sie ähnelt eher einer Selbstverstümmelung, bei der der Einzelne sich zum willenlosen Objekt degradiert. Der Untertan überträgt dem Souverän seine Autonomie, das heißt die Autorität über sein eigenes, normgeleitetes Handeln. Durch diese Übertragung erkennt der Untertan den Herrscher als Subjekt an – nur ein Subjekt kann die Autorität über Normen ausüben –, wird aber selbst nicht vom Herrscher als Subjekt anerkannt. Da die Unterwerfung einseitig geschieht, überträgt der Untertan seine Autorität und seinen Willen auf den Herrscher, das heißt auf eine Person, aus dessen Perspektive der Untertan eben nicht als Subjekt erscheint. Der Wille des Untertanen wird somit von einem Verwalter vertreten, der diesen Willen nicht als den Willen eines Subjekts auffassen kann. Auf diese Weise gibt der Untertan seinen eigenen Subjektstatus auf und macht sich zum Objekt des Handelns des Herrschers. Durch diese Selbstaufgabe hebt sich aber der Grund und die Berechtigung der Übertragung auf. Der Untertan kann nicht an eine Vereinbarung gebunden sein, in der er gar nicht als Subjekt der Vereinbarung auftritt. Dieser Einwand gegen Hobbes’ Modell eines Unterwerfungsvertrags ist unabhängig vom Begriff der individuellen Autonomie, den Hobbes ablehnt – es handelt sich also um einen internen Einwand, auf den Hobbes selbst hätte stoßen müssen. Die Ursache, weshalb Hobbes seinen Fehler nicht sieht, liegt vermutlich in seiner Auffassung von Willen und Zustimmung. Hobbes scheint Willensentscheidungen, Zustimmung und die Anerkennung 25
Ebd., I.14, S. 106.
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einer anderen Person für augenblickshafte, punktuelle Ereignisse zu halten. Eine Zustimmung beispielsweise wird aber nicht plötzlich in die Welt gesetzt und führt anschließend ein Eigenleben unabhängig von ihrem Urheber. Eine Zustimmung ist selbst eine Handlung und somit ein kontinuierlicher Prozess, ebenso die Anerkennung eines Anderen oder die Einsetzung eines Vertreters. Somit ist eine Zustimmung wesentlich das Zustimmen eines Subjekts und Anerkennung ist wesentlich das Anerkennen durch ein Subjekt. Hieraus folgt, dass ein Subjekt keiner Unterwerfung im Sinne Hobbes’ zustimmen kann, bei der es aufhört, ein Subjekt zu sein – denn in diesem Fall gäbe es niemanden mehr, der zustimmt und somit die Zustimmung aufrecht hält. Gerade weil Hobbes den Charakter der Zustimmung als kontinuierliche Tätigkeit verkennt, erscheint sein Modell der Unterwerfung auch unangemessen starr. Es ist zwar richtig, dass unsere Zustimmung, unsere Entscheidungen und Verpflichtungen eine gewisse Stabilität und Dauer besitzen müssen, um überhaupt also solche zu gelten und um vernünftiges, verlässliches Handeln zu ermöglichen. Wir müssen aber zugleich erkennen, dass unsere Welt, in der wir handeln, grundsätzlich offen ist und sich verändern kann. Auch unser Handlungswissen über diese Welt ist stets nur beschränkt und stellt eine Momentaufnahme dar. Diese grundsätzliche Offenheit der Welt und die Endlichkeit unseres Wissens führen dazu, dass wir zwar einerseits uns in unseren Verpflichtungen binden müssen, um vernünftig und selbstbestimmt handeln zu können, andererseits können diese Bindungen und Verpflichtungen niemals absolut sein. Wir müssen zwar Verträge, die wir schließen, und Versprechen, die wir geben, prinzipiell einhalten. Es kann bei solchen Verpflichtungen aber niemals ausgeschlossen werden, dass sich die Umstände schwerwiegend ändern und die gegebene Verpflichtung nichtig machen. Eine Person, die ein Versprechen einhält, obwohl sich die Situation radikal geändert hat und der Sinn des Versprechens der neuen Situation nicht mehr gemäß ist – vielleicht sogar dem Empfänger des Versprechens schadet –, handelt nicht verlässlich oder vernünftig, sondern wie ein Wahnsinniger. Hobbes’ Begriff der Unterwerfung wird dieser Offenheit der Welt nicht gerecht und kann daher keine vernünftige Selbstbestimmung sein. Selbstbestimmung enthält zwar, wie Brandom und Landy in ihrer Diskussion der individuellen Dimension der Selbstbestimmung gezeigt haben, das Moment der Autorisierung eines Gegenübers, die eigenen Normen gegebenenfalls auch gegen eigene, zukünftige Urteile durchzusetzen. Die Autorisierung des An178 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das griechische Zwei-Phasen-Modell
deren kann und darf aber nicht starr und absolut sein, wie Hobbes sie sich vorstellt. Selbstbestimmung ist daher stets dynamisch, das heißt, sie schließt die Möglichkeit der Kritik und auch der Rücknahme der eigenen Normen mit ein. Eine Gemeinschaft kann daher nur dann als selbstbestimmt gelten, wenn ihre Mitglieder nicht nur die Gelegenheit haben, ihren Herrscher einzusetzen, sondern es für sie zusätzlich irgendwelche Möglichkeiten der Teilhabe gibt: Es muss ihnen erlaubt sein, ihre eigenen Gesetze zu kritisieren und – etwa bei einer bedeutsamen Änderung der Umstände – auch bei der Um- und Neugestaltung ihrer Gesetze mitzuwirken. Diese Dynamik der Selbstbestimmung bedeutet allerdings, dass Hobbes’ Lösungsversuch für das Paradox der Selbstbestimmung keinen Ausweg darstellt. Die Rollen zwischen Gesetzgeber und Adressat des Gesetzes, zwischen Schöpfer und Ausführendem der gemeinsamen Normen können nicht vollständig getrennt sein, sondern die Mitglieder einer Gemeinschaft müssen beide Rollen ausüben. Diese Tatsache unterstreicht freilich noch, dass das Paradox der Selbstbestimmung nicht nur als Problem der individuellen oder der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung untersucht werden kann, sondern dass beide Ebenen untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. Abschnitt III.1.3). Im folgenden Kapitel III.2 stelle ich Hegels Griechen vor, deren pólis in vielen Hinsichten einen Gegenentwurf zu Hobbes’ absolutistischen Staat darstellt: Den antiken Griechen ist es gelungen, so Hegel, für eine gewisse Zeit eine freie, selbstbestimmte Kooperation zu schaffen, welche dem einzelnen Bürger individuelle Selbstbestimmung im Rahmen seiner Gemeinschaft erlaubt und die zugleich dynamisch ist, indem sie offen für Umgestaltungen und Kritik ist.
III.2 Das griechische Zwei-Phasen-Modell als Antwort auf das Paradox der Selbstbestimmung III.2.1 Vorbemerkung und Übersicht über das Kapitel In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte führt Hegel die Griechen als das erste Volk der Freiheit ein: »In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen«. 26 Hegel verklärt die Griechen nicht, er beschönigt 26
Hegel, VPhGes S. 31.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
nicht ihre Angewiesenheit auf Sklaverei, den griechischen Elitismus und ihre Verachtung aller Nichtgriechen als Barbaren. 27 Hegel bezeichnet die griechische Freiheit ausdrücklich als eine vormoderne und unvollkommene Form der Freiheit, aber trotz dieser Beschränkungen sind für ihn die Griechen dennoch wesentlich frei. Er spricht von »der ersten und wahrhaften Gestalt« der Freiheit bei den Griechen. 28 Diese Auszeichnung bedeutet für Hegel, dass die Griechen das Paradox der Selbstbestimmung, wie es im vorigen Kapitel III.1 geschildert wurde, zumindest vorläufig gelöst haben. Anders als frühere Kulturen, die laut Hegel alle mehr oder weniger auf Gewaltandrohung oder internalisiertem Zwang beruhen, haben die antiken Griechen für die privilegierte Klasse der Vollbürger eine Gemeinschaft der freien Kooperation geschaffen. Die Freiheit der Griechen bezieht sich sowohl auf die individuelle als auch auf die gemeinschaftliche Selbstbestimmung, das heißt, der Einzelne ist Herr über seine eigenen Normen und lebt in einer Gemeinschaft, die sich selbst ihre Gesetze gibt. Somit gehorchen die Griechen ihren Gesetzen nicht wie der Untertan bei Hobbes, der sich völlig den Geboten seines Herrschers unterwirft, sondern aufgrund freier, wechselseitiger Anerkennung. Die Vollbürger sind für sich autonom und an der politischen Gestaltung beteiligt. Jeder herrscht und wird auf gewisse Weise beherrscht, alle Vollbürger sind Gesetzgeber und Adressaten ihrer Normen. Für Hegel ist zudem wichtig, dass die griechische Freiheit eine bewusste Freiheit ist. Die Gemeinschaft der griechischen Bürger erlebt ihre Freiheit nicht in einem Zustand paradiesischer Unschuld. Vielmehr verstehen sie, dass ihre freie Kooperation eine Antwort auf die Herausforderung des Paradoxes der Selbstbestimmung ist, und sie betonen ihre Freiheit stolz als eine Errungenschaft, mit der sie sich von den repressiven Gemeinschaften ihrer Feinde abgrenzen. 29 Den Griechen ist es reflektiert gelungen, so Hegel, den scheinbaren Widerspruch im Charakter selbstbestimmter Normen zwischen dem Moment der Gestaltung und dem Moment der Verpflichtung aufzuheben. Die früheren antiken Kulturen, die Hegel schildert, verfahren im Grunde mit der Herausforderung des Paradoxes wie Hobbes in seinem Leviathan (vgl. Abschnitt
Vgl. z. B. ebd., S. 310–312. Ebd., S. 309. 29 Deutlich wird der Stolz der Griechen auf ihre Errungenschaft der Freiheit beispielsweise in Hegels Zusammenfassung des perikleischen Epitaphios in Hegel, VPhGes S. 318 f. 27 28
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
III.1.4), indem sie die beiden Momente selbstbestimmter Normen auf zwei getrennte soziale Rollen aufteilen, den herrschenden Souverän und die gehorchenden Untertanen. Eine solche Zerteilung der Selbstbestimmung auf verschiedene Personen zerstört offensichtlich ihren selbstbezüglichen Charakter – sie hört folglich auf, Selbstbestimmung zu sein. Hegels Griechen hingegen präsentieren für das Paradox eine andere Lösung, die einerseits von einer eleganten Schlichtheit ist, andererseits radikale soziale Folgen mit sich bringt: Hegels Griechen ordnen die beiden widerstreitenden Momente des Begriffs der Selbstbestimmung zwei zeitlich getrennten Tätigkeiten derselben Personengruppe zu. Selbstbestimmung ist somit für sie ein Prozess, der sich in zwei verschiedene Phasen untergliedert. In der ersten Phase einigt sich die Gemeinschaft der Bürger auf die sittlichen Normen, auf die sie sich verpflichten wollen. Diese Phase entspricht dem Moment der Gestaltung. In der zweiten Phase werden die Normen angewandt, die in der ersten Phase geschaffen wurden. Diese Phase entspricht dem Moment der Verpflichtung. Auf diese Weise gibt es nicht die Rollen des Herrschers und des Beherrschten, sondern alle Vollbürger herrschen und gehorchen abwechselnd, je nach der aktuellen Phase. 30 Die beiden Phasen sind durch spezifische Tätigkeiten der Bürger gekennzeichnet. In ihnen wird jeweils unterschiedlich mit den eigenen Normen umgegangen und es herrscht ein anderes Verhältnis der Subjekte zueinander und zur Gemeinschaft. So wird beispielsweise in den Phasen ein Dissens zwischen Bürgern unterschiedlich bewertet: In der ersten Phase verhandeln die Bürger über die Gestalt ihrer Normen und die gemeinsame Deutung des Inhalts der Normen. Unterschiedliche Auffassungen bedeuten hier, dass die Aushandlung der Normen offensichtlich noch nicht abgeschlossen wurde, weil noch keine Einigung vorliegt. Die verschiedenen Meinungen und Deutungsansätze der Bürger werden als Beiträge zur gemeinsamen Aushandlung behandelt. Die zweite Phase tritt ein, wenn die Bürger sich erfolgreich auf eine gemeinsame Deutung ihrer Normen geeinigt haben. In der zweiten Phase werden diese selbstbestimmten Normen angewandt. Sie dienen als objektiver Standard, an dem die 30 Mit diesem Gedanken kann sich Hegel auf Aristoteles’ Politik berufen, wo es heißt: »Freilich sind die meisten Staatsregierungen (politiké arché) so eingerichtet, daß Regieren und Regiertwerden (árchesthai) miteinander abwechseln […].« (Aristoteles, Pol. I.12, 1259b5 ff.) Aristoteles erläutert, dass es insbesondere dann gerecht sei, dass sich Herrschen und Beherrschtwerden einander abwechseln, wenn ein Staat aus Gleichen bestehe. (ebd. III.16, 1287a15 f.)
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III · Tugend und Selbstbestimmung
Urteile des Einzelnen gemessen werden und der ein vernünftig-autonomes Handeln erlauben soll (siehe Abschnitt III.1.2). Es wird von den Bürgern erwartet, dass sie mit den Normen vertraut sind – es sind schließlich ihre eigenen, selbstbestimmt anerkannten Normen. Tritt nun in dieser Phase Dissens ein, wird er als ein Abweichen vom gemeinsamen, objektiven Standard bewertet. Dissens gilt in dieser Phase also als ein Zeichen für Irrtum oder schlechtes Handeln. Die Gemeinschaft nimmt sich deshalb in dieser Phase das Recht, den Einzelnen zu korrigieren. Die Korrektur des Einzelnen kann sogar darauf hinauslaufen, dass die entsprechende Person gegen ihren konkreten Willen gezwungen oder bestraft wird. Übt die Gemeinschaft derartig Gewalt gegen den Einzelnen aus, stellt dies nicht etwa eine Beschränkung seiner Selbstbestimmung dar, im Gegenteil: Indem der Einzelne in der Gemeinschaft einen objektiven Standard vorfindet, der einerseits von seinem willkürlichen Augenblicksurteil unabhängig ist, aber andererseits durch ihn selbst anerkannt wurde, wird ihm durch diesen Standard selbstbestimmtes Handeln und Urteilen erst ermöglicht (s. o.). Auf diese Weise soll garantiert werden, dass ein Subjekt die praktischen Normen mitgestaltet, die ihn selbst verpflichten – so zumindest die Lösung der Griechen, die allerdings ihre eigenen Tücken hat, auf die ich in den Teilen V und VI zu sprechen komme. Insbesondere die sophistisch-sokratische Kritik, die letztlich den Untergang des griechischen Geistes auslöst, richtet sich ausdrücklich gegen das griechische Zwei-Phasen-Modell der selbstbestimmten Normen. Die Unterscheidung der beiden Phasen ist somit zentral für das Verständnis von Hegels Griechen. Sie ist das entscheidende Werkzeug, mit dem sie ihre Freiheit verwirklichen und das Paradox der Selbstbestimmung in den Griff bekommen wollen. Die Zwei-PhasenStruktur ist jedoch ein philosophisch mangelhaftes Modell selbstbestimmter Normen, wie die sophistisch-sokratische Kritik entlarvend beweist. An diesen strukturellen Mängeln geht die griechische pólis in Hegels Darstellung schließlich zugrunde. Mein Lektürevorschlag besteht folglich in der Deutung, dass Hegel den griechische Geist durch das Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen charakterisiert. Hegel selbst verwendet jedoch nicht die Bezeichnung separater »Phasen«. Ich habe diese Redeweise in Anlehnung an Robert Brandom gewählt (s. u.), weil sie mir geeignet erscheint, um das griechische Normverständnis in aller Kürze zu beschreiben und weil sich so verschiedene Hinweise Hegels zur Struktur und zur Problematik der griechischen Sittlichkeit am ehes182 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Das griechische Zwei-Phasen-Modell
ten zusammenfassen lassen. Da mein Lektürevorschlag ein Vokabular einführt, das Hegel fremd ist und gängigen Interpretationen der Sekundärliteratur widerspricht, ist besondere Vorsicht geboten. Im vorliegenden Kapitel sammle ich daher Hinweise, die meinen Lektürevorschlag unterstützen und die Rede vom Zwei-Phasen-Modell der Griechen in Hegels Vorlesungen nahelegen. In Abschnitt III.2.2 stelle ich einige Textbelege aus Hegels Beschreibungen der griechischen Sittlichkeit vor, in denen die zeitlich getrennte, zweiphasige Struktur von Normgestaltung und Normanwendung deutlich wird. Allerdings glaube ich, dass sich diese Interpretationsfrage nicht allein auf philologisch-exegetischem Weg lösen lässt, da Hegels Vorlesungen und weitere Texte derart vielschichtig und schwierig sind, dass jede Lesart sich nolens volens des Eklektizismus schuldig machen muss. Aus diesem Grund diskutiere ich im Kapitel III.3 ein systematisches Argument für meine Lesart, das darauf abzielt, dass Hegel die sittlichen Normen der Griechen im Wesentlichen als Tugendnormen beschreibt. Tugendnormen besitzen jedoch, sofern sie als selbstbestimmte Normen gelten, die fragliche Zwei-Phasen-Struktur, wie ich zeigen werde. Ein weiteres, indirektes Argument für meine Lesart stelle ich schließlich in den Teilen V und VI dieser Arbeit vor, in denen ich Hegels Darstellung der Sophisten und des Prozesses gegen Sokrates untersuche. Es zeigt sich, dass Hegels Analyse des Prozessgeschehens sich passgenau als Kritik am griechischen Zwei-PhasenModell selbstbestimmter Normen lesen lässt. Zunächst ist aber das Zwei-Phasen-Modell selbstbestimmter Normen nichts spezifisch Griechisches, es ist weder an die griechische pólis noch an antike Denkschulen geknüpft. Auch glaubt Hegel nicht, die Griechen seien die einzigen Anhänger dieser Normauffassung. Die grundlegende Struktur des Zwei-Phasen-Modells erscheint vergleichsweise einfach und intuitiv. Deshalb ist es keine Überraschung, dass uns das Modell in verschiedenen Gestalten in der Philosophiegeschichte begegnet. Ein naheliegendes Beispiel, von dem vermutlich auch Hegels Darstellung der antiken Griechen beeinflusst wurde, ist Rousseaus Contrat Social. Aber auch als ein Modell theoretischer Normen finde das Zwei-Phasen-Modell seine Anwendung, so Robert Brandom in seinem Aufsatz »Einige pragmatistische Themen in Hegels Idealismus«. Brandom sieht beispielsweise in Rudolf Carnap einen mustergültigen Anhänger des Zwei-Phasen-Modells:
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III · Tugend und Selbstbestimmung
Carnap gab eine Erklärung von Bedeutungsgehalten und Überzeugungen, Sprache und Theorie, die zwei Phasen unterscheidet. Ihm zufolge ist nämlich die Tätigkeit, in der sprachliche Bedeutungsgehalte fixiert werden, prinzipiell vorgängig gegenüber derjenigen, in der wir Behauptungen aufstellen bzw. Überzeugungen ausbilden, die anhand dieser Bedeutungsgehalte ausgedrückt werden können. Zuerst regelt man demnach die Sprache, bestimmt die mit verschiedenen Ausdrücken verbundenen Bedeutungsgehalte bzw. begrifflichen Inhalte und legt damit fest, wie die Welt beschaffen sein müsste, damit die Behauptungen, die wir durch die Verwendung dieser Ausdrücke formulieren können, wahr wären. In dieser ersten Phase hat derjenige, der die Sprache verwendet, vollständige Autorität. Danach schaut man in die Welt, um zu sehen, welche Anwendungen dieser Begriffe, also welche der Behauptungen, die sich mit dem so eingeführten Vokabular ausdrücken lassen, wahr sind. In dieser zweiten Phase liegt die gesamte Autorität auf Seiten der Welt, die bestimmt, welche der Theorien, die anhand dieser Ausdrücke formuliert werden könne, wahr sind. 31
Auch Immanuel Kant mache in seiner theoretischen Philosophie von der Struktur des Zwei-Phasen-Modells Gebrauch, so Brandom, um den Ursprung und die Funktion begrifflicher Normen zu erläutern. Kant ziehe eine klare Trennung zwischen der Hervorbringung und dem Gebrauch dieser Normen, zwischen dem Prozess also, in dem sie Erkenntnis- und Handlungssubjekten zugänglich werden, und der Praxis ihrer Verwendung. Kant gibt uns hier eine zweistufige Erläuterung, der zufolge durch eine Art von Tätigkeit begriffliche Normen instituiert werden und diese Begriffe dann durch eine Tätigkeit anderer Art angewandt werden. 32
In den Phasen seien unterschiedliche Vernunftvermögen tätig. So werde die ersten Phase durch die reflektierende Urteilskraft charakterisiert, welche die Aufgabe habe, für ein gegebenes Besonderes ein Allgemeines (also eine Regel oder einen Begriff) zu bilden. In der zweiten Phase hingegen sei die bestimmende Urteilskraft aktiv, welche die derartig gebildeten Begriffe auf Besonderes anwende. 33 Kant und Carnap nutzten beide das Zwei-Phasen-Modell, um zu erläutern, wie theoretische Begriffe als selbstbestimmte Begriffe gedacht werden können, die zwar einerseits von uns konstruiert werden, aber andererseits uns auf diese selbstgewählten, begrifflichen Normen verpflichten. Die Schwierigkeit, die beiden widerstreitenden 31 32 33
Brandom (2015), S. 86 f. Ebd., S. 275. Ebd. Vgl. auch Kant, KU B XXVI f.
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
Momente selbstbestimmter Normen miteinander zu vereinen, mit der sich laut Brandom Kant und Carnap im Bereich des Theoretischen beschäftigen, entspricht somit genau dem Paradox der Selbstbestimmung, das ich am Beispiel praktischer Normen in Kapitel III.1 beschrieben habe. Brandom liest zentrale Abschnitte der Phänomenologie des Geistes als eine Attacke Hegels auf das kantische ZweiPhasen-Modell begrifflicher Normen (und somit indirekt auch auf Carnaps neokantianische Variante). Gegen Kants zweiphasige Erläuterung argumentiere Hegel für eine monistische Erklärung, welche die Gestaltung begrifflicher Normen als einen kontinuierlichen, einheitlichen Prozess begreife. Hegel verstehe demnach begriffliche Normen nicht als etwas Fixiertes und Objektives, auf das ohne Weiteres zugegriffen werden könne. Vielmehr enthalte jede Anwendung eines Begriffs ein schöpferisches Moment. Brandom zufolge liegt in diesem monistischen Begriffsverständnis sogar der Schlüssel zum Verständnis des hegelschen Idealismus; es bilde das Herz- und Kernstück von Hegels Denken. 34 Mein Lektürevorschlag besteht im Anschluss an Brandom darin, dass wir dieses Anliegen Hegels, zweistufige Erklärungen selbstbestimmter Normen zu kritisieren und durch eine monistische Erklärung zu ersetzen, auch in Hegels Vorlesungen zu den antiken Griechen wiederfinden. Während Hegel sich in der Phänomenologie mit Kants Auffassung selbstbestimmter theoretischer Normen auseinandersetzt, untersucht er in den Vorlesungen die analoge Auffassung praktischer Normen bei den antiken Griechen. Die sophistisch-sokratische Kritik am griechischen Zwei-Phasen-Modell der Tugendnormen, die ich in den Teilen V und VI dieser Arbeit vorstelle, entspricht in wesentlichen Zügen Hegels Kritik dieser Normauffassung, auch wenn Hegels eigene Position weder mit derjenigen der Sophisten noch mit der des Sokrates identisch ist. Hegels Kritik an der antiken Auffassung von Tugendnormen in seinen Vorlesungen ist allerdings mehr als nur eine bloße Variation alter Ideen, die er bereits zwei Jahrzehnte früher in der Phänomenologie entwickelte. Genauer betrachtet gerät Hegels Kritik an der antiken Tugend noch einschneidender und radikaler als diejenige gegen Kant. Hegel wendet sich nicht gegen eine bestimmte Auffassung von Tugendnormen, etwa gegen einen platonischen oder aristotelischen Tugendbegriff, sondern grundsätzlich gegen Tugenden als Prinzip der Selbstbestimmung. Tugenden besitzen wesentlich eine zweiphasige Struktur, ganz 34
Vgl. Brandom (2015), S. 277.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
gleich, welche antiken oder modernen Tugendethiken wir betrachten. 35 Entscheidend für diese Struktur ist, dass Tugenden als vernünftiger Habitus verstanden werden, der notwendigerweise durch einen ausgedehnten Lernprozess erworben wird. Tugendhaft werden wir nicht instantan, sondern durch einen Prozess der Gewöhnung. Jede Tugendethik, welche das Erfordernis dieses Lernprozesses ernst nimmt, ist zumindest auf die grundlegende Eigenschaft des ZweiPhasen-Modells verpflichtet, nämlich die zeitliche Trennung von Normgestaltung und Normanwendung, wie ich in Kapitel III.3 erörtern werde. Hegels Kritik am Zwei-Phasen-Modell selbstbestimmter praktischer Normen beschränkt sich somit nicht auf die Sittlichkeit der antiken pólis, sondern besagt, dass Tugendnormen grundsätzlich nicht als das Prinzip praktischer Selbstbestimmung dienen können. Die Einsicht aus Hegels Vorlesungen über die Griechen ist daher fundamental: Tugendnormen, ganz gleich in welcher Fassung sie uns präsentiert werden und mit welchen raffinierten philosophischen Modifikationen sie versehen werden, können nicht das Paradox der Selbstbestimmung lösen. Anders formuliert: Eine selbstbestimmte Gemeinschaft kann sich nicht allein auf Tugendnormen gründen. Sie benötigt zusätzlich andere Normen und Standards ihres Handelns. Tugenden können in einer selbstbestimmten Gemeinschaft zwar eine Rolle spielen, aber ihre Bedeutung für die Selbstbestimmung ist nur abgeleitet, wie Hegels Kritik zeigt.
III.2.2 Textliche Hinweise für das Zwei-Phasen-Modell Ein Grund für die Schwierigkeit, Hegels Bemerkungen zu den antiken Griechen in seinen verschiedenen Vorlesungen zu einem einheitlichen, konsistenten Bild zusammenzufügen, besteht darin, dass Hegel in diesen Texten zwei scheinbar gegenläufige Motive miteinander Im Gegensatz dazu ist es beispielsweise begrifflichen Normen äußerlich, dass sie wie von Carnap in einem zweistufigen Prozess vorgestellt werden. Nichts in der Natur theoretischer Begriffe verlangt, dass sie auf diese Weise gedacht werden. Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass wir einen theoretischen Begriff zunächst erst mit einer umrisshaften Definition einführen und die Bedeutung erst nach und nach genauer bestimmen – dies scheint mir sogar das typische Vorgehen in den meisten empirischen Wissenschaften zu sein. So erkennen wir häufig erst durch die empirische Anwendung des Begriffs, dass bestimmte innere Unterscheidungen getroffen werden müssen, an die wir bei der ursprünglichen Definition nicht gedacht haben.
35
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
verflicht. Einige Bemerkungen lassen die Griechen als eine traditionsbetonte, erzkonservative Gemeinschaft erscheinen. Beispielsweise heißt es, in der griechischen Sittlichkeit gelten »die Gesetze in der Weise der Naturnotwendigkeit« und »Sitte und Gewohnheit [sind] die Form […], in welcher das Rechte gewollt und getan wird«. 36 Solche Formulierungen erwecken den Eindruck, die Griechen handelten aus purer Gewohnheit und betrachteten ihre überlieferten Sitten wie unumstößliche Naturgesetze. Dieser Eindruck wird durch die religiöse Sprache verschärft, mit der Hegels Griechen ihre sittlichen Normen beschreiben. Die Sitten werden von den Griechen nicht nur als »göttliche Gesetze« sakralisiert, sondern sogar in den Gestalten von Zeus, Hera, Demeter und den anderen Olympiern als personifizierte Götter verehrt: Es tritt damit reale Sittlichkeit ein; denn das Göttliche, in die bestimmten Verhältnisse des wirklichen Geistes eindringend, sich bestimmend nach der substantiellen Einheit, ist das Sittliche. Damit ist auch die reale Freiheit der Subjektivität gesetzt, denn der bestimmte Inhalt ist dem endlichen Selbstbewußtsein gemeinschaftlich mit seinem Gotte; sein Gott hört auf, ein Jenseits zu sein, und hat bestimmten Inhalt, der nach seiner bestimmten Seite in die Wesentlichkeit gehoben und durch das Aufheben der unmittelbaren Einzelheit ein wesentlicher Inhalt geworden ist. 37
Das Göttliche ist für die Griechen das Sittliche – und umgekehrt. Diese Apotheose des Sittlichen suggeriert, die Griechen akzeptierten ihre sittlichen Normen schlicht als etwas Gegebenes, Unveränderliches und als höhere Gewalt. Der Wille eines Gottes dürfe nicht bezweifelt werden, so scheint es, und Kritik an den Sitten komme einer Blasphemie gleich. Diesem Eindruck widersprechen jedoch andere Bemerkungen, in denen Hegel die Freiheit der Griechen betont und ihre Sitten als positive, menschengemachte Normen beschreibt: In Griechenland sei erstmalig die »Freiheit des Individuum« gegeben, 38 das griechische Prinzip sei die »subjektive Freiheit«. 39 Ziel der familiären und staatlichen Erziehung sei die Ausbildung zur »freien Individualität«. 40 Die Griechen lebten so frei »wie der Vogel in der Luft
36 37 38 39 40
Hegel, VPhGes S. 308. Ders., VPhRel.II S. 98. Ders., VPhGes S. 306. Ders., VPhRel.II S. 104. Ders., VPhGes S. 293.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
singt«. 41 Insbesondere sind die klassischen Griechen laut Hegel keine dogmatischen Traditionalisten: Der demokratische Staat [der Griechen, MP] ist nicht patriarchalisch, ruht nicht auf dem noch ungebildeten Vertrauen, sondern es gehören Gesetze sowie das Bewußtsein der rechtlichen und sittlichen Grundlage dazu, sowie daß diese Gesetze als positiv gewußt werden. 42
In diesem Zitat, in dem Hegel die Verfassung der antiken pólis beschreibt, widerspricht er offenbar direkt dem ersten Motiv, das die griechische Sittlichkeit als unreflektierte Gewohnheit und heilige Ordnung zeichnet. Die Griechen befolgen ihre Sitten eben nicht aufgrund von »ungebildetem Vertrauen«, sondern sie wissen, dass ihre Gesetze und auch ihre »rechtliche und sittliche Grundlage« »positiv« sind, also eine menschliche Einrichtung. An einer zu diesem Thema ebenfalls aufschlussreichen Stelle in den Vorlesungen zur Philosophie der Religion kontrastiert Hegel die jüdische Gesetzesvorstellung, welche die Gesetze als direkt von Gott geschaffen versteht, mit der griechischen Gesetzesvorstellung: Das ist die Bestimmung, daß er [der Gott der Juden, MP] als Herr seinem Volke Gesetze gibt, Gesetze in ihrem ganzen Umfange, sowohl die allgemeinen Gesetze, die zehn Gebote – welche allgemeine, sittliche, rechtliche Grundbestimmungen der Gesetzgebung und Moralität sind und die nicht als Vernunftgesetze gelten, sondern als vorgeschrieben von dem Herrn – als auch alle übrigen Staatsgesetze und Einrichtungen. Moses wird Gesetzgeber der Juden genannt, aber er ist den Juden nicht gewesen, was den Griechen Solon und Lykurg (diese gaben als Menschen ihre Gesetze); er hat nur die Gesetze Jehovas bekanntgemacht; Jehova selbst hat sie, nach der Erzählung, in den Stein gegraben. 43
Anders als die Juden glauben die Griechen also nicht an einen göttlichen Urheber ihrer Gesetze, sondern sie wissen, dass sie von konkreten Personen wie Solon oder Lykurg entworfen wurden. Diese beiden Motive zur griechischen Sittlichkeit scheinen schwerlich vereinbar. Entweder denken die Griechen, ihre sittlichen Normen seien göttliche Gebote oder sogar Götter, denen zu gehorchen ist, oder sie verstehen ihre Normen als selbstbestimmt und selbstgeschaffen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine Vielzahl 41 42 43
Ebd., S. 296. Ebd., S. 307. Ders., VPhRel.II S. 84 f.
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
von Interpretationen vor allem das erste der beiden Motive als die Hauptbestimmung herausgreift und das zweite vernachlässigt. So ließe sich beispielsweise vermuten, dass Hegel die Griechen in seiner Weltgeschichte hauptsächlich als vormoderne, traditionalistische Gemeinschaft einordne und dass die eingestreuten Bemerkungen zur Freiheit der Griechen noch Überreste seiner jugendlichen Antikenbegeisterung seien, die aber für den reifen Hegel keine systematische Rolle mehr spielten. Der Preis für eine solche vereinheitlichende Lesart besteht freilich darin, dass sie Hegels Vorlesungen die inhaltliche Konsistenz abspricht (siehe hierzu die Diskussion der dichotomischen Interpretation in Abschnitt II.2.3). Einen anderen Weg beschreitet Terry Pinkard mit seiner Interpretation, indem er davon ausgeht, Hegel rede in den unterschiedlichen Bemerkungen über zwei verschiedene Arten von Normen bei den antiken Griechen (siehe die ausführliche Diskussion Pinkards in Kapitel II.3). Pinkard zufolge trennten die Griechen streng zwischen »göttlichen« Gesetzen, welche traditionalistisch-dogmatisch befolgt werden müssten, und »menschlichen« Gesetzen, welche selbstbestimmt verhandelt würden. 44 Pinkards Vorschlag hat den Vorteil, dass wir Hegel keinen inneren Widerspruch unterstellen müssen: lobt Hegel die selbstbewusste Freiheit der Griechen, bezieht er sich gemäß Pinkards Vorschlag auf das »menschliche Gesetz«, spricht er hingegen von der Göttlichkeit oder Naturgesetzmäßigkeit der Sitten, scheint er das »göttliche Gesetz« zu meinen. Allerdings widerspricht Hegel in seinen Vorlesungen ausdrücklich einer derartigen Zweiteilung. So heißt es in der bereits oben zitierten Stelle der Vorlesungen zur Philosophie der Religion, »das Göttliche […] ist das Sittliche«, 45 und in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, dass »aller geistige und sittliche Inhalt den Göttern angehörte«. 46 Eine Trennung zwischen göttlichen und menschlichen Gesetzen findet bei den Griechen also nicht statt. Das Sittliche ist vielmehr mit dem Göttlichen identisch. Über alle Bereiche des Sittlichen wacht jeweils ein spezialisierter Gott; so ist Hera für die Sitten der Familie zuständig und Zeus verkörpert die Macht des Sittlichen in der Politik. Den Griechen gilt aller sittlicher Inhalt als göttlich, schlichtweg, weil er sittlich ist. Pinkards Vorschlag entschärft somit unzulässigerweise die Spannung zwischen beiden Motive, indem er sie zwei 44 45 46
Pinkard (1994), S. 137. Hegel, VPhRel.II S. 98. Ders., VPhGes S. 302.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
verschiedenen Arten von Normen zuordnet. Stattdessen muss diese Spannung sogar noch betont werden: Alle sittlichen Normen gelten den Griechen als göttlich und menschengemacht zugleich. Bemerkenswerterweise sieht Hegel in diesen gegensätzlichen Bestimmungen keinen Widerspruch: Es muss noch hinzugefügt werden, daß, indem der griechische Geist dieser umbildende Bildner ist, er sich in seinen Bildungen frei weiß; denn er ist ihr Schöpfer, und sie sind sogenanntes Menschenwerk. Sie sind aber nicht nur dies, sondern die ewige Wahrheit und die Mächte des Geistes an und für sich, und ebenso vom Menschen geschaffen wie nicht geschaffen. Er hat Achtung und Verehrung vor diesen Anschauungen und Bildern, vor diesem Zeus zu Olympia und dieser Pallas auf der Burg, ebenso vor diesen Gesetzen des Staates und der Sitte; aber er, der Mensch, ist der Mutterleib, der sie konzipiert, er die Brust, die sie gesäugt, er das Geistige, das sie groß und rein gezogen hat. So ist er heiter in ihnen und nicht nur an sich frei, sondern mit dem Bewußtsein seiner Freiheit; so ist die Ehre des Menschlichen verschlungen in die Ehre des Göttlichen. Die Menschen ehren das Göttliche an und für sich, aber zugleich als ihre Tat, ihr Erzeugnis und ihr Dasein: so erhält das Göttliche seine Ehre vermittels der Ehre des Menschlichen und das Menschliche vermittels der Ehre des Göttlichen. 47
Hegels Griechen wissen also, dass ihre Gemeinschaft, ihre Sitten und ihre Götter »Menschenwerk« sind. Ihre Freiheit beruht auf der Einsicht, dass sie ihre Sittlichkeit selbst geschaffen haben. Sie erkennen durchaus, dass ihre religiösen Erzählungen und Göttergeschichten menschlicher Phantasie entspringen, jedoch ohne aus dieser Einsicht atheistische Schlüsse wie etwa Ludwig Feuerbach zu ziehen. Für die Griechen existieren ihre Götter wirklich, obwohl – oder sogar weil – sie sie selbst erfunden haben. Ähnliches gilt für ihre Sitten, Gebräuche und Gesetze: Einerseits handelt es sich hierbei um menschliche Erfindungen, andererseits übersteigen die sittlichen Normen den Bereich des bloß menschlich-profanen. Sie sind »ebenso vom Menschen geschaffen wie nicht geschaffen«, wie Hegel sich enigmatisch ausdrückt. In diesen Zitaten sehen wir, dass Hegel nicht unvorsichtigerweise zwei gegensätzliche Motive bei seiner Beschreibung der Griechen miteinander vermischt, sondern dass er die beiden Aspekte der griechischen Sittlichkeit bewusst und ausdrücklich nebeneinander stellt. Die Doppelbestimmung der Sitten als »göttlich« und »menschlich« ist also kein Fehlgriff Hegels. Sie ist ebenfalls kein Hinweis auf 47
Ebd., S. 294.
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die vermeintliche Unaufgeklärtheit der Griechen, bei der bestimmte, religiös verbrämte Normen von der Kritik ausgespart würden, wie es Pinkard vermutet. Vielmehr äußert sich in dieser Doppelbestimmung die Freiheit der Griechen und macht zugleich das Wesen jeder freien Gemeinschaft aus. Die scheinbar widersprechenden Bezeichnungen der Normen als »menschlich« und »göttlich« entspricht den beiden gegenläufigen Momenten aller selbstbestimmter Normen, dem Moment der Gestaltung und dem Moment des Gehorsams. In der obigen Formulierung, die sittlichen Normen seien »ebenso vom Menschen geschaffen wie nicht geschaffen«, drückt Hegel zweierlei aus: Einerseits handelt es sich hierbei um eine Beschreibung des Paradoxes der Selbstbestimmung, das die beiden gegenläufigen Momente selbstbestimmter Normen benennt (siehe die Erläuterung des Paradoxes in Kapitel III.1). Andererseits verdeutlicht Hegel in der Art und Weise, wie er an dieser Stelle an das Paradox erinnert, dass den Griechen offenbar eine Lösung dieses Paradoxes gelungen sei. Der »griechische Geist« hält beide Momente der Selbstbestimmung zusammen, er verwirklicht sie gleichermaßen in seinen sittlichen Gesetzen. Das obige Zitat verrät uns allerdings noch nicht die Art der griechischen Lösung, es bekräftigt lediglich, dass die Griechen das Paradox – zumindest zeitweilig – bezwungen haben. Mein Vorschlag der Interpretation und der systematischen Deutung besteht in der Annahme, wie bereits oben erwähnt, dass die griechische Lösung die Form eines Zwei-Phasen-Modells der sittlichen Normen hat. Dies bedeutet, dass die Griechen ihre Normen zwar gleichermaßen als gestaltbar und als verpflichtend betrachten, diese Momente aber unterschiedlichen Tätigkeiten zuordnen, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Die griechische Antwort auf das Paradox besteht somit in einer konsequenten Anwendung des Prinzips, dass es für jede Art der Verrichtung eine angemessene Zeit gebe (ὥρια ἔργα), wie es auch Hesiod dem Leser seines Lehrgedichts Werke und Tage ans Herz legt. 48 Für diesen Lektürevorschlag stelle ich vier Arten von Textbelegen vor, drei in diesem Abschnitt, einen weiteren im folgenden Abschnitt (III.2.3): erstens Hegels Metapher vom griechischen Geist als »plastisches Kunstwerk«, zweitens die ausdrückliche historische Situierung und Begrenzung politisch-sittlicher Reformen, drittens Hegels Redeweise von der griechischen Sittlichkeit als »schöne Mitte« und 48 Vgl. z. B. Hesiod, Werke und Tage, Vers 641 f.: »Du aber, Perses, denke stets und bei jeglicher Arbeit / an die geeignete Zeit […].«
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»Balance« sowie schließlich, viertens, die Erläuterung, dass griechische Gesetze nach ihrer Einführung stets eine Phase der Einübung und Gewöhnung verlangten, bevor sie im vollen Maße umgesetzt wurden. In all diesen Bemerkungen lässt sich erkennen, dass Hegels Griechen ihre Gesetze zwar für gestaltbar halten und wissen, dass sie selbst für ihre Sitten verantwortlich sind, sie aber die tatsächliche Gestaltung ihrer geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze möglichst beschränken und auf bestimmte, außergewöhnliche Umstände begrenzen. Die Bezeichnung »Zwei-Phasen-Modell«, die ich für diesen Umgang mit sittlichen Normen gewählt habe, klingt vordergründig technisch. Indem ich mit Hegel den antiken Griechen diese Auffassung zuschreibe, behaupte ich nicht, dass die gewöhnlichen pólisBürger allesamt über ein elaboriertes, theoretisch-philosophisches Verständnis ihrer eigenen Sitten als zweiphasige Normen verfügten. Stattdessen beschreibt das Modell zunächst einmal eine verbreitete, nicht zwangsläufig tiefschürfend reflektierte Haltung zu den eigenen Sitten, eine Art pragmatischen Konservatismus, den wir häufig bei antiken Autoren finden können. Die Griechen erkennen, dass ihre Sitten, die Gesetze und Staatsverfassungen von Menschen geschaffen wurden und daher veränderbar, reformierbar und optimierbar sind. Aus dieser Veränderbarkeit der Gesetze leiten die Griechen allerdings nicht ab, dass in sie willkürlich eingegriffen werden dürfe. Auch finden wir bei den Griechen kein Revolutionspathos wie in der Moderne und ebenso keine an Selbstüberschätzung grenzenden Machbarkeitsphantasien. Schließlich sind sich die Griechen der Verantwortung bewusst, die mit einem Eingriff in die geltenden Normen verknüpft ist. Sie wissen, dass ihre Sitten und Gesetze das sorgfältig abgestimmte Zusammenspiel der grundlegenden Institutionen und sozialen Rollen in der pólis regeln. Sie sind für den Bürger überlebenswichtig. Ihre sittlichen Normen gelten ihnen daher auch als »göttlich«, weil die Griechen ihnen ihr Leben verdanken und diese Gesetze deshalb nur mit Ehrfurcht und Vorsicht angetastet werden dürfen. Eine Reform der Sitten gleicht einer Operation am offenen Herzen. Sie sollte nach Ansicht der Griechen nur im Notfall und von talentierten Spezialisten durchgeführt werden. Ich nenne diese Haltung einen pragmatischen Konservatismus, weil Hegels Griechen zwar vorsichtig mit den bestehenden Normen umgehen, aber dies nicht aus Traditionalismus um seiner selbst willen, sondern aufgrund der nüchternen Einsicht, dass die erprobten Sitten nicht leichtfertig geändert werden sollten. Aristoteles ist ein typischer Vertreter dieses pragmatischen Konser192 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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vatismus. In seiner Politik hält er fest, dass Gesetze und Sitten niemals für die Ewigkeit Bestand haben, da die Gesetzgeber unmöglich alle denkbaren Umstände berücksichtigen können. Zugleich warnt Aristoteles vor vorschnellen Reformen und erklärt, dass im Zweifelsfall lieber Gesetze mit kleinen Fehlern beibehalten werden sollten, statt allzu häufig in die bestehenden Normen einzugreifen. 49 Stabilität und Verlässlichkeit der Normen sind im Zweifelsfall wichtiger als ihre Perfektionierung. Diese Haltung eines pragmatischen Konservatismus lässt sich unmittelbar in das Zwei-Phasen-Modell übersetzen: Da Gesetzgebung und Gesetzesreform mit einem hohen Risiko verbunden sind, zählen sie nicht zum politischen Tagesgeschäft, sondern gelten als eine delikate Aufgabe, die möglichst selten und nur von ausreichend fähigen Personen ausgeführt werden sollte. Im Alltag wird den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen der pólis gehorcht – dies ist die Anwendungsphase der sittlichen Normen. Wenn es allerdings die Umstände zwingend erfordern und die geltenden Gesetze spürbar ihren Anspruch verfehlen, sollten sie geändert werden. In solchen Krisenzeiten wird die Phase der Gesetzgebung eingeleitet, die aber nach Sicht der Griechen möglichst ein außergewöhnliches Ereignis bleiben sollte. In den folgenden Unterabschnitten sortiere ich einige Textbelege aus Hegels Vorlesungen, in denen sich die Haltung des pragmatischen Konservatismus der antiken Griechen und das zugehörige Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen erkennen lassen. Anschließend erläutere ich in Kapitel III.3 ein systematisches Argument, weshalb diese Haltung und das ZweiPhasen-Modell notwendigerweise mit der griechischen Tugend als politischem Prinzip verbunden sind.
49 Z. B. in Aristoteles, Politik II.8, 1269a10 ff.: »Denn gerade wie in allen Künsten ist es auch in der Staatsordnung unmöglich, Vorschriften zu geben, die überall zutreffen, denn alle Vorschriften sind notwendig von allgemeiner Natur, währen die Handlungen auf das Einzelne gehen. Hieraus erhellt denn, daß gewisse Gesetze zu gewissen Zeiten eine Änderung erfahren müssen; wiederum aber zeigt eine andere Seite der Betrachtung, daß es dabei großer Vorsicht bedarf. Falls nämlich die Verbesserung nur eine geringe ist, da doch andererseits die Gewöhnung daran, leicht zur Aufhebung bestehender Gesetze zu schreiten, ein großer Übelstand ist, so liegt zutage, daß man lieber manche Fehler in Gesetzgebung und Regierung ruhig sich gefallen lassen muß, denn man wird nicht so viel Nutzen von der Veränderung haben als Schaden von der einreißenden Gewöhnung an Ungehorsam gegen die Regierenden (árchontes).«
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III.2.2.1 Metapher des plastischen Kunstwerks Einen ersten Hinweis auf die zweiphasige Struktur der griechischen Sittlichkeit liefert uns Hegel, indem er die Erzeugnisse des griechischen Geists an verschiedenen Stellen seiner Vorlesungen mit der Metapher des plastischen Kunstwerks beschreibt: So bezeichnet er die individuelle Erziehung in der pólis als »subjektives Kunstwerk« 50, die religiös-sittliche Ordnung des griechischen Pantheons nennt er ein »objektives Kunstwerk« 51 und schließlich die politische Ordnung der Griechen ist für ihn ein »politisches Kunstwerk« 52. Die Metapher des Kunstwerks erfüllt für Hegel mehrere Zwecke. Erstens verdeutlicht er mit ihr, dass die Griechen ihre Sittlichkeit und ihre Gemeinschaft als »Menschenwerk« verstehen, also als das Ergebnis einer bewussten, freien Schöpfung im Gegensatz zu einer göttlichen Verordnung, wie laut Hegel die Juden ihre Gesetzeswerke betrachten. Zweitens unterstreicht er mit ihr grundsätzlich die zentrale Rolle der Kunst im Leben der Griechen. Aus dem gleichen Grund nennt Hegel die griechische Religion auch die »Religion der Schönheit« 53 und eine »Kunstreligion« beziehungsweise ein »lebendiges Kunstwerk«. 54 Drittens schließlich ist das Kunstwerk – insbesondere das plastische Kunstwerk der Bildhauerei – eine Analogie für die zweiphasige Struktur der griechischen Sittlichkeit: »Der griechische Geist ist der plastische Künstler, welcher den Stein zum Kunstwerke bildet.« 55 Indem Hegel die Bildhauerei als charakteristische Gattung der griechischen Kunst wählt, will er nicht etwa die Leistungen der Griechen in den anderen Kunstgattungen marginalisieren. Spätestens seit Hegels ausgedehnten Passagen in seiner Phänomenologie des Geistes zur Deutung der Antigone ist klar, welche Bewunderung er zum Beispiel für das antike griechische Drama empfindet. Hegel entscheidet sich allerdings an den genannten Stellen für die Skulptur als ein Sinnbild der griechischen Sittlichkeit, weil sich an der Herstellung einer Statue die Unterscheidung in zwei Phasen deutlicher illustrieren lässt als beispielsweise an der Aufführung einer Tragödie: 56 In der traditio50 51 52 53 54 55 56
Hegel, VPhGes S. 295. Ebd., S. 298. Ebd., S. 306. Ders., VPhRel.II S. 96. Ders., PhG S. 512 und S. 525. Ders., VPhGes S. 293 f. Ein weiterer Grund für diese Wahl der Metapher besteht in der Eigenschaft der
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nellen plastischen Kunst ist der Entstehungsprozess einer Statue klar unterscheiden von ihrer späteren Existenz als Kunstwerk. Es gibt eine Gestaltungsphase, in welcher der Künstler den Stein so formt, wie es ihm das Material und seine Fähigkeiten erlauben. In dieser Zeit verhält sich der Künstler spontan und schöpferisch zur unfertigen Statue. Die Vorstellung des Künstlers ist autoritativ für die Gestalt der Statue. Ab einem gewissem Zeitpunkt, der sich freilich nicht immer exakt bestimmen lässt, ist die Arbeit des Künstlers abgeschlossen und die Statue fertig gestellt. Mit diesem Zeitpunkt beginnt die zweite Phase des Kunstwerks. In dieser Phase besitzt das Kunstwerk eine vom Künstler unabhängige und somit objektive Existenz, da es seinem direkten gestalterischen Einfluss entzogen ist. In der zweiten Phase begegnet der Künstler seiner Statue rezeptiv, er ist also nur noch Betrachter. In dieser Hinsicht hat sich das normative Verhältnis von Statue und Vorstellung umgekehrt: Jetzt ist ihr Aussehen autoritativ für die Vorstellung, die sich der Betrachter von der Statue macht. Die beiden Phasen an der Statue entsprechen somit den zwei Phasen der griechischen Sittlichkeit mit ihrem jeweils umgekehrten Bezug auf die sittlichen Normen. Die Metapher von der Statue bietet uns allerdings keine perfekte Analogie, denn bei einer Statue gibt es in der Regel nur eine einzige Gestaltungsphase, während die Sittlichkeit der Griechen immer wieder neue Umgestaltungen und Reformen erfährt. Insofern suggeriert die Metapher ein zu statisches Bild. Die griechischen Sitten erfordern eine lebendige, dynamische Selbstbestimmung und dürfen nicht zu Dogmen erstarren. Dennoch bietet sich die Bildhauerei als Sinnbild für die griechische Sittlichkeit immer noch stärker an als die meisten anderen genannten Künste, da bei ihr die Phasentrennung am deutlichsten hervortritt. Bei einem Theaterstück zum Beispiel lassen sich die Phasen kaum oder überhaupt nicht unterschieden. Ein Drama im eigentlichen Sinn – das heißt nicht nur in seiner blutleeren Textform – existiert nur durch seine Aufführungen. Es ist also niemals unabhängig von den mitwirkenden Künstlern und muss immer wieder durch neue Inszenierungen verwirklicht werden. Gestaltung und Betrachtung finden beim Drama auch gleichBildhauerei, dass sie offensichtlich auf eine stoffliche Grundlage angewiesen ist. Der Bildhauer schöpft nicht aus dem Nichts, sondern formt ein vorgefundenes Material um (vgl. Hegel, VPhGes S. 293 f.). Auf diese Weise symbolisiert die plastische Kunst die griechische Auffassung der Gestaltungsphase, die sich nicht ihre Normen in einem vollkommen unbedingten, willkürlichen Akt gibt, sondern stets auf eine Vorgeschichte und ein sittliches Vorverständnis aufbaut.
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zeitig statt. Indem sich Hegel also statt der Tragödie für die Statue als Paradigma des griechischen Geistes entscheidet, deutet er bereits das Zwei-Phasen-Modell der griechischen Sittlichkeit an. III.2.2.2 Historizität der Gestaltungsphase Für Hegels Griechen stellt die Gestaltungsphase, in der die gemeinsamen Sitten in freier Selbstgestaltung ausgehandelt werden, den historischen Ausnahmefall dar, während die Anwendungsphase als Normalfall betrachtet wird. In dieser Ordnung drückt sich eine Haltung aus, die ich als »pragmatischen Konservatismus« bezeichnet habe (siehe III.2.2): Hegels Griechen sind einerseits stolz darauf, dass die Normen der pólis ihre eigene Schöpfung sind. Andererseits verbinden sie mit dieser Einsicht in ihre Autonomie ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Sie sind sich des Risikos bewusst, das übereilte Eingriffe in das sittliche Fundament ihrer Gemeinschaft mit sich tragen. Aus diesem Grund streben sie danach, die Umgestaltung ihrer geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze auf das Notwendigste zu beschränken. Idealerweise sollte eine Reform nur angesetzt werden, wenn es die Umstände unbedingt erfordern, und dann möglichst nur von kompetenten Personen durchgeführt werden. Hegels Griechen streben danach, die Gestaltungsphase einzuhegen und auf Krisen- und Umbruchszeiten zu beschränken. Dies führt dazu, dass Hegels Griechen die Gestaltungsphasen als konkrete historische Ereignisse verstehen, die mit konkreten Akteuren verbunden sind und in einem vergleichsweise klar umgrenzten Zeitraum stattfinden. Für Hegels Griechen ist der Ursprung ihrer sittlichen Normen datierbar und kann auf namentlich bekannte Personen zurückgeführt werden: So wird beispielsweise Kekrops als Gründer Athens genannt, Danaos als der erste Siedler von Argos und Kadmos als der vermeintliche Stifter Thebens. 57 Auch den späteren Gesetzesreformen werden eindeutige Autoren zugeordnet, etwa Solon, Lykurg oder Kleisthenes. 58 An diesen Aufzählungen von Staatenstiftern und -reformern wird zweierlei deutlich: Erstens dienen sie Hegel als zusätzliche Belege, dass die Griechen ihre Sitten in der Tat als »Menschenwerk« und nicht etwa als Produkt göttlicher Offenbarung begreifen. Auch wenn die Griechen ihre Sitten bisweilen als »göttlich« bezeichnen, machen 57 58
Hegel, VPhGes S. 281. Ebd., S. 308.
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sie durchaus irdische Urheber für sie verantwortlich – die somit keineswegs unfehlbar sind und deren Gesetzeswerke auch hin und wieder der Revision dürfen. Zweitens zeigen solche historischen Verortungen, dass die Griechen die Phasen der Normgestaltung als klar individuierbare Ereignisse betrachten, welche vom Alltagsgeschehen der bloßen Normanwendung eindeutig getrennt sind. Die beiden Phasen der Normgestaltung und -anwendung sind für Hegels Griechen also nicht nur logisch verschieden, sondern tatsächlich zeitlich strikt getrennt und daher auch im historischen Rückblick unterscheidbar. Eine alternative Auffassung hierzu bestünde etwa in der Überzeugung, dass Sitten und Gebräuche sich allmählich verändern, verschiedensten Einflüssen ausgesetzt sind und das Ergebnis unscharfer sozialer Entwicklungen sind, ohne dass sich einzelne Akteure ausmachen ließen. Für einen Vertreter dieser alternativen Auffassung wäre es unsinnig, in der Geschichte auf einen bestimmten Zeitpunkt hinzuweisen, an dem bestimmte Sitten in Kraft treten. Hegels Griechen hingegen glauben genau dies: Für sie wird die Gestaltungsphase durch eine bewusste Entscheidung ausgelöst, kann unter kontrollierten Bedingungen stattfinden und grenzt sich eindeutig vom politischen Tagesgeschäft ab. So beschreibt beispielsweise Hegel, dass der Auslöser für die Solonischen Reformen ein gemeinsamer Entschluss der Athener Bürger sei: Solon wurde so von den Athenern beauftragt, ihnen Gesetze zu geben, da die vorhandenen nicht mehr genügten. Solon gab den Athenern eine Staatsverfassung, wodurch alle gleiche Rechte bekamen, ohne daß jedoch die Demokratie eine ganz abstrakte geworden wäre. 59
Die Reformen werden folglich als etwas wahrgenommen, dass einen klaren Beginn hat und einen historischen Einschnitt darstellt. Ähnliches gilt für den Abschluss der Gesetzgebungsphase: Solon konzipiert seine Reformen, setzt sie in Kraft und beendet im gleichen Schritt seine gesetzgeberische Tätigkeit. Seine Neufassung der pólis ist kein jahrzehntelang gewachsenes Stückwerk, sondern eine Reform aus einem Guss. Nach Abschluss seiner Reformen verlässt Solon sogar Athen und geht auf ausgedehnte Forschungsreisen, angeblich, um zu verhindern, dass die Athener ihn zu Änderungen und Nachbesserungen an den Gesetzen nötigen, wie uns Aristoteles be-
59
Ebd., S. 307.
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richtet. 60 Hegel erwähnt, dass Solons Exil keine Ausnahme darstelle, sondern er mit seiner freiwilligen Abreise lediglich dem üblichen Schicksal großer Gesetzgeber zuvorkomme: aber sobald einer dieser großen Männer vollbracht hatte, was not tat, trat der Neid, d. h. das Gefühl der Gleichheit in Ansehung des besonderen Talents ein, und er wurde entweder ins Gefängnis geworfen oder verbannt. 61
An diesen Bemerkungen Hegels können wir sehen, dass die Griechen ein starkes Bedürfnis hatten, die außergewöhnliche Gestaltungsphase möglichst eindeutig zu beenden, notfalls sogar durch Exil, Verbannung oder Inhaftierung der verdienten Reformer, und zur Normalität der Anwendungsphase zurückzukehren. Für Hegel liegt dieser Abfolge und der strikten Trennung der beiden Phasen eine systematischer Notwendigkeit zugrunde, die aus dem griechischen Prinzip der Tugend folgt. Die sittlichen Normen der Griechen werden als Tugendnormen verstanden, die in einem ausgedehnten Lernprozess erst habitualisiert werden müssen, bevor sie volle Geltung erlangen können. Die Einhegung der Gestaltungsphase auf bestimmte, außergewöhnliche Zeitpunkte hängt unmittelbar damit zusammen, dass für die Griechen jeder Eingriff in ihre Sittlichkeit einen neuen Prozess der Gewöhnung erfordert (siehe Kapitel III.3). Die gleiche zweiphasige Struktur, mit der Hegel die politische Gestaltung und die Gesetzesreformen der Griechen beschreibt, begegnet uns auch in Hegels Erläuterungen zur griechischen Götterwelt. Die olympischen Götter sind keine ewigen, unantastbaren Mächte, sondern auch sie erlangen ihren Status erst zu einem quasihistorischen Zeitpunkt. Durch Krisen und Umbrüche können die Götter ihre Geltungsmacht verlieren, sie können gestürzt werden und sogar »umgestaltet« werden, das heißt, eine neue mythologische Beschreibung und Funktion erhalten. Wie auch bei den Sitten und Normen verstehen sich Hegels Griechen selbst als die Urheber dieser Aristoteles, Staat der Athener, Kapitel 11 »Als er (Solon) die Verfassung auf die geschilderte Weise geordnet hatte und man begann, sich an ihn zu wenden und über die Gesetze zu klagen, wobei man dieses tadelte und jenes erfragte, unternahm er, da er weder diese Anordnungen ändern noch sich durch seine Anwesenheit verhaßt machen wollte, eine Geschäfts- und Erkundungsreise nach Ägypten und erklärte, vor zehn Jahren nicht zurückzukehren. Denn er glaubte, es sei nicht gerecht, daß er bleiben und die Gesetze auslegen solle; vielmehr solle jeder Bürger die geschriebenen Anordnungen befolgen.« 61 Hegel, VPhGes S. 310. 60
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
Prozesse. Die griechischen Götter sind genauso »Menschenwerk« wie die Gesetze der pólis. Dieser Isomorphismus zwischen dem Götterhimmel und der Sittlichkeit ist für Hegel kein Zufall und keine bloße Analogie. Vielmehr deutet Hegel die religiöse Redeweise der Griechen als ein Mittel zur Selbstverständigung und Reflexion über die eigene Gemeinschaft. Das Sittliche spiegelt sich im Religiösen, die Mythen über die Götter versinnbildlichen Wahrheiten der sittlichen Welt. Hegel betont hierbei mehrfach, dass es sich bei dieser Deutung nicht um eine bloße retrospektive Interpretation seinerseits handelt, sondern dass die Griechen sich der Metaphorik ihrer religiösen Redeweise bewusst waren. Anders als es beispielsweise jene Interpretationen vermuten, welche die Griechen als dogmatisch-traditionalistische Gemeinschaft betrachten, behandeln sie ihre Mythen nicht naiv wie Tatsachenberichte eines übernatürlichen Geschehens, sondern verstehen sehr genau, dass sie mit ihrer Religion über eine Sprachtechnik zur Selbstreflexion verfügen. 62 Während nun Solon und Lykurg als die Schöpfer der sittlichen Normen gelten, werden die Dichter als die Erfinder der griechischen Götter angesehen. Hegel zitiert in seinen Vorlesungen als Beleg für diese griechische Einsicht mehrfach Herodots Historien: »Homer und Hesiod haben den Griechen ihre Götter gemacht.« 63 Homer und Hesiod, die Hegel stellvertretend für bedeutende Dichter nennt, gestalten die griechische Götterwelt und formulieren so auch die religiösen und sittlichen Normen, die mit ihr verbunden sind. Folglich werden auch im Bereich der Religion wie bei den politischen Gesetzesreformen konkrete, menschliche Urheber genannt, denen die Gestaltung der Götterwelt zugeschrieben wird. An den griechischen Göttern tritt diese Doppelnatur von »menschengemacht« und »göttlich« noch stärker zu Tage als bei den Sitten und Gesetzen. Obwohl die Griechen verstehen, dass ihre Götter Produkte ihrer Phantasie sind, gelten sie ihnen nicht als willkürliche, beliebig variierbare Märchengestalten, sondern als etwas Höheres und Verehrungswürdiges: Siehe zum vermeintlichen Dogmatismus bei Hegels Griechen die Diskussion in II.2.3 und II.3. 63 So in Hegel, VPhRel.II S. 119, in VPhGes S. 292 und VÄsth.I S. 506. Hegel verwendet das Herodot-Zitat aus den Historiae II.53 mehrfach, offenbar weil er großen Wert auf die Feststellung legt, dass es sich bei der Einsicht in den menschlichen Ursprung der Götter um eine echte Erkenntnis der Griechen handelt und nicht nur um seine wohlwollende Zuschreibung – dass er also die antiken Griechen nicht klüger darstellt, als sie in Wirklichkeit waren. 62
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III · Tugend und Selbstbestimmung
So sind die Götter von menschlicher Phantasie gemacht, und sie entstehen auf endliche Weise, vom Dichter, von der Muse produziert. […] Sie sind gemacht, gedichtet, aber nicht erdichtet. Sie gehen zwar im Gegensatze gegen das Vorhandene aus der menschlichen Phantasie hervor, aber als wesentliche Gestalten, und das Produkt ist zugleich als das Wesentliche gewußt. 64
In diesem Zitat deutet sich ebenfalls die zweiphasige Struktur an, die Hegel gleichermaßen der pólis-Sittlichkeit wie auch dem griechischen Götterhimmel zuschreibt: Für Homer und Hesiod sind die Götter noch ein literarischer Stoff, den sie frei und kreativ gestalten. Ihre Hörer hingegen betrachten die Ilias, die Odyssee, Werke und Tage sowie die Theogonie nicht bloß als Unterhaltungswerke, sondern sprechen ihnen religiöse Autorität zu. Die Dichtung legt somit fest, wie die Götter für die Griechen sind. Homer und Hesiod haben den Griechen einen verbindlichen Ausdruck sittlich-religiöser Normen, Normerläuterungen sowie einer mythisch-religiösen Kommentarsprache geschaffen, mit deren Hilfe die pólis-Bürger sich über sittliche Dilemmata, Sinnzusammenhänge und andere existentielle Fragen verständigen können. Homer und Herodot sind die religiösen Gesetzgeber der Griechen. In der griechischen Religion treten also genauso wie im griechischen Recht Gestaltungs- und Anwendungsphase auseinander. Ähnlich wie in der Politik gelten aber auch die religiösen Regeln, einmal ins Leben gerufen, nicht unbedingt für immer. Auch hier können die Umstände nach Reformen verlangen. Für die Religion bedeutet dies insbesondere, dass das althergebrachte religiöse Vokabular und die homerisch-hesiodischen Mythen als Reflexionsinstrumente nicht mehr genügen, um ein neues Selbstverständnis oder neue existentielle Probleme zu erfassen. In sozialen Krisen kann es erforderlich sein, die alten Göttergeschichten umzudeuten, um neuen sittlichen Anforderungen zu begegnen. In der griechischen Geschichte können wir solche Umdeutungen und Erweiterungen der religiösen Sprache etwa bei den großen Tragikern beobachten. Die Dramen des Aischylos und Sophokles bewirken für das religiös-sittliche Denken eine ähnliche Neuerung wie zuvor die solonischen Reformen für die politische Ordnung der pólis. In Aischylos’ Orestie sehen wir, dass die religiösen und politischen Umbrüche keine entkoppelten Entwicklungen darstellen, sondern Hand in Hand gehen: Eine neue politische Ordnung verlangt nach einer angemessenen re64
Hegel, VPhRel.II S. 119.
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
ligiösen Kommentarsprache und umgekehrt schlagen sich religiössittliche Einsichten in einem veränderten Umgang mit Institutionen nieder. In den Eumeniden, dem abschließenden Teil der Orestie, löst Athene den tragischen Konflikt des Dramas, indem sie mit dem Gerichtshof des Areopags eine neue rechtliche Institution schafft und zugleich den Rachegöttinnen ein neues Heiligtum und vor allem auch eine neue Rolle im griechischen Pantheon zuspricht. Die Erinyen erhalten einen neuen Namen – sie werden von den Zürnenden zu den »Wohlgesinnten«, den Eumeniden – und eine neue Aufgabe. Aischylos führt seinen Zuschauern somit ausdrücklich vor, wie auf eine soziale Krise eine politische und religiöse Umgestaltung folgt, die schließlich eine neue Ordnung hervorbringt. Auf diese Weise bringt er die zeitliche Struktur des Zwei-Phasen-Modells auf die Bühne. III.2.2.3 Die griechische Sittlichkeit als Gleichgewicht der Phasen Das Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen ist laut Hegel die griechische Antwort auf das Paradox der Selbstbestimmung. Das heißt: Durch die bewusste und gezielte Schaffung zweier getrennter Phasen soll eine selbstbestimmte Gemeinschaft in der pólis ermöglicht werden. Eine solche Trennung kann freilich nicht einfach per Dekret erreicht werden, sondern erfordert ein anspruchsvolles soziales und politisches Experiment, das nicht unerhebliche Anforderungen an die Institutionen einer Gemeinschaft und an die Fähigkeiten ihrer Mitglieder stellt. Die sittlichen Institutionen sollen einerseits verlässlich sein, um dem Vertrauen ihrer Bürger gerecht zu werden, andererseits müssen sie stets die Möglichkeit zukünftiger Änderungen offen halten. Die Entscheidungsträger in den Stadtstaaten müssen erkennen, wie lange es sinnvoll ist, an den bestehenden Gesetzen festzuhalten, und wann die Umstände das Wagnis einer neuen Gestaltungsphase erfordern. Die antiken Griechen hielten es daher für eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Politikers, den Zeitpunkt für solche Veränderungen zu ergreifen, und haben dem günstigen Augenblick – dem kairós – sogar eine Gottheit gewidmet. Gesetze und Sitten dürfen einerseits nicht leichtfertig und nicht zu früh aufgegeben werden. Eine Gemeinschaft, die von einer Reform in die nächste Reform stolpert, zerstört die Grundlage ihrer Kooperation und endet im Chaos. Andererseits dürfen die Bürger auch nicht zu lange an veralteten Normen festhalten und notwendige Reformen hinauszögern, damit soziale Konflikte nicht aus dem Ruder laufen. Ein gelungenes Modell 201 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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einer zweiphasigen Sittlichkeit verlangt daher, dass mit politischer Urteilskraft die richtige Balance zwischen Anwendungsphase und Gestaltungsphase gefunden wird. Offenheit und Traditionsbewusstsein müssen sich die Waage halten, damit die Gemeinschaft nicht in blindem Gehorsam verkrustet und auch nicht in streitende Einzelne zerfällt. Hegel zufolge gelingt es den antiken Griechen meisterhaft, diese Balance zwischen den Phasen zu schaffen und das Abdriften in Extreme zu meiden. Ein zentrales Motiv, mit dem Hegel die griechische Sittlichkeit beschreibt, ist daher dasjenige des Gleichgewichts: Hegel spricht unter anderem vom »Reich der Harmonie« 65, der »glückliche[n] Mitte« 66 und der »Mitte der Schönheit« 67. Der Erfolg der griechischen Freiheit beruht auf diesem Balanceakt. Hegel erläutert ihn in seinen Vorlesungen über die Ästhetik folgendermaßen: Die Griechen, ihrer unmittelbaren Wirklichkeit nach, lebten in der glücklichen Mitte der selbstbewußten subjektiven Freiheit und der sittlichen Substanz. Sie beharrten weder in der unfreien morgenländischen Einheit, die einen religiösen und politischen Despotismus zur Folge hat, indem das Subjekt selbstlos in der einen allgemeinen Substanz oder in irgendeiner besonderen Seite derselben untergeht, weil es in sich als Person kein Recht und dadurch keinen Halt hat; noch gingen sie zu jener subjektiven Vertiefung fort, in welcher das einzelne Subjekt sich abtrennt von dem Ganzen und Allgemeinen, um seiner eigenen Innerlichkeit nach für sich zu sein, und nur durch eine höhere Rückkehr in die innere Totalität einer rein geistigen Welt zur Wiedervereinigung mit dem Substantiellen und Wesentlichen gelangt, – sondern im griechischen sittlichen Leben war das Individuum zwar selbständig und frei in sich, ohne sich jedoch von den vorhandenen allgemeinen Interessen des wirklichen Staates und der affirmativen Immanenz der geistigen Freiheit in der zeitlichen Gegenwart loszulösen. 68
In diesem Zitat skizziert Hegel die beiden Extreme, zwischen denen sich die Gemeinschaft der Griechen bewegt: Auf der einen Seite sieht er die »unfreie morgenländische Einheit« der »sittlichen Substanz«, die in einem »religiösen und politischen Despotismus« mündet. In diesem Extrem hat das Subjekt »kein Recht und dadurch keinen Halt«. Es gibt keine Selbstbestimmung, keine politische Partizipation und kein Recht zur Kritik. Eine derartig verkrustete, unfreie Nor-
65 66 67 68
Hegel. VPhGes S. 137. Ders., VÄsth.II S. 25. Ders., VPhGes S. 308. Ders., VÄsth.II S. 25.
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Das griechische Zwei-Phasen-Modell
menauffassung schreibt Hegel beispielsweise den Gemeinschaften der »orientalischen Welt« zu: Die sittlichen Bestimmungen sind als Gesetze ausgesprochen, aber so, daß der subjektive Wille von den Gesetzen als von einer äußerlichen Macht regiert wird, daß alles Innerliche, Gesinnung, Gewissen, formelle Freiheit nicht vorhanden ist und daß insofern die Gesetze nur auf eine äußerliche Weise ausgeübt werden und nur als Zwangsrecht bestehen. 69
Hegel hat hier offenbar radikal traditionalistische Gemeinschaften vor Augen, deren Normen zur »Substanz« erstarrt sind und die vom Subjekt nur Gehorsam einfordern. In diesen Gemeinschaften dauert gewissermaßen die Anwendungsphase der Normen endlos an. Als zweites Extrem bezeichnet Hegel den Fall der »subjektiven Vertiefung«, »in welcher das einzelne Subjekt sich abtrennt von dem Ganzen und Allgemeinen, um seiner eigenen Innerlichkeit nach für sich zu sein« 70. Mit dieser Formulierung beschreibt Hegel eine Gemeinschaft, die in Auflösung begriffen ist. Die Subjekte fühlen sich nicht mehr an das »Ganze und Allgemeine« gebunden und lassen nur ihre eigene Perspektive der Innerlichkeit gelten. In diesem Fall gibt es keine geteilten Normen mehr, auf die sich die Gemeinschaft geeinigt hat. Somit bricht auch die Basis der Kooperation weg. Statt einer Gemeinschaft existieren hier nur noch isolierte Individuen. Dieses Extrem kann als die Radikalisierung der Gestaltungsphase verstanden werden, in der überhaupt keine Normen mehr als verpflichtend angesehen werden. Hegels Griechen navigieren zwischen diesen Extremen, ihre Gemeinschaft nimmt die »glückliche Mitte« zwischen starrer Bindung und völliger Auflösung ein. Einer weitverbreitete Lesart deutet allerdings Hegels Bild von der griechischen Sittlichkeit als »Mitte« im obigen Zitat und in parallelen Texten auf eine andere Weise: Nach dieser Lesart beschreibe Hegel eine historische Entwicklung als rein quantitativen Zuwachs von Freiheitsrechten, angefangen bei einer Gemeinschaft wie der »orientalischen«, in welcher es überhaupt keine politische Teilhabe und Möglichkeit zur sozialen Kritik gebe, bis hin zur modernen liberalen Gesellschaft, in welcher grundsätzlich jeder Bereich des Zusammenlebens offen für Kritik sei. Im Hintergrund dieser Lesart steht in der Regel das aufklärerische Geschichtsbilds, gemäß dem ein Fort69 70
Ders., VPhGes S. 142. Siehe Zitat oben (Hegel, VÄsth.II S. 25).
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schritt in der Geschichte durch ein Mehr an Kritik und Reflexion bestimmt wird. Die Griechen gelten dieser Lesart als »Mitte« im Sinne eines Übergangsstadiums, weil sie zwar mehr Kritik zuließen als die »orientalischen« Staaten, aber noch nicht den Level moderner Aufklärung erreicht hätten und bestimmte religiöse oder sittliche Normen noch für unantastbar erklärten. 71 Richtig an dieser Interpretation ist, dass Hegel den griechischen Geist tatsächlich für eine Übergangsfigur in der geschichtlichen Entwicklung des Geistes hält. Insofern ist es durchaus möglich, dass Hegel bei der Verwendung des Wortes »Mitte« die Konnotation des bloß »Mittleren« und des »Übergangs« mitdenkt. Diese Bedeutung, die das Unfertige und Unvollkommene des griechischen Geistes betont, kann aber nicht die zentrale Bedeutung ausmachen, sonst würde Hegel wohl kaum von einer glücklichen Mitte oder einer Mitte der Schönheit sprechen. Es sind schließlich nicht ihre Unvollkommenheit oder Beschränktheit, welche die griechische Sittlichkeit schön machen. Für meinen Lektürevorschlag hingegen spricht, dass er Hegels offensichtlich positive Bewertung der griechischen Sittlichkeit als »Mitte« erklärt: Die antiken Griechen leben Hegel zufolge deshalb im »Reich der Harmonie« und der »schönen Mitte«, weil sie die beiden Phasen ihrer Sittlichkeit in einem vernünftigen, geordneten Rhythmus durchlaufen. Zudem sprechen zwei weitere Vorteile für meine Lesart: Erstens lässt sich mit ihr erläutern, weshalb Hegel mit dem Bild der Mitte und Harmonie häufig auch eine Bemerkung über die Fragilität der griechischen Lebensform verknüpft: 72 Die griechische Sittlichkeit ist kurzlebig, weil ihr schönes Gleichgewicht instabil ist. Der Balanceakt der Griechen ist stets gefährdet, weil er ständige Aufmerksamkeit und Flexibilität der Akteure erfordert, um nicht in eines der oben beschriebenen Extreme von »morgenländischer« Erstarrung oder völliger Auflösung der Gemeinschaft umzuschlagen. Es handelt sich also um einen Tanz auf dem Hochseil. Zweitens hat die Deutung des Bilds der »schönen Mitte« als ein fragiles Gleichgewicht den weiteren Vorteil, dass sie besser zur besonderen Stellung der Griechen in Hegels Weltgeschichte passt. Gemäß der Interpretation des aufklärerischen Geschichtsbilds bilden die Griechen lediglich ein Durchgangsstadium im Siegeszug der Aufklärung, da sie scheinbar nur ein halbgares VerVgl. Kapitel II.3 zu Terry Pinkards Lesart der Griechen bei Hegel. Z. B. in Hegel, VPhGes S. 137: »Dieses Reich ist demnach wahre Harmonie, die Welt der anmutigsten, aber vergänglichen oder schnell vorübergehenden Blüte […].«
71 72
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ständnis ihrer Normen erlangten und sich nur zu einer halbherzigen Kritik ihrer Sitten durchringen konnten. Nach dieser Lesart erscheint es eher beliebig und nicht ganz nachvollziehbar, weshalb Hegel den Griechen solche Hochachtung entgegenbringt. In meiner Deutung hingegen treffen Hegels Griechen mit ihrer Sittlichkeit genau die Mitte zwischen zwei Extremen. Ihre Freiheit ist somit ein Produkt der perfekten Balance. In diesem Sinn erreicht der griechische Geist eine Vollkommenheit, die auch von späteren Stadien der Geistesgeschichte nicht übertroffen wird. Ein Gleichgewicht kann schließlich nicht gesteigert werden. Aus Hegel Sicht haben die Griechen mit den ihnen zur Verfügung stehenden begrifflichen Mitteln die bestmögliche Form der Freiheit geschaffen, so meine Interpretation. Die Bewunderung, die Hegel den Griechen entgegenbringt, hat also nichts mit sentimentaler, romantischer Verklärung zu tun. Stattdessen erkennt Hegel die politische und sittliche Meisterhaftigkeit an, die die Griechen innerhalb ihrer Beschränkungen erreicht haben. Aus diesem Bild der »Mitte« als schönem Gleichgewicht folgt auch, dass der weitere Fortschritt in Hegels Geschichte kein bloß quantitativer Schritt sein kann. Anders als es das aufklärerische Geschichtsbild vermutet, unterscheiden wir uns von den Griechen nicht nur durch ein Mehr an Rechten für das Individuum oder durch die Emanzipation größerer Bevölkerungsgruppen. Hegels Zeitenwende von der Antike zur Moderne verlangt stattdessen eine radikale Umdeutung der begrifflichen Kategorien von Selbstbestimmung und freier Kooperation. Aus diesem Grund kann der geschichtliche Übergang von den Griechen zur Moderne für Hegel auch nicht in einer kontinuierlichen Fortentwicklung stattfinden, sondern nur durch einen fundamentalen Bruch. Daher muss die griechische pólis untergehen und mit ihr die griechischen Institutionen und Praktiken der Selbstbestimmung. Der Kollaps der griechischen pólis ist für Hegel mehr als bloß eine historische Tatsache, er ist systematisch notwendig, um Raum für ein neues Verständnis von Freiheit zu schaffen. Aus griechischer Sicht, welches Freiheit mit dem harmonischen sittlichen Gleichgewicht identifiziert, kann der weltgeschichtliche Fortschritt nicht als solcher erkannt werden. Die Griechen würden die moderne Form der Freiheit nicht als eine höhere Form der Selbstbestimmung verstehen, da ihr Bild des Gleichgewichts keine solche Steigerung kennt. Das moderne Prinzip, das quer zu den sittlichen Kategorien des Gleichgewichts liegt, wird daher von den Griechen, insbesondere auch von Platon und Aristoteles, nur als Ungleichgewicht und somit 205 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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als Sittenverfall wahrgenommen. 73 Erst durch den Zusammenbruch der griechischen Lebensform, den Untergang der pólis und der mit ihr verknüpften Weltsicht, ist der Weg frei für ein neues, aus Sicht der Antike paradoxes Verständnis von Freiheit. Aus diesem Grund kann für Hegel der neue Begriff der Selbstbestimmung nur durch historisch-immanente Kritik gewonnen werden, also als Resultat eines geschichtlichen Lernprozesses (siehe Kapitel II.1 zur historischen Kritik). Das Scheitern der pólis mit ihrem Verständnis der zweiphasigen Struktur der Selbstbestimmung bedeutet für Hegel keine Sackgasse, keinen vermeidbaren Umweg der Weltgeschichte, sondern ein notwendiges Stadium, ohne das der moderne Begriff nicht möglich gewesen wäre.
III.3 Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend III.3.1 Darstellung der systematischen Notwendigkeit in Hegels Text Im vorigen Kapitel III.2 habe ich Textbelege für meine Interpretation diskutiert, dass Hegel die Sittlichkeit der antiken Griechen als eine zweiphasige Struktur vorstellt, in der sich Zeiten der kreativen Normgestaltung von Zeiten der strikten Normanwendung abwechseln. Für diese Interpretation sprechen bestimmte Metaphern, die Hegel zur Beschreibung der griechischen Sittlichkeit wählt, zum Beispiel die Metaphern des plastischen Kunstwerks oder des harmonischen Gleichgewichts, und die Tatsache, dass Hegel die Selbstgestaltung der Griechen als historisch konkrete, zeitlich begrenzte Ereignisse schildert, die sich vom eher konservativem Umgang der Griechen mit ihren Gesetzen im Alltag deutlich unterscheiden. In diesem Abschnitt stelle ich als einen weiteren Beleg für meine Interpretation einen systematischen Zusammenhang vor, den Hegel zwischen der Zweiphasigkeit der griechischen Sittlichkeit und dem griechischen Kooperationsprinzip der Tugend sieht. Hegel ist der Auffassung, dass Tugendnormen, sofern sie als selbstbestimmte Normen gedacht werden, notwendigerweise nach einer zweiphasigen Struktur verlangen. Das zentrale Argument hierbei ist für Hegel die Notwendigkeit eines Lernprozesses. Tugendnormen müssen in einem 73
Vgl. Hegel, VGPhil.II S. 114.
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
ausgedehnten Lernprozess habitualisiert werden, um wirksam zu werden. Der Lernprozess ist allerdings durch ein anderes Verhältnis zu den Normen gekennzeichnet als der Prozess der Gestaltung und Einsetzung solcher Normen. Die Notwendigkeit eines Lernprozesses führt also dazu, dass der Umgang mit Tugendnormen in zwei unterschiedliche Phasen zerfällt. Diese zweiphasige Struktur der Tugend schlägt sich laut Hegel direkt in den zweiphasigen Entwicklungszyklen der griechischen pólis-Gemeinschaft nieder. Der Grund für diese enge Verknüpfung liegt darin, dass Hegel die Griechen in seinen Vorlesungen zur Weltgeschichte als Tugendethiker in Reinform deutet, für die die Tugend das Prinzip der Anerkennung und die Grundlage der Kooperation ist (siehe Kapitel II.2 zu Hegels Griechenbild). Sittliche Normen begreifen Hegels Griechen ausschließlich als Tugendnormen – die Entwicklung anderer sittlicher Normen, etwa des Rechts oder der Moral, findet laut Hegel erst in einer späteren Epoche der Weltgeschichte statt. Aus diesem Grund glaubt Hegel, dass wir in der Gestalt der griechischen Stadtstaaten die begriffliche zweiphasige Struktur der Tugend unmittelbar beobachten können, da bei ihnen die Tugend nicht mit anderen sittlichen Normen ergänzt und ausgeglichen wird. Die griechische pólis dient Hegel folglich als ein Vorzeigebeispiel für die Umsetzung der Tugend als Prinzip von Institutionen und Praktiken. Hegels Bemerkungen über die Tugend und ihre Zweiphasigkeit sind nicht allerdings an den Kontext der griechischen pólis gebunden, wie ich im Folgenden zeigen werde, sondern sind systematisch gedacht und lassen sich daher auch auf andere, modernere Versuche einer tugendethischen Grundlegung von Kooperation und Gemeinschaft anwenden. Angesichts dieses übergeordneten systematischen Interesses gewinnt Hegels Diskussion der sophistischsokratischen Kritik an der Tugend zusätzliche Sprengkraft (siehe Teile V und VI). Die Kritik, wie Hegel sie vorstellt, richtet sich offenbar nicht nur gegen eine bestimmte historische Denkweise, sondern zielt gleichermaßen auf antike wie moderne Tugendethiken, sofern sie die Tugend als Prinzip der selbstbestimmten Kooperation betrachten. Das Scheitern der Griechen hat für Hegel, wie so viele andere historische Ereignisse, eine exemplarische Bedeutung. Mit dem Untergang der pólis wird überhaupt der philosophische Ansatz widerlegt, eine selbstbestimmte Gemeinschaft auf der Basis von Tugendnormen errichten zu wollen. Um dieser systematischen Stoßrichtung von Hegels Vorlesungen gerecht zu werden, werde ich in diesem Abschnitt zunächst die 207 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
III · Tugend und Selbstbestimmung
Bemerkungen erörtern, mit denen Hegel auf die systematisch-notwendige Verknüpfung der Tugend und dem Zwei-Phasen-Modell hinweist. Im nächsten Abschnitt III.3.2 stelle ich Hegels systematische Behauptung auf die Probe, indem ich ihre Anwendbarkeit auf die moderne Tugendethik überprüfe. Moderne Tugendethiker sprechen zwar in der Regel nicht von zweiphasigen Normen. Ich zeige allerdings anhand dreier Argumente aus der zeitgenössischen Literatur zur Tugendethik, dass dort gleichermaßen die Notwendigkeit eines ausgedehnten Lernprozesses für den Tugenderwerb etabliert wird und somit auch die Existenz zweier unterschiedlicher Arten des Bezugs zu Tugendnormen eingestanden wird, nämlich der kompetentfreie Umgang des Tugendhaften und das gehorsame Verhältnis des Lernenden. Hegel spricht über die Notwendigkeit zweier Phasen für den Begriff der Tugend eher beiläufig in seiner Diskussion der solonischen Reformen in Athen und ihrer Folgen. 74 Hegel orientiert sich bei der Schilderung der äußeren Ereignisse weitgehend an Diogenes Laertius, 75 interpretiert dessen Bericht allerdings im Lichte seines systematischen Interesses an der tugendhaften Kooperation: Kurze Zeit nach den Verfassungsänderungen Solons, mit denen die demokratischen Institutionen der pólis gestärkt werden sollten, übernimmt der Feldherr Peisistratos die Herrschaft in Athen und ernennt sich zum Alleinherrscher, gegen den Protest und Widerstand Solons. Hegel überlegt zunächst, ob diese Entwicklung Solon angelastet werden müsse, dessen Reformen keinen ausreichenden Schutz gegen eine tyrannische Machtergreifung boten: Solon ist dabei kein vollkommener Staatsmann gewesen; dies zeigt sich im Verfolg seiner Geschichte. Eine Verfassung, die dem Peisistratos gestattete, sich sogleich, noch in seiner Gegenwart, zum Tyrannen aufzuwerfen, welche Verfassung so wenig kraftvoll in sich, organisch war, daß sie ihrem Umsturz nicht begegnen konnte – und welcher Macht? –, setzt einen inneren Mangel in ihr voraus. Das kann sonderbar scheinen; einem solchen Angriff muß eine Verfassung Widerstand leisten können. 76
Der Staatsstreich des Peisistratos war nur möglich, so diagnostiziert Hegel, weil Solons demokratische Gesetze »wenig kraftvoll in sich« gewesen seien. Es scheint zu diesem Zeitpunkt so, als sei Solons Pro74 75 76
Hegel, VGPhil.I S. 182–185 und VPhGes S. 316 f. Vgl. Diogenes Laertius, Vitae II.2, §§ 48–54. Hegel, VGPhil.I S. 182 f.
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
jekt gescheitert. Dem widerspricht aber der weitere Verlauf der Ereignisse: Merkwürdig ist es, daß noch zu Solons Lebzeiten, sogar bei seiner Anwesenheit und trotz seines Widerspruchs, Peisistratos sich der Oberherrschaft bemächtigte; die Verfassung war gleichsam noch nicht in Blut und Leben übergegangen, sie war noch nicht die Gewohnheit der sittlichen und bürgerlichen Existenz geworden. Noch merkwürdiger aber ist, daß Peisistratos nichts an der Gesetzgebung änderte, daß er, angeklagt, sich selber vor den Areopag stellte. Die Herrschaft des Peisistratos und seiner Söhne scheint notwendig gewesen zu sein, um die Macht der Familien und Faktionen zu unterdrücken, um sie an Ordnung und Frieden, die Bürger aber an die Solonische Gesetzgebung zu gewöhnen. Als dies erreicht war, mußte die Herrschaft für überflüssig gelten und die Gesetze der Freiheit in Widerspruch mit der Macht der Peisistratiden treten. Die Peisistratiden wurden vertrieben, Hipparch getötet und Hippias verbannt. 77
Die Tyrannis der Peisistratiden erscheint Hegel in zweierlei Hinsichten »merkwürdig« (er verwendet das Wort allerdings wie schon Goethe eher im Sinne von »bemerkenswert«): Erstens geschieht die Machtergreifung des Tyrannen kurz nach einer Gesetzesreform, noch bevor die neuen Gesetze vollständig umgesetzt werden konnten. Hegel erwähnt, dass solche Umbruchzeiten sozialer Reformen im antiken Griechenland häufiger zu Tyrannenherrschaften führten, und nennt als weitere Beispiele die Herrschaft des Perianders in Korinth und die des Pittakos in Mytilene. 78 Als zweite »Merkwürdigkeit« bezeichnet Hegel den Umstand, dass diese Tyrannen die neuen Gesetze nicht etwa außer Kraft setzten, um ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, sondern vielmehr ihre usurpierte Macht nutzten, um die Reformen mit Gewalt durchzusetzen. Die Tyrannis stellt sich also, anders als erwartet, nicht als ein Scheitern der Gesetzesreformen heraus. Vielmehr interpretiert Hegel sie als eine Art Erziehungsprogramm für die pólis-Bürger: »Die Herrschaft des Peisistratos und und seiner Söhne scheint notwendig gewesen zu sein, um die Macht der Familien und Faktionen zu unterdrücken, um sie an Ordnung und Frieden, die Bürger aber an die Solonische Gesetzgebung zu gewöhnen.« 79 Peisistratos tritt in dieser Deutung als eine notwendige
77 78 79
Ders., VPhGes 316 f. Ders., VGPhil.I S. 185. Siehe obiges Zitat (Hegel, VPhGes S. 313).
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III · Tugend und Selbstbestimmung
Gestalt zur Verwirklichung der Reformen auf. Hegel erläutert diese Notwendigkeit folgendermaßen: Als ordentliche Verfassungen und Gesetze bei den Griechen notwendig wurden, so sehen wir Gesetzgeber und Regenten von Staaten entstehen, die dem Volke Gesetze auflegten und es nach diesen beherrschten. Das Gesetz als allgemein erscheint dem Individuum als Gewalt, insofern es das Gesetz nicht einsieht, nicht begreift, – so als Gewalt noch jetzt, – so zuerst dem ganzen Volke, bis nachher nur dem Einzelnen. Es ist notwendig, ihm zuerst Gewalt anzutun, bis es zur Einsicht kommt und das Gesetz ihm zu seinem Gesetz wird, aufhört, ein Fremdes zu sein. 80
In diesem Zitat beschreibt Hegel zwei unterschiedliche Verhältnisse des Volks zu den Gesetzen: Unmittelbar nach den Reformen erscheint das neue Gesetz den Bürgern »als Gewalt«, deren Sinn sie nicht begreifen. In diesem Stadium sei es notwendig, dem Volk »zuerst Gewalt anzutun, bis es zur Einsicht kommt und das Gesetz ihm zu seinem Gesetz wird«. In diesem Stadium der Gewalt treten die Gesetze den Bürgern als etwas »Fremdes« gegenüber, sie sehen sie nicht als selbstbestimmte Gesetze an. Dieses Verhältnis ändere sich, wenn sich die Bürger an die Gesetze gewöhnt haben und sie »zur Einsicht« gekommen sind. Die Gesetze seien den Bürgern nun »in Blut und Leben« übergegangen und auf diese Weise zu »Gesetzen der Freiheit« geworden. Mit dem Abschluss dieser Entwicklung habe die Gewaltherrschaft der Tyrannis ihren geschichtlichen Zweck erfüllt und werde »überflüssig« (s. o.). Erst durch die Herrschaft der Peisistratiden erhalten die solonischen Reformgesetze ihre Gültigkeit und die Kraft, die ihnen zu Beginn fehlte. Auf diese Weise führe erst eine Tyrannis, eine Phase der Unterordnung und Fremdbestimmung, zur Selbstbestimmung und Freiheit. Um diese Abfolge und den Zusammenhang dieser Phasen allerdings vollständig zu verstehen, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass laut Hegel die solonischen Reformen von Anfang an eine Auftragsarbeit der Athener Bürger waren. 81 Die Gesetze erscheinen also den Bürgern nicht etwa deshalb als »Gewalt« und etwas »Fremdes«, weil sie ihnen gegen ihren Willen von einer äußeren Instanz aufgezwungen worden wären. Stattdessen können sich die Bürger mit den neuen Gesetzen noch nicht identifizieren, weil sie ihnen noch nicht zum Habitus geworden sind. Eine bloß intelDers., VGPhil.I S. 183. Ders., VPhGes S. 307: »Solon wurde so von den Athenern beauftragt, ihnen Gesetze zu geben, da die vorhandenen nicht genügten.«
80 81
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lektuelle Zustimmung zu den Gesetzen genügt nach diesem Verständnis offenbar nicht, um ihnen als selbstbestimmte Normen Geltung zu verleihen. Erst in der Form der Sitte und Gewohnheit haben die griechischen Bürger die Normen im vollen Sinne anerkannt. Hegel charakterisiert diesen Zusammenhang und die Abfolge von Gesetzgebung und Tyrannis in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wie folgt: Die Herrschaft des Peisistratos gewöhnte die Athenienser an die Gesetze des Solon und machte sie zur Sitte, so daß nach Vollendung dieser Angewöhnung die Oberherrschaft überflüssig wurde und seine Söhne aus Athen vertrieben wurden und jetzt erst die Solonische Verfassung sich für sich erhielt. Solon hat so die Gesetze wohl gemacht, aber ein anderes ist es, diese gesetzlichen Einrichtungen zur Gewohnheit, Sitte, zum Leben eines Volkes zu machen. 82
In diesem Zitat unterscheidet Hegel zwischen zwei Weisen der Geltung und Anerkennung von Normen. Die erste Weise ist bereits durch Solons Reformwerk gegeben: Die neuen Gesetze der pólis sind schon in gewissem Sinn in Kraft, sie bestehen allerdings nur als Forderung an die Bürger. Bereits in diesem Stadium können wir sagen, die Gesetze werden von den Bürgern in einer gewissen Weise anerkannt, da es sich um die Gesetze handelt, die sie von Solon erbeten haben. Ihre wirkliche Geltung und Anerkennung erhalten die Gesetze jedoch erst, wenn sie den Bürgern zur Gewohnheit geworden sind. Der Übergang vom ersten Stadium der bloßen Forderung zur wirklichen Geltung gelingt aber den Griechen nur durch eine Phase der Habitualisierung. In dieser Phase verhalten sich die Bürger zu ihren Gesetzen ausdrücklich nicht wie zu selbstbestimmten Normen. Vielmehr ist die Phase der Gewöhnung durch »Gewalt« bestimmt, also durch Gehorsam und Unterordnung. Es handelt sich hierbei um eine erzieherische Beziehung, in der die Bürger zu ihren Gesetzen stehen. Diese ›Zwangsphase der Erziehung‹ muss anscheinend durchlaufen werden, um den Bürgern die Gesetzesnormen in den Charakter übergehen zu lassen. Die Notwendigkeit einer solchen Zwangs- und Erziehungsphase für die Griechen ergibt sich unmittelbar aus ihrer Beschreibung als radikale Tugendethiker. Tugendnormen gelten erst dann als vollständig verwirklicht, wenn sie dem Handelnden in »Blut und Leben« 82
Ders., VGPhil.I S. 185.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
übergegangen sind, das heißt: zum Habitus geworden sind. Eine Veränderung der Gesetze erfordert demnach auch eine Veränderung des Charakters. Auf eine Gesetzesreform muss bei den Griechen somit eine Phase der Erziehung und der Gewöhnung folgen, in der die neuen Gesetze habitualisiert werden. Hegels Behauptung, zur Durchsetzung der neuen Gesetze sei eine Tyrannis nötig, ist sicherlich überspitzt und den historischen Beispielen geschuldet, die er heranzieht. Er weist aber zurecht daraufhin, dass der Prozess der Habitualisierung ein anderes Verhältnis zur Norm erfordert, als dies während der Normgestaltung der Fall ist. Eine wichtige Anforderung für den Prozess der Habitualisierung besteht offenbar darin, dass die Normen während dieser Phase nicht beliebig verändert werden dürfen. Nur wenn eine Norm stabil bleibt, hat eine entsprechende Gewöhnung Erfolg. Ein Zeugnis für diese Anforderung gibt beispielsweise Solon, der nach seinen Reformen Athen verlässt, um zu verhindern, dass die Athener ihn zu Änderungen der neu erlassenen Gesetze nötigen. 83 Auch Aristoteles erläutert in seiner Politik, dass sich eine Gewohnheit nur durch solche Gesetze bilden könne, die über einen längeren Zeitraum stabil blieben, und warnt deshalb vor zu häufigen Gesetzesänderungen: […] das Gesetz hat keine andere Macht, sich Gehorsam zu verschaffen, als die Gewohnheit, und die kann sich nur bilden durch die Länge der Zeit; und leicht von den bestehenden Gesetzen zu anderen, neuen übergehen heißt daher die Macht des Gesetzes schwächen. 84
Die Anforderung der Habitualisierung, die Gesetze stabil zu halten, bedeutet aber zugleich, dass die Bürger die Gesetzesnormen nicht in der gleichen Weise kritisieren und nachbessern dürfen, wie es ihnen in der Gestaltungsphase möglich ist. Die Gesetze müssen für den Zweck der Gewöhnung fixiert und unumstößlich erscheinen. Das Verhältnis der Bürger zu ihren Gesetzen ist also in der Erziehungsphase einseitig: Nur ihr Verhalten wird anhand der Gesetze beurteilt, während ihnen es nicht zusteht, im Gegenzug die Gesetze zu beurteilen und zu kritisieren. Aus diesem Grund handelt es sich um ein Verhältnis der Unterordnung und der »Gewalt«, welches nicht im unmittelbaren Sinn selbstbestimmt ist. Auf diese Weise führt der
83 84
Vgl. ebd., S. 183, und Aristoteles, Staat der Athener, Kapitel 11. Aristoteles, Politik II.8, 1269a20 f.
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
Begriff der Tugend direkt zu einem Zwei-Phasen-Modell der Normativität. Es liegt freilich nicht im Begriff der Tugend, dass die Phase der Habitualisierung, die sich von der Phase der Selbstgestaltung unterscheidet, mit Notwendigkeit die Gestalt einer Tyrannis annehmen muss. Für Hegel handelt es sich bei der Peisistratidenherrschaft um den Extremfall eines radikalen kollektiven Umerziehungsprojekts. In der Tyrannis der Peisistratiden zeigt sich das Verhältnis der Unterordnung der Bürger unter die Normen der pólis besonders deutlich. Die Phase der Habitualisierung, wie Hegel sie versteht, ist allerdings umfassender. Hegel zufolge richtet sich die Erziehung durch den griechischen Staat zuerst auf das ganze Volk, später auf nur auf Einzelne. 85 Diese Bemerkung lässt sich folgendermaßen verstehen, dass die Erziehung der Bürger bei den Griechen als eine kontinuierliche Anstrengung betrachtet wurde, um beispielsweise die Heranwachsenden in die Institutionen der pólis zu integrieren, aber auch, um ein Abstumpfen und Nachlassen des Habitus der Bürger zu vermeiden. Die Habitualisierungsphase stellt somit für Hegels Griechen den Normalfall dar – im Grunde dauert sie so lange, bis die Bürger erneut Änderungsbedarf an den Normen sehen. Im weiteren Text meiner Arbeit spreche ich daher häufig auch von »Anwendungsphase« statt von »Habitualisierungsphase«, um zu markieren, dass der systematische Grund für die Anwendungsphase in der Habitualisierung der Tugend liegt, sich aber die zeitliche Dauer der Anwendungsphase nicht auf die tatsächlichen Habitualisierungsprozesse beschränkt.
III.3.2 Lernprozess und Zweiphasigkeit in modernen Tugendethiken Mit der historischen Beobachtung, dass bei den Griechen häufig auf Gesetzesreformen eine Tyrannis folgte, weist Hegel auf eine systematische Eigenschaft der Tugend hin: Tugendnormen können nicht einfach geschaffen und im gleichen Moment umgesetzt werden. Zwischen ihrem Inkrafttreten als Norm und ihrer vollständigen Verwirklichung durch einen Handelnden muss gewisse Zeit verstreichen, weil Tugendnormen erlernt werden müssen. Dieser Lernprozess ist ein Prozess der Gewöhnung und Habitualisierung. In ihm besteht ein anderes Verhältnis zur Norm als im Prozess der Normgestaltung, 85
Siehe obiges Zitat aus Hegel, VGPhil.I S. 183.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
denn der Lernende muss sich der Norm unterwerfen. Der Lernprozess führt also dazu, dass Gestaltung und Anwendung von Tugendnormen auseinander treten und diese beiden Momente selbstbestimmter Normen zwei verschiedenen Phasen zugeordnet werden. Die Notwendigkeit des Lernprozesses verhindert, dass wir die Gestaltung und Anwendung der Normen als einen einzigen und einheitlichen Prozess verstehen. Somit ist der Habitualisierungsprozess ein Schlüssel für die Begründung des Zwei-Phasen-Modells von Tugendnormen. In antiken und modernen Tugendethiken finden wir zwar selten eine ausdrückliche Terminologie, die auf zwei Phasen hinweist. 86 Hegels systematische Einsicht in den Zusammenhang von Lernprozess und Zweiphasigkeit hilft uns, dennoch die implizite Verwendung einer Zwei-Phasen-Auffassung praktischer Normen zu diagnostizieren. Die meisten klassischen und auch modernen Tugendethiken gehen davon aus, dass ein zeitlich ausgedehnter Lernprozess zum Tugenderwerb dazugehört. Das Erfordernis eines Lernprozesses wird sogar als Wesensmerkmal der Tugend wahrgenommen (s. u.). Da der Lernprozess aber zu einer Zweiphasigkeit der zugehörigen Normen führt, gehören offenbar Tugendethiker, die den Lern- und Gewöhnungsprozess zum Wesen der Tugend rechnen, zu den Vertretern eines Zwei-Phasen-Modells praktischer Normen, auch wenn sie es nicht ausdrücklich eingestehen. Im vorliegenden Abschnitt gehe ich auf die drei prominentesten Überlegungen zur Notwendigkeit eines zeitlich ausgedehnten Lernprozesses ein, wie sie in der modernen Literatur zur Tugendethik vorgebracht werden: 87 erstens die Vorstellung der Tugend als praktische Könnerschaft, zweitens die affektive Komponente der Tugend und drittens ihre Bewunderungswürdigkeit beziehungsweise die Identifikation des Tugendhaften mit der Tugend. Die Diskussion dieser zeitgenössischen Argumente in diesem Abschnitt soll vor allem zwei Zwecken dienen: Zum einen soll auf diese Weise die systematische Notwendigkeit des Lernprozesses näher beleuchtet werden, den Hegel trotz der zentralen Bedeutung für den Nachweis der Zweiphasigkeit der Tugend vergleichsweise knapp abhandelt. Die modernen Argumente können uns helfen, so die Hoffnung, die begriffliche Eine Ausnahme bilden hierbei möglicherweise kontraktualistische Tugendethiken wie beispielsweise diejenige Rousseaus, die den Gesetzgebungsprozess ausdrücklich als ein besonderes, vom Alltag abgegrenztes Ereignis darstellen. 87 Vgl. auch die Übersicht bei Halbig (2013), S. 96–101. 86
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
Struktur besser zu verstehen, die für Hegels Griechen eine so große Rolle spielt. Zum anderen unterstützt die zeitgenössische Diskussion meine These, dass Hegel mit seiner Untersuchung der griechischen pólis und der sophistisch-sokratischen Kritik ein philosophisch-systematisches Interesse verfolgt, dass über den historischen Kontext hinausgeht. Die Zwei-Phasen-Struktur der griechischen Tugendnormen, gegen die sich die sophistisch-sokratische Kritik richtet, ist folglich keine historische Eigentümlichkeit der Griechen, sondern liegt im Begriff der Tugend schlechthin. Oder, vorsichtiger formuliert: Offenbar gibt es starke Gründe, die für einen zweiphasigen Begriff der Tugend sprechen, die auch heute noch Überzeugungskraft besitzen, unabhängig von spezifisch antiken Annahmen. Zugleich möchte ich einschränkend feststellen, dass die Parallelisierung des antiken Tugendbegriffs bei Hegels Griechen mit einem Tugendbegriff der modernen Debatte nicht unbedingt nahelegen soll, dass die modernen Tugendethiker ebenfalls alle der sophistisch-sokratischen Kritik zum Opfer fallen, die Hegel gegen die antiken zweiphasigen Tugendnormen in Stellung bringt. Die sophistisch-sokratische Kritik greift zwar vor allem die Zweiphasigkeit der antiken Tugend an, insbesondere die Vorstellung einer Anwendungsphase mit stabilen und objektiven Normen (siehe Teil V und VI). Zum größeren Problem wird diese Annahme allerdings nur, weil Hegels Griechen die Tugend zum politischen Prinzip ihrer Selbstbestimmung erhoben haben. Das heißt, dass für Hegels Griechen die Tugend als ausschließliche Quelle sittlicher Normen gilt, sowie als Anerkennungsprinzip ihrer Gemeinschaft und Grundlage der gegenseitigen Beurteilung innerhalb dieser Gemeinschaft. Nicht alle modernen Tugendethiken wiederholen diesen Fehler der Griechen: Viele blenden die Frage nach einer politischen Dimension in ihrer Tugendethik ausdrücklich aus und beschränken sich auf die Tugend als Konzept zur individuellen Lebensführung. 88 Andere Autoren halten sich zumindest bedeckt, ob sie der Tugend auch eine Rolle als gemeinschaftsstiftendes Prinzip zutrauen. 89 Allerdings zeigen die folgenden Überlegungen, dass modernen Tugendethiken in der Regel die gleiche begriffliche Zwei-Phasen-Struktur
Etwa Annas (2011), S. 3. Allerdings scheinen mir jene modernen tugendethischen Projekte dem griechischen Irrtum zu verfallen, welche die Tugend als fundamentale sittliche Kategorie etablieren möchten, auf die andere Typen sittlicher Normen reduzierbar seien (vgl. hierzu Halbig (2013), S. 12).
88 89
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III · Tugend und Selbstbestimmung
zugrunde liegt, die Hegel auch von der antiken Tugend diagnostiziert. Dies bedeutet, dass die modernen Konzepte zumindest der Möglichkeit nach für den griechischen Irrtum anfällig sind, sofern sie nicht eine entsprechende Beschränkung und Bescheidung der Tugend vornehmen. Die erste der drei Überlegungen zur Notwendigkeit eines ausgedehnten Lernprozesses für die Tugend bezieht sich auf eine Ähnlichkeit zwischen Tugenden und Fertigkeiten wie zum Beispiel Klavierspielen oder Skifahren. 90 Sowohl Tugenden als auch Fertigkeiten sind praktische Fähigkeiten. Beide Arten praktischer Fähigkeiten zielen auf den Erfolg eines bestimmten Typus von Handlungen. Fertigkeiten und Tugenden können zwar niemals den Erfolg einer Handlung garantieren – schließlich kann selbst ein Meister seines Fachs an allzu feindlichen Umständen scheitern –, aber wenn wir einer Person derartige Fähigkeiten zusprechen, gehen wir davon aus, dass sie zumindest auch unter schwierigen Bedingungen ihre Fähigkeit einigermaßen erfolgreich ausüben kann. Zur Tugend gehört somit eine gewisse Verlässlichkeit, genauso wie zur Fertigkeit. Wir erwarten, dass der Tugendhafte mit widrigen Umständen zurechtkommt, so wie wir erwarten, dass beispielsweise der gute Skifahrer eine schwierige Piste bewältigen kann. In diesem Sinne sind die Tugenden eine Form praktischer Könnerschaft. Einen zufälligen Erfolg kann auch jemand erzielen, der mit einer Fähigkeit nicht besonders vertraut ist; beispielsweise kann auch ein unerfahrener Schütze das Zentrum der Zielscheibe treffen. Ein solcher Anfänger hat einfach einen Glückstreffer gelandet. Zur meisterhaften Beherrschung der Schützentechnik fehlt ihm allerdings die Verlässlichkeit. Wir dürfen also nicht erwarten, dass ihm bei wiederholten Versuchen ebenfalls das Glück hold ist, ganz zu schweigen von schlechten Bedingungen wie starkem Wind oder Regen. Eine Verlässlichkeit entsteht jedoch erst durch hinreichend Erfahrung mit verschiedenen Situationen und durch Vertrautheit mit den Herausforderungen, die beim Ausüben dieser Tätigkeit auftreten können. Die nötige Erfahrung und Vertrautheit, die für die verlässliche Beherrschung einer Fähigkeit Voraussetzung sind, erlangen wir nur durch wiederholtes Ausführen der entsprechenden Tätigkeit. Aristoteles weist auf diese Notwendigkeit des Übens für den Erwerb der Könnerschaft in seiner berühmten Bemerkung hin, in der er ebenfalls Tugenden und Fertigkeiten parallelisiert: 90
Vgl. Annas (2011), v. a. Chapt. 3.
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
Zum Beispiel wird man Baumeister dadurch, dass man baut, und Kitharaspieler dadurch, dass man die Kithara spielt. So werden wir auch dadurch gerecht, dass wir Gerechtes tun (prattein), mäßig dadurch, dass wir Mäßiges, und tapfer dadurch, dass wir Tapferes tun. 91
Könnerschaft und Erfahrung gehen also Hand in Hand. Das Sammeln von Erfahrungen ist aber Teil eines ausgedehnten Lernprozesses. Die zweite Überlegung zielt auf die affektive Komponente der Tugend: Der Tugendhafte besitzt nicht nur praktische Könnerschaft, das heißt, hinreichend Geschicklichkeit, Erfahrung und Hintergrundwissen, um gut zu handeln, er tut dies auch gerne. 92 Für Aristoteles ist es ein wichtiges Kennzeichen des Tugendhaften, dass er das gute Handeln als lustvoll erfährt. Hierdurch unterscheidet er sich vom bloß Beherrschten, der zwar das Richtige tut, aber nur widerwillig. Der Tugendhafte hingegen handelt nicht nur richtig, sondern ist auch mit ganzem Herzen motiviert zu seiner Handlung und erfreut sich an ihr. 93 Zur Tugend gehört somit eine angemessene Beschaffenheit der Affektivität des Tugendhaften. Sein Denken und sein Fühlen sind auf die gute Handlung gerichtet. Der Tugenderwerb erfordert folglich auch deshalb einen längeren Prozess, weil unsere affektive Natur nicht nach Belieben geändert werden kann. Sie unterliegt nicht unseren unmittelbaren Willensentscheidungen, sondern kann nur durch langfristige Bemühungen umgestaltet werden. Unsere affektive Natur ist etwas Beharrliches. Es wird umso schwieriger, sie zu ändern, je länger wir uns an bestimmte Verhaltensweisen und emotionale Muster gewöhnt haben. Aristoteles beschreibt diese Beharrlichkeit so: »Wir alle sind von Kindheit an mit der Lust aufgewachsen; daher ist es schwierig, diese Empfindungen abzureiben, nachdem sie das Leben eingefärbt haben.« 94 Diese ersten beiden Überlegungen zur Notwendigkeit des Lernprozesses sind vor allem anthropologische Argumente, die auf bestimmte Eigenschaften unserer menschlichen Natur zielen. Sie beziehen sich daher nicht unmittelbar auf die Tugendnormen selbst, sondern etwa auf die Tatsache, dass wir animalisch-körperliche Wesen mit einer Affektivität sind, die sich unseren bewussten Willensentscheidungen widersetzen kann und durch langfristige Prozesse der 91 92 93 94
Aristoteles, NE II.1, 1103a30-b1. Vgl. Hursthouse (1999), Chapt. 4. Aristoteles, NE II.2, 1104b29-a16. Ebd., 1105a1 ff.
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Selbsterziehung umgeformt werden muss. Die beiden Argumente setzen nicht direkt am Begriff der Tugend an und lassen daher zumindest die Möglichkeit offen, dass auf irgendeine Weise unsere menschliche Natur umgangen oder geändert wird, so dass doch ein Tugenderwerb ohne längeren Lern- und Habitualisierungsprozess denkbar bleibt. Thomas von Aquin schließt beispielsweise einen schlagartigen Tugenderwerb nicht aus und erinnert an die Bekehrung des Apostels Paulus durch das sprichwörtlich gewordene DamaskusErlebnis. In diesem Fall handelt es sich scheinbar um ein übernatürliches Ereignis, das nicht an die Beschränkungen der menschlichen Natur gebunden ist. 95 Eine weitere Möglichkeit, die menschliche Natur zu ändern, scheint durch technische Modifikationen gegeben. So könnten wir uns beispielsweise ein Science-Fiction-Szenario ausmalen, in dem eine Person durch die Implantation eines Computerchips im Hirn tugendähnliches Verhalten und Fähigkeiten verliehen bekommt. Ein solcher Chip enthielte das notwendige Wissen zum tugendhaften Handeln und müsste zusätzlich derart in die Hirnchemie seines Trägers eingreifen, dass er dessen Affekte beeinflussen kann, etwa durch die gezielte Ausschüttung bestimmter Hormone. 96 Die dritte Überlegung, die ich in diesem Abschnitt vorstelle, richtet sich gegen derartige Gedankenspiele zum Tugenderwerb. Sie argumentiert, dass ein langwieriger Lernprozess auch begrifflich eine notwendige Voraussetzung der Tugend ist. Gemäß dieser Überlegung könnte ein futuristischer Chip im Hirn vielleicht das Verhalten seines Trägers im Sinne der Tugend beeinflussen, ihm sogar tugendhafte Überzeugungen und ethische Affekte implantieren, im Ergebnis wäre der Träger des Chips jedoch nur eine Imitation des Tugendhaften und kein Tugendhafter im vollen Sinn. Diese Unterscheidung zeigt sich beispielsweise in der Zuschreibung der Verantwortung für die Tugend. Der Tugendhafte hat zwar in der Regel seine Tugend nicht vollständig allein aus eigener Kraft erworben, sondern wurde durch Erzieher, Eltern, Lehrer und andere Vorbilder in seiner Gemeinschaft angeleitet. Dennoch ist die Tugend dem Tugendhaften nicht von auVgl. Thomas von Aquin, STh I-II q. 112 a.2. Bereits heute werden in der experimentellen Parkinson-Therapie sogenannte Hirnschrittmacher eingesetzt, die einen wahrnehmbaren Einfluss auf Emotionen und Charakter des Patienten haben. Verhalten und Affekte können auf Knopfdruck verändert werden. Siehe hierzu beispielsweise den beeindruckenden autobiographischen Bericht Tief im Hirn (Dubiel (2006)). Solche Ergebnisse sind freilich erratisch und weit entfernt von einem Chip, der Tugenden oder andere praktische Fähigkeiten verleiht.
95 96
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Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
ßen zugestoßen und wurde ihm auch nicht durch seine Eltern oder Lehrer aufgezwungen. Die Erziehung zur Tugend ist vor allem eine Selbsterziehung. Der Tugendhafte ist durch einen Lernprozess hindurchgegangen, der ihm viel Hingabe, Selbstdisziplin und Willenskraft abverlangte. Die Tugend entsteht durch die eigenen Handlungen und deshalb ist der Tugendhafte für seine Tugenden verantwortlich. 97 Seine Tugend ist im Großen und Ganzen sein Verdienst und seine eigene Leistung, deshalb können wir sie auch in einem emphatischen Sinn als seine Tugend bezeichnen. Aus diesem Grund verdient der Tugendhafte auch Lob für die Tugend. Das Lob der Tugend hat eine andere Dimension als beispielsweise ein Kompliment für die schöne Augenfarbe, weil es sich auf eine Leistung des Tugendhaften bezieht und den Tugendhaften mit seiner Tugend somit stärker identifiziert, als dies bei rein äußerlich-kontingenten Eigenschaften möglich ist. Bei einer tugendähnlichen Eigenschaft jedoch, die ohne einen anstrengenden Lernprozess erworben wurde, wird diese Identifizierung zwischen Tugendhaftem und Tugend unklar. Linda Zagzebski diskutiert diese Problematik des schlagartigen Tugenderwerbs mit Hilfe des Gedankenexperiments einer Transformationsmaschine, die wie der oben geschilderte Tugend-Chip im Hirn funktioniert und per Knopfdruck eine gewünschte Tugend verleiht – genauer gesagt, sie verwandelt den Betroffenen in eine Person mit den Fähigkeiten und dem Charakter eines Tugendhaften. 98 Die Handlungen und Reaktionen eines derart Transformiertem entsprächen folglich den Handlungen und Reaktionen des Tugendhaften. Trotzdem falle es schwer, so Zagzebski, einen Transformierten für diese Qualitäten zu loben: statt harter Anstrengungen und zahlloser Akte der Selbsterziehung genügte für ihn ein einzelner, banaler Akt. Das Lob für seine Qualitäten gebühre eher dem Erfinder der Maschine, der die eigentliche Arbeit geleistet habe. Die tugendähnliche Qualität des Transformierten sei somit der Verdienst einer anderen Person und nicht ihres Trägers, der kaum etwas zu ihr beigesteuert habe. Im Gedankenexperiment der Transformationsmaschine erscheint die transformierte Qualität seltsam losgelöst vom Transformierten, er tritt nur als ihr zufälliger Träger auf. Aus diesem Grund, so Zagzebski, werde es auch dem Transformierten schwerfallen, sich mit seiner Qualität in dem Maße zu identifizieren, wie es der Tugendhafte kann. 97 98
Vgl. Aristoteles, NE III.7. Zagzebski (1996), S. 116–126.
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III · Tugend und Selbstbestimmung
Sie wäre ihm nicht im vollen Sinn zu eigen. Zagzebski vergleicht die transformierte Qualität mit fremden Erinnerungen, die in einem analogen Gedankenexperiment durch eine sogenannte Erfahrungsmaschine künstlich übertragen werden. Die eingepflanzten Erinnerungen mögen noch so realistisch wirken, sie wären doch nicht die eigenen. Zagzebski vermutet, dass eine Person mit einem derart umgewandelten Charakter oder Gedächtnis, die sich ihrer Situation voll bewusst ist, eine schwere Identitätskrise erleidet, ähnlich wie eine Person, der durch eine Hirnverletzung eine plötzliche Charakterveränderung widerfährt. Die transformierte Qualität ist in einem starken Sinn nicht ihre Tugend, sie ist ihr fremd. Zagzebskis Argument lässt sich derart deuten, dass der Begriff der Tugend sich nicht auf die Überzeugungen, Handlungsdispositionen und die affektive Beschaffenheit einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt beschränkt. Die Tugend bestimmt vielmehr die Identität und das Leben des Tugendhaften als Ganzes. Eine Tugend muss demnach in die Biographie des Tugendhaften eingewoben sein. Sie besitzt selbst eine Geschichte und ist damit ein Teil der Lebenserzählung und Identitätswahrnehmung des Tugendhaften. Auf diese Weise ist die Tugend existenzieller Teil des Tugendhaften. Eine ähnliche Verwebung können wir auch bei praktischen Fertigkeiten finden: Zu einer hervorragenden Pianistin gehört nicht nur die Fähigkeit, exzellent Klavier zu spielen, sondern auch ihre Vorgeschichte, wie sie ihre Fertigkeit erlernt hat. Somit sind selbst die ersten unbeholfenen Versuche, die zahllosen Musikstunden und möglicherweise sogar ein frustrierendes Scheitern bei einem verunglückten Konzert Teil ihrer exzellenten Fähigkeit und nicht nur kontingente Vorbedingungen. Der lange, vielleicht auch entbehrungsreiche Lernprozess führt dazu, dass das Klavierspiel untrennbar mit der Identität der Pianistin verbunden ist. Das Klavierspiel prägt ihre Persönlichkeit und zwar nicht nur, weil sie es im Vergleich mit ihren Mitmenschen ausnehmend gut beherrscht, sondern weil sie ihm bereits so viele Stunden geopfert hat. Wenn wir von ihrer Liebe zur Musik sprechen, ist dies mehr als nur eine Floskel. Ihre Verbundenheit mit der Musik und ihrem Klavierspiel ist stärker als eine bloße Vorliebe, sie hat für sie existenzielle Bedeutung. Der anstrengende Lernprozess führt daher auf mehrfache Weise dazu, dass die entsprechende Fertigkeit wertgeschätzt wird: Wir Zuhörer loben und bewundern eine Fähigkeit einerseits, weil sie uns gut und nützlich erscheint, andererseits, weil wir erkennen, dass sie nicht leicht zu erwerben ist. Der Besitzer dieser Fähigkeit schätzt sie jedoch noch in besonderem 220 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Der Lernprozess und die notwendige Zweiphasigkeit der Tugend
Maße, weil er weiß, welche Anstrengungen sie ihm bereits gekostet hat und welchen integralen Bestandteil seines Lebens sie bildet. Für ihn steht auch mehr auf dem Spiel, wenn er beispielsweise in Gefahr gerät, seine Fähigkeit durch einen Unfall zu verlieren. Bei einer Fähigkeit, die wir nach Belieben mit einer Transformationsmaschine anoder ausschalten könnten, erscheint eine derart enge Bindung und Identifikation unplausibel. An diesen drei Überlegungen können wir sehen, dass der Lernprozess in folgenden Hinsichten zum Begriff der Tugend gehört: Erstens werden durch den Lernprozess die Voraussetzungen tugendhaften Handelns geschaffen, indem der Lernende die notwendige Erfahrung sammelt und seinen Charakter schult (dies ist der Inhalt der oben genannten ersten und zweiten Überlegung). Zweitens ist er ein wichtiger Grund für unsere Wertschätzung der Tugend und für die Identifikation des Tugendhaften mit seiner Tugend (dies entspricht der dritten obigen Überlegung). Der Lernprozess erklärt, wie wir die Verantwortlichkeit des Tugendhaften für seine Tugend verstehen und weshalb wir sie ihm als seine Leistung zurechnen. Durch den Lernprozess eignet sich der Tugendhafte die Tugend als existenziellen Teil seiner Persönlichkeit und Biographie an. Aus der Notwendigkeit des Lernprozesses folgt allerdings die zweiphasige Struktur von Tugendnormen. Denn obwohl Tugendnormen selbstbestimmt sind und daher prinzipiell unserem Urteil unterliegen, müssen diese Normen zumindest für die Dauer des Lernprozesses stabil sein, verlässlich und verbindlich für unser Handeln. Mit anderen Worten: Wenigstens für die Dauer des Lernprozesses sind die Normen unserer Gestaltung entzogen. Die drei obigen Überlegungen für die Notwendigkeit des Lernprozesses geben uns zusätzlich Hinweise, weshalb dies so sein muss: Erstens ist die Tugend das Ziel des Lernprozesses. Der Lernende ist teleologisch auf die Tugend ausgerichtet. Diese Orientierung auf die Tugendnorm bedeutet aber, dass der Lernende sich nach der Norm richtet und nicht umkehrt – dieses Verhältnis gilt schließlich für alle Ziele unseres Handelns. Zweitens zeigt uns die Analogie zwischen Tugenden und Fertigkeiten, dass der Lernende sich der Tugendnorm unterordnen muss, weil er die Tugendnormen noch nicht gänzlich gemeistert hat. Er beherrscht also die Tugend als praktische Fähigkeit noch nicht ausreichend, um ihre Implikationen für die verschiedensten Situationen zu überblicken und um sie verlässlich anzuwenden. Insofern ist der Lernende nicht kompetent genug, die Normen zu kritisieren oder gar zu reformieren. Diese man221 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
III · Tugend und Selbstbestimmung
gelnde Kompetenz im Urteil zeigt sich auch daran, dass ein Lernender in der Regel einen Lehrer oder zumindest ein Vorbild benötigt, dem er vertrauen kann, der ihm in gewissem Maße anleitet und an dessen Urteil er sich orientieren kann. 99 Drittens ist der Lernende aufgrund der Beschaffenheit unserer Affektivität darauf angewiesen, dass die fraglichen Normen zumindest für die Dauer des Lernprozesses stabil sind. Er kann sich die Tugendnormen nur dann als Habitus aneignen, wenn sie für eine hinreichende Zeitspanne gleichförmig sind. Die menschliche Affektivität und der Charakter können zwar durch plötzliche, schockartige Ereignisse verändert werden – etwa durch traumatische Erlebnisse –, aber eine kontrollierte, vernünftige Formung im Sinne der Tugend verlangt häufige Wiederholung und eine gewisse Erwartbarkeit. Auch wenn die Erziehung zur Tugend nicht mit einer geistlosen Abrichtung verwechselt werden darf, teilt sie dennoch mit dieser Form der Verhaltensänderung die Notwendigkeit einer gewissen Routine, Gleichförmigkeit und Gewöhnung. 100 Die Gleichförmigkeit und Gewöhnung verlangen jedoch, dass die Tugendnormen eben nicht beliebig geändert und angepasst werden. Der Lernende darf also die Tugendnormen nicht umfassend kritisieren oder reformieren, weil ihm zum einen der nötige Überblick und die Kompetenz fehlen, zum anderen, weil er auf diese Weise die Stabilität der Normen untergraben würde, die er für die Gewöhnung und Habitualisierung braucht.
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Siehe Annas (2011), S. 17. Vgl. auch Thomas von Aquin, STh I-II, qu.51 a.3.
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Teil IV: Normanwendung und Objektivität
IV.1 Einleitung und Vorbemerkung Im vorangegangenen Teil III habe ich erläutert, wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte die antike pólis als einen gezielten Versuch schildert, das Problem der freien, selbstbestimmten Kooperation zu lösen. Die Idee, die Hegel den Griechen zuschreibt, ist von eleganter Schlichtheit: Die beiden, scheinbar widersprüchlichen Momente selbstbestimmter Normen, nämlich ihre Verbindlichkeit und ihre Autonomie, sollen miteinander versöhnt werden, indem sie auf zwei zeitlich getrennte Phasen verteilt werden. In der ersten Phase gestalten die Subjekte gemeinsam ihre Normen, denen sie sich anschließend in der zweiten Phase unterwerfen. Jede der beiden Phasen fokussiert auf eines der Momente selbstbestimmter Normen und blendet das jeweils andere aus. Auf diese Weise wird jede der Phasen durch eine spezifische Tätigkeit – die Gestaltung oder Anwendung der Normen – und ein entsprechendes Verhältnis zu den Normen gekennzeichnet. Das griechische Zwei-Phasen-Modell praktischer Normen soll dem eigenen Anspruch nach das Paradox der Autonomie lösen und einen gehaltvollen Begriff der Selbstverpflichtung ermöglichen (vgl. Kapitel III.1). Insbesondere bietet das Zwei-PhasenModell eine einfache Antwort auf die Frage, wie eine Gemeinschaft ein einzelnes Subjekt in seinem Verhalten korrigieren kann, ohne die Selbstbestimmung dieses Subjekts zu beschneiden: Weil das korrigierte Subjekt an der Aushandlung der gemeinsamen Normen teilgenommen hat, hat es auf diese Weise seiner späteren Korrektur bereits zugestimmt. Die Korrektur eines Einzelnen durch die Gemeinschaft nimmt somit die Gestalt einer Selbstkorrektur an. Auf diese Weise schaffen Hegels Griechen Raum für die Möglichkeit von Korrektur und sogar Zwang, die mit der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft vereinbar sind. Eine solche freiheitliche Korrekturpraxis ist nicht nur wichtig für die Aufrechterhaltung der 223 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
sozialen Ordnung, sondern besitzt grundlegende Bedeutung für den Begriff der individuellen Autonomie: Nur mittels einer gemeinschaftlichen Korrekturpraxis ist ein Begriff von individueller Selbstbestimmung möglich, der über die reine Willkürfreiheit hinausgeht, wie es Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes anhand der Gestalt des »Selbstbewusstseins der Begierde« thematisiert: Erst in der Korrekturpraxis begegnet das Subjekt einem objektiven Standard, der vom augenblickshaften Dafürhalten verschieden ist und ihm die Unterscheidung zwischen Regelfolgen und bloß scheinbaren Regelfolgen ermöglicht (siehe Abschnitt III.1.2). Durch das griechische Zwei-Phasen-Modell wird daher das doppelte Paradox der Selbstbestimmung auf individueller und sozialer Ebene aufgelöst, wie es zunächst scheint. In Hegels Beschreibung vollführen die antiken Griechen mit Hilfe ihres Zwei-Phasen-Modells das theoretische Kunststück, sowohl Vertreter einer Autonomieethik zu sein, als auch die Anhänger eines ethischen Realismus. Die Griechen haben verstanden, so Hegel, dass für vernünftige Subjekte nur diejenigen Normen bindend sind, die sie für sich selbst als verbindlich anerkennen. Diese Einsicht in das Wesen der Autonomie adelt die Griechen zum Volk der »freien Individualität«. 1 Er bezeichnet sie als dasjenige Volk in der Weltgeschichte, bei dem der Geist das erste Mal zu sich selbst findet. Ihre Einsicht in die Autonomie macht die Griechen für Hegel äußert interessant. Er kann so unmittelbar den Bogen zur Autonomiedebatte der Neuzeit spannen und Fragen diskutieren, die für ihn und seine Zeitgenossen brennend aktuell sind. Indem Hegel die antiken Griechen als Autonomieethiker deutet, liest er sie durchaus gegen den Strich der traditionellen Geschichtsauffassung, welche das Konzept der Autonomie vor allem in der Neuzeit verortet. Hegel zufolge unterschätzt die traditionelle Geschichtsauffassung die antiken Griechen erheblich. Auch wenn Aristoteles und Platon nicht das moderne Vokabular der Autonomie verwenden, sollten wir den antiken Denkern ein anspruchsvolles Bild der Vernunft als Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung zubilligen, so Hegel. Dennoch gesteht Hegel der traditionellen Geschichtsauffassung zu, dass sie zumindest einen Aspekt des griechischen Umgangs mit praktischen Normen richtig erkannt habe: Üblicherweise werden in dieser Geschichtsauffassung die antiken Griechen als Anhänger eines ethischen Realismus betrachtet, das 1
Hegel, VPhGes S. 274.
224 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung und Vorbemerkung
heißt, ihnen wird der Glaube an eine objektive Werteordnung in der Welt zugeschrieben, die sich durch philosophische Kontemplation erkennen lasse und der gehorcht werden müsse, um ein gutes menschliches Leben zu führen. Hegel zufolge entspricht diese realistische Auffassung praktischer Normen der Haltung der Griechen in der Anwendungsphase. Der Fehler der traditionellen Darstellung liege somit in ihrer einseitigen Betrachtung der Griechen, indem sie die Gestaltungsphase ausblende. Eine ganzheitliche Untersuchung der Griechen ergebe jedoch, dass wir bei ihnen eine Koppelung zweier Positionen finden, die der »einseitige Verstand« üblicherweise für unvereinbar hält, so Hegel: das Zwei-Phasen-Modell verbinde die Autonomieethik der Gestaltungsphase mit dem Normenrealismus der Anwendungsphase. Diese Verbindung der beiden scheinbar unvereinbaren Positionen ließe sich zum einen auf theoretischer Ebene in den antiken Tugendethiken finden. Zum anderen schlage sie sich in den historisch belegten Institutionen und Praktiken der griechischen pólis nieder. Das Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen ist laut Hegel also in den verschiedenen politischen Einrichtungen der antiken Griechen wirklich geworden, etwa in der demokratischen Volksversammlung, den Gerichtshöfen, den Theaterfestspielen, der Organisation der Phylen und so fort. Die Gestalt dieser Institutionen sei durch die besonderen Anforderungen und Eigenheiten des Zwei-PhasenModells praktischer Normen geformt. Auch das letztliche Scheitern der griechischen Stadtstaaten führt Hegel auf die schwerwiegenden Irrtümer über das Wesen praktischer Normen zurück, mit denen das Zwei-Phasen-Modell behaftet ist (siehe Teile V und VI). Trotz dieser Probleme des Zwei-Phasen-Modells gelingt es allerdings den Griechen, so Hegel, eine freiheitliche Kooperationsgemeinschaft zu schaffen – zumindest für einen historisch kurzen Zeitraum und unter günstigen weltgeschichtlichen Umständen. Ich werde in diesem Teil der Arbeit Hegels Darstellung der griechischen Praktiken und Institutionen diskutieren und dabei systematisch rekonstruieren, wie diese mit den theoretischen Eigenschaften des Zwei-Phasen-Modells zusammenhängen. Ich gehe daher jeweils in zwei Schritten vor: Zunächst erläutere ich auf einer abstrakt-theoretischen Ebene einige zentrale Anforderungen an praktische Normativität, die aus dem Zwei-Phasen-Modell folgen. Anschließend skizziere ich, wie Hegels Griechen glauben, durch den Begriff der Tugend und die Institutionen ihrer pólis diese Anforderungen erfüllen zu können. Dieses schrittweise Vorgehen soll demonstrieren, wie pass225 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
genau die Institutionen der griechischen Tugend-Gemeinschaft auf die systematischen Anforderungen einer zweiphasigen Kooperation zugeschnitten sind. Hegel wählt offenbar die Griechen nicht zufällig als Beispiel aus, um die Problematik des Zwei-Phasen-Modells zu diskutieren. Für ihn ist die Tugend nicht irgendeine beliebige Spielart der zweiphasigen Kooperation, sondern der plausibelste und robusteste Versuch, dieses Modell zu verwirklichen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Untergang der griechischen pólis alle Hoffnungen beseitigt, das Zwei-Phasen-Modell könne in irgendeiner besseren, technisch oder philosophisch ausgereifteren Form verwirklicht werden. In Hegels Weltgeschichte zeigt die Krise der pólis im Sinne der historisch-immanenten Kritik, dass es sich bei der grundlegenden Annahme des Zwei-Phasen-Modells, die Gestaltung und Anwendung praktischer Normen könne logisch und zeitlich voneinander getrennt werden, um einen Irrtum handelt. Obwohl Hegel sich in seinen Vorlesungen auch ausführlich mit den Bedingungen und Anforderungen der Gestaltungsphase bei den Griechen beschäftigt, widme ich mich in den Kapiteln dieses Teils ausschließlich der Anwendungsphase. Der Grund für diese Beschränkung liegt in der Tatsache, dass Hegel die Sollbruchstelle der griechischen Kooperation – und grundsätzlich jeder zweiphasigen Kooperation – in der Anwendungsphase verortet. Die Anwendungsphase wird von der Vorstellung geprägt, dass die selbstgeschaffenen Normen in irgendeiner näher zu erläuternden Weise objektiv seien, das heißt: stabil, inhaltlich festgelegt, unabhängig verbindlich sowie für alle qualifizierten Mitglieder der Kooperationsgemeinschaft gleichermaßen erkennbar und anwendbar. Die Normen werden in der Anwendungsphase somit vergegenständlicht. Hegel verwendet in seinen Vorlesungen für diese Auffassung den Terminus einer »realen Sittlichkeit« 2, in der den sittlichen Normen ein »unmittelbare[s] Sein und Gelten« zugesprochen wird. 3 Für das Zwei-Phasen-Modell ist dieses verdinglichende Verständnis der Normen in der Anwendungsphase zentral. Es bildet die Grundlage für die Praxis der gemeinsamen, wechselseitigen Korrektur, die für die individuelle und gemeinschaftliche Selbstbestimmung unabdingbar ist. Im Kapitel IV.2 untersuche ich genauer, wie diese Objektivität der Normen in der Anwendungsphase zu verstehen ist. Ich zeige, weshalb es sich um 2 3
Ders., VPhRel.II S. 98. Ders., VGPhil.I S. 476.
226 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung und Vorbemerkung
einen notwendigen Bestandteil des Zwei-Phasen-Modells handelt, welche Anforderung sie mit sich bringt, welche Konsequenzen sie nach sich zieht und wie Hegels Griechen glauben, diese Objektivität in ihrer tugendhaften Kooperation erfüllt zu haben. Hierfür schlüssele ich das verdinglichende Verständnis der Normen in drei Thesen auf (Abschnitte IV.1–3): zur Objektivität der Normen selbst, zur Objektivität der Handlungen, die unter diese Normen fallen, und schließlich zur Objektivität des tugendhaften Charakters, der diesen Normen entspricht. Die ersten beiden dieser Objektivitätsthesen sind notwendiger Bestandteil grundsätzlich aller Zwei-Phasen-Modelle, die dritte ist ein Spezifikum der zweiphasigen Kooperation auf Grundlage von Tugendnormen. Bei Hegels Griechen gehören daher alle drei Thesen zusammen und formulieren so das Herzstück ihrer tugendhaften Kooperationsgemeinschaft der pólis. Mit diesen drei Thesen steht und fällt das griechische Zwei-Phasen-Modell. In den Teilen V und VI dieser Arbeit zeige ich schließlich mit Hegel, wie die drei Objektivitätsthesen von der sophistisch-sokratischen Kritik angegriffen und widerlegt werden. Als Resultat dieser Kritik ergibt sich ein neues, angemesseneres Verständnis praktischer Normen, nach dem jede Normanwendung zugleich auch eine Ausdeutung und Gestaltung der angewendeten Norm ist. Bemerkenswerterweise spart Hegel von seiner Kritik am ZweiPhasen-Modell der pólis die griechische Umsetzung der Gestaltungsphase weitgehend aus. Hegel hält die griechische Gestaltungsphase offenbar für vergleichsweise unproblematisch, da sie im Gegensatz zur Anwendungsphase nicht die irrigen Thesen von der Objektivität der Normen voraussetzt. Mehr noch: Hegels wohlwollende Beschreibung der griechischen Praktiken der gemeinsamen Normaushandlung, -gestaltung und -umgestaltung legt nahe, dass er in ihnen ein Vorbild für eine selbstbestimmte Sittlichkeit sieht. Zu diesen Praktiken und Methoden der Selbstgestaltung zählt Hegel beispielsweise die künstlerische Aufarbeitung sozialer Konflikte durch die Tragödien und den öffentlichen philosophischen Dialog, aber auch einfach die griechische »Heiterkeit«, das heißt das Selbstbewusstsein, mit dem die Griechen ihrer eigenen Bedingtheit und Abhängigkeit begegnen. 4 Hegel zufolge scheitert das soziale Experiment der pólis also nicht in jeder Hinsicht. In der griechischen Gestaltungsphase ist bereits der Keim für ein neues Verständnis von gemeinschaftlicher Selbst4
Vgl. ders., VPhRel.II S. 130 und VGPhil S. 177.
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IV · Normanwendung und Objektivität
bestimmung gelegt, das auch von den neuzeitlichen Autonomietheorien noch nicht völlig eingeholt wird. 5
IV.2 Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese In diesem Kapitel stelle ich drei Thesen zur Objektivität der Tugendnormen vor, oder kürzer: drei Objektivitätsthesen. Die Objektivitätsthesen bilden das Rückgrat der pólis-Gemeinschaft. Sie sind die Voraussetzung für die selbstbestimmte Kooperation der Griechen. Zugleich sind die Objektivitätsthesen der Ausdruck des Wertrealismus und eines verdinglichenden Normverständnisses der Griechen in der Anwendungsphase. Sie buchstabieren im Wesentlichen aus, wie sich die Griechen einen unabhängigen, objektiven Standard des gemeinsamen Handelns vorstellen. Gemäß den Objektivitätsthesen gelten die praktischen Normen in ihrer Anwendungsphase unverändert so, wie sie in der Phase der gemeinsamen, selbstbestimmten Aushandlung geschaffen wurden. Nach dieser Vorstellung kann der Handelnde diese Normen unmittelbar erkennen und umsetzen. Die Normen existieren in der Anwendungsphase gewissermaßen in der Welt. Hegel schreibt die Objektivitätsthesen nicht einem bestimmten griechischen Denker zu, vielmehr gehören sie seiner Ansicht nach zum »griechischen Geist«. Sie bilden also einen festen Bestandteil des griechischen Selbstverständnisses und Weltbildes. Dennoch sind sie als philosophische Überzeugung nicht an die antiken Griechen, ihre Lebensform in der pólis oder ihre spezifische Form der Kooperation gebunden. Sie sind also nicht bloß Thesen über die antiken griechischen Institutionen, sondern sie reichen über den historischen Kontext hinaus. Sehen wir von diesem Kontext und den griechischen Eigentümlichkeiten ab, mit denen die Objektivitätsthesen bei Hegel präsentiert werden, sind sie ein auf den ersten Blick plausibler Vorschlag, wie eine selbstbestimmte Kooperationsgemeinschaft auf der Grundlage zweiphasiger Normen aussehen könnte. Für die Untersuchung der Objektivitätsthesen im vorliegenden Kapitel habe ich deshalb einen hauptsächlich systematischen Zugang gewählt. Das
Vgl. zur modernen Formulierung des Problems einer selbstbestimmten Normgestaltung Menke (2010) und Khurana (2011).
5
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
heißt, ich stelle zuerst die drei Thesen in einer abstrakten, vom historischen Kontext losgelösten Form vor. Anschließend erläutere ich an einigen Beispielen aus Hegels Vorlesungen, wie er die Objektivitätsthesen in den konkreten Institutionen der griechischen Sittlichkeit verwirklicht sieht. Dieses Vorgehen unterscheidet sich methodisch von Hegels Präsentation der Problematik. Hegel hält sich in seinen Vorlesungen mit systematischen Diskussionen der Objektivität der Tugend in abstrakten Begrifflichkeiten zurück. Die entscheidenden Hinweise auf die Objektivitätsthesen und ihre systematische Bedeutung finden sich stattdessen verstreut zwischen einer Fülle von Bemerkungen, Exkursen und Anekdoten zur griechischen Politik, Kultur und Literatur, in denen Hegel vor allem demonstriert, wie sich die griechische Vorstellung von der Objektivität ihrer Tugendnormen in verschiedenen Lebensbereichen niederschlägt. Für Hegel ist dieses Vorgehen für seine Methode der historisch-immanenten Kritik wichtig, um nachzuweisen, dass er den antiken Griechen keine Überzeugungen dogmatisch unterstellt, sondern sie als Bedingungen ihres Denkens aus dem historisch überlieferten Material herausarbeitet (siehe hierzu Abschnitt I.2.1). Ich blende für die vorliegende Untersuchung jedoch die Frage aus, ob Hegels Zuschreibung der Objektivitätsthesen zu den historischen Griechen angemessen ist, und konzentriere mich um der Kürze und besseren Übersicht willen zuerst auf eine systematische Beschreibung der drei Thesen. Im Anschluss an diese systematische Diskussion jeder These gehe ich in einem Unterabschnitt darauf ein, wie Hegel die entsprechende These bei den antiken Griechen in ihren historischen Institutionen und Praktiken verwirklicht sieht. Diese Unterabschnitte dienen zum einen der exegetischen Absicherung meiner systematischen Hegel-Lesart. Zum anderen bereiten diese Unterabschnitte die historisch-immanente Kritik am »griechischen Geist« vor, welche nicht auf die Objektivitätsthesen als abstraktes System von Überzeugungen zielt, sondern auf dessen Verwirklichung in konkreten Praktiken und Institutionen (siehe die Darstellung der immanenten und historischen Kritik in Kapitel II.1). Die erste Objektivitätsthese bezieht sich auf die Objektivität der Tugendnormen selbst, die zweite These auf die Objektivität tugendhafter Handlungen und schließlich die dritte auf die Objektivität des tugendhaften Charakters. Die drei Objektivitätsthesen formulieren dabei keine drei separaten Überzeugungen, sondern entfalten schrittweise die Bedingungen des Zwei-Phasen-Modells beziehungs229 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
weise der Tugendkooperation als besondere Form des Zwei-PhasenModells. Die erste These beschreibt demnach, wie die Objektivität praktischer Normen überhaupt zu verstehen ist. Sie ist somit analytisch im Zwei-Phasen-Modell enthalten. Die zweite These artikuliert eine notwendige Bedingung für die Praxis wechselseitiger Korrektur im Zwei-Phasen-Modell. Die dritte These schließlich folgt aus der Anwendung der beiden ersten, allgemeineren Thesen auf die Besonderheit der Tugend, dass Tugendnormen sich nie nur auf isolierte, konkrete Handlungen beziehen, sondern stets eine holistische Bewertung des Charakters des Handelnden mit einschließen.
IV.2.1 Erste These: Objektivität der Normen Die erste Objektivitätsthese besagt, dass Tugendnormen »objektiv« in dem Sinne stabiler, gemeinschaftlicher Referenzobjekte seien. Objektive Normen gelten nicht einfach nur subjektiv oder privat, so dass sie nur von je einzelnen Subjekten eingesehen werden. Vielmehr können mehrere Subjekte unter denselben objektiven Normen stehen und gleichermaßen auf sie zugreifen. Die Normen gehören somit der Gemeinschaft und sind öffentlich. Ein Mitglied dieser Gemeinschaft kann sich auf die Normen in einer Weise beziehen, die auch für die anderen Mitglieder verständlich ist. Die Bezeichnung »objektiv« deutet darauf hin, dass die Normen als etwas Gegenständliches, Festes betrachtet werden, das von verschiedenen Subjekten auf die gleiche Weise erkannt werden kann. Zur Objektivität der Normen gehört auch, dass Aussagen über diese Normen von kompetenten Mitgliedern der Gemeinschaft wechselseitig anerkannt und kontrolliert werden können. Dies bedeutet, dass Aussagen wie »Die Handlung x gehört sich nicht« oder »Es ist richtig, in dieser Situation die Handlung y auszuführen« einen Anspruch auf Wahrheit erheben, der von anderen Personen überprüft und angefochten werden kann. Gemäß der ersten Objektivitätsthese sind Urteile über Normen »objektive« Urteile im Gegensatz zu bloß subjektiven Geschmacksurteilen. Die erste Objektivitätsthese betrachtet in dieser Hinsicht die objektiven Normen analog zu Gegenständen in der Welt: Die Aussage »Dort steht ein Baum« unterscheidet sich von einem bloßen Geschmacksurteil (»Ich mag keine Muskatnuss«), indem sie einen Wahrheitsanspruch erhebt, der zumindest der Möglichkeit nach die Zustimmung oder Ablehnung anderer Personen erhalten kann. Diejenige Person, die 230 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
diese Aussage äußert, legt sich auf den Wahrheitsanspruch dieser Aussage fest und muss akzeptieren, gegebenenfalls durch andere Personen korrigiert zu werden. Für Hegels Griechen heißt dies, wie ich im nächsten Unterabschnitt zeigen werde, dass alle hinreichend kompetenten Bürger einer pólis-Gemeinschaft – also alle tugendhaften Bürger – in der Lage sind, dieselben Normen einzusehen, ihren Inhalt mehr oder weniger ausdrücklich zu artikulieren und auch die Anerkennung ihrer Aussagen über die Normen von anderen tugendhaften Mitgliedern ihrer Gemeinschaft einzufordern. Ihre Tugend betrachten die Griechen als Fähigkeit, diese objektiven Normen wahrzunehmen, so wie der Sehsinn die Fähigkeit ist, sichtbare Gegenstände in der Welt wahrzunehmen. Trotz dieser Analogie zwischen objektiven Normen und materiellen Gegenständen in der Welt (beziehungsweise zwischen Urteilen über Normen und über Gegenstände) behauptet die erste Objektivitätsthese selbstverständlich nicht, dass die objektiven Normen in irgendeiner Weise dinglich existierten. Wir stoßen in der Welt nicht auf objektive Normen, wie wir Bäumen oder Steinen begegnen. Die Analogie zwischen materiellen Gegenständen und praktischen Normen, die von der ersten Objektivitätsthese postuliert wird, besagt lediglich, dass praktische Normen stabile und selbstständige Referenzobjekte darstellen, auf die sich alle hinreichend kompetenten Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft beziehen können und die als Grundlage für wahrheitsfähige Urteile dienen. Die erste Objektivitätsthese ist notwendiger Bestandteil aller Zwei-Phasen-Modelle und ist somit weder an Hegels Griechen im Besonderen noch überhaupt an Formen der tugendbasierten Kooperation im Allgemeinen gebunden. Vielmehr ist die erste Objektivitätsthese analytisch in der Vorstellung zweiphasiger Normen enthalten. Sie gewährleistet, dass grundsätzlich die Unterscheidung der beiden Phasen sinnvoll formuliert werden kann. Dies lässt sich folgendermaßen erläutern: Zwei-Phasen-Modelle sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Tätigkeit der freien Normgestaltung von der Normanwendung unterscheiden und zeitlich trennen. In der Anwendungsphase werden die Normen umgesetzt, auf die sich die Mitglieder der entsprechenden Gemeinschaft in der Gestaltungsphase gegenseitig verpflichtet haben (siehe Kapitel III.2). Diese Art der Phasenunterscheidung setzt jedoch voraus, dass die Normen, die in der Anwendungsphase zum Tragen kommen, dieselben Normen sind, die in der Gestaltungsphase geschaffen wurden. Nur unter dieser Be231 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
dingung können die Zwei-Phasen-Modelle ihren Anspruch behaupten, eine gehaltvolle Theorie der Selbstverpflichtung zu liefern. Wären die Normen der Anwendungsphase auf irgendeine Weise verschieden von den Normen, die in der Gestaltungsphase geschaffen werden, ginge gerade der Witz des Zwei-Phasen-Modells verloren. Die korrekte Anwendung von Normen im Zwei-Phasen-Modell bedeutet, genau das zu tun, worauf sich in der Gestaltungsphase verpflichtet wurde. Die Grundidee eines Zwei-Phasen-Modells verlangt also erstens, dass die Normen diachron identifizierbar sind, und zweitens, dass sie sich nicht durch die Anwendung verändern. Drittens ist für eine selbstbestimmte Kooperation auf der Grundlage zweiphasiger Normen erforderlich, dass es sich bei diesen Normen um gemeinschaftliche Normen handelt. Dies heißt, dass die Normen in der Anwendungsphase nicht nur für den Einzelnen stabil und wiedererkennbar sein müssen, sondern insgesamt für die Mitglieder der Gemeinschaft. Diese drei Anforderungen, die die Bedingung für ein Verständnis von zwei getrennten Phasen der Normgestaltung und -anwendung sind, werden von der ersten Objektivitätsthese in der Behauptung zusammengefasst, dass die fraglichen Normen »objektiv« seien, also stabile, gemeinschaftliche Referenzobjekte. Alle Zwei-Phasen-Modelle teilen daher die Vorstellung, dass die Normen, die in der Gestaltungsphase noch frei formbar waren, sich in der Anwendungsphase auf irgendeine Weise verfestigt haben und somit vergegenständlicht wurden. Diese behauptete Objektivität von Normen stellt zugleich ein Zwei-Phasen-Modell vor schwerwiegende ontologische und epistemologische Herausforderungen. Jede Variante eines Zwei-Phasen-Modells muss irgendeine Erklärung bereithalten, auf welche Weise die objektiven Normen existieren und wie sie von den Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft erkannt werden können. Zunächst sind die Beschreibungen wie »Festigkeit«, »Stabilität«, »Selbstständigkeit« oder »Vergegenständlichung« nur Metaphern, welche die vermeintlich objektiven Normen mit sinnlich wahrnehmbaren, materiellen Gegenständen in der Welt vergleichen. Da die Existenz und somit auch die Objektivität der Normen aber offensichtlich eine andere ist als die von materiellen Gegenständen, muss ein gehaltvolles Zwei-Phasen-Modell erläutern können, wie diese Eigenschaften der Objektivität erfüllt werden, ohne in einen vulgären Platonismus zu verfallen, der die Normen als Quasi-Gegenstände in einem mystischen Zwischenreich verortet und weder angemessene Auskünfte zur Daseinsweise dieser Quasi-Gegenstände, noch zu 232 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
ihrer Verbindlichkeit und Erkennbarkeit für uns zu geben vermag. 6 Im folgenden Unterabschnitt werde ich in groben Zügen skizzieren, in welcher konkreten Gestalt die erste Objektivitätsthese bei Hegels Vorlesungen zu den Griechen auftritt und wie dort die genannten Fragen nach der Existenzweise und Erkennbarkeit der objektiven Normen beantwortet werden. Die Umsetzung der ersten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen Hegel selbst verwendet zwar den Ausdruck »Objektivitätsthese« nicht. Er gibt uns allerdings in zahlreichen Bemerkungen seiner Vorlesungen Hinweise, dass die antiken Griechen ihren sittlichen Normen genau diese Art von Objektivität zuschreiben, wie sie von der ersten Objektivitätsthese behauptet wird. So beschreibt Hegel, dass die Griechen ihre Sittlichkeit als »reale Sittlichkeit« 7, »substantielle Sittlichkeit« 8 und »substantielles Sein« 9 wahrnehmen und deren Normen als etwas »Vorhandenes« 10 und »Festes, Bestehendes« 11 auffassen. Diese Formulierungen besagen nicht etwa, dass Hegels Griechen ihre sittlichen Normen grundsätzlich als vorgefunden oder unveränderlich verstehen. Vielmehr sind sie sich stets bewusst, dass sie ihre Normen selbstbestimmt geschaffen haben. In der Anwendung jedoch, als Quelle der Verpflichtung, behandeln die Griechen diese Normen wie ein vorgefundenes, festes und »substantielles Sein«. Dieses Verhältnis zu den selbstgeschaffenen Normen reflektieren Hegels Griechen beispielsweise in der mythologisierten Sprache ihrer Religion: In Zeus, Hera, Apoll und den anderen Gestalten des Pantheons treten den Griechen ihre sittliche Normen in personifizierter Gestalt gegenüber. In der religiösen Sprache stehen die Götter für die sittlichen Normen der Griechen. Hegel zufolge ist den Griechen bewusst, dass ihre Götter der menschlichen Phantasie entspringen (siehe Abschnitt III.2.2), genauso wie sie ihre Normen als selbstbestimmte Schöpfung erkennen:
Vgl. zu den ontologischen und epistemologischen Problemen einer Theorie objektiver Normativität auch Mackie (1977), insbesondere S. 36–42. 7 Hegel, VPhRel.II S. 98. 8 Ders., VPhGes S. 326. 9 Ders., VPhRel.II S. 99. 10 Vgl. ders., VPhGes S. 327. 11 Ders., VGPhil.I S. 497. 6
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IV · Normanwendung und Objektivität
So sind die Götter von menschlicher Phantasie gemacht, und sie entstehen auf endliche Weise, vom Dichter, von der Muse produziert. […] Erfunden sind sie vom menschlichen Geiste nicht ihrem an und für sich vernünftigen Inhalte nach, aber so, wie sie Götter sind. Sie sind gemacht, gedichtet, aber nicht erdichtet. Sie gehen zwar im Gegensatze gegen das Vorhandene aus der menschlichen Phantasie hervor, aber als wesentliche Gestalten, und das Produkt ist zugleich als das Wesentliche gewußt. 12
Trotz dieser Einsicht in den Ursprung ihrer Götter in der Dichtung reden die Griechen von ihnen, als ob es sich um selbstständige Wesenheiten handle, die ein Eigenleben führen, und nicht etwa um bloße Metaphern, Abstraktionen oder literarische Figuren. 13 In ihren kultischen Handlungen verhalten sich die Griechen so, als seien ihre Götter nicht nur unabhängig vom unmittelbaren menschlichen Wollen und Handeln, sondern behandeln sie sogar als Autoritäten, die Macht über Menschen besitzen: Das Weitere ist, daß die Götter als Individualitäten, nicht als Abstraktionen zu fassen sind, wie z. B. das Wissen, der Eine, die Zeit, der Himmel, die Notwendigkeit. Solche Abstraktionen sind nicht der Inhalt dieser Götter; sie sind keine Allegorien, keine abstrakten, mit vielfachen Attributen behängten Wesen wie die Horazische necessitas clavis trabalibus. Ebensowenig sind die Götter Symbole, denn das Symbol ist nur ein Zeichen, eine Bedeutung von etwas anderem. Die griechischen Götter drücken an ihnen selbst aus, was sie sind. […] Die Götter sind Subjekte, konkrete Individualitäten; ein allegorisches Wesen hat keine Eigenschaften, sondern ist selbst nur eine Eigenschaft.
Die Griechen sprechen ihren Göttern also genau diesen Doppelcharakter zu, den sie auch in ihren zweiphasigen Normen sehen. Die Vorstellung der Götter als eigenständige Persönlichkeiten ist somit ein Sinnbild für die Objektivität der sittlichen Normen. Die Eigenschaften, die die Griechen ihren Göttern durch die Personifizierung zuschreiben – sie seien selbstständige, klar individuierbare und stabile Ebd. S. 119. Die Eigenständigkeit der Götter führt sogar soweit, dass sie sich widerspenstig zeigen und sich ihren Schöpfern, den Menschen, verweigern: »Die allgemeinen Mächte treten dann aber auch freilich weiter zurück in die Ferne gegen das Individuum. Die Quelle läßt sich ungehindert schöpfen, das Meer sich befahren, aber es erbraust auch zum Sturme, und es und die Gestirne sind dem Menschen nicht nur nicht willfährig, sondern furchtbar und Untergang bringend. Die Muse ist auch dem Dichter nicht immer günstig, tritt zurück und bedient ihn schlecht […].« (Hegel, VGPhil.II S. 137).
12 13
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
Redegegenstände, die gewissermaßen ein Eigenleben führen –, entsprechen den Eigenschaften, die die Griechen gemäß der ersten Objektivitätsthese ihren sittlichen Normen zuschreiben. Die religiöse Redeweise der Griechen als metaphorische Reflexionsform über ihre sittlichen Normen darf allerdings nicht derartig missverstanden werden, als dächten die Griechen, ihre Normen existierten wie materielle Gegenstände in der Welt oder wie die Götter auf dem Olymp, etwa in einer imaginierten Zwischenwelt der Ideen. Gegen den Verdacht eines solchen primitiven Platonismus verteidigt Hegel die Griechen. 14 Stattdessen beruht ihr Glaube an die Objektivität ihrer sittlichen Normen auf ihrem Konzept der Tugend. Die Griechen halten ihre sittlichen Normen für objektiv, also für zeitlich stabil, klar identifizierbar und öffentlich einsehbar, weil sie als »Sitte und Gewohnheit« existieren. 15 In der pólis-Gemeinschaft (als »Sitte«) sind die Normen in der Gestalt von sozialen Rollen, geteilten Praktiken und Institutionen verwirklicht. In den verschiedenen Einrichtungen der pólis, etwa dem Gerichtswesen, sind die Tugendnormen zum gegenständlichen »Festen« und »substantielle[n] Sein« geronnen, so die griechische Auffassung: Die Institutionen sind zwar menschlich geschaffen, aber ihre Existenz übersteigt den Einzelnen und ist daher auch zumindest bis zu einem gewissen Grade unabhängig vom Willen des Einzelnen. In ihrer institutionellen Verwirklichung scheint die öffentliche Zugänglichkeit und Existenz als gemeinsames Referenzobjekt der Normen gesichert. Hegel zufolge ist diese institutionelle Manifestierung charakteristisch für die griechische Tugend und sorgt dafür, dass ihre Normen eine »bestimmte sichere Bedeutung« besitzen, also als stabile Referenzobjekte fungieren: Die antike Tugend hatte ihre bestimmte sichere Bedeutung, denn sie hatte an der Substanz des Volks ihre inhaltsvolle Grundlage und ein wirkliches, schon existierendes Gutes zu ihrem Zwecke; sie war daher auch nicht gegen die Wirklichkeit als eine allgemeine Verkehrtkeit und gegen einen Weltlauf gerichtet. 16
Zugleich gewinnen die Tugendnormen nach griechischer Auffassung ihre Beständigkeit und Stabilität durch die Habitualisierung im Indi-
14 15 16
Vgl. Hegel, VGPhil.II S. 31. Ders., VPhGes S. 308. Ders., PhdG S. 290.
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IV · Normanwendung und Objektivität
viduum (als »Gewohnheit«): Sie haben sich durch Unterricht, Erziehung und Gewöhnung tief in die Affektstruktur der Bürger eingegraben. Auch die Habitualisierung trägt, so scheint es, zu Objektivität der Tugenden bei: Eine Norm, die zum Habitus geronnen ist, wirkt unabhängig von augenblickshaften, willkürlichen Willensregungen. Eine habitualisierte Norm scheint das Verhalten eines Subjekts im höheren Maße und langfristiger zu beeinflussen als Normen, die durch äußere Anreize, Zwang oder gute Vorsätze motiviert werden – Gewohnheiten lassen sich eben nicht leicht ändern. Weil die antiken Griechen die Erziehung zur Tugend nicht für eine Privatangelegenheit, sondern für eine Gemeinschaftsaufgabe halten, sind die habitualisierten Normen auch scheinbar öffentlich: Alle pólis-Bürger erhalten die gleiche Erziehung und verinnerlichen so die gleichen Normen, auf die sie sich dann auch scheinbar in gleicher Weise beziehen können. Durch die doppelte Verwirklichung der Tugendnormen in der Struktur der Gemeinschaft und im Einzelnen sind sie mit der Persönlichkeit der Bürger verschmolzen. Sie prägen ihre Selbstwahrnehmung und den Umgang miteinander. Sie sind den Griechen in »Blut und Leben übergegangen« und bilden »die Gewohnheit der sittlichen und bürgerlichen Existenz«. 17 Die Fragen nach der objektiven Existenzweise, Erkennbarkeit und Wirksamkeit der Normen beantwortet die Tugendethik daher folgendermaßen: Die Tugendnormen sind genau in der Weise gegenwärtig und erkennbar, wie verinnerlichte soziale Rollen und Institutionen gegenwärtig und erkennbar sind. Die eigenen Gewohnheiten und Gebräuche sind den Griechen natürlich aufs Innigste vertraut, sie sind in ihrem Handeln wirksam und in der institutionellen Struktur ihrer Gemeinschaft existent. Die Stabilität der objektiven Normen ruht für Hegels Griechen somit auf zwei Säulen: der Stabilität institutionellen Handelns und der Beharrlichkeit charakterlicher Gewohnheiten. Die Objektivität der Normen, die die erste Objektivitätsthese behauptet, ist in der griechischen Tugendethik laut Hegel sowohl in der Psyche der Handelnden als auch in der Tiefenstruktur der Gemeinschaft verankert.
17
Ders., VPhGes S. 316.
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
IV.2.2 Zweite These: Objektivität der Handlung Die zweite Objektivitätsthese besagt, dass die Güte von Handlungen »objektiv« sei. Damit ist gemeint, dass die kompetenten Mitglieder einer Gemeinschaft zumindest der Möglichkeit nach erkennen können, ob eine konkrete Handlung ihren jeweiligen praktischen Normen entspricht oder nicht. Gemäß der zweiten These können also die Handlungen einer Person durch die übrigen Mitglieder der Gemeinschaft zutreffend beurteilt und bewertet werden. Während sich die erste Objektivitätsthese auf die praktischen Normen selbst bezieht, indem sie diese als stabile, gemeinschaftlich geteilte Redegegenstände bezeichnet, sagt die zweite Objektivitätsthese etwas über die Verwirklichung dieser Normen in konkreten Handlungen aus: Sie fordert, dass die Normentsprechung einer Handlung auch von außen aus der Beobachterperspektive beurteilt werden kann. Die Normentsprechung oder -abweichung einer Handlung ist nach der zweiten These eine sichtbare Eigenschaft, die auf irgendeine noch näher zu erläuternde Weise wahrgenommen oder festgestellt werden kann. Der Grund für die zweite These liegt in der Tatsache, dass das Zwei-Phasen-Modell praktischer Normen als ein Modell der Selbstbestimmung entworfen wurde. In Kapitel III.1 habe ich mit Hilfe von Brandoms hegelianisch-pragmatistischer Untersuchung des »Paradoxes der Autonomie« festgestellt, dass ein inhaltlich gehaltvoller Begriff von Selbstverpflichtung nur möglich ist, wenn eine Praxis der gegenseitigen Korrektur existiert. Der Begriff der Selbstverpflichtung verlangt, dass ein Subjekt sich auf einen Maßstab festlegt, dessen Verwirklichung unabhängig von seinem jeweils augenblickshaften Gutdünken ist. Nur wenn es einen solchen unabhängigen Maßstab gibt, kann zwischen tatsächlicher Normerfüllung und einem Verhalten unterschieden werden, welches fälschlicherweise dem handelnden Subjekt als Normerfüllung erscheint. Ein derartiger Maßstab, der vom jeweiligen Erwägen eines Subjekts unabhängig ist, kann ihm jedoch nur in der Gestalt anderer Subjekte begegnen, die das handelnde Subjekt als Autorität anerkennt und die den Maßstab auf es anwenden (siehe hierzu die ausführliche Diskussion in Abschnitt III.1.2). In die Kategorien des Zwei-Phasen-Modells übertragen, bedeutet diese Anforderung: In der Anwendungsphase tritt die Gemeinschaft als Richter über den Einzelnen auf und misst sein Handeln an den Normen, die in der Gestaltungsphase gemeinsam ausgehandelt wurden. Falls der Handelnde seine selbstgesetzte Norm 237 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
irrtümlich verfehlt, können ihn die anderen Subjekte darauf aufmerksam machen und die Verbindlichkeit seiner Selbstverpflichtung durchsetzen. Auf diese Weise verwirklicht die Praxis der gegenseitigen Korrektur den Unterschied zwischen tatsächlicher Normentsprechung und einer bloß scheinbaren Normentsprechung, der überhaupt notwendig ist, um gehaltvoll sagen zu können, ein Subjekt handle nach dem gleichen Standard, auf den es sich ursprünglich verpflichtet habe. Damit eine derartige Korrekturpraxis nach der Auffassung des Zwei-Phasen-Modells möglich ist, müssen anscheinend zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens müssen die Teilnehmer der Korrekturpraxis die Normen kennen, die in dieser Korrekturpraxis angewendet werden. Ein Schiedsrichter kann nur derjenige sein, der mit den Regeln vertraut ist, und so scheint es sich auch in diesem Fall zu verhalten. Diese erste Voraussetzung ist nichts anderes als die Forderung der ersten Objektivitätsthese, dass die Normen in der Anwendungsphase gemeinschaftlich bekannt seien. Zweitens müssen die Teilnehmer an einer Korrekturpraxis erkennen können, ob eine konkrete Handlung den fraglichen Normen entspricht oder ob sie korrekturbedürftig ist. Wäre die Normentsprechung nicht ersichtlich, würden die übrigen Mitglieder bei der Beurteilung einer konkreten Handlung im Trüben fischen. Ihre Maßregelungen wären keine der Handlung angemessene Korrektur, sondern nur blinde Sanktionen. Diese zweite Voraussetzung einer Korrekturpraxis wird von der zweiten Objektivitätsthese formuliert. Die erste und die zweite Objektivitätsthese beschreiben daher notwendige Bedingungen einer gemeinschaftlichen Korrekturpraxis, die sich an vorgegebenen Normen orientiert und so einen objektiven Standard des Handelns einrichten will. An dieser Stelle ist ein kurzer Vorgriff auf Hegels Kritik an den Objektivitätsthesen angebracht: Hegel behält die griechische Einsicht bei, dass die Selbstbestimmung des Individuums nur innerhalb einer gemeinschaftlichen Korrekturpraxis möglich ist. Für Hegel stellt dies eine der wichtigsten und folgenreichsten ethisch-politischen Einsichten der Griechen dar. Allerdings wendet sich Hegel gegen die Art und Weise, wie seiner Ansicht nach die Griechen diese Korrekturpraxis verstehen. Der Irrtum der antiken Griechen – und mit ihnen aller Vertreter eines Zwei-Phasen-Modells sittlicher Normen – besteht laut Hegel darin, dass sie die Korrektur als eine unmittelbare Anwendung von Normen betrachten. Die gegenseitige Korrektur wird hierbei als eine Tätigkeit aufgefasst, die selbst vollständig durch vorgängige Normen angeleitet und bestimmt wird. Die Gemeinschaft tritt in 238 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
diesem Bild als Bewahrer der gegenständlich gedachten Normen auf, welche zu einem früheren Zeitpunkt geschaffen wurden und nun durch Habitualisierung und Institutionalisierung konserviert werden. Dieses Bild ist allerdings nicht haltbar, wie die spätere sophistisch-sokratische Kritik zeigt (siehe Teile V und VI). Nicht nur das Handeln eines bestimmten Subjekts muss als eine schöpferische Tätigkeit verstanden werden, in dessen Verlauf eine Handlungsnorm ausgedeutet, spezifiziert und angepasst wird, sondern auch die Beurteilung und Korrektur dieser Handlung ist selbst gestalterisch. Zur Korrektur gehört eine ebenso anspruchsvolle Ausdeutung von Handlungsnormen wie zur beurteilten Handlung selbst. Ein Richter wendet nicht etwa schematisch Regeln an, welche einen Fall vollkommen definieren, sondern die Subsumtion eines konkreten Falls unter eine allgemeine Norm ist ein komplexer, schöpferischer Akt. Aus dieser kritischen Erkenntnis ergeben sich insbesondere zwei Konsequenzen für Zwei-Phasen-Modelle und die griechische Auffassung von Kooperation: Erstens wird so deutlich, dass sich die Tätigkeiten der Normanwendung und Normgestaltung nicht streng voneinander trennen lassen. Die Phasenunterscheidung, die von derartigen Modellen vorgenommen wird, entpuppt sich also als ein Mythos. Zweitens zeigt sich, dass eine funktionierende Praxis der gegenseitigen Korrektur von einer anderen Form der Anerkennung ausgehen muss, als dies bei Hegels Griechen der Fall ist. Hegels Griechen knüpfen die wechselseitige Anerkennung an die Normkompetenz des Gegenübers. Es scheint in ihren Augen nur dann gerechtfertigt, ein anderes Subjekt als Richter über das eigene Verhalten einzusetzen, wenn der Andere die selbstbestimmten Normen beherrscht. Folglich richtet sich die Anerkennung der Griechen genaugenommen nicht auf die Person des Anderen, sondern auf die Normen, die sich im Verhalten des Anderen zeigen: Wenn der Andere die Normen kompetent anwendet – also wenn er tugendhaft ist –, verdient er die Anerkennung. Diese bedingte Anerkennung des Anderen scheint zunächst sinnvoll und naheliegend, denn schließlich geht es um die Selbstbestimmung des handelnden Subjekts. Diese Selbstbestimmung scheint nur dann durch die Anerkennung eines anderen Subjekts als Autorität nicht gefährdet, wenn das andere Subjekt genau die Normen anwendet, die das handelnde Subjekt sich selbst gegeben hat. Jedes eigenmächtige Abweichen von diesen Normen stellt scheinbar einen Eingriff in die Autonomie des Korrigierten dar. Hegels Kritik an den Objektivitätsthesen zeigt allerdings, dass dieser Auffassung ein zu schlichtes 239 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
IV · Normanwendung und Objektivität
Verständnis der Normanwendung zugrunde liegt. Da in der gegenseitigen Korrektur die Normen niemals einfach nur unmittelbar angewendet, sondern schöpferisch interpretiert werden, ist es eigentlich notwendig, dass der Träger der Anerkennung nicht die Normen sind, sondern die Person des Gegenübers. Dieser Übergang von einer Anerkennung vergegenständlichter Normen zu einer Anerkennung der Person bedeutet für Hegel einen Paradigmenwechsel, der die Zeitenwende von der Antike zur Moderne ausmacht. 18 Die Umsetzung der zweiten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen Hegel schildert in seinen Vorlesungen, wie die Verwirklichung der zweiten Objektivitätsthese die Griechen vor eine beachtliche institutionelle Herausforderung stellt, an der sie sich geraume Zeit abarbeiteten. Von der Archaik bis zur Epoche der klassischen pólis durchlaufe die These eine Wandlung, bis sie schließlich von den Griechen als eine These über die Begründbarkeit der tugendhaften Handlung gedeutet werde. In diesem Unterabschnitt skizziere ich kurz, wie Hegel sich diesen Wandel vorstellt und welche Folgen dies für die Tugendkooperation der Griechen hat. Die Anforderung der zweiten These, dass alle hinreichend kompetenten Mitglieder einer Gemeinschaft zumindest der Möglichkeit nach die Normentsprechung einer konkreten Handlung erkennen können, ist offenkundig nicht trivial. Die Güte einer Handlung lässt sich in der Regel nicht auf ein äußeres, beobachtbares Geschehen reduzieren. Stattdessen bilden für die Bewertung einer Handlung Ziele und Absichten des Handelnden meist einen ausschlaggebenden Faktor. Ob ich beispielsweise einen misslungenen Pfannkuchen backe oder einen gelungenen Kaiserschmarrn, hängt allein davon ab, ob ich das Zerfallen des Teigs in der Pfanne beabsichtigt habe. Das äußere Geschehen für sich allein betrachtet kann mehrdeutig sein, so dass die Binnenperspektive des Handelnden hinzugezogen werden muss, Siehe hierzu Hegels Beschreibung der neuen Stellung des Individuums in der Moderne (VPhGes S. 404): »Hieraus folgt, daß, was wir früher bei den Griechen als Form der Sittlichkeit betrachteten, nicht mehr in derselben Bestimmung in der christlichen Welt seinen Standpunkt hat, denn jene Sittlichkeit ist die unreflektierte Gewohnheit; das christliche Prinzip ist aber die für sich stehende Innerlichkeit, der Boden, auf dem das Wahrhafte aufwächst. Eine unreflektierte Sittlichkeit kann nunmehr gegen das Prinzip der subjektiven Freiheit nicht stattfinden. […] In Ansehung der partikulären Zwecke bestimmt jetzt der Mensch sich selber und weiß sich als allgemeine Macht alles Endlichen.«
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
um den Handlungstyp und die einschlägigen Normen zu bestimmen, unter welche die Handlung fällt. Gerade diese Relevanz der Binnenperspektive für die Handlungsbewertung stellt allerdings ein Hindernis für die Umsetzung der zweiten Objektivitätsthese in einer gemeinsamen Korrekturpraxis dar. Eine derartige Privilegierung der Binnenperspektive gegenüber den äußeren Betrachterperspektiven bedeutet, dass die Gemeinschaft den Einzelnen nicht ohne Weiteres korrigieren kann, weil die Binnenperspektive ausschlaggebend für die Normentsprechung sein kann. Besäße allerdings das handelnde Subjekt die letzte Autorität für die Handlungsbewertung, wäre die Normentsprechung einer Handlung lediglich subjektiv und nicht objektiv einsehbar. Nach Auffassung des Zwei-Phasen-Modells wäre dann eine gemeinsame Korrekturpraxis unmöglich, mit den im obigen Abschnitt erläuterten fatalen Folgen für den Begriff der Selbstbestimmung. Ein Vertreter des Zwei-Phasen-Modells muss daher eine Möglichkeit finden, die Normentsprechung von Handlungen als objektiv darzustellen. Hegel zufolge besteht der Lösungsansatz für diese Herausforderung bei den Griechen in der archaischen, vorklassischen Zeit darin, der Binnenperspektive die Bedeutung für die Handlungsbewertung vollständig abzusprechen. In seiner Diskussion des Dramas König Ödipus von Sophokles stellt Hegel diesen Lösungsansatz des archaischen, sogenannten »heroischen Bewußtseins« vor: [Der heutige Mensch] rechnet sich nur das zu, was er gewußt und in Beziehung auf dieses Wissen mit Vorsatz und Absicht vollbracht hat. Der heroische Charakter aber macht diese Unterscheidung nicht, sondern steht für das Ganze seiner Tat mit seiner ganzen Individualität ein. Ödipus z. B. begegnet auf der Wanderung zum Orakel einem Manne und erschlägt ihn im Zwist. In den Tagen dieses Streites wäre die Tat kein Verbrechen gewesen; der Mann hat sich gewalttätig gegen ihn bezeigt. Aber derselbe Mann war sein Vater, Ödipus heiratet eine Königin; die Gattin ist seine Mutter; wissenlos ist er in eine blutschänderische Ehe getreten. Dennoch erkennt er sich die Gesamtheit dieser Frevel zu und straft sich als Vatermörder und Blutschänder, obschon den Vater zu erschlagen und das Ehebett der Mutter zu besteigen weder in seinem Wissen noch in seinem Wollen gelegen hat. Die selbständige Gediegenheit und Totalität des heroischen Charakters will die Schuld nicht teilen und weiß von diesem Gegensatze der subjektiven Absichten und der objektiven Tat und ihrer Folgen nichts, während bei der Verwicklung und Verzweigung des heutigen Handelns jeder auf alle anderen rekurriert und die Schuld soweit als möglich von sich zurückschiebt. […] In der Heroenzeit aber, in welcher das Individuum wesentlich Eines und das Objektive als von ihm ausgehend das Seinige ist und bleibt, will
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IV · Normanwendung und Objektivität
das Subjekt nun auch, was es getan hat, ganz und allein getan haben und das Geschehene vollständig in sich hineinverlegen. 19
Die archaische Reduktion der Handlungsbewertung auf die Betrachterperspektive erfüllt die Anforderung der zweiten Objektivitätsthese: Jeder äußere Beobachter, der das Tatgeschehen miterlebt und hinreichend kompetent ist, kann Ödipus für den Vatermord und Inzest verurteilen. Auf uns wirkt dieses Urteil freilich grausam und unbefriedigend. Ödipus’ Handlungen werden zwar zutreffend als schlecht bewertet, aber es erscheint falsch, diese Schlechtigkeit Ödipus anzukreiden. Aus seiner Perspektive war seine Tat »kein Verbrechen« gewesen. Mit dem Wissen, über das er zum Tatzeitpunkt verfügt, hätte er die Schlechtigkeit seiner Handlungen nicht erkennen und daher auch nicht vermeiden können. Die Schuld für das schlechte Handeln müsste also den unglücklichen Umständen und nicht Ödipus angelastet werden. Die archaische Form der Handlungsbewertung lässt diese Differenzierung allerdings nicht zu und wirkt deshalb auf uns primitiv. Der Fehler im »heroischen Bewußtsein« liegt jedoch nicht darin, die Bedeutung der Binnenperspektive zu unterschätzen. Hegel denkt nicht, dass den archaischen Griechen der Unterschied zwischen »objektiver Tat« und »subjektiver Absicht« sowie innerer und äußerer Perspektive undurchsichtig gewesen wäre. Auch der archaische Mensch weiß, was es bedeutet, eine Absicht zu haben, und wie unglückliche Umstände zu Folgen führen, die nicht in der Hand des Handelnden lagen. Es wäre Ödipus und seinen Zeitgenossen durchaus möglich gewesen, rein sprachlich die Unterscheidung zwischen Tatfolgen und zu verantwortenden Handlungsfolgen zu treffen. Hegel weist uns aber darauf hin, dass den archaischen Griechen die begrifflichen und institutionellen Mittel fehlten, um die Bedeutung dieses Unterschieds mit der Tatsache zu vereinen, dass Handlungsbewertungen nur in einer gemeinsamen Praxis der gegenseitigen Beurteilung möglich sind. Die archaischen Griechen sehen sich offenbar in dem Dilemma, entweder eine angemessene Handlungsbeurteilung zuzulassen oder eine gemeinsame Korrekturpraxis Hegel, VÄsth.I S. 246, vgl. auch den Zusatz zu § 118 in GPhR, S. 219: »Das heroische Selbstbewußtsein (wie in den Tragödien der Alten, Ödipus usf.) ist aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen, sondern übernimmt die Schuld im ganzen Umfange der Tat.«
19
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
zu schaffen, die Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln ist. Mit ihrer Reduktion der Handlungsbeurteilung auf die Betrachterperspektive entscheiden sie sich für den zweiten Ausweg aus dem Dilemma und zahlen dafür den Preis, dass sie Fälle wie denjenigen des Ödipus nur mit unangemessener Härte beurteilen können. Der »heroische Charakter« des Ödipus besteht in der Tatsache, dass er die Unangemessenheit seiner Verurteilung erkennt und sie dennoch für sich akzeptiert. Ödipus entscheidet sich bewusst dafür, seine subjektive Perspektive auszublenden: »Dennoch erkennt er sich die Gesamtheit dieser Frevel zu und straft sich als Vatermörder und Blutschänder, obschon den Vater zu erschlagen und das Ehebett der Mutter zu besteigen weder in seinem Wissen noch in seinem Wollen gelegen hat.« Er »will die Schuld nicht teilen« und verlegt »das Geschehene vollständig in sich«. Ödipus macht sich die Betrachterperspektive zu eigen und ordnet heldenhaft sein persönliches Schicksal dem Aufrechterhalten der Korrekturpraxis unter. Ödipus weiß, dass mehr als sein Leben auf dem Spiel steht, nämlich die gemeinsame Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft. Hegels Griechen bleiben jedoch nicht bei dieser »heroischen« Lösung der archaischen Zeit für die Verwirklichung der zweiten Objektivitätsthese stehen. Sophokles’ Drama artikuliert nicht nur das griechische Unbehagen mit der archaischen Reduktion der Perspektiven, sondern verweist bereits auf einen Wandel im Verständnis der Objektivitätsthese, indem Ödipus ein neues, rationales und regelorientiertes Verfahren der Handlungsbewertung vorschlägt. 20 Mit der klassischen Blütezeit der pólis ist dieser Wandel zu einem neuen Verständnis vollzogen, so Hegels Darstellung: Statt wie in der Archaik eine unmittelbare Sichtbarkeit der Güte von Handlungen zu fordern, gehen die klassischen Griechen nun von einer mittelbaren Erkennbarkeit aus. Das vermittelnde Element für die angemessene Beurteilung einer Handlung wird die Begründung einer Handlung. Die Privatheit und Subjektivität der Binnenperspektive sollen aufgehoben werden, indem der Handelnde seine Ziele, Motive und praktische Überlegungen mit Hilfe von Begründungen zugänglich macht. Auf diese Weise eröffnet sich die Binnenperspektive der Beurteilung durch Dritte. Die Begründung erlaubt, dass ihre Hörer die praktischen Überlegungen des Handelnden einsehen, nachvollziehen und überprüfen können. So wird die Bedeutung der Binnenperspektive 20
Siehe zu dieser Lesart Menke (2005), v. a. Kapitel 1.
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IV · Normanwendung und Objektivität
für die Handlungsbewertung anerkannt und zugleich die Voraussetzung einer gemeinsamen Korrekturpraxis erfüllt. Die zweite Objektivitätsthese wird auf diese Weise zu einer Forderung nach der Begründbarkeit guter Handlungen. Alles, was für die angemessene Beurteilung einer Handlung notwendig ist, soll mitteilbar sein. Niemand kann zwar die Gedanken und Absichten eines Handelnden direkt erkennen, weil wir nicht in die Köpfe anderer hineinschauen können. Aber insofern diese Gedanken und Absichten des Handelnden für die Beurteilung seiner Handlung bedeutsam sind, müssen sie mit außenstehenden Beobachtern geteilt werden können, so die Überzeugung der klassischen Griechen. Die Güte einer Handlung wird also durch ihre Begründung »objektiv«. Nach dieser Auffassung tritt die Begründung nicht erst in einem zweiten Schritt zur Güte der Handlung hinzu, sondern ist sogar konstitutiv für die Güte. Eine gute Handlung hat also nicht zusätzlich die Eigenschaft, dass sie vor den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaft als gut ausgewiesen werden kann. Stattdessen ist für Hegels Griechen eine Handlung nur deshalb wirklich gut, weil sie begründbar ist. Hegels Griechen identifizieren somit die Tugendhaftigkeit einer Handlung mit ihrer Begründbarkeit. Eine Eigenschaft der Handlung, die der Korrekturpraxis nicht zugänglich ist, beispielsweise weil sie gänzlich an das subjektive Erleben des Handelnden gebunden ist, kann keinen Ausschlag für die Güte dieser Handlung gemäß einem objektiven Standard geben. Der objektive Standard wird schließlich nur durch seine Verwirklichung in der Korrekturpraxis zum objektiven Standard. Somit kann eine rein private Eigenschaft einer Handlung kein Bestandteil eines objektiven Standards der Güte von Handlungen sein. Für Hegels Griechen äußert sich diese Bedingung in der Forderung nach Handlungsbegründungen. In ihren Augen ist eine tugendhafte Handlung immer eine Handlung, die vor kompetenten Hörern angemessen begründet werden kann. Eine Handlung ist für sie genau dann (und auch nur dann) tugendhaft, wenn sie aus guten Gründen geschieht. Als »gute Gründe« zählen aber nur jene Überlegungen und Handlungsmotive, die vor der kritischen Überprüfung anderer tugendhafter Subjekte bestehen können. Der Wandel in der Auffassung der zweiten Objektivitätsthese geht bei den Griechen einher mit institutionellen und politischen Innovationen. Die Begründung von Handlungen spielt bei den archaischen Griechen noch keine wichtige Rolle. Ödipus kann sich nicht aus seiner Schuld befreien, indem er sich den Thebanern erklärt. Seine 244 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
Zwangslage entsteht allerdings nicht aus bloßer Phantasielosigkeit, etwa weil niemand auf die Idee kam, ihn nach seiner Sicht der Dinge zu fragen. Die vernünftige Begründung einer Handlung kann erst dann zum zentralen Maßstab einer Handlungsbewertung werden, wenn es politisch überhaupt akzeptabel ist, dass Subjekte aufgrund ihrer Argumente beurteilt werden und nicht etwa aufgrund ihrer adeligen Geburt, ihrer Stellung am Fürstenhof oder ihrer Seniorität. Der Ansatz der klassischen Griechen, die Tugendhaftigkeit einer Handlung mit ihrer Begründbarkeit zu identifizieren, setzt also zunächst politische Umbrüche voraus, die zu größerer Egalität und einem höheren Stellenwert geistiger Leistung führen. Hegel verortet diese Umbrüche zu Beginn des sechsten Jahrhunderts vor Christus: Zu gleicher Zeit mit diesem Untergang der ionischen Städte hatte das andere Griechenland aufgehört, unter seinen alten Fürstenhäusern zu stehen. Die Pelopiden und die anderen, größtenteils fremden Königsstämme waren untergegangen. Griechenland war in vielfache Berührung nach außen gekommen, teils suchten die Griechen in sich selbst nach einem gesellschaftlichen Bande. Das patriarchalische Leben war vorbei; es trat in vielen Staaten das Bedürfnis zu gesetzlichen Bestimmungen und Einrichtungen, sich frei zu konstituieren, ein. Wir sehen viele Individuen auftreten, die nicht mehr durch ihren Stamm Herrscher ihrer Mitbürger waren, sondern durch Talent, Phantasie, Wissenschaft ausgezeichnet und verehrt. Solche Individuen sind in verschiedene Verhältnisse zu ihren Mitbürgern gekommen. Sie sind teils Berater gewesen – der gute Rat wurde häufig auch nicht befolgt –, teils sind sie von ihren Mitbürgern gehaßt und verachtet worden: diese Männer zogen sich vom öffentlichen Wesen zurück. Andere sind gewaltsame, wenn auch nicht grausame Beherrscher ihrer Mitbürger geworden, andere endlich Gesetzgeber der Freiheit gewesen. 21
Nicht mehr die Abstammung sei in der klassischen pólis entscheidend, sondern »Talent, Phantasie, Wissenschaft«. Statt adeliger Fürsten und »heroischen Individuen« treten kluge Individuen als »Berater« und »Gesetzgeber« in den Mittelpunkt der griechischen Geschichte. Die zunehmende Demokratisierung der griechischen Stadtstaaten sorgt zum einen für die politisch-soziale Anerkennung von Begründungen, zum anderen schafft sie in den Volksversammlungen einen institutionellen Rahmen, in dem Handlungsbegründungen und -bewertungen stattfinden. Mit der Demokratie wachsen auch Selbstbewusstsein und Bildung der Bürger, beides wichtige Vo21
Hegel, VGPhil.I S. 179.
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raussetzungen für eine Praxis des Begründens und Bewertens. Die Teilnehmer einer solchen Praxis müssen in der Lage sein, zulässige von unzulässigen Gründen zu unterscheiden, argumentative und logische Fehler aufzudecken, sowie selbst ihre eigenen praktischen Überlegungen in eine rhetorisch überzeugende Form zu bringen. Für diese Fähigkeiten, die entscheidend für eine Verwirklichung der zweiten Objektivitätsthese in einer Praxis des Begründens sind, ist laut Hegel die griechische Demokratie der ideale Nährboden: In der Demokratie ist es das besondere Bedürfnis, vor dem Volke zu sprechen, ihm etwas vorstellig zu machen, und dazu gehört, daß ihm der Gesichtspunkt, den es als wesentlich ansehen soll, gehörig vor die Augen geführt werde. 22
Die Demokratisierung fördert also die griechischen Praktiken des Begründens. Für die Bürger wird es immer selbstverständlicher, für Handlungen und Entscheidungen in der Öffentlichkeit Rechtfertigungen einzufordern, anders als dies beispielsweise in der archaischen Zeit der Fall war, in der das Handeln des Fürsten nicht ohne Weiteres angezweifelt werden durfte. In der klassischen Zeit kann die Güte einer Handlung nicht mehr bloß behauptet werden, sie muss in der Volksversammlung vor der kritischen Prüfung durch die Mitbürger Bestand haben. So trägt die politische Verfassung dazu bei, dass eine Handlung nur dann für gut gehalten wird, wenn sie begründbar ist. Umgekehrt bezieht die demokratische Verfassung ihre Legitimation gerade aus der Überzeugung der Griechen, dass über den Weg des öffentlichen Streits und des Austauschs von Begründungen in der Volksversammlung eine Entscheidung oder Handlung auch tatsächlich angemessen bewertet werden kann. Das Vertrauen der Griechen in die Volksversammlung als Mittel zur politischen Entscheidungsfindung hängt daher wesentlich von ihrer Identifikation von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit ab: Dies ist die wahrhafte Stellung der demokratischen Verfassung: ihre Berechtigung und absolute Notwendigkeit beruht auf dieser noch immanenten objektiven Sittlichkeit. In den modernen Vorstellungen von der Demokratie liegt diese Berechtigung nicht: die Interessen der Gemeinde, die öffentlichen Angelegenheiten sollen von dem Volke beratschlagt und beschlossen werden; die Einzelnen sollen ratschlagen, ihre Meinung vortragen, ihre Stimme abgeben, und zwar darum, weil das Staatsinteresse 22
Ebd., S. 328.
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
und die öffentlichen Angelegenheiten die ihrigen seien. Alles dies ist ganz richtig, aber der wesentliche Umstand und Unterschied liegt darin, wer diese Einzelnen sind. Absolute Berechtigung haben sie nur, insofern ihr Wille noch der objektive Wille ist, nicht dieses oder jenes will, nicht bloß guter Wille ist. Denn der gute Wille ist etwas Partikuläres, ruht auf der Moralität der Individuen, auf ihrer Überzeugung und Innerlichkeit. 23
Die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit wird in Hegels Darstellung zur wesentlichen Legitimation der Volksversammlung als politisches Organ: Nur weil die Griechen daran glauben, dass das sittliche Gute und politisch Ratsame durch gemeinsame, öffentliche Diskussion von allen beteiligten Bürgern erkannt werden kann, ist es überhaupt sinnvoll, die zentrale Entscheidungsgewalt in die Hände eines basisdemokratisch organisierten Gremiums zu legen. Der gute – sprich: tugendhafte – Wille ist für die klassischen Griechen ein »objektiver Wille«, also ein Wille, dessen Güte in der öffentlichen Beratung für alle einsehbar wird. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in Hegels Schilderung des attischen Gerichtshofs der Heliaía, vor dem auch der Prozess gegen Sokrates stattfindet. Die griechische Annahme, eine basisdemokratische Veranstaltung könne ein geeignetes Mittel der Rechtsprechung sein, erschließt sich überhaupt erst vor dem Hintergrund der Identifikation von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit: Die Heliaía erscheint den Griechen als angemessene Einrichtung, weil sie glauben, dass jeder Vollbürger kompetent sei, eine Handlung zu beurteilen, die vor dem Gerichtshof vorgestellt und begründet wird. Die öffentliche Begründbarkeit einer Handlung erscheint den Griechen so als hinreichendes und notwendiges Kriterium ihrer Tugendhaftigkeit. In Kapitel VI.5 gehe ich ausführlicher darauf ein, wie Hegel die Heliaía als eine paradigmatische Manifestation der griechischen Korrekturpraxis und institutionelle Verwirklichung des Glaubens an die Objektivität der Tugend schildert. Volksversammlung und Gerichtshof sind für Hegel auch die Orte, an denen die erste folgenschwere Kritik an den Objektivitätsthesen laut wird und die griechische Gleichsetzung von Begründbarkeit und Tugendhaftigkeit Risse bekommt. Die Sophisten beweisen durch ihre manipulative Rhetorik, dass nicht jede überzeugende Begründung tatsächlich die Güte einer Handlung oder Entscheidung zeigt. Sie weisen mit Recht darauf hin, dass die Tugend begrifflich 23
Ders., VPhGes 308 f.
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verschieden ist von der Fähigkeit, überzeugend zu argumentieren. Eine gelungene Begründung garantiert also nicht die Tugendhaftigkeit der Handlung, für die sie spricht (siehe Kapitel V.1). Sokrates ergänzt diese sophistische Kritik um die Einsicht, dass eine tugendhafte Handlung nicht vollständig begründet werden kann, sondern immer mit einem unbegründbaren Willkürmoment der Entscheidung verbunden ist (siehe Kapitel VI.4–5). Auf diese Weise wird die Begründbarkeit sowohl als hinreichendes als auch als notwendiges Kriterium der Tugend attackiert. Die griechische Gleichsetzung, auf der ihre gemeinsame Korrekturpraxis nach den Vorgaben einer zweiphasigen Normativität beruht, wird so hinfällig.
IV.2.3 Dritte These: Objektivität des Charakters Die dritte Objektivitätsthese bezieht sich schließlich auf den Charakter des Handelnden. Sie besagt, dass auch der tugendhafte Charakter eines handelnden Subjekts objektiv sei, also von kompetenten Betrachtern als tugendhaft erkannt werden könne. Für einen Tugendethiker ist die dritte Objektivitätsthese bereits in der zweiten These enthalten: Wer sich als Tugendethiker auf die zweite These verpflichtet, der muss auch die dritte These bejahen. Die zweite Objektivitätsthese besagt, dass Handlungen objektiv sind und somit ihre Normentsprechung von den kompetenten Mitgliedern einer Gemeinschaft beurteilt werden kann (siehe vorigen Abschnitt IV.2.2). Tugendnormen beziehen sich jedoch nicht allein auf Handlungen als isolierte Ereignisse, sondern verknüpfen sie stets auch mit Anforderungen an den Charakter des Handelnden. Eine Handlung ist erst dann wirklich tugendhaft, wenn sie aus einem stabilen Habitus des Handelnden erfolgt. Aristoteles erläutert diese Eigenschaft der Tugendnormen im zweiten Buch seiner Nikomachischen Ethik folgendermaßen: Hingegen werden die Dinge, die aufgrund der Tugenden entstehen, nicht schon dann auf gerechte oder mäßige Weise getan, wenn sie sich auf bestimmte Weise verhalten, sondern erst, wenn auch der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt, und zwar erstens wissend (eidōs), zweitens vorsätzlich (prohairoumenos) – und zwar vorsätzlich um der Handlung selbst willen –, drittens aus einer festen und unveränderlichen Disposition heraus. 24 24
Aristoteles, NE II.3 1105a25-b1.
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
Das dritte aristotelische Kriterium der tugendhaften Handlung, nämlich dass sie aus einer »festen und unveränderlichen Disposition« heraus geschieht, verlangt somit, dass die Prüfung der Güte einer Handlung umfassend erfolgt und sich auch auf den Charakter des Subjekts erstreckt. Wenn also die zweite Objektivitätsthese zutrifft, dass für hinreichend kompetente Beobachter die Tugendhaftigkeit einer Handlung erkennbar ist, dann folgt aus dem dritten Kriterium der Tugend notwendigerweise, dass die hinreichend kompetenten Beobachter auch den Charakter eines Handelnden durchschauen. Auf diese Weise beschreibt die dritte Objektivitätsthese eine Anforderung an die Praxis der gegenseitigen Korrektur innerhalb einer tugendbasierten Kooperation: Damit eine solche Praxis ihren Zweck erfüllt, muss sie einen umfassenderen Blick auf den Handelnden werfen und darf sich nicht auf eine Augenblicksaufnahme einer isolierten Handlung beschränken. Aristoteles illustriert diese Notwendigkeit mit der Figur des »Beherrschten« (ἐνκρατής): Denn der Beherrschte ist wie der Mäßige in der Lage, nichts aufgrund der körperlichen Lust gegen die Überlegung zu tun; dabei hat der eine schlechte Begierden, der andere nicht, und der eine ist so beschaffen, dass er nicht Lust gegen die Überlegung empfindet, der andere so, dass er dies tut, aber nicht von der Lust geleitet wird. 25
Der Beherrschte erfüllt die Tugendnormen zum Teil. Er verhält sich besser als ein Unbeherrschter oder ein Lasterhafter, da er erkennt, welche Handlung von einer Situation erfordert wird, und dieser Überlegung entsprechend handelt. Zugleich ist sein Handeln nicht vollkommen gut, weil er von »schlechten Begierden« geplagt wird, die ihn zu einem Handeln entgegen seiner Überlegungen drängen. Dadurch unterscheidet er sich vom Tugendhaften, der frei von irritierenden Begierden ist. Er entspricht also nicht völlig der Tugendnorm. Dieses Defizit des Beherrschten ist nicht rein theoretisch-taxonomischer Natur, sondern kann durchaus praktische Folgen nach sich ziehen. Erstens bedeuten die schlechten Neigungen des Beherrschten eine zusätzliche psychische Belastung: Der Beherrschte muss Willensstärke aufbringen, um seine Neigungen im Zaum zu halten. Anders als der Tugendhafte ist er der Versuchung zur schlechten Handlung ausgesetzt. Diese Belastung kann zermürbend wirken und bindet Kräfte. Der Beherrschte erscheint daher nicht im gleichen 25
Ebd. VII.11, 1151b34–1152a4.
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Maße zuverlässig oder leistungsfähig wie der Tugendhafte. Zumindest für die Stabilität einer langfristigen Kooperation kann es daher eine Rolle spielen, ob die Beteiligten wirklich tugendhaft oder nur beherrscht handeln. Zweitens ist die Abgrenzung zwischen Tugendhaften und bloß Beherrschten deshalb von großer Bedeutung, weil im tugendbasierten Zwei-Phasen-Modell die Habitualisierung der Normen eine entscheidende Säule der stabilen Existenzweise und Wirksamkeit der Normen in der Anwendungsphase darstellt (siehe Abschnitt IV.2.1). Somit erscheint es für eine Gemeinschaft, die auf dem Verständnis einer tugendhaften Kooperation beruht, nicht nur psychologisch ratsam, die Habitualisierung der Normen zu fördern, sondern sogar überlebensnotwendig. Nach dieser Auffassung ist es zumindest fragwürdig, ob eine Gemeinschaft, die nur aus Beherrschten bestünde, die geforderte Objektivität der Normen in der Anwendungsphase gewährleisten und erklären kann. Eine Korrekturpraxis einer Tugendkooperation muss folglich in der Lage sein, in konkreten Fällen den Beherrschten vom Tugendhaften zu unterscheiden. Zum einen ist dies notwendig, um überhaupt diese begriffliche Unterscheidung sinnvoll verwenden zu können, welche für das Bestehen ihrer Kooperationsform grundlegend ist. Zum anderen ist diese Unterscheidungsfähigkeit nötig, damit die Gemeinschaft auch eine erzieherische Funktion ausüben kann, um ihre Bürger, welche lediglich beherrscht handeln, zum stabilen Habitus der Tugend zu verhelfen. In einer tugendbasierten Gemeinschaft ist die Erziehung zur Tugend eine öffentliche, staatstragende Aufgabe. Damit diese Aufgabe aber überhaupt angegangen werden kann, muss die Gemeinschaft auf irgendeine Weise Einsicht in den Charakter ihrer Bürger haben. Die Verwirklichung der dritten Objektivitätsthese ist somit eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren einer Gemeinschaft auf Grundlage der Tugend. Die Umsetzung der dritten Objektivitätsthese bei Hegels Griechen Die dritte Objektivitätsthese bedeutet für Hegels Griechen eine erhebliche Herausforderung und zugleich eine Bürde, die im Verlauf ihrer Geschichte schwere Konsequenzen nach sich zieht. Die Anforderung der dritten Objektivitätsthese, auch der tugendhafte Charakter eines handelnden Subjekts müsse für kompetente Beobachter erkennbar sein, ist zum einen schwierig zu erfüllen, weil der Charakter eines Subjekts in noch stärkerem Maße für Betrachter verborgen ist als dessen innere Absichten, Ziele und Überlegungen. Zum anderen
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
folgt aus der aristotelischen Beschreibung des Beherrschten, dass auch ein Subjekt ohne tugendhaften Charakter in ähnlicher Weise überlegen und handeln kann wie ein Tugendhafter. Der Beherrschte verfügt laut Aristoteles über die richtigen Handlungsgründe und erkennt sie auch als solche an. Er unterscheidet sich vom Tugendhaften lediglich durch schlechte Begierden, die er durch Willensstärke unterdrückt (s. o.). Aus der aristotelischen Festlegung, dass der Beherrschte trotz seiner Charakterschwäche die richtigen Überlegungen im Sinne der Tugend anstellen kann, scheint zu folgen, dass der Beherrschte sein Handeln auch in der gleichen Weise begründen kann wie ein Tugendhafter. Dies würde bedeuten, dass die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit schon von vornherein hinfällig wäre (siehe Abschnitt IV.2.2) und die gemeinsame Korrekturpraxis der Griechen nicht die notwendige Unterscheidung zwischen Beherrschtem und Tugendhaftem treffen könne. Hegel gibt uns in seiner Beschreibung der griechischen Volksversammlung allerdings einen Hinweis, wie die antiken Griechen mit dieser Herausforderung umgehen. Der Beherrschte kann zwar auf einer intellektuellen Ebene ähnlich wie der Tugendhafte argumentieren und die gleichen Handlungsgründe benennen. Die griechischen Praktiken des Begründens und Rechtfertigens in der Volksversammlung zielen aber nicht auf eine solche abstrakte, rein intellektuelle Betrachtung, sondern ziehen alle rhetorischen Register. Der Redner und seine Zuhörer sind emotional eingebunden, es werden ihre Affekte und Leidenschaften angesprochen: In der Demokratie ist die Hauptsache, daß der Charakter des Bürgers plastisch, aus einem Stück sei. Er muß bei der Hauptverhandlung gegenwärtig sein; er muß an der Entscheidung als solcher teilnehmen, nicht durch die einzelne Stimme bloß, sondern im Drang des Bewegens und Bewegtwerdens, indem die Leidenschaft und das Interesse des ganzen Mannes dareingelegt und auch im Vorgang die Wärme der ganzen Entscheidung gegenwärtig ist. Die Einsicht, zu der sich alle bekehren sollen, muß durch Erwärmung der Individuen vermittels der Rede hervorgebracht werden. Geschähe diese durch die Schrift auf abstrakte, unlebendige Weise, so würden die Individuen nicht zur Wärme der Allgemeinheit angefeuert, und je größer die Menge wäre, desto weniger würde die Einzelheit der Stimme Gewicht haben. 26
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Die griechische Volksversammlung erfordert die physische Präsenz seiner Bürger, sie müssen beim Vortrag des Redners mitfühlen, der sich mit der Leidenschaft und dem Interesse »des ganzen Mannes« einbringt. Die griechischen Begründungspraktiken beziehen also den Intellekt und die Affektstruktur der Beteiligten mit ein. Somit können wir schließen, dass nach dieser Auffassung ein Beherrschter eben doch nicht auf die gleiche Weise vor der Volksversammlung bestehen kann wie ein Tugendhafter. Allerdings kann ein derartiges rhetorisches Spektakel wie die griechische Volksversammlung aus systematischen Gründen nicht genügen, um zielsicher den Charakter eines Subjekts für die Gemeinschaft sichtbar zu machen und so die Anforderung der dritten Objektivitätsthese zu erfüllen. Die Verhandlung vor einer Volksversammlung liefert schließlich nur eine Momentaufnahme des betroffenen Subjekts. Es mag zwar möglich sein, im Verlauf einer solchen Verhandlung die Überlegungen, Handlungsgründe und momentanen Gefühle des Beurteilten kennen zu lernen. Der Charakter eines Subjekts lässt sich jedoch nicht in einer solchen Momentaufnahme ausreichend beurteilen. Der Charakter als stabiler und dauerhafter Habitus reicht weit über isolierte Handlungen oder tagesformabhängiges Verhalten hinaus. Um den Charakter eines Mitmenschen wirklich kennen zu lernen, bedarf es daher laut Aristoteles »Zeit und Vertrautheit«: »Denn wie das Sprichwort sagt, ist es nicht möglich, einander zu kennen, ehe man nicht das bekannte Salz zusammen gegessen hat.« 27 Aristoteles bezieht sich hier auf den sprichwörtlichen Scheffel Salz, der gemeinsam verzehrt werden müsse, um den Charakter des Gegenüber hinreichend beurteilen zu können. Es sind also ein langer, vielleicht sogar jahrelanger Zeitraum und enger persönlicher Umgang nötig. Eine derartige Vertrautheit lässt sich freilich nur innerhalb eines verhältnismäßig kleinen Kreises herstellen. Es gibt eine praktische Grenze, mit wie vielen anderen Menschen ich täglichen und engen Umgang pflegen kann. Die griechische Lösung für die Umsetzung der dritten Objektivitätsthese besteht laut Hegel folglich darin, dass sie die Reichweite ihrer selbstbestimmten Kooperation auf genau diesen persönlichen Nahbereich beschränken. Die Griechen erfinden also kein Mittel der mystischen Charakterschau, sondern lassen nur denjenigen als vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft zu, dessen Charakter sie durch persönliches Zusam27
Aristoteles, NE VIII.4, 1156b.
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
menleben kennengelernt haben. Die konkrete Handlungsbeurteilung in der griechischen Korrekturpraxis beruht daher auf der Voraussetzung, dass die Bürger bereits hinreichend über die Tugendhaftigkeit des beurteilten Subjekts Bescheid wissen. Nur so können sie die notwendigen Rückschlüsse ziehen, um die konkrete Handlung angemessen zu bewerten. Hegel spricht daher davon, dass die griechische Korrekturpraxis ein »Zusammenleben in einer Stadt«, einen täglichen Umgang und eine »gemeinsame[n] Bildung« der Bürger erfordert: Es muß noch drittens bemerkt werden, daß solche demokratische Verfassungen nur in kleinen Staaten möglich sind, in Staaten, die den Umfang von Städten nicht viel übersteigen. Der ganze Staat der Athenienser ist in der einen Stadt vereinigt […]. Das Zusammenleben in einer Stadt, der Umstand, daß man sich täglich sieht, machen eine gemeinsame Bildung und eine lebendige Demokratie möglich. 28
Der griechische Umgang mit der dritten Objektivitätsthese bedeutet offenkundig eine strikte Begrenzung der Größe der pólis. Griechische Gemeinschaften können eine bestimmte, vergleichsweise geringe Zahl an Bürgern nicht überschreiten. Die griechischen Staaten sind daher in der Regel nichts anderes als Stadtstaaten. Größere Bündnisse oder gar Vielvölkerstaaten sind mit dieser Art der tugendbasierten Kooperation ausgeschlossen: Die griechische Sittlichkeit hatte Griechenland unfähig gemacht, einen gemeinsamen Staat zu bilden; denn die Absonderung kleiner Staaten gegeneinander, die Konzentration in Städten, wo das Interesse, die geistige Ausbildung im ganzen dieselben sein konnten, war eine notwendige Bedingung dieser Freiheit. Nur eine momentane Vereinigung ist im Trojanischen Kriege vorhanden gewesen, und sogar in den Medischen Kriegen konnte diese Einheit nicht zustande kommen. 29
In der notwendigen Kleinheit der griechischen Stadtstaaten, die durch die Anforderung der dritten Objektivitätsthese auferlegt wurde, zeigt sich bereits eine problematische Schwäche der Integrationskraft der Tugend. Eine Kooperation auf der Grundlage der Tugend ist zwangsläufig nach außen exklusiv. Ein Fremder lässt sich kaum oder überhaupt nicht in diese engmaschige, langjährige Gemeinschaft der pólis-Bürger einbinden. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für Nichtgriechen, denen Sprache, Sitten und Gebräuche der Bürger 28 29
Hegel, VPhGes S. 312. Ebd., S. 324.
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einer pólis fremd sind. Eine Kooperation auf der Grundlage der Tugend neigt daher immer zur Xenophobie. Allerdings ist schon der Umgang mit anderen Griechen problematisch, die nicht aus derselben pólis stammen. Ein Subjekt, das nicht zum persönlichen Nahbereich gehört, ist für Hegels Griechen ein unbeschriebenes Blatt. Da sie seinen Charakter nicht kennen, können sie seine Handlungen nicht deuten. Sie wissen nicht, ob es seine Versicherungen ernst meint oder ihre gemeinsamen Abmachungen überhaupt versteht. Somit ist ihnen auch keine wirkliche Kooperation oder engere Gemeinschaft mit anderen póleis möglich. Hegel schildert, wie beispielsweise die Pläne des Thales von Milet zur Gründung einer föderalen Bundesgenossenschaft der ionischen Griechen an dieser Beschränktheit der griechischen Sittlichkeit scheitern: Herodot (I, 169–171) spricht von beiden [die Weisen Thales von Milet und Bias von Priene, MP] und sagt von Thales, daß er schon vor der Unterwerfung der Ionier (wie es scheint durch Krösus) ihnen angeraten habe, eine oberste Ratsversammlung (ἓν βουλευτήριον) in Teos, dem Mittelpunkt der ionischen Völker, zu konstituieren – also einen Föderativstaat mit Hauptund Bundesstadt –, wobei sie nichtsdestoweniger besondere Völkerschaften (δῆμοι) bleiben sollten. Diesen Rat haben sie jedoch nicht befolgt. Dies hat sie vereinzelt, geschwächt, und davon war die Folge ihre Besiegung. Es ist den Griechen immer schwer geworden, sich ihrer Individualität zu begeben. Ebensowenig haben die Ionier den Rat des Bias von Priene befolgt, der später (als Harpagos, der Feldherr des Kyros, welcher die Unterwerfung der Ionier vollendete, sie ins Gedränge gebracht hatte) im entscheidenden Zeitpunkt ihnen, als sie in Panionion versammelt waren, den heilsamsten Rat gegeben: sie sollten in einer gemeinschaftlichen Flotte nach Sardinien ziehen, dort einen ionischen Staat errichten; so würden sie der Knechtschaft entgehen, glücklich sein und, die größte Insel bewohnend, sich die anderen unterwerfen; wenn sie aber in Ionien blieben, so sehe er keine Hoffnung zu ihrer Freiheit. Diesem Rat gibt auch Herodot seine Zustimmung: »Wenn sie denselben befolgt hätten, so wären sie die glücklichsten der Griechen geworden.« So etwas geschieht nur durch Gewalt, nicht freiwillig. 30
Die Größenbeschränkung der griechischen Kooperationsgemeinschaft bedeutet eine empfindliche Schwächung der antiken pólis, sowohl ökonomisch als auch politisch und militärisch. Hätten die ionischen Griechen den Rat des Thales befolgt, wäre ihnen die Unterwerfung durch die Perser erspart geblieben und sie wären »die glücklichsten der Griechen« geworden, so Hegel. Auch der spätere Fall 30
Ders., VGPhil.I S. 180 f.
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Die Anwendungsphase bei Hegels Griechen und die dreifache Objektivitätsthese
Griechenlands in die Bedeutungslosigkeit wird durch die Fragmentierung in unabhängige Stadtstaaten begünstigt. Da jede pólis für sich alleine steht, können die Griechen ihren Eroberern aus Makedonien und Rom wenig Gegenwehr leisten. Diese Schwäche der Griechen aufgrund einer mangelnden Integrationskraft der Tugendkooperation nach außen ist allerdings nicht der Hauptgrund für den Untergang der pólis. Ihr entspricht vielmehr eine mangelnde Integrationskraft nach innen, die dazu führt, dass die pólis im Verlauf ihrer Geschichte den inneren Zusammenhalt verliert und in Fraktionen zersplittert. Auf diese innere Schwäche werde ich vor allem bei der Diskussion der sokratischen Kritik der Tugend in Teil VI eingehen. Hegel übernimmt seine Überlegungen zur dritten Objektivitätsthese und die mit ihr verbundene Einsicht in die Beschränktheit der griechischen Kooperation fast unverändert von Aristoteles. Dieser erläutert in seiner Politik, dass eine tugendhafte Selbstbestimmung einer Gemeinschaft nur möglich ist, wenn die Bürger eng miteinander vertraut sind, und dass dies die geeignete Größe der pólis auf den persönlichen Nahbereich des Zusammenlebens beschränkt: […] um aber entscheiden zu können, was wirklich Rechtens ist, und um die Staatsämter (arché) nach Würdigkeit vergeben zu können, müssen die Staatsbürger einander kennen und wissen, was an einem jeden von ihnen ist, und wo dies nicht der Fall ist, da müssen notwendig die Ämterbesetzung und die richterliche Entscheidung schlecht ausfallen, denn in beiden Fällen ist es ungerecht, blindlings zu handeln, und das geschieht offenbar bei einer allzu großen Menschenzahl. Überdies aber ist es in einer solchen Menge Fremder und Beisassen leicht, an den staatlichen Rechten teilzunehmen, weil sich bei einer übermäßigen Menschenmenge der Betrug schwer entdecken läßt. Hiernach ist denn offenbar dies das beste Maß der Begrenzung für den Staat: eine Volksmenge von der Größe, welche die Autarkie ermöglicht und zugleich wohlübersehbar bleibt. 31
Im idealen Staat herrscht für Aristoteles zwischen den Bürgern das Verhältnis der politischen Freundschaft. Eine freie Gemeinschaft von Tugendhaften ist laut Aristoteles eine Gemeinschaft von Freunden, und dies bedeutet, dass eine solche Gemeinschaftsform nur innerhalb eines kleinen, exklusiven Zirkels möglich ist: Außerdem scheint die Freundschaft die Staaten zusammenzuhalten, und die Gesetzgeber scheinen sich mehr um sie zu bemühen als um die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht (homonoia) scheint etwas Ähnliches wie die 31
Aristoteles, Pol. VII.4, 1326b15 ff.
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IV · Normanwendung und Objektivität
Freundschaft zu sein, diese aber streben sie [die Gesetzgeber] am meisten an, und die Zwietracht, die eine Feindschaft ist, versuchen sie am meisten zu vertreiben. 32
An diesen Zitaten zeigt sich gut, wie Hegel Aristoteles als Gewährsmann für das griechische Denken heranzieht. Die Beschreibungen der pólis-Gemeinschaft, die Aristoteles allerdings noch als positive Beschreibung des gelungenen Staats meint, wendet Hegel um und sieht sie als Hinweise für die Unzulänglichkeit der tugendbasierten Kooperation.
32
Ders., NE VIII.1, 1155a23–27.
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Teil V: Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
In Hegels Vorlesungen begegnen uns mit den Orakeln und den Sophisten zwei scheinbar gänzlich ungleiche Phänomene der griechischen Geschichte: Die Sophisten treten als selbstbewusste Bewegung der Bildung und der antiken Aufklärung auf. Sie bringen alte Gewissheiten ins Wanken und stellen Machtstrukturen in Frage, indem sie durch ihren Rhetorikunterricht jedem Bürger politischen Einfluss versprechen, der willig ist, ihre Argumentationstechniken zu erlernen. Die griechischen Orakel hingegen wirken wie eine traditionalistische, geradezu archaische Einrichtung. Sie scheinen das vermeintliche Relikt eines unreflektierten Aberglaubens zu sein, der überall in der Welt das Wirken der Götter vermutet und natürliche Geschehen wie den Vogelflug, das Rascheln der Blätter im Wind oder das Murmeln eines Baches als göttliche Ratschläge für das menschliche Leben deutet. In den Orakeln unterwerfen sich die Griechen einer unverstandenen, unvernünftigen Macht, so könnte diese Gegenüberstellung aufgefasst werden, während die Sophisten sie lehren, selbst zu denken. Hegel lässt sich in seinen Vorlesungen allerdings nicht auf einen derart oberflächlichen Gegensatz ein. In seiner Geschichtsdeutung sieht er vielmehr wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den Sophisten und den Orakeln: Beide Erscheinungen betrachtet Hegel als charakteristisch für das antike Griechenland. Sie sind auf eine Weise in die politischen Prozesse eingebunden, die sie unabdingbar für das Funktionieren der griechischen Demokratie macht. Die sophistische Redekunst bildet eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe der Bürger am öffentlichen Leben, sie ermöglicht erst das gemeinsame Urteil in den Volksversammlungen. Zugleich sind die griechischen Verantwortungsträger, etwa Politiker und Feldherrn, aber auch der Privatmann, der für seine Hausgemeinschaft sorgt, auf die Orakelsprüche angewiesen, um in unüberschaubaren Situationen ihre Entscheidungen rechtfertigen zu können. In dieser Hinsicht betrachtet Hegel die Ora257 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
kel keinesfalls als verkrusteten Aberglauben, sondern als eine vernünftige Instanz zur Orientierung und zur Entlastung von überzogenen Verantwortungsansprüchen. Somit sieht Hegel einerseits die Sophisten und Orakel als wichtige Bedingung für ein gelungenes Zusammenleben in der pólis. Andererseits deutet Hegel beide Phänomene als Hinweis, dass das Vertrauen der Griechen in ihr ambitioniertes Projekt einer selbstbestimmten Kooperationsgemeinschaft Risse bekommt. In den Sophisten und in den Orakelpraktiken äußert sich auf jeweils unterschiedliche Weise ein Unbehagen der antiken Griechen mit ihrer Lebensform auf der Grundlage der Tugend. Die Griechen beginnen ihrer »schönen Freiheit« zu misstrauen, die in einem Gleichgewicht von Selbstgestaltung und Selbstverpflichtung bestehen soll, und hinterfragen die Funktionsweise ihrer zweiphasigen Kooperation, wie ich sie im vorigen Teil IV skizziert habe. Sie erkennen, dass ihre Selbstbestimmung in der Gemeinschaft auf einem fragilen Fundament ruht – sie begreifen ihre Freiheit als »nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume«, wie es Hegel in seiner Einleitung zu den Vorlesungen in die Philosophie der Geschichte beschreibt. 1 Insbesondere wachsen die Zweifel der Griechen an der Zuverlässigkeit ihrer Praktiken der gemeinsamen Urteilsfindung, Korrektur und Begründung und somit schließlich auch am Glauben an die ›Objektivität‹ der Tugendnormen, die durch diese Praktiken aufrechterhalten werden soll. Sie entdecken nach und nach die Irrtümer, mit denen ihr Selbstverständnis und ihre Auffassung einer tugendbasierten Kooperation behaftet sind. Auf diese Weise beschreibt Hegel den weltgeschichtlichen Untergang der pólis als eine Zersetzung von innen. Er ist das Ergebnis eines Vertrauensverlusts der Griechen in ihre Institutionen und Praktiken, der durch eine Selbsterkenntnis ausgelöst wird: Die antiken Griechen müssen lernen, dass ihre Kooperationsgemeinschaft nur funktioniert, weil sie einem falschen Verständnis von Normativität anhängen. Sie setzten zu Unrecht die Objektivität ihrer Tugendnormen voraus und gestalten ihre gemeinsame Selbstbestimmung und Korrektur derartig, als sei eine strikte Trennung von Normanwendung und Normgestaltung möglich. Ihre Institutionen und Praktiken können vom Gemeinschaftsmitglied nur Anerkennung einfordern, weil sie auf diesem Fehlverständnis der Normativität beruhen. Die Berechtigung beispielsweise für Verfahren, wie Beschlüsse in der Volksversammlung 1
Hegel, VPhG S. 31.
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V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
oder vor Gericht zustande kommen, hängt vom Selbstmissverständnis der Griechen und ihrer falschen Beschreibung ihres Handelns in diesen Institutionen ab. Wird dieses Fehlverständnis und die zugehörigen Irrtümer jedoch durchschaut, verlieren die gemeinsamen Institutionen und Praktiken ihre Legitimität und erfüllen ihre Funktion für die Kooperation der pólis nicht mehr. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt zerbricht, weil die Gemeinschaft nicht mehr sinnvoll als Einheit vorgestellt werden kann. In Hegels Darstellung der griechischen Geschichte bilden die Sophisten und Orakel einen Teil dieses Prozesses der Selbsterkenntnis. Ursprünglich sind sie zwar Elemente im Zusammenleben, die das Funktionieren der pólis und der tugendbasierten Kooperation unterstützen. Aber ab einem gewissen historischen Punkt schlagen sie in das Gegenteil um und liefern eine Diagnose bestimmter Selbstmissverständnisse der Griechen. Sie wandeln sich also von einer Bedingung der Stabilität zu einer Quelle der Kritik. Die Diagnose der Irrtümer der griechischen Kooperation geschieht dabei auf unterschiedliche und je eigentümliche Weise: Während die Sophisten ihre Kritik direkt äußern und den pólis-Bürgern die Mangelhaftigkeit der griechischen Demokratie plastisch vorführen, findet die mit den Orakeln verbundene Kritik subtiler statt und zeigt sich in der Mehrdeutigkeit und Dunkelheit der Orakelsprüche, die ihrem eigentlichen Zweck als Entscheidungshilfe zuwider laufen. In diesem Teil der Arbeit stelle ich die Kritik an der tugendhaften Kooperation vor, die laut Hegel von den Sophisten geäußert wird und die sich in griechischen Orakelpraktiken zeigt. Dabei gehe ich jeweils zuerst auf ihre ursprüngliche Aufgabe innerhalb der griechischen pólis ein, in der Orakel und Sophisten bestimmte Probleme der tugendhaften Kooperation bewältigen sollen. Anschließend zeige ich, wie sich aus ihrer Funktion die Einsicht entwickelt, dass diese Probleme tiefer reichen und nicht einfach mit technischen Lösungen umgangen werden können, sondern das Prinzip der Tugend selbst berühren. Bei den Sophisten (siehe Kapitel V.1) betrifft dies die griechischen Korrektur- und Begründungspraktiken, welche die Objektivität tugendhafter Handlungen garantieren sollen. Die Sophisten weisen mit ihren rhetorischen Demonstrationen jedoch nach, dass diese Praktiken manipulierbar sind und dass die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit einer Handlung keine Grundlage besitzt (zur Gleichsetzung siehe IV.2.2, zur sophistischen Kritik siehe V.1.2 und V.1.3). 259 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
Die griechischen Orakel (Kapitel V.2) setzen hingegen bei der Anfälligkeit des tugendhaften Handelns für Kontingenz (V.2.2 und V.2.3) und der Unüberschaubarkeit von Handlungssituationen (V.2.4) an. Aus diesen Einsichten leitet sich ähnlich wie bei der sophistischen Kritik die Fragwürdigkeit des griechischen Vertrauens in ihre Begründungsfähigkeiten ab. Anhand der griechischen Orakel diskutiert Hegel die Notwendigkeit eines irreduziblen Willkürelements in jeder Handlung, welches einen Begründungsabbruch darstellt und verhindert, dass eine Handlung im Sinne der Griechen vollständig gerechtfertigt werden kann. Die sophistische Kritik und die Diagnose eines notwendigen Begründungsabbruchs treffen somit beide empfindlich das griechische Verständnis einer gegenseitigen Korrekturpraxis und einer durch Begründungen vermittelten Einigung der Gemeinschaft, sowie auch den griechischen Glauben an die Objektivität ihrer Normen in diesen Praktiken. In letzter Konsequenz stellen diese Einsichten den Modus ihrer Selbstbestimmung überhaupt in Frage. Aus Hegels Beschreibungen der Sophisten und Orakel können wir demnach eine grundsätzliche Kritik am griechischen Prinzip der Tugend gewinnen. Das Besondere dieser Kritik ist, dass sie sich aus dem griechischen Denken selbst entwickelt. Es handelt sich also nicht um externe Kritik, bei der wir Nachgeborenen mit anachronistischen Maßstäben der griechischen Lebensform vorwerfen, dass sie nicht unseren Standards entspricht. Stattdessen führt Hegel anhand der Sophisten und Orakel vor, dass in der griechischen Lebensweise Ansprüche angelegt sind, die sie selbst nicht erfüllen kann. Bei den Sophisten und Orakeln stoßen die Griechen selbst auf die Beschränkungen und Irrtümer ihres Weltbildes. Dennoch erfüllt die Kritik am griechischen Prinzip, die auf diese Weise gewonnen wird, nicht die Anforderungen, die Hegel an historisch-immanente Kritik stellt (siehe Kapitel II.1). Der sophistischen Kritik und der Diagnose der Orakel fehlt die transformative Kraft, um über das griechische Denken hinauszuweisen und zu einer grundsätzlichen Neuorientierung zu führen. Die aufgezeigten Mängel der griechischen Kooperation sind zwar ernst, aber sie werden nicht in einer Weise vorgebracht, dass sie von den Griechen hinreichend ernst genommen werden. Die Kritik wird noch unvollkommen geäußert und kann daher nicht das griechische Prinzip der Tugend entthronen. Ich werde in der Diskussion der Orakel und Sophisten auf dieses Unvermögen der entsprechenden Kritik eingehen.
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Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
Für die vorliegende Untersuchung bedeuten Hegels Beschreibungen der Sophisten und Orakel einen wichtigen Zwischenschritt und sind vor allem aus drei Gründen systematisch interessant: Erstens geben sie uns Hinweise für eine Kritik am griechischen Prinzip der Tugend, wie sie sich aus dem griechischen Denken selbst entwickeln lässt. Zweitens hilft uns diese Art der Kritik, Hegels Konzept der historisch-immanenten Kritik ex negativo näher zu verstehen. Aus den Unzulänglichkeiten der sophistischen Kritik und der Diagnose der Orakel zeigt sich, in welcher Form stattdessen Kritik vorgebracht werden muss, um transformierende Kraft auf ein weltgeschichtliches Prinzip zu entwickeln. Drittens bilden die Einsichten der Sophisten und der Orakelpraktiken eine wichtige Vorstufe und Voraussetzung für die sokratische Kritik, die ich im Teil VI dieser Arbeit erörtern werde. Sokrates geht mit seiner Kritik von den gleichen Mängeln und Irrtümern aus, die schon bei den Sophisten und Orakeln deutlich wurden, und greift auch für seine Formulierungen auf die Sprache der Sophisten und Orakel zurück, etwa wenn er von seinem daímon als einer neuen Form des Orakels spricht. Seine eigene Kritik ist daher nur in Weiterführung und in Abgrenzung zu den früheren Arten der Kritik verständlich.
V.1 Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung V.1.1 Einführung und Überblick In seinen Vorlesungen über die antiken Griechen spricht Hegel häufig von den Sophisten, als ob es sich um eine einheitliche Gruppe mit einer abgegrenzten Lehrmeinung handle. Hegel ist sich allerdings im Klaren, dass die historischen Sophisten keine homogene Schule bildeten, sondern sich aus einer Vielzahl eigenwilliger Persönlichkeiten zusammensetzten. Hegels »Sophist« stellt somit eine bewusste, idealisierte Konstruktion dar, in welcher Hegel die Eigenschaften und Auffassungen verschiedener historischer Sophisten zu einer paradigmatischen Einheit verschmilzt. Hegel beruft sich für sein Bild des Sophisten vor allem auf Protagoras von Abdera und Gorgias von Leontinoi, aber auch weniger prominente Sophisten fließen in seine Darstellung mit ein, etwa die beiden Brüder Euthydemos und Diony-
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V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
siodor sowie Sokrates’ Lehrer Prodikos. 2 Unter all diesen nimmt Protagoras jedoch eine Sonderstellung ein, da Hegel ihn als einen außerordentlich philosophischen Denker aus den Reihen der Sophisten wertschätzt. 3 Die Figur des »Sophisten« bei Hegel ist allerdings mehr als bloß ein Amalgam verschiedener historischer Personen. In Hegels Vorlesungen stehen die Sophisten beispielhaft für eine bestimmte Entwicklungsstufe des griechischen Geistes – sie sind die Vertreter der sogenannten »Bildung«. Somit markieren die Sophisten ein Stadium des Geistes auf dem Weg der Selbsterkenntnis, indem sie Selbstmissverständnisse ihrer Zeitgenossen entlarven und Schwächen des griechischen Kooperationsprinzips der Tugend aufdecken. Zugleich verdeutlicht Hegel, dass die Stufe der Bildung selbst nur ein Durchgangsstadium ist. Das Selbstverständnis der Bildung ist nicht ausgereift, der Geist hat noch nicht zu sich gefunden. In seiner Phänomenologie des Geistes nennt Hegel die Bildung daher auch den »sich entfremdeten Geist«. 4 Folglich zeichnet Hegel die Sophisten als eine ambivalente Erscheinung. Einerseits durchschauen die Sophisten gewisse Probleme der griechischen Lebensform, die ihren Mitbürgern verschlossen bleiben, andererseits verstehen sie ihre eigene Perspektive und die Voraussetzungen ihres Denkens nicht völlig. Unter dieser Ambivalenz leidet auch die sophistische Kritik an der Tugend: Die Sophisten erkennen zwar, dass in der Gleichsetzung der Begründbarkeit einer Handlung mit ihrer Tugendhaftigkeit ein empfindlicher Schwachpunkt der griechischen Kooperation liegt (siehe zu dieser Gleichsetzung den Abschnitt IV.2.2). Als Meister der Rhetorik demonstrieren sie, dass sich die griechischen Praktiken der Begründung durch psychologische Tricks und geschickte Argumentation manipulieren lassen. Mittels ihrer rhetorischen Techniken führen sie die griechische Gleichsetzung von Begründbarkeit und Tugendhaftigkeit ad absurdum. In dieser Hinsicht beweisen sich die Sophisten als klarsichtige Kritiker des griechischen Zwei-Phasen-Modells der Sittlichkeit und des zugehörigen Glaubens an die Objektivität praktischer Normen. Allerdings bleibt ihre Kritik noch unausgegoren, da die Sophisten ihre Angewiesenheit auf das griechische Denken verkennen.
Vgl. Hegel, VGPhil.I S. 427. Siehe z. B. ebd., S. 429: »Protagoras war nicht wie andere Sophisten bloß bildender Lehrer, sondern auch ein tiefer, gründlicher Denker, der über ganz allgemeine Grundbestimmungen reflektiert hat.« 4 Ders., PhG S. 359 ff. 2 3
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Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
Die sophistische Position der Bildung wendet sich schließlich gegen sich selbst und schlägt in einen radikalen Skeptizismus und Wertnihilismus um. Aus diesen Gründen verfehlt die sophistische Kritik die Anforderungen, die Hegel an historische Kritik stellt (siehe Kapitel II.1). In seiner Darstellung der Weltgeschichte sind es daher auch nicht die Sophisten, die für den Untergang der pólis verantwortlich sind, wenngleich ihre Einsichten die griechischen Bürger bereits verunsichern und ihr Vertrauen in die Institutionen der pólis empfindlich schwächen. Für die vorliegende Untersuchung ist die sophistische Kritik trotz ihrer Unzulänglichkeit vor allem aus zwei Gründen interessant: Erstens decken die Sophisten einen fundamentalen Irrtum der Griechen auf, indem sie den Mythos der Objektivität entlarven, auf dem die tugendbasierte Kooperation der pólis beruht. Obwohl ihre Einsicht in das griechische Selbstmissverständnis noch unvollkommen formuliert ist, weist sie schon in die richtige Richtung. Zweitens bilden sie aus diesem Grund in Hegels Vorlesungen eine wichtige Vorstufe zur eigentlichen historischen Kritik am griechischen Prinzip, die von Sokrates geäußert wird. Die Sophisten bereiten mit ihrer Bildung den geistigen Boden für Sokrates’ Tugendkritik vor. Sie sind somit eine notwendige Vorbedingung für die sokratische Position, die Hegel gleichermaßen als Fortentwicklung der sophistischen Bildung wie auch in Abgrenzung dazu versteht (siehe Kapitel VI.3 zum Verhältnis des Sokrates zu den Sophisten). In den nächsten Abschnitten dieses Kapitels skizziere ich daher Hegels Auffassung der griechischen Sophisten und ihrer Kritik an der Tugend als Kooperationsprinzip. Hierbei gehe ich folgendermaßen vor: Zuerst widme ich mich in Abschnitt V.1.2 Hegels Beschreibung der Sophisten als Vertreter der Bildung. Mit diesem Prädikat verbindet Hegel zunächst einen Erkenntnisfortschritt: Er lobt die sophistische Bildung als geistige Errungenschaft, die Selbstmissverständnisse des »gemeinen Verstandes« und Irrtümer des »abstrakten Denkens« bereinigt. Davon ausgehend untersuche ich in Abschnitt V.1.3, wie Hegel die Ambivalenz der sophistischen Bildung erläutert. Hegel stellt das Verhältnis der Sophisten zur griechischen pólis als eine innere, dialektische Entwicklung dar: Zunächst treten die Sophisten als notwendige Stützen der griechischen Gemeinschaft auf. Ohne die sophistische Bildung und ihre praktische Anwendung in der Rhetorik – Hegel spricht von der Technik der »Beredsamkeit« – ist die griechische Kooperation auf der Grundlage von Tugendnormen anschei263 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
nend nicht möglich. Erst die Beherrschung der Technik der Beredsamkeit erlaubt den Griechen den Perspektivenwechsel und die überzeugende Argumentation, die für gelungene Begründungen in der demokratischen Volksversammlung erforderlich sind. Die Sophisten sind daher keine zufällige Erscheinung, sie stoßen nicht »von außen« zur griechischen pólis hinzu, sondern ihre Bildung und Beredsamkeit sind im griechischen Geist angelegt. Im nächsten Schritt richtet sich die sophistische Bildung jedoch gegen die griechische Sittlichkeit. Die Beredsamkeit, die ursprünglich als eine Vermittlungstechnik fungiert, um die Tugendhaftigkeit einer Handlung in Begründungen sichtbar zu machen, setzt sich selbst an die Stelle der Tugend. Hegels Sophisten beweisen durch ihre rhetorischen Kunststücke, dass in den Volksversammlungen nicht der Tugendhafte, sondern der bessere Redner die Oberhand gewinnt. Die griechische Korrekturpraxis, die einen objektiven Standard verbindlicher Normen etablieren soll, wird durch die Lehren der Sophisten zur Farce. Auf diese Weise gerät die sophistische Bildung zur Kritik des griechischen Verständnisses von objektiver Normativität. Abschließend gehe ich in Abschnitt V.1.4 auf den dritten Schritt der dialektischen Bewegung der Bildung ein und untersuche die Gründe, weshalb sich laut Hegel die sophistische Bildung letztlich gegen sich selbst richtet. Hegel zufolge sind die Sophisten radikale Begründungsskeptiker. Für sie haben Argumente keine inhaltlichsachliche Bedeutung, sondern besitzen lediglich empirisch-psychologische Überzeugungskraft. Eine solche Position muss sich notwendigerweise selbst untergraben. Daraus folgt aber, dass die sophistische Kritik keine historische Kritik im Sinn der hegelschen Geschichtsphilosophie sein kann. Die Kritik der Sophisten kann das griechische Prinzip nicht aushebeln, da sie in sich zusammenfällt.
V.1.2 Die Sophisten als Vertreter der Bildung In der Philosophie- und Ideengeschichte herrschen zwei gegensätzliche Ansichten zu den griechischen Sophisten vor: Die Anhänger der ersten Ansicht betrachten die Sophisten als eine Clique wortgewandter Betrüger und antiker Machiavellisten. Wie einflussreich diese erste Meinung vor allem im deutschsprachigen Raum ist, zeigt sich am negativen Beiklang, der den Worten »Sophist«, »Sophisterei« und
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Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
»Sophismus« anhaftet. 5 Hegel macht unter anderem Platons Dialoge für die abschätzige Bewertung der Sophisten verantwortlich: Sophisterei ist ein übelberüchtigter Ausdruck, und zwar besonders durch den Gegensatz gegen Sokrates und Platon sind die Sophisten in den schlimmen Ruf gekommen. Es bedeutet dieses Wort gewöhnlich, daß willkürlicherweise durch falsche Gründe entweder irgendein Wahres widerlegt, schwankend gemacht oder etwas Falsches plausibel, wahrscheinlich gemacht wird. 6
In Platons Dialog Sophistes beispielsweise charakterisieren die Gesprächspartner den Sophisten als einen »Künstler im Streitgespräch«, der zu jedem beliebigen Thema den trügerischen Anschein von Sachkenntnis erwecken kann. 7 In anderen Dialogen lässt Platon Sophisten direkt auftreten und entlarvt sie durch ihre Redebeiträge als skrupellose Demagogen (Gorgias, Polos) und Immoralisten (Kallikles, Thrasymachos). Vermutlich sind die historischen Sophisten aber nicht nur ein Opfer Platons, sondern haben selbst zur ihrem Ruf beigetragen. So rühmt sich etwa Protagoras, er könne für jede beliebige Behauptung argumentieren und die in Wahrheit schwächere Position als die überzeugendere darstellen (»τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν«). 8 Gemäß der ersten Ansicht stehen die Sophisten also für bloße Rhetorik und Manipulation. Die zweite Ansicht vertritt hingegen ein wohlwollenderes Bild der Sophisten. Die Anhänger dieser Ansicht sehen in den Sophisten antike Vorläufer der Aufklärung, denen das Verdienst zukomme, traditionelle Selbstverständlichkeiten und religiöse Dogmen zu hinterfragen. Gemäß der zweiten Ansicht forderten die Sophisten Begründungen ein, wo ihre Zeitgenossen blind Bräuchen und Denkgewohnheiten folgten. Mit den Sophisten beginne demnach das Zeitalter der Rationalität. Der schlechte Leumund der Sophisten ist gemäß der zweiten Ansicht vor allem eine Reaktion der alten Eliten, die unter Rechtfertigungsdruck gerieten und ihre Lebensweise angegriffen fühlten. Einige Hegel-Interpreten schreiben Hegel diese zweite Ansicht zu: Demnach seien die Sophisten in Hegels WeltDas Englische scheint dagegen weniger voreingenommen gegenüber den Sophisten zu sein. So ist zwar das Wort »sophistry« ähnlich wie das deutsche »Sophisterei« negativ besetzt, dagegen besitzt »sophisticated« eine positive Bedeutung. 6 Hegel, VGPhil.I S. 408. 7 Vgl. Platon, Sophistes 232b-235a. 8 Nach Aristoteles, Rhetorik II.24, 1402a23–25. 5
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V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
geschichte die ersten gewesen, welche die Griechen aus ihrem dogmatischen Schlummer weckten und beispielsweise die Gültigkeit der vermeintlich göttlichen Gesetze anzweifelten (zu dieser Lesart siehe Kapitel II.3). Für diese Interpretation scheint zu sprechen, dass Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Epoche der Sophisten mehrfach mit der neuzeitlichen Aufklärung vergleicht. 9 Betrachten wir allerdings Hegels Aussagen im Kontext seiner Vorlesungen genauer, wird deutlich, dass er beide Ansichten zu den Sophisten ablehnt. Hegel hält sowohl die abschätzige wie auch die heroisierende Darstellung der Sophisten für einseitige Karikaturen, welche die Ambivalenz der historischen Sophisten verfehlen. Diese Ambivalenz der Sophisten drückt Hegel aus, indem er sie die antiken Vertreter der Bildung nennt: Da die Stellung, die die Sophisten in Griechenland einnahmen, war, ihrem Volke eine höhere Bildung überhaupt gegeben zu haben, wodurch sie sich zwar ein großes Verdienst um Griechenland erworben, so trifft sie doch eben der Vorwurf, der überhaupt die Bildung trifft. 10
Wie schon in der Phänomenologie des Geistes bezeichnet Hegel auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit dem Terminus »Bildung« ein Zwischenstadium des Geistes: Mit der Stufe der Bildung hat der Geist wichtige Fortschritte auf dem Weg der Selbsterkenntnis erzielt, ist aber in seinem Verständnis noch nicht zur vollen Reife gelangt. Der Geist spürt einen Zuwachs an Kraft, bleibt aber noch in Selbstmissverständnissen gefangen und kann seine neugewonnenen Fähigkeiten nicht kontrollieren. Für das Stadium der Bildung sind daher einseitige Radikalität und Selbstüberschätzung typisch. Bildung bedeutet für Hegel also eine zweischneidige Errungenschaft, die eine befreiende und zugleich zerstörerische Wirkung freisetzt. Die erste und die zweite Ansicht zu den Sophisten greifen jeweils nur einen Aspekt der Zweischneidigkeit der Bildung auf. Sie fokussieren entweder auf die zerstörerische Kraft oder auf den geistigen Fortschritt der Bildung und scheitern daran, beide Aspekte zusammenzudenken. Hegel hält jedoch der zweiten, einseitig heroisierenden Ansicht zugute, dass sie immerhin nicht einfach die landläufige Verurteilung der Sophisten übernimmt und stattdessen ihre 9 10
Hegel, VGPhil.I S. 410 und S. 422. Ebd., S. 420.
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Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
historischen Leistungen anerkennt. Der schlechte Ruf, der den Sophisten anhängt, ist so stark in den meisten Köpfen verhaftet, dass es didaktisch sinnvoll sein kann, ihre positiven Aspekte überzubetonen, um das Gesamtbild geradezurücken. Hegel schildert daher in seinen Vorlesungen die Sophisten und die sophistische Bildung zunächst in leuchtenden Farben. Der erste Schritt seiner Erläuterungen der dialektischen Bewegung der Bildung besteht in einer – scheinbar vollständigen – Rehabilitation der Sophisten von ihrem Ruf als betrügerische Rhetoriker. 11 In dieser ersten Hinsicht treten die Sophisten als wandernde Lehrer der Philosophie und Wissenschaften auf, die von Stadt zu Stadt ziehen, die Jugend unterrichten und so zu einer Verbreitung der Bildung überhaupt erst beitragen: Die Sophisten sind die Lehrer Griechenlands, durch welche die Bildung überhaupt in Griechenland zur Existenz kam. Sie sind an die Stelle der Dichter und Rhapsoden getreten. […] Die Sophisten haben Unterricht in der Weisheit, den Wissenschaften überhaupt, Musik, Mathematik usf. erteilt; das war ihre erste Bestimmung. […] Sie haben wie ein eigener Stand, das Lehren als Geschäft, Gewerbe betrieben, statt der Schulen; sie sind in den Städten herumgereist, die Jugend hat sich ihnen angeschlossen und ist von ihnen gebildet worden. 12
Hegel hebt besonders hervor, dass die Bildung der Sophisten im Gegensatz zu bloßer Gelehrsamkeit nicht auf kleinteilige Faktenhuberei zielt, sondern in die philosophische Tiefe geht: Die Sophisten sind gerade das Gegenteil von unserer Gelehrsamkeit, welche nur auf Kenntnisse geht und aufsucht, was ist und was gewesen ist, – eine Masse empirischen Stoffs, wo die Entdeckung einer neuen Gestalt, eines neuen Wurms oder sonstigen Ungeziefers und Geschmeißes für ein großes Glück gehalten wird. Unsere gelehrten Professoren sind insofern viel unschuldiger als die Sophisten; um diese Unschuld gibt aber die Philosophie nichts. 13
Hegel adelt die Sophisten sogar mit der Bezeichnung, sie seien »spekulative Philosophen«. 14 Demnach stellen die Sophisten ein wichtiges Moment in der Selbsterkenntnis des Geistes dar. Um die geistige Errungenschaft der sophistischen Bildung zu charakterisieren, nutzt Hegel insbesondere Metaphern der Bewegung: 11 12 13 14
Vgl. auch Poulakos (1990). Hegel, VGPhil.I S. 410. Ebd., S. 406 f. Ebd., S. 412.
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V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
Mit den Sophisten hat das Reflektieren über das Vorhandene und das Räsonieren seinen Anfang genommen. Eben diese Betriebsamkeit und Tätigkeit, die wir bei den Griechen im praktischen Leben und in der Kunstausübung sahen, zeigte sich bei ihnen in dem Hin- und Hergehen und Wenden in den Vorstellungen, so daß, wie die sinnlichen Dinge von der menschlichen Tätigkeit verändert, verarbeitet, verkehrt werden, ebenso der Inhalt des Geistes, das Gemeinte, das Gewußte hin und her bewegt, Objekt der Beschäftigung und diese Beschäftigung ein Interesse für sich wird. Die Bewegung des Gedankens und das innerliche Ergehen darin, dies interesselose Spiel wird nun selbst zum Interesse. Die gebildeten Sophisten, nicht Gelehrte oder wissenschaftliche Männer, sondern Meister der Gedankenwendungen, setzten die Griechen in Erstaunen. 15
Die Reflexion der Sophisten besteht also in einem »Hin- und Hergehen und Wenden in den Vorstellungen«, ein Verändern, Verarbeiten, Verkehren und Bewegen der »Vorstellungen« und »Gedanken«. Wenig später nennt Hegel die sophistische Denkweise auch eine geistige »Gymnastik« 16. Mit der Metaphorik der Bewegung weist Hegel zum einen auf die besondere geistige Regsamkeit und Wendigkeit der Sophisten hin, zum anderen verdeutlicht er, dass die Denkweise der Sophisten keine bloß kontemplative Betrachtung der Welt ist, wie es vielleicht noch bei den Naturphilosophen der Fall war. Vielmehr beziehen sich die Sophisten auf den »Inhalt des Geistes, das Gemeinte, das Gewußte« und gestalten dieses Geistige um. Das sophistische Denken verändert seinen Gegenstand. Ausgangspunkt – und Opfer – der sophistischen »Gymnastik« sind laut Hegel die sittlichen Überzeugungen der sogenannten »gemeinen Vorstellung«, die »ohne Bildung des Gedankens und Wissenschaft« ist, also die landläufigen, unreflektierten sittlichen Meinungen. Für die gemeine Vorstellung sei charakteristisch, »daß ihr ihre Bestimmtheiten als solche für an und für sich seiende Wesen und eine Menge Lebensregeln, Erfahrungssätze, Grundsätze usf. als absolut feste Wahrheiten gelten.« 17 Der »gemeine Verstand« neigt also in der Selbstkommentierung seiner sittlichen Überzeugungen zum Schwarz-Weiß-Denken, er bevorzugt klare, eindeutige Urteile und Regeln, die scheinbar unumstößlich gelten, und klammert sich an vermeintlich »absolut feste Wahrheiten«. Die Bildung der Sophisten hingegen erlaubt ihnen, die falsche Sicherheit des »gemeinen Verstandes« zu entlarven. Sie durch15 16 17
Hegel, VPhGes S. 327. Ebd., S. 328. Ders., VGPhil.I S. 408.
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Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
schauen, dass der »gemeine Verstand« sich in seinem Handeln selbst nicht mit der gleichen Absolutheit an die Lebensregeln und Grundsätze hält, mit der er sie in seinen Selbstbeschreibungen behauptet. Der »gemeine Verstand« handelt also klüger, als er redet, wie Hegel spitzbübisch bemerkt. 18 Die Sophisten erkennen, dass die vorgeblich eindeutigen Urteile und unumstößlichen Gesetze des gemeinen Verstandes ein Ergebnis unzulässiger Abstraktion sind. Der Ungebildete sieht die Welt »abstrakt«, das heißt, dass seine Urteile, Verhaltensregeln und begrifflichen Definitionen an bestimmte Kontexte gebunden sind und somit eine eingeschränkte Geltung besitzen – ohne dass ihm diese Beschränktheit bewusst ist. 19 Die Bildung hingegen begreift die Provinzialität des eigenen Standpunkts. Dies erlaubt es ihr, einen Sachverhalt aus einer Vielzahl von Hinsichten zu betrachten: Denn Bildung nennen wir eben den in der Wirklichkeit angewandten Begriff, insofern er nicht rein in seiner Abstraktion erscheint, sondern in Einheit mit dem mannigfaltigen Inhalt alles Vorstellens. In der Bildung ist der Begriff allerdings das Herrschende und Bewegende, indem das Bestimmte in seiner Grenze, in seinem Übergehen in Anderes erkannt wird. 20
Nicht allen Zeitgenossen behagt der geistige Fortschritt der Bildung. Hegel schildert, wie sich der »gemeine Verstand« durch die intellektuelle Überlegenheit der Sophisten bedroht fühlt und mit »Hass und Schimpf« auf die Erschütterung seiner liebgewonnenen Glaubenssätze reagiert. 21 Solche Abwehrreaktionen des »gemeinen Verstandes« stehen allerdings keinesfalls stellvertretend für das griechische BürEbd.: »Der gemeine Verstand ist in seinem Handeln also besser, als er denkt. Sein handelndes Wesen ist der ganze Geist, aber als Geist ist er sich seiner nicht bewußt, sondern was er sich bewußt wird, sind solche Gesetze, Regeln, allgemeine Sätze, die ihm im Bewußtsein für wahr gelten; und im Handeln widerlegt er selbst die Borniertheit seines Verstandes.« 19 Vgl. hierzu Hegels aufschlussreiche Gegenüberstellung des ungebildeten, abstrakten Verstandes und des Standpunkts der Bildung in seinem Aufsatz »Wer denkt abstrakt?« von 1807. 20 Hegel, VGPhil.I S. 409. 21 Ebd., S. 408: »Wenn der Begriff sich gegen diesen Reichtum, den es [das gemeine Bewusstsein, MP] an Wahrheit zu besitzen glaubt und es die Gefahr für seine Wahrheit wittert (denn das Bewußtsein weiß, daß es nur insofern ist, als es Wahrheit hat) und seine festen Wesenheiten ihm verwirrt werden, so wird es aufgebracht; und der Begriff in dieser seiner Beziehung (Realisierung), daß er sich an die gemeinen Wahrheiten macht, zieht sich Haß und Schimpf zu. Dies ist das allgemeine Geschrei gegen die Sophisterei, ein Geschrei des gesunden Menschenverstandes, der sich nicht anders zu helfen weiß.« 18
269 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
gertum als solches. Die Mehrheit der Vollbürger nimmt offenbar das Angebot der Sophisten dankbar an, da sie erkennen, welche Vorteile ihnen der sophistische Unterricht bietet. Die sophistische Bildung fällt in Griechenland auf fruchtbaren Boden, weil sie zunächst der pólis-Sittlichkeit nicht feindlich gegenüber steht, sondern sogar unmittelbar die griechische Demokratie befördert. Die demokratischen Institutionen verlangen nach gebildeten Bürgern. Erst im nächsten Schritt der dialektischen Bewegung schlägt die Bildung in eine Kritik der sittlichen Institutionen der pólis um. Im folgenden Abschnitt werde ich dieses besonderes Verhältnis der Bildung zur griechischen Sittlichkeit bei Hegel skizzieren.
V.1.3 Beredsamkeit und Begründungsskeptizismus Hegel beschreibt in seinen Vorlesungen eine Entwicklung des Verhältnisses der sophistischen Bildung zur griechischen Sittlichkeit, die sich in drei Schritte unterteilen lässt: Im ersten Schritt tritt die sophistische Bildung als notwendig für das gelungene Leben in der pólis auf, indem sie eine Technik des Perspektivenwechsels und der Orientierung anbietet. Insbesondere für die griechische Praxis der gegenseitigen Korrektur erscheinen die rhetorischen Techniken der Sophisten unabdingbar. Im nächsten Entwicklungsschritt schlägt die förderliche Wirkung der sophistischen Bildung allerdings um in eine Kritik eben dieser Praktiken und Institutionen der objektiven Sittlichkeit. Die sophistische Bildung führt den pólis-Bürgern vor, dass der hohe Stellenwert, den Argumentation und Begründung in der griechischen Demokratie genießen, zugleich auch eine Schwachstelle ihrer Kooperation bedeutet. Vor allem untergräbt die sophistische Kritik die griechische Gleichsetzung von Begründbarkeit und Tugendhaftigkeit einer Handlung, auf der die griechische Korrekturpraxis beruht (siehe Abschnitt IV.2.2). Mit ihren rhetorischen Kunstgriffen demonstrieren die Sophisten, dass sich jede beliebige Behauptung begründen lässt. Auf diese Weise stellen sie nicht nur die Manipulierbarkeit der Volksversammlung unter Beweis, sondern attackieren das griechische Verständnis objektiver Normen überhaupt. Schließlich wendet sich im dritten Entwicklungsschritt die sophistische Kritik gegen sich selbst. Zu Ende gedacht, führt die sophistische Kritik in einen Begründungsskeptizismus, der Gründen und Argumenten nur noch einen bloß rhetorischen, psychologischen 270 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
Wert zuspricht. Ein solcher radikaler Skeptizismus stellt die Möglichkeit vernünftigen Überlegens überhaupt in Frage und lässt sich daher nicht als ernsthafte philosophische Position aufrecht halten. Insofern ist es nicht überraschend, dass die Sophisten den griechischen Glauben an die Objektivität der Tugend zwar erschüttern, aber nicht widerlegen können. In diesem Abschnitt stelle ich die ersten beiden Schritte des Verhältnisses der Bildung zur griechischen Sittlichkeit vor und zeichne ihren Umschlag von der Notwendigkeit zur Kritik nach. Im nächsten Abschnitt V.1.4 gehe ich auf den dritten Schritt ein, in dem sich die sophistische Bildung gegen sich selbst richtet und ihre Überzeugungskraft einbüßt. Im ersten Schritt sieht Hegel die sophistische Bildung eng mit der griechischen Demokratie verzahnt: Der pólis-Bürger muss gebildet sein, um erfolgreich vor seinen Mitbürgern in der Volksversammlung zu sprechen. Die Sophisten erkennen dieses Bedürfnis der Bürger, das mit der neuen demokratischen Ordnung entsteht, und stoßen in diese Marktlücke vor, indem sie Unterricht in den nötigen rhetorischen Fähigkeiten anbieten. Als Lehrer der Bildung machen sich die Sophisten für das aufstrebende Bürgertum unverzichtbar. Auf diese Weise profitiert die sophistische Bewegung von der fortschreitenden Demokratisierung der griechischen Stadtstaaten. Der Einfluss der Sophisten in Griechenland nimmt umso mehr zu, je wichtiger die Volksversammlung für das politische Leben wird: In der Demokratie ist es das besondere Bedürfnis, vor dem Volke zu sprechen, ihm etwas vorstellig zu machen, und dazu gehört, daß ihm der Gesichtspunkt, den es als wesentlich ansehen soll, gehörig vor die Augen geführt werde. Hier ist die Bildung des Geistes notwendig, und diese Gymnastik haben die Griechen sich bei ihren Sophisten erworben. Es wurde aber nun diese Gedankenbildung das Mittel, seine Absichten und Interessen bei dem Volke durchzusetzen; der geübte Sophist wußte den Gegenstand nach dieser oder jener Seite hin zu wenden, und so war den Leidenschaften Tür und Tor geöffnet. 22
Die praktisch-politische Anwendung der sophistischen Bildung nennt Hegel »Beredsamkeit«. Bei dieser Technik der Beredsamkeit handelt es sich um mehr als bloße Redekunst im Sinne von Stilistik oder rhetorischer Ornamentik. Die sophistische Beredsamkeit ist stattdessen eine Denkweise, die unmittelbar auf der Bildung beruht:
22
Hegel, VPhGes S. 328.
271 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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So sind die Sophisten besonders Lehrer der Beredsamkeit gewesen. […] Zur Beredsamkeit gehört aber besonders das: an einer Sache die vielfachen Gesichtspunkte herauszuheben und die geltend zu machen, die mit dem im Zusammenhang sind, was mir als das Nützlichste erscheint. Solche konkreten Fälle haben viele Seiten; diese unterschiedenen Gesichtspunkte aber zu fassen, dazu gehört ein gebildeter Mann; und das ist die Beredsamkeit, diese hervorzuheben, die anderen dagegen in den Schatten zu stellen. 23
In diesem Zitat beschreibt Hegel zwei Elemente der sophistischen Beredsamkeit: erstens das Aufzeigen der »vielfachen Gesichtspunkte« eines Themas und zweitens das Herausgreifen und Geltend-Machen einiger dieser Gesichtspunkte. Das erste Element der Beredsamkeit ist nichts anderes als eine Anwendung der Reflexionsmethode der Bildung: Der Gebildete erkennt, dass eine Situation selten eindeutig ist und sich in vielen unterschiedlichen Hinsichten darstellen lässt. Die Bildung ist die Einsicht in die Mehrdeutigkeit des Urteilens, Handelns und Lebens. Nur der Ungebildete hält seine Grundsätze und Erfahrungsregeln für »absolut feste Wahrheiten« 24. Eben diese Fähigkeit der Bildung, eine Situation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, lässt die Bildung zur notwendigen Voraussetzung der griechischen Demokratien werden und macht das erste Element der Beredsamkeit aus: Der Redner kann seine Meinung in der Volksversammlung nur dann erfolgreich vertreten, wenn ihm bewusst ist, welche anderen Sichtweisen es zur jeweiligen Sachfrage gibt. Er muss in der Lage sein, die verschiedenen Perspektiven seiner Mitbürger einzunehmen. Dies gilt für alle Arten von Versammlungen, in denen gemeinsam über einen Entschluss oder eine Bewertung beraten wird. So muss beispielsweise ein Angeklagter vor Gericht die Perspektiven des Anklägers und der Richter einnehmen können. Nur wenn er seinen Fall mit ihren Augen betrachtet, kann er ihnen in seiner Verteidigungsrede den eigenen Standpunkt verständlich machen. Hierfür muss der Betroffene zunächst einmal überhaupt einsehen, dass es in einem nichttrivialen Sinn mehrere Perspektiven auf seine Handlungssituation gibt, die sich möglicherweise in wichtigen Punkten unterscheiden. Ein Redner, der Gehör finden will, muss also erkennen, dass sich ein Geschehen auf verschiedene, gegebenenfalls unvereinbare Weisen auffassen lässt. Er muss sich der grundlegenden Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen bewusst sein. Dieses Wis23 24
Ders., VGPhil.I S. 412. Ebd., S. 408.
272 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
sen um die Mehrdeutigkeit einer Situation ist ein Ergebnis der Bildung. Somit dient die Bildung als erstes Element der Beredsamkeit, indem sie die Voraussetzung für einen Perspektivenwechsel bereitstellt, ohne den ein gelungener Austausch in der demokratischen Versammlung nicht möglich ist. Bei dieser Fähigkeit zum Perspektivenwechsel darf aber nicht stehengeblieben werden. Es reicht nicht aus, beliebig viele Perspektiven aufzuzeigen und die daraus resultierende Vielschichtigkeit der Probleme anzuerkennen. Damit ein gemeinsamer Entschluss oder ein gemeinsames Urteil gefällt werden kann, müssen die verschiedenen Hinsichten geordnet und nach ihrer Relevanz beurteilt werden. An dieser Stelle wird das zweite Element der Beredsamkeit bedeutsam, das Hegel im obigen Zitat anspricht, nämlich die Fähigkeit, aus der Menge der Gesichtspunkte einige herauszugreifen und ihnen zur Geltung zu verhelfen. Diese Fähigkeit erlaubt, bestimmte Hinsichten einer Situation als beurteilungsrelevant auszuweisen. Nur so kann beispielsweise ein Angeklagter die Richter von seinem Standpunkt überzeugen. In seiner Rede präsentiert er den Richtern eine bestimmte Wahrnehmung seiner Situation und empfiehlt ihnen, sich bei der Beurteilung des Falls nach eben diesen Gesichtspunkten zu richten. Aufgrund dieses zweiten Elements dient die Beredsamkeit als eine Technik der Orientierung. Sie ergänzt die Bildung, indem sie aus der Fülle von Beschreibungen und Beurteilungen, die der Gebildete in einer Situation erkennt, einige herausfiltert. Ohne die Orientierungstechnik der Beredsamkeit würden die gebildeten pólis-Bürger angesichts der Komplexität und Bodenlosigkeit ihrer Probleme in Hamletscher Tatenlosigkeit verharren. Beredsamkeit und Bildung sind daher unabdingbare Bestandteile der griechischen Demokratien. Für den Einzelnen sind sie die Voraussetzung der politischen Teilhabe, für die Gemeinschaft zudem die Bedingung einer Einigung in den Volksversammlungen. Somit sind die Sophisten, die diese Fähigkeiten vermitteln, scheinbar Garanten der Einheit der pólis-Gemeinschaft und ihrer sittlichen Ordnung. Den Beginn der griechischen Bildung, das heißt die Einsicht in die Mehrdeutigkeit einer Handlungssituation, verortet Hegel im Übergang von der Archaik zur Klassik. Die Griechen müssen in einem schmerzhaften Lernprozess, den etwa Sophokles in seiner Tragödie König Ödipus spiegelt, einsehen, dass die Binnenperspektive des Handelnden mit seinen Motiven und Absichten unverzichtbar für die angemessene Bewertung einer Handlung ist (siehe hierzu Abschnitt IV.2.2). Die Einsicht in den Kontrast zwischen Binnenperspek273 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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tive und Betrachterperspektive ist eine erste Einsicht in die Mehrdeutigkeit des Handlungsgeschehens. Diese unterschiedlichen Perspektiven mit ihren jeweils verschiedenen Bewertungen stehen zunächst unversöhnt nebeneinander. Ein angemessenes Urteil ist jedoch nur möglich, wenn zwischen diesen Perspektiven auf die richtige Weise vermittelt wird, ohne einerseits in einen radikalen Subjektivismus zu verfallen, der nur die Autorität der Binnenperspektive anerkennt, oder anderseits nach der Art der archaischen Griechen allein die Betrachterperspektive zu berücksichtigen, wie uns Sophokles’ Drama vorführt. Der griechische Ansatz für eine solche Vermittlung beruht auf dem Glauben, dass sich durch Begründungen die für eine angemessene Beurteilung relevanten Aspekte der Handlung in einer Weise aufzeigen lassen, dass sie vom handelnden Subjekt und von unbeteiligten Betrachtern gleichermaßen akzeptiert werden können. Somit erlaubt die Bildung die Einsicht in die Existenz verschiedener Perspektiven und in die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen diesen Perspektiven, während die Beredsamkeit den griechischen Versuch darstellt, diese Vermittlung zu leisten. In ebendieser Eigenschaft der Beredsamkeit, dass sie als effektive Vermittlungstechnik fungiert, liegt aber auch der Grund für den dialektischen Umschlag der Bildung, die sich im zweiten Schritt ihrer Entwicklung gegen die griechische Sittlichkeit wendet. Ihr Angriff richtet sich gegen die praktische Gleichsetzung der Tugendhaftigkeit einer Handlung mit ihrer Begründbarkeit, welche die Grundlage der griechischen Korrekturpraxis bildet (siehe Abschnitt IV.2.2). Die Sophisten erkennen, dass aus der Einsicht in die Notwendigkeit eines Vermittlungsschritts zwischen unterschiedlichen Perspektiven folgt, dass Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit verschieden sind. Dasjenige, das vermittelt, ist nicht identisch mit dem, das vermittelt wird. Die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit kann daher keine analytische Identifikation der Fähigkeiten der Tugend und des Begründens sein. Folglich sehen die Sophisten, dass die Beredsamkeit als Technik der Vermittlung logisch und praktisch von der Tugend verschieden ist. Die Tugendhaftigkeit einer Handlung kann sich nicht selbst zeigen, sie bedarf also der Hilfe der Beredsamkeit. Dies heißt aber nichts anderes, als dass Beredsamkeit und Tugendhaftigkeit verschiedene Kompetenzen sind. Die griechische Gleichsetzung entpuppt sich daher als bloße Forderung: Der Tugendhafte muss, um an der gemeinsamen Korrekturpraxis erfolgreich teilnehmen zu können, auch die Technik der Beredsamkeit be274 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
herrschen. Da die beiden Fähigkeiten jedoch verschieden sind, kann ein Redner in der Beredsamkeit begabt sein, ohne dass er notwendigerweise die Tugend besitzt. Folglich kann eine Handlung durch die Beredsamkeit als tugendhaft dargestellt werden, ohne dass sie zwangsläufig tugendhaft ist. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines Vermittlungsschritts führt zur Entkoppelung der Tugendhaftigkeit einer Handlung von ihrer Begründung. In der Folge dieser Entkoppelung lernen die Sophisten, dass es bei einer gelungenen Begründung lediglich auf den Anschein von Tugendhaftigkeit ankommt, nicht aber auf die Tugendhaftigkeit selbst. 25 Auf diese Weise untergräbt das sophistische Handwerk die Kooperation in der pólis, obwohl es sich zugleich als notwendige Voraussetzung der griechischen Gemeinschaft präsentiert. Die Sophisten beherrschen die Beredsamkeit in einer Vollendung, so dass sie an keine sachhaltigen Beschränkungen gebunden sind. Ihnen gelingt es, einen Sachverhalt auf jede beliebige Weise darzustellen und ihren Hörern jedes beliebige Urteil überzeugend zu empfehlen. Die Sophisten hatten »das Bewußtsein, daß alles zu beweisen sei«, so zitiert Hegel Platons Gorgias: »Die Kunst der Sophisten sei ein größeres Gut als alle Künste; sie könne dem Volke, dem Senat, den Richtern überreden, was sie wolle.« 26 Aus der Beredsamkeit als Technik der Orientierung und Vermittlung wird eine Kunst der Manipulation. Dieser Umschlag geschieht jedoch nicht durch einen Missbrauch der Beredsamkeit, sondern vollzieht sich durch eine Eigendynamik von Bildung und Beredsamkeit selbst, wie Hegel im folgenden Zitat erläutert: Bei solchem Räsonnement kann man bald so weit kommen – wo nicht, so ist es Mangel der Bildung; die Sophisten waren aber sehr gebildet –, zu wissen, daß, wenn es auf Gründe ankommt, man durch Gründe alles beweisen könne, sich für alles Gründe und Gegengründe finden lassen; und das ist als das Verbrechen der Sophisten angesehen worden, daß sie gelehrt haben, alles zu beweisen, was man wolle, für andere oder für sich. Das liegt nicht in der Eigentümlichkeit der Sophisten, sondern des reflektierenden RäsonneDieses Problem der Entkopplung einer praktischen Fähigkeit vom bloßen Anschein diskutiert auch Platon in seinem Dialog Gorgias. Dort lässt er den namensgebenden Sophisten die Erfahrung schildern, dass Patienten ihrem Arzt weniger Glauben schenken als ihm, der in der Rhetorik geschult ist. Die Fachkenntnis des Arztes sei somit einerseits nicht notwendig, um in medizinischen Belangen überzeugend zu reden, andererseits sei sie auch macht- und kraftlos, wenn sie nicht mit der Rhetorik gepaart wird, um ihre Anliegen zu vertreten (vgl. Platon, Gorgias 456a-c). 26 Hegel, VGPhil.I S. 425. 25
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ments. Gründe und Gegengründe, als Besonderes, gelten nicht gegen das Allgemeine, entscheiden nicht gegen den Begriff; man kann für alles Gründe und Gegengründe finden. In der schlechtesten Handlung liegt ein Gesichtspunkt, der an sich wesentlich ist; hebt man diesen heraus, so entschuldigt und verteidigt man die Handlung. In dem Verbrechen der Desertion im Kriege liegt so die Pflicht, sein Leben zu erhalten. So sind in neuerer Zeit die größten Verbrechen, Meuchelmord, Verrat usf., gerechtfertigt worden, weil in der Meinung, Absicht eine Bestimmung lag, die für sich wesentlich war, z. B. die, daß man sich dem Bösen widersetzen, das Gute fördern müsse. Der gebildete Mensch weiß alles unter den Gesichtspunkt des Guten zu bringen, alles gut zu machen, an allem einen wesentlichen Gesichtspunkt geltend zu machen. Es muß einer nicht weit gekommen sein in seiner Bildung, wenn er nicht für das Schlechteste gute Gründe hätte; was in der Welt seit Adam Böses geschehen ist, ist durch gute Gründe gerechtfertigt. 27
Die Sophisten erkennen, dass sich »für alles Gründe und Gegengründe finden« lässt. Das heißt, dass für gute und schlechte Handlungen, Urteile oder Bewertungen gleichermaßen Begründungen konstruiert werden können, welche die entsprechenden Handlungen, Urteile oder Bewertungen als tugendhaft vorstellen. Aus der Einsicht der Bildung in die grundlegende Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen folgern sie, dass auch »in der schlechtesten Handlung« ein Gesichtspunkt liegt, unter dem diese Handlung als gut betrachtet werden kann. Den Sophisten ist es daher möglich, die entsprechende Perspektive herauszugreifen, gemäß der eine bestimmte Handlung als gut erscheint, und in einer vermeintlichen Begründung diese Perspektive als die relevante zu behaupten. Diese Fähigkeit, auch etwas Schlechtes gut darzustellen, ist keine besondere Eigenschaft der Sophisten, wie Hegel betont, sondern folgt direkt aus der Einsicht der Bildung in die Mehrdeutigkeit der Handlungssituation und aus der Beredsamkeit als Vermittlungstechnik, die unabhängig von der Tugend ist. Bildung und Beredsamkeit erlauben den Sophisten, ihre Mitbürger zu manipulieren und sich immer dann den Anschein von Tugendhaftigkeit zu geben, wenn es Lukrativität verspricht. In letzter Konsequenz führt die Entkoppelung der Tugend vom bloßen Anschein der Tugend die antiken Sophisten zu einer skeptizistischen Position: Aus den rhetorischen Erfolgen schließen Hegels Sophisten, dass in einer Diskussion stets der Beredsamere die Oberhand gewinnt. Die Rechtfertigung einer Handlung erfordere Kenntnisse der Psychologie
27
Ebd., S. 424.
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und Rhetorik, aber nicht, dass diese Handlung tatsächlich gerechtfertigt sei: In der Beredsamkeit muß man so Zorn, Leidenschaft der Hörer in Anspruch nehmen, um etwas zustande zu bringen. Sie [die Sophisten, MP] lehrten nun, wie diese Mächte im empirischen Menschen zu bewegen wären; das sittliche feste Gute entscheidet nicht. 28
In den Augen der Sophisten ist die Tugend kraftlos. Begründungen sagen nichts über die Tugendhaftigkeit einer Handlung aus, auch wenn sie dies zu tun vorgeben. Stattdessen seien sie nur Vehikel einer psychologisch geschulten Überzeugungstechnik. Mit diesem Angriff auf den Wert von Begründungen zielen die Sophisten ins Herz der griechischen Kooperation. Die vermeintliche Objektivität von Handlungen, auf der die griechische Vorstellung der Selbstbestimmung beruht, ist hinfällig, wenn Begründungen beliebig konstruiert werden. Die Sophisten zeigen, dass die griechische Korrekturpraxis dysfunktional ist, da beispielsweise vor Gericht nicht der Tugendhaftere, sondern der bessere Redner gewinnt. Somit richtet sich die Korrekturpraxis nicht nach den Tugendnormen, die sie eigentlich durchsetzen soll, sondern ist lediglich eine Arena, in der mit Rhetorik und psychologischer Manipulation der Kampf um die Deutungshoheit ausgefochten wird. Mit ihren rhetorischen Demonstrationen greifen die Sophisten allerdings nicht nur die Berechtigung der griechischen Institutionen einer gegenseitigen Korrektur an, sondern bezweifeln die Existenz der Tugendnormen überhaupt. Die Tugendnormen können schließlich nicht als leeres Sollen über einer pervertierten Begründungs- und Korrekturpraxis schweben. Sie existieren nur durch und in ihrer Verwirklichung in den Praktiken und Institutionen der pólis. Indem die Sophisten beweisen, dass die griechischen Korrekturpraktiken beliebig manipulierbar sind und daher ihren Zweck nicht erfüllen, versuchen sie zu zeigen, dass das Handeln grundsätzlich nicht durch vermeintlich objektive Normen angeleitet wird, sondern lediglich durch »Einzelheit«, »Willkür des Subjekts«, »Lust, Eitelkeit, Ruhm, Ehre, besondere Subjektivität«. 29 Auf diese Weise mündet die sophistische Kritik im dritten Schritt ihrer Entwicklung in einen radikalen Skeptizismus, der die Existenz objektiver Standards grundsätzlich anzweifelt. Für Hegel ist diese Entwicklung der sophistischen 28 29
Ebd., S. 425. Ebd., S. 426.
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Position keine historische Zufälligkeit, sondern im Begriff der Bildung angelegt. Im folgenden Zitat aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie fasst Hegel diese begriffliche Entwicklung von der Bildung als Fähigkeit des differenzierten Urteilens über die Technik der Beredsamkeit bis hin zum Skeptizismus innerhalb weniger Zeilen zusammen: Die Bekanntschaft mit so vielfachen Gesichtspunkten macht aber das, was Sitte war in Griechenland (diese bewußtlos ausgeübte Religion, Pflichten, Gesetze), dadurch wankend, daß dies Feste – die Gesetze, indem sie einen beschränkten Inhalt haben – mit anderem in Kollision kommt; es gilt einmal als das Höchste, Entscheidende, das andere Mal wird es zurückgesetzt. Das gewöhnliche Bewußtsein wird dadurch verwirrt (wir werden dies bei Sokrates selbst ausführlicher sehen): etwas gilt ihm für fest, andere Gesichtspunkte, die auch in ihm sind, werden geltend gemacht, es muß sie gelten lassen; und so gilt das erste nicht mehr oder verliert wenigstens von seiner Absolutheit. So ist a) die Tapferkeit dies, sein Leben daran zu wagen; b) die Pflicht, sein Leben zu erhalten, eine unbedingte. So behauptet Dionysiodor: »Wer einen, der die Wissenschaft nicht besitzt, zum Gebildeten macht, will, daß er nicht mehr bleibe, was er ist. Er will ihn also zugrunde richten; denn dies ist machen, daß er dies nicht ist, was er ist.« Und Euthydemos, als die anderen sagen, er lüge, antwortet: »Wer lügt, sagt, was nicht ist; was nicht ist, kann man nicht sagen; also kann niemand lügen.« Und wiederum Dionysiodor sagt: »Du hast einen Hund, dieser Hund hat Junge, und er ist ihr Vater; also ist dir ein Hund Vater und du der jungen Hunde Bruder.« Solche Konsequenzenmacherei findet sich – in Rezensionen – unzählige Male. Es ist also (wegen dieser Konfusion im gewöhnlichen Bewußtsein) den Sophisten vorgeworfen worden, sie hätten den Leidenschaften, Privatinteressen usf. Vorschub getan. Dies fließt unmittelbar aus der Natur der Bildung. Diese gibt verschiedene Gesichtspunkte an die Hand, und welcher entscheiden soll, ist eben damit allein in das Belieben des Subjekts gestellt, wenn es nicht von festen Grundlagen ausgeht; darin liegt das Gefährliche. Dies findet auch in der heutigen Welt statt, wo es auf die gute Absicht, auf meine Ansicht, Überzeugung ankommen soll, wenn es sich um das Rechte, Wahre einer Tat handelt. Was Staatszweck, die beste Weise der Staatsverwaltung und Staatsverfassung, ist – ohnehin in Demagogen – schwankend. 30
Mit diesem dritten Entwicklungsschritt zum radikalen Tugend- und Begründungsskeptizismus haben sich die Sophisten endgültig von den Stützen der Gesellschaft, als die sie ursprünglich aufgetreten 30
Ebd., S. 426 f.
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sind, zu Feinden der objektiven Sittlichkeit gewandelt. In dieser Hinsicht lag also das Misstrauen des »gemeinen Verstandes« gegen die Sophisten gar nicht so falsch, das ich im vorigen Abschnitt V.1.2 geschildert habe, auch wenn sich dessen Ressentiment natürlich nicht aus einer echten Einsicht in die dialektische Entwicklung der Bildung speist, sondern aus erlittener Kränkung durch die intellektuelle Überlegenheit der Sophisten. Dagegen zeigt sich, dass die einseitig heroisierende Darstellung der Sophisten, die diese als Vertreter einer antiken Aufklärung und Rationalität feiert (siehe ebenfalls Abschnitt V.1.2), sich auf geradezu ironische Weise irrt. Nach dieser Auffassung betrachteten die gewöhnlichen pólis-Bürger die Sophisten als Bedrohung für ihre vermeintlich traditionalistische Lebensweise, weil jene für bisher unreflektierte Verhaltensweisen Begründungen einfordern. In der heroisierenden Darstellung treten die Sophisten also als Vorstreiter der Vernunft auf, während die Bürger im Dogmatismus verharren. Tatsächlich zeigt die oben vorgeführte Lektüre von Hegels Vorlesungen, dass die Fronten umgekehrt besetzt sind: Hegel zufolge sind die griechischen pólis-Bürger unverbrüchliche Optimisten der Vernunft, die an die menschliche Einsichtsfähigkeit und die Tragfähigkeit von Begründungen glauben. Hegels Sophisten hingegen erkennen die Selbstüberschätzung der Vernunft, die mit der griechischen Lebensweise verbunden ist, und nutzen sie kaltblütig für ihren Machtgewinn aus. Ihre Kritik am griechischen Prinzip leidet allerdings darunter, dass sie ebenfalls einseitig und übertrieben vorgebracht wird: Statt die Grenzen der vernünftigen Begründbarkeit von Handlungen aufzuzeigen, halten die Sophisten jedwede Form von Begründungen für sachlich wertlos. Auf diese Weise untergraben sie ihren eigenen Standpunkt, wie ich im folgenden Abschnitt skizzieren werde.
V.1.4 Die Selbstaufhebung der sophistischen Kritik Hegel schildert eindrücklich, welche Erschütterung die Sophisten im Machtgefüge der pólis auslösen. Sie untergraben das Vertrauen der Griechen in ihre Institutionen, indem sie vorführen, dass Volksversammlung und Gerichtshöfe eben keine Orte der verlässlichen Wahrheitsfindung sind, sondern von geschickten Rednern nach Belieben beeinflusst werden können. Die sophistische Kritik an der Lebensform der pólis greift das Fundament der griechischen Kooperation 279 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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an: Sie entlarvt die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit als haltlos und zeigt, dass aus diesem Grund die griechische Praxis der Korrektur ins Leere läuft. In der Folge wird auch die Existenz der Tugend selbst fragwürdig, deren Objektivität die kritisierten Institutionen offenbar nicht gewährleisten. Für die Sophisten ist der Appell an die Tugend nur ein frommes Märchen, um Interessen der eigenen Willkür durchzusetzen. Diese zynische Haltung der Sophisten, kombiniert mit ihrem wachsenden Einfluss, bedroht die Integrität der griechischen Institutionen, zumal sicherlich nicht wenige Bürger sich von ihren Versprechungen auf Machtgewinn durch Rhetorik verlocken ließen. Es läge also durchaus nahe, den Sophisten die Verantwortung für den Verfall der griechischen Sittlichkeit zuzuschreiben. Hegel entscheidet sich allerdings für eine andere Deutung der geschichtlichen Ereignisse. Er räumt in den entsprechenden Texten den Sophisten breiten Raum ein und zollt ihren philosophischen Einsichten ausdrücklich Respekt. Die sophistische Kritik am griechischen Kooperationsprinzip der Tugend hält er jedoch letztlich für zu schwach, um die antiken Griechen zur Aufgabe ihrer Lebensweise und ihres Selbstverständnisses zu bewegen. Die Sophisten verunsichern zwar die Griechen, aber diese Verunsicherung wirkt nicht existenziell. Die sophistische Kritik bleibt bei aller Konsequenz stumpf, sie entfaltet nicht die Radikalität, die sie in ihren Selbstbeschreibungen von sich behauptet. Insbesondere erfüllt sie nicht die Maßstäbe, die Hegel an historische Kritik anlegt (siehe hierzu Kapitel II.1). Die weltgeschichtliche Rolle, die Hegel den Sophisten zubilligt, beschränkt sich somit auf eine propädeutische Aufgabe: Die Sophisten bereiten mit ihrer Bildung den geistigen Boden für die eigentliche historische Kritik vor, wie sie durch Sokrates geäußert wird. Erst Sokrates vollendet das, was die Sophisten nicht erreichen konnten (siehe Teil VI). Hegel erläutert in seinen Vorlesungen zwar nicht ausdrücklich die Unzulänglichkeiten der sophistischen Kritik, er gibt uns jedoch einige Hinweise, um seine Gründe zu rekonstruieren. Ich werde in diesem Abschnitt drei solcher Gründe skizzieren, weshalb die sophistische Kritik nicht den Anforderungen der historischen Kritik genügt. Diese abgrenzende Charakterisierung hilft uns, Hegels Konzept der historischen Kritik inhaltlich näher zu bestimmen. Der erste Grund für das Unvermögen der sophistischen Kritik liegt in ihrem Skeptizismus. Nach Hegels Geschichtsverständnis kann keine skeptizistische Kritik die Rolle historischer Kritik erfüllen, weil historische Kritik sich nicht nur negativ gegen das weltgeschicht280 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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liche Prinzip richtet, aus dem heraus sie entsteht, sondern zugleich positiv das nachfolgende Prinzip zumindest andeutet. Eine historische Kritik weist also über sich hinaus, in ihr muss immer der Keim zum nachfolgenden Prinzip angelegt sein. Nur so kann sie ihren Hörern die Hoffnung vermitteln, dass eine zukünftige Kooperationsform möglich ist, in der die bestehenden Probleme aufgelöst sind. Skeptizistische Kritik leistet dies nicht. Sie hat eine rein zerstörerische Stoßrichtung und eröffnet kein weiteres Kapitel der Geschichte. Der Skeptizismus der Sophisten kann zwar seine griechischen Zeitgenossen verunsichern, aber er hat nicht die Überzeugungskraft, sie zur Aufgabe ihres epochalen Prinzips zu bewegen. Diese Anforderung an historische Kritik erklärt sich aus der Tatsache, dass für die Adressaten der Kritik Beträchtliches auf dem Spiel steht. In der Regel gibt niemand seine eigene Lebensweise und Weltsicht leichtfertig auf. Ein weltgeschichtliches Prinzip – wie beispielsweise das griechische Prinzip der Tugend – ist schließlich das geistige Fundament des gemeinschaftlichen Lebens. Es sondern durchdringt alle sozialen Einrichtungen und ist das Prinzip ihrer Gesamtheit und Einheit. Die griechische Vorstellung der Tugend bestimmt ihr gesamtes Handeln, es prägt ihre Identität und ihre individuelle Auffassung eines gelungenen, selbstbestimmten Lebens. Die Forderung nach einer Veränderung des Kooperationsprinzips lässt sich daher nicht halbherzig umsetzen, sondern verlangt danach, die eigene Lebensform völlig umzugestalten. Eine rein skeptizistische Kritik, wie sie beispielsweise von den Sophisten an der Tugend vorgebracht wird, bietet dem Adressaten jedoch keine echte Alternative an. Somit können sich die griechischen Bürger nicht wirklich auf die sophistische Kritik einlassen – sie können schließlich nicht ihre Kooperation und Gemeinschaft gänzlich aussetzen. Auch wenn sie eine gewisse Berechtigung der sophistischen Kritik erkennen, bleibt den Griechen zunächst keine Wahl, als die Widersprüche und Spannungen im Begriff der Tugend auszuhalten und die Radikalität der sophistischen Kritik herunterzuspielen. Der zweite Grund liegt ebenfalls in der negativen Stoßrichtung der sophistischen Kritik, bezieht sich allerdings auf die Glaubwürdigkeit der Sophisten selbst: Die sophistische Kritik wird auch deshalb entwertet, weil sie kaum authentisch vertreten werden kann. So bezweifelt zwar der sophistische Skeptizismus, dass Begründungen irgendeinen Bezug zur Wahrheit herstellen. Allerdings erhalten die Sophisten gerade deshalb so viel Beachtung und Einfluss in der pólis, weil die griechischen Bürger ihren Reden in der Volksversammlung 281 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Glauben schenken. Sobald jedoch die Mehrheit der Bürger die sophistischen Taschenspielertricks durchschauen würde, verlören sie ihre Überzeugungskraft. Die sophistische Kunst der Beredsamkeit muss also zur Heuchelei neigen: Ihren Hörern gaukelt sie vor, aus Überzeugung mit vernünftiger Begründung zu sprechen. Ihren Schülern hingegen lehrt sie, dass keine Begründung sachlichen Wert besitzt. Die Sophisten sind deshalb Trittbrettfahrer in der pólis und verhalten sich wie alle Trittbrettfahrer – trotz ihrer durchaus ernstgemeinten Kritik – wesentlich affirmativ zum Prinzip, dass sie ausnutzen. In Hegels Darstellung erscheinen die Sophisten als Zwitterwesen, die einerseits den Mythos der Objektivität anprangern, andererseits ihn mit aller Kraft erhalten wollen, um nicht ihren Einfluss zu verlieren. Die sophistische Kritik überzeugt somit ihre Zeitgenossen auch deshalb nicht, weil die Sophisten selbst sie nur halbherzig vertreten. Ein dritter Grund für das Ungenügen der sophistischen Kritik lässt sich schließlich aus der Art und Weise folgern, wie diese Kritik vorgetragen wird: Gemäß Hegels Vorlesungen beweisen die Sophisten die Unzuverlässigkeit von Begründungen vor allem durch praktische Demonstrationen. Sie führen mit inszenierten Reden vor, wie sie ihre Zuhörer von beliebigen Thesen überzeugen können. Solche Darbietungen der rhetorischen Macht sind zwar publikumswirksam, allerdings als Kritik nicht besonders zielgenau. Erstens handelt es sich bei diesen Demonstrationen lediglich um einzelne Beispiele, in denen die Hörer manipuliert werden. Solche isolierten Beispiele beweisen allerdings nicht, dass die griechische Praxis der Begründung als Ganzes gescheitert ist. Hegels Griechen können somit die sophistischen Manipulationen als bloß lokale Phänomene in einer insgesamt robusten Praxis interpretieren. Die Tatsache, dass eine Praxis in einigen Fällen manipulierbar ist, mag zwar beunruhigen, gefährdet aber nicht die Praxis als solche, so wie ein einzelnes gebrochenes Versprechen auch nicht die Praxis des Versprechens insgesamt scheitern lässt. Zweitens ist für die Zuhörer der rhetorischen Kunststückchen nicht zwangsläufig die Radikalität der sophistischen Kritik ersichtlich. Die Sophisten stellen zwar die Tugend als Kooperationsprinzip in Frage, aber die Hörer ihrer Demonstrationen können diese Art der Kritik genauso gut als eine Kritik an der konkreten Umsetzung des Tugendprinzips deuten. Gerade weil die Sophisten in Hegels Darstellung ihre skeptizistischen Überzeugungen nicht als ausdrückliche, philosophisch artikulierte Kritik an der Tugend formulieren, sondern eben nur in Rhetorikvorführungen unter Beweis stellen, ist es den Grie282 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Die sophistische Einsicht in die Manipulierbarkeit der Begründung
chen möglich, die Manipulierbarkeit beispielsweise als einen Mangel der Organisation der Volksversammlung misszuverstehen. Der Äußerung der sophistischen Kritik fehlt die Allgemeinheit und Notwendigkeit, sie ist deshalb nicht als Fundamentalkritik erkennbar. Es mag daher so scheinen, als ließe sich die Gefährlichkeit der sophistischen Beredsamkeit allein durch technische Lösungen eindämmen, die das griechische Prinzip der Tugend unangetastet lassen, etwa durch strengere Erziehungsmaßnahmen der Bürger, eine verbesserte Auswahl der Laienrichter, neue Abstimmungsverfahren oder dergleichen. Einen Beweis für diese Missverständlichkeit der sophistischen Kritik liefern uns Hegel zufolge Aristoteles und Platon: Beide Philosophen verkennen die Radikalität der sophistischen Kritik und deuten ihre rhetorischen Manipulationen als ein Symptom für die Schwäche der konkreten Umsetzung des Prinzips der Tugend in den griechischen Demokratien. Beide suchen daher nicht nach einem Fehler in der Tugend selbst, sondern nach technischen Lösungen für eine bessere institutionelle Umsetzung des griechischen Prinzips. Aristoteles diskutiert beispielsweise in seiner Politik die Möglichkeit, mittels einer Mischverfassung die Gefahren demagogischer Manipulation zu begrenzen. 31 Zusätzlich klärt er in seinem Traktat De Sophisticis Elenchis über gängige sophistische Fehlschlüsse auf, in der Hoffnung, seine Leser besser vor rhetorischem Betrug zu schützen und eine robuste Begründungspraxis zu schaffen. Platon schließlich konstruiert im Idealstaat seiner Politeia die tugendbasierte Gemeinschaft von Grund auf neu, um so das Prinzip der Tugend in seiner reinsten Form zu verwirklichen. Hegel erläutert diesen Ansatz Platons wie folgt: Im Verlaufe der folgenden Abhandlung habe ich bemerkt, daß selbst die Platonische Republik, welche als das Sprichwort eines leeren Ideals gilt, wesentlich nichts aufgefaßt hat als die Natur der griechischen Sittlichkeit, und daß dann im Bewußtsein des in sie einbrechenden tieferen Prinzips, das an ihr unmittelbar nur als eine noch unbefriedigte Sehnsucht und damit nur als Verderben erscheinen konnte, Platon aus eben der Sehnsucht die Hilfe dagegen hat suchen müssen, aber sie, die aus der Höhe kommen mußte, zunächst nur in einer äußeren besonderen Form jener Sittlichkeit suchen konnte, durch welche er jenes Verderben zu gewältigen sich ausdachte und
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Aristoteles, Pol. IV.8–9.
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wodurch er ihren tieferen Trieb, die freie unendliche Persönlichkeit, gerade am tiefsten verletzte. 32
Platons Idealstaat ist demnach nur scheinbar radikal. Tatsächlich hält Platon mit aller Kraft am Prinzip der Tugend fest und reagiert auf die sophistische Kritik mit einem rein technischen Verbesserungsvorschlag. Er bewegt sich also nur auf der Ebene der »äußeren besonderen Form« der Sittlichkeit und sieht nicht, dass das Problem beim Prinzip selbst liegt. In der historischen Rückschau können wir sehen, dass Platon und Aristoteles – und mit ihnen wohl die Mehrheit ihrer Zeitgenossen – die sophistische Kritik verkennen. Sie begreifen nicht die fundamentale Dimension dieser Kritik, sondern halten sie lediglich für ein Ärgernis, das sich beseitigen ließe, wenn das Prinzip der Tugend noch konsequenter verwirklicht würde. Die Sophisten selbst sind nicht unschuldig an dieser Reaktion. Die Art und Weise, in der sie ihre Kritik vorbringen, provoziert geradezu das geschilderte Missverständnis. Vermutlich sind es das Eigeninteresse der Sophisten, ihr Ehrgeiz und ihr Wunsch nach finanziellem Erfolg, die sie bewusst oder unbewusst die Radikalität ihrer Kritik am Prinzip der Tugend kaschieren lassen. Als Trittbrettfahrer können sie es sich in der pólis recht gut gehen lassen und sich für ihre Redekunst fürstlich entlohnen lassen. Mit einem wirklichen, prinzipiellen Umsturz der Verhältnisse würden sie sich ins eigene Fleisch schneiden. Erst Sokrates, der ohne Rücksicht auf das eigene Wohl die sophistischen Einsichten aufgreift, modifiziert und mit gnadenloser Offenheit vorbringt, gelingt es, eine historische Kritik im Sinne Hegels zu erarbeiten – freilich nur um den Preis des eigenen Untergangs.
V.2 Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend V.2.1 Die Bedeutung der Orakel für den griechischen Geist In seinen Vorlesungen über die antiken Griechen räumt Hegel den Orakelpraktiken eine zentrale Stellung ein. Zum einen wertet er den Brauch der Griechen, vor wichtigen privaten und politischen Entscheidungen Orakel um Rat zu fragen, als ein Symptom für eine Schwäche des griechischen Geistes und für eine Bedingtheit ihrer 32
Hegel, GPhR S. 24.
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Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
Freiheit, ähnlich wie auch ihre Angewiesenheit auf die Institution der Sklaverei und die Größenbeschränkung der antiken pólis (siehe hierzu Kapitel II.2 und Teil IV): Weil die Subjektivität vom griechischen Geist noch nicht in ihrer Tiefe erfaßt ist, so ist die wahrhafte Versöhnung in ihm noch nicht vorhanden und der menschliche Geist noch nicht absolut berechtigt. Dieser Mangel hat sich schon darin gezeigt, daß über den Göttern als reine Subjektivität das Fatum steht; er zeigt sich auch darin, daß die Menschen ihre Entschlüsse noch nicht aus sich selbst, sondern von ihren Orakeln hernehmen. Menschliche wie göttliche Subjektivität nimmt noch nicht, als unendliche, die absolute Entscheidung aus sich selbst. 33
Hegel zufolge ist der griechische Geist noch in wichtigen Aspekten problematisch. Ihm fehle das angemessene Selbstverständnis der »Subjektivität« und die »wahrhafte Versöhnung« habe in ihm noch nicht stattgefunden. Aus diesem Fehlverständnis des griechischen Geistes folge die Unfähigkeit, in wichtigen Fragen die »Entscheidung aus sich selbst« zu nehmen. Aufgrund dieser Unfähigkeit seien die Griechen auf den Ratschlag von Orakeln angewiesen. An den Orakeln zeigt sich also eine Beschränktheit der griechischen Freiheit: Die tugendbasierte Kooperation der Griechen erlaubt ihnen nicht, eine »Entscheidung aus sich selbst« zu nehmen. In dieser Hinsicht handelt es sich um eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit aufgrund eines gewissen Unvermögens, so ähnlich, wie die Sklaverei aus dem Unvermögen der Griechen folgt, ein Subjekt unabhängig von seinen Fähigkeiten als Kooperationspartner anzuerkennen, und wie die Kleinheit der pólis aus dem Unvermögen folgt, die tugendbasierte Kooperation über den persönlichen Nahbereich des alltäglichen Zusammenlebens auszuweiten. Die Orakelpraktiken markieren folglich eine äußere Beschränkung der griechischen Freiheit. Zum anderen bezeichnet Hegel die Orakel aber auch als charakteristisch für den griechischen Geist. Die Orakel zeigen nicht nur ein Unvermögen der Griechen, darüber hinaus prägen sie die spezifische Gestalt der griechischen Lebensweise: Mit der Demokratie, wie sie nur in Griechenland gewesen ist, sind die Orakel verbunden. Zu dem aus sich selbst Beschließen gehört eine festgewordene Subjektivität des Willens, den überwiegende Gründe bestimmen; die Griechen aber hatten diese Kraft und Stärke desselben noch nicht. Bei Ge-
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Ders., VPhGes S. 305.
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legenheit einer Kolonisation, bei der Aufnahme von fremden Göttern, wenn ein Feldherr eine Schlacht liefern wollte, befragte man die Orakel. Vor der Schlacht bei Platää ließ Pausanias die Opfertiere befragen und erhielt vom Wahrsager Tisamenos den Bescheid, daß die Opfer den Griechen günstig seien, wenn sie diesseits des Asopos blieben, aber nicht, wenn sie über den Fluß gingen und die Schlacht anfingen. Deshalb erwartete Pausanias den Angriff. Die Griechen haben ebenso in ihren Privatangelegenheiten nicht sowohl durch sich selbst entschieden als die Entscheidung von etwas anderem hergenommen. 34
Im Vergleich zur Sklaverei und der Kleinheit der Stadtstaaten nehmen die Orakel somit eine besondere Stellung ein: Die Institution der Sklaverei und die beschränkte Stadtgröße beschreiben weniger das Leben der Tugendhaften, als dass sie festlegen, an welchen Stellen die tugendbasierte Kooperation zwangsläufig endet. Die Orakelpraktiken hingegen sind ein Merkmal des Umgangs der Tugendhaften miteinander, sie zeigen direkt eine Eigenart des tugendhaften Denkens und Handelns. Im obigen Zitat deutet Hegel diese Besonderheit der griechischen Orakel an: »Mit der Demokratie, wie sie nur in Griechenland gewesen ist, sind die Orakel verbunden.« Hegel nennt sie daher eine »wesentliche Bedingung des griechischen Bewußtseins« 35. Die griechischen Orakel sind typisch für das Wesen Griechenlands, sie charakterisieren den griechischen Geist und sind durch ihn geprägt. Dies bedeutet aber, dass sie sich in ihrer Beschaffenheit und Funktion von den mantischen Praktiken anderer Völker und Kulturen wesentlich unterscheiden, auch wenn es äußerliche Ähnlichkeiten gibt. Die Sonderrolle der Orakel für das griechische Prinzip drückt Hegel in seinen Vorlesungen unter anderem dadurch aus, dass er den Niedergang der pólis mit dem Bedeutungsverlust der Orakel verbindet: In den griechischen Demokratien treten »Verderben, Zerrüttung und die fortwährende Abänderung der Verfassung« zu dem Zeitpunkt auf, als die Griechen beginnen, statt auf die Ratschläge der Orakel auf »die besonderen Ansichten der Volksredner« zu hören. 36 Der endgültige welthistorische Untergang der griechischen pólis wird in Hegels Darstellung schließlich durch die Plünderung des Tempels von Delphi besiegelt: 34 35 36
Ebd., S. 310 f. Ders., VGPhil.I S. 494. Ders., VPhGes S. 310.
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Diese Tat vollendete den Untergang Griechenlands, das Heiligtum war entweiht, der Gott sozusagen getötet; der letzte Haltpunkt der Einheit wurde damit vernichtet, die Ehrfurcht für das, was in Griechenland gleichsam immer der letzte Wille, das monarchische Prinzip gewesen war, außer Augen gesetzt, verhöhnt und mit Füßen getreten. Der weitere Fortgang ist nun der ganz naive, daß nämlich an der Stelle des herabgesetzten Orakels ein anderer entscheidender Wille, ein wirkliches gewalthabendes Königtum auftritt. Der fremde makedonische König Philipp übernahm es, die Verletzung des Orakels zu rächen, und trat nun an die Stelle desselben, indem er sich zum Herrn von Griechenland machte. 37
Das Schicksal der freiheitlichen, demokratischen pólis ist somit eng mit dem Schicksal der Orakel verknüpft. Für Hegel sind die Orakel für seine Untersuchung des Scheiterns der griechischen Freiheit auch deshalb bedeutsam, weil sie seiner Ansicht nach nicht nur uns in der Retrospektive eine Schwäche der griechischen Kooperationsform offenbaren, sondern weil sie bereits den Griechen selbst eine Unzulänglichkeit ihrer Lebensweise bewusst werden lassen. Im Falle der anderen genannten Beschränkungen der griechischen Freiheit gilt dies nicht unbedingt: Die Sklaverei und die Größe der pólis nehmen die antiken Griechen entweder als Selbstverständlichkeit hin oder verstehen sie sogar als Ausdruck einer vernünftigen Ordnung der Welt, wie wir an Aristoteles’ Doktrin des natürlichen Sklaven gesehen haben. Bei den Orakeln verhält sich dies jedoch anders. Das griechische Bedürfnis nach Orakelsprüchen verrät, dass ihre Fähigkeit zum Entscheiden und Handeln ihren eigenen Ansprüchen nicht genügt. Die Griechen spüren, dass sie aus eigener Kraft nicht in der Weise selbstständig und selbstbestimmt leben können, wie sie es gerne hätten. Sie unterwerfen sich daher in ihren Orakelpraktiken einer Art Fremdbestimmung, indem sie wichtige Entscheidungen an die Instanz des Orakels delegieren, die sie nicht selbstverantwortlich treffen können. Die Orakel dienen den Griechen als Notlösung für eine Schwäche der tugendbasierten Kooperation, wobei sie diese Aufgabe – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt erfüllen, wie die Vagheit, Unzuverlässigkeit und Mehrdeutigkeit vieler überlieferter Orakelsprüche beweisen. Wir können die griechischen Orakelpraktiken daher als einen Hinweis auf eine Unzufriedenheit der Griechen mit dem eigenen Kooperationsprinzip verstehen. Hierbei handelt es sich natürlich nicht 37
Ebd., S. 331.
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in der gleichen Weise um eine ausdrückliche Kritik am griechischen Prinzip, wie sie beispielsweise von den Sophisten geäußert wurde. Insofern stellt sich auch nicht die Frage, ob die Orakelpraktiken in irgendeiner Weise eine historische Kritik im Sinne Hegels darstellen (siehe Kapitel II.1). Als Bewusstsein der Schwäche und Unzufriedenheit bilden die Orakelpraktiken allerdings eine wichtige Vorstufe für Kritik am griechischen Prinzip. Dies wird deutlich, wenn Sokrates seine Kritik an der griechischen Tugend ausdrücklich auf die Orakelpraktiken bezieht (siehe Teil VI). Sokrates formuliert seinen Vorschlag für eine neue Kooperationsform in den Begrifflichkeiten der Orakel, indem er sein daímon als neues, transformiertes Orakel vorstellt. Sokrates versucht also, die Notlösung der Orakel durch eine angemessenere Lösung zu ersetzen: Dies ist nun der Mittelpunkt der ganzen weltgeschichtlichen Konversion, die das Prinzip des Sokrates macht, daß an die Stelle der Orakel das Zeugnis des Geistes der Individuen getreten ist und daß das Entscheiden das Subjekt auf sich genommen hat. 38
Um die Stoßrichtung der sokratischen historischen Kritik zu erfassen, müssen wir also zunächst die griechischen Orakelpraktiken und ihre Funktion innerhalb der pólis verstehen. Ein solches Verständnis beinhaltet insbesondere das Wissen, auf welche Schwäche des griechischen Geistes die Orakelpraktiken eine Reaktion darstellen und wie sie diese Schwäche überbrücken sollen. Es muss also gezeigt werden, weshalb Hegel die griechischen Orakel als »notwendig« und »wesentlich« für den griechischen Geist bezeichnet. Hierzu gehört dass wir die griechischen Orakel als eine spezifisch griechische Einrichtung in ihrer Besonderheit begreifen, das heißt auch in Abgrenzung zu den Orakeln und Wahrsagepraktiken anderer Kulturen und Völker. Wahrsagerei und Zeichendeutungen waren schließlich in der Antike allgegenwärtig. Noch Cicero erklärt, er könne sich kein Volk vorstellen, sei es kultiviert oder barbarisch, welches nicht an Orakel glaube. 39 Hegel erwähnt ebenfalls zahlreiche Beispiele mantischer Praktiken anderer Völker, etwa die chinesische Wahrsagerei nach dem »Yi-King«, 40 babylonische Wahrsager und chaldäische Hegel, VGPhil.I S. 495. Cicero, De Divinatione I.1–2: »gentem quidem nullam video neque tam humanam atque doctam neque tam immanem tamque barbarem, quae non significari futura et a quibusdam intellegi praedicique posse censeat.« 40 Hegel, VPhGes S. 168. 38 39
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Traumdeuter, 41 ägyptische Orakel und Astrologie 42 sowie die Vogelschau der Römer und ihre sybillischen Spruchsammlungen. 43 Keinem dieser Phänomene spricht Hegel jedoch die gleiche wesentliche Bedeutung und Notwendigkeit für die jeweilige Kultur zu wie den griechischen Orakeln. Um diese Bedeutung zu begreifen, muss herausgearbeitet werden, wie Hegel die Orakel als eine vernünftige Praxis innerhalb der pólis versteht, deren Sinn und Zweck auf die spezifischen Bedürfnisse der griechischen Lebensweise zugeschnitten sind. Diese vernünftige Rekonstruktion der griechischen Orakel wird von der Sekundärliteratur zu Hegels Griechen allerdings üblicherweise nicht geleistet. Stattdessen werden die griechischen Orakel entweder als ein bloß beliebiges Beispiel für Aberglauben und eine vermeintliche Unaufgeklärtheit der Griechen wegerklärt, 44 oder als Indiz einer psychischen Unfähigkeit der antiken Griechen zur Introspektion gedeutet. 45 Mit solchen Interpretationsansätzen, die nicht die Beziehung der Orakel zum griechischen Prinzip sehen, geht freilich die Möglichkeit verloren, die Orakel als Reaktion auf eine spezifische Schwäche der Tugendkooperation und somit als Vorstufe zu Sokrates’ historischer Kritik zu erfassen. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels unternehme ich den Versuch einer solchen vernünftigen Rekonstruktion der Orakel bei Hegels Griechen. Den Fokus lege ich auf die politische Dimension der Orakel und ihre Verbindung zu der Schwäche der Tugend als Kooperationsprinzip. Eine solche Rekonstruktion der Funktion der Orakel in Hegels Vorlesungen wird allerdings durch die Tatsache erschwert, dass Hegel in seinen Vorlesungen zwei unterschiedliche Argumente für die Notwendigkeit der griechischen Orakel vorstellt: Eines dieser Argumente, das Hegel Xenophon zuschreibt, finden wir in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Dieses Argument rechtfertigt die Notwendigkeit von Orakelsprüchen mit der Anfälligkeit unseres Handelns für äußere Kontingenz. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion erläutert Hegel die Orakel hingegen mit einer inneren Kontingenz in der Entscheidung Ebd., S. 230. Ebd., S. 260. 43 Ebd., S. 357 f. 44 Siehe hierzu die Diskussion der Dogmatismus-Lesart in Abschnitt II.2.3 und Kapitel II.3. 45 Vgl. Ferrarin (2001), S. 350: »[…] the Greeks did not yet have the strength to look inside the human soul […].« 41 42
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des handelnden Subjekts. Nach dieser Deutung dienen Orakel vor allem als Orientierungs- und Entlastungsinstanz. Ich schlage in diesem Kapitel die Lesart vor, dass das zweite Argument uns den wesentlichen Hinweis auf Hegels eigene Deutung der griechischen Orakel gibt. Hegel nutzt Xenophons Argument jedoch als Ausgangspunkt und vorläufiges Argument, um mit diesem auf die sogenannte »Erfolgsdimension« der Tugend und ihre Anfälligkeit für Scheitern hinzuweisen (Abschnitt V.2.2). Da Hegel diese Anfälligkeit vergleichsweise knapp abhandelt, füge ich mit Abschnitt V.2.3 einen systematischen Exkurs ein, um unabhängig von Hegels Texten den Zusammenhang zwischen der Tugend und ihrer Anfälligkeit für Kontingenz zu beleuchten. Auf diese Weise soll der systematische Gehalt von Hegels Begriff der antiken Tugend näher erläutert werden und die Tragweite seines Arguments gezeigt werden. Anschließend gehe ich in Abschnitt V.2.4 auf Hegels eigene Rekonstruktion der griechischen Orakel ein, nach der die Griechen auf Orakelsprüche als vermeintlich objektive Schiedsinstanzen angewiesen sind, weil sie angesichts der Unüberschaubarkeit von Handlungssituationen ihren eigenen Begründungs- und Rechtfertigungsanspruch für tugendhaftes Handeln aus eigener Kraft nicht erfüllen können.
V.2.2 Das naive Argument: äußere Zufälle und die Erfolgsdimension der Tugend Einen ersten Ansatz für eine Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken stellt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie vor. Dort zitiert er einen Ausschnitt aus Xenophons Memorabilia, in dem Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor dem attischen Gerichtshof ein Argument für die Notwendigkeit von Orakeln vorbringt. 46 Dieses Argument besagt, in aller Kürze zusammengefasst, dass wir Menschen Orakel benötigten, weil unser Handeln stets durch unvorhersehbare Zwischenfälle gefährdet sei. Als endliche Subjekte können wir den Erfolg unserer Handlungen nicht gewährleisten. Deshalb empfiehlt Xenophons Sokrates als Maßnahme gegen unsere Anfälligkeit für äußere Kontingenz die Ratschläge von Orakeln, welche für uns einen Blick in die Zukunft werfen und uns vor widrigen Ereignissen warnen. 46
Xenophon, Memorabilia I.1, §§ 6–9.
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In dieser Fassung ist das Argument aus zwei Gründen problematisch: Erstens setzt es die abergläubische Prämisse voraus, Orakelsprüche offenbarten tatsächlich die Zukunft. Ich bezeichne dieses Argument daher in diesem Kapitel auch als das »naive Argument«. Zweitens ist das Argument als vernünftige Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken wenig brauchbar, da es weder die besondere politische Rolle der Orakel bei den Griechen erläutert, noch ihre spezifische Funktion für die Tugendkooperation zeigt. Das Argument diagnostiziert zwar zu Recht die Anfälligkeit menschlichen Handelns für äußere Einflüsse und stellt daher zutreffend fest, dass eine Notwendigkeit besteht, für diese Kontingenz irgendeinen Umgang zu finden. Es holt auf diese Weise allerdings nicht Hegels These ein, bei den Orakeln handle es sich um eine »wesentliche Bedingung des griechischen Bewußtseins« 47. Somit lässt das naive Argument offen, in welcher Hinsicht die griechischen Orakelpraktiken spezifisch für die griechische Lebensweise sind und sich von den mantischen Praktiken anderer Völker unterscheiden. Aus diesem Grund bietet das Argument für sich allein genommen auch keine Grundlage zur Entwicklung einer Kritik an der Tugend als Kooperationsprinzip. Dennoch ist es an dieser Stelle sinnvoll, auf das naive Argument näher einzugehen. Zum einen nutzt Hegel das Argument in seinen Vorlesungen, um auf die sogenannte »Erfolgsdimension« der griechischen Tugend hinzuweisen, das heißt auf die Tatsache, dass der aristotelisch-platonische Tugendbegriff keine bloße Einstellung des Handelnden bezeichnet, sondern eine Disposition benennt, die auch auf den äußeren Erfolg des Handelns ausgerichtet ist. Die Tugend ist die Fähigkeit zum guten, gelungenen Handeln, und das macht sie anfällig für äußere Kontingenz. Diese Einsicht in die Erfolgsdimension der griechischen Tugend greift Hegel für seine eigene Rekonstruktion der griechischen Orakel auf. Zum anderen hält Hegel Xenophons Argument nicht für völlig verfehlt, sondern lediglich für unvollständig. Xenophons Begriff der Kontingenz bleibt gewissermaßen auf halber Strecke stehen. Hegels eigene Rekonstruktion, auf die ich im Abschnitt V.2.4 eingehe, ist eine konsequente Weiterentwicklung von Xenophons Ansatz. Indem Hegel Xenophons Argument mit einer umfassenderen Analyse der Kontingenz des menschlichen Handelns modifiziert, gelangt er so zu einer anspruchsvolleren Auffassung der Orakel, die nicht mehr von der ursprünglichen abergläubischen Prä47
Hegel, VGPhil.I S. 494.
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misse abhängt und zudem die gewünschte wesentliche Notwendigkeit der griechischen Orakel nachweist. Im vorliegenden Abschnitt werde ich daher als Vorbereitung für Hegels anspruchsvolle Rekonstruktion der griechischen Orakel Xenophons naives Argument vorstellen. Dabei untersuche ich vor allem, wie Hegel dieses Argument in entsprechender Weise präsentiert, um auf den Zusammenhang von Tugend und Kontingenz hinzuweisen und so die begrifflichen Elemente für sein eigenes Argument bereitzustellen. Hegel zitiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie das Argument aus Xenophons Memorabilia in folgender Weise: Im ersten Buche von Xenophons Denkwürdigkeiten, bei Gelegenheit der Verteidigung des Sokrates über sein Daimonion, sagt Sokrates gleich anfangs: »Die Götter haben sich das Wichtigste (τὰ μέγιστα) zu wissen vorbehalten. Baukunst, Ackerbau, Schmiedekunst usf. seien menschliche Künste; ebenso Regierungskunst, Rechenkunst, auch zu Haus und im Krieg zu kommandieren, – der Mensch könne Geschicklichkeiten darin erlangen. Für jenes aber« (nämlich die wichtigen Gegenstände in diesem Felde) »sei die μαντεία (divinatio) erforderlich«, die sich die Götter vorbehalten. Solches, was Recht und Unrecht, was tapfer, feig sei, wissen ebenso die Menschen. »Aber der das Feld baut, weiß nicht, wer die Früchte genießen (ernten) werde; wer ein Haus baut, nicht, wer es bewohnen wird; der Feldherr weiß nicht, ob es geraten sei, die Armee ins Feld zu führen; wer einem Staate vorsteht, ob es ihm (dem Individuum) gedeihlich oder gefährlich sei; noch wer eine schöne Frau (καλήν, eine Geliebte) heiratet, ob er werde Freude daran erleben, ob ihm nicht Kummer und Leid daraus entspringen wird; noch wer mächtige Verwandte im Staate hat, kann wissen, ob es ihm nicht geschieht, wegen derselben aus dem Staate verbannt zu werden. Wegen dieses Ungewissen muß man aber zu der μαντεία seine Zuflucht nehmen«, sie sei verschieden: Orakel, Opfer, Vögelflug usf. betrachten, – für Sokrates aber sei nun dies Orakel sein Daimonion gewesen. So drückt sich Xenophon aus. Dieses Orakel ist wesentliche Bedingung des griechischen Bewußtseins gewesen; bei ihrer Freiheit suchten die Griechen zugleich die Entscheidung in einem Äußerlichen: das Wichtigste haben sich die Götter vorbehalten. 48
Das Argument begegnet uns also in einer gewissen Schachtelung: Hegel zitiert – mit einigen Freiheiten, die ich weiter unten anspreche – Xenophon, der wiederum das Argument Sokrates in den Mund legt. Der Einfachheit halber spreche ich im Folgenden von »Xenophons 48
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Argument«, da es mir an dieser Stelle auf die Rekonstruktion des Arguments und nicht auf die philologische Frage der Zuschreibung ankommt. Im Zusammenhang dieses Arguments spreche ich auch von »Xenophons Sokrates«, weil sich die entsprechende Position in wesentlichen Punkten von Hegels eigener Darstellung des Sokrates unterscheidet (siehe Teil VI). Um Missverständnisse zu vermeiden, nutze ich also in diesem Abschnitt die Bezeichnungen »Xenophons Argument« und »Xenophons Sokrates«, lasse aber offen, ob das Argument tatsächlich in dieser Form dem antiken Autoren Xenophon zugeordnet werden sollte. 49 Im obigen Zitat erläutert Xenophons Sokrates die Notwendigkeit von Orakeln, indem er auf die Beschränktheit menschlichen Wissens verweist. Für diesen Zweck führt er die Unterscheidung zwischen zweierlei Arten von Wissen ein, dem menschlichen Wissen und dem sogenannten göttlichen Wissen. Zum menschlichen Wissen rechnet Xenophons Sokrates Künste und verschiedene Fertigkeiten, etwa »Baukunst, Ackerbau, Schmiedekunst usf.« Das menschliche Wissen sei laut Xenophons Sokrates mangelhaft, ausgerechnet »das Wichtigste« fehle ihm. Das Wissen über »die wichtigen Gegenstände« hingegen gehöre zum göttlichen Wissen. Nach dieser grundlegenden Unterscheidung zählt Xenophon eine Reihe von Beispielen auf, aus denen sich schließen lässt, dass er mit dem göttlichen Wissen über »das Wichtigste« offenbar ein Wissen über den konkreten Erfolg von Handlungen im Einzelfall meint: Der Bauer wisse nicht, ob er die Früchte seines Feldes ernten werde, der Feldherr nicht, ob ein Angriff ratsam sei und dergleichen mehr (s. o.). Offenbar gesteht Xenophons Sokrates dem Menschen allgemeines Wissen und Können zu, etwa das Wissen über die Regeln der Architektur, der Landwirtschaft oder der militärischen Taktik. Die Problematik menschlichen Wissens, auf die Xenophons Sokrates abzielt, besteht in der Schwierigkeit, solches allgemeine Wissen auf konkrete Einzelfälle anzuwenden. Zum menschlichen Wissen gehört zwar die Kenntnis allgemeiner Kausalzusammenhänge, es kann aber keinen Erfolg im Einzelfall garantieren, weil jede konkrete Situation von unseren allgemeinen Annah-
Es gibt allerdings einige Hinweise, dass Xenophon tatsächlich die hier beschriebene naive Auffassung vertritt, wenn wir seinen eigenen Umgang mit Orakeln und Mantik in der Anabasis ansehen. Dort berichtet Xenophon, regelmäßig in Gefahrensituationen mantische Zeichen befragt zu haben, um den Ausgang unsicherer Unternehmungen vorherzusagen. Vgl. z. B. Trampedach (2015), S. 155–169.
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men abweichen kann, etwa durch unvorhersehbare Zufälle. Der Bauer, den Xenophon als Beispiel nennt, mag sein Handwerk beherrschen und seinen Acker daher nach allen Regeln der Kunst bearbeiten. In einem gewissen Sinn weiß er also ganz genau, welche Handlungen er durchführen muss, um seine Felder abzuernten. Im konkreten Fall kann er jedoch nie vorher wissen, ob er tatsächlich im Herbst eine erfolgreiche Ernte einfahren wird oder ob beispielsweise ein Hagelschlag das Feld verwüsten wird. Als endliches Wesen ist sein Handeln äußeren Umständen ausgesetzt, die er nicht vorhersehen und auch nicht kontrollieren kann. Es besteht also immer die Gefahr von Zwischenfällen, welche ihn scheitern lassen. Der Mangel menschlichen Wissens, auf den Xenophons Sokrates sich bezieht, besteht folglich in der Anfälligkeit unseres Handelns für äußere Zufälle oder, allgemeiner gesprochen, in der Kontingenz des menschlichen Lebens und Handelns. Indem Xenophons Sokrates behauptet, dieser Mangel betreffe »die wichtigen Dinge« und sogar »das Wichtigste«, deutet er an, dass er menschliches Wissen für wesentlich defizitär hält. Menschliches Wissen kann anscheinend seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllen. Insbesondere für instrumentelle oder technische Fähigkeiten, wie sie Xenophon auch in seinen obigen Beispielen aufzählt, ist diese Bewertung nachvollziehbar. Der Bauer pflügt nach den allgemeinen Regeln des Ackerbaus, weil er sich von ihnen am ehesten den konkreten Erfolg verspricht und nicht etwa um der allgemeinen Regeln willen. Der Bauer will schließlich nicht seine allgemeinen Kenntnisse des Ackerbaus unter Beweis stellen, sondern eine gelungene Ernte einfahren. Aus seiner Sicht ist die Ernte »das Wichtigste« und alle seine Handlungen richten sich auf diesen konkreten Zweck. Auch das allgemeine Wissen und Können, dass sich der Bauer aneignet, dient nur dem konkreten Zweck. Allein am Erreichen oder Verfehlen dieses Zwecks bemisst sich die Güte seiner Handlung. Diese ausschließliche Ausrichtung auf den konkreten Zweck kennzeichnet eine technisch-instrumentelle Handlung. Die Feststellung, dass menschliches Wissen und Können stets endlich sind und daher den konkreten Erfolg nicht garantieren können, bedeutet daher in der Tat ein Problem für die technisch-instrumentelle Handlung. Die Fähigkeiten des menschlichen Handelnden sind in solchen Fällen nicht hinreichend für den Zweck, zu dem sie eingesetzt werden. Angesichts dieser Beschränkung menschlichen Wissens rät uns Xenophon zu Orakeln, von denen er glaubt, dass sie auf göttliches Wissen zurückgreifen. Unter dieser Prämisse ist Xenophons Empfehlung durchaus 294 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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sinnvoll: Könnten uns Orakel tatsächlich die Zukunft weissagen und zufällige Zwischenfälle voraussehen, wäre es vernünftig, auf ihre Ratschläge zu hören, weil wir diese konkreten, kontingenten Dinge nicht aus eigener Kraft wissen können. Xenophons Argument für die Notwendigkeit von Orakelsprüchen ist somit in sich schlüssig, aber dennoch naiv, weil es auf der abergläubischen Prämisse beruht, Orakel könnten uns die Zukunft offenbaren. Vergleichen wir das obige Zitat aus Hegels Vorlesungen mit dem originalen Text aus Xenophons Memorabilia, fällt auf, dass Hegel die ursprüngliche Liste von Beispielen für menschliches Wissen um einen Einschub erweitert, der in dieser Form an der entsprechenden Stelle bei Xenophon fehlt. Xenophon erwähnt als Beispiele lediglich technisches Wissen wie Architektur, Landwirtschaft, Schmiedekunst, Politik, Ökonomie und Strategie. 50 Hegel fügt allerdings in seiner Wiedergabe noch folgende Aufzählung hinzu: »Solches, was Recht und Unrecht, was tapfer, feig sei, wissen ebenso die Menschen.« Somit rechnet Hegel Gerechtigkeit und Mut ebenfalls zum »menschlichen Wissen« in Xenophons Sinne. Nach dieser Deutung leiden Gerechtigkeit und Mut – oder allgemein gesprochen: die Tugenden – unter dem gleichen wesentlichen Mangel, mit dem laut Xenophon technische Fähigkeiten wie Baukunst oder Ackerbau behaftet sind. Dieser eigenmächtige Umgang Hegels mit der antiken Textvorlage ist bemerkenswert, weil er das Thema Xenophons erheblich erweitert und dem Argument zusätzliche Beweislast aufbürdet. Xenophons Argument im Original der Memorabilia tritt zurückhaltender auf, weil es nur für technisch-instrumentelles Wissen den wesentlichen Mangel behauptet, das »Wichtigste« nicht zu kennen. Tugenden hingegen Xenophon, Memorabilia, §§ 7–8: »Auch die, welche Häuser und Staaten wohl zu verwalten wünschten, sollten auf Weissagungen achten, wie er meinte. Er glaubte allerdings, ein Zimmermann, ein Schmied, ein Landwirt, einer der Menschen beherrschen oder dergleichen Tun beurteilen könne, ein Rechenmeister, ein Hausverwalter oder ein Heerführer zu werden, all dies sei Sache des Wissens und mit menschlicher Einsicht erfaßbar; das Wichtigste dabei aber – so sagte er – behielten die Götter sich selbst vor, und nichts davon sei den Menschen offenbar. Denn auch wer sein Feld gut bestellt habe, wisse nicht, wer ernten werde, und wer sein Haus schön gebaut habe, wisse nicht, wer darin wohnen werde, und dem Heerführer sei nicht bekannt, ob seine Kriegsführung von Nutzen sein werde, und dem Staatsmann sei nicht bekannt, ob seine Führung des Staates von Erfolg begleitet sei, und wer eine schöne Frau heirate, um an ihr Freude zu haben, dem sei unbekannt, ob er durch sie Ärger erfahren werde, und wer sich mit den Mächtigen im Staate verschwägere, wisse nicht, ob er durch sie die Heimat verlieren werde.«
50
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sind nicht ausschließlich instrumentell auf den konkreten Erfolg einer Handlung ausgerichtet. Während technische Fertigkeiten für ihren Nutzen geschätzt werden, besitzen Tugenden darüber hinaus einen intrinsischen Wert. 51 Das Handeln gemäß der Tugend ist daher zu einem gewissen Grad ein Selbstzweck. Neben diesem Selbstzweck sind tugendhafte Handlungen zwar in der Regel auch auf einen bestimmten äußeren Erfolg gerichtet, aber dieser Erfolg ist nicht ihr einziger Gradmesser. Anders als bei instrumentellen Fähigkeiten ist der äußere Erfolg bei Tugenden eben nicht »das Wichtigste«, wie es bei Xenophon heißt. In dieser Hinsicht, so scheint es, sind Tugenden nicht in der gleichen Weise für zufällige Schicksalsschläge anfällig wie technische Fertigkeiten. Eine Bestätigung für diese Überlegung können wir beispielsweise bei Aristoteles finden, der in seiner Nikomachischen Ethik erläutert, dass »Betätigungen der Tugend« diejenigen menschlichen Tätigkeiten seien, die am wenigsten durch »Wechselfälle des Schicksals« beeinträchtigt werden: Oder ist es ganz falsch, sich nach den Wechselfällen des Schicksals zu richten? Denn es hängt nicht von ihnen ab, ob jemand gut oder schlecht lebt. Vielmehr gilt: Das menschliche Leben bedarf ihrer, wie gesagt, zusätzlich, doch verantwortlich für das Glück sind die Betätigungen der Tugend (hai kat’ aretēn energeiai), für das Gegenteil die entgegengesetzten. […] Denn nichts, was Menschen tun, weist so viel Beständigkeit (bebaiotēs) auf wie die Betätigungen der Tugend; man hält sie sogar für beständiger als die [Betätigung] in den Wissenschaften. Unter jenen selbst wiederum [den Betätigungen der Tugend] gelten die am höchsten geschätzten als die beständigsten, weil die Glückseligen in ihnen am meisten und am dauerhaftesten (syneches) ihr Leben verbringen. […] Was wir suchen, wird also dem Glücklichen zukommen, und er wird sein Leben lang so sein [wie wir sagen]. Immer nämlich oder mehr als alles andere wird er die Dinge tun und betrachten, die der Tugend entsprechen; er wird die Wechselfälle am edelsten (kallista) und in jeder Hinsicht ganz angemessen (emmelōs) tragen, der wahrhaft Gute und »Vierkantige, ohne Tadel«. 52
Gemäß Aristoteles sind die Betätigungen der Tugend weniger von äußerer Kontingenz betroffen als alle anderen Tätigkeiten. Der intrinsische Wert der Tugend werde auch dann verwirklicht, wenn der äußere Zweck einer tugendhaften Handlung scheitert. Aus diesem Grund ist es nicht ganz angebracht, von einem wesentlichen Mangel 51 52
Vgl. Halbig (2013), S. 43 ff. Aristoteles, NE I.11, 1100b7–22.
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der Tugenden zu sprechen, wie dies Xenophon bei technischen Fähigkeiten tut. Das tugendhafte Handeln ist schließlich weniger anfällig für äußere Zwischenfälle. Somit scheint der Tugendhafte auch weniger Anlass zu haben, vor seinen Tätigkeiten Orakel um Rat zu fragen. In einem gewissen Sinne verzerrt Hegel durch die Formulierung seines Zitats also Xenophons ursprüngliche Aussage und schreibt ihm eine stärkere Position zu, als eine strikte, wörtliche Lesart der Memorabilia erlaubt. Dennoch lässt sich Hegels Einschub rechtfertigen: Mit ihm weist Hegel auf subtile Weise darauf hin, dass nach griechischer Auffassung die Tugend zumindest in gewisser Hinsicht ähnlich der äußeren Kontingenz unterworfen ist wie andere praktische Fähigkeiten. Tugendhafte Tätigkeiten besitzen zwar einen intrinsischen Wert, sie zielen aber trotzdem auch auf einen äußeren Erfolg. Die aristotelischen Beteuerungen im obigen Zitat, dass der Tugendhafte in besonderem Maße gegen Schicksalsschläge gefeit sei, verraten schließlich, dass trotz dieser Einschränkung ein Einfluss äußerer Zufälle immer noch vorhanden ist und offensichtlich nicht gänzlich vernachlässigt werden kann. Eine mutige Handlung, beispielsweise bei der Verteidigung der eigenen pólis, verliert zwar nicht ihre Tugendhaftigkeit und bleibt lobenswert, selbst wenn die Schlacht am Ende aufgrund der Übermacht der Feinde verloren geht. Im Hinblick auf den intrinsischen Wert der Tugend gilt die mutige Handlung daher nicht als gescheitert. Trotzdem bemüht sich der mutige Verteidiger klar um einen äußeren Zweck, der getrennt vom intrinsischen Wert der Tugend besteht, nämlich die Rettung der Stadt. In dieser Hinsicht kann die tugendhafte Handlung sehr wohl scheitern. Es ergäbe ein merkwürdiges Bild des Tugendhaften, wenn ihn dieses Scheitern kalt ließe. Im Gegenteil erscheint es sogar plausibel, dass für den mutigen Verteidiger die Rettung seiner Stadt im Vordergrund steht und nicht etwa die Realisierung des intrinsischen Werts des Mutes. Demnach ist für ihn aus seiner Sicht der äußere Zweck durchaus das »Wichtigste«, analog zur Beurteilung technischer Fähigkeiten. Somit besitzt der Einfluss kontingenter äußerer Faktoren auf den Erfolg einer Handlung selbst für den Tugendhaften große Bedeutung (siehe hierzu die systematische Diskussion in V.2.3). Die oben zitierte aristotelische Bemerkung zur »Beständigkeit« der Tugend gegen äußere Zufälle und Schicksalsschläge ist daher als eine relative Einordnung zu verstehen, nicht als eine kategorische Unabhängigkeit. Gemeint ist, dass der aristotelische Tugendhafte – wie auch der 297 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Meister einer technischen Fertigkeit – in der Lage ist, das Beste aus seinen jeweiligen Umständen zu machen: Denn wir meinen, dass der wahrhaft Gute und Verständige die Wechselfälle des Lebens in guter Haltung trägt und immer das Angemessene (kallista) aus der Situation macht, wie ein guter Stratege die vorhandene Armee auf die beste Weise zur Kriegsführung gebrauchen wird und wie ein guter Schuster aus dem gegebenen Leder den passendsten (kallistos) Schuh macht und ebenso alle anderen, die ein Herstellungswissen ausüben. 53
Mit diesen Einschränkungen versehen, erscheint Hegels Einschub in Xenophons Argument als eine zulässige Erweiterung: Der Tugendhafte zielt genauso wie der Ausübende einer technischen Fertigkeit auf einen äußeren Erfolg seiner Handlung – auch wenn die tugendhafte Handlung noch zusätzlich einen intrinsischen Wert als Selbstzweck verwirklicht. Damit ist der Tugendhafte allerdings ebenso mit dem Problem konfrontiert, dass die Tugend, obwohl sie als Fähigkeit zum richtigen, situationsangemessenen Handeln gilt, trotz aller Bemühungen diesen Anspruch nicht immer einlösen kann. Die Tugend steht wie technische Fertigkeiten in der Welt der äußeren Kontingenz. Hegel sieht in dieser Ausrichtung der Tugend auf einen äußeren Zweck zunächst einmal eine Stärke der griechischen Konzeption. So erläutert er beispielsweise in seiner Kritik an der Tugendkonzeption der Stoa in der Phänomenologie des Geistes, dass ein gehaltvoller Begriff der Tugend sich nicht in Selbstbezüglichkeit und Selbstgenügsamkeit erschöpfen dürfe, sondern neben seiner Selbstzweckhaftigkeit auch auf konkreten Erfolg ausgerichtet sei. 54 Die stoische Tugend, die sich als »gleichgültig gegen das natürliche Dasein« 55 verstehe, ziele nur auf die Verwirklichung des eigenen intrinsischen Werts. Aufgrund dieses Verständnisses bleibt der stoische Tugendhafte völlig unbeeindruckt von äußeren Einflüssen, da Schicksalsschläge dem Wert seiner Handlungen scheinbar nichts anhaben können. Allerdings könne er auf die Frage, worin eben dieser Wert seiner Tugend bestehe, keine sinnvolle Auskunft geben, so Hegel: Der Stoizismus ist darum in Verlegenheit gekommen, als er, wie der Ausdruck war, nach dem Kriterium der Wahrheit überhaupt gefragt wurde, d. h.
53 54 55
Ebd., 1101a1–7. Vgl. Hegel, PhdG S. 156 ff. Ebd., S. 158.
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eigentlich nach einem Inhalte des Gedankens selbst. Auf die Frage, was gut und wahr ist, hat er wieder das inhaltslose Denken selbst zur Antwort gegeben […] die allgemeinen Worte von dem Wahren und Guten, der Weisheit und der Tugend, bei welchen er stehen bleiben muß, sind daher wohl erhebend, aber weil sie in der Tat zu keiner Ausbreitung des Inhalts kommen können, fangen sie bald an, Langeweile zu machen. 56
Eine inhaltliche Bestimmung der tugendhaften Handlung und ihres intrinsischen Werts führt also laut Hegel dazu, dass die Handlung als eine Handlung in der Welt beschrieben wird, die auch auf einen äußeren Zweck in dieser Welt zielt. Nur so, können wir hinzufügen, kann die Tugend als Prinzip der Kooperation und Gemeinschaft dienen, wie es bei Hegels Griechen der Fall ist: Das gelungene Zusammenleben und Aufrechterhalten der Kooperationsgemeinschaft ist selbst ein solcher bestimmter, äußerer Zweck, der über die in sich zurückgezogene Tugend der Stoa hinausgeht. Die griechisch-aristotelische Tugendkonzeption schließt daher mit Recht eine sogenannte »Erfolgsdimension« 57 mit ein, wie es Christoph Halbig bezeichnet: Es bleibt festzuhalten, dass nur derjenige über eine Tugend verfügt, der in der Lage ist, sie so auszuüben, dass die durch sie vorgegebenen Ziele auch verlässlich erreicht werden können (zumindest insofern keine für den Tugendhaften nicht verfügbaren Umstände dem im Wege stehen. 58
Die Erfolgsdimension gehört somit zu einem gehaltvollen Begriff der Tugend, wie er für ein Kooperationsprinzip erforderlich ist, sie verortet jedoch die Tugend in der Welt der Kontingenz. Tugendhaftes Handeln kann – hinsichtlich ihrer Erfolgsdimension – aufgrund äußerer Zufälle scheitern. Xenophons Diagnose der Mangelhaftigkeit, die er in seinem Argument für technische Fertigkeiten diagnostiziert, betrifft in dieser Hinsicht also auch die Tugend. Wie schon eingangs erwähnt, genügt Xenophons Argument nicht für eine vernünftige Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken. Die Stärke des Arguments liegt vor allem in seiner Diagnose des Problems äußerer Kontingenz für den Anspruch menschlicher Fähigkeiten. Menschliches Handeln ist äußeren Zufällen ausgeliefert und muss irgendeinen Umgang mit dieser Anfälligkeit finden. Xenophons Argument etabliert folglich die Notwendigkeit
56 57 58
Ebd., S. 158 f. Halbig (2013), S. 94. Ebd., S. 96.
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einer Form der Kontingenzbewältigung. Aus dieser Einsicht folgt aber nicht, dass die griechischen Orakel in besonderer Weise als Kontingenzbewältigung geeignet sind. Das Argument kann nicht erläutern, weshalb es beispielsweise in der Antike sinnvoll schien, sich vom Vogelflug oder vom Zustand der Innereien eines Opfertieres Auskunft über die Zukunft zu erhoffen. Die zufälligen Ereignisse stehen bestenfalls in einem losen assoziativen Zusammenhang zu den Fragen, die der Ratsuchende stellt. Es erschließt sich durch Xenophons Argument nicht, weshalb diese Ereignisse sich angeblich als Orakelzeichen und göttliche Ratschläge anbieten. Weiterhin ist das Argument nicht in der Lage, die Besonderheit der griechischen Orakelpraxis aufzuzeigen und als ein Spezifikum des griechischen Geistes auszuweisen. Mit den obigen Erläuterungen zur Erfolgsdimension der Tugend lässt sich zwar zeigen, dass Xenophons Diagnose einer Anfälligkeit unseres Handelns auch auf die Tugend zutrifft und nicht nur auf technisch-instrumentelle Fähigkeiten. Die Anfälligkeit betrifft allerdings die Tugend und die griechische Kooperation in keinem besonderen Maße. Vielmehr handelt es sich bei dieser Anfälligkeit menschlichen Handelns für äußere Zufälle, die Xenophon anspricht, um einen allgemeinen Bestandteil der conditio humana, für die alle Völker und Kulturen Antworten finden müssen. Xenophons Argument greift die Tugend in keiner Weise heraus – womöglich schweigt die Urfassung des Arguments in den Memorabilia sogar gänzlich über die Tugend. Aus diesen Gründen lässt sich Xenophons Argument nicht ohne Weiteres in eine spezifische Kritik der griechischen Tugend ummünzen. 59 In Hegels eigener Fassung des Arguments, die ich in Abschnitt V.2.4 vorstelle, greift Hegel Xenophons Diagnose auf, führt aber einen erweiterten, umfassenderen Begriff der Kontingenz ein. Ausgehend von diesem Begriff entwickelt Hegel eine neue ProblemFür eine Diskussion des analogen Problems beispielsweise in Bezug auf endliche Erkenntnisfähigkeiten siehe Kern, A. (2006). Es ließen sich freilich an dieser Stelle einige Überlegungen anführen, ob das Scheitern der Tugend durch äußere Umstände in besonderem Maße problematisch ist, etwa aufgrund der größeren Frustration, dass ein Tugendhafter trotz seines Edelmuts scheitert und kein gelungenes Leben führen kann. Solche Überlegungen, die in der Tugendethik beispielsweise unter den Schlagworten »fragility of goodness« oder »moral luck« diskutiert werden (vgl. Nagel (1979), Williams (1981) und Nussbaum (2001)), schließt Xenophon allerdings nicht an sein Argument an. Auch Hegel geht für seine Weiterentwicklung der Argumentation einen anderen Weg (siehe Kapitel V.2.4).
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beschreibung, die vor allem auf die Begründbarkeit von Handlungen abzielt. Anders als der von Xenophon diagnostizierte Mangel des Handelns betrifft dieser Mangel an Begründbarkeit die griechische Tugend in besonderem Maße, wie ich erläutern werde. Bevor ich Hegels erweitertes Argument nachvollziehe, gehe ich im nächsten Unterabschnitt V.2.3 in einem systematischen Exkurs auf die sogenannte Erfolgsdimension der Tugend ein und beleuchte diese begriffliche Eigenschaft näher, die für den Zusammenhang zwischen Tugend und Kontingenz zentral ist.
V.2.3 Systematischer Exkurs: Erfolgsdimension der Tugend Die sogenannte Erfolgsdimension der Tugend (Halbig), das heißt die Ausrichtung der tugendhaften Handlung auf einen äußeren Zweck, der von der Verwirklichung ihres intrinsischen Werts verschieden ist, spielt für Hegels Untersuchung des Zusammenhangs von Tugend und Kontingenz eine zentrale Rolle. Hegel hält sich allerdings mit Erläuterungen zu dieser begrifflichen Eigenschaft der Tugend zurück. Ich stelle deshalb in diesem systematischen Exkurs unabhängig von Hegels Text zwei Überlegungen vor, die für eine derartige Tugendkonzeption mit Erfolgsdimension sprechen, und erläutere sie näher. V.2.3.1 Tugenden setzen praktische Fertigkeiten voraus Der erste Grund für die Erfolgsdimension des klassisch-antiken Verständnisses der Tugend – zum Beispiel bei Aristoteles und Platon – besteht darin, dass dieses Verständnis von einer ganzheitlichen Betrachtung der Handlung ausgeht. Die Tugend ist somit die Fähigkeit zum guten Handeln in jeder Hinsicht. Dies bedeutet, dass sich die Tugenden nicht allein auf die gute Absicht oder auf die angemessene affektive Reaktion in einer Situation reduzieren lassen. Zur Tugendhaftigkeit gehört zusätzlich die Fähigkeit, eine Situation sachkundig zu beurteilen und kompetent zu handeln. Somit setzt die Tugend die verschiedensten Fertigkeiten und Kenntnisse voraus, die wir zumindest nach einem modernen, engeren Verständnis nicht mehr unbedingt in den Bereich des Ethisch-Moralischen einordnen würden und die wir stattdessen eher zu technischen Fähigkeiten rechnen. Nach dem klassischen Verständnis muss der Tugendhafte aber auch über solche technischen Kompetenzen verfügen. Ein Soldat, der den 301 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Feind angreift, obwohl er keine Kenntnisse des Kriegshandwerks besitzt, kann gar nicht mutig handeln, ganz gleich, wie entschlossen er vorgeht. Seine Attacke bleibt ein Akt der Waghalsigkeit und entspricht nicht der Tugend des Muts, gerade weil ihm die Fähigkeit zur sachkundigen Beurteilung seiner konkreten Situation fehlt. In den aristotelischen Beschreibungen der verschiedenen Tugenden zeigt sich immer wieder diese Voraussetzung der Fachkenntnisse und -kompetenzen des Tugendhaften, beispielsweise in der Erläuterung der Freigebigkeit: Auch der Freigebige wird also um des Werthaften geben und auf richtige Weise: wem er soll, wie viel man soll und wann, und so für alle anderen Aspekte, die zum richtigen Geben gehören. […] Ferner wird er nicht jedem Beliebigen geben; denn sonst hat er nichts, was er denjenigen geben kann, denen man geben soll, und wann man es soll und wo das Geben werthaft ist. […] Doch wird der Freigebige nicht denen geben, denen man nicht geben soll, auch nicht, wann man nicht soll usw. Denn dann wird er nicht mehr im Sinn der Freigebigkeit handeln, und wenn er das Geld darauf verwendet, wird er nichts mehr für die Fälle haben, für die man es ausgeben soll. Denn wie gesagt ist freigebig der, der Aufwendungen entsprechend seinem Vermögen und für die richtigen Dinge macht; wer aber übertreibt, ist verschwenderisch. 60
Der Freigebige wird also nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass er aus einer tugendhaften Motivation heraus handelt (»um des Werthaften willen«) und Freude an seiner eigenen Großzügigkeit hat, sondern zudem durch einen vernünftigen, das heißt ökonomisch angemessenen Umgang mit seinem Geld. Der Tugendhafte erkennt nicht nur, wer tatsächlich hilfsbedürftig ist oder welcher Zweck für seine Spenden angemessen ist – diese Beurteilungen würden selbst im modernen, engeren Verständnis noch zum Bereich des Ethischen gehören. Darüber hinaus muss der Freigebige sein eigenes Vermögen richtig einschätzen können. Er teilt seine großzügigen Gaben so ein, dass sein Vermögen ihm weiterhin erhalten bleibt und zukünftige Akte der Großzügigkeit erlaubt. Diese Beurteilung misst jedoch nicht nach ethischen Kriterien, sie fragt beispielsweise nicht nach Bedürftigkeit, Dringlichkeit, Mitleid oder sozialer Verantwortung. Vielmehr greift sie auf buchhalterische und betriebswirtschaftliche Kriterien zurück: Der Tugendhafte kennt seine Ein- und Ausgaben, er bildet angemessene Rücklagen und kann seine laufenden Kosten richtig 60
Aristoteles, NE IV.2, 1120a24-b25.
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Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
einschätzen. Somit gehören zur Freigebigkeit zwar einerseits der gute Wille und ein großzügiger Charakter, aber andererseits auch die Fertigkeiten eines guten Buchhalters – oder wenigstens die Menschenkenntnis, einen guten Verwalter für den eigenen oîkos anzuheuern. Die Tugenden setzen somit praktische Fertigkeiten und technisches Wissen voraus, um die Handlungssituation auf die richtige Weise einzuschätzen. Weil die Tugenden auf derartige Fertigkeiten und Kenntnisse angewiesen sind, erben sie gewissermaßen deren Erfolgskriterien. Da der Tugendhafte seine Situation beispielsweise auch ökonomisch oder militärisch korrekt beurteilen muss, um tugendhaft handeln zu können, ist er darauf angewiesen, dass er das entsprechende technische Wissen erfolgreich anwendet. Ein Scheitern der technisch-instrumentellen Fertigkeiten gefährdet somit die Verwirklichung der Tugenden. Die Anfälligkeit der technisch-instrumentellen Fertigkeiten für äußere Zufälle führt daher dazu, dass das tugendhafte Handeln ebenfalls durch äußere Zufälle scheitern kann. Nach dieser Beschreibung betrifft die Anfälligkeit der Tugend für äußere Kontingenz vor allem die Voraussetzungen tugendhaften Handelns, also die Fähigkeiten und Kenntnisse, die die Grundlage für eine korrekte Einschätzung der Handlungssituation sind. Diese Voraussetzungen müssen allerdings gegeben sein und fließen in die Beurteilung der Tugendhaftigkeit einer Handlung mit ein, weil nach aristotelisch-griechischem Verständnis die Tugendhaftigkeit formal als die umfassende Güte einer Handlung begriffen wird. V.2.3.2 Abweisung des Egozentrismus-Vorwurfs Der zweite Grund für die Erfolgsdimension der Tugend liegt in der angemessenen Motivation für tugendhafte Handlungen. Die Betätigung der Tugend besitzt zwar einen intrinsischen Wert und stellt insofern einen Selbstzweck dar. Aus der Sicht des tugendhaft Handelnden kann jedoch dieser Selbstzweck der Tugend nicht im Vordergrund stehen, so die Überlegung. Der Handelnde muss vor allem vom äußeren Zweck motiviert sein, den er durch seine tugendhafte Handlung erreichen will. Die Tugend ist für ihn gewissermaßen die Form seiner Handlung und weniger ein eigenständiger Zweck, nach dem er strebt. Diese Unterscheidung wird deutlich, wenn wir eine tugendhafte Handlung aus zwei verschiedenen Blickwinkeln bewerten: Aus der distanzierten Perspektive eines Hörers der Ilias beispielsweise beweist der Trojaner Hektor, der die heimliche Hauptperson des home303 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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rischen Epos ist, bei der Verteidigung Trojas seinen heldenhaften Mut. Dieser Mut wird für den Hörer nicht durch die Umstand geschmälert, dass die Schlacht um Troja verloren geht. Im Gegenteil: Die tragische Niederlage lässt die Tugend Hektors für uns noch eindrucksvoller leuchten, durch sie entfaltet sich erst die poetische Wirkung seines Muts in Gänze. Eine solche distanzierte Perspektive kann bei der Bewertung der tugendhaften Handlung vom militärischen Misserfolg absehen und ausschließlich auf den intrinsischen Wert der Tugend fokussieren. Sie blendet zwar das konkrete Handlungsziel nicht völlig aus, aber sie hält den Erfolg oder das Misslingen im Bezug auf dieses Ziel für nebensächlich bei der eigentlichen Bewertung der Handlung. Anders verhält es sich jedoch aus der Sichtweise der Trojaner und insbesondere aus der Perspektive des Handelnden selbst. Für Hektor ist die Frage des konkreten Erfolgs oder Misserfolgs seines Handelns alles andere als unerheblich. Die Tatsache, dass er in der Schlacht seinen Mut beweist, ist für ihn vermutlich nur ein schwacher Trost angesichts der drohenden Niederlage. Schließlich setzt Hektor, so dürfen wir annehmen, sein Leben nicht für die Verwirklichung der Tugend aufs Spiel, sondern um seine Stadt zu retten. Es wäre merkwürdig, wenn für den Tugendhaften vor allem die Verwirklichung und Präsentation der eigenen Tugend im Vordergrund stünden; wenn also der Freigebige sich nur für seinen eigenen tugendhaften Charakter interessieren würde und nicht für den Hilfsbedürftigen. Ein solches Verhalten scheint eher Heuchelei oder moralisch fragwürdiger Egozentrismus zu sein statt wirklich gutes Handeln. 61 Es ist umstritten, welche Rolle der Selbstzweck der Tugend, der aus der distanzierten Betrachterperspektive der wesentliche Zweck einer tugendhaften Handlung ist, überhaupt im praktischen Überlegen des Tugendhaften selbst einnimmt. Offenkundig hat der Selbstzweck der Tugend auch für den Tugendhaften eine Bedeutung. Er will den konkreten Handlungserfolg nicht um jeden Preis erlangen, sondern auf tugendhafte Weise. Der Tugendhafte plant nicht rein instrumentell, denn er schließt untugendhafte Mittel aus, selbst wenn sie in der konkreten Situation besonders erfolgversprechend erscheinen mögen. Der intrinsische Wert der Tugend scheint daher vor allem die Form der Handlung zu bestimmen und beispielsweise die Wahl Zum Vorwurf des Egozentrismus gegen klassische Tugendethiken vgl. z. B. Otto Pesch (1985), S. 31 ff.
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der Mittel einzuengen. In diesem Bild tritt der Selbstzweck der Tugend jedoch nicht als ein Zweck im praktischen Überlegen auf, den es über eine Zweck-Mittel-Kette zu erreichen gilt. Einige Tugendethiker vertreten daher die Position, dass der wahrhaft Tugendhafte den Selbstzweck der Tugend überhaupt nicht in seine praktischen Überlegungen mit einbezieht. Die Tugend strukturiere nur das Überlegen, indem sie bestimmt, welche Handlungsgründe als relevant erachtet werden und welche Mittel zur Erreichung eines Zwecks als legitim gelten, aber sie trete nicht selbst als Handlungsgrund in Erscheinung. Nach dieser Ansicht sei der Tugendhafte dadurch gekennzeichnet, dass er eben nicht um seinetwillen und für seine Tugendhaftigkeit handle, sondern auf eine tugendhafte Weise gute Zwecke verfolge. Diese radikale Position hat sich freilich die Kritik einer »Schizophrenie« zugezogen, weil ihr zufolge der Tugendhafte zwar in seinem Überlegen von der Tugend als Selbstzweck angeleitet werde, ihm aber diese Zweckhaftigkeit der Tugend nicht bewusst sein dürfe. Die subjektive Handlungsorientierung entspreche so nicht der objektiven Struktur der Handlungsgründe. 62 Das Verhältnis zwischen dem äußeren Zweck einer tugendhaften Handlung und ihrem Selbstzweck ist also alles andere als trivial. Die tugendhafte Handlung erscheint als ein janusköpfiges Geschöpf mit zwei separaten, unverbundenen Zwecken, bei der ausgerechnet der wesentliche Zweck – die Tugend als Selbstzweck – im Bewusstsein des Handelnden nur eine untergeordnete oder sogar überhaupt keine Rolle spielt. Eine anspruchsvolle Tugendethik muss das Verhältnis der beiden Zwecke auf befriedigende Weise erläutern können. Für die Interpretation der sokratischen Rede bei Xenophon, wie sie Hegel präsentiert, ist es jedoch nicht nötig, dieses Verhältnis abschließend zu klären. Es genügt der Hinweis, dass der konkrete äußere Zweck bei tugendhaften Handlungen offenbar eine wichtige Rolle einnimmt. Zumindest aus der Sicht des Handelnden scheint der konkrete Erfolg eben doch das »Wichtigste« oder zumindest sehr wichtig zu sein, solange er im Rahmen der tugendhaften Mittel zu erreichen ist. Dies hat zur Folge, dass tugendhafte Handlungen, obwohl sie laut Aristoteles vergleichsweise immun gegen äußere Zufälle und die »Wechselfälle des Lebens« sind, aus subjektiver Sicht dennoch durch zufällige Einflüsse bedroht werden. In dieser Hinsicht sind tugendhafte Handlungen auf ähnliche Weise der äußeren Kontingenz ausgeliefert wie 62
Vgl. Halbig (2013), S. 343–350.
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rein instrumentelles, technisches Handeln: Der Tugendhafte zielt mit seiner Handlung auf einen äußeren Erfolg, den er durch seine Tugend nicht garantieren kann, weil stets unvorhergesehene Zufälle dazwischen kommen können.
V.2.4 Das modifizierte Argument: innere Kontingenz und Willkür der Entschließung Das Argument für die Notwendigkeit von Orakelsprüchen, das Hegel Xenophon zuschreibt, bezieht sich auf die Anfälligkeit unseres Handelns für äußere Kontingenz (siehe Abschnitt V.2.2): Da stets zufällige Ereignisse unsere Pläne durchkreuzen können und wir deshalb den Erfolg unseres Handelns nicht selbst garantieren können, sind wir laut Xenophon auf göttlichen Beistand durch Orakelsprüche angewiesen, um diesen Mangel endlichen Wissens und Könnens auszugleichen. Gemäß diesem Argument stellen die Orakelpraktiken eine Reaktion auf die urmenschliche Angst vor dem Ungewissen dar. Ich bezeichne Xenophons Begründung auch als das »naive Argument«, weil sie auf der abergläubischen Prämisse beruht, dass Orakelsprüche tatsächlich die Zukunft vorhersagen könnten. Für Hegel ist das naive Argument aus verschiedenen Gründen unbefriedigend: Erstens verfehlt es den Anspruch einer vernünftigen Rekonstruktion der antiken Orakelpraktiken. Wir dürfen zwar annehmen, dass viele Griechen – genauso wie zahllose Vertreter anderer Völker und Kulturen bis heute – Zuflucht in Weissagungen, Horoskopen, Omen, Vogelschau und ähnlichen mantischen Handlungen suchten, um sich gegen böse Überraschungen vermeintlich abzusichern. Wenn wir jedoch aus unserer heutigen Sicht die antike Praxis nur als ein Produkt des Aberglaubens erklären, gelingt es uns nicht, ihren sinnvollen Kern zu verstehen, der sie zu einer derart langlebigen und erfolgreichen Praxis werden lässt. Es ist zwar richtig, dass die mantischen Praktiken mit Aberglauben behaftet sind, aber wenn wir sie auf diesen Aberglauben reduzieren, verkennen wir, was die Menschen mit diesen Handlungen tatsächlich tun. Die Aufgabe einer vernünftigen Rekonstruktion im Sinne Hegels besteht folglich darin, den sinnvollen Kern freizulegen, der die Grundlage einer solchen robusten und zentralen Praxis ist. Zweitens hält Hegel Xenophons Argument für verkürzt, weil es nicht der politischen Bedeutung der griechischen Orakel gerecht wird und deshalb auch nicht ihre spezifische (»we306 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
sentliche«) Notwendigkeit für den griechischen Geist erläutern kann. Hegel ist überzeugt, dass die Orakel eine besondere, notwendige Funktion innerhalb der griechischen Demokratien erfüllen, die sie zu einer typisch griechischen Institution macht. Diese spezifische Aufgabe verleiht den griechischen Orakeln ihre eigentümliche Gestalt, die sie von den mantischen Praktiken anderer Völker unterscheidet. Xenophons Erläuterung hingegen lässt uns über diese typische Funktion der Orakel innerhalb der griechischen Stadtstaaten im Unklaren. In diesem Abschnitt stelle ich deshalb ein zweites Argument aus Hegels Vorlesungen vor, welches im Gegensatz zu Xenophons Argument die genannten Anforderungen für eine vernünftige Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken erfüllt. Dieses Argument stellt gewissermaßen eine Variation und Erweiterung von Xenophons Argument dar, weshalb ich es auch das »modifizierte Argument« nenne. Es hat gegenüber Xenophons naivem Argument den Vorteil, dass es nicht auf die abergläubische Prämisse angewiesen ist, in den Orakeln offenbarten Götter ihr überlegenes Wissen. Mit Hilfe des modifizierten Arguments lässt sich daher zeigen, dass die Orakelpraktiken – zumindest vordergründig – eine sinnvolle Funktion im Zusammenleben der pólis-Gemeinschaft übernehmen. Zugleich bietet das modifizierte Argument einen Hinweis auf eine empfindliche Schwachstelle der griechischen Kooperation, indem es ein Unbehagen der Griechen mit ihrem Selbstverständnis verrät. Laut Hegels Darstellung haben die Griechen erkannt, dass ihre tugendhafte Kooperation Anforderungen an die Begründbarkeit von Handlungen stellt, die der Einzelne angesichts einer unüberschaubaren Welt nicht erfüllen kann. Auf die Orakelpraktiken greifen die Griechen deshalb als Notlösung zurück, um mit dem Orakelzeichen eine neue Form der Begründung zu schaffen, die den überforderten Handelnden von seiner Verantwortung entlasten soll. Tatsächlich wirken die griechischen Orakel auf diese Weise stabilisierend auf die pólis-Gemeinschaft, solange die Orakelsprüche von einer Mehrheit der Bürger als Handlungsbegründung akzeptiert werden. Letztlich müssen die Griechen jedoch einsehen, dass sie einer Selbsttäuschung erlegen sind, als sie die Orakel als subjektunabhängige und objektive Entscheidungsinstanzen interpretierten. Die Orakelsprüche sind eben nicht unabhängig von den Subjekten, die sie als Antworten auf ihre Fragen begreifen und dementsprechend interpretieren. Folglich können die Orakel das Subjekt nicht von der Verantwortung für seine Inter307 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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pretation entlasten und erlauben ihm auch keine unabhängige Form der Begründung. Der Fehler liegt allerdings nicht etwa in der Beschaffenheit der griechischen Orakel, sondern in den überzogenen Begründungs- und Rechtfertigungsansprüchen der tugendbasierten Kooperation. Das modifizierte Argument für die Notwendigkeit von Orakeln, das ich in diesem Abschnitt diskutiere, ist nicht nur Hegels eigene Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken. Vielmehr ist Hegel der Ansicht, dass die antiken Griechen selbst einen hintersinnigeren Umgang mit ihren Orakeln pflegten, als es das naive Argument nahelegt. Einen Beleg für diese Zuschreibung liefert uns ausgerechnet Xenophon in seiner Anabasis: Dort schildert der Autor, dass er die Einladung erhalten hatte, am Feldzug des Perserkönigs Kyros teilzunehmen. Da er fürchtete, dass die Athener ihm eine solche Zusammenarbeit mit den Persern übelnehmen könnten, zieht er das delphische Orakel zurate. Statt der naheliegenden Frage, ob er an der Seite des Kyros in den Krieg ziehen sollte, bittet er das Orakel um Auskunft, welchen Göttern er opfern solle, damit seine Unternehmung glücklich verlaufe. 63 Mit dieser Formulierung vermeidet er freilich, dass der delphische Gott ihm insgesamt von seiner Reise abrät, und kann sich dennoch bei seiner Entscheidung auf den Rat des Orakels berufen. Solche suggestiven Fragetechniken waren bei den Griechen offenbar nicht unüblich, um die Antworten der Orakel in ihrem Sinne zu beeinflussen. 64 Sie beweisen, dass es den antiken Griechen oft weniger darum ging, sich die Zukunft vorhersagen zu lassen, als ihre Entscheidung durch die Autorität des Orakels sanktionieren zu lassen und gegen mögliche Kritik abzusichern. Dieses Bedürfnis der Griechen nach Öffentlichkeit und Institutionalisierung von Entscheidungen – welches im Wesentlichen das Bedürfnis nach Ent-Subjektivierung ist – ist Hegel zufolge ein spezifisches Bedürfnis der Griechen, das aus ihrem Glauben an die Objektivität tugendhafter Handlungen folgt. Das modifizierte Argument besagt, dass die griechischen Orakel darauf ausgerichtet sind, diesem spezifischen Bedürfnis zu entsprechen. In den folgenden Unterabschnitten rekonstruiere ich Hegels modifiziertes Argument für die griechischen Orakel, indem ich zuerst darauf eingehe (Unterabschnitt V.2.4.1), wie Hegel Xenophons Ein63 64
Xenophon, Anabasis III.1,4–7. Parker (1985), S. 302 f.
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Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
sicht in die Anfälligkeit der Tugend für äußere Zufälle aufgreift, um zu zeigen, dass der äußeren Kontingenz eine innere Kontingenz im menschlichen Wollen und Entscheiden entspricht: Da es einem endlichen Subjekt nicht möglich ist, alle Umstände einer Handlung abschließend zu prüfen, muss es an einem willkürlichen Punkt sein praktisches Überlegen abbrechen, um handeln zu können. Dieser Abbruch im Überlegen führt zu einer bloß eingeschränkten Begründbarkeit der Handlung. Im Unterabschnitt V.2.4.2 erläutere ich anschließend, dass Hegels Auffassung der inneren Kontingenz sich aus einem umfassenderen Verständnis der Handlungssituation ableitet. Während Xenophon die Handlungssituation wie eine überschaubare Momentaufnahme betrachtet, vertritt Hegel ein holistisches, grundsätzlich unüberschaubares und somit auch mehrdeutiges Bild der Handlungssituation. Im nächsten Schritt (Unterabschnitt V.2.4.3) skizziere ich, wie Hegels Griechen diese Überforderung des Einzelnen angesichts der unüberschaubaren Handlungssituation durch ihre Einrichtung der Orakel zu umgehen versuchen, indem sie die Orakelzeichen als äußere Schiedsinstanzen interpretieren, welche einen willkürlichen Abbruchpunkt des Überlegens scheinbar rechtfertigen. Schließlich erläutere ich (Unterabschnitt V.2.4.4), dass dieser Ausweg auf einem Irrtum beruht: Äußere Ereignisse können von sich aus keinen Zeichencharakter besitzen, sofern dieser nicht durch subjektive Deutung in sie hineingelegt wurde. Die vermeintlich subjektunabhängigen Orakelsprüche sind in Wirklichkeit das Ergebnis einer gemeinschaftlichen Interpretations- und Aushandlungsleistung. Sobald die Griechen diese Täuschung durchschauen, verlieren die Orakel ihre Funktion als scheinbar subjektunabhängige, objektive Orientierungshilfen. V.2.4.1 Endlichkeit im Wollen und Begründungsabbruch Hegel stellt das modifizierte Argument für die griechischen Orakelpraktiken in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion vor. Der Text erinnert in vielen Punkten an die Erläuterung der naiven Auffassung, die Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie diskutiert (siehe Abschnitt V.2.2). Beide Argumente besitzen eine ähnliche Struktur und greifen auf ähnliche Beispiele zurück. In seinen Religionsvorlesungen nimmt Hegel allerdings eine entscheidende Umdeutung vor, die dem Argument eine neue Wendung verleiht. Zwar wählt Hegel genauso wie Xenophon die mensch309 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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liche Kontingenzerfahrung als Ausgangspunkt für sein Argument zur Notwendigkeit der Orakel. Hegel bestimmt jedoch das Wesen dieser Erfahrung anders, indem er sie statt in den äußeren Umständen im handelnden Subjekt verortet. Für Xenophon besteht die Problematik endlichen Handelns darin, dass stets äußere Zufälle die Pläne des Subjekts durchkreuzen können. Hegel hingegen erklärt in seiner Religionsvorlesung, dass die eigentliche Problematik der Kontingenzerfahrung in einer inneren Zufälligkeit im Wollen des Handelnden liegt. Ich werde die relevante Textstelle zunächst in ihrer Gänze zitieren und sie anschließend schrittweise erläutern: Wenn es sich um die besonderen Interessen des Menschen, um sein Glück oder Unglück handelt, so hängt dies Äußerliche der Erscheinung noch davon ab, ob der Mensch dies oder jenes tue, da oder dorthin gehe usf. Dies ist sein Tun, seine Entschließung, die er aber auch wieder als zufällig weiß. Nach den Umständen, die ich kenne, kann ich mich zwar entschließen; aber außer diesen mir bekannten können auch andere vorhanden sein, durch welche die Realisierung meines Zweckes zunichte gemacht wird. Bei diesen Handlungen bin ich also in der Welt der Zufälligkeit. Innerhalb dieses Kreises ist also das Wissen zufällig, es bezieht sich nicht auf das Ethische, wahrhaft Substantielle, Pflichten des Vaterlandes, des Staats usw.; aber dies Zufällige kann der Mensch nicht wissen. Die Entschließung kann somit insofern nichts Festes, nichts in sich Begründetes sein; sondern indem ich mich entschließe, weiß ich zugleich, daß ich von Anderem, Unbekanntem abhängig bin. Da nun weder im Göttlichen noch im Individuum das Moment der unendlichen Subjektivität vorhanden ist, so fällt es auch nicht dem Individuum anheim, die letzte Entschließung, das letzte Wollen – z. B. heute eine Schlacht zu liefern, zu heiraten, zu reisen – aus sich selbst zu nehmen; denn der Mensch hat das Bewußtsein, daß in diesem seinem [sic] Wollen nicht die Objektivität liegt und daß dasselbe nur formell ist. Um das Verlangen nach dieser Ergänzung zu befriedigen und diese Objektivität hinzuzusetzen, dazu bedurfte es einer Bestimmung von außen und von einem Höheren, als das Individuum ist, nämlich eines äußerlichen, entscheidenden und bestimmenden Zeichens. Es ist die innere Willkür, die, um nicht Willkür zu sein, sich objektiv, d. h. unveräußerlich zu einem Anderen seiner selbst macht und die äußerliche Willkür höher nimmt als sich selbst. 65
Beide Autoren beginnen mit der grundsätzlichen Erfahrung des Scheiterns: Trotz aller Bemühungen können wir den Erfolg unseres
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Hegel, VPhRel.II S. 143.
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Handelns nicht garantieren. Es können immer Umstände auftreten, »welche die Realisierung meines Zweckes« verhindern. Als endliche Wesen ist unsere Handlungsfähigkeit folglich unvollkommen: Obwohl wir bestimmte Fähigkeiten erwerben können – zum Beispiel die Baukunst oder die Schmiedekunst –, gelingt uns nicht immer, den entsprechenden Zweck zu verwirklichen, der in diesen Fähigkeiten liegt. Eine endliche Fähigkeit entspricht daher nicht vollständig ihrem eigenen Anspruch. In Abschnitt V.2.2 habe ich gezeigt, dass Xenophon diesen Mangel unserer Handlungsfähigkeit auf die Endlichkeit menschlichen Wissens zurückführt. Unsere Kenntnisse über die Welt sind begrenzt. Insbesondere die Zukunft kennen wir nicht. Somit wissen wir nicht, welche zukünftigen Ereignisse uns erwarten, die unsere Pläne durchkreuzen können. Xenophon glaubt, dass wir diesen Mangel der menschlichen Handlungsfähigkeit beheben können, indem wir auf unendliches Wissen zurückgreifen, das heißt auf göttlichen Ratschlag. Die Götter sind nicht an menschliche Beschränkungen gebunden und kennen daher auch alles Zufällige und Zukünftige, das uns verborgen ist. Somit können sie uns durch Orakelsprüche vor einem möglichen Scheitern warnen. Hegel hingegen wandelt diese Überlegung Xenophons ab und wendet den Blick auf das Innere des Subjekts. Statt von der Zufälligkeit äußerer Ereignisse spricht Hegel von einer Zufälligkeit im Überlegen und Handeln des Subjekts: Dies ist sein Tun, seine Entschließung, die er aber auch wieder als zufällig weiß. Nach den Umständen, die ich kenne, kann ich mich zwar entschließen; aber außer diesen mir bekannten können auch andere vorhanden sein, durch welche die Realisierung meines Zweckes zunichte gemacht wird. Bei diesen Handlungen bin ich also in der Welt der Zufälligkeit. 66
Diesen Richtungswechsel der Argumentation können wir folgendermaßen erklären: Hegel erkennt, dass es in der Kontingenzerfahrung nicht darauf ankommt, ob die äußeren Ereignisse, die uns scheitern lassen, in irgendeinem Sinne zufällig sind. Stattdessen liegt die eigentlich relevante Zufälligkeit in der Tatsache, dass wir unsere Pläne in einer bestimmten Weise gefasst haben, so dass sie für konkrete Zwischenfälle anfällig sind. Es geht in der Kontingenzerfahrung also weniger um die Unwägbarkeit der Ereignisse als um unseren Umgang
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Ebd.
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mit dieser Unwägbarkeit. Der Seefahrer, dessen Schiff im Sturm untergeht, und der Heerführer, der in einen Hinterhalt des Feindes gerät, scheitern zwar aufgrund unvorhergesehener Ereignisse. Es handelt sich in diesen Fällen jedoch schwerlich um unvorhersehbare Ereignisse. Die Möglichkeiten eines Seesturms oder eines Überraschungsangriffs sind in den Handlungen einer Schifffahrt beziehungsweise des Kriegführens enthalten. Sie gehören zum Möglichkeitsraum, der durch den entsprechenden Handlungstyp eröffnet wird, und daher muss der Handelnde mit ihnen auch rechnen. Hätten sich der Seefahrer und der Heerführer auf diese Ereignisse vorbereitet und entsprechende Vorkehrungen getroffen, wären ihre Handlungen geglückt. Somit wird ihr Scheitern in letzter Konsequenz nicht durch die äußeren Umstände verursacht, sondern durch die bewusste oder unbewusste Entscheidung, die Möglichkeit solcher Umstände in der Planung nicht zu berücksichtigen. Als endliche Wesen befinden wir Menschen uns freilich in der Zwangslage, dass wir uns niemals gegen alle denkbaren Widrigkeiten absichern können. Um handlungsfähig zu sein, müssen wir ein gewisses Risiko in Kauf nehmen. Wir sind also gezwungen, uns zu entscheiden, auf welche äußeren Zufälle wir uns einstellen. Diese Entscheidung – Hegel nennt sie im obigen Zitat »Entschließung« – können wir zwar durch gewisse Risikoabwägungen unterstützen, etwa, indem wir überlegen, welche Hindernisse für bestimmte Handlungen besonders häufig oder selten auftreten. Derartige Abwägungen können jedoch unsere Entschließung nicht hinreichend begründen, denn schließlich können auch seltene Gefahren eintreten. Mit gleichem Recht könnten wir uns in ähnlicher Weise auf andere mögliche Hindernisse vorbereiten und andere Risiken in Kauf nehmen. Der eigentliche Kern der Kontingenzerfahrung besteht folglich in der Notwendigkeit, dass jede menschliche Handlung implizit oder explizit von einer derartigen Risikoabwägung und einer willkürlichen Fokussierung auf nur einen Teil der möglichen Umstände abhängt. Das Handeln findet also in »der Welt der Zufälligkeit« statt und der Handelnde weiß, dass »sein Tun, seine Entschließung« zufällig sind, wie es Hegel im obigen Zitat formuliert. Hegel zufolge haben die antiken Griechen erkannt, dass menschliches Handeln stets mit einem irreduziblen Willkürmoment der »Entschließung« behaftet ist. Diese Einsicht zeigt uns zwei Probleme: Erstens führt das Willkürmoment dazu, dass unsere Handlungen anfällig für Fehlschläge sind. Da ich immer nur einen Teil der möglichen 312 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Umstände berücksichtigen kann, besteht stets die Gefahr, dass ich andere wichtige Umstände außer Acht lasse, welche »die Realisierung meines Zwecks zunichte« machen. In dieser Hinsicht kommt Hegels Analyse zu dem gleichen Ergebnis wie Xenophons Argument. Zusätzlich ist Hegels Darstellung allerdings in der Lage, noch eine weitere Dimension der Kontingenzerfahrung in den Blick nehmen: Da meine Handlung stets auf dem Willkürmoment der Entschließung beruht, ist sie auch, zweitens, nicht in Gänze begründbar. Die Entschließung führt dazu, dass die Handlung laut Hegel »nichts Festes, nichts in sich Begründetes« ist. Der Handelnde kann offensichtlich seine Handlung nur relativ auf diejenigen Umstände begründen, die er in Betracht gezogen hat. Er kann jedoch nicht begründen, weshalb er ausgerechnet diese bestimmten Umstände beachtet und nicht andere – das heißt: die Entschließung selbst ist inhaltlich nicht begründbar. Gegebenenfalls vermag der Handelnde, seine Entschließung in gewisser Weise zu erläutern, etwa durch eine Risikoabwägung und den Hinweis auf die statistische Seltenheit mancher Gefahren. Mittels solcher relativer Begründungen und Abwägungen wird jedoch die Handlung nicht abschließend begründet, weil sie nicht als die angemessene Handlung für eine konkrete Situation ausgewiesen wird. Bloße Abwägungen und relative Begründungen lassen zu, dass ein Handelnder sich in genau der gleichen Situation mit gewisser Berechtigung auch anders hätte entscheiden können. Somit ist die Handlung zwar nicht völlig willkürlich, da zumindest noch eine relative Begründung im Hinblick auf einen Teil der Umstände gegeben werden kann, aber sie bleibt eben durch das Element der Entschließung teilweise willkürlich. Für Hegel besteht in dem Bewusstsein dieser Einschränkung der Begründbarkeit die eigentliche Kontingenzerfahrung der Griechen. Während Xenophon in seinem Argument von einem Mangel des menschlichen Wissens spricht, beschreibt Hegel den Ursprung der Kontingenzerfahrung als einen Mangel des menschlichen Wollens. Dem menschlichen Wollen fehle »die Objektivität«, so Hegel: Die Entschließung kann somit insofern nichts Festes, nichts in sich Begründetes sein; sondern indem ich mich entschließe, weiß ich zugleich, daß ich von Anderem, Unbekanntem abhängig bin. Da nun weder im Göttlichen noch im Individuum das Moment der unendlichen Subjektivität vorhanden ist, so fällt es auch nicht dem Individuum anheim, die letzte Entschließung, das letzte Wollen – z. B. heute eine Schlacht zu liefern, zu heiraten, zu reisen – aus sich selbst zu nehmen; denn der Mensch hat das Bewußtsein, daß
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in diesem seinem Wollen nicht die Objektivität liegt und daß dasselbe nur formell ist. 67
Die Formulierung, dass im Wollen nicht »die Objektivität« liege und es »nur formell« sei, können wir mit den obigen Hinweisen folgendermaßen deuten: Die »Objektivität« des Wollens bezieht sich auf seine Begründbarkeit. Nach griechischer Vorstellung ist die Tugendhaftigkeit einer Handlung genau dann objektiv, wenn sie vor kompetenten Beobachtern durch eine hinreichende Begründung als gute Handlung ausgewiesen werden kann. Die Objektivität eines Wollen oder einer Handlung bezeichnet also ihre gemeinsame Beurteilbarkeit hinsichtlich ihrer Normentsprechung (siehe Kapitel IV.2). Die Einsicht in das Willkürelement der Entschließung bedeutet ein Problem für dieses Verständnis von Objektivität, da sie festhält, dass im Grunde keine Handlung vollständig gerechtfertigt werden kann. Folglich ist auch keine Handlung im griechischen Sinn »objektiv«, da Begründungen nur unter Vorbehalt und lückenhaft die Angemessenheit einer Handlung zeigen können. Insbesondere für die griechische Korrekturpraxis ist diese Einsicht fatal, wie ich weiter unten erläutern werde. Hegels Hinweis, dass das Wollen »nur formell« sei, bezieht sich auf die besondere Modalität der Entschließung, die zugleich notwendig und willkürlich ist: Notwendig ist sie, weil es unausweichlich ist, den Prozess des praktischen Überlegens an einem Punkt abzubrechen, da niemals sämtliche möglichen Umstände berücksichtigt werden können. Unsere Endlichkeit zwingt uns zur Entschließung. Somit können wir auch rechtfertigen, dass wir uns zu einer bestimmten Handlung – und somit für die Berücksichtigung eines Teils der Umstände – entschlossen haben. Dennoch bleibt die Entschließung inhaltlich zufällig, weil der konkrete Punkt des Abbruchs des praktischen Überlegens keiner inneren, sachlichen Notwendigkeit unterliegt. Das Wollen ist somit nur »formell«, da die Entschließung als solche aufgrund ihrer Notwendigkeit begründet werden kann, aber nicht der Inhalt der Entschließung selbst. Hegels Analyse der Kontingenzerfahrung als eine dem Subjekt innere Kontingenz hat gegenüber Xenophons äußerer Kontingenz den Vorteil, dass sie die Problematik von Handlungsbegründungen sichtbar macht, die mit dieser Erfahrung verbunden ist. Das irreduzible Willkürmoment der Entschließung verhindert, dass unsere Hand67
Ebd.
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lungen vollständig begründet werden können. Endliches Handeln ist immer nur durch einen kontingenten Abbruch des Überlegens und Prüfens von Handlungsumständen möglich. Somit müssen auch die Handlungsbegründungen an diesem Punkt der Entschließung abgebrochen werden. Diese Problematik ist nun allerdings, anders als die Problematik der Möglichkeit des Scheiterns von Handlungen, in besonderem Maße relevant für die griechische Kooperation auf der Grundlage der Tugend. Rein instrumentelle Handlungen müssen schließlich in der Regel nicht begründet werden. Für den Erfolg einer instrumentellen Handlung zählt vor allem, dass sie den gewünschten Zweck verwirklicht. Wenn eine solche rein instrumentelle Handlung scheitert, ist es nebensächlich, ob dieses Scheitern auf äußere Zufälle oder eine Überforderung des Subjekts zurückgeführt wird. Betrachten wir also rein technisch-instrumentelles Handeln, sind Xenophons und Hegels Beschreibungen der Kontingenzerfahrung gleichwertig, da die zusätzliche Dimension der Begründbarkeit und der Endlichkeit des Wollens keine erhebliche Rolle spielt. Anders verhält sich dies bei der griechischen Tugend, für die die Begründbarkeit wesentlich ist. Zum einen übernimmt die Begründbarkeit einer tugendhaften Handlung bei den Griechen die Aufgabe, eine gemeinsame Korrekturpraxis zu ermöglichen. Nur indem eine Handlung für andere kompetente Mitglieder der Gemeinschaft durch eine Begründung nachvollziehbar wird, kann sie durch diese Mitglieder hinsichtlich ihrer Normentsprechung beurteilt werden. Zum anderen soll die Begründung gewährleisten, dass im tugendhaften Handeln tatsächlich die selbstbestimmten Normen verwirklicht werden, auf die das Subjekt sich verpflichtet hat. Tugendhaftes Handeln hat somit den Anspruch, wesentlich freies, vernünftiges Handeln zu sein. Als solches sollte es eben nicht von willkürlichen Stimmungen und augenblickshaften Entscheidungen abhängen. Mit diesem Verständnis der Tugend ist die Einsicht in das irreduzible Willkürmoment der Entschließung schwer vereinbar. Anders als Xenophon zeigt uns also Hegel, dass an dieser Stelle ein spezifisches Problem der Griechen und der griechischen Kooperationsgemeinschaft verhandelt wird. Xenophons Endlichkeit des Wissens betrifft jegliches menschliches Handeln, das auf irgendeinen äußeren Erfolg ausgerichtet ist. Insofern müssen sich alle Völker und Kulturen auf die eine oder andere Weise mit dieser Endlichkeit auseinandersetzen. Aus diesem Grund ist es auch nicht überraschend, dass die mantischen Praktiken, die Xenophon als Lösung für die Endlichkeit des Wissens vorschlägt, uns in den verschie315 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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densten Kulturen begegnen. Hegels Beschreibung der Endlichkeit des Wollens hingegen richtet sich gegen die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit sowie den damit verbundenen hohen Stellenwert von Begründungen in den demokratischen Verfahren der pólis. Die Einsicht in das Willkürmoment der Entschließung stellt diese griechischen Selbstverständlichkeiten in Frage. Indem wir die griechischen Orakel als eine Antwort auf die Endlichkeit des Wollens verstehen, können wir sie als eine spezifisch griechische Institution rekonstruieren, deren Funktion sich von den mantischen Praktiken anderer Völker und Kulturen unterscheidet. Hegels Griechen versuchen, mit Hilfe ihrer Orakel eine neue Form der Begründung zu etablieren, die die Endlichkeit des Wollens umgeht und somit dennoch eine »Objektivität« des Handelns zulässt. Im Unterabschnitt V.2.4.3 werde ich auf diesen Lösungsversuch der griechischen Orakel eingehen. Zuvor betrachte ich im nächsten Unterabschnitt V.2.4.2 allerdings noch eine weitere Eigenschaft von Hegels Begriff der Kontingenzerfahrung und zeige, wie sich aus diesem ein Verständnis der Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen ergibt, das eng mit der sophistischen Kritik an der Tugend verbunden ist. V.2.4.2 Die Mehrdeutigkeit der Handlungssituation Im vorangegangenen Unterabschnitt haben wir gesehen, dass Hegels und Xenophons Auffassungen der griechischen Orakel sich auf verschiedene Konzepte von Kontingenz zurückführen lassen, die Hegel mit Hilfe der Metaphorik des Außen und Innen unterscheidet: Gemäß Xenophon besteht die menschliche Kontingenzerfahrung in der Konfrontation mit äußeren, zufälligen Ereignissen, die unsere Handlungen scheitern lassen. Hegel hingegen sieht den Kern der Kontingenzerfahrung in der Unvermeidlichkeit eines Willkürelements im praktischen Überlegen des Subjekts. Dieser Kontrast zwischen äußerem Zufall und innerer Willkür ist mit zwei unterschiedlichen Deutungen der Handlungssituation verbunden, wie ich in diesem Unterabschnitt zeigen werde. Hegel schreibt Xenophon im Wesentlichen ein lokales, beschränktes Verständnis der Handlungssituation zu, während er selbst ein holistisches Verständnis entwirft, auf dem das modifizierte Argument für die Notwendigkeit von Orakeln aufbaut. Gemäß dem holistischen Verständnis sind Handlungssituationen grundsätzlich für endliche Subjekte unüberschaubar. Dies bedeutet 316 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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zum einen, dass eine Handlungssituation von einem endlichen Subjekt niemals vollständig kontrolliert wird und dass dieses daher grundsätzlich überfordert ist. Die griechische Vorstellung, dass der Tugendhafte normalerweise in der Lage ist, seine Situation zu überblicken und sich für die richtige, der Situation angemessene Handlung zu entscheiden, wird durch dieses Verständnis unterlaufen. Zum anderen liefert uns das holistische Verständnis eine systematische Erklärung für die sophistische Einsicht in die Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen (siehe Abschnitt V.1.3): Da Handlungssituationen fundamental unüberschaubar sind, lassen sie stets mehrere, möglicherweise sogar unvereinbare Deutungen zu, die sich auf jeweils andere Ausschnitte der Situation gründen. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Betrachtung der beiden verschiedenen Konzepte der Handlungssituation hilfreich, weil sich erstens so der Zusammenhang zwischen den Orakeln und der sophistischen Kritik herstellen lässt. Zweitens lässt sich so zeigen, wie Hegel sein Konzept als konsequente Fortentwicklung der Handlungssituation bei Xenophon präsentiert. Hegel führt kein völlig fremdes Konzept ein, das er unverbunden gegen dasjenige des Xenophon stellt, sondern deutet an, dass ein umfassenderes Verständnis bereits bei Xenophon angelegt ist. Xenophon charakterisiert die menschliche Kontingenzerfahrung im Wesentlichen durch den Kontrast zwischen menschlichem und göttlichem Wissen (siehe Abschnitt V.2.2). Das Wissen der Menschen beschränke sich zum einen auf allgemeine Fertigkeiten wie »Baukunst, Ackerbau, Schmiedekunst usf.«, aber auch die Tugenden. 68 Zum anderen können Menschen nur über das Gegenwärtige Bescheid wissen, die Götter hingegen kennen »das Zukünftige«. 69 Dass dieser Kontrast zwischen menschlichem und göttlichem Wissen vor allem ein zeitlicher Kontrast ist, lässt sich bereits an der Satzstruktur der Beispiele erkennen, die Xenophon aufzählt: Aber der das Feld baut, weiß nicht, wer die Früchte genießen (ernten) werde; wer ein Haus baut, nicht, wer es bewohnen wird; der Feldherr weiß nicht, ob es geraten sei, die Armee ins Feld zu führen; wer einem Staate vorsteht, ob es ihm (dem Individuum) gedeihlich oder gefährlich sei; noch wer eine schöne Frau (καλήν, eine Geliebte) heiratet, ob er werde Freude daran erleben, ob ihm nicht Kummer und Leid daraus entspringen wird; 68 69
Vgl. Hegel, VGPhil.I S. 493. Ebd., S. 499.
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noch wer mächtige Verwandte im Staate hat, kann wissen, ob es ihm nicht geschieht, wegen derselben aus dem Staate verbannt zu werden. 70
All diese Beispiele gliedern sich in zwei Bestandteile. Der erste Bestandteil beschreibt ein Ereignis oder eine Tätigkeit in der Gegenwart: Der Bauer pflügt den Acker, der Architekt baut das Haus, der Feldherr befiehlt den Angriff, eine Ehe wird geschlossen und so weiter. Dieser erste Bestandteil fällt in den Bereich des menschlichen Wissens und Könnens, das heißt, er bezieht sich auf Dinge, die wir Menschen als endliche Handelnde laut Xenophon überschauen können. Der zweite Bestandteil der Beispiele beschreibt hingegen ein Ereignis, das aus der Sicht des Handelnden in der Zukunft liegt: die Ernte der Feldfrüchte, den Einzug in das fertiggestellte Haus, den Ausgang der Schlacht und das spätere Eheglück. Diese zukünftigen Dinge kann der Mensch weder wissen noch beherrschen, so Xenophon. Die gegenwärtigen Handlungen zielen zwar auf einen bestimmten Ausgang, dieser könne jedoch durch zukünftige Zwischenfälle verhindert werden. Die Kontingenzerfahrung besteht für Xenophon somit im Wesentlichen in der Erfahrung eines Kontrollverlusts beziehungsweise in dem Wissen um die nicht vermeidbare Möglichkeit eines solchen Kontrollverlusts. Ihre besondere Dramatik erhält diese Erfahrung durch den Kontrast ihrer beiden zeitlichen Elemente: Ursprünglich hat der Handelnde seine Situation im Griff; er weiß beispielsweise, wie er das Feld sachgemäß bestellt oder seine Armee klug befehligt. Aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse entgleitet ihm jedoch zu einem späteren Zeitpunkt die Kontrolle, seine Bemühungen erweisen sich als vergeblich und seine Fähigkeiten als nutzlos. Die entscheidende Voraussetzung für diesen Kontrast, den Xenophon zeichnet, liegt allerdings in der Annahme, dass die ursprüngliche Handlungssituation kontrollierbar sei und ihre Umstände für das handelnde Subjekt überschaubar seien. Anfangs scheint es so, als sei der kompetente Handelnde Herr der Lage. Durch später hinzukommende Ereignisse ändere sich dies jedoch. Insofern brechen die Ereignisse »von außen« über den Handelnden herein. Sie werden nicht als Teil der ursprünglichen Handlungssituation verstanden und markieren daher den Beginn einer neuen Situation. Aus dieser Charakterisierung ergeben sich folgende Merkmale der Handlungssituation, wie Xenophon sie versteht: Nach dieser Deutung ist eine Handlungssituation grundsätzlich für 70
Ebd., S. 494.
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ein endliches Subjekt überschaubar, verständlich und kontrollierbar, wenn dieses hinreichend kompetent ist. Dies bedeutet, dass eine Handlungssituation für Xenophon zeitlich und räumlich beschränkt ist. Sie stellt eine Beschreibung einer endlichen Menge von Handlungsumständen und Faktoren dar. Xenophon betrachtet die Handlungssituation folglich wie eine Momentaufnahme. Durch spätere Ereignisse und hinzukommende Umstände kann sich die Situation des Handelnden verändern. Die Planungen, die an der ursprünglichen Handlungssituation ausgerichtet waren, können sich als unzureichend für die neue Handlungssituation herausstellen. In Hegels Darstellung des modifizierten Arguments für die Notwendigkeit von Orakeln sehen wir jedoch, dass Hegel Xenophons Bild der Handlungssituation als unzureichend verwirft und ein anderes Verständnis der Kontingenzerfahrung entwickelt. Hegel legt die Handlungssituation umfassender an als Xenophon, wie sich in der folgenden Bemerkung aus den Religionsvorlesungen zeigt: Nach den Umständen, die ich kenne, kann ich mich zwar entschließen; aber außer diesen mir bekannten können auch andere vorhanden sein, durch welche die Realisierung meines Zweckes zunichte gemacht wird. Bei diesen Handlungen bin ich also in der Welt der Zufälligkeit. 71
Nach Hegels Verständnis können sowohl bekannte als auch unbekannte Umstände zur Handlungssituation gehören, das heißt einerseits Umstände, die das handelnde Subjekt bei seiner Planung berücksichtigt hat, und andererseits solche, die seine Pläne durchkreuzen können. Der Unterschied im Tempus beider Beschreibungen ist vielsagend: Xenophon sieht die widrigen Zufälle als zukünftige Ereignisse. Hegel hingegen spricht in der Religionsvorlesung präsentisch von widrigen Umständen, die genauso wie die bekannten Umstände bereits »vorhanden« sind. Diesen Tempusunterschied können wir derartig deuten, dass für Hegel sämtliche »Umstände« zur Handlungssituation gehören, welche die Handlung und ihren konkreten Erfolg beeinflussen, ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt sie auftreten. So wird beispielsweise der zukünftige Hagelschlag, der dem Bauern die Ernte verdirbt, von Hegel ebenfalls als ein Umstand angesehen, der zur Handlungssituation des Bauern schon bei der Aussaat gehört. Der Hagelschlag ist zwar ein zukünftiges Geschehen, aber seine Möglichkeit ist bereits zum Zeitpunkt der Aussaat in der Situation ange71
Ders., VPhRel.II S. 143.
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legt. Somit gehören alle gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse für Hegel zur vollständigen Situationsbeschreibung, sofern sie die Handlung beeinflussen. Hegel verwirft die künstliche Trennung zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Umständen, an der Xenophon festhält, und gelangt so zu einem holistischen Bild der Handlungssituation, das sämtliche handlungsrelevanten Umstände einschließt. Leider erläutert Hegel in seinen Vorlesungen nicht explizit seine Motive für diesen abweichenden Zuschnitt der Handlungssituation im Vergleich zu Xenophon. Zwei Gründe scheinen jedoch nahe zu liegen: Erstens ist es sachlich gerechtfertigt, alle Faktoren, die für den Erfolg der Handlung relevant sind, auch zur Handlungssituation zu rechnen. Die Beschränkung Xenophons auf die Betrachtung gegenwärtiger Umstände in der Handlungssituation bedeutet eine unhaltbare Verkürzung. Ein vernünftiges Subjekt richtet sein Handeln schließlich nicht allein an gegenwärtigen Faktoren aus, sondern bezieht stets auch mögliche zukünftige Entwicklungen in seine Planungen mit ein. Ein kurzsichtig Handelnder, der für seine Planungen nur auf die gegenwärtigen Umstände schaut, und anschließend scheitert, weil ihm ein vorhersehbares Hindernis dazwischen kommt, erlebt keinen Kontrollverlust, wie Xenophon es suggeriert. Stattdessen handelt eine solche Person fahrlässig und hat zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle über ihre Handlungssituation. Dies liegt daran, dass Xenophons Beschränkung der Handlungssituation auf eine Momentaufnahme dem Wesen von Handlungen widerspricht, die grundsätzlich zeitlich ausgedehnte Ereignisse sind – und somit selbst immer über die Gegenwart hinausgehen. Zweitens trifft die Unterscheidung in gegenwärtige und zukünftige Ereignisse eine willkürliche Auswahl, die keinesfalls so eindeutig ist, wie Xenophons Beschreibung suggeriert. Ob ein widriger Umstand vorhersehbar ist und auch tatsächlich vom Handelnden vorhergesehen wird, hat wenig damit zu tun, ob dieser Umstand erst in der Zukunft eintritt oder bereits zu Beginn der Handlung vorhanden ist. So ist vorstellbar, dass die feindlichen Verstärkungstruppen, die letztlich die überraschende Niederlage des Feldherrn herbeiführen, schon zu dem Zeitpunkt aufgebrochen sind, an dem der Feldherr seinen Schlachtplan aufstellt und seine Befehle erteilt. Marschieren die Verstärkungstruppen, während der Feldherr noch plant, gelten sie im obigen Schema als gegenwärtiger Umstand. Sind sie jedoch noch nicht einmal ausgehoben, können sie als zukünftiger Umstand gerechnet werden. Die Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit dieser Ereignisse ist jedoch irrelevant für den Feldherrn. 320 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
Entscheidend ist vielmehr, ob er mit den Verstärkungstruppen rechnen kann, ob sie für ihn vorhersehbar sind und ob er sie am Ende tatsächlich bei seinem Verteidigungsplan berücksichtigt. Die Einteilung der Umstände in zukünftige und gegenwärtige schafft daher einen künstlichen Kontrast, der an der Sache vorbeigeht. Hegel verwirft somit zurecht Xenophons lokales Bild der Handlungssituation. Aus Hegels holistischer Auffassung ergibt sich, dass wir nicht wie Xenophon von einer Veränderung oder Einwirkungen von außen sprechen müssen, um die Kontingenzerfahrung abzubilden. Vielmehr ist die Handlungssituation von sich aus unüberschaubar und eben nicht vollständig kontrollierbar. Der endliche Handelnde ist daher notwendigerweise überfordert. Genau in dieser Unüberschaubarkeit und der mit ihr verbundenen Überforderung des Handelnden besteht nach Hegels Auffassung die Kontingenzerfahrung. Aus der grundsätzlichen Unüberschaubarkeit der Handlungssituation folgt zweierlei: Erstens begründet sie die Notwendigkeit der »Entschließung« für das Handeln. Jeder Handelnde muss einsehen, dass er seine Situation nicht vollständig erfassen kann. Dies bedeutet, dass er seine Entscheidungen treffen muss, obwohl ihm nur unvollständige Informationen über seine Umstände zur Verfügung stehen. Der Prozess des Prüfens und Überlegens kann niemals zu einem natürlichen Ende geführt werden, da es unmöglich ist, alle Faktoren zu erfassen. Dem endlichen Subjekt bleibt also nichts anderes übrig, wenn es nicht in einer handlungsunfähigen Starre verharren will, als seinen Prozess des Überlegens an einem willkürlichen Punkt abzubrechen und einfach aufgrund der Umstände zu handeln, die ihm bis dahin bekannt sind. Zweitens können wir die Unüberschaubarkeit der Handlungssituation in eine fundamentale Mehrdeutigkeit der Handlungssituation übersetzen. Aus der Einsicht, dass es keine abschließende und endgültige Beurteilung einer Situation gibt, folgt, dass stets mehrere, teilweise auch unvereinbare Beschreibungen einer Situation möglich sind. Ein einzelnes Subjekt kann nur einen Ausschnitt seiner Situation überblicken. Somit kann es mit anderen Subjekten konfrontiert werden, die einen anderen Ausschnitt derselben Situation wahrnehmen und dementsprechend eine andere Handlung für angemessen halten. Aus der Perspektive der einzelnen Subjekte lässt sich nicht sagen, welche Situationsbeurteilung die zutreffendere ist, zumal ihre Sichtweise durch eine willkürliche Auswahl zustande kommt. Hegels Sophisten erkennen diese irreduzible Mehrdeutigkeit und machen sie sich für ihre rhetorischen Manipulationsversuche zu321 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
nutze, indem sie zu jeder Situationsbeschreibung eine alternative, scheinbar gleichwertige Beschreibung präsentieren (siehe Kapitel V.1). Diese Einsichten in die Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen und in die Unvermeidbarkeit eines Willkürelements in jeder Handlung haben für Hegels Griechen einschneidende Folgen: Sie erschüttern den griechischen Glauben an die ›Objektivität‹ von Handlungen, indem sie einerseits zeigen, dass auch der Tugendhafte seine Handlungssituation nicht vollständig kontrolliert und seine Handlungen daher niemals vollständig rechtfertigen kann. Andererseits folgt aus ihnen, dass zwei Tugendhafte bei der Beurteilung von ein und derselben Handlungssituation zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen gelangen können, auch wenn sie die gleichen Handlungsnormen auf diese Situation anwenden. Entschließung und Mehrdeutigkeit führen so zu einer Heterogenität im tugendhaften Urteilen, die das griechische Konzept eines harmonischen Zusammenlebens auf der Grundlage der Tugend und einer Praxis der gegenseitigen Korrektur durch gemeinsames Urteilen gefährdet. Auf diese Bedrohung reagieren Hegels Griechen mit der Einführung einer neuen Form der Begründung und Rechtfertigung, dem öffentlichen Orakelspruch. Auf diese Weise hoffen sie, die subjektive Willkür der Entschließung durch eine unabhängige, von allen Bürgern einsehbare Entscheidungs- und Entlastungsinstanz zu ersetzen, wie ich im folgenden Unterabschnitt V.2.4.3 schildern werde. V.2.4.3 Orakel als Entlastungsinstanz In seiner Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken identifiziert Hegel als die grundlegende Herausforderung, welche die antiken Griechen mit Hilfe ihrer Orakelbefragungen zu lösen versuchen, die innere Kontingenz im Handeln: Das endliche Handlungssubjekt ist stets mit einer unüberschaubaren und nicht kontrollierbaren Situation konfrontiert, weshalb es den Prozess des praktischen Überlegens und Prüfens von handlungsrelevanten Umständen an einem willkürlichen Punkt abbrechen muss. Diese irreduzible Willkür führt nicht nur zur unvermeidbaren Möglichkeit des Scheiterns, die Xenophon in seinem Argument in den Mittelpunkt rückt, sondern zusätzlich zu dem weiteren Problem, dass eine Handlung nicht vollständig und in sich begründet werden kann, wie Hegel in seinem Argument hinweist (siehe Abschnitte V.2.4.1 und V.2.4.2). Die Entschließung als 322 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
Abbruch des praktischen Überlegens entspricht einem Abbruch in der Begründungskette einer Handlung. Diese Endlichkeit der Begründbarkeit bedeutet laut Hegel ein charakteristisches Problem für die griechische tugendbasierte Kooperation, die auf der Überzeugung beruht, dass tugendhafte Handlungen »objektiv«, das heißt von allen hinreichend kompetenten Mitgliedern der Gemeinschaft als tugendhaft erkennbar seien (siehe Teil IV). Insbesondere die Praxis der gegenseitigen Korrektur der Griechen zielt darauf ab, dass die Tugendhaftigkeit einer Handlung anderen tugendhaften Subjekten durch eine gelungene Begründung nachvollziehbar wird. Das Willkürelement der Entschließung durchbricht jedoch die griechische Gleichsetzung von Tugendhaftigkeit und Begründbarkeit. Die Einsicht in das irreduzible Willkürmoment der Entschließung widerspricht so der griechischen These von der Objektivität tugendhafter Handlungen, stellt das Funktionieren der griechischen Korrekturpraxis in Frage und bezweifelt insgesamt den griechischen Glauben an eine »objektive« Existenz ihrer Tugendnormen. Die innere Kontingenz, die sich in der Entschließung äußert, bedroht somit das Kernstück der griechischen Kooperation und der zugehörigen Auffassung von praktischer Normativität. Auch Sokrates’ historisch-immanente Kritik der Tugend, auf die ich im Teil VI dieser Arbeit eingehen werde, setzt bei dieser Einsicht in die Irreduzibilität der Entschließung an. Hegel zufolge waren sich die antiken Griechen durchaus der Problematik der Entschließung und ihrer destabilisierenden Wirkung auf ihre Kooperation bewusst. Ihre Einsicht in das irreduzible Willkürmoment im Handeln nehmen sie jedoch nicht zum Anlass, ihre grundsätzlichen Überzeugungen zur Objektivität der Tugend und insbesondere zur Begründbarkeit tugendhafter Handlungen aufzugeben. Sie sehen die innere Kontingenz nicht als eine prinzipielle Tatsache, sondern vielmehr als ein technisches Problem, dass sie mit der Institution der Orakel zu lösen versuchen. Die griechischen Orakel dienen nach dieser Lesart dazu, eine neue Begründungsform einzuführen, welche die Zufälligkeit der subjektiven Entschließung umgeht und durch ein öffentliches Orakelzeichen ersetzt. Auf diese Weise soll der Einzelne von der Verantwortung befreit werden, eine überfordernde Situation zu beurteilen, und seine Entscheidung soll zugleich für die Gemeinschaft nachvollziehbar gemacht werden. Die Orakel werden somit als vorrangig politische Institution verstanden, die einen Urteilskonsens der Tugendhaften ermöglichen soll und so die Einheit der Gemeinschaft stabilisiert. Nach dieser Auffassung ha323 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
ben die Orakel nicht die Aufgabe, die Zukunft vorherzusagen (wie es Xenophon in seinem naiven Verständnis vermutet), sondern eine nicht-subjektive Grundlage für Entscheidungen zu schaffen, die von der Gemeinschaft akzeptiert und anerkannt werden kann. In diesem Unterabschnitt skizziere ich diese Rekonstruktion der Orakel anhand einiger Bemerkungen Hegels, um im nächsten Unterabschnitt V.2.4.4 zu erläutern, weshalb die griechischen Orakel ihre politische Aufgabe nur teilweise und vordergründig erfüllen: Es lässt sich zeigen, dass die griechischen Orakelpraktiken zwar tatsächlich einen Urteilskonsens der pólis-Bürger schaffen, aber nicht, indem sie objektive Entscheidungen treffen, wie die Griechen glauben. Vielmehr funktionieren die Orakel nur, weil die Griechen in ihnen bereits unbewusst das Zwei-Phasen-Modell der Tugend aufgegeben haben. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie illustriert Hegel seine modifizierte Auffassung der Orakel am Beispiel des Feldherrn Pausanias, der vor der Schlacht von Plataiai gegen die Perser lange mit sich ringt, wann er den Befehl zum Angriff geben soll: Wir wissen, daß die Griechen für die Entschließung zwar Gesetze hatten; auf der andern Seite aber war ebenso zu entscheiden über unmittelbare Fälle sowohl in Privat- als Staatsangelegenheiten. Die Griechen entschieden aber noch nicht aus dem subjektiven Willen. Der Feldherr oder das Volk selbst nahm noch nicht die Entscheidung auf sich, was das Beste im Staate sei; ebenso auch nicht das Individuum in seinen Familienangelegenheiten. In Ansehung eines Entschlusses haben die Griechen zu Orakeln ihre Zuflucht genommen, das Orakel gefragt (dies war das Subjektive, Entscheidende), die Römer den Vogelflug; Betrachten der Opfertiere gehört auch dahin, ebenso auch, daß man einen μάντις um Rat fragte. Der Feldherr, der eine Schlacht liefern sollte, hatte aus den Eingeweiden der Opfertiere seine Entscheidung zu nehmen, wie sich dies in Xenophons Anabasis öfter findet; Pausanias quält sich einen ganzen Tag lang, ehe er den Befehl zur Schlacht gibt. 72
Der Feldherr Pausanias befindet sich in einer Zwickmühle, in der ihm die Unüberschaubarkeit seiner Handlungssituation schmerzlich bewusst wird. Einerseits benötigt er Zeit, um die Bedingungen der bevorstehenden Schlacht auszukundschaften und sich einen Plan bereitzulegen. Andererseits wächst die Gefahr, dass er den besten Zeitpunkt für den Angriff verpasst, je länger er überlegt. Seine Lage
72
Hegel, VGPhil.I S. 492 f.
324 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
wird noch durch die Tatsache verschärft, dass der Feind es darauf anlegen wird, die Pläne des Pausanias zu vereiteln. Hegel beschreibt hier somit ein Paradebeispiel für eine Entscheidung, die in einer unkontrollierbaren Situation getroffen werden muss. Pausanias erfährt unmittelbar die Unvermeidbarkeit einer willkürlichen Entschließung: Es ist ihm unmöglich, alle Umstände seiner Handlungssituation zu berücksichtigen. Er muss also den Prozess des Planens an einem Punkt abbrechen und eine Entscheidung fällen, ohne dass er den genauen Angriffszeitpunkt weiter begründen kann, weil ihm die vollständigen Informationen über seine Lage fehlen. Hegel macht uns darauf aufmerksam, dass Pausanias diese Entschließung besonders schwer fällt, er »quält sich einen ganzen Tag lang«. Der Kontext, in dem Hegel dieses Beispiel erwähnt, zeigt uns, dass der Grund für diese Qual nicht etwa das angestrengte Nachdenken über militärisch-strategische Probleme ist, sondern dass sich Pausanias für unberechtigt hält, diese Entscheidung zu treffen. Nach griechischem Verständnis steht es dem Feldherrn nicht zu, nur nach seiner persönlichen Willkür zu entscheiden: »Die Griechen entschieden aber noch nicht aus dem subjektiven Willen« (s. o.). Stattdessen wird von ihm erwartet, dass er sachgemäß entscheidet, also eine Handlung wählt, die er vor sich selbst und seinen Mitmenschen begründen kann. Nur durch eine solche Begründung kann er beispielsweise auch seine Befehlsgewalt rechtfertigen und die Tatsache, dass er das Leben seiner Soldaten aufs Spiel setzt. Seine Autorität genießt er in der Tugendkooperation der Griechen nur, weil seine Mitbürger darauf vertrauen, dass er in ihrem Sinne kompetent und tugendhaft handelt. Das heißt, seine Soldaten gehorchen ihm nicht aufgrund einer Unterwerfung unter seinen Willen, sondern weil sie davon ausgehen, dass er die gemeinsam selbstbestimmt gefassten Normen umsetzt – dies sind die »Gesetze« für die »Entschließung«, von denen Hegel im obigen Zitat spricht. Dieser Anspruchs erklärt die Zwangslage des Pausanias: Er trägt für seine Handlung eine Verantwortung, der eine bloß willkürliche Entscheidung seinerseits nicht gerecht wird. Zugleich erlaubt ihm seine Situation nicht, diese Entscheidung nach objektiven Kriterien zu treffen, also mit einer umfänglichen Begründung, die auch von seinen Mitbürgern nachvollzogen werden kann. Die Verantwortung und der Rechtfertigungsdruck, die auf Pausanias lasten, sind nicht nur eine psychische Belastung, sie können auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen: Bei den Griechen war es üblich, dass Feldherrn nach einer Niederlage – unter Umständen sogar nach 325 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
einem Sieg, wie etwa im berüchtigten Arginusenprozess – 73 sich vor den Mitbürgern für ihre Entscheidungen rechtfertigen mussten und teilweise sogar hingerichtet wurden, wenn ihre Begründungen nicht überzeugten. In ihren Orakeln sehen die Griechen einen Ausweg aus derartigen Zwangslagen, in denen der Einzelne mit einer Verantwortung für eine Entscheidung belastet wird, die ihn notwendigerweise überfordert: Die Orakel nehmen in der griechischen pólis vor allem eine Entlastungsfunktion ein, indem sie dem Entscheidungsträger eine neue Form der Begründung zur Verfügung stellen, die nach Ansicht der Griechen der entsprechenden Handlung Objektivität verleiht. Die Entlastungsfunktion der Orakel hat bei den Griechen Vorrang vor der Funktion der Weissagung und Erfolgssicherung, die ihr das naive Argument zuschreibt. Einen Hinweis hierauf gibt uns die Tatsache, dass bei den Griechen Feldherrn im Krieg besonders oft und regelmäßig Orakelzeichen für ihre Entscheidungen einholten, insbesondere, wenn ihre formale Autorität und Legitimation umstritten waren. 74 Dienten die Orakel lediglich dazu, eine siegbringende Strategie zu verraten, wie das naive Argument glaubt, wären sie in einem Krieg zwecklos, in dem beide Parteien sich solche Prophezeiungen einholen. Als Entscheidungs- und Entlastungsinstanz hingegen, wie sie das modifizierte Argument beschreibt, nützen sie dem Feldherrn selbst dann, wenn die Schlacht verloren geht: Wenn er sich auf den Orakelspruch beruft, kann ihm die Niederlage nicht persönlich angekreidet werden. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion erläutert Hegel folgendermaßen, wie sich die Griechen die entlastende und begründungsstiftende Funktion ihrer Orakel vorstellen: […] der Mensch hat das Bewußtsein, daß in diesem seinem [sic] Wollen nicht die Objektivität liegt und daß dasselbe nur formell ist. Um das Verlangen nach dieser Ergänzung zu befriedigen und diese Objektivität hinzuzusetzen, dazu bedurfte es einer Bestimmung von außen und von einem Höheren, als das Individuum ist, nämlich eines äußerlichen, entscheidenden und bestimmenden Zeichens. Es ist die innere Willkür, die, um nicht Willkür zu sein, sich objektiv, d. h. unveräußerlich zu einem Anderen seiner selbst macht und die äußerliche Willkür höher nimmt als sich selbst. 75
73 74 75
Siehe ebd., S. 450. Vgl. Trampedach (2015), S. 169. Hegel, VPhRel.II S. 143.
326 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
Hegel beginnt in diesem Zitat mit der Beschreibung des Problems, für das die griechischen Orakel einen Lösungsversuch darstellen: Zunächst haben die Griechen eingesehen, dass ihr Handeln mit einer irreduziblen Willkür behaftet ist und in ihrem »Wollen« daher keine »Objektivität« liege. Sie erfüllen also ihre eigenen Ansprüche an die Begründbarkeit ihres Handelns nicht. Das Wollen sei nur »formell«, das heißt, die Entschließung als solche ist zwar begründbar, weil sie ein notwendiges Element des Handelns ist, nicht aber die konkrete Handlung, für die das Subjekt sich entschlossen hat (siehe auch Abschnitt V.2.4.1). Eine solche formelle Begründung hat etwa folgende unbefriedigende Gestalt: »Ich habe mich für die Handlung x entschlossen, weil ich mich irgendwie entschließen musste.«
Diese formelle Begründung lässt sich freilich von jedem Subjekt für jede beliebige Handlung vorbringen. Ein anderes Subjekt hätte in der gleichen Situation mit der gleichen Begründung auch das gegenteilige Verhalten rechtfertigen können. Die formelle Begründung kann daher keinen Urteilskonsens herstellen und nicht die Objektivität der Handlung garantieren, wie es für die griechische Kooperation nötig ist. Die Griechen haben demnach ein »Verlangen nach dieser Ergänzung« ihres Wollens, um »Objektivität hinzuzusetzen«. Die Entschließung des Einzelnen soll erweitert werden, so dass sie inhaltlich begründbar wird. Diese Erweiterung wird nun bei den Griechen durch eine »Bestimmung von außen« vorgenommen, »nämlich eines äußerlichen, entscheidenden und bestimmenden Zeichens.« Das Orakelzeichen nimmt in der Vorstellung der Griechen dem handelnden Subjekt die Entscheidung ab, es entscheidet für ihn. Im nächsten Satz des obigen Zitats erläutert Hegel näher, wie diese Übertragung der Entscheidung an das Orakel vonstattengeht: »Es ist die innere Willkür, die, um nicht Willkür zu sein, sich objektiv, d. h. unveräußerlich zu einem Anderen seiner selbst macht und die äußerliche Willkür höher nimmt als sich selbst.« Der Einzelne nimmt nicht seine eigene Willkür als Grundlage seiner Entscheidung, sondern orientiert sich am Orakelzeichen. Bemerkenswerterweise wird an dieser Stelle nicht behauptet, hinter dem Orakelzeichen verberge sich der Ratschlag eines weissagenden Gottes. Stattdessen werden die Orakelzeichen als »äußerliche Willkür« bezeichnet. Demnach werden beispielsweise der Vogelflug oder die Lautäußerungen der berauschten Pythia als zufällige Ereignisse betrachtet, die in keinem Zusam327 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
menhang zur entsprechenden Sachfrage des Ratsuchenden stehen. Als »äußerliche Willkür«, also rein zufälliges Geschehen, bieten die Orakelzeichen genauso wenig wie die innere Willkür der Entschließung eine Erfolgsgarantie. Sie zeigen nicht an, welche Handlung für eine bestimmte Situation die angemessene ist. Hegel zeichnet in dieser Deutung die antiken Griechen als beeindruckend klarsichtig. Seiner Auffassung nach hängen sie nicht dem Aberglauben an, die Orakelzeichen seien inhaltlich privilegiert und verrieten beispielsweise einem Feldherrn die überlegene militärische Taktik. Dennoch haben die äußerlichen Geschehnisse, die das Orakelzeichen ausmachen, in den Augen von Hegels Griechen einen entscheidenden Vorteil gegenüber der inneren Willkür der subjektiven Entschließung: Während die bloß subjektive Entschließung ein Willkürakt ist, der gewissermaßen im Kopf des Einzelnen geschieht und daher privat ist, finden die griechischen Orakelbefragungen in der Öffentlichkeit statt. Es handelt sich somit nach griechischer Auffassung um den Schiedsspruch einer unbeteiligten, unpersönlichen Instanz, dessen Zustandekommen von anderen Gemeinschaftsmitgliedern beobachtet werden kann. Die Öffentlichkeit der Orakelsprüche ist für die Griechen eine wesentliche Voraussetzung ihrer Legitimität: Bei den Griechen mußten solche Offenbarungen bestimmte Art und Weise haben; es gab gleichsam offizielle Orakel (nicht subjektive), Pythia, Baum usw. Wenn in irgendeinem Diesen, Besonderen, der gewöhnlicher Bürger ist, dieses erscheint, wird es als unglaublich, nicht richtig angesehen […]. 76
Als äußerliche, öffentliche und subjektunabhängige Ereignisse können die Orakelsprüche einer Handlung scheinbar Objektivität verleihen. Dies bedeutet nach der Auffassung der Griechen, dass sich verschiedene Subjekte gleichermaßen auf dasselbe Orakelzeichen beziehen können, um so die Entscheidung nachzuvollziehen, die auf dem Orakelzeichen beruht. Ein Handelnder, der sich für seine Entscheidung auf einen Orakelspruch beruft, gibt daher anders als bei einer bloß subjektiven Entschließung ein nachvollziehbares Kriterium an, weshalb die bestimmte Handlung gewählt wurde. Auf diese Weise erlauben die Orakel eine Begründungsfigur, die etwa folgendermaßen aussieht: »Ich habe mich für die Handlung x entschlossen, weil mir das Orakel zur Handlung x geraten hat.« 76
Ders., VGPhil.I S. 502.
328 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
Bei dieser Figur taucht die Handlung x auf beiden Seiten der Begründung auf, es ist also nicht bloß eine formelle, sondern eine inhaltliche Begründung. Ein anderes Subjekt, welches sich in der gleichen Situation befindet und von dem öffentlich verkündeten Orakelspruch weiß, kann sich eben nicht mit gleicher Berechtigung anders entscheiden, ohne gegen den Orakelspruch zu verstoßen. Die Orakelsprüche schaffen nach Auffassung der Griechen durch ihre institutionalisierte Öffentlichkeit einen objektiven Bezugspunkt, den die bloß subjektive Entschließung nicht bietet. Der eigentliche Wert der rituellen Orakelbefragung liegt daher nicht im unmittelbaren Geschehen, also beispielsweise in der Tatsache, dass der Priester mit dem Opfermesser einen so beschaffenen Schnitt setzt und eine bestimmte Verfärbung der Leber beobachtet, sondern in der Form des Orakelritus als öffentliche, beobachtbare Handlung. Auf diese Weise seien die Orakel in der Lage, der Handlungsentscheidung »Objektivität hinzuzusetzen«, also die Begründbarkeit der Handlung scheinbar wieder herzustellen, die die Griechen durch die Subjektivität der Entschließung zu Recht gefährdet sahen. Die Orakel übernehmen eine Entlastungsfunktion für den Handelnden, der von der unüberschaubaren Handlungssituation überfordert ist, indem sie ihn von der Verantwortung befreien, für die Entscheidung selbst einzustehen. Zugleich schaffen sie eine Basis für einen Urteilskonsens der Gemeinschaft, da der Ausgangspunkt des praktischen Urteils nicht mehr die je individuelle Entschließung der verschiedenen Gemeinschaftsmitglieder ist, sondern ein scheinbar objektives, für alle gleichermaßen einsehbares Zeichen. Gemäß dieser Rekonstruktion liegt die Kompetenz der Orakel nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart: Sie verleihen Entscheidungen eine objektive Autorität und Anerkennbarkeit, die den subjektiven Entscheidungen des Einzelnen offenbar fehlen und die für das griechische Verständnis guten Handelns notwendig sind. Dadurch leisten sie – scheinbar – einen wichtigen Beitrag zur Synchronisierung der Urteile und Handlungen der pólis-Bürger. V.2.4.4 Die Doppelsinnigkeit der Orakelsprüche In den vorigen Abschnitten habe ich Hegels modifiziertes Argument als eine vernünftige Rekonstruktion der griechischen Orakelpraktiken vorgestellt. Gemäß diesem Argument sind die Orakel eine Reaktion auf die Unüberschaubarkeit der Handlungssituation und die Unvermeidbarkeit des Willkürelements der Entschließung im Han329 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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deln. Nach griechischem Verständnis bieten die Orakel Orientierung und Entlastung für den Handelnden, indem sie eine vermeintlich objektive, subjektunabhängige Entscheidungsinstanz darstellen, mit deren Hilfe die Willkürlichkeit der Entschließung überbrückt werden könne. Auf diese Weise sollen die Orakel die pólis-Gemeinschaft stabilisieren und die tugendhafte Kooperation aufrechterhalten. Hegels Darstellung zufolge sind die griechischen Orakelpraktiken in dreifacher Hinsicht interessant: Erstens zeigen sie bereits die frühe Einsicht der Griechen in die Probleme der Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen und des Willkürmoments im Handeln, die auch später die Grundlage von Sokrates’ historisch-immanenter Kritik am Prinzip der Tugend bilden. Die Griechen glauben also nicht dogmatisch-naiv an die Objektivität ihrer Tugendnormen, sondern haben von Anfang an ein gewisses Gespür für die Fragwürdigkeit dieser Annahmen. In dieser Hinsicht ist der griechische Orakelglaube also kein Anzeichen für ihre Unaufgeklärtheit, wie bei oberflächlicher Betrachtung vermutet werden könnte, sondern vielmehr ein Ausweis ihrer Reflektiertheit. Zweitens manifestiert sich in den Orakelpraktiken allerdings auch ein falsches Selbstverständnis der Griechen: Die Selbstkommentare der Griechen, mit denen sie ihre Orakelbefragungen begleiten, passen nicht zu dem, was sie tatsächlich in diesen Praktiken tun. In einem gewissen Sinn erfüllen die griechischen Orakel die ihnen zugedachte Aufgabe und sorgen für eine Stabilisierung der Gemeinschaft. Allerdings erfüllen sie diese Aufgabe nicht auf die Weise, wie es die Griechen glauben, das heißt durch Reduktion der Mehrdeutigkeit von Handlungssituationen und die Ermöglichung objektiver Begründungen. Die Orakelsprüche bieten nur scheinbar Orientierung in der unüberschaubaren Welt und sind auch keine objektiven, von den handelnden Subjekten unabhängige Schiedssprüche. Drittens schließlich verraten uns die zahlreichen Anekdoten der antiken Griechen über die Dunkelheit und Unzuverlässigkeit ihrer Orakelsprüche, dass sie nicht etwa völlig verblendet in ihrem Selbstmissverständnis gefangen sind, sondern ein Unbehagen über ihre Orakel empfinden. Die Griechen ahnen, so deutet Hegel die entsprechenden Anekdoten, dass ihre Orakel keinesfalls objektive, eindeutige und subjektunabhängige Entscheidungen vorgeben. Stattdessen bedürfen ihre Orakelsprüche der Deutung. Dies heißt aber, dass die Entscheidung, die vermeintlich durch das Orakel als unabhängige Instanz getroffen wird, in Wirklichkeit das Ergebnis eines gemeinsamen Deutungs- und Aushandlungsprozesses ist, zu dem alle Mit330 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
glieder der Gemeinschaft beitragen können. Somit trifft die griechische Annahme zwar zu, dass die Orakel ihre Gemeinschaft stabilisieren und zu einheitlichen Urteilen beitragen. Die Orakelsprüche sind allerdings nicht die Ursache, sondern die Folge eines derartigen Urteilskonsenses. Sie werden in einem freien, gestalterischen Prozess ausgehandelt. Insofern leiten sie nicht die Konsensbildung an, sondern entstehen erst durch den Konsens der Interpretation. In dem falschen Verständnis der Orakelsprüche spiegelt sich so das falsche Verständnis ihrer Normen wieder, die sie ebenfalls unzulässigerweise vergegenständlichen. Das griechische Unbehagen über die Orakelsprüche ist daher ein erster Keim für eine Kritik an ihrem Normverständnis. Für seine Untersuchung dieser dreifachen Komplexität der Orakelsprüche greift Hegel auf Herodots Erzählung über den Orakelspruch des Krösus zurück, der vom delphischen Orakel die berühmte Warnung erhält, er werde ein großes Reich zerstören, wenn er den Grenzfluss Halys überschreitet, um in den Krieg mit den Persern zu ziehen. 77 Krösus erkennt nicht die Doppelsinnigkeit des Spruchs und muss schließlich ansehen, wie sein eigenes Reich zerstört wird. Hegel erläutert in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion, dass es sich bei dieser versteckten Doppelsinnigkeit um eine charakteristische Eigenschaft der griechischen Orakelsprüche handle: Aber auch als konkreter Ausspruch des Gottes sind die Orakel doppelsinnig. Nach ihnen handelt der Mensch, indem er sich eine Seite herausnimmt. Dagegen tritt denn die andere auf; der Mensch gerät in Kollision. Die Orakel sind dies, daß der Mensch sich als unwissend, den Gott als wissend setzt; unwissend nimmt der Mensch den Spruch des wissenden Gottes auf. Er ist somit nicht Wissen des Offenbaren, sondern Nichtwissen desselben. Er handelt nicht wissend nach der Offenbarung des Gottes, welcher als allgemein die Bestimmtheit nicht in sich hat und so, in der Möglichkeit beider Seiten, doppelsinnig sein muß. Sagt das Orakel: »gehe hin, und der Feind wird überwunden«, so sind beide Feinde »der Feind«. Die Offenbarung des Göttlichen ist allgemein und muß allgemein sein; der Mensch deutet sie als unwissend[er]; er handelt danach; die Tat ist die seinige; so weiß er sich als schuldig. 78
Diese Doppelsinnigkeit der griechischen Orakelsprüche stellt zunächst ein Rätsel dar. Offensichtlich liegt sie quer zu der Funktion 77 78
Vgl. Herodot, Historiae I.53.3. Hegel, VPhRel.II S. 145. Vgl. auch die Parallelstelle in VÄsth.II S. 51 f.
331 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
der Orakel, Handlungsorientierung zu bieten und das Subjekt von einer überzogenen Verantwortung zu entlasten. Durch ihre Doppelsinnigkeit machen die Sprüche beide Funktionen zunichte. Sie heben die Mehrdeutigkeit der Handlungssituation nicht auf, sondern wiederholen sie auf der sprachlichen Ebene. Die beiden gegensätzlichen Lesarten im Orakelspruch des Krösus (entweder wird das Perserreich oder das Lyderreich zerstört) stehen gleichberechtigt nebeneinander. Krösus erhält also keinen Hinweis, welche Lesart die bessere wäre. Hegel nennt Krösus daher »unwissend« in Bezug auf die »Offenbarung des Gottes«. Krösus ist letztlich verantwortlich für seine Deutung des Orakelspruchs, denn sie liegt gänzlich in seiner subjektiven Entschließung für eine der beiden Deutungen. Somit ist er auch für die Handlung verantwortlich, die dieser Deutung folgt: »die Tat ist die seinige; so weiß er sich als schuldig.« Der doppelsinnige Orakelspruch befreit Krösus also nicht von seiner Verantwortung, er gibt ihm auch keine eindeutige, »objektive« Begründung für sein Handeln an die Hand. Die Situation des Krösus scheint vor dem Orakelspruch die gleiche wie danach zu sein – mit dem Unterschied, dass Krösus sich durch den Orakelspruch in falscher Sicherheit wiegt, weil er offenbar die sprachliche Mehrdeutigkeit nicht erkennt, während er sich der militärischen Unwägbarkeiten seines Unterfangens noch bewusst war. Der Orakelspruch des Krösus erfüllt somit seine Aufgabe nicht, die für das Funktionieren der griechischen Kooperation überlebenswichtig ist, wie ich in den vorigen Unterabschnitten festgestellt hatte. Der doppelsinnige Orakelspruch des Krösus ist allerdings kein Einzelfall. Für die historischen Griechen sind trügerische, irreführende und verrätselte Orakelsprüche ein gängiger Topos der Literatur und Geschichtsschreibung. Aus anthropologischer Sicht ist dies besonders auffällig, da in anderen antiken Kulturen Orakel eher eindeutige Antworten zu geben pflegten. 79 Die dunklen Orakelsprüche der Griechen stellen also ein doppeltes Rätsel für uns dar, weil sie zum einen eine historisch-kulturelle Anomalie bilden und weil sie zum anderen für ihre Aufgabe als Orientierungs- und Entscheidungsinstanz in der pólis deshalb ausgesprochen ungeeignet sind. Es scheint irritierend, dass ausgerechnet die griechischen Orakelstätten mehrdeutige Antworten geben, wenn es doch offenbar den Orakeln der nichtgriechischen Nachbarvölker möglich ist, die eindeutigen Ratschläge zu erteilen, welche für das Funktionieren der pólis so drin79
Trampedach 2015, S. 11.
332 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
gend nötig wären. Hegel interpretiert diese historische Kuriosität als einen Hinweis, dass die Griechen bereits das eigentliche Wesen ihrer Orakelsprüche und ihrer Praxis der Orakelbefragung erahnen. Hegel geht im obigen Zitat sogar so weit zu behaupten, dass jeder Orakelspruch »doppelsinnig sein muß«. Ihm zufolge sind alle Orakelsprüche – auch die vermeintlich eindeutigen Orakel anderer Völker – im Kern mehrdeutig. Die Griechen hatten bereits eine Vorahnung dieser Einsicht, weshalb bei ihnen sich die elementare Mehrdeutigkeit von Orakelsprüchen auch auf der sprachlichen Ebene findet. Die sprachliche Ebene verrät also eine Einsicht, die die Griechen sich noch nicht bewusst eingestehen wollten. Die elementare Mehrdeutigkeit von Orakelsprüchen erklärt Hegel mit der Tatsache, dass als Orakelzeichen ein äußeres Ereignis genommen wird, also ein natürliches Geschehen wie beispielsweise das Blätterrauschen der Zeuseiche von Dodona. Die Griechen sehen den vermeintlichen Vorteil solcher äußerer Ereignisse in ihrer Unabhängigkeit von subjektiver Willkür und ihrer öffentlichen Beobachtbarkeit. Sie verkennen hierbei jedoch, dass ein natürliches Geschehen als solches kein Zeichen ist und demnach auch keine Bedeutung hat. Es erhält seine Zeichenhaftigkeit und seine Bedeutung erst durch eine Interpretation. Hegel beschreibt diese Umwandlung eines äußeren Ereignisses in ein Orakelzeichen folgendermaßen: Das älteste Orakel war zu Dodona (in der Gegend des heutigen Janina). […] Das Gesäusel der Blätter von den heiligen Eichen war dort die Weissagung. Es waren daselbst auch metallene Becken aufgehängt. Die Töne der zusammenschlagenden Becken waren aber ganz unbestimmt und hatten keinen objektiven Sinn, sondern der Sinn, die Bedeutung kam erst durch die auffassenden Menschen hinein. So gaben auch die delphischen Priesterinnen, bewußtlos, besinnungslos, im Taumel der Begeisterung (μανία) unvernehmliche Töne von sich, und erst der μάντις legte eine bestimmte Bedeutung hinein. In der Höhle des Trophonios hörte man das Geräusch von unterirdischen Gewässern, es stellten sich Gesichte dar; dies Unbestimmte gewann aber auch erst eine Bedeutung durch den auslegenden auffassenden Geist. 80
Die Griechen erhoffen sich durch die Orakel ein objektives Urteil, eine Entscheidungshilfe, die vom bloß subjektiven Dafürhalten unabhängig und von jeglicher subjektiver Willkür gereinigt ist. Sie knüpfen ihre Entscheidung daher an natürliche Ereignisse wie etwa 80
Hegel, VPhGes S. 290 f.
333 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
das Blätterrauschen eines heiligen Baumes, den Klang von Metallbecken, die vom Wind zusammengestoßen werden, oder die unzusammenhängende Laute der berauschten Pythia. Auf diese Weise soll sichergestellt sein, dass kein endliches Subjekt die Entscheidung trifft, welches von dem gleichen Problem der Überforderung und der subjektiven Willkür betroffen wäre wie der Fragesteller. Sie übersehen allerdings, dass solche natürlichen Ereignisse für diese Aufgabe ungeeignet sind, da sie keinen Zeichencharakter haben. Die Geräusche und Klänge der Orakel sind »ganz unbestimmt« und ohne »objektiven Sinn«. Sie sprechen nicht zum Fragesteller und deuten auf nichts anderes als sich selbst. Sie werden daher nur zu orakelhaften Zeichen, indem sie vom Fragesteller in einen Sinnzusammenhang gestellt werden. Die schöpferische Deutung des »auslegenden auffassenden Geist[es]« transformiert die natürlichen Ereignisse und »legte eine bestimmte Bedeutung hinein«. Diese gestaltende Transformation der natürlichen Ereignisse beginnt bereits bei der Entscheidung, wie die Einheit des natürlichen Ereignisses gefasst wird, das als Zeichen verstanden wird. Das heißt beispielsweise: Wann beginnt und endet das Ereignis, welche Vorkommnisse werden als Teil des Orakelereignisses gewertet, welche gelten als nebensächlich und dergleichen mehr. Ebenso liegt es in der freien Assoziation der Orakelnden, welche Ereignisse als günstiges Omen gedeutet werden und welche als schlechte Vorzeichen. Diese schöpferische Vermittlung lässt sich nicht umgehen, da natürliche Ereignisse per definitionem ›sinnlos‹ sind und daher gänzlich deutungsoffen. Dies bedeutet aber, dass sie in ihrer transformierten Form als Orakelzeichen eben nicht frei von einer subjektiven Zutat sind: Die μαντεία überhaupt ist Poesie, nicht willkürliches Phantasieren, sondern eine Phantasie, die das Geistige in das Natürliche hineinlegt und sinnvolles Wissen ist. Der griechische Geist ist daher im ganzen ohne Aberglauben, indem er das Sinnliche in Sinniges verwandelt, so daß die Bestimmungen aus dem Geiste herkommen; obgleich der Aberglaube von einer anderen Seite wieder hineinkommt, wie bemerkt werden wird, wenn Bestimmungen für das Dafürhalten und Handeln aus einer andern Quelle als dem Geistigen geschöpft werden. 81
In diesem Zitat bringt Hegel die Dialektik der griechischen Orakel auf den Punkt: Entsprechend dem modifizierten Argument sind die Ora-
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Ebd., S. 291.
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Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
kel eben kein naiver Aberglaube wie andere mantische Praktiken der Wahrsagerei. Die griechischen Orakel sollen keinen Zugang zu übernatürlichem Wissen verschaffen, sondern haben die innerweltliche Aufgabe der Stabilisierung und Synchronisierung der tugendhaften Kooperation. Allerdings schleicht sich in diese Auffassung eine neue Art von Aberglauben »von einer anderen Seite« hinein, nämlich »wenn Bestimmungen für das Dafürhalten und Handeln aus einer anderen Quelle als dem Geistigen geschöpft werden.« Der Aberglaube der Griechen besteht in der Annahme, natürliche Ereignisse könnten unmittelbar als Entscheidungshilfe aufgefasst werden. Diese Aufgabe erfüllen jedoch natürliche Ereignisse nicht von sich aus, sie müssen durch die Phantasie des Geistes in bedeutungsvolle Zeichen umgeformt werden. Dies bedeutet, dass die Orakelzeichen, anders als von den Griechen angenommen, eben doch nicht von aller subjektiver Willkür frei sind und als unabhängige Schiedsinstanzen fungieren, sondern im Gegenteil nur durch die schöpferische Setzung des orakeldeutenden Subjekts entstehen. Ihre Mehrdeutigkeit ergibt sich durch die Tatsache, dass sich das gestaltende Subjekt bei seiner Setzung der Zeichenhaftigkeit auch anders hätte entscheiden können. Die äußeren Ereignisse haben keinen »objektiven Sinn«, sondern der Fragesteller »legte eine bestimmte Bedeutung hinein« (s. o.) – somit hätte er dem Ereignis auch eine andere bestimmte Bedeutung verleihen können. Diese Deutungsoffenheit liegt im Verhältnis des äußeren Ereignisses zum orakelnden Subjekt begründet. Sie ist also keine spezifische Eigenschaft der griechischen Orakel, sondern tritt grundsätzlich in allen Orakelpraktiken auf, weshalb jeder Orakelspruch »doppelsinnig sein muss«, wie Hegel sich ausdrückt. Die Doppelund Mehrdeutigkeit der griechischen Orakelsprüche spiegelt lediglich in der sprachlichen Formulierung die grundsätzliche Deutungsoffenheit aller Orakel wieder: Denn in den Orakeln ist der Gott zwar als der Wissende angenommen und dem Apollo daher, dem wissenden Gott, das vornehmlichste Orakel geweiht; die Form jedoch, in welcher er seinen Willen zur Kunde bringt, bleibt das ganz unbestimmt Natürliche, eine Naturstimme oder zusammenhangloses Tönen von Worten. In dieser Undeutlichkeit der Gestalt wird nun auch der geistige Inhalt selber dunkel und bedarf deshalb der Deutung und Erklärung. 82
82
Hegel, VÄsth.II S. 51.
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V · Die erste Entlarvung der Tugend: Sophisten und Orakel
Ein Grund, weshalb die Griechen sich zu dieser aufgeklärten Sicht auf die Ungeeignetheit ihrer Orakel nicht durchringen konnten und die Orakel bis zum Untergang Griechenlands als welthistorischer Macht eng mit dem Schicksal der pólis verknüpft blieben, mag darin liegen, dass die Orakel dennoch eine einheitsstiftende und stabilisierende Funktion auf das Gemeinwesen ausübten. Diese stabilisierende Funktion der Orakel kommt allerdings anders zustande, als die Griechen vermuteten, das heißt nicht als objektive und unabhängige Schiedsinstanz, sondern vielmehr als Auslöser und Plattform für einen gemeinsamen Prozess der Aushandlung. Da die Griechen ihre Orakelsprüche als dunkel und missverständlich begreifen, gehen sie davon aus, dass es von entscheidender Bedeutung ist, die Orakelsprüche richtig zu interpretieren. Weil die Griechen ihre Orakel allerdings als öffentliche Institutionen verstehen, liefern ihnen die vermeintlichen Aussprüche der Orakel einen Anlass, gemeinsam über die fragliche Entscheidung zu diskutieren. Die Teilnehmer an der Orakelpraxis versuchen, eine möglichst plausible Interpretation des Orakelspruchs vorzustellen, die auch von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern anerkannt werden kann und die gegen Einwände verteidigt werden muss. Der Fehler in der griechischen Beschreibung ihrer Orakelpraktiken liegt darin, dass sie glauben, das Orakelzeichen stelle eine vorgegebene Entscheidung dar, die für alle Beteiligten auf die gleiche Weise aufgefasst werden könne, so dass alle ausgehend vom Orakelzeichen auch gleich urteilen und handeln können. Der vermeintliche Auslegungsprozess ist jedoch tatsächlich ein Aushandlungsprozess, durch den die Beteiligten gemeinsam dem Orakelzeichen eine Bedeutung verleihen. Das scheinbare Gottesurteil ist also in Wirklichkeit ein Gemeinschaftsurteil. Folglich homogenisieren die Orakel in der Tat das Urteilen und Handelnden der Gemeinschaftsmitglieder, aber nicht, indem sie das Handeln aller von einer unabhängigen und objektiven Instanz abhängig machen, sondern indem sie die subjektiven Entschließungen aller mit einbeziehen. Der gemeinsame Aushandlungsprozess, der sich hinter der vermeintlichen Orakeldeutung verbirgt, verläuft völlig frei. Er wird nicht durch irgendwelche äußeren Zwänge gebunden, ist aber zugleich keine beliebige Tätigkeit, da sich die Aushandlung an der konkreten Herausforderung orientiert, gemeinsam eine für alle akzeptable Entscheidung zu finden. Für die Griechen ist dieser Aushandlungsprozess allerdings schwer zu sehen und einzugestehen, da er ihrer zweiphasigen Auffassung von Normativität zuwider läuft. Ihrem Selbstverständnis 336 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Orakel und die Unentschiedenheit der Tugend
nach verhalten sie sich empfangend zu den Entscheidungen der Orakel und schreiben den Orakelsprüchen Objektivität zu, da sie für sie zur Anwendungsphase gehören. Die Erkenntnis, dass diese gemeinsame Normanwendung in den Orakeln nur als ein Prozess der gemeinsamen Normaushandlung möglich ist, erfordert erst, dass sich die Griechen von ihrem Aberglauben der Zweiphasigkeit und der gegenständlichen Existenz von Normen lösen.
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Teil VI: Sokrates und das Ende der Tugend
VI.1 Einleitung und Überblick Die Tugend als Kooperationsprinzip der pólis bleibt in der griechischen Geschichte nicht unangefochten: Zum einen demonstrieren die Sophisten, dass sich die griechischen Begründungspraktiken manipulieren lassen und dass deshalb Tugendhaftigkeit und der Anschein von Tugendhaftigkeit auseinanderfallen (siehe Kapitel V.1). Zum anderen entdecken die Griechen, dass jede Handlungssituation für den endlichen Handelnden unüberschaubar ist. Auch der Tugendhafte kann die Handlungsumstände nicht vollständig überblicken. Seine Handlung beruht daher letztlich auf seiner willkürlichen Entschließung, nur einen bestimmten, unvollständigen Ausschnitt der Handlungsumstände zu berücksichtigen. Er kann seine Handlung zwar relativ zu dieser Entschließung begründen, die Entschließung selbst jedoch nicht. Dies bedeutet, dass die Tugend nicht die ›Objektivität‹ des Handelns erzeugt, die für die tugendhafte Kooperation nötig ist. Hegel zufolge versuchen die antiken Griechen, diesen Mangel durch die Praxis der Orakel zu beheben, in welcher die subjektive Entschließung vermeintlich durch einen objektiven Schiedsspruch ersetzt wird. Diese Aufgabe können die Orakel jedoch unmöglich erfüllen: Kein äußeres, das heißt nicht-subjekthaftes Ereignis kann uns eine Entscheidung abnehmen. In den griechischen Orakelpraktiken ist es daher stets der Fragesteller, der dem entsprechenden Ereignis durch seine Deutung Zeichencharakter sowie durch seine subjektive Anerkennung Autorität verleiht. Der Orakelspruch umgeht daher weder das Problem der Mehrdeutigkeit der Handlungssituation noch verleiht er einer Entscheidung Objektivität, die unabhängig von subjektiver Willkür ist. Die griechischen Orakel stellen somit nur eine scheinbare Lösung für die fehlende Objektivität tugendhaften Handelns dar. Sie sind Teil einer Selbsttäuschung der antiken Griechen, die den Orakelspruch fälschlicherweise für ein objektives Urteil hal339 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
ten. Zugleich ahnen die Griechen, dass sie in ihrer Orakelpraxis einem Selbstbetrug aufsitzen und dass sie dem Anschein der Objektivität nicht trauen sollten, wie die griechischen Erzählungen über irreführende Orakelsprüche belegen (siehe Kapitel V.2). Das Vertrauen der Griechen in die Tugend als Grundlage ihrer Kooperationsgemeinschaft bekommt also bereits in klassischer Zeit Risse. Den entscheidenden Schlag gegen das griechische Prinzip führt schließlich Sokrates aus, so Hegels Darstellung. Sokrates durchschaut Hegel zufolge die griechische Selbsttäuschung und deckt die Unzulänglichkeiten der Tugend als Kooperationsprinzip auf. Von diesem Schlag erholt sich die griechische pólis nicht mehr. Ihre Einheit zerbricht, an die Stelle ihres Gemeinschaftsgeistes treten Egoismus und Fraktionskämpfe. Die politische und militärische Selbstzerstörung Griechenlands im Peloponnesischen Krieg spiegelt laut Hegel den sittlichen Verfall wider, der durch die sokratische Kritik an der Tugend ausgelöst wird: Der Peloponnesische Krieg ist entscheidend für die Auflösung des griechischen Lebens, bereitete sie vor; was politisch hier war, machte sich bei Sokrates im denkenden Bewußtsein. 1
Hegel entwirft so bewusst eine unorthodoxe Interpretation der historischen Person des Sokrates. Er stellt sich damit auch gegen Platon, Xenophon und Aristoteles, die ihren Lehrer für den »Gottesfürchtigsten« der Griechen und ein »sichtbares Beispiel« 2 der Tugend halten statt für einen Revolutionär gegen Tugend und Sittlichkeit. Zugleich spricht Hegel Sokrates keine rein destruktive Rolle zu. Sokrates tritt in der hegelschen Weltgeschichte nicht nur als der Zerstörer der Tugend auf, sondern auch als der »Erfinder der Moral« 3. Tatsächlich erschüttert Sokrates das Selbstverständnis seiner Zeitgenossen nur deshalb so fundamental, weil er sich nicht – wie beispielsweise die Sophisten – rein negativ und parasitär zum griechischen Prinzip der Tugend verhält, sondern eine echte Alternative aufzeigt, so Hegels Überzeugung. Das alte weltgeschichtliche Prinzip kann nur durch das neue Prinzip verdrängt werden, dessen erster Vertreter in Hegels Darstellung Sokrates ist. Hegel zufolge führt Sokrates eine neue Denkweise und Reflexionsform ein, die sich von der Tugend als 1 2 3
Hegel, VGPhil.I S. 448. So in Xenophon, Memorabilia I.1.20 und I.2.2. Hegel, VPhGes S. 329.
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Einleitung und Überblick
Urteilsprinzip unterscheidet und die Hegel das »moralische« Urteilen nennt. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Fragen, wie diese neue Denkweise, das neue sokratische Prinzip zu verstehen ist und wie Hegel den weltgeschichtlichen Übergang vom alten zum neuen Prinzip beschreibt. Hegels ausdrückliche Erläuterungen zur sokratischen »Erfindung der Moral« sind meist dicht gedrängt und in missverständlicher Terminologie verfasst. Unter anderem liegt dies daran, dass Hegel in seinen verschiedenen Vorlesungen recht unterschiedliche Begrifflichkeiten für die historischen Prinzipien verwendet. So spricht Hegel nicht nur vom »Sokratischen Prinzip« 4, sondern auch vom »Prinzip des Innerlichseins des Bewußtseins für sich« 5 oder dem »Prinzip der subjektiven Reflexion« 6 sowie der »Reflexion des Bewußtseins in sich selbst« 7. Durch die Einführung dieses Prinzips habe Sokrates das »Gewissen erweckt« 8 und die griechische Sittlichkeit in »Moralität« 9 umschlagen lassen; ein Unterschied, der sogar »durch die Kantische Philosophie erregt« 10 sei. An anderer Stelle bezeichnet Hegel die sokratische Innovation schließlich auch als das »Recht der subjektiven Freiheit« 11. Diese unterschiedlichen Formulierungen sind nicht leicht zu interpretieren. Zum einen erklärt Hegel ihren Zusammenhang und ihre Abgrenzung nicht hinreichend. Zum anderen deutet Hegels freier und variationsreicher Umgang mit den Bezeichnungen darauf hin, dass er an solchen Stellen keine klar umrissenen Definitionen zu Grunde legt, sondern synekdochisch spricht: Begriffe wie »Recht«, »Moralität« und »Gewissen« haben, auf den Kontext der antiken pólis bezogen, nicht die gleiche technische Bedeutung, die ihnen Hegel beispielsweise in seiner Diskussion des modernen Staats in den entsprechen Paragraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts zuweist. 12 Genauso wie die antike »Sittlichkeit« eine andere Struktur und Bedeutung besitzt wie die moderne »Sittlichkeit« – ein Unterschied freilich, der von Kritikern Hegels gerne über-
Ders., VGPhil.I S. 515. Ebd. 6 Ebd., S. 514. 7 Ebd., S. 468. 8 Ebd., S. 472. 9 Ebd., S. 468. 10 Ebd., S. 445. 11 Ebd., S. 447. 12 Vgl. z. B. GPhR §§ 1–4, §§ 104 f., §§ 136 f. 4 5
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
sehen wird 13 – sind auch »Gewissen« und »Moralität«, die von Sokrates erfunden werden, verschieden von ihren modernen Fassungen. Hegel nutzt die modern geprägten Begrifflichkeiten in diversen Variationen, um die antiken Vorläufer zu bezeichnen. Es handelt sich folglich bei Sokrates’ Erfindungen eher um eine Proto-Moralität und um ein Proto-Gewissen. Dementsprechend ist Sokrates auch kein Kant in antiker Gewandung und sein »Prinzip der subjektiven Reflexion« kein Kategorischer Imperativ, obgleich Hegel gewisse Ähnlichkeiten zu sehen vermeint und daher eine ideengeschichtliche Entwicklungslinie zieht. »Gewissen«, »Moralität« und »Recht« meinen in diesen Texten zur Antike lediglich etwas Verwandtes und Vorläufiges, aber sicher nicht das Gleiche wie in unserem modernen Verständnis. Ähnliche Vorsicht ist mit Hegels Verwendung von »Reflexion« geboten: Ein verbreitetes Missverständnis in der Sekundärliteratur deutet Hegels aphoristische Bemerkung, Moralität sei Sittlichkeit plus Reflexion (»Die Sittlichkeit ist unbefangen, die mit Reflexion verbundene Sittlichkeit ist Moralität;« 14), als habe Sokrates überhaupt erst mit dem Nachdenken über praktische Normen begonnen und als erster Gründe für bisher dogmatisch akzeptierte Sitten eingefordert. 15 In diesem überbordend verallgemeinerten Sinn wird »Reflexion« hier allerdings nicht verwendet. Eine solche Deutung wird weder der griechischen Sittlichkeit gerecht, die Hegel keinesfalls als einen erstarrten Dogmatismus zeichnet, sondern als erste Verwirklichung der Freiheit, als Heimat der »freien Individualität« und der »Jugendfrische des geistigen Lebens« 16, noch macht sie die Radikalität der sokratischen Neuerung deutlich. Sokrates erhält seine besondere Stellung in der hegelschen Weltgeschichte nicht etwa dadurch, dass er die bestehende Sittlichkeit klug hinterfragt und in eine reflektierte Ordnung bringt. Stattdessen verwirft Hegels Sokrates den fundamentalen Glauben der antiken Griechen an die ›Objektivität‹ der Tugendnormen und schlägt, wenngleich unvollkommen artikuliert, eine neue Form der Kooperation vor, welche die bisherige Gemeinschaft und Kooperation der Griechen ersetzen wird. Mit der sokratischen »Reflexion« meint Hegel daher nicht irgendein Nach-
Siehe hierzu die Diskussion bei Ritter (1956). Hegel, VGPhil.I S. 445. 15 So z. B. Shklar (1976), S. 57 f. Vgl. hierzu auch die Diskussion in Abschnitt II.2.3 und Kapitel II.3. 16 Hegel, VPhGes S. 274 f., vgl. Abschnitt II.2.3. 13 14
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Einleitung und Überblick
denken über sittliche Normen, sondern einen spezifischen Bezug auf das praktische Urteilen, der sich nur durch die ideengeschichtlichen Umstände und die besondere Stoßrichtung der sokratischen Kritik am griechischen Denken erhellen lässt. Vor allem aufgrund dieser hohen Kontextabhängigkeit sind Hegels diesbezügliche Formulierungen ebenso hilfreich wie irreführend. Um zu verstehen, wie er in den entsprechenden Vorlesungen zur sokratischen Revolution der griechischen Sittlichkeit jeweils »Gewissen«, »Reflexion«, »Recht« und »Moralität« verwendet, genügt es daher nicht, die einzelnen Stellen isoliert zu betrachten. Hegels Sokrates muss einerseits als Fluchtpunkt einer Entwicklung der Kritik gelesen werden, die bei den Sophisten beginnt und die sich auch im Unbehagen der Griechen mit ihren Orakelpraktiken zeigt. Sokrates greift auf diese beiden Entwicklungslinien der Kritik zurück. Zum einen ist die sophistische Bildung eine wichtige Voraussetzung seiner Kritik an der Tugend. Zum anderen transformiert er auf originelle Weise die griechischen Redeweisen zu den Orakeln, um seine positive Einsicht zu formulieren. Indem Sokrates seinen persönlichen daímon als neues Orakel einführt, welches sich jedoch durch seine Subjektivität und Privatheit erheblich von den traditionellen Orakeln unterscheidet, versucht er, sein neues Verständnis von Objektivität und Subjektivität im praktischen Überlegen zu illustrieren. Auf diese Weise will er seinen Mitbürgern die Forderung nach einer Praxis des Gewissens und nach einem »Recht der subjektiven Freiheit« verständlich machen, obwohl diese weder etwas mit dem Begriff des Gewissens noch mit Rechten im eigentlichen Sinn etwas anfangen können. Andererseits stellt Sokrates für Hegel keinen endgültigen Abschluss in dieser ideengeschichtlichbegrifflichen Entwicklung dar. Seine Forderungen und Formulierungsversuche bilden lediglich ein Übergangsstadium zur neuen welthistorischen Epoche und zum neuen Prinzip. Diese Unabgeschlossenheit der sokratischen Einsicht zeigt sich unter anderem daran, dass Sokrates nur eine unvollkommene und missverständliche Sprachform entwirft, die der Komplexität einer Praxis des Gewissens nicht gerecht wird. Sokrates’ Innovationsversuch ist in Hegels Darstellung deshalb ebenso zukunftsweisend wie zum Scheitern verurteilt. Wir müssen ihn zu gleichen Anteilen als einen Lösungsansatz für das Versagen der griechischen Kooperation und als eine Aufgabenstellung für zukünftige Epochen lesen. In den Kapiteln dieses Teils untersuche ich Hegels Darstellung der sokratischen Kritik am Kooperationsprinzip der Tugend und gehe 343 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
dabei folgendermaßen vor: Im Kapitel VI.2 beginne ich mit Hegels Charakterisierung, Sokrates sei ein »weltgeschichtlicher Heroe«, und erläutere, welche Hinweise sich aus dieser Bezeichnung für die Interpretation der sokratischen Kritik gewinnen lassen. Zum einen deutet Hegel mit dieser Charakterisierung eine ausgesprochen enge Verknüpfung von philosophischer Einsicht und politischem Handeln an. Die sokratische Kritik an der Tugend lässt sich demnach nicht ohne eine Betrachtung seines Handelns erläutern, insbesondere nicht ohne einen Bezug auf sein Verhalten im Asebie-Prozess. Erst durch sein politisches Handeln wird seine philosophische Einsicht unmissverständlich klar, sowohl für uns Betrachter in der historischen Rückschau als auch für seine Zeitgenossen. Zum anderen ist der Begriff des »weltgeschichtlichen Heroen« eine Anleihe aus Hegels Tragödientheorie. Hegel deutet das Schicksal des Sokrates als tragisches Geschehen. Dies bedeutet, dass Hegel den Prozess gegen Sokrates als den tragischen Konflikt zweier weltgeschichtlicher Prinzipien versteht und dass er Sokrates als einen historischen Zwitter sieht, der noch im alten Prinzip verhaftet ist, aber schon auf das neue Prinzip hinweist. Aus dieser Zwitternatur folgt beispielsweise, dass Hegel Sokrates als ein Übergangsstadium des Geistes auffasst, dessen Kritik notgedrungen nur missverständlich und unvollkommen artikuliert ist. In Kapitel VI.3 gehe ich auf Hegels Hinweise zum Verhältnis zwischen sokratischer und sophistischer Kritik der Tugend ein: Sokrates übernimmt weite Teile der sophistischen Kritik, lehnt aber deren skeptizistische und nihilistische Folgerungen ab. Gegen den sophistischen Willkür-Subjektivismus stellt Sokrates eine neue Form des Allgemeinen. Hegel demonstriert anhand zweier Lesarten des Homo-mensura-Satzes, dass diese »positive Seite« der sokratischen Einsicht als Fortentwicklung der sophistischen Erkenntnisse aufgefasst werden kann, sie aber aufgrund der nahezu identischen Formulierungen von Sokrates’ Mitbürgern nur allzu leicht mit dem sophistischen Willkür-Subjektivismus verwechselt wird. Im Kapitel IV.4 stelle ich einen weiteren Artikulationsversuch des Sokrates vor, der seine Abgrenzung zu den Sophisten stärker sichtbar machen soll. Hierzu führt Sokrates das Konzept eines persönlichen daímon ein, der als privates Orakel dient. Hinter dieser Metaphorik verbirgt sich, so Hegel, die Beschreibung einer neuen Urteils- und Bewertungspraxis, in der sich die Subjekte wechselseitig symmetrisch die Berechtigung zur subjektiven Entschließung zusprechen. In einer solchen Praxis soll es möglich sein, das Urteil des anderen wie einen Orakel344 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Einleitung und Überblick
schiedsspruch zu akzeptieren, auch wenn es nicht nachvollzogen werden kann, sofern es sich innerhalb der Ermessensspielräume bewegt, die sich die Subjekte gegenseitig zubilligen. Der sokratische daímon steht in dieser Interpretation Hegels für ein Proto-Gewissen und eine Praxis der gegenseitigen Toleranz. Ich skizziere die Eckpunkte dieser Praxis, wie Sokrates sie sich in Hegels Deutung vorstellt, und thematisiere die Schwierigkeiten, die sich aus der Metaphorik des daímons für Sokrates und seine Zeitgenossen ergeben. In Kapitel VI.5 widme ich mich schließlich Hegels Beschreibung des Prozesses gegen Sokrates und der folgenden Hinrichtung. Für Hegel markiert der Prozess das zentrale weltgeschichtliche Ereignis, welches das Ende der tugendbasierten Gemeinschaft der Griechen besiegelt. Erst im Prozess verbinden sich die sokratische Philosophie und sein politisches Handeln zu einer Einheit, die bewirkt, dass den Athenern seine Einsicht in das neue weltgeschichtliche Prinzip unmissverständlich klar wird. Durch seine Bereitschaft, für seine Überzeugung zu sterben, beweist Sokrates die Wahrheit seiner Einsicht und verdeutlicht seinen Mitbürgern, dass ihr Glaube an eine ›Objektivität‹ der Tugendnormen eine naive Täuschung ist. In Hegels Deutung prallen im Prozess die beiden weltgeschichtlichen Prinzipien aufeinander, verkörpert durch die Athener Richter und durch Sokrates (Abschnitt VI.5.1). Wie in einer antiken Tragödie gehört es laut Hegel zur Natur eines solchen Konflikts, dass beide Parteien zwar einerseits berechtigt handeln, sich aber anderseits auch durch Einseitigkeit im Handeln schuldig machen (VI.5.2). Der Prozess selbst zerfällt in Hegels Darstellung in zwei Teile: Zunächst das eigentliche Verfahren, das sich in den Augen der Athener Richter noch in gewohnten Bahnen bewegt, anschließend die Verurteilung des Sokrates und dessen Weigerung, dem Urteil über sich zuzustimmen. In diesem zweiten Teil verortet Hegel einen Bruch, der für die Athener Richter eine Ungeheuerlichkeit bedeutet und ihnen offenbart, dass sie in Sokrates mit einem radikal anderen Prinzip des Handelns konfrontiert sind (VI.5.3). Mit seinem Verhalten vor seiner Hinrichtung, seinem Gehorsam und seiner Duldsamkeit beweist Sokrates den Athenern die Wahrheit seines Prinzips und skizziert durch seinen Gesetzeskonformismus einen Vorschlag, wie eine zukünftige Kooperation aussehen könnte, die die geforderte Praxis des Gewissens ermöglicht (VI.5.4). In Abschnitt VI.5.5 setze ich mich mit diesem sokratischen Vorschlag auseinander und zeige, dass er zwar in die richtige Richtung weist, aber noch unausgereift ist und in sich widersprüchlich 345 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
bleibt. Sokrates ist so in Hegels Darstellung der Erfinder der Moral, macht sich aber zugleich der Selbstgerechtigkeit schuldig. Im abschließenden Kapitel VI.6. werfe ich einen Ausblick auf Hegels Beschreibung der weltgeschichtlichen Entwicklung nach dem Untergang der pólis. Obwohl Sokrates die Idee der Moralität bereits im Kern entwickelt und zu Recht eine Praxis des Gewissens fordert, sind laut Hegel noch erhebliche begriffliche und kooperationstheoretische Entwicklungsschritte notwendig, bis die sokratische Forderung eingelöst und seine Einsicht umgesetzt werden kann. Vor allem sind es zwei weltgeschichtliche Umbrüche, die zusammen kommen müssen: erstens die Schaffung des abstrakten Rechts im Römischen Reich, welches die Kooperation vom sittlich-tugendethischen Werturteil entkoppelt und somit einen heterogenen Staat ermöglicht, der nicht auf dem gemeinsamen Urteil weniger Gleichgesinnter beruht. Zweitens muss diese Abstraktion des Rechts durch die Heiligung des Individuums ergänzt werden, wie es durch das Christentum geschieht. Erst die Kombination dieser Elemente erlaubt es laut Hegel, den Begriff des Gewissens vollständig zu formulieren und auf angemessene Weise in Institutionen und Praktiken umzusetzen. Mit dieser Verwirklichung des Gewissens beginnt für Hegel die Moderne und endet die Antike. Unter anderem hebt sie auch die Beschränkungen der griechischen – und später römischen – Freiheit auf, etwa die ökonomische und sittliche Enge der pólis, sowie schließlich auch die Rechtfertigung der Sklaverei. Die Verwirklichung des Gewissens, wie sie zuerst von Sokrates gefordert wird, führt über diesen verschlungenen Weg zur moralischen Ächtung der Sklaverei und zur unendlichen Freiheit des Menschen.
VI.2 Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe Hegel schreibt Sokrates eine weltgeschichtliche Bedeutung zu, die weit über dessen philosophischen Einfluss hinausgeht. Dass Sokrates eine Sonderstellung in Hegels Geschichtsphilosophie einnimmt, verraten bereits die unterschiedlichen Prädikate, mit denen Hegel seine Anerkennung für die verschiedenen antiken Philosophen ausdrückt: So ehrt er etwa Parmenides als Urheber der Philosophie 17 und verVgl. Hegel, VGPhil.I S. 290: »Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen; die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen.«
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
neigt sich vor Platon und Aristoteles als »Lehrer des Menschengeschlechts«. 18 Sokrates hingegen hebt Hegel mit eigentümlichen Superlativen hervor: »Er ist nicht nur höchst wichtige Figur in der Geschichte der Philosophie – die interessanteste in der Philosophie des Altertums –, sondern er ist welthistorische Person.« 19 Später bezeichnet er Sokrates sogar als einen »Heroen der Weltgeschichte überhaupt« 20. Dieses Etikett ist durchaus außergewöhnlich für einen Philosophen. Die anderen weltgeschichtlichen Heroen, die Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte aufzählt, sind Alexander der Große, Julius Cäsar und Napoleon. 21 Diese Einordnung des friedliebenden Sokrates in eine Kategorie mit Feldherren und Diktatoren mag überraschen. Hegel verleiht den Titel »Heroe der Weltgeschichte« jedoch nicht für militärische Heldentaten, wie ihm etwa Bertrand Russell in seiner History of Western Philosophy zu Unrecht vorwirft. 22 Vielmehr verwendet Hegel die Bezeichnung des weltgeschichtlichen Heroen, um eine Form des epochalen Umbruchs zu markieren. Weltgeschichtliche Heroen treten nur an bestimmten historischen Wendepunkten auf und übernehmen eine führende Rolle innerhalb dieser Umbrüche. Aus der Tatsache, dass Hegel auch den Philosophen Sokrates als einen solchen »Heroen der Weltgeschichte« tituliert, können wir daher zweierlei für die Interpretation des hegelschen Sokrates und dessen Kritik am griechischen Kooperationsprinzip der Tugend folgern: Erstens sieht Hegel Sokrates nicht nur als philosophischen Denker, sondern darüber hinaus als einen zentralen politischen Akteur. In der Bezeichnung des weltgeschichtlichen Heroen sind die politische Dimension und die Dimension der geistigen Einsicht miteinander verflochten. Dies bedeutet für Sokrates, dass wir seine Einsicht und Kritik nur dann vollständig verstehen können, wenn wir betrachten, wie sie sich in seinem Handeln ausdrücken – insbesondere denkt Hegel an den Prozess und die Hinrichtung des Sokrates. Aus diesem Grund unterscheidet Hegel ihn von reinen Philosophen wie Aristoteles und Platon, deren Einfluss vor allem intellektueller Natur ist. Wir können uns Aristoteles und Platon über einen ausschließlich ideengeschichtlich-systematischen Zugang Ders., VGPhil.II S. 132. Ders., VGPhil.I S. 441. 20 Ebd., S. 514. 21 Vgl. ders., VPhGes S. 47. 22 Russell (1945), S. 746: »Ich zweifle, daß nach Hegels Ansicht ein Mensch ein ›Held‹ sein könne, wenn er keine kriegerischen Eroberungen macht.« 18 19
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
nähern, da ihre individuelle Biographie für das Verständnis ihres Denkens vergleichsweise nebensächlich ist. Bei Sokrates ist dies anders, so Hegel: »Seine Lebensgeschichte betrifft einerseits, was ihn als besondere Person angeht, andererseits aber seine Philosophie; sein philosophisches Treiben ist eng verwebt mit seinem Leben, sein Schicksal ist in Einheit mit seinem Prinzip und ist höchst tragisch.« 23 Diese Verwobenheit von Leben und Philosophie beschränkt sich nicht etwa auf einzelne Anekdoten, um Charaktereigenschaften und Exzentrik des Sokrates zu illustrieren. Vielmehr meint Hegel eine enge wechselhafte Bezogenheit von Leben und Denken, bei der sich das eine jeweils durch das andere ausdrückt. Ohne die Betrachtung des Prozesses gegen Sokrates können wir seine Philosophie nicht verstehen, und umgekehrt – so die These, die hinter der Bezeichnung »weltgeschichtlicher Heroe« steckt. Eine zweite Eigenschaft, die Hegel mit dieser Bezeichnung verbindet, wird gleichfalls im eben genannten Zitat angedeutet: Ihr »Schicksal« sei »tragisch«. Weltgeschichtliche Heroen beschwören durch ihr Handeln einen fundamentalen gesellschaftlich-politischen Konflikt herauf. Aus diesem Konflikt erwächst zwar ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt, aber die Heroen werden zugleich Opfer dieses Konflikts. Das tragische Schicksal der weltgeschichtlichen Heroen besteht somit darin, dass sie mit der alten Gemeinschaftsordnung untergehen, gegen die sie ankämpfen. In diesem Abschnitt erläutere ich in Kürze diese beiden genannten Eigenschaften eines weltgeschichtlichen Heroen und skizziere, welche Rückschlüsse sich daraus auf Hegels Darstellung des Sokrates und des Endes der griechischen pólis-Gemeinschaft ziehen lassen. Zunächst einmal sind für Hegel die weltgeschichtlichen Heroen politische Akteure, die durch ihr Handeln ihre Gemeinschaft revolutionieren. Sie stoßen durch ihr Handeln Veränderungen an, hinter die es kein Zurück mehr gibt und die so die Geschichte vorantreiben. Hegel nennt sie daher auch »Geschäftsführer des Weltgeistes« 24. Diese Beschreibung scheint freilich besser auf Figuren wie Alexander, Cäsar und Napoleon zu passen, die mit ihren Feldzügen politische Ordnungen umstürzen, Imperien erschaffen und die Landkarte ihrer Zeit neu gestalten, als auf Sokrates, der sein Leben vornehmlich in leidenschaftlichen Gesprächen auf der Agora verbringt und sich von 23 24
Hegel, VGPhil.I S. 446. Ders., VPhGes S. 46.
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
fast allen politischen Ämtern fern hält. Wie schon erwähnt, spielen hierbei für Hegel allerdings die militärischen Eroberungen – die bei Alexander und Napoleon ohnehin nur kurzlebig sind – weniger eine Rolle als ihre politischen Folgen. Das Handeln der weltgeschichtlichen Heroen ist bei Hegel dadurch gekennzeichnet, dass es die Lebenswelt ihrer Zeitgenossen bis in die Fundamente erschüttert und sie zum Umdenken zwingt. 25 Eine wichtige Eigenschaft der weltgeschichtlichen Heroen bei Hegel besteht darin, dass sie über ein Bewusstsein der historischen Dimension ihres Handelns verfügen. Sie dienen also nicht blindlings als Werkzeug einer höheren List der geschichtlichen Vernunft, sondern greifen aktiv gestaltend in ihre Zeitgeschichte ein und besitzen einen Überblick über ihr Handeln und die historischen Prozesse: Ihre Sache [die Sache der Heroen, MP] war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen. Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden sind das Beste der Zeit. […] Es sind große Menschen, eben weil sie ein Großes, und zwar nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Richtiges und Notwendiges gewollt und vollbracht haben. 26
Die Einsicht der weltgeschichtlichen Heroen beschränkt sich daher nicht auf das »Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen« 27 und das Fassen ihrer »Zeit in Gedanken« 28, wie Hegel die eigentliche Aufgabe der Philosophie mit dieser berühmten Formulierung in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts beschreibt. Stattdessen weist die Einsicht der Heroen, gewissermaßen unphilosophisch, über ihre Epoche hinaus und schaut auf das Zukünftige, die »nächste Stufe ihrer Welt«. Durch diese Ausrichtung auf das Zukünftige deutet HeDie eigentliche Leistung, die Alexander zu einem »weltgeschichtlichen Heroen« macht, ist laut Hegel die Hellenisierung Asiens, die »den alten Zwiespalt und Kampf zwischen dem Osten und Westen« überwindet (Hegel, VPhGes S. 332). Der historische Zweck Cäsars bestehe in der Beseitigung der krisengeschüttelten römischen Republik, um so den Weg für das Kaisertum und die »römische Weltherrschaft« mit ihrer imperialen Rechtsordnung vorzubereiten (ebd., S. 376–380). Napoleons welthistorische Leistung schließlich sieht Hegel in der Stabilisierung des nachrevolutionären Frankreichs und in der Verbreitung der freiheitlichen Prinzipien in ganz Europa, etwa in Gestalt des Code Civil (ebd., S. 533–535). 26 Ebd., S. 46 f. 27 Hegel, GPhR S. 24. 28 Ebd., S. 26. 25
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gel bereits an, dass sich die Einsicht der Heroen nicht in philosophischer Erkenntnis erschöpft, sondern eine praktische Erkenntnis ist, die sich durch das Handeln der Heroen bewahrheitet. Auch hier wird daher die enge Verbindung zwischen Denken und politischem Handeln der weltgeschichtlichen Heroen sichtbar. Zusätzlich zeigt diese ausgezeichnete Stellung zwischen Gegenwart und Zukunft, dass Hegel die weltgeschichtlichen Heroen als Zwitterwesen beschreibt: Sie gehören einerseits noch ihrer ursprünglichen Epoche an und sind dem Prinzip ihrer Zeit verhaftet, andererseits überschreitet ihr Handeln diese Epoche und verweist bereits auf die nächste. Die weltgeschichtlichen Heroen sitzen also zwischen den Stühlen zweier Zeitalter. Im Falle des Sokrates führt diese Zwitternatur dazu, dass er von seinen Zeitgenossen fast schon mit Notwendigkeit missverstanden wird, wie ich später noch eingehender erläutern werde (siehe Kapitel VI.3). Sokrates kann sich gegenüber den Griechen nur unvollkommen ausdrücken, da er auf Begrifflichkeiten zurückgreifen muss, die noch der alten Epoche angehören, um die Einsicht der »nächsten Stufe« der Weltgeschichte zu formulieren. Die Zwitternatur der Heroen weist zudem auf den zweiten Aspekt ihrer Begrifflichkeit hin, das tragische Schicksal. Weil sie Teil beider Welten sind, der gegenwärtigen und der zukünftigen, richtet sich ihre revolutionäre Kraft, mit der sie den Fortschritt einleiten, auch gegen sich selbst. Die weltgeschichtlichen Heroen wirken zerstörerisch und selbstzerstörerisch. In seinen Vorlesungen zu Sokrates beschreibt Hegel diese revolutionäre, schonungslose Gewalt der Heroen wie folgt: Sokrates ist der Heros, daß er mit Bewußtsein das höhere Prinzip des Geistes erkannt und ausgesprochen hat. Dieses höhere Prinzip hatte absolute Berechtigung. Indem es jetzt auftritt, erscheint es notwendig in Verhältnis zu einer anderen Gestalt des geistigen Bewußtseins, die das Substantielle des athenischen Lebens, der Welt, in der Sokrates auftrat, ausmachte. Das Prinzip der griechischen Welt konnte noch nicht das Prinzip der subjektiven Reflexion ertragen; so ist es als feindlich zerstörend aufgetreten. […] Das ist die Stellung der Heroen in der Weltgeschichte überhaupt; durch sie geht die neue Welt auf. Dieses neue Prinzip ist in Widerspruch mit dem bisherigen, erscheint als auflösend; die Heroen erscheinen also als gewaltsam, die Gesetze verletzend. Sie finden individuell ihren Untergang; aber dies Prinzip dringt selbst, wenngleich in anderer Gestalt, durch und untergräbt das vorhandene. Dieses Sokratische Prinzip ist dies, was in anderer Gestalt dem griechischen Leben den Untergang brachte […]. 29 29
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
Die weltgeschichtliche Einsicht des Sokrates, das »höhere Prinzip«, welches die nächste Stufe der Weltgeschichte bedeutet, nennt Hegel hier das »Prinzip der subjektiven Reflexion.« Es tritt »feindlich zerstörend« gegenüber dem »Prinzip der griechischen Welt« auf, das heißt gegen die Tugend als Prinzip der Kooperation und der pólisGemeinschaft. Das neue Prinzip untergräbt das alte, führt so zum »Untergang« der »griechischen Welt« und lässt die »neue Welt« aufgehen. Hegels Wortwahl verrät, dass die Ablösung der Prinzipien nicht durch einen friedlichen philosophischen Austausch vonstatten geht. Der »Widerspruch« der Prinzipien wird vielmehr von Sokrates »gewaltsam, die Gesetze verletzend« vorangetrieben. Diese Formulierung deutet bereits auf die Bedeutung des Prozesses gegen Sokrates hin. Für Hegel bildet der Prozess den eigentlichen weltgeschichtlichen Kulminationspunkt, an dem der Konflikt der entgegengesetzten Prinzipien ausbricht und ausgetragen wird. In ihm wird nicht nur das sokratische Denken für uns offenkundig handlungswirksam, auch seinen Mitbürgern wird deutlich, dass sie durch Sokrates mit einem neuen Prinzip konfrontiert sind, das ihre bisherige Form des Zusammenlebens in Frage stellt. Erst im Prozess und durch Sokrates’ Verhalten im Anschluss an den Prozess erkennen die Athener seine Radikalität. Auf diese Weise rückt Hegel den sokratischen Prozess ins Zentrum der weltgeschichtlichen Wende. Er erhöht ihn zum historischen Ort, an dem die Kollision der beiden Prinzipien stattfindet. Im Prozess wird Sokrates zum weltgeschichtlichen Heroen, sein Denken und politisches Wirken verschmelzen zu einer Einheit. Die Bezeichnung des weltgeschichtlichen Helden gibt uns zudem einen genaueren Hinweis auf Hegels Deutung des Prozesses selbst und dessen Verlauf. Hegel entleiht den Begriff des Heroen aus seiner Theorie der griechischen Tragödie: 30 Der tragische Held steht ebenfalls – wie der weltgeschichtliche Heroe – im Mittelpunkt eines Konflikts zweier Prinzipien, dem er einerseits ausgeliefert ist, den er aber andererseits durch sein eigenes Handeln vorantreibt. Wie im Falle des weltgeschichtlichen Konflikts führt auch der tragische Konflikt schließlich zum Untergang des Protagonisten. In Sophokles’ Antigone beispielsweise entzündet sich der tragische Konflikt an den unvereinbaren Forderungen zweier sittlicher Sphären: Die Titelheldin Antigone vertritt die sittliche Sphäre der Familie und der Pietät, indem sie für die Bestattung ihres gefallenen Bruders Polyneikes sorgt. Ihr 30
Vgl. ders., PhG S. 538.
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Onkel Kreon hingegen, als König Thebens der Vertreter der Staatsräson, verbietet die Beerdigungsriten, weil er Polyneikes für einen Landesverräter hält. Das Geschehen der Tragödie entfaltet sich, da beide Parteien unnachgiebig auf ihren unvereinbaren Standpunkten beharren. Entscheidend für das richtige Verständnis der antiken Tragödie ist allerdings laut Hegel, dass beide Standpunkte berechtigt sind. Sowohl Antigone als auch Kreon argumentieren für ihre Position mit gutem Recht. Dies bedeutet einerseits, dass es in der klassischen Tragödie kein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema von strahlendem Held und Bösewicht gibt, 31 da beide Gegenspieler für sich das sittliche Handeln in Anspruch nehmen können. Antigone und Kreon verkörpern beide gleichermaßen eine sittliche Macht. Andererseits folgt aus dieser Tatsache, dass auch jeder von ihnen sittliche Normen verletzt. Kreon versündigt sich gegenüber den religiösen Sitten, indem er die Pietätshandlung gegenüber dem Verstorbenen unterbinden lässt. Antigone hingegen verletzt durch ihren Ungehorsam ihre Pflichten als Bürgerin Thebens. Beide Handelnden machen sich auf diese Weise schuldig. In der Ebenbürtigkeit ihrer gegensätzlichen Positionen liegt daher das eigentlich Tragische ihres Konflikts, so Hegel, aus dem es keinen anderen Ausweg als ihren Untergang gibt. Auch die weltgeschichtliche Rolle des Sokrates müssen wir laut Hegel nach diesem literarischen Muster der Tragödie deuten: Der Tod des Sokrates ist »höchst tragisch«, aber »nicht im oberflächlichen Sinn des Wortes, wie man jedes Unglück […] tragisch nennt; dies ist traurig, nicht tragisch« 32, sondern als Ergebnis eines Konflikts gegensätzlicher Forderungen, die beide berechtigt sind: Im wahrhaft Tragischen müssen berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten es sein, die in Kollision kommen; so ist das Schicksal des Sokrates. Sein Schicksal ist nicht bloß sein persönliches, individuell romantisches Schicksal, sondern es ist die Tragödie Athens, die Tragödie Griechenlands, die darin aufgeführt wird, in ihm zur Vorstellung kommt. Es sind hier zwei Mächte, die gegeneinander auftreten. Die eine Macht ist das göttliche Recht, die unbefangene Sitte, – Tugend, die Religion, welche identisch mit dem Willen sind, in seinen Gesetzen, frei, edel, sittlich zu leben; wir können es abstrakterweise die objektive Freiheit nennen, Sittlichkeit, Religiosität, – das eigene Wesen der Menschen; andererseits ist es das AnundfürsichseienAnders als in der Bearbeitung des Stoffes durch Bert Brecht, der eben diesen tragischen Konflikt zugunsten Antigones auflöst und das Drama so zur schlichten Fabel verflacht (Brecht, Die Antigone des Sophokles). 32 Hegel, VGPhil.I S. 446. 31
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
de, Wahrhafte, und der Mensch ist in dieser Einigkeit mit seinem Wesen. Das andere Prinzip ist dagegen das ebenso göttliche Recht des Bewußtseins, das Recht des Wissens (der subjektiven Freiheit); das ist die Frucht des Baums der Erkenntnis des Guten und Bösen, der Erkenntnis, d. i. der Vernunft, aus sich, – das allgemeine Prinzip der Philosophie für alle folgenden Zeiten. Diese zwei Prinzipien sind es, die wir im Leben und in der Philosophie des Sokrates gegeneinander in Kollision treten sehen. 33
Hegels Bezeichnung des Sokrates als einen »weltgeschichtlichen Heroen« deutet daher an, dass im Prozess gegen Sokrates zwei »berechtigte, sittliche Mächte« miteinander kollidieren. So wie in Sophokles’ Antigone die sittlichen Normen der Institution der Familie auf die sittliche Macht der Staatlichkeit treffen, treten bei Sokrates die »objektive Freiheit« der Tugend mit dem »Recht des Wissens (der subjektiven Freiheit)« in Widerstreit. Der Prozess gegen Sokrates ist gewissermaßen die Bühne, auf der diese »Tragödie Griechenlands« aufgeführt wird – für Hegel ist es daher kein Zufall, dass die äußeren Umstände des attischen Gerichtshofs in vielen Punkten den griechischen Theaterfestspielen ähneln (vgl. Abschnitt VI.5.1). Dieser Vergleich zwischen dem Schicksal des Sokrates und einer Tragödienhandlung ist ein wichtiges Element in Hegels Geschichtsdeutung. Er muss allerdings in zwei Hinsichten eingeschränkt werden: Erstens ist der historische Konflikt um Sokrates wesentlich umfassender als der Konflikt, der beispielsweise in Sophokles’ Drama ausgehandelt wird. In der Antigone geraten die ethischen Forderungen zweier sozialer Rollen aneinander, die für verschiedene Institutionen oder sittliche Sphären innerhalb einer Gemeinschaft stehen. Antigone argumentiert aus ihrer Rolle als Schwester, während Kreon sich auf seine Pflichten als Herrscher beruft. Ihre konkreten Forderungen erscheinen zwar unvereinbar, aber ihre jeweiligen sozialen Rollen gehören beide zu demselben Gemeinwesen. Die beiden sittlichen Mächte, die in der Antigone im Konflikt stehen, markieren somit lediglich unterschiedliche Positionen innerhalb einer Gemeinschaft. Bei Sokrates betrifft der Konflikt nicht bloß Teile eines Ganzen, bestimmte Institutionen, die gegeneinander stehen, sondern unterschiedliche Auffassungen des Ganzen überhaupt. Hegel spricht daher auch häufig von einer Kollision verschiedener »Prinzipien« oder verschiedener Arten von »Freiheit«. Das »Recht der subjektiven Freiheit«, das Sokrates vertritt, greift die griechische Kooperation auf Grundlage der Tugend 33
Ebd., S. 447.
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als Ganzes an. Somit stellt Sokrates nicht wie Antigone lediglich ein konkretes Verbot oder eine bestimmte Überstreckung von Amtsgewalt in Frage, sondern das Zusammenleben der Griechen insgesamt. Das Tragödienhafte nimmt daher bei Sokrates eine größere, umfassendere Dimension an als in der klassischen griechischen Tragödie. Dementsprechend sind laut Hegel auch die Folgen des sokratischen Konflikts radikaler. Aus historischer Sicht, das heißt aus der Perspektive des Gemeinwesens, enden die Konflikte der antiken Tragödien meist verhältnismäßig glimpflich. Opfer des Konflikts sind in der Regel die handelnden Individuen, nicht die Stadt als Ganzes. Besonders deutlich wird diese Beschränkung des dramatischen Konflikts beispielsweise in den Eumeniden des Aischylos, an deren Schluss der Gott Apollon die Kollision gegensätzlicher Forderungen bereinigt, indem er die Institutionen der pólis neu ordnet und den Gerichtshof des Areopags einführt. Da der tragische Konflikt des Dramas durch sittliche Forderungen verschiedener sozialer Rollen entsteht, kann er offenbar auf der Ebene der sozialen Rollen gelöst werden, etwa durch Neugestaltung dieser Rollen und Einführung einer vermittelnden Instanz wie des Areopags. Der sokratische Konflikt dagegen betrifft die Kooperation insgesamt und das Verhältnis jedes Einzelnen zur Gemeinschaft. Somit kann ihm nicht mit einem bloß institutionentechnischen Lösungsvorschlag begegnet werden, der lediglich an einigen politischen Stellschrauben dreht (wie es übrigens laut Hegel Aristoteles und Platon mit ihren Staatstheorien versuchen). Vom weltgeschichtlichen Konflikt, den Sokrates entfesselt, kann sich die griechische Form des Zusammenlebens in der pólis nicht mehr erholen. Sie geht zusammen mit Sokrates unter, wie die Protagonisten einer Tragödie. Wir dürfen Hegels Bemerkung, es handle sich bei dem Prozess gegen Sokrates um »die Tragödie Athens, die Tragödie Griechenlands«, daher zumindest in dieser Hinsicht wörtlich nehmen. 34 Die zweite Einschränkung des Vergleichs zwischen dem Prozess und einer typischen Tragödienhandlung betrifft Hegels Bemerkung, es handle sich um »berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten«, die im Prozess gegen Sokrates aufeinander stoßen. Die Leitidee der griechischen Tragödie besteht laut Hegel in der gleichwertigen Berechtigung der widerstreitenden Forderungen, die dazu führt, dass beide Akteure im Recht sind und zugleich sich schuldig machen. 35 In 34 35
S. o., Hegel, VGPh.I S. 447. Vgl. z. B. Menke (1996).
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
gewisser Weise trifft dies auf den sokratischen Prozess nicht zu: Hegel zufolge habe Sokrates das »höhere Prinzip des Geistes erkannt und ausgesprochen«, welches »absolute Berechtigung« besitze. 36 Die Positionen im Prozess sind daher, anders als in der klassischen Tragödie, nicht wirklich symmetrisch legitimiert. Dass Hegel dennoch die Analogie zur Tragödientheorie ziehen kann, lässt sich über seine Verwendung des Adjektivs »absolut« erklären, das er in diesem Kontext verwendet, um unsere moderne Perspektive der Rückschau auf historische Ereignisse zu markieren. 37 Im weltgeschichtlichen Rückblick hat die sokratische Position die »absolute Berechtigung«. Dies bedeutet, dass wir Heutigen zwar beurteilen können, dass das sokratische Prinzip im Vergleich zum tugendethischen Prinzip der Griechen das »höhere« ist, da wir wissen, in welcher Weise sich das »Recht der subjektiven Freiheit« schließlich durchsetzt. Für die Zeitgenossen des Prozesses ist eine solche Sichtweise jedoch verschlossen. Es wäre daher anachronistisch, ihnen diese Beurteilung der Berechtigungen zuzuschreiben. Relativ gesehen, das heißt innerhalb der zeitgeschichtlichen Umstände ohne das historische Wissen der Spätgeborenen, erscheinen die Prinzipien folglich gleichberechtigt. Für Hegels Deutung des Prozesses ist es deshalb eine wichtige Voraussetzung, dass auch Sokrates als Kind seiner Zeit gesehen wird, dem nur eine begrenzte Perspektive zur Verfügung steht. Aus unserer Sicht mit unserem überlegenen Wissen könnten wir zwar sagen, dass Sokrates’ Verhalten »absolut« berechtigt ist, weil es sich im Nachhinein als das richtige herausstellt. Beschränkt auf die Epoche allerdings, in der der Konflikt stattfindet, unvermischt mit anachronistischem Wissen, handelt es sich um einen echten tragischen Konflikt im Sinne Hegels. Diese Festbestellung erklärt insbesondere, weshalb Hegel beliebte hagiographische Deutungen ablehnt, nach denen Sokrates als Unschuldiger der attischen Lynchjustiz zum Opfer fällt. Eine differenzierte Betrachtung des Prozesses hingegen, die die Tragik des Konflikts berücksichtigt, kann Hegel zufolge erkennen, dass beide Parteien sowohl mit Recht handeln als auch eine Schuld auf sich laden. Die Athener haben eine sittliche Pflicht, ihr Gemeinwesen gegen die zer-
S. o., Hegel, VGPhil.I S. 514. Die gleiche Verwendung von »absolut« finden wir beispielsweise auch in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, wenn er die antike Akzeptanz von Rechtfertigungen der Sklaverei mit unserer retrospektiven Beurteilung dieser Rechtfertigungen vergleicht (Hegel, GPhR Anm. zu § 57, S. 123 f.).
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störerische Kraft des sokratischen Prinzips zu verteidigen – zugleich übersehen sie, dass Sokrates mit seiner Kritik an der vermeintlichen ›Objektivität‹ der Tugendnormen ins Schwarze trifft. Andererseits macht sich auch Sokrates schuldig, nicht nur in den Augen der Athener, die seine zersetzende Wirkung fürchten, sondern auch nach den Maßstäben seines eigenen Prinzips, weil er das Recht des Individuums auf Dissens überstrapaziert und schließlich selbstgerecht handelt, wie ich später ausführlicher erläutern werde (siehe Abschnitt VI.5.5). In diesem Sinne nennt Hegel den Prozess gegen Sokrates eine wirkliche Tragödie: Was wir sehen, ist dieses: nicht einen Unschuldigen, dem es schlecht geht; das ist ein Tropf. Es ist platte Darstellung, wenn in Tragödien Tyrannen und Unschuldige auftreten, – höchst kahl und unvernünftig, weil leere Zufälligkeit. Ein großer Mensch will schuldig sein, übernimmt die große Kollision; so Christus: seine Individualität hat sich zerschlagen, preisgegeben, aber seine Sache ist geblieben, eben durch ihn hervorgebracht. Das Schicksal des Sokrates ist so echt tragisch. Dies ist eben das allgemeine sittliche tragische Schicksal, daß ein Recht gegen ein anderes auftritt, – nicht nur als ob das eine Recht, das andere Unrecht wäre, sondern beide sind Recht, entgegengesetzt, und eins zerschlägt sich am anderen; beide kommen in Verlust, und so sind auch beide gegeneinander gerechtfertigt. 38
Hegels Deutung des sokratischen Prozesses als ein tragisches Ereignis, in dem beide Parteien berechtigt handeln und sich schuldig machen, ist durchaus unorthodox und wurde von manchen Hegel-Lesern zum Skandal erklärt. Ernst Sandvoss beispielsweise kann seine Empörung über Hegels Lesart der Ereignisse kaum zurückhalten. So behauptet Sandvoss, dass Hegel sein Urteil nur auf verfälschte Zitate und verzerrte Quellen stützen könne. Zudem sei Hegels Beschreibung durch eine »antisokratisch-immoralistische Tendenz« gefärbt: 39 Wie ein Staatsanwalt, der sich von seiner Phantasie hinreißen läßt und die Tatsachen aus den Augen verliert, malt Hegel den verderblichen Einfluss des Sokrates in allen Farben und im Detail aus, als ob der dabei gewesen wäre. 40
Ders., VGPhil.I S. 513 f. Sandvoss (1966), S. 159. 40 Ebd., S. 169. Sandvoss’ Kritik mündet schließlich in dem Vorwurf, Hegels »antisokratisch-antichristlicher« Ansatz sei – zusammen mit Nietzsche – verantwortlich für eine Geisteshaltung, die am Ende in das »imperialistische Zeitalter« und die Katastrophe Europas führe (Sandvoss (1966), S. 178 f.). 38 39
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
Ähnlich wie der Zeitgenosse Hegels und Philosophiehistoriker Tennemann 41 vertritt Sandvoss eine konventionellere Deutung des Prozesses, die in ihren Grundzügen bereits von Platons Sicht auf die Ereignisse geprägt wird: Nach dieser traditionellen Deutung fiel Sokrates einer falschen Anklage und dem Machtmissbrauchs der Athener Richter zum Opfer, so dass das Urteil nicht nur aus unserer Sicht, sondern schon nach den Maßstäben der Zeitgenossen Unrecht gewesen sei. 42 Sokrates habe auch nicht den Untergang der griechischen pólis verschuldet, etwa durch Einführung eines neuen Prinzips und der »Erfindung der Moral«, vielmehr sei Athen »an seiner eigenen sittlichen und moralischen Verkommenheit, seiner Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit« zugrunde gegangen. 43 Nach Sandvoss ist Sokrates also kein »weltgeschichtlicher Heroe« in Hegels Sinn, sondern ein Opferlamm für den Sittenverfall Athens. Auf den Unterschied dieser beiden Deutungen gehe ich in einem späteren Abschnitt näher ein (siehe Abschnitt VI.5.2). Hegels Deutung hat, unabhängig von ihrer philologisch-historischen Akkuratesse, gewisse Vorteile gegenüber der konventionellen Sicht Tennemanns und Sandvoss’: Zum einen bietet Hegel eine wohlwollende Interpretation aller Prozessbeteiligten an. Er reduziert das Urteil der Athener nicht auf Irrationalität oder »moralische Verkommenheit« wie Sandvoss, sondern gesteht ihnen zu, dass sie richtigerweise die Gefahr erkennen, die von Sokrates’ Kritik für ihre Lebensform ausgeht. Zum anderen verleiht Hegels Deutung dem Prozess gegen Sokrates eine philosophisch-systematische Bedeutung, die ihm in der konventionellen Lesart fehlt. Für Hegel verkörpern die Prozessparteien gegensätzliche sittliche Prinzipien, das heißt, es stoßen im Prozess zwei verschiedene Weltanschauungen und Verständnisse von Kooperation aufeinander. Die Objektivität der Tugend muss sich im Prozess gegen das neue Prinzip der subjektiven Freiheit beweisen, so Hegels Darstellung, und erringt mit der Hinrichtung des Sokrates nur einen Pyrrhussieg. Der Prozess ist für Hegel sozusagen der praktisch-historische Beweis für die Unzulänglichkeit der Tugend als Kooperationsprinzip. In der konventionellen Darstellung hingegen fehlt diese philosophisch-systematische Ebene. Nach ihr handeln die Athener längst schon prinzipienlos. Ihr Verhalten im Prozess habe deshalb nichts mit den Normen der 41 42 43
Siehe hierzu Hegels Auseinandersetzung mit Tennemann in VGPh.I S. 497 f. Vgl. Sandvoss (1966), S. 171. Ebd., S. 177.
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
Tugendkooperation zu tun und der Prozess selbst habe keine Wirkung auf die Athener, sondern sei nur ein Symptom eines kontingenten Sittenverfalls. In dieser Darstellung ist der Prozess lediglich ein Beleg für eine pessimistische Anthropologie, aber sowohl philosophiesystematisch als auch geschichtsphilosophisch uninteressant. Die Schuld, die sich Hegel zufolge Sokrates durch sein Verhalten auflädt, begründet sich nicht allein in der Tatsache, dass dieser durch seine Kritik den Zusammenhalt der pólis-Gemeinschaft gefährdet. Die eigentliche Ursache seiner Schuld liegt vielmehr ebenfalls in seiner Zwitternatur als weltgeschichtlicher Heroe, der zwischen zwei Epochen steht. Laut Hegel verfügt Sokrates nur über unzureichende Begrifflichkeiten, um das Prinzip der neuen Zeit zu artikulieren, da er selbst noch zu sehr im griechischen Denken verhaftet ist. Diese mangelhafte Artikulation führt nicht nur dazu, dass seine Zeitgenossen ihn missverstehen, auch er selbst erlangt nur ein unzureichendes Verständnis des Prinzips. Sokrates teilt sein tragisches Schicksal daher vermutlich mit vielen geistigen Pionieren, die gerade weil sie ihrer Zeit voraus sind, ihre Innovationen nicht hinreichend beherrschen. Da es im antiken Athen keine etablierten Praktiken gibt, in denen die subjektive Freiheit verwirklicht ist, die Sokrates so vehement einfordert, schießen seine Forderungen über das Ziel hinaus und geraten zu abstrakt. Sokrates urteilt schließlich ähnlich einseitig und dogmatisch wie seine Richter, so Hegels Deutung. Sokrates versteht das Ausmaß und die Radikalität seiner Forderungen selbst noch nicht in Gänze und verfällt daher in Selbstgerechtigkeit, wie ich in Abschnitt VI.5.5 erläutern werde. Erst der Nachwelt gelingt dies, so Hegel, die deshalb seine Fehler korrigieren kann: Das Volk von Athen hat das Recht seines Gesetzes, seiner Sitte gegen diesen Angriff, gegen diese Verletzung des Sokrates behauptet. Sokrates hat den Geist, das sittliche Leben seines Volkes verletzt, und diese Verletzung ist bestraft. Aber Sokrates ist ebenso der Heros, der das Recht, das absolute Recht des seiner selbst gewissen Geistes, des in sich entscheidenden Bewußtseins für sich hat. Indem nun, wie angegeben, dies neue Prinzip in Kollision gekommen ist mit dem Geist seines Volkes, mit der vorhandenen Gesinnung, so hat diese Reaktion stattfinden müssen. Aber nur das Individuum ist vernichtet in der Strafe, nicht das Prinzip; der Geist des athenischen Volkes hat sich nicht wiederhergestellt aus der Verletzung, aus der Aufhebung desselben. Die unrichtige Form der Individualität wird abgestreift, und auf gewaltsame Weise, als Strafe. Das Prinzip wird später zu seiner wahrhaften Gestalt sich erheben. Die wahrhafte Weise dieses Prin-
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Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe
zips ist die allgemeine Weise, wie es nachher auftrat; das Unrecht, was so vorhanden war, war dies, daß das Prinzip nur als Eigentum eines Individuums auftrat. Die Wahrheit des Prinzips ist, als Gestalt des Weltgeistes aufzutreten, als allgemeines. Nicht seine Welt kann den Sokrates so fassen, sondern die Nachwelt, insofern sie über beiden steht. 44
Indem Hegel Sokrates als einen »weltgeschichtlichen Heroen« bezeichnet, gibt er uns somit einen Leitfaden zur Hand, um seine folgenden Ausführungen zur Kritik des Sokrates am Prinzip der Tugend zu verstehen. Erstens legt dieser Begriff eine enge Verflechtung von philosophischen Einsichten und politischem Handeln nahe, die sich wechselseitig beeinflussen und sich daher gegenseitig erhellen. Dies bedeutet, dass wir, um Hegels Interpretation der sokratischen Kritik an der Tugend zu verstehen, sowohl seine Ausführung zur sokratischen Lehre (vgl. Kapitel V.3 und Kapitel V.4) als auch seine Beschreibungen des Prozessgeschehens hinzuziehen müssen (siehe Kapitel VI.5). Erst in Prozess und Hinrichtung entfaltet sich das sokratische Prinzip in einer Weise, die für die Zeitgenossen verständlich ist und die uns hilft, die spezifische Bedeutung der verwendeten Begrifflichkeiten zu erschließen. Zugleich fügen sich die historischen Ereignisse – beziehungsweise Hegels Darstellung dieser Ereignisse – nur dann zu einem sinnvollen Bild, wenn wir sie als Kollision zweier philosophischer Auffassungen von Kooperation und Gemeinschaft auffassen. Zweitens zeigt uns Hegels Hinweis auf die Schuld, die sich Sokrates auflädt, dass uns das neue weltgeschichtliche Prinzip bei Sokrates noch in problematischer Weise begegnet. Das sokratische Verständnis der subjektiven Freiheit ist zwar zukunftsweisend, aber es formuliert eher eine Aufgabe, als dass es Lösungen bereit hält. Dies ist vor allem für die weltgeschichtliche Einordnung des Sokrates wichtig und die Beurteilung seiner Folgen, etwa für die Praxis der Sklaverei (siehe Kapitel VI.6): Mit Sokrates kommt zwar laut Hegel die Einsicht in die Welt, dass eine selbstbestimmte Kooperation nur möglich ist, wenn sie das Recht der subjektiven Freiheit integriert, aber mit Sokrates beginnt längst nicht die Epoche der subjektiven Freiheit. Die Aufgabe, die Sokrates der Nachwelt stellt, bleibt noch für ganze Zeitalter ungelöst.
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
VI.3 Sokrates und die Sophisten Indem Hegel Sokrates als einen »weltgeschichtlichen Heroen« bezeichnet, umreißt er gewissermaßen die Form, in der Sokrates seine Kritik am griechischen Kooperationsprinzip äußert: in einer wechselseitig abhängigen Einheit von Denken und Handeln, durch Kollision verschiedener Auffassung von Sittlichkeit sowie als weltgeschichtliche Übergangsfigur, die zwar bereits auf das neue Prinzip hinweist, aber dieses noch missverständlich und unzureichend mit den Begrifflichkeiten des alten Prinzips formuliert (siehe voriges Kapitel VI.2). Einen ersten Anhaltspunkt, um den Inhalt dieser Kritik zu beschreiben, liefert uns Hegel durch das Verhältnis von Sokrates zu den Sophisten. Dieses Verhältnis besitzt in Hegels ausdrücklicher Beschreibung zwei Seiten – genaugenommen lässt sich allerdings noch eine dritte Seite unterscheiden: Erstens steht Sokrates in direkter Nachfolge der Sophisten, insofern er ihre Kritik an der Objektivität der Tugend übernimmt und fortführt. Hegel nennt dieses Verhältnis die »negative Seite« der sokratischen Kritik. Die zweite Seite besteht in der expliziten Abgrenzung des Sokrates vom Nihilismus und Machtzynismus der Sophisten. Obwohl Sokrates ihre Kritik an der Tugendobjektivität teilt, lehnt er ihre Folgerung ab, dass überhaupt keine objektiven Normen möglich seien. Hegel bezeichnet dieses Verhältnis als die »positive Seite« der sokratischen Kritik. Das dritte Verhältnis zwischen Sokrates und den Sophisten ergibt sich schließlich in der Außenwahrnehmung. Seine Zeitgenossen können Sokrates trotz seiner nachdrücklichen Abgrenzung nicht von den Sophisten unterscheiden. Für die Mehrheit der attischen Bürger ist Sokrates nichts anderes als ein Sophist. Dies wird nicht erst in der Anklageschrift gegen Sokrates deutlich, in der ihm typische Vergehen der Sophisten vorgeworfen werden. Hegel erklärt diese Zuordnung mit der Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeiten, mit denen Sokrates die »positive Seite« seines Denkens formuliert. Auf der rein sprachlichen Ebene bleibt seine Position von derjenigen der Sophisten ununterscheidbar. Im vorliegenden Kapitel gehe ich auf diese drei Seiten des Verhältnisses von Sokrates zu den Sophisten ein und zeige, wie Hegel die sprachliche Mehrdeutigkeit darstellt, die Sokrates’ Position zum Vexierbild werden lässt. Das drastischste Zeugnis für die Verwechslung des Sokrates mit einem Sophisten durch die Athener überliefert uns die Komödie Die Wolken (αἱ νεφέλαι), die Aristophanes im Jahr 423 vor Christus auf 360 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Sokrates und die Sophisten
die Bühne bringt. In diesem Stück tritt eine Karikatur des Sokrates auf, welche die sophistische Technik der Beredsamkeit unterrichtet (vgl. Abschnitt V.1.3) und seinen Schülern beibringt, »das bestimmt Gesetzliche […] durch Gründe umzustoßen«. 45 Aristophanes stellt Sokrates einerseits als schrulligen Naturphilosophen dar, der die Götter leugnet 46 und die gendergerechte Sprache für Tiere und Sachen erfindet, 47 andererseits brandmarkt er ihn als Sophisten, welcher durch Rhetorik der schwächeren Sache zum Sieg über die stärkere Sache verhilft. Aristophanes spielt nicht nur mehrfach auf diese Formel zur Charakterisierung der sophistischen Rhetorik an, 48 die klassischerweise Protagoras zugeschrieben wird, sondern inszeniert sie sogar als grotesk-allegorischen Zweikampf zwischen Recht und Unrecht, 49 bei dem das Unrecht dank der sokratischen Redekunst siegt. Auch der Vorwurf, Sokrates verderbe die Jugend, findet sich in der Komödie wieder: Der Protagonist des Stücks wird vom eigenen Sohn verprügelt, nachdem dieser von Sokrates unterrichtet wurde. 50 Um den Vater zu verhöhnen, rechtfertigt der Sohn sein Handeln mit einer angeblich sokratischen Argumentationsmethode. Der Vater verwünscht die sokratische Dialektik und brennt schließlich aus Zorn das Haus des Sokrates nieder, in dem Sokrates und seine Schüler eingeschlossen sind. 51 Die verzweifelten Schreie der Erstickenden und Verbrennenden gehören zu den letzten Versen der Komödie. Für eine Komödie des Aristophanes ist dieser Schluss ungewöhnlich düster und erscheint in der Rückschau umso unheimlicher, wenn wir bedenken, dass die in der griechischen Antike einzige Aufführung des Stücks der Hinrichtung des historischen Sokrates ein Vierteljahrhundert vorausging und dennoch beide Anklagepunkte – Asebie und Verderben der Jugend – prophetisch vorwegnimmt. Es ist daher nicht überraschend, dass Sokrates in Platons Apologie die Komödie des Aristophanes namentlich erwähnt und sich über die Verleumdungen beklagt. 52 Sokrates rechnet Aristophanes zu den »älteren Anklägern«, die er für gefährlicher hält als die Ankläger vor Gericht, da sie die 45 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., S. 484. Vgl. Aristophanes, Die Wolken, Verse 248 und 361. Ebd., Verse 651–673. Ebd., Verse 112–118 und 875–880. Ebd., Verse 882–1102. Ebd., Verse 1321–1475. Ebd., Verse 1490–1510, vgl. Hegel, VGPhil.I S. 485. Platon, Apologie 19b-c.
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Meinung der Bevölkerung seit Jahrzehnten beeinflusst haben. 53 Platons Apologie gibt uns somit Grund zur Annahme, dass die aristophanische Darstellung des Sokrates als skrupelloser Sophist bei den antiken Griechen auf offene Ohren gestoßen ist. Moderne Leser, die vor allem durch Platons Dialoge gewöhnt sind, Sokrates in Opposition zu den Sophisten zu sehen, mag die Gleichsetzung des Sokrates mit den Sophisten irritieren. Hegel hält diese Fehleinschätzung allerdings geradezu für eine historische Notwendigkeit: Für ihn gehört es zur tragischen Rolle des Sokrates als weltgeschichtlicher Heroe, dass er von den Zeitgenossen verkannt wird. Die Griechen können das neue Prinzip, das Sokrates in die Welt bringt, nicht verstehen, da ihr gesamtes Denken und Handeln noch durch das alte Prinzip geprägt wird. Aus der Sicht des alten Prinzips lässt sich das neue jedoch nicht kohärent auffassen, da es mit vielen Selbstverständlichkeiten und Grundintuitionen des alten unvereinbar ist (siehe auch Kapitel VI.2): Die wahrhafte Weise dieses Prinzips ist die allgemeine Weise, wie es nachher auftrat; das Unrecht, was so vorhanden war, war dies, daß das Prinzip nur als Eigentum eines Individuums auftrat. Die Wahrheit des Prinzips ist, als Gestalt des Weltgeistes aufzutreten, als allgemeines. Nicht seine Welt kann den Sokrates so fassen, sondern die Nachwelt, insofern sie über beiden steht. 54
Die Athener verurteilen Sokrates also auch deshalb zum Tode, weil sie ihn falsch einschätzen. Sie halten ihn für einen Sophisten, dessen Skeptizismus und rhetorische Manipulation die Fundamente der tugendhaften Kooperation bedrohen (siehe Kapitel V.1). In dieser Hinsicht handelt es sich bei der Verurteilung des Sokrates um ein Fehlurteil. Allerdings liegen die Athener mit ihrer Wahrnehmung des Sokrates auch nicht gänzlich falsch, so Hegel. Ihr Urteil ist nicht in dem Sinne falsch, dass seine Verneinung wahr wäre, sondern lediglich falsch in seiner Einseitigkeit. Sokrates ist laut Hegel zwar kein Sophist – insbesondere teilt er nicht den Wertnihilismus der Sophisten –, aber er übernimmt in vielen Punkten die sophistische Kritik an der Tugend. Er stellt eine ähnliche Gefahr für die tugendhafte Kooperation der pólis dar wie die Sophisten. Seine Kritik ist sogar durchschlagender als die der Sophisten, da er einige Fehler der Sophisten vermeidet (siehe Abschnitt V.1.4). Sokrates kann daher nicht isoliert
53 54
Ebd., 18a-e. Hegel, VGPhil.I S. 512.
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Sokrates und die Sophisten
von den Sophisten verstanden werden oder allein im Kontrast zu ihnen, sondern nur als Teil einer geistigen Entwicklung, die mit den Sophisten beginnt, wie es bei Hegel heißt: »Sokrates ist aber nicht wie ein Pilz aus der Erde gewachsen, sondern er steht in der bestimmten Kontinuität mit seiner Zeit.« 55 In gewisser Weise verhält sich Sokrates in seinen Unterhaltungen genauso, wie wir es von einem Sophisten erwarten würden. Hegel nennt diese Hinsicht, die Sokrates als Sophisten erscheinen lässt, die »negative Seite« des »Allgemeinen«, das sich durch Sokrates ausdrückt und in ihm verwirklicht wird: Das Allgemeine hat selbst eine positive und negative Seite an ihm. Daß die Realität der Sittlichkeit in dem Volksgeiste schwankend geworden, dies kam in Sokrates zum Bewußtsein; er steht darum so hoch, weil er eben das Bewußtsein dessen hatte, was war, er seine Zeit ausspricht. Er erhob in diesem Bewußtsein die Sittlichkeit zur Einsicht; aber dies Tun ist eben dies, es zum Bewußtsein zu bringen, daß Sitten, sittliche Gesetze in ihrer Bestimmtheit, in ihrer Unmittelbarkeit schwankend sind, – ist die Macht des Begriffs, welche dies unmittelbare Sein und Gelten derselben, die Heiligkeit ihres Ansichseins aufhebt. […] daß, indem Sokrates bei der Unbestimmtheit des Guten bleibt, die Bestimmtheit die nähere Bedeutung hat, daß sie das Besondere ausdrückt, das Bestimmen sich auf das besondere Gute bezieht. Da tritt denn ein, daß das Allgemeine nur resultiert aus der Negation des besonderen Guten; dies besondere Gute nun aber sind die besonderen Gesetze, Gesetze als geltende Gesetze, – das Sittliche überhaupt, das, was zur griechischen Zeit als Sitte war. Wenn nun der Gedanke, die Reflexion des Gedankens auf das Allgemeine dringt, so kann dies nicht anders geschehen, als daß das Besondere in seiner Beschränkung aufgezeigt und wankend gemacht wird. Dies ist eine richtige, aber gefährliche Seite. Das denkende Bewußtsein, die Reflexion weiß von allem Besonderen seine Mängel aufzuzeigen; so gilt es nicht als fest, seine Festigkeit wird erschüttert. 56
Nach der »negativen Seite« des »Allgemeinen« ist Sokrates zunächst einmal wie die Sophisten ein Vertreter der »Bildung« (siehe Abschnitt V.1.2). Der Gebildete erkennt die »Beschränkung« und die »Mängel« des Besonderen, das heißt der tugendethischen Sittlichkeit der Griechen. Er durchschaut vermeintliche Absolutheiten (die »Heiligkeit ihres Ansichseins«) und falsche Sicherheit. Die Bildung erlaubt es ihm, differenzierte Urteile zu fällen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und die Provinzialität des eigenen Stand55 56
Ebd., S. 441. Ebd., S. 476 f.
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punkts einzusehen. Während der Ungebildete in seiner Naivität die Welt für eindeutig hält, sieht der Gebildete ihre Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität. Sokrates als Vertreter der Bildung geht daher in seinen Gesprächen »negativ« vor, indem er die Selbstgewissheit seiner Gesprächspartner erschüttert. Die Metaphorik, die Hegel für diese sokratische Aufklärungsarbeit verwendet, ist die gleiche, die er auch für die sophistische Technik nutzt: Scheinbar »Festes« gerate in Bewegung, werde »wankend gemacht« und sei »schwankend geworden«. Solange wir diese Tätigkeit der sokratischen Bildung lediglich als Zerstörung von Vorurteilen betrachten, als Zurechtschneiden unzulässiger Verallgemeinerungen und Erschütterung eines allzu selbstgewissen Schwarz-Weiß-Denkens, erscheint sie wie eine durchaus begrüßenswerte Reinigung. Offensichtlich ist nicht jeder Gesprächspartner des Sokrates über diese ungebetene Verunsicherung begeistert, die liebgewonnene Vorurteile untergräbt, aber ein Protest gegen diese Art der Bildung scheint nicht mehr zu sein als das bornierte »Geschrei des gesunden Menschenverstandes, der sich nicht anders zu helfen weiß«. 57 Nach dieser Seite hat die Bildung eine klärende Wirkung auf das Denken. Hegel betont aber, dass die Bildung ein zweischneidiges Schwert sei, da sie eine »gefährliche Seite« besitze. Wie schon die Sophisten vor ihm erkennt auch Sokrates, dass sich mit den begrifflichen Werkzeugen der Bildung nicht nur dogmatische Vorurteile beseitigen lassen, sondern jeder sittliche Grundsatz in Frage stellen lässt. Der Gebildete kann also nicht nur falsche Sicherheiten erschüttern, er kann jegliche Sicherheit auflösen. Bei den Sophisten führt diese Einsicht in das Wesen der Bildung schließlich zu einem radikalen Skeptizismus und Wertnihilimus (siehe Abschnitt V.1.3). Auch bei Sokrates scheint seine dialogische Technik zu skeptizistischen Schlüssen zu führen: »Wenn Sokrates seine Freunde zum Nachdenken bringen will, so ist die Unterhaltung immer negativ, d. h. er bringt sie zum Bewußtsein, daß sie nicht wissen, was das Rechte sei.« 58 Vielsagend sind hier vor allem die Beispiele, die Hegel für die durch Sokrates hinterfragten Überzeugungen anführt: Hier sehen wir die negative Seite, daß Sokrates das wankend macht, was der Vorstellung sonst fest war. Nicht lügen, nicht betrügen, nicht rauben gilt in der unbefangenen Vorstellung für recht, – dies ist ihr das Feste; aber durch die Vergleichung dieses für fest Gehaltenen mit anderem, das ihr ebenso 57 58
Ebd., S. 408. Ders., VPhGes S. 328.
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Sokrates und die Sophisten
fest als wahr gilt, zeigt sich, daß sie sich widersprechen, – und jenes Feste wird wankend, es gilt nicht mehr für fest. 59
In diesem Zitat spricht Hegel mit hintersinniger Ironie zu seinen Hörern: Als Beispiele für die liebgewonnenen falschen Sicherheiten der »unbefangenen Vorstellung« nennt er ausgerechnet die ethischen Verbote der Lüge, des Betrugs und des Raubs – an anderer Stelle zählt Hegel auch das Tötungsverbot dazu. Es geht an dieser Stelle offensichtlich nicht um Aberglauben oder kleinbürgerliche Vorurteile, sondern um ethische Grundfesten. Somit können wir sagen, dass die Athener in einem Sinne sehr wohl »wissen, was das Rechte« ist, wenn sie von diesen Verboten überzeugt sind. Die negative Bewegung der Bildung macht aber auch vor solchen Grundfesten nicht Halt. Hegels Sokrates beweist seinen Gesprächspartnern etwa die beschränkte Geltung des Lügenverbots, indem er als Beispiele für Ausnahmen die Täuschung des Feindes im Krieg aufzählt, einen Vater, der seinem kranken Kind die ungeliebte Medizin unterschiebt, einen Feldherrn, der seine eigene Truppe zum Sieg motiviert, indem er ihnen ungünstige Umstände verschweigt, und eine Person, die einen Freund durch List am Selbstmord hindert. 60 In diesen Ausnahmefällen werden die ethischen Normen, nicht zu lügen und zu betrügen, anscheinend durch andere ethische Gebote außer Kraft gesetzt, etwa die Norm, einen Freund vor Schaden zu bewahren. Es findet also eine »Vergleichung« verschiedener Gebote statt, die beide »ebenso fest als wahr« erscheinen, deren Forderungen sich aber in diesen besonderen Fällen widersprechen. Durch diese dialektische Technik ruft Sokrates in seinem Gesprächspartner eine doppelte Verunsicherung hervor: Zum einen wird die allgemeine Geltung zentraler ethischer Verbote angezweifelt, die der Gesprächspartner vorher für unumstößlich hielt. Zum anderen schildert Sokrates einen Konflikt ethischer Forderungen, bei dem unklar ist, wie sich dieser auflösen lässt. Es mag sein, dass der Gesprächspartner starke Intuitionen hat, wie im Einzelfall richtig zu entscheiden sei, etwa dass der Freund und das kranke Kind zu täuschen seien. Ein allgemeines Prinzip für die Auflösung dieser Konflikte kann er jedoch nicht formulieren – jedenfalls nicht, ohne dass Sokrates nun wiederum für dieses Entscheidungsprinzip auf Ausnahmen hinweist. Hegel beschreibt diese rein negative Gesprächsmethode folgendermaßen: 59 60
Ders., VGPhil.I S. 480. Ebd., S. 479 f.
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Was er [Sokrates, MP] damit bewirken wollte, war, daß sich die anderen äußern, ihre Grundsätze vorbringen sollten. Und aus jedem bestimmten Satze oder aus der Entwicklung entwickelte er das Gegenteil dessen, was der Satz aussprach; d. h. er behauptet es nicht gegen jenen Satz oder Definition, sondern nimmt diese Bestimmung und zeigt an ihr selbst auf, wie das Gegenteil von ihr selbst darin liegt. Oder zuweilen entwickelt er auch das Gegenteil aus einem konkreten Falle. Aus dem, was die Menschen für wahr halten, läßt er sie selbst Konsequenzen ziehen und dann erkennen, wie sie darin anderem widersprechen, was ihnen ebensosehr fester Grundsatz ist. So lehrte also Sokrates die, mit denen er umging, wissen, daß sie nichts wissen; ja, was noch mehr ist, er sagte selber, er wisse nichts, dozierte also auch nicht. 61
Mit Hilfe dieser Methode erschüttert Sokrates die ethischen Gewissheiten seines Gesprächspartners und hebt scheinbar die Geltung aller allgemeinen Normen auf, indem er das ethische Urteil durch Aufführung immer weiterer Einzelfälle und Ausnahmen verunsichert: Sokrates zeigt allgemeine Gebote: »Du sollst nicht töten« usf.; diese Allgemeinheit ist verbunden mit einem besonderen Inhalte, und dieser ist bedingt. Wenn nun dies Bedingte des Inhalts zum Bewußtsein gebracht wird, so ist die Festigkeit, die diese Gebote durch die Allgemeinheit haben, schwankend. Bei Gesetzen oder Geboten kommt es sonach auf Umstände an, sie sind ein von Umständen, Meinungen Bedingtes, und die Einsicht ist es, die solche Bedingungen, Umstände erfindet, wodurch Ausnahmen für dies unbedingt geltende Gesetz entstehen. Eigentum nehmen, ist ungerecht; dies ist fest. Durch solche Überlegung, daß es im besonderen Falle nicht Unrecht sei, wird die Festigkeit vernichtet; die Grundsätze werden so wankend. Denn ihnen ist die Form der Allgemeinheit notwendig; nur so sind sie fest. Wenn durch besondere Fälle, Instanzen die Allgemeinheit beschränkt wird, so verschwindet mit der Allgemeinheit auch die Festigkeit des Grundsatzes; dieser erscheint als besonderer, der gilt und nicht gilt. Es kommt auf die Umstände an; diese sind zufällig – objektiv –, oder es tritt Zufälligkeit meiner Interessen ein. 62
Die aporetischen Tugenddialoge Platons geben uns ein plastisches Zeugnis, wie Sokrates seine Gesprächspartner sprachlos zurücklässt. Sokrates tritt als der »Zitterrochen« auf, der jeden, der ihn berührt, erstarren lässt, weil er »allemal selbst so in Zweifel [ist] und andere in Zweifel [bringt].« 63 Jeder Versuch einer positiven Formulierung von 61 62 63
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Sokrates und die Sophisten
ethischen Grundsätzen führt scheinbar gleichermaßen auf den Holzweg. Mit genau der gleichen Technik haben Hegels Sophisten ihre skeptizistischen Folgerungen begründet, dass es überhaupt keine verbindlichen Grundsätze gebe, dass das ethische Urteil gänzlich von zufälligen Umständen abhänge oder letztlich die »Zufälligkeit meiner Interessen« entscheide (siehe Abschnitt V.1.3). Die sokratische Schlussfolgerung, dass er selbst und seine Gesprächspartner »nichts wissen«, das heißt, dass sie keine verlässlichen, objektiven sittlichen Grundsätze kennen, scheint diesem sophistischen Skeptizismus zum Verwechseln ähnlich. Auch wenn Sokrates letztlich den Skeptizismus der Sophisten nicht teilt, ist verständlich, weshalb er von seinen Zeitgenossen für einen Sophisten gehalten wird. Hegel hält daher Aristophanes zugute, dass jener die negative Stoßrichtung der sokratischen Dialektik einigermaßen treffend dargestellt habe, zumindest wenn wir von den in einer Komödie üblichen Übertreibungen absehen. 64 Er urteilt daher, dass Aristophanes nicht als »gewöhnlicher Possenreißer, Lustigmacher, seichter Spaßvogel« oder »schlechter Witzling« abgetan werden dürfe, der Sokrates aus Bösartigkeit schlechtmache. 65 Vielmehr sei Aristophanes ein »gründlich tiefer Patriot«, ein »edler, vortrefflicher, wahrhaft athenischer Bürger« 66, der die Gefahr erkenne, die vom sokratischen Prinzip ausgeht: Die Übertreibung, die man dem Aristophanes zuschieben könnte, ist, daß er diese Dialektik zur ganzen Bitterkeit der Konsequenz fortgetrieben hat; es kann jedoch nicht gesagt werden, daß dem Sokrates Unrecht geschehen mit dieser Darstellung. Aristophanes hat durchaus nicht Unrecht, ja man muß sogar seine Tiefe bewundern, die Seite des Dialektischen des Sokrates als eines Negativen erkannt und (nach seiner Weise freilich) mit so festem Pinsel dargestellt zu haben. 67
Sokrates erscheint Aristophanes und dessen Zeitgenossen als Sophist, da sie nur seine negative Seite erkennen. Hegel spricht daher auch von einer »Zweideutigkeit der [sokratischen] Dialektik und Sophistik«, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich beide gegen »das Objektive«, das heißt die vermeintliche Festigkeit und Objektivität der gemeinschaftlichen Tugendnormen richten (s. u.). Um ein vollständiges Bild des Sokrates zu erhalten, müssen wir allerdings 64 65 66 67
Hegel, VGPhil.I S. 481. Ebd., S. 482. Ebd., S. 483. Ebd., S. 485.
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auch die »positive« Seite des »Allgemeinen« berücksichtigen, die er laut Hegel verkörpert. Auf diese positive Seite, die den Unterschied zwischen sokratischer Dialektik und Sophistik ausmacht, geht Hegel in folgender, jedoch nicht leicht zu verstehenden Bemerkung ein: Ich ist das Sich-Erhaltende, aber es ist nur als Aufhebendes, – eben dadurch Einzelnes (negative Einheit), nicht in sich reflektiertes Allgemeines. Hierin liegt die Zweideutigkeit der Dialektik und Sophistik; das Objektive verschwindet. Welche Bedeutung hat nun das feste Subjektive? Ist es selbst dem Objektiven entgegengesetzt, Einzelnes, so ist es ebenso zufällig, Willkür, das Gesetzlose. Oder ist es an ihm selbst objektiv und allgemein? Sokrates spricht nun das Wesen als das allgemeine Ich aus, als das Gute, das in sich selbst ruhende Bewußtsein, – das Gute als solches, frei von der seienden Realität, frei gegen das Verhältnis des Bewußtseins zu seiender Realität – es sei einzelnes sinnliches Bewußtsein (Gefühl und Neigungen) –, oder endlich frei von dem theoretisch über die Natur spekulierenden Gedanken, der, obzwar er Gedanke, doch noch die Form des Seins hat; Ich bin darin nicht als meiner gewiß. α) Sokrates hat die Lehre des Anaxagoras aufgenommen: Das Denken, der Verstand ist das Regierende, Wahre, sich selbst bestimmende Allgemeine. Bei den Sophisten hat dies mehr die Gestalt der formellen Bildung, des abstrakten Philosophierens gewonnen. Der Gedanke ist bei Sokrates das Wesen, wie bei Protagoras; daß der selbstbewußte Gedanke alles Bestimmte aufhob, ist auch bei Sokrates der Fall gewesen, aber so, daß er zugleich jetzt im Denken das Ruhende, Feste aufgefaßt. Dieses Feste des Gedankens, die Substanz, das Anundfürsichseiende, sich schlechthin Erhaltende ist als der Zweck bestimmt worden und näher als das Wahre, Gute. 68
Sowohl bei den Sophisten wie auch bei Sokrates »verschwindet« das »Objektive«, das heißt, sie erkennen, dass das Subjekt keinen verbindlichen, von ihm unabhängigen Normen unterworfen ist, so wie es die griechischen Bürger von den Tugendnormen in der Anwendungsphase ihres Zwei-Phasen-Modells glauben. Für die Sophisten bleibt daher nach dem Wegfall dieser objektiven Tugendnormen als einzige Quelle der Normativität die Willkür des Einzelnen (»Einzelnes […], Willkür, das Gesetzlose«). Die Sophisten fallen durch diese Auffassung im Grunde wieder in das »Selbstbewußtsein der Begierde« zurück, die als einzigen Maßstab des Handelns ihr eigenes partikuläres Dafürhalten kennt (siehe Kapitel III.1.2). Sokrates hingegen schlägt einen anderen Weg ein. Die Sophisten haben seiner Ansicht nach zwar zu Recht die falsche Verdinglichung der Tugendnormen als 68
Ebd., S. 441 f.
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Irrtum entlarvt, aber dennoch bleibt etwas »Festes« und »Objektives« übrig: »das allgemeine Ich […], als das Gute, das in sich selbst ruhende Bewußtsein«. Dieser Satz ist freilich nicht nur terminologisch schwer zu deuten, er verdeutlicht auch, weshalb den Athenern Sokrates und die Sophisten zum Verwechseln ähnlich erscheinen. Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen werden mit nahezu gleichen Worten formuliert: Für die Sophisten ist der letzte Grund allen Handelns die Willkür des Einzelnen – sozusagen das partikulare »Ich« –, gegen das Sokrates das »allgemeine Ich« stellt. Sokrates greift also den Grundsatz der Sophisten »Nur das ist richtig, was ich für richtig halte« wieder auf, aber wechselt das logische Register vom einzelnen Subjekt zum allgemeinen Subjekt. Die Sätze gleichen daher sprachlichen Vexierbildern. Der Hörer, der lediglich die sophistisch-subjektivistische Bedeutung erwartet, überhört die eigentlich intendierte Bedeutung. Diese Missverständlichkeit, die auf derart deutungsoffenen Begrifflichkeiten beruht, trägt zur weltgeschichtlichen Tragik des Sokrates bei, die im vorigen Kapitel (VI.2) diskutiert wurde. Hegel demonstriert diese für Sokrates letztlich fatale sprachliche Doppeldeutigkeit am Homo-mensura-Satz des Protagoras: Ein Hauptprinzip der Sophisten hieß: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«; hierin, wie in allen Aussprüchen derselben, liegt aber die Zweideutigkeit, daß der Mensch der Geist in seiner Tiefe und Wahrhaftigkeit oder auch in seinem Belieben und besonderen Interessen sein kann. Die Sophisten meinten den bloß subjektiven Menschen und erklärten hiermit das Belieben für das Prinzip dessen, was recht ist, und das dem Subjekte Nützliche für den letzten Bestimmungsgrund. Diese Sophistik kehrt zu allen Zeiten nur in verschiedenen Gestalten wieder; so auch in unseren Zeiten macht sie das subjektive Dafürhalten von dem, was recht ist, das Gefühl, zum Bestimmungsgrund. 69
Der Satz »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« lässt sich also auf zweierlei Weise aussprechen. Einerseits auf die sophistische Weise, nach der das »Belieben« des Einzelnen, sein »besonderes Interesse« und das »dem Subjekt Nützliche« in seinem »subjektive Dafürhalten von dem, was recht ist« die einzigen Quellen von Normativität für das Subjekt sind. Der Sophist, der den Homo-mensura-Satz formuliert, meint daher eigentlich: »Ich, Protagoras, bin das Maß aller Dinge (für mich).« Für die Sophisten ist diese Lesart die Konsequenz aus der Einsicht der Bildung, dass sowohl die ›Objektivität‹ der Tugend69
Hegel, VPhGes S. 328.
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normen als auch die Objektivität der institutionellen Schiedssprüche durch Orakel lediglich Mythen sind. Das Problem an dieser sophistischen Schlussfolgerung ist jedoch, wie ich an Hegels Diskussion des Selbstbewusstseins der Begierde gezeigt habe, dass sich auf diese Weise kein Begriff von vernünftiger Selbstbestimmung gewinnen lässt. Der Einzelne, der als einzige Richtschnur seines Verhaltens sein augenblickshaftes, subjektives Dafürhalten zulässt, handelt nicht selbstbestimmt, sondern ist lediglich ein Spielball seiner Neigungen und Begierden, die ihm wie äußere Widerfahrnisse zustoßen. Sokrates stellt daher gegen diese sophistische Deutung eine zweite Lesart des Homo-mensura-Satzes, die zwar an der Kritik der Bildung an der vermeintlichen Objektivität von Tugendnormen und Orakelsprüchen festhält, aber nicht die sophistische Folgerung zieht, es gebe überhaupt keine objektiven, das heißt subjektübergreifenden und verbindlichen Normen. Nach der sokratischen Lesart des Satzes ist die eigentliche Richtschnur unseres Handelns nicht der je einzelne Mensch, sondern der Mensch als »Geist in seiner Tiefe und Wahrhaftigkeit«. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie nennt Hegel diese zweite Lesart sogar das »Sokratische Prinzip«: Nach dem Sokratischen Prinzip gilt dem Menschen nichts, hat nichts Wahrheit für ihn, wo nicht der Geist das Zeugnis gibt. Der Mensch ist dann frei darin, ist bei sich; es ist die Subjektivität des Geistes. Wie es in der Bibel heißt, »Fleisch von meinem Fleisch, Bein von meinem Bein«, so ist das, was mir gelten soll als Wahrheit, als Recht, Geist von meinem Geiste. Was der Geist so aus sich selbst schöpft, was ihm so gilt, muß aus ihm als dem Allgemeinen, als dem als Allgemeines tätigen Geiste sein, nicht aus seinen Leidenschaften, Interessen, Belieben, Willküren, Zwecken, Neigungen usf. Dies ist zwar auch ein Inneres, »von der Natur in uns gepflanzt«, aber nur auf natürliche Weise unser eigenes. Es gehört dem Besonderen an; das Höhere darüber ist das wahrhafte Denken, der Begriff, das Vernünftige. Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge. 70
Kern des Sokratischen Prinzips ist die Einsicht in die Autonomie: Für den Menschen gilt nur das als verbindlich und wahr, was er für sich als verbindlich und wahr anerkennt. Diese Anerkennung erschöpft sich allerdings nicht, wie die Sophisten behaupten, im »subjektiven 70
Ders., VGPhil.I S. 471 f.
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Sokrates und die Sophisten
Dafürhalten«, im »Gefühl« des Einzelnen, sondern muss sich als ein »Zeugnis« des Geistes ausweisen. »Leidenschaften, Interessen, Belieben, Willküren, Zwecken, Neigungen usf.« können nicht als letzter Bestimmungsgrund dienen, sie sind kein »Zeugnis« des Geistes – hier wiederholt Hegel seine Kritik am Selbstbewusstsein der Begierde, das nicht selbstbestimmt handelt. Das »Zeugnis« des Geistes muss vielmehr »aus ihm als dem Allgemeinen, als dem als Allgemeines tätigen Geistes« stammen. In dieser Formulierung bleibt freilich noch offen, wie genau dieses »Zeugnis« des Geistes bewerkstelligt wird. Im obigen Zitat ist die Beschreibung des Sokratischen Prinzips vor allem negativ, indem sie sich gegen den Willkür-Subjektivismus der Sophisten richtet und aufzählt, was alles kein »Zeugnis« des »als Allgemeines tätigen Geistes« sein kann. Bei der Suche nach einer Interpretation, wie sich Hegels Sokrates dieses Objektiv-Allgemeine vorstellt, besteht für den modernen Leser freilich die Gefahr, einer anderen Zweideutigkeit zum Opfer zu fallen. Schließlich sind auch die griechischen Tugendnormen ein Versuch, ein handlungsleitendes »Allgemeines« zu schaffen, das frei von der Willkür des Einzelnen ist. Der Tugendhafte handle nicht wie ein partikuläres Individuum, sondern wie ein Idealbild des Menschen, indem er seine individuellen Begierden, Neigungen und dergleichen nach den Vorgaben der vermeintlich objektiven Tugendnormen gestaltet habe, so die Vorstellung der antiken Griechen. In diesem Sinne kann die Rede vom »Allgemeinen« hier allerdings nicht gemeint sein, da sie wieder in den Mythos der Objektivität zurückfällt. Der Mensch als »Geist in seiner Tiefe und Wahrhaftigkeit« ist also nicht der tugendhafte Mensch. Eine angemessene Lesart der positiven Seite des sokratischen Prinzips muss also gleichermaßen das Missverständnis der Athener vermeiden, die Sokrates für einen Vertreter des sophistischen Willkür-Subjektivismus halten, wie die Fehlinterpretation, nach der Sokrates lediglich die Grundsätze der Tugendethik wiederholt. Für diesen hermeneutischen Weg zwischen Skylla und Charybdis ziehe ich im nächsten Kapitel VI.4 Hegels Diskussion des sokratischen daímon hinzu. Hegel zufolge transformiert Sokrates in seiner Rede vom daímon die bestehenden Orakelpraktiken, um auf diese Weise die Objektivität und Allgemeinheit zu beschreiben, die er anstelle des sophistischen Nihilismus und der griechischen Tugendobjektivität setzen will. Das »allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens«, in dem das Allgemeine des sokratischen Prinzips besteht, ist demnach die formale Anerkennung, dass jedes Subjekt qua Subjekt die gleichen 371 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
Rechte besitzt, die die Sophisten nur jeweils für sich selbst beanspruchen. Das »eigene Gewissen«, das Sokrates so »erweckte«, entspricht daher der Forderung nach einer Praxis, in der die Teilnehmer wechselseitig ihre Gewissensentscheidungen respektieren, auch wenn sich diese inhaltlich vom je eigenen Urteil unterscheiden.
VI.4 Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens In diesem Kapitel widme ich mich der positiven Seite der sokratischen Kritik an der Tugend, mit der Sokrates sich von der rein negativskeptizistischen Position der Sophisten abgrenzt. Gegen den Willkür-Subjektivismus der Sophisten, die überhaupt keine objektiven Normen akzeptieren und als letzten Bestimmungsgrund des Handelns das rein partikuläre »Dafürhalten« setzen, 71 stellt Sokrates das »allgemeine Ich«, das »Anundfürsichseiende«, 72 aus dem er eine neue Form der objektiven Normativität ableitet, ohne in den griechischen Mythos objektiver Tugendnormen zu verfallen. Statt einer Ermächtigung der je einzelnen Willkür, wie sie die Sophisten vollziehen, verlangt Sokrates nach einem reflektierten, angemessenen Umgang mit der irreduziblen Subjektivität der Entschließung (siehe Abschnitt V.2.4). Hegels Sokrates fordert, wie ich in diesem Kapitel argumentiere, die Etablierung einer Praxis des Gewissens, die durch gegenseitigen Respekt für den subjektiven Ermessensspielraum und die Toleranz für vom eigenen Urteil abweichende Entscheidungen geprägt ist, auch wenn sich diese nicht vollständig begründen und von allen Teilnehmern der Praxis nachvollziehen lassen. Eine solche Praxis ist den antiken Griechen laut Hegel fremd: »Von den Griechen in der ersten und wahrhaften Gestalt ihrer Freiheit können wir behaupten, daß sie kein Gewissen hatten […].« 73 Der Respekt vor dem Gewissensentscheid eines anderen Subjekts, der selbst dann eingefordert wird, wenn dem Beobachter dieser Entscheid unsinnig, unvernünftig oder lasterhaft erscheint, widerspricht der Anforderung nach Begründbarkeit und Erkennbarkeit tugendhafter Handlungen, auf denen die griechische Kooperation beruht (siehe Abschnitt IV.2.2). Hegels Sokrates erkennt nicht nur den Irrtum, der dieser Überzeugung 71 72 73
Hegel, VPhGes S. 328. Ders., VGPhil.I S. 442. Ders., VPhGes S. 309, vgl. auch ders., VPhRel.II S. 104.
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Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens
der Griechen zugrunde liegt, sondern sieht die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens ein und entwirft ihr Aussehen in Grundzügen: er »erweckte« das »eigene Gewissen«. 74 In Hegels Darstellung scheitert Sokrates letztlich mit diesem Vorstoß, nicht nur, weil ein Einzelner keine gemeinschaftliche Praxis aus der Taufe heben kann, sondern vor allem, weil Sokrates’ Ansatz bereits eine Reihe von grundsätzlichen Problemen aufwirft, die mit einer Praxis des Gewissens verbunden sind, etwa die Frage nach dem Umgang mit Gewissenstätern und Selbstgerechtigkeit, aber auch Schwierigkeiten der sinnvollen Abgrenzung und Beschränkung der Gewissensspielräume. Diese Anforderungen einer Praxis des Gewissens sind nicht trivial und setzten durchaus anspruchsvolle Institutionen und Begriffe voraus, über die die antiken Griechen nicht verfügen und die Sokrates selbst noch nicht einmal andeutungsweise erahnt. Sein eigentliches Vermächtnis in Hegels Geschichtsphilosophie bleibt daher die Erkenntnis der Notwendigkeit einer solchen Praxis, die erst von späteren Epochen eingelöst wird. Hegels Vorlesungen zu Sokrates und dem Ende der antiken pólis bereiten somit seine Hörer auf die wichtige Bedeutung vor, welche die Praxis des Gewissens in Hegels modernem Staat besitzt. Es wird dadurch auch deutlich, dass der Begriff des Gewissens ein komplexer, mehrschichtiger Begriff ist und nicht etwa die bloße Gewissheit des unvermittelten Fürwahrhaltens meint, die in »ihrer Struktur denkbar primitiv« sei, wie etwa Christoph Halbig irrtümlich glaubt. 75 Vielmehr ist der Begriff des Gewissens bei Hegel durch eine Praxis des kompetenten Umgangs mit sittlicher Fremdbeurteilung und Urteilsenthaltung vermittelt. In Hegels Deutung des Untergangs der antiken pólis scheitert die griechische Gemeinschaft auch deshalb, weil es ihr nicht gelingt, eine solche Praxis des Gewissens einzurichten, obwohl sie die Notwendigkeit dieser Praxis letztendlich einsieht. In diesem griechischen Scheitern deutet Hegel bereits an, für wie anspruchsvoll er die institutionellen Voraussetzungen dieser Praxis hält. Weiterhin gibt uns diese geschichtsphilosophische Deutung Hegels einen Hinweis auf die Stellung, die der Begriff des Gewissens in seinem eigenen Systemdenken einnimmt: Es wird gängigerweise angenommen, unter anderem auch aufgrund der textlichen Ordnung in der Phänomenologie des Geistes und den Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass Hegel den 74 75
Ders., VGPhil.I S. 472. Halbig (2008), S. 492.
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
Begriff des Gewissens als Antwort auf das Problem der Inhaltsleere einer formalistischen Moralkonzeption sieht, als eine Art situationistischer Ergänzung einer abstrakten Regel- und Prinzipienmoral. 76 In seinen Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie dient der Begriff des Gewissens allerdings nicht der inhaltlichen Erweiterung einer formalistischen Moralität, sondern im Gegenteil als kritisches Werkzeug zur Eindämmung eines Urteilsüberschwangs der substantiellen Sittlichkeit der Tugendethik. Diese doppelte Stellung verrät, dass für Hegel der Begriff des Gewissens ein wichtiger Scharnierbegriff bleibt, um zwischen Sittlichkeit und Moralität zu vermitteln, und nicht nur ein Übergangsstadium bildet, um auf die Fehler der einen oder anderen Konzeption hinzuweisen. Ich werde in diesem Kapitel in folgenden Schritten vorgehen: Zunächst skizzierte ich das vorherrschende Verständnis von Subjektivität und Objektivität im Handeln, auf das Sokrates bei seinen Zeitgenossen trifft. Anschließend gehe ich auf Sokrates’ Kritik dieses Verständnisses ein, das in seinen Augen unweigerlich in den sophistischen Skeptizismus führt, und stelle seinen Vorschlag für ein neues, geläutertes Verständnis dieser Begriffe vor, nach dem die Existenz objektiver Normen mit der Irreduzibilität der subjektiven Entschließung vereinbar sind. Ich diskutiere einige interpretatorische Schwierigkeiten, die mit Hegels Formulierung des sokratischen Vorschlags verbunden sind, und entwerfe anschließend die Struktur der neuen Praxis des Gewissens, die Sokrates Hegel zufolge etablieren will. Ich zeige, dass sich diese Praxis im Gegensatz zur sophistischen Ermächtigung der einzelnen Willkür durch eine symmetrische, wechselseitige Berechtigung der Entschließungen aller Teilnehmer auszeichnet. Anschließend gehe ich auf die sokratische Metapher eines inneren daímon als Orakelersatz ein, mit der Sokrates seinen Zeitgenossen sein Konzept eines Proto-Gewissens verständlich zu machen versucht. Sowohl die Sophisten und als auch die Anhänger der Tugendsittlichkeit – also die gewöhnlichen griechischen Bürger nach Hegels Darstellung – gehen gleichermaßen von der Annahme aus, dass Subjektivität und Objektivität Gegensätze bilden. Bei den Sophisten ist Vgl. Wood (1990), Chap. 10, S. 174–192. So diskutiert Hegel beispielsweise in den Grundlinien der Philosophie des Rechts den Begriff des Gewissens als Abschluss des Teils zur Moralität, unmittelbar vor dem Paragraphen § 141 »Übergang der Moralität in Sittlichkeit«.
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Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens
die Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität eine zentrale Voraussetzung ihres Tugendskeptizismus: Dank ihrer Bildung erkennen die Sophisten, dass jede Handlungssituation grundsätzlich mehrdeutig ist, wie sie in ihren beeindruckenden rhetorischen Demonstrationen unter Beweis stellen. Die Sophisten erkennen daher, dass es stets von einer willkürlichen Entschließung des Subjekts abhängt, welche Aspekte einer Handlungssituation es als relevant auswählt. Eine Situation interpretiert sich nicht selbst und eine Norm wendet sich nicht von alleine an, es bedarf einer Ausdeutung und Orientierungsleistung durch das Subjekt. Aus der Notwendigkeit dieser subjektiven Ausdeutung und Orientierungsleistung folgern die Sophisten, dass die objektiven Normen überhaupt keinen Ausschlag geben beziehungsweise gar nicht existieren, sondern dass alles Handeln und Urteilen allein von der individuellen Willkür abhängt (siehe Abschnitt V.1.3.). Diese Folgerung, die zum sophistischen Tugendskeptizismus führt, setzt offenbar die Annahme voraus, dass Objektivität und Subjektivität nicht miteinander vereinbar sind: Nach Auffassung der Sophisten können keine objektiven Standards im Handeln verwirklicht werden, wenn alle Handlungen vom subjektiven Dafürhalten bestimmt werden. Die gleiche Annahme motiviert die griechischen Bürger zur Einrichtung der Orakelpraktiken. Die griechischen Orakel sind eine Reaktion auf die Einsicht, dass der Prozess des praktischen Überlegens prinzipiell endlos ist und daher durch eine subjektive »Entschließung« willkürlich abgebrochen werden muss, damit das Subjekt handeln kann. Eine Handlung, deren letzter Bestimmungsgrund die rein subjektive Entschließung ist, erfüllt allerdings nicht das Bedürfnis der Griechen nach Objektivität, das heißt nach vollständiger Begründbarkeit und Nachvollziehbarkeit tugendhaften Handelns. Die griechischen Orakel sind daher derartig konzipiert, dass sie die subjektive Entschließung durch ein vermeintlich objektives Orakelzeichen ersetzen sollen, also ein äußeres Ereignis, welches unabhängig von jeglichen subjektiven Entscheidungsspielräumen ist. Aus Sicht der Griechen sind die Orakel als subjektunabhängige Schiedsinstanzen nötig, da sie eine Handlung nicht für begründbar halten, wenn sie von einer subjektiven Entschließung abhängt. Zwei Tugendhafte, die sich in einer identischen Situation befinden, können sich offenbar mit gleicher Berechtigung unterschiedlich entscheiden, falls sie andere Umstände als relevant bewerten und den Punkt der Entschließung anders setzen. Die griechische Kooperation – insbesondere ihre Praxis der gegenseitigen Korrektur – 375 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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baut allerdings auf der Voraussetzung auf, dass Tugendhafte in ähnlichen Situationen ähnlich urteilen und handeln (siehe Abschnitt IV.2.2). Als die Griechen erkennen, dass die Zufälligkeit der subjektiven Entschließung diese Gleichheit tugendhaften Handelns und Urteilens durchkreuzt, versuchen sie, mittels der Orakelzeichen die Handlungen und Urteile der Bürger zu harmonisieren, indem allen derselbe Abbruchpunkt des Überlegens vorgeben wird (siehe Kapitel V.2) Die Griechen müssen jedoch im Laufe der Zeit feststellen, dass ihre Orakel diese Aufgabe nicht erfüllen. Die äußeren Ereignisse, die als Orakelgeschehen interpretiert werden, sind als solche deutungsoffen und geben daher keine eindeutige Entscheidung vor. Somit sind die Orakelzeichen der Griechen keinesfalls subjektunabhängig, sondern erhalten erst durch die gemeinsame Deutung der beteiligten Subjekte ihre Zeichenhaftigkeit. Die Orakelzeichen werden daher nicht in der Welt vorgefunden, sondern geschaffen (siehe Kapitel V.2.4). Hegel zufolge ringen sich die antiken Griechen erst allmählich zu der Erkenntnis durch, dass die Orakelpraktiken ihrem Handeln nicht die gewünschte Objektivität verleihen. Enttäuscht von ihren Orakeln wenden sich die Griechen den Sophisten und anderen Volksrednern zu, welche an die Stelle der Orakel in der Gemeinschaft treten. 77 Dieses Verhalten der Griechen gleicht einer Resignation: Sobald die Griechen sich eingestehen, dass auch die Orakelsprüche von subjektiven Entschließungen abhängen und deshalb nicht in dem von ihnen gewünschten Sinn »objektiv« sind, verlieren sie ihren Glauben an die Möglichkeit objektiver Normen überhaupt und übernehmen den radikalen Subjektivismus der Sophisten, gemäß dem die Willkür des Einzelnen der einzige Maßstab des Handelns ist. Folglich gehen immer mehr pólis-Bürger davon aus, dass subjektive Willkür und Privatinteressen die einzigen Bestimmungsgründe des Handelns sind, mit den entsprechenden zersetzenden Folgen für das Gemeinwesen und den Zusammenhalt in der pólis. Bei jedem Schritt dieser Entwicklung steht im Hintergrund die Annahme, dass eine Handlung nicht objektiv sein kann, wenn sie von einer subjektiven Entschließung abhängt, das heißt, dass Subjektivität und Objektivität Gegensätze bilden. In Hegels Darstellung kritisiert Sokrates genau diese Entgegensetzung von »objektiv« und »subjektiv«, die gleichermaßen hinter den Orakelpraktiken und dem sophistischen Skeptizismus steht. Hegels Sokrates zufolge beruht die Entgegensetzung auf einem 77
Vgl. Hegel, VPhGes S. 311.
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Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens
falschen Verständnis beider Begriffe. Richtig verstanden, bilden sie keine Gegensätze, sondern ergänzen sich, wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie zu Sokrates ausführt: Reflexion, Zurückführung der Entscheidung aufs Bewußtsein ist ihm [Sokrates, MP] gemeinschaftlich mit den Sophisten. Aber das wahrhafte Denken denkt so, daß sein Inhalt ebensosehr nicht subjektiv, sondern objektiv ist; darin ist die Freiheit des Bewußtseins enthalten, daß das Bewußtsein bei dem, worin es ist, bei sich selbst sei; – dies ist eben Freiheit. Das Prinzip des Sokrates ist, daß der Mensch, was ihm Bestimmung, was sein Zweck, der Endzweck der Welt, das Wahre, Anundfürsichseiende [ist], – daß er dies aus sich zu finden habe, daß er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse. Es ist die Rückkehr des Bewußtseins in sich, die dagegen bestimmt ist als ein Heraus aus seiner besonderen Subjektivität; eben darin liegt, daß die Zufälligkeit des Bewußtseins, der Einfall, die Willkür, die Partikularität verbannt ist, im Inneren dies Heraus, das Anundfürsichseiende zu haben. Objektivität hat hier den Sinn der anundfürsichseienden Allgemeinheit, nicht den äußerlicher Objektivität; so ist die Wahrheit gesetzt als vermittelt, als Produkt, als gesetzt durch das Denken. […] Sokrates ist das Bewußtsein aufgegangen, daß das, was ist, vermittelt ist durch das Denken. Die zweite Bestimmung ist, daß ein Unterschied gegen das Bewußtsein der Sophisten eintritt, daß nämlich das Setzen und Produzieren des Denkens zugleich Produzieren und Setzen eines solchen ist, was nicht gesetzt ist, was an und für sich ist, – das Objektive, erhaben über die Partikularität der Interessen, Neigungen, die Macht über alles Partikuläre. Einerseits ist es bei Sokrates und Platon subjektiv, durch die Tätigkeit des Denkens gesetzt, – dies ist das Moment der Freiheit, daß das Subjekt bei dem Seinigen ist, dies ist die geistige Natur; aber andererseits ist es ebenso an und für sich Objektives, nicht äußerliche Objektivität, sondern geistige Allgemeinheit. Dies ist das Wahre, die Einheit des Subjektiven und Objektiven in neuerer Terminologie. 78
Zu Beginn dieses Zitats stellt Hegel klar, dass er Sokrates kein naivsubstantielles Verständnis von Objektivität zuschreibt, wie es in seiner Darstellung unter den Athener Bürgern zur Zeit der klassischen pólis verbreitet ist. Hegels Sokrates ist genauso wie die Sophisten ein Vertreter der Bildung (siehe voriges Kapitel VI.3). Er übernimmt die ursprünglich sophistische Einsicht, dass jede Handlung von einer subjektiven Entschließung des Subjekts abhängt: die »Zurückführung der Entscheidung aufs Bewußtsein ist ihm gemeinschaftlich mit den Sophisten.« Die handlungsprägende Entscheidung liegt beim 78
Ders., VGPhil.I S. 443.
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Subjekt. Es kann die Last der Entschließung weder einer äußeren Instanz wie den traditionellen Orakeln übertragen, noch kann es sich mit dem Hinweis aus der Verantwortung ziehen, es wende lediglich die gemeinschaftlich vereinbarten, scheinbar unabhängig-objektiven Handlungsnormen an. Hegel drückt dies derart aus, dass der Mensch seinen »Zweck«, seine »Bestimmung« und das »Wahre« »aus sich zu finden habe, daß er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse.« Die sophistische Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung bedeutet daher, dass das individuelle Subjekt niemals gänzlich in seiner Rolle als Vertreter seiner Sittlichkeitsgemeinschaft aufgeht. Vielmehr liegt der letzte Bestimmungsgrund seiner Handlungen in seiner Individualität, auch wenn diese Handlungen gedankenlos und rein konventionell geschehen. Allerdings zieht Sokrates aus dieser Einsicht nicht die sophistische Konsequenz, dass die gemeinschaftlich ausgehandelten Handlungsnormen bedeutungslos seien und jeder Begründungsversuch nichts anderes als ein Manipulationsversuch sei. Anders als die Sophisten lässt Hegels Sokrates Subjektabhängigkeit und Willkürlichkeit nicht unterschiedslos zusammenfallen, sondern nutzt vielmehr die Einsicht in die Irreduzibilität der Entschließung, um ein geläutertes Verständnis von Objektivität zu entwerfen: »Aber das wahrhafte Denken denkt so, daß sein Inhalt ebensosehr nicht subjektiv, sondern objektiv ist […] – dies ist eben Freiheit.« Die Sophisten, die als einzigen Maßstab des Handelns das subjektive Belieben anerkennen, verfehlen offenbar das »wahrhafte Denken«. Ihr radikaler Subjektivismus fällt zurück in die Unfreiheit des »Selbstbewusstseins der Begierde« (siehe Abschnitt V.1.3). Das sokratische Ziel hingegen besteht darin, »die Einheit des Subjektiven und Objektiven in neuerer Terminologie« zu schaffen, also ein Verständnis dieses Begriffspaars zu erarbeiten, nach dem es keinen Gegensatz bildet. Hegels Bemerkungen im obigen Zitat, wie Sokrates dieses Ziel eines neuen Verständnisses der Objektivität erreichen will, sind an dieser Stelle nicht leicht zu verstehen. Die Formulierungen sind mit einer ähnlichen Zweideutigkeit behaftet, wie sie Hegel auch bei seiner Diskussion der gegensätzlichen Auslegung des Homo-mensura-Satzes durch Sokrates und die Sophisten anspricht (siehe voriges Kapitel VI.3). Nach einer ersten, oberflächlichen Lesart des Zitats scheint es so, als fordere Sokrates einen geistigen Reinigungsprozess für das individuelle Subjekt, damit es das »wahrhafte Denken« erreiche:
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Es ist die Rückkehr des Bewußtseins in sich, die dagegen [d. h. gegen die Auffassung der Sophisten, MP] bestimmt ist als ein Heraus aus seiner besonderen Subjektivität; eben darin liegt, daß die Zufälligkeit des Bewußtseins, der Einfall, die Willkür, die Partikularität verbannt ist, im Inneren dies Heraus, das Anundfürsichseiende zu haben. 79
Dieser oberflächlichen Lesart zufolge müsse das Subjekt aus seinem Wollen »alles Partikuläre« verbannen, insbesondere die »Zufälligkeit des Bewußtseins«, den »Einfall«, die »Willkür« und die »Partikularität der Interessen, Neigungen«. Erst wenn es dem Subjekt gelinge, sich von dieser Partikularität zu befreien und stattdessen das »anundfürsichseiende Allgemeine« zu wollen, sei sein Denken »wahrhaftig« und »objektiv«. Diese Lesart erklärt die Objektivität des Denkens und Handelns zur individuellen Leistung des Subjekts. Der Einzelne müsse sich dazu erziehen, nicht nach der Verwirklichung seiner Partikularinteressen zu streben, sondern stattdessen das Allgemeingut der Gemeinschaft sich als Zweck zu setzen. In dieser Deutung kommt nicht allen Subjekten Objektivität zu – den Sophisten beispielsweise, die ungeniert ihre Willkür zum höchsten Maßstab erheben, fehlt sie. Diese Lesart ist allerdings aus folgenden zwei Gründen abzulehnen: Erstens ist nach dieser Lesart das sokratische Projekt eines »wahrhaften Denkens« nicht mehr von der tugendethischen Sittlichkeit seiner Landsleute zu unterscheiden. Nach den herkömmlichen Vorstellungen der Griechen ist der Tugendhafte dadurch gekennzeichnet, dass er nicht etwa bloß partikulären Interessen und Neigungen folgt, sondern das »Allgemeine« will, das heißt die Verwirklichung der Tugendnormen. Die Griechen glauben, dass die Interessen und Neigungen des Tugendhaften durch seine Erziehung derart geformt wurden, dass sie nicht mehr rein partikulär, sondern auf das Allgemeine ausgerichtet sind. Nach dieser Auffassung entspricht die Erziehung zur Tugend einem Reinigungsprozess, der den individuellen Willen zu einem »objektiven Willen« 80 transformiert. Eben diese Auffassung scheitert allerdings, wie die sophistisch-sokratische Einsicht in die Irreduzibilität der Entschließung belegt. Die vermeintlich objektiven Tugendnormen bestimmen niemals von sich aus vollständig eine Handlungssituation, es liegt stets im Ermessen des Subjekts, wie es die Tugendnormen auslegt. Es gibt also keinen Willen, der im Sinne dieser ersten Lesart völlig von Partikularität gereinigt oder »objektiv« 79 80
S. o., Hegel, VGPhil.I S. 443. Vgl. ders., VPhGes S. 309.
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wäre, nicht zuletzt deshalb, weil aufgrund der Unübersichtlichkeit der Handlungssituation überhaupt nicht »objektiv« feststeht, wie die Verwirklichung des Allgemeinen in einer konkreten Situation aussieht, sondern dies immer erst durch einen subjektiven Deutungsakt bestimmt werden muss. Auf dieser Einsicht beruht die Kritik der griechischen Sophisten am griechischen Programm der tugendhaften Kooperation, die Hegel zufolge auch Sokrates übernimmt. Es wäre also unplausibel, wenn Hegel im obigen Zitat Sokrates eine Forderung in den Mund legt, die im Grunde nichts anderes als eine Wiederholung der griechischen Tugendethik ist. Einen zweiten Grund gegen diese Lesart liefert uns die grammatikalische Form, in der Hegel im obigen Zitat das sokratische Projekt beschreibt: Hegels Formulierungen wechseln im zweiten Abschnitt des Zitats vom Modus der Forderung in den Modus einer faktischen Feststellung. So heißt es dort: Die zweite Bestimmung ist, daß ein Unterschied gegen das Bewußtsein der Sophisten eintritt, daß nämlich das Setzen und Produzieren des Denkens zugleich Produzieren und Setzen eines solchen ist, was nicht gesetzt ist, was an und für sich ist […]. 81
Hegel spricht an dieser Stelle nicht normativ, sondern deskriptiv: Durch das »Setzen und Produzieren« des Denkens werde etwas verwirklicht, »was nicht gesetzt ist, was an und für sich ist«. Es geht hier offenbar nicht wie in der tugendethischen Vorstellung um die spezifische Leistung eines Individuums, das seinen Willen auf bestimmte Weise geformt hat und dessen Denken nun die Eigenschaft der »Objektivität« erlangt hat. Die Objektivität, von der Hegel hier spricht, ist zwar eine Eigenschaft des Denkens, die durch die Tätigkeit des Denkens entsteht, über deren Beschaffenheit allerdings das Denken nicht willkürlich verfügt. Das subjektive Denken setze zwar seine Maßstäbe der Richtigkeit, aber diese Maßstäbe (oder zumindest ein Teil von ihnen) können nicht völlig frei gesetzt werden. Dies bedeutet, dass Hegels Sokrates sich auf Maßstäbe bezieht, die dem Denken als solchem angehören und nicht an ein spezifisches Denken gebunden sind. Diese so beschaffenen Maßstäbe sind nicht »objektiv« in dem traditionell griechischen Sinn der Unabhängigkeit von konkreten Subjekten, sondern in der Weise, dass sie bei allen denkenden Subjekten gleich sind. Zugleich bleiben sie »subjektiv« in dem Sinn, dass sie nur durch den subjektiven Akt des Denkens verwirklicht werden. 81
S. o., ders., VGPhil.I S. 443.
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Auch im folgenden Teilsatz betont Hegel, dass Sokrates hier nicht über eine spezifische Form des Denkens spricht, etwa ein durch eine Erziehung zur Tugend gereinigtes Denken. Das Objektive, um das es Sokrates geht, sei »erhaben über die Partikularität der Interessen, Neigungen, die Macht über alles Partikuläre.« Die Objektivität ist also durchaus vereinbar mit einem Willen, der sich auf Partikularinteressen bezieht – sie steht allerdings in einem noch zu erläuternden Sinn über der Partikularität und hat die »Macht« darüber. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem, dass das Partikuläre im Willen nicht ausgelöscht wird, wie es die tugendethische Auffassung der Griechen vorsieht, um Objektivität zu erreichen, sondern es wird der Objektivität untergeordnet. Wir können dieses neue, sokratische Verständnis von Objektivität näher bestimmen, wenn wir weitere Textstellen zu Hilfe nehmen, in denen Hegel über den sokratischen daímon spricht. Aus diesen wird auch klar, weshalb Hegel im obigen Zitat zwischen einem faktischen und einem normativen Sinn des sokratischen Prinzips zu schwanken scheint. Es wird sich zeigen, dass Sokrates die Objektivität, die anundfürsichseiende Allgemeinheit nicht für eine individuelle Leistung eines einzelnen Subjekts hält, – im Gegensatz zur Tugend, deren Erwerb zwar durch gemeinschaftliche Erziehung vermittelt wird, aber dennoch stets der Charakter eines Individuums ist (siehe Kapitel III.3) –, sondern für eine soziale Errungenschaft. Sokrates stellt also tatsächlich eine Forderung an seine Mitbürger auf, aber diese Forderung richtet sich nicht an den je Einzelnen, sondern an die Gemeinschaft als Ganzes. Sokrates will die griechische Sittlichkeit umgestalten und fordert eine neue Urteilspraxis ein, welche der Irreduzibilität der subjektiven Entschließung angemessen ist. Mit dieser Praxis solle die Einheit von Objektivität und Subjektivität ermöglicht werden. Die weltgeschichtliche Bedeutung des Sokrates besteht daher nicht allein in seiner philosophischen Einsicht, sondern in seinem revolutionären Projekt. Dies meint Hegel, wenn er die innovative Rolle des Sokrates betont: »Sokrates ist als moralischer Lehrer berühmt; vielmehr aber ist er der Erfinder der Moral.« 82 Die neue Praxis, die Sokrates von seinen Mitbürgern einfordert, nennt Hegel in seiner blumigen, aber auch irritierenden Ausdrucksweise »das Gewissen«:
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Ders., VPhGes S. 329.
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Wenn wir das vollkommene Bewußtsein haben, daß im wirklichen Handeln die bestimmten Pflichten und das Verhalten danach nicht ausreicht, sondern jeder konkrete Fall eigentlich eine Kollision von Pflichten, eine Konkretion vielfacher Bestimmungen ist, welche sich im moralischen Verstände unterscheiden, die aber der Geist als nicht absolut behandelt, sondern sie in der Einheit seiner Entschließung verbindet, so nennen wir diese reine entschließende Individualität, das Wissen, was das Rechte ist, das Gewissen, – wie das rein Allgemeine des Bewußtseins, nicht ein besonderes, sondern eines jeden, die Pflicht. Oben ist es, als der Geist des Volks, die Sitte genannt worden. An die Stelle dieses allgemeinen einigen Geistes tritt der einzelne Geist, die sich entscheidende Individualität. Indem nun so das Besondere, das Gesetzliche dem Bewußtsein wankend gemacht wird, so ist das Subjekt das Bestimmende, Entscheidende. Ob guter oder schlechter Geist entscheide, bestimmt jetzt das Subjekt. Der Punkt der Entscheidung aus sich selbst fing an, bei Sokrates aufzugehen; dieses war bei den Griechen bewußtloses Bestimmen. Bei Sokrates wird dieser entscheidende Geist in das subjektive Bewußtsein des Menschen verlegt […]. 83
Mit der Praxis des Gewissens, die Sokrates schaffen will, ist nicht das psychische Schamempfinden gemeint, das wir »Gewissensbisse« nennen. Ein »Gewissen« in dieser Bedeutung war den Griechen längst bekannt. 84 Stattdessen verlangt Sokrates von seinen Mitbürgern einen Umgang miteinander, in dem die Notwendigkeit der subjektiven Entschließung im Handeln anerkannt wird. Die Praxis des »Gewissens« beruht daher auf einer gemeinschaftlichen, wechselseitigen Anerkennung von Gewissensentscheidungen, das heißt von Entscheidungen, die für Beobachter inhaltlich möglicherweise nicht nachvollziehbar sind, aber eine Form haben, dass sie dennoch als aufrichtiger Versuch des guten Handelns akzeptiert werden können. Eine solche Praxis des Gewissens stellt dem Individuum keinen Freifahrtschein aus, sie propagiert kein anything goes, wie es die Sophisten in ihrer Ermächtigung der individuellen Willkür tun. Sie gesteht aber zu, dass zum menschlichen Handeln ein gewisses Maß an Zufälligkeit und Unbegründbarkeit gehören, die dem Individuum nicht angekreidet werden dürfen. Der Mensch steht als endliches Wesen immer in unüberschaubaren Handlungssituationen. Er ist folglich Ders., VGPhil.I S. 489. In diesen »klassischen« Bedeutungen von Schamhaftigkeit, Reue und Aufrichtigkeit verhandelt beispielsweise Sophokles das Konzept des Gewissens in seiner Tragödie Philoktetes in der Figur des Neoptolemos, der zunächst den Auftrag des Odysseus befolgt und den Titelhelden Philoktetes um seine siegverheißenden Waffen betrügt, anschließend aber auf seine »Stimme des Gewissens« hört und sie zurückgibt.
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nur durch einen nicht vollständig begründbaren Abbruch des praktischen Überlebens handlungsfähig. Dies bedeutet, dass eine endliche Handlung qua endlicher Handlung nicht defizitär sein kann, nur weil sie mit der Zufälligkeit der Entschließung behaftet ist. Eine Praxis des Gewissens, wie Sokrates sie fordert, gesteht dem Einzelnen zu, dass er nicht alle Umstände seiner Handlungssituation beachten kann. Dementsprechend wird in einer solchen Praxis der Einzelne nicht an einem überzogenen Standard der völligen Beherrschung einer Handlungssituation gemessen, sondern vielmehr an der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Sorgfalt seines Urteilens und Handelns. Für eine solche Beurteilung kann es freilich keine trennscharfen, notwendigen Kriterien geben, sie beruht vielmehr auf der Erfahrung und Urteilskraft der Beteiligten. Ludwig Siep beschreibt treffend die hegelsche Praxis des Gewissens in seinem Kommentar zur Phänomenologie des Geistes wie folgt: Es muß zum Bewußtsein kommen, daß das von allgemeinen Gesetzen und Bräuchen abweichende Gewissenshandeln als zum gemeinsamen Geist einer moralischen Gemeinschaft zugehörig anerkannt werden muß. […] Es ist für dieses Bewußtsein klar, daß das Gewissenshandeln wie das allgemeine moralische Urteilen oder das Anwenden von Gesetzen notwendig zum sittlichen Leben eines Gemeinwesens hinzugehören: Denn die Regeln und Institutionen müssen durch die Entscheidungen in moralischen Konflikten konkretisiert und dadurch auch fortgebildet werden. 85
Die Praxis des Gewissens gesteht dem handelnden Subjekt einen Ermessensspielraum für seine Entschließung zu. Umgekehrt verlangt sie aber auch vom Handelnden, dass seine Entscheidungen als Interpretationen der allgemein anerkannten Gesetze, Werte und Einrichtungen intendiert und erkennbar sein müssen. […] Vor allem muß er sich auch eingestehen, daß er sich in seiner subjektiven Gewißheit irren kann. 86
Eine Praxis des Gewissens schafft also einerseits eine gewisse Fehlertoleranz für das Subjekt, indem sie einen Rahmen feststeckt, innerhalb dessen Irrtümer geduldet werden, ohne dass sie dem Subjekt als Schlechtigkeit angerechnet werden. Andererseits geht sie darüber hinaus und erkennt die grundlegende Möglichkeit ethischen Dissenses an: Verschiedene, sogar konträre Deutungen einer Situation und ent85 86
Siep (2008), S. 427 f. Ebd., S. 428.
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sprechende Handlungen können gleichermaßen gut sein. Zum Begriff des Gewissens gehört daher auch die Forderung nach Toleranz abweichender praktischer Urteile, sofern sie sich innerhalb eines bestimmten Rahmens bewegen. Wenn Hegel also über die klassischen Griechen behauptet, sie haben »kein Gewissen« 87, spielt er darauf an, dass ihnen ein solcher Ermessensspielraum für die subjektive Entschließung fehlt. Nach Ansicht der klassischen Griechen ist ein derartiger Spielraum auch gar nicht nötig: Sie glauben, dass die tugendhafte Handlung unmittelbar die objektiven Normen der Tugend umsetzt und daher nicht durch eine individuell-partikuläre Komponente eingefärbt ist. Sie halten es somit für gleichgültig, welches konkrete Individuum in einer bestimmten Situation handelt, solange es nur die Tugend besitzt – die Ausübung der Tugend führt scheinbar stets zum gleichen Ergebnis, unabhängig von der Individualität des Handelnden, da der Tugendhafte in ihren Augen schlicht dasjenige tut, was der Situation ethisch angemessen ist. Diese Überzeugung führt nicht nur dazu, dass die Griechen eine tugendhafte Handlung für grundsätzlich begründbar, das heißt für nachvollziehbar durch andere Tugendhafte halten, sie ist auch das Prinzip der politischen Einheit ihrer Gemeinschaft. Gemäß dieser Überzeugung handelt der Tugendhafte als vollkommener Vertreter der Gemeinschaft, sofern keine zufälligen Störungen von außen ihn beeinträchtigen. In seinem Tun verwirklicht er scheinbar den »Geist des Volks, die Sitte«, seine Handlung entspringt einem »allgemeinen einigen Geist«, da jedes tugendhafte, vollwertige Gemeinschaftsmitglied an seiner Stelle ähnlich handeln würde. 88 Eine Abweichung von diesem »allgemeinen einigen Geist« erscheint den Griechen zwangsläufig als schlechte, untugendhafte Handlung – deshalb können sie ihre gemeinsame Korrekturpraxis auch als basisdemokratischen Gerichtshof konstruieren, in dem eine Mehrheit von Laienrichtern über den Angeklagten ihr Urteil fällt. (siehe Abschnitt VI.5.1). Die sophistisch-sokratische Einsicht entlarvt diese griechische Auffassung als falsch: »im wirklichen Handeln« reichen »die bestimmten Pflichten und das Verhalten danach« nicht aus. Eine konkrete Handlung, selbst wenn sich das Subjekt an den Tugendnormen orientiert, kann niemals vollständig Hegel, VPhGes S. 309: »Von den Griechen in der ersten und wahrhaften Gestalt ihrer Freiheit können wir behaupten, daß sie kein Gewissen hatten; […].« 88 Dies gilt in den Augen der Griechen freilich nur für den männlichen Vollbürger der pólis. 87
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Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens
durch diese Normen erklärt und bestimmt werden. Der letzte Bestimmungsgrund der Handlung liegt in der »entschließenden« beziehungsweise »entscheidenden Individualität«. Die klassischen Griechen besitzen offenbar bereits eine Ahnung von der Unumgänglichkeit der subjektiven Entschließung, wie etwa ihre zahlreichen Anekdoten über die tückische Mehrdeutigkeit ihrer Orakelsprüche beweisen (siehe Unterabschnitt V.2.2.4), sie scheinen ihre Ahnung aber mehr oder weniger erfolgreich zu verdrängen und halten am Prinzip der Tugend und der zugehörigen naiv-substanziellen Vorstellung von Objektivität fest. Bei ihnen handelt es sich daher noch um ein »bewußtloses Bestimmen«, wie Hegel im obigen Zitat bemerkt. Die Leistung des Sokrates besteht zunächst darin, die Notwendigkeit der subjektiven Entschließung einzusehen und als solche anzuerkennen. Da jedes Urteil und jede Handlung notwendigerweise mit einer Entschließung behaftet ist, ist es unsinnig, darin einen Defekt des Urteilens zu sehen, wie es noch bei den klassischen Griechen geschieht. Sokrates fordert also ein Verständnis des Handelns – insbesondere des sittlich guten Handelns –, welches diese Notwendigkeit der Entschließung berücksichtigt. Zusätzlich verlangt Sokrates von seinen Mitbürgern eine neue Praxis des gemeinsamen Umgangs, die dieser Einsicht in die Entschließung gerecht wird und Raum für die Gewissensentscheidung schafft. Diese beiden Forderungen tragen dazu bei, dass Hegels Bemerkungen über Sokrates zwischen einem normativen und faktischen Sinn zu schwanken scheinen (s. o.): Sokrates will seinen Mitbürgern die Augen öffnen für die subjektive Entschließung, mit der schon immer alle ihre Handlungen behaftet sind – er will sie aus dem »bewußtlosen Bestimmen« ins »Bewußtsein« rufen. Mit dieser philosophischen Einsicht verbindet Sokrates allerdings auch den Aufruf zu einer Verhaltensänderung. Die Anerkennung der Entschließung muss die gemeinsame Urteils- und Korrekturpraxis ändern. Aus diesem Grund nennt Hegel Sokrates den »Erfinder der Moral« und nicht nur einen »moralischen Lehrer«. Die Sophisten erkennen zwar die Notwendigkeit der Entschließung in jedem Handeln, für sie erwächst daraus allerdings keine Forderung nach gegenseitiger Anerkennung. Der Subjektivismus der Sophisten erkennt als einzige Quelle der Normativität das je eigene Privatinteresse an. Andere Subjekte spielen für den Sophisten nur eine Rolle, insofern sie irgendwie für die Umsetzung seines Willens nützlich oder schädlich sein können. Seine Beziehung zu anderen versteht er rein instrumentell, deshalb hält er seine rhetorischen Mani385 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
pulationen für gerechtfertigt. Demnach erkennen die Sophisten keine Norm an, welche die eigene Willkür in irgendeiner Weise einhegt. Auch hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Sophisten und Sokrates, den Hegel mit der zweifachen Interpretation des Homomensura-Satzes erläutert. Der Sophist, der »den Mensch« zum »Maß aller Dinge« erhebt, meint damit eigentlich nur sich selbst, seine zufällig-besonderen Interessen. 89 Die Einsicht in die Notwendigkeit der Entschließung bedeutet daher für den Sophisten nichts anderes als eine Ermächtigung der eigenen Willkür. Sokrates hingegen, wenn er von der Entschließung des Subjekts spricht, meint das allgemeine Subjekt. Nicht nur ich finde in mir den letzten Bestimmungsgrund meines Handelns, sondern jedes handelnde Subjekt. Die Notwendigkeit der Entschließung ist für das Subjekt als Subjekt gegeben. Daraus entsteht für Sokrates die Forderung nach gegenseitiger Anerkennung der Entschließung, das heißt, dass nicht nur ich für mich meiner Entschließung diese Autorität einräume, sondern jedem Subjekt dies zugebilligt werden sollte. Statt einer Ermächtigung der Willkür geht es Sokrates um eine Berechtigung der Entschließung. Die zugehörige Praxis des Gewissens hat daher die Aufgabe, die gleichberechtigten Gewissensentscheidungen untereinander auszubalancieren. Der Spielraum, den die Entschließung eines Subjekts erhält, wird durch die Spielräume der Gewissensentscheidungen der anderen Subjekte vorgegeben. Die neue Form der Objektivität, die in der Praxis des Gewissens etabliert wird, entsteht durch diese symmetrische Ordnung der Ermessensspielräume. Jedem Subjekt wird zugebilligt, der letzte Bestimmungsgrund seines Handelns zu sein, aber dieses Zugeständnis beruht auf der Bedingung, dass es den übrigen Subjekten das gleiche Zugeständnis macht. Die Praxis des Gewissens baut folglich auf Normen des gegenseitigen Respekts und der Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Gewissensentscheidungen auf. Diese Normen selbst sind objektiv in dem Sinn, dass sie nicht durch die Entschließungen der Subjekte beliebig gesetzt werden können, denn sie sind es, welche die Berechtigung der Entschließung konstituieren. Zugleich sind diese Normen nicht unabhängig von den subjektiven Entschließungen, da sie ja nichts anderes sind als die vernünftige Ordnung dieser Entschließungen. Genau diese Form von Objektivität charakterisiert Hegel im obigen Zitat mit der Formel: »das Setzen und Produzieren des Denkens [ist] zugleich Produzieren und Setzen eines 89
Hegel, VPhGes S. 328. Vgl. auch Kapitel VI.3.
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Der sokratische daímon als Vorläufer des Gewissens
solchen […], was nicht gesetzt ist, was an und für sich ist« 90 Diese Objektivität verlangt offenkundig nicht, dass alles Partikuläre ausgelöscht wird, indem etwa individuelle Neigungen und Privatinteressen unterdrückt werden. Vielmehr schafft sie Raum für diese Äußerungen der Partikularität. Die objektive Ordnung der Gewissenspraxis hegt die individuelle Willkür jedes Einzelnen ein. Sie ist, wie Hegel es ebenfalls im obigen Zitat sagt, »das Objektive, erhaben über die Partikularität der Interessen, Neigungen, die Macht über alles Partikuläre.« Zu diesen objektiven Normen gehört beispielsweise die Forderung, unter bestimmten Umständen sich des sittlich-tugendhaften Urteils über Dritte zu enthalten. Auch wenn ich eine bestimmte Handlung eines anderen Mitglieds meiner Gemeinschaft als untugendhaft ablehne, steht es mir nicht zu, das Subjekt zu kritisieren oder gar zu korrigieren, solange sich die Handlung innerhalb der objektiven Ordnung der Gewissenspraxis bewegt. Gefordert wird freilich keine grenzenlose Toleranz. Die Praxis des Gewissens verlangt, dass respektlose oder intolerante Übergriffe kritisiert und sanktioniert werden. Solange das andere Subjekt sich allerdings im zu tolerierenden Rahmen bewegt und sich erkennbar mit Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit bemüht, gut zu handeln, muss ich mein Urteil zurückhalten, auch wenn ich die entsprechende Handlung ablehne. Es wird also eine neue Abstraktionsform für die Handlungsbeurteilung eingeführt, die der tugendhaften Kooperation fremd ist. Diese Abstraktionsform dient in der Praxis des Gewissens dazu, wesentlich zwischen erstpersonaler und drittpersonaler Beurteilung einer Handlung zu unterscheiden. Aus der erstpersonalen Sicht des handelnden Subjekts werden die Handlungen daran gemessen, inwieweit sie der Handlungssituation angemessen sind. Das gebildete Subjekt weiß zwar, dass es aufgrund seiner Endlichkeit niemals mit Sicherheit diese Angemessenheit bestimmen kann. Es versucht aber, sich so gut wie möglich diesem Ideal anzunähern. Die erstpersonale Beurteilung gleicht daher weiterhin der Handlungsbeurteilung auf Grundlage der Tugend. Aus der drittpersonalen Sicht hingegen muss von diesem Inhalt der Handlung abgesehen werden, da es den Unbeteiligten nicht zusteht, über die Entschließung des Subjekts zu urteilen. Es darf lediglich die gewissenhafte Form der Handlung bewertet werden, das heißt, ob sich die Handlung innerhalb des von der Praxis des Gewissens zugestandenen Ermessens90
Ders., VGPhil.I S. 443.
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
spielraums bewegt, die Freiheitsräume anderer Subjekte nicht verletzt und mit der entsprechenden Sorgfalt, Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit ausgeführt wurde. Die unbeteiligten Beobachter müssen daher ihr sittlich-tugendhaftes Urteil über eine konkrete Handlung zurückhalten und dürfen nur auf die abstrakte Beurteilung zugreifen, die innerhalb der Praxis des Gewissens für die drittpersonale Perspektive zulässig ist. Durch diese Aufsplittung in eine Handlungsbeurteilung aus erstpersonaler Sicht und eine aus drittpersonaler Sicht wird in der Praxis des Gewissens die Einsicht umgesetzt, dass der Versuch der klassischen Griechen gescheitert ist, eine einheitliche Handlungsbeurteilung zu schaffen. Da keine Handlung abschließend begründbar ist, lässt sich die Binnenperspektive des Handelnden nicht vollständig in die Betrachterperspektiven überführen, wie es die klassischen Griechen noch erhofft hatten (siehe Abschnitt IV.2.2). Die Praxis des Gewissens erkennt deshalb an, dass die Binnenperspektive für eine inhaltliche und nicht bloß formal-abstrakte Handlungsbeurteilung unumgänglich bleibt. Diese Neubewertung und Privilegierung des Binnenurteils durch die Praxis des Gewissens beschreibt Hegel mit der Metapher einer Wendung ins Innere: »Dagegen ist das Gewissen diese tiefste innerliche Einsamkeit mit sich, wo alles Äußerliche und alle Beschränktheit verschwunden ist, diese durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst.« 91 Das sokratische Prinzip nennt Hegel daher auch das »Prinzip der Innerlichkeit«, im Gegensatz zum Prinzip der Tugend als substantieller Objektivität. 92 Mit seinem radikalen Vorschlag überfordert Sokrates seine Zeitgenossen in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die Einrichtung einer Praxis des Gewissens mit zahlreichen Herausforderungen verknüpft, auf die die griechischen Institutionen und Formen des gemeinsamen Umgangs nicht ausgelegt sind und für die auch Sokrates noch keine schlüssige Antwort bereit hält. Zu diesen Herausforderungen gehört beispielsweise die Aufgabe, die politische Kooperation und die gemeinschaftliche Korrekturpraxis neu zu organisieren. Die Praxis des Gewissens befreit in gewisser Weise das Subjekt, welches so die Berechtigung erhält, für sich selbst zu urteilen, unabhängig von der inhaltlichen Zustimmung oder Ablehnung seiner Mitbürger. Diese Befreiung des Subjekts bedeutet aber zugleich eine Isolierung des Einzelnen. Der Einzelne ist eben nicht unmittelbar in die Gemein91 92
Ders., GPhR Zusatz zu § 136, S. 254. Vgl. ders., VPhGes S. 328.
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schaft durch harmonisiertes Urteilen und Handeln eingebunden, wie es nach der Vorstellung der tugendhaften Kooperation geschieht. Hegel spricht daher in den obigen Bemerkungen von einer »Zurückgezogenheit in sich selbst« und einer »tiefste[n] innerliche[n] Einsamkeit mit sich«. In einer Gesellschaft, die über eine Praxis des Gewissens verfügt und somit zulässt, dass jeder Einzelne für sich im Rahmen des Gewissensspielraums seine sittlichen Entscheidungen fällt, kann es nicht mehr den griechischen Weg der – vermeintlichen – tugendhaften Übereinstimmung der Bürger geben, um politische Einheit herzustellen und Zusammenhalt zu schaffen. Das politische Handeln im Sinne der tugendethischen Objektivität, nach der jeder tugendhafte Bürger aufgrund seiner Tugend unmittelbar für die Gemeinschaft sprechen und handeln kann, ist in einer solchen Gesellschaft nicht mehr praktikabel. Die Praxis des Gewissens eröffnet die Möglichkeit für sittlichen Pluralismus und unauflösbaren Dissens. Mit dieser Möglichkeit wird allerdings die Frage drängend, wie trotz Pluralismus und Dissens eine solche Gesellschaft noch als Einheit handeln kann. Hierfür sind offenbar Techniken und Institutionen der Vermittlung sowie der Repräsentation nötig, welche die Griechen noch nicht besaßen. Eine weitere Herausforderung der Praxis des Gewissens besteht im Umgang mit der neuen Figur des moralischen Terroristen oder Gewissenstäters. Die neue Privilegierung der individuellen Entschließung in der Praxis des Gewissens führt zur Gefahr der Selbstgerechtigkeit. Der Einzelne ist in seiner Entscheidung zwar durch das »anundfürsichseiende« »Objektive« 93 gebunden, das heißt an den gegenseitigen Respekt für die Gewissensentscheidungen der übrigen Gemeinschaftsmitglieder. Aber für diese anundfürsichseiende Objektivität gibt es keinen unmittelbaren oder von der Entschließung unabhängigen Zugang, wie es sich noch im substantiellen Verständnis der Objektivität gemäß dem Prinzip der Tugend darstellt. Stattdessen wird die Objektivität der Praxis des Gewissens stets nur vermittelt durch das Subjekt und seine Entschließungen. Es besteht folglich die Gefahr, dass der Einzelne diese Objektivität nicht als eine solche anerkennt und somit den übrigen Subjekten nicht die gleiche Toleranz zubilligt, die ihm zugestanden wird. Sokrates besitzt keine ausgereifte Antwort für dieses Problem und wird laut Hegel schließlich sogar selbst zum Gewissenstäter, da er im Prozess das eigene Gewissen über die Gewissensentscheidung der Richter stellt (siehe 93
Vgl., ders., VGPhil.I S. 443.
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Abschnitt VI.5.5). Neben diesen strukturellen Überforderungen, die die Praxis des Gewissens für die antiken Griechen bereithält, steht Sokrates zusätzlich vor dem grundsätzlichen Problem, sich seinen Mitbürgern verständlich zu machen. Zum einen fehlen den Griechen die entsprechenden Begrifflichkeiten. Mit diesem Problem hat freilich jeder radikale Reformer zu kämpfen, der die Einführung einer neuen Praxis fordert. Er kann seinen Reformvorschlag nie hinreichend ausführlich formulieren, da seinen Hörern die praxisinternen Begriffe zwangsläufig fremd sind. Der Reformer muss also auf eine Sprache ausweichen, die der neuen Praxis nicht völlig angemessen ist. Diese Zwangslage des Reformers ist auch bei Sokrates eine Quelle von Missverständnissen und Doppeldeutigkeiten (siehe Kapitel VI.3). Im Fall des Sokrates wird dieses Problem allerdings noch verschärft durch die Tatsache, dass er nicht nur unpassende Begrifflichkeiten verwenden muss, sondern darüber hinaus seine Äußerung der Kritik an der tugendhaften Kooperation der Griechen als Handlungstyp auf die Praxis des Gewissens vorgreift. Indem sich Sokrates gegen die Mehrheit der Griechen stellt und als Einzelner für seine Urteile Anerkennung fordert, vollzieht er einen Sprechakt, der erst in der Praxis des Gewissens als berechtigte Handlung verstanden wird. Aus Sicht der tugendethischen Kooperation hingegen erscheint sein Dissens einfach als schlechte Handlung. Sokrates befindet sich daher in der außerordentlich heiklen Situation, dass sein Appell für eine neue Praxis sowohl sprachlich als auch als Handlungstyp erst durch diese neue Praxis verständlich wird. Dieses Problem der Verständlichkeit ergibt sich freilich nicht nur auf der Seite seiner Hörer, sondern betrifft auch Sokrates selbst. Da die Griechen keinen vernünftigen Umgang mit Gewissensentscheidungen erprobt hatten, kann auch Sokrates nur einen unzulänglichen Begriff des Gewissens erarbeiten, wie sich laut Hegel nicht zuletzt im Prozess gegen Sokrates zeigt. Trotz dieser Schwierigkeiten gelinge es aber Sokrates, so Hegel, zumindest ein vorläufiges Konzept der Gewissensentscheidung zu artikulieren und seinen Zeitgenossen zu präsentieren. Laut Hegel bedient sich Sokrates hierfür eines Kunstgriffs, den ich abschließend in diesem Kapitel vorstellen werde. Hegel zufolge greift Sokrates auf die etablierte Praxis der Orakelbefragungen zurück und nutzt sie als Ausgangspunkt, um seine Idee des Gewissens herauszuarbeiten. An die Stelle der traditionellen öffentlichen Orakelinstitutionen, die Entscheidungen scheinbar von äußeren Zeichen abhängig machen, setzt Sokrates allerdings ein subjektives, privates Orakel, den daímon. Durch diese 390 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Transformation der griechischen Orakel versucht Hegels Sokrates, die geforderte Praxis des Gewissens zu schaffen: In Sokrates ist es dann, daß zu Anfang des Peloponnesischen Krieges das Prinzip der Innerlichkeit, der absoluten Unabhängigkeit des Gedankens in sich, zum freien Aussprechen gelangt ist. Er lehrte, daß der Mensch in sich zu finden und zu erkennen habe, was das Rechte und Gute ist, und daß dies Rechte und Gute seiner Natur nach allgemein sei. […] Sokrates, indem er es der Einsicht, der Überzeugung anheimgestellt hat, den Menschen zum Handeln zu bestimmen, hat das Subjekt als entscheidend gegen Vaterland und Sitte gesetzt und sich somit zum Orakel im griechischen Sinne gemacht. Er sagte, daß er ein δαιμόνιον in sich habe, das ihm rate, was er tun solle, und ihm offenbare, was seinen Freunden nützlich sei. 94
Der sokratische daímon dient als Metapher für das (Proto-)Gewissen. Mit dieser Figur des daímon setzt Sokrates das Subjekt »als entscheidend gegen Vaterland und Sitte«. So spricht er dem Subjekt die Berechtigung zu, für sich selbst zu urteilen und das eigene Handeln zu bestimmen. Nicht mehr vermeintlich objektive Tugendnormen oder scheinbar unabhängige Orakelzeichen sind die Quelle der letzten Bestimmung der Handlung, sondern das Subjekt. Mit dieser Berechtigung des Subjekts fordert Sokrates, die Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung anzuerkennen. Es geht also lediglich darum, eine Notwendigkeit des Handelns, die längst vorhanden war, auch als solche zuzugeben. Indem Sokrates aber das Subjekt »zum Orakel im griechischen Sinne« erhebt, grenzt er sich zugleich von der sophistischen Ermächtigung der Willkür ab. Der daímon soll mehr sein als die bloße Personifizierung der individuellen Begierden. Sokrates zufolge lässt sich der daímon wie ein traditionelles Orakel auffassen, das heißt, als Ursprung anerkennbarer Entscheidungen. Mit dem daímon schlägt Sokrates also einen Mittelweg zwischen dem sophistischen Willkür-Subjektivismus und dem naiv-substantiellen Verständnis von Objektivität vor, welches den Tugendnormen und traditionellen Orakeln der Griechen zugrunde liegt: Bei Sokrates war es also notwendig, daß in seinem Inneren die Entscheidung als δαίμον, als Orakel darüber aufging, worüber früher das Orakel entscheiden mußte. Das Daimonion steht demnach in der Mitte zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes; es ist etwas Innerliches, aber so, daß es als ein eigener Genius, als vom mensch-
94
Hegel, VPhGes S. 328.
391 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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lichen Willen unterschieden vorgestellt wird, – nicht als seine Klugheit, Willkür. 95
Der Mittelweg, den Sokrates entwirft, besteht im Grunde darin, die Entschließung des Subjekts nicht wie einen Willkürakt zu betrachten, sondern sie analog zu der Äußerung eines Orakels zu behandeln. Um diesen Kunstgriff richtig zu deuten, müssen wir allerdings die richtige Auffassung der griechischen Orakel zugrunde legen. Hegels Sokrates bezieht sich nicht auf den naiven Aberglauben, dem beispielsweise Xenophon anhängt, Orakelzeichen könnten tatsächlich die Zukunft weissagen (siehe Abschnitt V.2.2). Stattdessen wussten die Griechen, so Hegels anspruchsvollere Auffassung der Orakel, dass die Orakelzeichen lediglich zufällige äußere Ereignisse waren, die nichts über den Ausgang einer Schiffsreise oder eines Feldzuges verraten konnten. Gemäß dieser Auffassung haben die Orakel keine prophetische Kraft, sondern die politische Aufgabe, den Einzelnen von der Verantwortung für unübersichtliche Handlungssituationen zu entlasten. Als öffentliche, vermeintlich objektive Entscheidungsinstanzen schienen die traditionellen griechischen Orakel unabhängig von je subjektiven Entschließungen zu sein und so eine Grundlage für gemeinschaftliches, einheitliches Handeln der pólis-Bürger zu bieten (siehe Abschnitt V.2.4). Hegels Sokrates durchschaut, dass auch diese anspruchsvollere Auffassung der Orakel auf einem Irrtum beruht. Die äußeren Ereignisse, die als Orakelzeichen aufgefasst werden, besitzen von sich aus keinen Zeichencharakter, sondern erhalten diesen erst durch den Prozess einer gemeinschaftlichen Auslegung. Folglich sind auch die Orakelsprüche Ergebnisse subjektiver Entschließungen (siehe Unterabschnitt V.2.4.4). Obwohl die griechischen Orakelbefragungen nicht das leisten können, was die Griechen ihnen zuschreiben – sie haben weder die prophetische Kraft, die Xenophons naive Ansicht ihnen zubilligt, noch sind sie ein Garant unabhängiger Objektivität –, funktionieren sie doch lange Zeit als robuste Praxis der Einigung und zur Koordination der Kooperation in der pólis. Die Orakel beruhen zwar auf einer Selbsttäuschung, sind aber dafür erstaunlich erfolgreich. Aus der Tatsache ihres Erfolgs folgert Hegels Sokrates zweierlei: Erstens muss eine Begründung für eine Entscheidung, um als Begründung akzeptiert zu werden, nicht zwangsläufig einen inhaltlichen Zusammenhang zur Sache der Entscheidung besitzen – so 95
Ders., VGPhil.I S. 495.
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wie auch die Orakelzeichen des Vogelflugs in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang zu den Anliegen des Orakelbefragenden standen. Zweitens ist es offenbar nicht nötig, dass ein Ereignis völlig frei von subjektivem Einfluss ist, um als Schiedsinstanz für Entscheidungen zu dienen. Hegels Sokrates versteht deshalb, dass jede Art der Zufälligkeit – insbesondere auch die subjektive Entschließung eines Einzelnen – als Schiedsinstanz für den Abbruch des praktischen Überlegens dienen kann, sofern sie die richtige Form hat, um von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern als Begründung anerkannt zu werden. Diese Einsicht des Sokrates führt ihn zur »Wendung«, die traditionellen Orakel durch die subjektive Entschließung zu ersetzen, wie Hegel erläutert: […] bei den Griechen war dies die Wendung, welche die Individualität des Entschlusses nahm, daß sie ihn für eine Zufälligkeit des Individuums nahmen und deswegen, wie die Zufälligkeit der Umstände etwas Äußeres ist, so auch die Zufälligkeit des Entschlusses zu etwas Äußeren machten, d. h. ihre Orakel um Rat fragten; – Bewußtsein, daß der einzelne Wille selbst etwas Zufälliges ist. Sokrates, der die Zufälligkeit des Entschlusses in sich selbst verlegte, sein Dämon – wie die Griechen ihn am allgemeinen Dämon, so er ihn in sein Bewußtsein – hob eben diesen äußeren Dämon auf. 96
Die zufällige Entscheidung des Subjekts kann genau dann von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern als Ersatz der traditionellen Orakel akzeptiert werden, wenn sie als »allgemeiner Dämon« und nicht als bloß partikuläre Willkür wahrgenommen wird, so Hegel. Diese »Allgemeinheit« des daímon bezieht sich nicht auf den Inhalt der subjektiven Entschließung, wie wir oben gesehen haben, sondern auf die Form der Entschließung. Der daímon als Proto-Gewissen ist zwar irreduzibel an das Individuum gebunden, seine Entschließung hat aber eine allgemeine Form, wenn er nicht wie die sophistische Willkür als einzige Quelle praktischer Normativität überhaupt aufgefasst wird, sondern lediglich als konkrete Instanz eines »allgemeinen Dämon«, der ebenfalls in allen übrigen Subjekten verwirklicht ist. Das innere Orakel des daímon erhält seine Objektivität, das heißt seine Anerkennbarkeit durch die Gemeinschaft, indem das Subjekt seine Entschließung so fällt, dass dadurch der Entscheidungsspielraum der übrigen Subjekte respektiert und ebenfalls anerkannt wird:
96
Ebd., S. 496.
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Die eigentümliche Gestalt, in der diese Subjektivität, dies in sich Gewisse, was das Entscheidende ist, – wie dies bei Sokrates erscheint, ist noch zu erwähnen. Es hat jeder hier einen eigenen solchen eigenen [sic] Geist; oder er für sich erscheint ihm als sein Geist. So sehen wir, wie damit zusammenhängt, was unter dem Namen des Genius (δαιμόνιον) des Sokrates bekannt ist; er enthält das, daß jetzt der Mensch nach seiner Einsicht aus sich entscheidet. 97
Nach diesem sokratischen Vorschlag sieht sich der Einzelne nicht als Willkür, sondern als »Geist«, also als Verwirklichung eines Allgemeinen. Dies bedeutet, dass er für sich zwar das Recht auf seine eigene Entscheidung beansprucht, aber dieser Anspruch voraussetzt, dass er die gleiche Berechtigung allen übrigen Subjekten zubilligt – »jeder hier [hat] einen eigenen solchen eigenen [sic] Geist«. Dieses wechselseitige Zugeständnis, »nach seiner Einsicht aus sich« zu entscheiden, schafft die symmetrische Ordnung von Ermessensspielräumen und Toleranz der Entscheidung anderer, die die Praxis des Gewissens ausmacht. Mit Hilfe der Metapher des daímon als privatem Orakel gelingt es Sokrates, so Hegels Interpretation, zumindest die abstrakte Struktur einer Praxis des Gewissens abzubilden, auch wenn freilich im Detail viele Fragen und Herausforderungen einer solchen Praxis offen bleiben, wie oben bereits angesprochen wurde. Die Metaphorik des daímon führt allerdings in ähnliche Schwierigkeiten bei dem Versuch, den antiken Griechen das sokratische Konzept eines neuen Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität im Handeln zu verdeutlichen, wie es auch die sokratische Umdeutung des Homo-mensuraSatzes mit sich brachte (siehe Kapitel VI.3). Sokrates’ Erläuterungen sind zwangsläufig missverständlich, da sie eine Praxis vorwegnehmen, die den Griechen noch fremd ist, und daher auf ungeeignete Begrifflichkeiten ausweichen müssen. Während die Griechen die Formulierungen der sokratischen Fassung des Homo-mensura-Satzes im falschen logischen Register auffassen und daher als sophistische Ermächtigung der Willkür verstehen, nehmen sie die Metaphorik des daímon zu wörtlich und gehen davon aus, dass Sokrates einfach ein neues Orakel im Sinne der traditionellen Orakel einführen will. Dieses Missverständnis zeigt sich beispielsweise in der Anklageschrift im Prozess gegen Sokrates, in der ihm vorgeworfen wird, neue Götter anstelle der alten zu verehren. Wird der sokratische daímon aller97
Ebd., S. 490.
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dings lediglich als ein Orakel im traditionellen Sinn aufgefasst und nicht verstanden, dass Sokrates mit dieser Metapher eine neue Begründungs- und Anerkennungspraxis etablieren will, sind seine Zeitgenossen zu Recht misstrauisch: Dem daímon fehlt es an wichtigen Eigenschaften, die aus Sicht der Griechen das Funktionieren der traditionellen Orakel gewährleisten und ihre Anerkennung als Schiedsinstanzen rechtfertigen, vor allem an der Öffentlichkeit und der scheinbaren Subjektunabhängigkeit. Nicht von ungefähr war in Krisenzeiten das Befragen von privaten Orakeln in Athen verboten, 98 da sie als destabilisierend angesehen wurden – der sokratische daímon treibt allerdings die Privatheit auf die Spitze. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn Sokrates’ Vorschlag bei seinen Hörern auf Unverständnis stößt. Dies gilt umso mehr, da laut Hegel sogar Sokrates seine eigene Metaphorik nicht vollständig beherrscht und bisweilen selbst in ein zu bildliches Verständnis abgleitet: Das Innere des Subjekts weiß, entscheidet aus sich; dies Innere hat bei Sokrates noch eine eigentümliche Form gehabt. Der Genius ist noch das Bewußtlose, Äußerliche, das entschiedet; und doch ist es ein Subjektives. Der Genius ist nicht Sokrates selbst, nicht seine Meinung, Überzeugung, sondern ein Bewußtloses; Sokrates ist getrieben. Das Orakel ist zugleich nichts Äußerliches, sondern sein Orakel. Es hat die Gestalt gehabt von einem Wissen, das zugleich mit Bewußtlosigkeit verbunden ist, – ein Wissen, was sonst auch als magnetischer Zustand unter anderen Umständen eintreten kann. 99
Offenbar nimmt Sokrates seine eigene Redeweise von einem daímon als persönliches Orakel zu sehr für bare Münze, indem er ihn als Wesenheit auffasst, die von ihm als Subjekt verschieden ist (»Der Genius ist nicht Sokrates selbst, nicht seine Meinung, Überzeugung, sondern ein Bewußtloses […].«). Die »Bewußtlosigkeit«, die Hegel hier Sokrates zuschreibt, lässt sich durch die sokratische Metaphorik erklären: Durch seinen Vergleich der individuellen Entschließung mit einem traditionellen Orakelzeichen reduziert Sokrates die Zufälligkeit der Entschließung auf die Zufälligkeit eines äußeren Ereignisses. Die Urteile des Subjekts erhalten so im Grunde den gleichen Status wie das bewusstlose Stammeln der delphischen Pythia unter Einfluss der benebelnden Dämpfe. Auf diese Weise wird das Subjekt jedoch nicht in seinem Wollen und Urteilen ernst genommen. Stattdessen 98 99
Vgl. Trampedach (2015), S. 173. Hegel, VGPhil.I S. 491.
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VI · Sokrates und das Ende der Tugend
wird völlig vom Wahrheits- und Geltungsanspruch abgesehen, indem seine Äußerungen wie bedeutungslose äußere Ereignisse behandelt werden. Die eigenen Urteile gelten nur wie ein »magnetischer Zustand«, also Äußerungen unter Hypnose oder Halluzination. Die Rede vom persönlichen daímon zeigt diese Abstraktion, bei der sich Sokrates selbst von seinen eigenen Urteilen und Entscheidungen distanziert. Gewissermaßen schreibt er sie nicht mehr sich selbst zu, sondern sieht sie nur noch als äußerliche Zufälligkeit an. In dieser merkwürdigen, »bewusstlosen« Distanz zeigt sich ein grundlegendes Problem seiner Argumentationsstrategie: Sokrates hat zwar vollkommen Recht, dass eine Praxis des Gewissens notwendig für eine selbstbestimmte Kooperation ist, um zwischen dem Allgemeinen der Gemeinschaft und dem Individuellen des Subjekts zu vermitteln. Diese Praxis setzt die Berechtigung des Subjekts voraus, das heißt das Zugeständnis, dass der Einzelne trotz seiner beschränkten, endlichen Perspektive ein anerkennungswürdiges Urteil fällen darf. Diese Berechtigung des Subjekts kann jedoch nicht über den sokratischen Umweg gewonnen werden, bei dem das Urteil des Einzelnen wie ein bloß zufälliges, äußeres Ereignis behandelt wird. Nach sokratischer Begründung scheint es gleichgültig, ob ich selbst für mich entscheide oder eine Münze werfe. Auf diese Weise wird der Einzelne ausgerechnet in seiner Geistigkeit missachtet, die ihm die Praxis des Gewissens zusprechen will. Die Berechtigung des Subjekts muss hingegen aus sich selbst heraus, aus seinem selbstbewussten Subjekt-Sein erfolgen – diese unbedingte Ehrfurcht vor dem Subjekt kannten die Griechen laut Hegel jedoch noch nicht. 100 All diese Missverständnisse hängen in der einen oder anderen Weise mit der unvollkommenen Sprache zusammen, mit der Sokrates das neue weltgeschichtliche Prinzip zu formulieren versucht. Ihm kann es daher nicht gelingen, so Hegel, allein durch philosophische Rede seine Mitbürger mit diesem neuen Prinzip unmissverständlich zu konfrontieren. Erst im Zusammenhang mit seinem politischen Handeln, das heißt durch sein Verhalten im Prozess und im Anschluss daran, wird den Griechen die Radikalität des Sokrates deutlich und sie begreifen die weltgeschichtliche Dimension der Ereignisse. Im folgenden Kapitel IV.5 gehe ich daher auf Hegels Deutung des Prozesses gegen Sokrates ein und zeige, wie Hegel ihn als den Zusammenprall zweier weltgeschichtlicher Prinzipien interpretiert. 100
Siehe z. B. Hegel, VPhRel.II S. 143, vgl. auch Kapitel VI.6.
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Der Konflikt zweier Prinzipien im Prozess gegen Sokrates
VI.5 Der Konflikt zweier Prinzipien im Prozess gegen Sokrates In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie unternimmt Hegel ein Gedankenexperiment: Was wäre passiert, wenn es nicht zum Prozess gegen Sokrates gekommen wäre? Hätte seine philosophische Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung dennoch ihre weltgeschichtliche Bedeutung entfaltet? Hegel verneint diese Frage: Man kann sich vorstellen, es hätte nicht dieses Schicksals bedurft, das Leben des Sokrates hätte nicht nötig gehabt, diesen Ausgang zu nehmen, Sokrates hätte können als Privatphilosoph leben und sterben, seine Lehre hätte können von seinen Schülern ruhig aufgenommen und ebenso weiter verbreitet worden sein, ohne daß Staat und Volk davon Notiz genommen hätte; und die Anklage erscheint so zufällig. Allein muß man sagen, daß diesem Prinzip erst durch die Art des Ausgangs seine eigentliche Ehre widerfahren ist. Es ist dies Prinzip Totalität, – nicht so neu, so eigentümlich, sondern ein absolut wesentliches Moment in dem sich entwickelnden Bewußtsein seiner selbst, bestimmt, eine neue höhere Wirklichkeit zu gebären. Es ist seiner würdig, daß dies Prinzip erscheint in direkter Beziehung auf die Wirklichkeit, nicht bloß als Meinung und Lehre usf. Diese Beziehung liegt selbst in dem Prinzip; es ist seine wahrhafte Stellung, daß es sie hat, und zwar gegen das Prinzip des griechischen Geistes. Und die Athenienser haben ihm diese Ehre widerfahren lassen; sie selbst hatten die richtige Einsicht, daß dies Prinzip diese und zwar feindselige Beziehung auf ihre Wirklichkeit hat, und sind danach verfahren. Und so ist der Verfolg nicht zufällig, sondern er ist notwendig in dem Prinzip bedingt. Oder den Atheniensern kommt die Ehre zu, jene Beziehung erkannt, ja dies gefühlt zu haben, daß dies Prinzip selbst schon das ihrige, sie damit tingiert sind. 101
Im vorigen Kapitel VI.4 habe ich einen zweifachen Grund für diese Antwort Hegels genannt: Erstens ist Sokrates’ Einsicht notwendigerweise sprachlich mehrdeutig. Sokrates kann aus systematischen Gründen keine Formulierung finden, die es ihm erlaubt, sich seinen Mitbürgern unmissverständlich mitzuteilen. Zweitens setzt die sokratische Forderung, eine Praxis des Gewissens zu schaffen, um der Endlichkeit des handelnden Subjekts angemessen zu begegnen, bereits diese Praxis voraus. Seine Kritik als Einzelner gegen die Auffassung der Mehrheit an der griechischen Bewertungs- und Urteilspraxis kann erst dann als sinnvoller Vorschlag begriffen werden, wenn die Funktion des Dissenses entsprechend umgedeutet wird. 101
Hegel. VGPhil.I S. 512 f.
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Die Griechen müssten also schon vorher wissen, dass sich Sokrates auf sein Gewissen beruft, um ihnen die neue Praxis des Gewissens vorzuschlagen, damit sie ihn verstehen könnten. Bloße Worte, Argumente und Beteuerungen reichen also nicht aus, um die Griechen von der Wahrheit der sokratischen Einsicht zu überzeugen und dem Prinzip »seine eigentliche Ehre widerfahren« zu lassen. Das Prinzip ist »Totalität«, kann also nur aus sich heraus erfasst werden und nicht aus der Perspektive eines anderen Prinzips. Aus diesem Grund, so Hegel, kann es nur »in direkter Beziehung auf die Wirklichkeit, nicht bloß als Meinung und Lehre usf.« erscheinen. Hegel spricht daher von einer »Notwendigkeit des Schicksals« des Sokrates. 102 Sokrates’ Einsicht kann nur durch sein außergewöhnliches Handeln Gehör finden. So sind seine Philosophie und seine Biographie in einem höheren Maße miteinander verbunden, als dies bei anderen Philosophen der Fall ist: »Seine Lebensgeschichte betrifft einerseits, was ihn als besondere Person angeht, andererseits aber seine Philosophie; sein philosophisches Treiben ist eng verwebt mit seinem Leben, sein Schicksal ist in Einheit mit seinem Prinzip und ist höchst tragisch.« 103 Mit dem außergewöhnlichen Handeln des Sokrates, das eine »neue höhere Wirklichkeit« gebiert, und seinem »Schicksal« bezieht sich Hegel auf den Prozess gegen Sokrates und dessen Hinrichtung. Für Hegel bildet der Prozess den eigentlichen Wende- und Kulminationspunkt der weltgeschichtlichen Entwicklung, die Sokrates auslöst. Nur durch das Verhalten des Sokrates im Prozess und danach wird den Athenern die Wahrheit des neuen Prinzips unmissverständlich vor Augen geführt. Hegel inszeniert in seinen Vorlesungen den Prozess gegen Sokrates wie eine antike Tragödie, die sich im attischen Gerichtshof der Heliaía abspielt, in der die beiden konkurrierenden weltgeschichtlichen Prinzipien aufeinander prallen. Die Athener Richter deutet Hegel als die Vertreter des griechischen Kooperationsprinzips, nicht nur, weil sie aus dem Selbstverständnis der Tugendhaften heraus handeln und von der Objektivität der Tugendnormen überzeugt sind, sondern auch aus der spezifischen Organisation des Gerichtshofs. Für Hegel spiegeln alle Besonderheiten und Eigenarten der Institution der Heliaía das Prinzip der Tugend wider. Der Gerichtshof ist so eine paradigmatische Institution des griechischen Geistes. Sokrates’ Han102 103
Ebd., S. 496. Ebd., S. 446.
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Der Konflikt zweier Prinzipien im Prozess gegen Sokrates
deln hingegen wird von seiner Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung und daher vom Prinzip der Innerlichkeit bestimmt. Durch die Unvereinbarkeit der Prinzipien kommt es zum Prozess: Der Geist des atheniensischen Volks an sich, seine Verfassung, sein ganzes Bestehen beruhte auf dem Sittlichen, auf der Religion, auf dem, was an und für sich, ein Festes, Bestehendes. Sokrates legt nun das, was das Wahre ist, in das Entscheiden des inneren Bewußtseins; dies Prinzip lehrte er, brachte er in ein lebendiges Verhältnis. Und so ist er in einen Gegensatz zu dem Rechten und Wahren des atheniensischen Volks getreten; er ist so mit Recht angeklagt, und diese Anklage sowie seine weiteren Schicksale haben wir noch zu betrachten. 104
In Analogie zum dramatischen Geschehen einer Tragödie interpretiert Hegel das Prozessgeschehen als eine Entwicklung, die durch das Verhältnis zweier unterschiedlicher Perspektiven bestimmt wird. Die Sicht des Sokrates auf den Prozess und sein Verhalten im Prozess unterscheiden sich wesentlich von der Sichtweise und Deutung der Ereignisse durch die Richter, da ihre Perspektiven vom jeweiligen welthistorischen Prinzip geprägt sind. Insbesondere den Richtern ist das sokratische Verhalten zutiefst fremd. Demnach entfaltet sich die Tragik der Ereignisse zunächst durch das anfängliche Missverständnis der Richter, die Sokrates als Sophisten fehldeuten. Die Peripetie findet statt, als die Richter ihren Irrtum erkennen und die Radikalität des sokratischen Handelns erkennen, bis sie schließlich – gewissermaßen in der Katastrophe und Katharsis des tragischen Geschehens – genötigt werden, selbst die sokratische Position einzunehmen, die zugleich ihren eigenen Untergang als Vertreter des griechischen Geistes bedeutet: Das athenische Volk selbst war in diese Periode der Bildung gekommen, daß das einzelne Bewußtsein als selbständig von dem allgemeinen Geiste sich abtrennt und für sich wird; dies schaute es in Sokrates an (sie hatten recht, er auch), aber fühlte ebenso, daß dies das Verderben ist; es strafte also dies sein eigenes Moment. Das Prinzip des Sokrates ist nicht Vergehen eines Individuums, sondern sie waren darin impliziert; es war dies eben Verbrechen, das der Volksgeist an ihm selbst beging. Diese Einsicht hob die Verurteilung des Sokrates auf; Sokrates schien ihm kein Verbrechen begangen zu haben, denn der Geist des Volks ist sich jetzt allgemein dies in sich aus dem Allgemeinen in sich zurückkehrende Bewußtsein. Es ist die Auflösung 104
Ebd., S. 497.
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dieses Volkes, dessen Geist also bald aus der Welt verschwinden wird, aber so, daß aus seiner Asche ein höherer emporsteigt. Denn der Weltgeist hat sich zu einem höheren Bewußtsein erhoben. 105
In Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erfüllt die Schilderung des Prozesses gegen Sokrates folglich eine doppelte Funktion: Erstens illustriert das Aufeinandertreffen der beiden Prinzipien ihre jeweilige Natur und führt vor, wie verschiedene Prinzipien auch in verhältnismäßig alltäglichen Kontexten unterschiedliche Handlungsweisen zur Folge haben. Nicht nur die griechischen Richter lernen das sokratische Prinzip durch den Prozess kennen, auch der Hörer der Vorlesung erhält eine konkretere Vorstellung, die über die rein abstrakte Beschreibung der sokratischen Objektivitätskritik hinausgeht. Zweitens dient Hegel der Prozess als ein Lehrstück für eine geschichtsphilosophische Entwicklung. Durch die enge Verflechtung von Denken und Handeln im Prozess, das Aufeinanderprallen zweier philosophischer Weltanschauungen, bietet das Geschehen für Hegel Anschauungsmaterial für seine allgemeine geschichtsphilosophische Untersuchung, wie die »Vernunft in der Welt und ebenso in der Weltgeschichte geherrscht habe und herrsche« 106. Das sokratische Verhalten im Prozess wird so zum Beispiel für eine historisch wirksame Kritik an einer Lebensform. In den Abschnitten dieses Kapitels gehe ich folgendermaßen vor: In Abschnitt VI.5.1 untersuche ich, wie Hegel den Athener Gerichtshof der Heliaía als paradigmatische Institution der tugendhaften Kooperation darstellt. Die Organisationsstruktur des Gerichtshofs ergibt sich unmittelbar aus dem Prinzip der Tugend und den zugehörigen Überzeugungen zur Objektivität der Tugendnormen, so die These. Auf diese Weise lässt sich erläutern, weshalb Hegel den Athener Richtern die Rolle der Vertreter des griechischen Prinzips zuspricht und warum die Richter die sokratische Kritik an der Tugend als eine direkte Bedrohung ansehen, die sie in ihrer Identität trifft. In Abschnitt VI.5.2 gehe ich auf Hegels Deutung des Prozesses als ein tragödienartiges Geschehen ein, grenze sie von traditionellen Interpretationen der Ereignisse ab und zeige die Vorteile der hegelschen Deutung. Anschließend erläutere ich in Abschnitt VI.5.3, wie sich eine zentrale Eigentümlichkeit des Prozesses, nämlich der Stimmungsumschwung von achtzig Richtern während des Prozesses, mit 105 106
Ebd., S. 514. Ders., VPhGes S. 23.
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Hilfe von Hegels Analogie zum Tragödiengeschehen als eine Entwicklung des Verhältnisses der beiden beteiligten Perspektiven erklären lässt. In Abschnitt VI.5.4 gehe ich auf Sokrates’ Verhalten nach seiner Verurteilung ein. Ich untersuche Hegels Behauptungen, dass Sokrates mit der bereitwilligen Erduldung der Todesstrafe seine Mitbürger dazu zwingt, die Wahrheit seiner weltgeschichtlichen Einsicht zu akzeptieren, und dass Sokrates’ Verhalten hierbei bereits aufschlussreich ist für das Aussehen einer zukünftigen Praxis des Gewissens, in der das neue Prinzip der Innerlichkeit verwirklicht wird. Schließlich gehe ich in Abschnitt VI.5.5 auf die Unvollkommenheiten des sokratischen Begriffs eines Proto-Gewissens ein und zeige die daraus folgenden Widersprüchlichkeiten in seinem Handeln. Wie der Protagonist einer antiken Tragödie macht sich Sokrates der Hybris schuldig, indem er glaubt, im Alleingang eine solche revolutionäre Praxis aus der Taufe heben zu können.
VI.5.1 Der attische Gerichtshof der Heliaía und das Prinzip der Tugend In diesem Abschnitt untersuche ich, weshalb für Hegel der attische Gerichtshof der Heliaía, vor dem der Strafprozess gegen Sokrates verhandelt wird, eine paradigmatische Institution des griechischen Geistes ist, die entscheidend durch das griechische Verständnis sittlicher Normativität geprägt ist. Der Gerichtshof mitsamt den teilnehmenden Richtern repräsentiert daher für ihn das griechische Prinzip der Tugend, das im Prozess des Sokrates in Kollision mit dem neuen weltgeschichtlichen Prinzip der Innerlichkeit gerät. Um zu verstehen, weshalb Hegel der Heliaía diese beispielhafte Rolle zuspricht, gehe ich in diesem Abschnitt auf vier zentrale Eigenschaften des Gerichtshofs ein und erläutere, wie sie sich als direkter Ausdruck des griechischen Glaubens an das Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen und an die Objektivität der Tugend deuten lassen. Diese vier Eigenschaften sind erstens die Auswahl von Laienrichtern durch ein Losverfahren, zweitens die stark eingeschränkte Rolle der Richter innerhalb des Prozesses, drittens die Abstimmung durch Mehrheitsentscheide und viertens die Forderung nach der Zustimmung des Verurteilten zum Urteil. Diese vier Eigenschaften zeigen uns zum einen, welche Auswirkungen das griechische Verständnis von sittlicher Normativität auf das politische Leben hat, zum anderen sind 401 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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sie die konkreten institutionellen Strukturen, mit denen Sokrates durch seine Überzeugungen in Konflikt gerät. So wird der weltgeschichtliche Konflikt weniger auf einer philosophisch-theoretischen Ebene ausgetragen als auf der Ebene des institutionellen Handelns. Aus heutiger Sicht, ausgehend von der Warte eines modernen Rechtsverständnisses, erscheint der attische Gerichtshof der Heliaía völlig ungeeignet für ein faires und sachliches Verfahren. Dies beginnt bei der für heutige Verhältnisse absurd großen Anzahl von hunderten, bisweilen sogar über tausend Richtern – am Prozess gegen Sokrates nahmen fünfhundert Richter teil –, die ohne jegliche juristische Ausbildung per Losverfahren aus der Bevölkerung der gewöhnlichen Vollbürger ausgewählt wurden. Vor dieser Menschenmenge mussten Kläger und Angeklagter ihre Anliegen vertreten. Gerade bei brisanten Themen, die die Gemüter der Athener erhitzten, ging es bei den Gerichtsversammlungen durchaus turbulent zu. Platon vermittelt uns einen Eindruck von der Lautstärke im Gericht, indem er Sokrates in der Apologie mehrfach im Verlauf der Rede seine Mitbürger um Ruhe bitten lässt (»μὴ θορυβεῖτε, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι«) 107. Es darf bezweifelt werden, dass in solch einer Atmosphäre alle Nuancen der sokratischen Argumentation auch wirklich bis zu den Richtern auf den hinteren Bänken durchdrangen. In dieser Hinsicht wirken die attischen Gerichtsverhandlungen eher wie Massenspektakel als wie Institutionen der nüchternen Rechtsfindung. Antike Berichte über andere Prozesse bestärken diesen Eindruck, wie etwa der von Hegel erwähnte Arginusenprozess, in dem Demagogen die Stimmung der Richter aufpeitschten und so ein eklatantes Fehlurteil hervorbrachten. 108 Eine weitere Eigentümlichkeit des attischen Gerichtshof besteht in den geringen Einflussmöglichkeiten der Richter auf das Verfahren: Es war nicht vorgesehen, dass die Richter Nachfragen stellten oder Zeugen, Kläger und Angeklagte ins Kreuzverhör nahmen. Es gab auch keine geregelte Phase, in der sich die Richter untereinander beratschlagen und austauschen konnten. Abgesehen In Platons Apologie wird die Wendung vierfach wiederholt: 20e, 21a, 27b und 30c. In diesem Prozess verurteilten die Athener ihre siegreichen Admiräle nach der Schlacht bei den Arginusen zum Tode, weil diese durch einen Sturm gehindert worden waren, ihre Gefallenen aus dem Meer zu bergen. In einer ersten Verhandlung wurden die Admiräle noch freigesprochen, aber am nächsten Tag in einer zweiten Verhandlung verurteilt, weil die Stimmung gegen sie umgeschlagen war (vgl. Hegel, VGPhil.I S. 450). 107 108
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von ungeordneten Zwischenrufen, Unmutsbekundungen oder Gesprächen am Rande blieben die Richter stumme Zuschauer im Prozess. Diese theatralische Anordnung verstärkt den Eindruck des Spektakelhaften der Prozesse. Der einzige Beitrag der Richter bestand in der geheimen Abstimmung im Anschluss an die Vorträge der Prozessparteien. Im Fall eines Schuldspruchs fand eine zweite Abstimmung über das Strafmaß statt, welches ebenfalls von den Prozessparteien vorgeschlagen wurde. 109 Eine zusätzliche Begründung des Urteils über das reine Abstimmungsergebnis hinaus gab es nicht. Auch konnten die Richter das Strafmaß nicht modifizieren oder einen Gegenvorschlag anbringen. Im Kontrast zu modernen, rechtsstaatlichen Verfahren erscheint das griechische Gerichtswesen eigenwillig. Aber auch verglichen mit anderen antiken Konzeptionen der Rechtsprechung sticht das griechische Modell heraus: Die Anonymisierung und Sprachlosigkeit der attischen Richter steht beispielsweise im scharfen Gegensatz zu patriarchalen Richtern wie König Salomon, dessen Schiedssprüche die genialen Äußerungen eines Einzelnen sind und die nicht von seiner Persönlichkeit abstrahiert werden können. Hegel zufolge dürfen wir uns allerdings nicht durch unser modernes Befremden verleiten lassen, die griechischen Gerichtshöfe einfach als eine unvollkommene, archaische Einrichtung zu sehen, die das Ergebnis eines institutionentechnischen Unvermögens ist. Vielmehr ist der attische Gerichtshof der Heliaía ein direkter Ausdruck des griechischen Selbstund Weltverständnisses, das Hegel den »griechischen Geist« nennt. Die griechische Auffassung von Rechtsprechung weicht grundsätzlich vom modernen Rechtsverständnis ab. Dementsprechend sind die griechischen Gerichtsversammlungen, beurteilt innerhalb des griechischen Systems von Überzeugungen, die bestmögliche Institution. Sie erscheinen den Griechen selbst einem Rechtswesen mit ausgebildeten Berufsrichtern, wie wir es heute für angemessen halten, bei weitem überlegen. Legen wir also die griechische Ideologie zugrunde, das heißt das Kooperationsprinzip der Tugend mitsamt dem Glauben an die Objektivität der Tugendnormen, erscheint Hegel zufolge die griechische Organisationsform der Gerichtshöfe als »notwendig«: Indem Sitte und Gewohnheit die Form ist, in welcher das Rechte gewollt und getan wird, so ist sie das Feste und hat den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität des Willens, noch nicht in sich. Es kann 109
Aristoteles, Staat der Athener § 68.
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daher das Interesse des Gemeinwesens in den Willen und Beschluß der Bürger gelegt bleiben – und dies muß die Grundlage der griechischen Verfassung sein –, denn es ist noch kein Prinzip vorhanden, welches der wollenden Sittlichkeit entgegenstreben und sie in ihrer Verwirklichung hindern könnte. Die demokratische Verfassung ist hier die einzig mögliche: die Bürger sind sich des Partikulären, hiermit aus des Bösen, noch nicht bewußt; der objektive Wille ist ungebrochen in ihnen. Athene, die Göttin, ist Athen selbst, d. h. der wirkliche und konkrete Geist der Bürger. Der Gott hört nur auf, in ihnen zu sein, wenn der Wille in sich, in sein Adyton des Wissens und Gewissens zurückgegangen ist und die unendliche Trennung des Subjektiven und Objektiven gesetzt hat. Dies ist die wahrhafte Stellung der demokratischen Verfassung: ihre Berechtigung und absolute Notwendigkeit beruht auf dieser noch immanenten objektiven Sittlichkeit. 110
Die basisdemokratische Einrichtung der Gerichtshöfe ist eine direkte Folge der »immanente[n] objektive[n] Sittlichkeit«. Sie besitzt nicht nur »Berechtigung«, sondern »absolute Notwendigkeit«. Weil der »objektive Wille«, das heißt der tugendhafte Wille noch »ungebrochen in ihnen ist«, ist die »demokratische Verfassung […] die einzig mögliche«. Dies bedeutet, dass Hegel zufolge die griechischen Gerichtshöfe ein unmittelbares Produkt des Prinzips der Tugend sind. In ihnen ist die griechische Vorstellung einer gemeinsamen Korrekturpraxis paradigmatisch verwirklicht. Mit diesem Deutungsrahmen, den Hegel uns präsentiert, lassen sich auch die oben genannten Eigentümlichkeiten der attischen Heliaía als Ausdruck des Prinzips der Tugend interpretieren: So lässt sich, erstens, der Einsatz von Laienrichtern, die über ein Losverfahren aus der Menge der gewöhnlichen Vollbürger ausgewählt werden, über die zentrale Rolle der Tugend als politisches Prinzip der Griechen erklären. In Hegels Darstellung nehmen die Griechen alle wichtigen Normen ihres Zusammenlebens als Tugendnormen wahr. Dementsprechend spannt das Recht und das Gerichtswesen bei den Griechen keine eigene Sphäre auf, für die besondere Fähigkeiten oder spezialisiertes Wissen nötig sind, wie es im modernen Staat der Fall ist. Die Normen, die von den Griechen vor Gericht angewandt werden, sind dieselben Tugendnormen, die auch den Alltag bestimmen. Das rechtliche Urteil ist für die Griechen mit dem sittlichen Urteil identisch. Für die Griechen ist es also ein und dieselbe Fähigkeit, die zur ebenbürtigen Teilnahme am öffentlichen Leben – und somit zur Selbstbestimmung der pólis-Gemeinschaft – 110
Hegel, VPhGes S. 308.
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berechtigt und die für das Richteramt nötig ist, nämlich die Tugend. Als gemeinschaftsstiftendes Prinzip dient den Griechen die Tugend als Anerkennungskriterium. Das heißt, dass nach dem Selbstverständnis der Griechen nur der Tugendhafte auch die vollen Bürgerrechte erhält. Als Beleg für diesen – freilich viel zu hoch gegriffenen – Anspruch zitiert Hegel Platons Dialog Protagoras: Denn entweder müssen alle dieser Tugend teilhaftig sein, oder kein Staat [kann] existieren. […] So ist also angenommen, daß die politische Weisheit etwas sei, woran alle Anteil haben und haben müssen, damit der Staat bestehen könne. 111
Wenn allerdings nach dem Selbstbild der Griechen nur derjenige vollwertiger Bürger sein kann, der durch seine Erziehung die Tugend verinnerlicht hat, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass alle Vollbürger der pólis für qualifiziert gehalten werden, im Gerichtshof als Richter teilzunehmen. Die Anforderungen, die an einen Richter gestellt werden, sind die gleichen, die auch für die Teilnahme am selbstbestimmten Leben in der pólis gelten. Die Griechen können daher auf Laienrichter zurückgreifen, die zufällig aus der Bevölkerung ausgewählt werden, da in ihren Augen jeder, der die vollen Bürgerrechte innehat, auch die Qualifikationen für das Richteramt erfüllt. Laienrichtertum und Losverfahren hängen somit unmittelbar mit dem Modus der bedingten Anerkennung der griechischen Gemeinschaft zusammen. Zweitens kann die Beschränkung der Tätigkeit der Richter auf eine Zuschauerrolle durch die griechische Auffassung von Tugendnormen als zweiphasige Normen begründet werden. Nach griechischem Verständnis ist Selbstbestimmung und insbesondere ein gehaltvoller Begriff von Selbstverpflichtung nur möglich, wenn im Umgang mit Handlungsnormen streng die Gestaltung der Normen von ihrer Anwendung getrennt wird (siehe Kapitel III.2). Die Gerichtsversammlung als Institution der gegenseitigen Korrektur zählt nach dieser Auffassung zur Anwendungsphase: Vor Gericht wird das Handeln der Bürger an dem Standard gemessen, auf den sie sich zuvor in der Gestaltungsphase selbst verpflichtet haben. Aufgrund der strikten Trennung von Anwendung und Gestaltung beschränkt sich die richterliche Tätigkeit der Griechen – vermeintlich – auf eine bloße Umsetzung der Normen. Eine gestalterische Aushandlung findet 111
Ders., VGPhil.I S. 417. Vgl. Platon, Protagoras 322 f.
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nicht statt, so die Überzeugung der Griechen. Die Urteilsbildung ist daher für die Griechen kein gemeinsamer kreativer Prozess und auch kein genialer Akt der Rechtssetzung wie beispielsweise das salomonische Urteil. Stattdessen wenden die Richter nach Auffassung des Zwei-Phasen-Modells lediglich die objektiven Normen an, die für alle Tugendhaften klar erkennbar sind und eindeutig auf den zu begutachtenden Fall angewandt werden können. Folglich sehen die Griechen keine Notwendigkeit, dass ihre Richter über eine Bewertung des Falls diskutieren oder Argumente für ihre Einschätzung austauschen. Ihrer Auffassung nach besitzt jeder einzelne Richter die gleiche Kompetenz, die objektiven Tugendnormen umzusetzen und den verhandelten Fall dementsprechend zu bewerten. Nach dem griechischen Verständnis besteht die Objektivität ihrer Tugendnormen wesentlich darin, dass sie von allen kompetenten Handelnden auf die gleiche Weise umgesetzt werden, wenn sich diese in der gleichen Situation befinden. Auf diese Weise könne garantiert werden, dass der Einzelne nicht partikulär-willkürlich handle, sondern objektiv und allgemein, das heißt als legitimer Vertreter der Gemeinschaft. Folglich nehmen die Griechen an, dass jeder Tugendhafte bei der Beurteilung eines Falls zu dem gleichen Ergebnis gelangt, falls er nicht durch zufällige Störungen beeinflusst wird. Somit kann jeder Richter isoliert für sich urteilen, da »der objektive Wille […] ungebrochen in ihnen« 112 ist. Nach griechischem Verständnis hat das Urteil, da es in der Anwendungsphase des Zwei-Phasen-Modells stattfindet, keinerlei subjektive Komponente. Folglich kommen nach diesem Verständnis auch keine unterschiedlichen Sichtweisen oder Auffassungen über den Fall zustande, die in einer Aussprache der Richter untereinander abgeglichen werden müssten. Aus eben diesem Grund scheinen allerdings, drittens, die Vielzahl der Richter und die Abstimmung nach Mehrheitsentscheid im griechischen Gerichtsverfahren auf den ersten Blick unnötig: Wenn die Griechen glauben, dass jeder hinreichend kompetente Richter einen Fall gleich beurteilt, da er die gleichen Tugendnormen auf die gleiche Weise anwendet, müsste eigentlich ein einziger Richter genügen, der über den Fall urteilt. Die Vielzahl von Richtern scheint nach diesem Verständnis nur eine Wiederholung des Gleichen zu sein. Demnach dürften auch ausschließlich einstimmige Abstimmungsergebnissen zustande kommen. Hegel liefert uns keine aus112
S. o., Hegel, VPhGes S. 308.
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drückliche Antwort für diese Frage, außer dass er die Notwendigkeit einer demokratischen Verfassung für die griechischen Gerichte betont (s. o.). Zwei mögliche Erläuterungen liegen allerdings nahe: So ist denkbar, dass die große Zahl der Richter vor allem symbolische Bedeutung besitzt, indem so verdeutlicht wird, dass in der gemeinsamen Korrekturpraxis dem Einzelnen nicht ein weiteres Individuum gegenüber steht, sondern die Gemeinschaft als Ganzes. Der selbstbestimmte Standard, auf den sich der Einzelne verpflichtet hat, wird ihm nicht durch ein Einzelurteil entgegen gehalten, sondern durch ein Gemeinschaftsurteil. In Abschnitt III.1.3 habe ich mit Robert Brandom erläutert, dass die Korrektur des Einzelnen nicht durch ein bloß symmetrisches Verhältnis zweier Subjekte gewährleistet werden kann, sondern allein durch die Konfrontation eines Einzelnen mit dem wortwörtlich allgemeineren Gemeinschaftsurteil. Auch wenn in der Gerichtsversammlung aus praktischen Gründen nicht die gesamte pólis tagen kann, stellt die große Zahl der Richter eine zumindest symbolische Annäherung dar. Eine weitere mögliche Begründung für die basisdemokratische Organisation der Gerichtshöfe besteht in der Annahme, dass die Griechen durch die Vielzahl der unabhängig urteilenden Richter eine Redundanz erzeugen wollten, um das Auftreten zufälliger Fehlurteile zu minimieren. Einen historischen Beleg für diese Begründungsart finden wir im Kapitel III.15 der aristotelischen Politik, wo Aristoteles behauptet, dass eine Gruppe weniger anfällig für Irrtümer sei als ein Einzelner: Denn wie eine größere Menge Wassers so ist auch eine größere Zahl von Menschen weniger leicht zu verderben als eine geringe. Während bei dem einzelnen, sobald er sich vom Zorn oder einer anderen derartigen Leidenschaft überwältigen läßt, notwendig auch sein Urteil verdorben wird, so wird es dagegen doch schwer vorkommen, daß alle zugleich vom Zorn bemeistert und dadurch zu Fehlgriffen verleitet werden sollten. 113
Aus heutiger Sicht erscheint diese Bemerkung verblüffend naiv, als habe Aristoteles nicht selbst die verhängnisvolle Irrationalität erleben müssen, die sich durch bestimmte Gruppendynamiken entwickelt. Wir können die aristotelische Aussage allerdings als eine Überlegung zur Modalität und Wahrscheinlichkeit des Erfolgs endlicher Fähigkeiten verstehen. So ist nach griechischer Überzeugung die Tugend die Fähigkeit, die objektiven Tugendnormen zu erkennen und korrekt 113
Aristoteles, Pol. III.15, 1286a30–35.
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auf eine Handlungssituation anzuwenden. Als endliche Fähigkeit ist die Tugend jedoch fehlbar – andernfalls wäre in einer Gemeinschaft von Tugendhaften auch keine Praxis der gegenseitigen Korrektur vonnöten, wie sie der Gerichtshof der Heliaía darstellt. Der Tugendhafte kann sich in seinem Urteil irren, wenn er durch zufällige Einflüsse gehindert wird, seine Fähigkeit erfolgreich auszuüben, etwa wenn er »sich vom Zorn oder einer anderen derartigen Leidenschaft überwältigen läßt.« Ist ein derartiges Scheitern durch einen Zufall verursacht, der in erster Linie einen Einzelnen betrifft, dann kann dieses Scheitern durch eine größere Zahl von Richtern ausgeglichen werden. Auch eine solche Gruppe kann sich irren, da mehrfach störende Zufälle auftreten können, aber die Wahrscheinlichkeit eines solchen Fehlurteils ist potenziert geringer als das Fehlurteil eines Einzelnen. Dies gilt freilich nur, wenn vorausgesetzt wird, dass jedes Mitglied der Gruppe für sich unabhängig von den übrigen urteilt – wie es auch scheinbar im attischen Gerichtshof geschieht. Durch gemeinsame Beratungen, gruppendynamische Prozesse und dergleichen können sich hingegen systematische Fehler ergeben, bei denen die aristotelische Überlegung hinfällig wird. Ungeachtet der Frage, ob wir diese Argumentation des Aristoteles plausibel finden, ist sie schon deshalb bemerkenswert, weil sie offenbar genau den Zusammenhang von Objektivität der Tugendnormen und der Berechtigung demokratischer Mehrheitsentscheidungen herstellt, den Hegel den antiken Griechen zuschreibt. Eine vierte Eigenschaft des attischen Gerichtshofs, die Hegel im besonderen Maße hervorhebt, besteht in dem Umstand, dass der Verurteilte einen eigenen Vorschlag für ein Strafmaß stellen durfte, über den in einem weiteren Wahlgang abgestimmt wurde. Diese Maßnahme erscheint auf den ersten Blick wenig mehr zu sein als ein humanes Zugeständnis an den Verurteilten, der auf diesem Weg für eine mildere Strafe werben kann, als von der Anklage gefordert wird. Hegel deutet diesen Brauch allerdings als ein zentrales Charakteristikum des attischen Gerichtshofs, welches ihn zum einen als die paradigmatische Institution der gegenseitigen Korrektur im System der tugendhaften Kooperation ausweist und welches zum anderen die entscheidende Rolle bei der Kollision der Prinzipien im sokratischen Prozess spielt. Hegel zufolge geht es bei der Maßnahme, dass der Verurteilte einen eigenen Strafantrag stellt, um die Zustimmung des Verurteilten zum Urteil:
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Nach atheniensischen Gesetzen hatte der schuldig Befundene Freiheit, sich selbst die Strafe zu bestimmen. Es handelte sich nur um Art der Strafe, nicht Strafe im allgemeinen; daß Sokrates Strafe verdient, hatten die Richter ihm bestimmt. […] Die Heliasten hielten ihn schuldig, wie in England das Geschwornengericht [sic] schuldig spricht. Das andere ist dann, daß der Richter die Strafe ansetzt; so war es auch in Athen, – nur daß man noch humaner dem Schuldigen überließ, sich selbst die Strafe zu bestimmen, jedoch nicht willkürlich, sondern dem Verbrechen angemessen: eine Geldstrafe oder Verbannung. Der schuldig Befundene wird selbst zum Richter über sich konstituiert, – worin lag, daß er sich dem Ausspruch des Gerichts unterwarf und sich für schuldig erkannte. 114
Im Strafantrag des Verurteilten liegt laut Hegel also zweierlei: Einerseits bedeutet der Antrag eine Unterwerfungsgeste. Der Verurteilte erkennt auf diese Weise die Rechtmäßigkeit des Urteils an und spricht der pólis-Gemeinschaft die Berechtigung zu, als Souverän über ihn zu urteilen und eine Strafe zu verhängen. Andererseits bedeutet diese Unterwerfungsgeste für den Einzelnen laut Hegel keine Erniedrigung, im Gegenteil: »Der schuldig Befundene wird selbst zum Richter über sich selbst konstituiert«. Diese Bemerkung können wir folgendermaßen lesen: Während die Konstellation des Prozesses, bei welchem der Angeklagte sich vor der Menge von Richtern verurteilen muss und ihrem Abstimmungsentscheid ausgeliefert ist, noch den oberflächlichen Eindruck erweckt, als stehe der Angeklagte als Einzelner abgesondert von der Gemeinschaft und sogar im Gegensatz zu ihr, wird durch den Schritt der Selbstverurteilung diese Kluft überbrückt. Der Verurteilte gehört auf diese Weise gewissermaßen ebenfalls zur Richterschaft und wird als Teil der Gemeinschaft behandelt. Die Korrektur der Verurteilten wird so zur Selbstkorrektur. Diese Wahrnehmung ist für das griechische Verständnis aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen begreifen Hegels Griechen ihre Tugendnormen wesentlich als selbstbestimmte Normen. Die Gemeinschaft und ihre verschiedenen politischen Einrichtungen stützen ihre Legitimation gegenüber dem Einzelnen auf die Annahme, dass es sich bei allen Akten der Gemeinschaft um Verwirklichungen der Selbstbestimmung handelt. Dementsprechend wird auch der attische Gerichtshof der Heliaía nicht als Herrschaftsinstrument verstanden, um Abweichler zu disziplinieren, sondern als Teil der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung. Nach dieser Vorstellung begegnet der Ein114
Hegel, VGPhil.I S. 508.
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zelne im Urteil des Gerichtshofs seinen eigenen Normen, auf die er sich selbstbestimmt verpflichtet hat. Demnach bedeutet die Unterwerfung des Verurteilten für ihn auch keine Erniedrigung, wie Hegel erläutert, sondern vielmehr gewissermaßen die Wiederherstellung seines selbstbestimmten Handelns: Gerade von denen, die sich im Volke erheben, muß es dieses Anerkanntsein sehen; so sahen wir den Perikles um die Aspasia, um Anaxagoras bei den Bürgern herumgehen und das Volk für sie bitten. Darin liegt nicht Entehrendes für das Individuum, denn das Individuum muß sich vor der allgemeinen Macht bücken; und diese reale, edelste, allgemeine Macht ist das Volk. 115
Nach diesem Verständnis erfüllt die Zustimmung des Verurteilten zum Urteil eine doppelte Funktion: Zum einen bestätigt sie in den Augen der Griechen die Legitimität des Gerichtsverfahrens als Teil einer selbstbestimmten, gegenseitigen Praxis der Korrektur. Die Richter zwingen dem Verurteilten nicht ihren Willen auf, sondern führen ihm nur den objektiven Standard vor, auf den er sich selbst verpflichtet hat. Ohne diese Zustimmung würde der Gerichtshof als ein Zwangsinstrument einer herrschenden Masse erscheinen, das nicht zum Selbstverständnis der Griechen als ein Volk von gleichberechtigten Freien passt. Zum anderen demonstriert der Verurteilte durch seine Zustimmung, dass er trotz seiner Verfehlung immer noch die Tugend besitzt und daher das Recht hat, als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Seine Tugend erlaubt ihm, so die Überlegung, seinen Fehler einzusehen und die Korrektur der Gemeinschaft als Selbstkorrektur zu erkennen. Nach griechischem Verständnis ist der Tugendhafte zwar nicht unfehlbar – sonst bräuchte es wohl auch keine Praxis der gegenseitigen Korrektur –, aber seine Irrtümer sind auf lediglich kontingente Einflüsse zurückzuführen. Daher ist der Tugendhafte in der Lage, auf die Argumente seiner Mitbürger zu hören und seinen Irrtum einzusehen. Diese doppelte Funktion, die der Zustimmungsakt erfüllt, erklärt, weshalb die Weigerung des Sokrates, für sich in seinem Prozess ein Strafmaß vorzuschlagen, hohe Wellen schlägt (siehe unten, Abschnitt VI.5.3). Die Athener Richter fühlen sich durch diese Verweigerung in ihrer Legitimität angegriffen. In ihren Augen spricht Sokrates ihnen die Berechtigung ab, über ihn zu urteilen – dies ist aber 115
Ebd., S. 511.
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für sie gleichbedeutend mit einem Zweifel an ihrer Tugend und einem Infragestellen der grundlegenden Institutionen ihrer Gemeinschaft. Zugleich erscheint ihnen Sokrates durch sein Verhalten als unbelehrbar und somit als untugendhaft. Es ist daher nur folgerichtig, dass sie Sokrates zum Staatsfeind erklären und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen. Hegel deutet daher die Weigerung des Sokrates als ein Schlüsselmoment im Prozess. Mit diesen Erläuterungen lässt sich zeigen, dass für Hegel die genannten Eigenschaften des attischen Gerichtshofs ihn als einen Ausdruck des weltgeschichtlichen Prinzips der Griechen ausweisen. Die basisdemokratische Organisationsstruktur des Gerichtshofs verrät unmittelbar das objektiv-substantielle Verständnis sittlicher Normen der Griechen. Somit kann die attische Heliaía als eine paradigmatische Institution der griechischen Tugend-Ideologie aufgefasst werden. Mit dieser Erklärung soll freilich nicht behauptet werden, der Gerichtshof sei mit seinen Eigenschaften am Reißbrett entworfen wurden. Hegel ist sich bewusst, dass die Institution, wie sie sich uns beim sokratischen Prozess präsentiert, das Resultat zahlreicher kontingenter historischer Ereignisse ist, etwa als Ergebnis und ausgleichender Kompromiss nach Machtkämpfen zwischen verschiedenen Gruppen in der pólis. In dieser Hinsicht ist die institutionelle Struktur des Gerichtshofs zufällig. Wir können allerdings Hegels Bemerkung, diese Struktur besitze »absolute Notwendigkeit« 116, derart verstehen, dass das griechische Verständnis objektiver Tugendnormen der Grund ist, weshalb in den jeweiligen historisch-zufälligen Situationen sich für eine bestimmte Lösung entschieden wurde. Die vorherrschende Weltsicht, die Hegel den »griechischen Geist« nennt, legt fest, welcher Kompromiss beispielsweise den Beteiligten fair erscheint und welche institutionelle Ordnung sie für die zweckmäßigste halten. Auf diese Weise kommt es zustande, so Hegels Auffassung, dass der griechische Gerichtshof mit den Athener Richtern im Prozess gegen Sokrates wesentlich als Vertreter des weltgeschichtlichen Prinzips der Tugend auftritt. Diese enge Verzahnung von Weltsicht, Normativitätsauffassung und konkretem Handeln führt weiterhin dazu, dass Sokrates’ Kritik an der Objektivität der Tugend auf eine so harte Reaktion seiner Mitbürger trifft. Die Kritik beschränkt sich nicht auf eine abstrakt-akademische Debatte über das Wesen praktischer Normen, sondern bedeutet unmittelbar politischen Sprengstoff. 116
S. o., ders., VPhGes S. 308.
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Sokrates ist also mehr als ein Gesprächspartner, der durch Hartnäckigkeit und Rechthaberei lästig wird. Mit seiner Kritik an der Tugend greift er direkt die Legitimation aller basisdemokratischen Versammlungen in Athen an, einschließlich des Gerichtshofs. Wird der griechische Glaube an die Objektivität der Tugendnormen erschüttert, schwindet das Vertrauen der Griechen in die Institutionen ihrer pólis und beispielsweise das Losverfahren zur Auswahl der Richter erscheint den Bürgern immer ungeeigneter, weil sie ihren Mitbürgern nicht mehr zutrauen, die allgemeinen Interessen der Gemeinschaft zu vertreten.
VI.5.2 Drei Deutungen des Prozesses gegen Sokrates Hegel interpretiert den Prozess gegen Sokrates als das zentrale Ereignis, in dem der weltgeschichtliche Konflikt zwischen dem griechischen Prinzip der Tugend, vertreten durch die Athener Richter, mit dem sokratischen Prinzip der Innerlichkeit ausbricht. Alle vorangegangenen Geschehen, von der durch die Sophisten gestifteten Unruhe bis hin zu Sokrates’ aufrüttelnden Gesprächen mit seinen Mitbürgen, betrachtet Hegel lediglich als Vorgeplänkel. Der Prozess ist für ihn der Fluchtpunkt der Umbrüche, die die griechische Sittlichkeit seit den Perserkriegen durchläuft. Erst das Prozessgeschehen bietet laut Hegel die angemessene Bühne für die weltgeschichtliche Kollision der Prinzipien, so dass sie auch ihren Protagonisten als solche bewusst werden kann. Die Krise der griechischen Sittlichkeit schwelt schon lange vorher, aber der Prozess markiert einen Wendepunkt. Sokrates’ Verhalten im Prozess lässt seine Zeitgenossen ihre Fehleinschätzung einsehen. Sie begreifen, dass sie es nicht etwa nur mit einem Sonderling und Störenfried zu tun haben, sondern dass sie in ihm einem neuen weltgeschichtlichen Prinzip begegnen. Hegel zufolge zerfällt das weltgeschichtlich-tragische Geschehen des Prozesses in zwei Akte. Zum ersten Akt rechnet Hegel die Anklage und die eigentliche Verhandlung bis einschließlich des Urteilsspruchs. Der zweite Akt besteht in der Abstimmung über das Strafmaß und der anschließenden Hinrichtung des Sokrates. Schon die Ereignisse des ersten Aktes sind für uns in der Rückschau als Kollision der weltgeschichtlichen Prinzipien zu erklären, so Hegel. Aber erst im zweiten Akt wird den Beteiligten diese Bedeutung bewusst. Den Athenern erscheint der erste Teil des Prozesses noch wie ein gewöhnliches Ver412 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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fahren, das in den üblichen Bahnen verläuft. Der zweite Teil hingegen begegnet ihnen als Anomalie, in der das Funktionieren ihrer sittlichen Gerichtspraxis ins Stocken gerät. Mit der Hinrichtung des Sokrates erkennen die Athener ihren Irrtum und die Wahrheit seines Prinzips. Wie beim Held einer Tragödie beginnt ihre Einsicht, als es zum Einlenken zu spät ist. In diesem und dem folgenden Abschnitt (VI.5.3) stelle ich Hegels Deutung des Prozesses als weltgeschichtliches Ereignis vor. Dabei gehe ich im vorliegenden Abschnitt auf den ersten Akt des Prozesses ein, das heißt auf die Verhandlung und den Schuldspruch. Hegel zufolge erscheint dieser erste Akt den Protagonisten noch als normales Geschehen, obwohl er für uns Betrachter in der Rückschau bereits als Kollision weltgeschichtlicher Prinzipien erkennbar ist. Dieser Anschein von Normalität entsteht dadurch, dass die Institution des griechischen Gerichtshofs aus Sicht der Athener noch wie vorgesehen funktioniert. Dies bedeutet insbesondere, dass Sokrates nach geltendem Recht ordnungsgemäß der Prozess gemacht wird. Hegel zufolge handeln die Athener nicht falsch, als sie ihr Urteil über Sokrates sprechen. Der Prozess ist in Hegels Deutung kein Unrechtsprozess. In dieser Einschätzung liegt nach Hegel die Analogie des weltgeschichtlichen Konflikts zu einem tragischen Geschehen: Wie in einer Tragödie machen sich die Protagonisten nicht etwa dadurch schuldig, dass sie unsittlich oder prinzipienlos handeln, sondern stattdessen durch ein allzu starres Festhalten an ihren Prinzipien. Der Untergang der Helden einer Tragödie, wie Hegel sie versteht, wird nicht durch individuelle Schlechtigkeit heraufbeschworen. Vielmehr zeigt sich in der Tragödie die Mangelhaftigkeit der Handlungsprinzipien selbst (siehe Abschnitt VI.2). Auf ähnliche Weise wird im Prozess gegen Sokrates die Mangelhaftigkeit des griechischen Prinzips gerade dadurch offenbar, dass die Athener an ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit und einem gerechten Verfahren festhalten, so Hegel. Mit dieser Deutung weicht Hegel erheblich von traditionellen Darstellungen des Prozesses ab, in denen die Vorwürfe gegen Sokrates als Verleumdungen abgestritten werden und der Prozess als eine juristische Farce bezeichnet wird. Für die Anhänger solcher traditioneller Deutungen erscheint Hegels Prozessbeschreibung geradezu als skandalös, da er scheinbar die Partei der Ankläger ergreift. 117 Tatsächlich zeichnet sich Hegels unorthodoxe Deutung dadurch aus, dass er eben nicht vor117
Vgl. Sandvoss (1966).
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schnell Seite bezieht. Erst durch eine ausgewogene Darstellung, die beiden Parteien ihre Berechtigung zuspricht, lässt sich Hegel zufolge die welthistorische Leistung des Sokrates wirklich erkennen. Um die Eigenart der hegelschen Deutung herauszuarbeiten, werde ich sie im Folgenden mit zwei traditionelleren Deutungen kontrastieren. Hegel stützt sich für seine Schilderung des Prozesses vor allem auf Xenophons Apologia Sokratis und dessen Memorabilia, auf Platons Apologie sowie auf die entsprechenden Bemerkungen bei Diogenes Laertius. Die Anklageschrift gegen Sokrates überliefern uns die antiken Autoren alle sehr ähnlich. Hegel fasst sie folgendermaßen zusammen: Die Anklage bestand aus zwei Punkten: α) Daß Sokrates die nicht für Götter halte, welche das atheniensische Volk dafür halte, die alten Götter nicht habe, sondern neue einführe, und β) daß er die Jugend verführe. 118
Nichts in dieser Fassung der Anklageschrift deutet darauf hin, dass wir es mit einem ungewöhnlichen oder gar weltgeschichtlichen Prozess zu tun haben. Insbesondere der erste Vorwurf, Sokrates verehre nicht die Götter der Stadt, war eine typische Anklage gegen Naturphilosophen und Sophisten. Bereits Anaxagoras und Protagoras wurden aufgrund ähnlicher Asebie-Vorwürfe in Athen angeklagt und aus der Stadt verbannt. 119 Für den zweiten Vorwurf, Sokrates verderbe die Jugend, sind zwar keine vergleichbaren Präzedenzprozesse bekannt. Er fügt sich aber in das Bild ein, welches die Athener von Sophisten hatten. Insgesamt bringt die Anklageschrift keine neuen Vorwürfe gegen Sokrates auf, sondern greift lediglich auf Vorurteile zurück, die in der öffentlichen Meinung schon lange präsent waren. So begegnen uns die Formulierung der Anklageschrift fast wortwörtlich in Aristophanes’ Komödie Die Wolken ein Vierteljahrhundert vor dem Prozess (siehe Kapitel VI.3). Insofern sind die Anschuldigungen gegen Sokrates nicht überraschend: Weder die Tatsache, dass ein Philosoph der Asebie bezichtigt wird, noch dass Sokrates ein schlechter Einfluss auf die Jugend zugeschrieben wird, waren für die Athener neu. Sokrates selbst beklagt in Platons Apologie, dass er sich nicht nur gegen die gegenwärtigen Ankläger verteidigen muss, sondern 118 Hegel, VGPhil.I, S. 498. Diogenes Laertius überliefert die Anklageschrift folgendermaßen (Vitae, II.5.40): »Sokrates versündigt sich durch Ableugnung der vom Staate anerkannten Götter sowie durch Einführung neuer göttlicher Wesen; auch vergeht er sich an der Jugend, indem er sie verführt. Der Antrag geht auf Todesstrafe.« 119 Diogenes Laertius, Vitae II.3.14 und IX.8.51 f.
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auch gegen jahrzehntealte Verleumdungen. 120 Während seiner Verteidigungsrede zeigt sich Sokrates auf typische Weise eigenwillig und scheint nicht besonders bemüht, das Wohlwollen der Richter zu gewinnen: So verzichtet er ausdrücklich darauf, eine ausformulierte, rhetorisch ausgefeilte Verteidigungsrede vorzutragen. 121 Er lehnt auch die damals übliche Taktik ab, die eigene Familie in einem tränenreichen Auftritt dem Gericht vorzuführen, um ein mildes Urteil zu erheischen. 122 Vermutlich bestätigte Sokrates mit diesem Verhalten nur das kauzige Bild, das seine Mitmenschen von ihm hatten. Jedenfalls gelingt es ihm nicht, die Richter von seinem Standpunkt zu überzeugen, obwohl er in seiner Rede beide Vorwürfe der Anklage vehement bestreitet. 123 Die Gerichtsversammlung befindet ihn mit der knappen Mehrheit von dreißig Stimmen für schuldig. 124 In Hegels Darstellung endet mit dieser Abstimmung der erste Akt des Prozesses. Im Bezug auf die oberflächliche Schilderung der Ereignisse, bei der sich Hegel sehr nah an antiken Quellen orientiert, unterscheidet sich seine Darstellung des Prozesses noch nicht von den traditionelleren Interpretationen, die ich im Folgenden skizzieren werde, um anschließend Hegels abweichende Deutung der Geschehnisse zu erläutern. Ich werde in den verbliebenen Teilen dieses Abschnitts zunächst auf zwei gängige Deutungen dieser Ereignisse eingehen, um anschließend im Gegensatz dazu Hegels unorthodoxe Deutung auszuarbeiten. Die Deutung des Prozesses, die vermutlich die längste Tradition besitzt, wird bereits von Platon den Lesern seiner Dialoge nahegelegt. In Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie begegnet uns als Vertreter dieser Deutung der Philosophiehistoriker Wilhelm Gottlieb Tennemann, dessen Geschichte der Philosophie Hegel ausgiebig zitiert. 125 Nach dieser Deutung fällt Sokrates vor allem der Engstirnigkeit und dem gekränktem Stolz der Athener zum Opfer, die seine hartnäckigen Fragen nicht mehr ertragen wollten. Sokrates sei den Athenern lästig geworden, indem er ihnen in öffentlichen Platon, Apologie 18b-19a. Ebd., 17a-d. 122 Ebd., 34d. 123 Ebd., 24b-28a. 124 Ebd., 36a. 125 Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie, Leipzig 1798–1819, 11 Teile, vgl. Hegel, VGPhil.I S. 33, S. 133, S. 135 f., S. 197, S. 205, S. 209, S. 221 usw. 120 121
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Gesprächen den Spiegel vorhielt und ihre Scheinheiligkeiten aufdeckte, wie Tennemann behauptet: Ein Mann wie Sokrates, der das Recht zur einzigen Richtschnur seines Handelns gemacht hatte und von dem geraden Wege keinen Schritt abwich, mußte sich notwendig viele zu Feinden machen, die aus ganz anderen Triebfedern zu handeln gewohnt waren. 126
Dementsprechend sei Sokrates unschuldig im Sinne der Anklage. Er verderbe nicht die Athener Jugend, im Gegenteil: Die Anhänger dieser Deutung stilisieren ihn sogar zum letzten Verteidiger der Tugend. Nach ihrer Darstellung wurde Sokrates zum Verhängnis, dass er in seiner Wahrheitsliebe keine Rücksicht auf die Eitelkeiten seiner Mitbürger nahm und schonungslos ihr Unwissen vorführte. Der Prozess sei daher nichts anderes als die Rache der Gekränkten. Platon legt diese Deutung nahe, indem er in seiner Apologie Sokrates sich selbst mit einer Stechfliege vergleichen lässt, die Athen wie ein träges Pferd aus dem Schlummer weckt 127 – wohlweislich, dass ihm ebenfalls das Schicksal einer solchen lästigen Fliege droht. In dieser Lesart wird Sokrates zu einem Märtyrer der Philosophie erhoben, einem säkularen Heiligen der Vernunft. Es ist kein Zufall, dass sich diese Lesart in der Renaissance und der Aufklärung besonderer Beliebtheit erfreute, wie etwa Erasmus von Rotterdam beweist, der den Ausruf prägte: »Sancte Socrates, ora pro nobis!« 128 Über solche allzu hagiographisch-sentimentalen Darstellungen des Sokrates spottet Hegel: Indem Sokrates auf diese Weise der Moralphilosophie ihre Entstehung gab (wie er sie behandelt, wird sie populär), hat ihn alle Folgezeit des moralischen Geschwätzes und der Popularphilosophie zu ihrem Patron und Heiligen erklärt und ihn zum rechtfertigenden Deckmantel aller Unphilosophie erhoben, wozu noch vollends kam, daß sein Tod ihm das populär-rührende Interesse des Unschuldig-Leidens gab. 129
Die Grundthese dieser Deutung, die Athener hätten Sokrates vor allem deshalb umbringen lassen, weil er ihnen zu tugendhaft und zu wahrheitsliebend war, ist kaum verhohlener Kitsch. Hegel nennt es eine »moralische Heuchelei, besser als andere sein zu wollen, die man
126 127 128 129
Tennemann, zitiert nach Hegel, VGPhil.I S. 497 f. Platon, Apologie 30e-31a. Zitiert nach Augustijn (1996), S. 88. Hegel. VGPhil.I S. 445.
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dann seine Feinde nennt« 130. Die Deutung des Prozesses lehnt er als verflachend ab. Weder wird sie der Motivation der Athener gerecht, noch kann sie die philosophische Innovation des Sokrates angemessen wiedergeben. In dieser Deutung tritt Sokrates nicht als spekulativer Philosoph mit grundsätzlicher Kritik auf, sondern als ein moralisierender Mahner. Er wird den Griechen lästig, weil er sie an Werte erinnert, die sie zwar dem Lippenbekenntnis nach teilen, aber nicht umsetzen. Somit wird Sokrates – freilich gegen die Intentionen der Vertreter dieser Deutung – als schlichtes Gemüt und moralinsaurer Prediger gezeichnet. Statt ein neues weltgeschichtliches Prinzip zu initiieren, verhält sich der Sokrates dieser Deutung rückwärtsgewandt und verteidigt die alten Sitten gegen den Verfall und die sophistische Versuchung der neuen Zeit. Die Athener hingegen sind in dieser Deutung vom Prinzip der Tugend längst abgefallen. Sie handeln nicht prinzipiengeleitet, sondern jähzornig. Ihr Antrieb im Prozess ist gekränkte Eitelkeit. Somit versperrt sich diese Deutung einer vernünftigen Begründung des Verhaltens der Athener Richter im Prozess. Eine zweite, nüchternere Sichtweise deutet den Prozess gegen Sokrates im Wesentlichen als ein politisches Stellvertretergefecht, in dem sich die Ressentiments der Fraktionskämpfe entladen, die Athen seit seiner Niederlage im Peloponnesischen Krieg im Griff hielten. Nach dieser Deutung wurde Sokrates vor allem die Tatsache zum Verhängnis, dass er als Lehrer des Kritias bekannt war, dem Anführer der oligarchischen Marionettenregierung der dreißig Tyrannen, die von den siegreichen Spartanern in Athen installiert wurde. Zudem gehörte Sokrates während der Herrschaft der Dreißig zur privilegierten Gruppe von dreitausend Bürgern, die von Unterdrückung weitestgehend verschont blieben und ihre Bürgerrechte behielten. 131 Von den Anhängern der unterlegenen demokratischen Partei, die teilweise massive Repressionen erlitten, wurden sie daher als Kollaborateure und Antidemokraten angesehen. 132 Die Vertreter dieser zweiten Deutung vermuten deshalb, dass nach dem Sturz der Dreißig Sokrates aufgrund seiner persönlichen Verbindungen zu den Oligarchen und seiner prominenten Stellung innerhalb der Stadt das Ziel von Rachegelüsten wurde, zumal Kritias selbst aufgrund seines Todes nicht 130 131 132
Ebd., S. 498. Vgl. Xenophon, Hellenika II.3,18. Scholz (2000), S. 169.
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mehr vor Gericht belangt werden konnte. Für diese Deutung spricht, dass die drei namentlich bekannten Ankläger des Sokrates – Anytos, Meletos und Lykon – Demokraten waren, die unter der Herrschaft der Dreißig enteignet wurden und zum Teil ins Exil gezwungen worden waren. 133 Es liegt also nahe, dass sie als Opfer des Regimes sich irgendeine Form der Vergeltung wünschten. Eine allgemeine Amnestie im Jahr 403 v. Chr. verhinderte, dass Sokrates direkt wegen Kollaboration angeklagt werden konnte. Die Vertreter der zweiten Deutung halten deshalb die beiden Anklagepunkte nur für einen Vorwand, um Sokrates als politischen Sündenbock für erlittenes Unrecht anzugreifen. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem Vorwurf, Sokrates verderbe die Jugend, auch ein verklausulierter Hinweis auf seine Rolle als Tyrannenerzieher. Im Gegensatz zur ersten Deutung spielt die sokratische Philosophie in dieser Interpretation des Prozesses nur eine untergeordnete Rolle. Sokrates’ Eigenarten und seine Bekanntheit mögen dazu beigetragen haben, dass die Ankläger ihn als Ziel für ihre Rache auswählten. Eine engere Verknüpfung sieht diese Deutung jedoch nicht. Die Gerichtsverhandlung gegen Sokrates ist für die Anhänger dieser Deutung lediglich der Prominenteste mehrerer Schauprozesse, in denen sich die Fraktionskämpfe äußerten. Nach dieser Deutung lässt sich zwar, anders als bei der ersten Deutung, das Verhalten der Athener Richter und der Ankläger mit vernünftigen Gründen erklären, aber diese Begründungen sind dem Prozessgeschehen extern – den Gegenspielern des Sokrates dient der Prozess lediglich als Mittel, um ihre politischen Ziele im Machtkampf der Parteien zu erreichen. Die hagiographische und die nüchtern-politische Deutung schließen sich freilich nicht notwendigerweise aus, da eine große Zahl von Richtern am Prozess beteiligt waren. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass eine Vielzahl individueller Motive und Überzeugungen die Gerichtsentscheidung beeinflusst haben. Insbesondere teilen die beiden Deutungen zwei wichtige Grundannahmen: erstens die Annahme, dass Sokrates grundsätzlich in beiden Anklagepunkten unschuldig ist und daher zu Unrecht verurteilt wurde, und zweitens die Auffassung, dass auch der Verlauf des Prozesses gegen die griechischen Vorstellungen eines ordnungsgemäßen Verfahrens verstößt. So behauptet der Philosophiehistoriker Eduard Zeller: »Die Verurteilung des Sokrates ist nicht bloß nach unseren Rechtsbegrif133
Ebd., S. 160 f.
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fen ein schweres Unrecht, sondern sie ist es auch nach dem Maßstab ihrer eigenen Zeit […]« 134 Der Zeitgenosse Hegels Tennemann nennt den Prozess »empörend für die Menschheit« und beispielhaft für »Kabalen, die in Demokratien so häufig sind« 135. Die Anklage basiere auf den »handgreiflichsten Unwahrheiten« 136. Der moderne Historiker Christian Meier wiederholt diese Ansicht, indem er von einem »Justizskandal« und einem vornehmlich politisch, eher emotional als rechtlich begründeten Fehlurteil spricht, wie es zur Endphase des Peloponnesischen Krieges mehrfach vorgekommen sei. 137 Hegel lehnt diese beiden Annahmen allerdings ab, die der hagiographischen und der nüchtern-politischen Deutung gemeinsam sind. Für ihn steht erstens fest, dass die Athener Richter im Wesentlichen nach ihren eigenen Maßstäben richtig handeln. Nur so lässt sich aus seiner Sicht verstehen, dass sie als Vertreter des griechischen Prinzips auftreten und der Prozess die Dimension eines weltgeschichtlichen, tragödienartigen Konflikts annimmt. Dies bedeutet, dass der sokratische Prozess für Hegel keine Farce, kein Justizskandal oder politischer Schauprozess ist. Die Richter können für ihn nur dann die Vertreter ihres weltgeschichtlichen Prinzips sein, wenn sie prinzipiengetreu handeln, also entsprechend den Tugendnormen. Dieser Annahme entspricht, zweitens, dass Sokrates im Sinne der Anklage schuldig ist. Wie ein tragischer Held, der zwar prinzipienhaft handelt und dennoch schuldig wird, verletzt auch Sokrates laut Hegels Deutung die griechischen Vorstellungen von Sittlichkeit. Diese Bewertung Hegels wurde vor allem von Vertretern der hagiographischen Deutung als skandalös wahrgenommen. Ernst Sandvoss beispielsweise wirft Hegel empört einen »Antisokratismus« vor. 138 Hegel bezieht allerdings nicht einseitig Stellung für die Athener Richter. Das weltgeschichtliche Prinzip der Griechen, das die Athener Richter vertreten, hat sich in Hegels Augen überlebt. Schon vor Sokrates’ Kritik an der griechischen Auffassung von Tugendnormativität und Kooperation wird deutlich, dass das griechische Selbstverständnis und die pólis-Gemeinschaft gravierende Mängel aufweisen, die eine radikale Neuerung unumgänglich machen. Sokrates reagiert auf diese Mängel. Als Vertreter eines neu-
134 135 136 137 138
Zitiert nach Sandvosss (1966), S. 171. Zitiert nach Hegel, S. 497. Ebd., S. 508. Meier (2001), S. 29. Sandvoss (1966), S. 178.
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en weltgeschichtlichen Prinzips muss er aber zugleich zerstörerisch auf die Gemeinschaft und Kooperation der Griechen wirken, da er ihre Mängel umso deutlicher herausstellt. Aus Sicht der Griechen macht er sich daher schuldig: Sokrates ist der Heros, daß er mit Bewußtsein das höhere Prinzip des Geistes erkannt und ausgesprochen hat. Dieses höhere Prinzip hatte absolute Berechtigung. Indem es jetzt auftritt, erscheint es notwendig in Verhältnis zu einer anderen Gestalt des geistigen Bewußtseins, die das Substantielle des athenischen Lebens, der Welt, in der Sokrates auftrat, ausmachte. Das Prinzip der griechischen Welt konnte noch nicht das Prinzip der subjektiven Reflexion ertragen; so ist es als feindlich zerstörend aufgetreten. […] Das ist die Stellung der Heroen in der Weltgeschichte überhaupt; durch sie geht die neue Welt auf. Dieses neue Prinzip ist in Widerspruch mit dem bisherigen, erscheint als auflösend; die Heroen erscheinen also als gewaltsam, die Gesetze verletzend. Sie finden individuell ihren Untergang; aber dies Prinzip dringt selbst, wenngleich in anderer Gestalt, durch und untergräbt das vorhandene. Dieses Sokratische Prinzip ist dies, was in anderer Gestalt dem griechischen Leben den Untergang brachte […]. 139
Selbst wenn wir die geschichtsphilosophische Beschreibung ausblenden, mit der Hegel den Prozess zu einem weltgeschichtlichen Ereignis erhebt, verleiht Hegels Deutung dem Prozess schon dadurch Tiefe, dass sie anders als andere gängige Deutungen allen Prozessteilnehmern zugesteht, aufrichtig und aus vernünftigen Gründen zu handeln. Der Konflikt, den Hegel eine weltgeschichtliche Kollision nennt, entsteht durch den Gegensatz verschiedener Perspektiven und unterschiedlicher Handlungsprinzipien. Dadurch entgeht Hegel der Verflachung der hagiographischen Deutung, die ohne Vorbehalte Partei ergreift. Zu seiner ausgewogenen Deutung des Konflikts gehört aber auch, dass er die Verfehlungen des Sokrates als solche erkennt. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie untersucht Hegel die sokratische Verteidigung und kommt zu dem Ergebnis, dass Sokrates dem eigentlichen Kern der Anklage ausweicht: Diese Antwort [des Sokrates auf die Anklage, MP] ist nach einer Seite wohl richtig, wir sehen aber, daß wir auch hier Sokrates’ Antwort nicht erschöpfend nennen können, denn der eigentliche, wesentliche Punkt der Anklage ist nicht berührt. 140
139 140
Hegel, VGPhil.I S. 514 f. Ebd., S. 504 f.
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So wehrt sich Sokrates gegen den Vorwurf, er verderbe die Jugend, indem er auf seine vorbildliche, rechtschaffene Lebensführung verweist, die ihm sogar vom delphischen Orakel bestätigt wurde. 141 Gegen den Vorwurf der Asebie und der Einführung neuer Götter wendet Sokrates ein, er habe »die gleichen Opfer wie jeder andere an den öffentlichen Altären immer gebracht« 142. Bemerkenswerterweise verhält sich Sokrates in seiner Verteidigung wie ein Sophist, indem er die Anklageschrift wörtlich nimmt und nicht sinngemäß interpretiert. Sokrates tut also so, als wollten die Athenern hören, ob er an den religiösen Riten in der üblichen Weise teilnehme oder wer der bessere Erzieher für ihre Kinder sei. Hegel weist aber darauf hin, dass es den Anklägern aller Wahrscheinlichkeit nach eben nicht nur um das äußerliche Verhalten gehe, um Lippenbekenntnisse an den Altären der Götter, sondern um die geteilten Überzeugungen, die von den Riten symbolisiert werden und die Sokrates durch seine Kritik untergräbt. Sokrates erkennt die objektiven Tugendnormen – die in den griechischen Göttern personifiziert sind – nicht als letzten Bestimmungsgrund des Handelns an. Mit seiner Einsicht in die Irreduzibilität der Entschließung verlegt er diesen Bestimmungsgrund in das handelnde Subjekt selbst (siehe Abschnitt VI.4). In diesem Sinn verweigert Sokrates tatsächlich den traditionellen Göttern seine Anerkennung und führt mit seinem daímon, der für die Gewissensentscheidung steht, einen neuen »Gott« ein: »Diese innere Gewißheit ist allerdings ein anderer neuer Gott, nicht der bisherige Gott der Athenienser; und so ist die Anklage gegen Sokrates ganz richtig.« 143 In ähnlicher Weise attackiert Sokrates die griechische Vorstellung von Sittlichkeit, indem er in das traditionelle Verhältnis zwischen Eltern und Kindern eingreift. Sokrates stellt den Gehorsam in Frage, den die Kindern ihren Eltern nach der griechischen Auffassung von Pietät zu leisten haben, und macht ihn von der Lebensführung der Eltern abhängig. Indem er die Kinder dazu anhält, die Anweisungen der Eltern kritisch zu prüfen und den Gehorsam vom eigenen Urteil abhängig zu machen, zeigt sich beispielhaft seine Kritik am Zwei-Phasen-Modell der Tugend. Das sittliche Pietätsverhältnis zwischen Eltern und Kindern bei den Griechen beruht auf ihrer Auffassung, die Anwendung von Normen Ebd., S. 503. Ebd., S. 499. Vgl. Xenophon, Apologie § 11–13 und Xenophon, Memorabilia I.1, § 2–6. 143 Hegel, VGPhil.I S. 503. 141 142
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ließe sich von der freien Gestaltung und metastufigen Bewertung dieser Normen trennen – und müsse während der Erziehung als Zeit des Tugenderwerbs auch getrennt werden (siehe Kapitel III.3). Die sokratische Kritik am Zwei-Phasen-Modell sittlicher Normen und der zugehörigen Trennung zwischen Normanwendung und -gestaltung wendet sich daher auch direkt gegen das griechische Familienverhältnis und fordert ein neues Verständnis von Erziehung, bei dem der Zögling nicht ausschließlich als gehorchend betrachtet wird, sondern ihm zumindest die Möglichkeit eines eigenen Urteils zugebilligt wird. Folglich ›verdirbt‹ Sokrates tatsächlich die Jugend in den Augen der Athener, da er die Pietät als Grundlage der Erziehung anzweifelt und so die Autorität der Eltern untergräbt. Aus diesem Grund erklärt Hegel Sokrates für schuldig in den beiden Anklagepunkten im eigentlichen Sinn: Nach den athenischen Gesetzen, d. h. nach dem Geiste des absoluten Staats, war dieses beides, was Sokrates tat, zerstörend für diesen Geist. Bei unserer Verfassung ist das Allgemeine der Staaten ein strengeres Allgemeines, das die Einzelnen allerdings freier um sich herumspielen läßt; sie können diesem Allgemeinen nicht so gefährlich werden, α) Es ist allerdings eine Umkehrung des atheniensischen Staats, wenn diese öffentliche Religion zugrunde geht, auf die sich alles baut, da bei uns der Staat mehr für sich absolute Gewalt ist. Der Dämon ist auch andere Gottheit als die anerkannten; dies stand in Widerspruch mit der öffentlichen Religion, machte sie einer subjektiven Willkür fähig. Die bestimmte Religion hing so innig mit dem öffentlichen Leben zusammen, daß ohne sie der Staat nicht bestehen konnte; die Religion machte eine Seite der öffentlichen Gesetzgebung. Und dem Volke war daher notwendig die Einführung eines neuen Gottes, der das Selbstbewußtsein zum Prinzip machte und den Ungehorsam veranlaßte, ein Verbrechen. Darüber können wir mit den Athenern rechten; dies war aber konsequent, notwendig, β) Das Stören des Verhältnisses der Eltern und Kinder ist auch nicht unwahr. Der sittliche Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern ist noch fester, viel mehr noch sittliche Grundlage des Lebens bei den Atheniensern als bei uns, wo die subjektive Freiheit ist. Die Pietät ist der Grundton, das Substantielle des atheniensischen Staats. Sokrates hatte das athenische Leben in zwei Grundpunkten verletzt und angegriffen; die Athener fühlten es, und es kam ihnen zum Bewußtsein. Ist es also zu verwundern, daß Sokrates schuldig befunden wurde? 144
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Hegel, VGPhil.I S. 507 f.
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Sokrates’ Schuld entsteht allerdings nicht aus charakterlicher Schlechtigkeit oder irrtümlichen Handeln. Vielmehr verletzt er aus tieferen, systematischen Gründen die Normen der griechischen Sittlichkeit, da er aus einem anderen Prinzip und Verständnis von Normativität heraus handelt. Das neue weltgeschichtliche Prinzip der Innerlichkeit ist mit dem griechischen Prinzip inkompatibel. Diese Unvereinbarkeit gilt in Hegels Geschichtsphilosophie grundsätzlich für jeden welthistorischen Übergang, bei dem ein neues Prinzip ein altes ablöst. Im Fall der griechischen pólis wiegt sie allerdings besonders schwer, da die griechische Kooperation auf der Grundlage von Tugendnormen auf den Konsens der politischen Akteure angewiesen ist. Eine abweichende sittliche Gesinnung kann nicht einfach ignoriert oder als Fremdkörper betrachtet werden, sondern bringt die sittliche »Harmonie« der Griechen, den Gleichklang der tugendhaften Urteile aus dem Takt. Die griechische Kooperation ist daher in besonderem Maße fragil, da sie auf einem Verständnis von Normativität aufbaut, welches keinen Raum für sittliche Pluralität und Toleranz lässt. Die sokratischen Forderungen nach »Innerlichkeit« und einer Praxis des Gewissens wirken tatsächlich zersetzend für die griechische pólis-Gemeinschaft. Indem Sokrates die Objektivität der Tugendnormen bezweifelt, bringt er den Götterhimmel einer substantiellen Sittlichkeit ins Wanken, und er verdirbt die Jugend für die Teilnahme an der tugendhaften Kooperation, indem er sie die Notwendigkeit des neuen Prinzips der Innerlichkeit lehrt. Nach dieser Deutung Hegels ist es nicht nur das gute Recht der Athener, Sokrates zu verurteilen, sie haben sogar gewissermaßen die Pflicht, sich, ihre Gemeinschaft und die Weise ihres Zusammenlebens gegen die sokratischen Angriffe zu verteidigen. Die weltgeschichtliche Besonderheit des Sokrates bleibt allerdings im ersten Teil des Prozesses noch unsichtbar: Die Athener unterschätzen noch die Radikalität seiner Einsicht und verurteilen ihn nach gängigen Kategorien des griechischen Prinzips, die sie auch gegen die Sophisten oder andere Abweichler und Störenfriede vorgebracht hätten. Im zweiten Teil des Prozesses ändert sich dies und die Griechen erkennen die wahre Bedeutung des Sokrates. Im nächsten Abschnitt gehe ich auf dieses Sichtbarwerden der Besonderheit des Sokrates ein.
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VI.5.3 Das Rätsel der achtzig Richter und die Verweigerung des Sokrates Der erste Teil des Prozesses gegen Sokrates verläuft mehr oder weniger in gewohnten Bahnen für die Athener Richter. Trotz der Eigenwilligkeiten des Sokrates während seiner Verteidigungsrede und der offenbar aufgeheizten Stimmung unter Richtern, die mit Zwischenrufen und Unmutsbekundungen Sokrates’ Rede stören, bewegen sich die Ereignisse des Prozesses wohl im Rahmen dessen, was die Griechen von einem derartigen Verfahren erwarteten. Im zweiten Teil des Prozesses ändert sich dies jedoch und die gewohnten Muster werden durchbrochen. Am Verhalten der Richter können wir erkennen, dass ihrer Ansicht nach etwas Ungeheuerliches geschieht: Im griechischen Gerichtsverfahren hatte der Verurteilte nach der Verkündung seines Urteils die Gelegenheit, ein alternatives Strafmaß vorzuschlagen. Anschließend stimmten die Richter zwischen diesem Vorschlag des Verurteilten und der Strafforderung der Anklage ab. Da die Ankläger des Sokrates in ihrer Anklageschrift die Todesstrafe gefordert hatten, gingen die Athener vermutlich davon aus, dass Sokrates im Gegensatz dazu entweder eine hohe Geldstrafe anbieten würde oder den üblichen Antrag stellen würde, die Todesstrafe in eine Verbannung umzuwandeln, wie es bereits in den ähnlichen Asebie-Prozessen gegen Anaxagoras und Protagoras geschehen war. 145 Sokrates weigert sich jedoch, diesen Beispielen zu folgen. Je nachdem, ob wir uns an Xenophons oder Platons Überlieferung orientieren, lehnt es Sokrates entweder gänzlich ab, ein Strafmaß für sich vorzuschlagen, 146 oder er fordert sogar, wie die Olympiasieger durch Speisung im Prytaneion für seine Verdienste um die Stadt geehrt zu werden. 147 Auf Drängen seiner Anhänger nimmt Sokrates diese Provokation zurück und schlägt eine verhältnismäßig geringe Geldstrafe von dreißig Minen vor. 148 Dieses Zwischenspiel schlägt hohe Wellen. In der zweiten Abstimmung wendet sich die Gerichtsversammlung endgültig gegen Sokrates und verurteilt ihn mit 360 gegen 140 Stimmen zum Tod. Dieses zweite Ergebnis verrät uns, dass für viele Richter ein Bruch
Scholz (2000), S. 166. Xenophon, Apologia 22. 147 Platon, Apologie 36b-37a. 148 Ebd., 38b. Diogenes Laertius hingegen erwähnt Quellen, die von 25 und 100 Drachmen sprechen (Diogenes Laertius, Vitae II.5.41). 145 146
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im gewöhnlichen Prozessverlauf stattgefunden hat: Achtzig der Athener Richter, die Sokrates in der ersten Abstimmung noch für unschuldig erklärten, votieren bei der zweiten Abstimmung für seine Hinrichtung. Diese radikale Meinungsänderung schafft offensichtlich Erklärungsbedarf. Wir können aufgrund der unterschiedlichen Überlieferungen nur vermuten, was Sokrates in seiner zweiten Rede vor den Richtern sagt. Seine Äußerungen oder sein Verhalten müssen jedoch derart erschütternd gewesen sein, dass selbst einige unter den Richtern, die zuvor geneigt waren, an die Unschuld des Sokrates zu glauben, jetzt seinen Tod wünschen. Der Stimmungsumschwung der achtzig Richter stellt somit ein Rätsel des sokratischen Prozesses dar. Eine historische Deutung der Ereignisse muss zumindest versuchen, diese Wendung plausibel zu erläutern. Hegels Interpretation des Prozesses hat gegenüber den beiden traditionellen Deutungen, die ich im vorigen Abschnitt VI.5.2 vorgestellt habe, den Vorteil, dass er diesen Stimmungsumschwung als Ereignis ernst nimmt und eine angemessene Erklärung anbietet. Für Vertreter der hagiographischen Deutung wie beispielsweise Sandvoss und Tennemann ist der Sinneswandel der achtzig Richter nicht einmal besonders bemerkenswert: Ihrer Ansicht nach handeln die Athener von Anfang an irrational, als sie Sokrates vor Gericht stellen. In dieser Deutung sind Jähzorn und gekränkte Eitelkeit die Auslöser des Prozesses und die Handlungsmotivation der Griechen während des Verfahrens. Demnach erscheint es nicht weiter verwunderlich, wenn sich die Richter auch während des Prozesses launisch verhalten. Der Stimmungsumschwung der achtzig Richter dient dieser Deutung lediglich als ein weiterer Beleg für die Irrationalität des Gerichtsverfahrens. Auf diese Weise wird das Verhalten der Richter allerdings nicht erklärt, sondern die Frage nach einer vernünftigen Erklärung dieses Vorfalls wird abgewiesen. Dies bedeutet, dass diese erste Deutung den Stimmungsumschwung gar nicht als ein einschneidendes Ereignis im Prozess wahrnehmen kann, da ihre Grundannahme darin besteht, dass sich die Athener auch von Kleinigkeiten provozieren ließen und selbst ein lästiges Auftreten mit dem Tod bestrafen wollten. Der Sinneswandel der Achtzig sei demnach auf die gleiche emotionale Trotzreaktion zurückzuführen, welche die Ursache des Prozesses sei. Während die erste Deutung zumindest eine psychologisierende Verursachung anführt, fällt es der zweiten, nüchtern-historischen Deutung erheblich schwerer, den Stimmungsumschwung irgendwie zu erläutern. Nach der zweiten Deutung liegen dem Prozess vor allem äußerliche Motive wie Rache425 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
VI · Sokrates und das Ende der Tugend
gelüste und Machtkämpfe zwischen politischen Fraktionen zugrunde. Diese Gemengelage aus Ressentiments und Fraktionskämpfen ändert sich jedoch während des Prozesses nicht. Somit wäre eigentlich anzunehmen, dass die Richter in der ersten und zweiten Wahl gleich entscheiden, jeweils abhängig von ihrer Zugehörigkeit zu den entsprechenden politischen Cliquen. Da die Anhänger dieser Deutung den Prozess als ein symbolisches Stellvertreterverfahren sehen, dessen Verlauf durch eine politische Konstellation erklärt wird, die dem Prozess als solchem äußerlich ist, fällt es ihnen schwer, einen radikalen Bruch innerhalb dieses Prozesses zu erklären. Die Logik äußerer Ereignisse und die innere Abfolge passen nicht zusammen. Hegels Interpretation hingegen, die ich in diesem Abschnitt vorstelle, besitzt den Vorzug, dass sie erstens die ursprüngliche Motivation der Athener Richter als ein vernünftiges, prinzipiengeleitetes Verhalten versteht und zweitens auch den Stimmungsumschwung in der gleichen Weise deutet. Hegel zufolge entscheiden sich die achtzig Richter nicht aus Irrationalität und massiver Inkonsequenz um, indem sie sich etwa von einer weiteren Provokation des Sokrates in seiner zweiten Rede dazu aufstacheln lassen, ihn hinzurichten. Stattdessen erkennen die Richter durch Sokrates’ Weigerung, ein eigenes Strafmaß vorzuschlagen und so dem Urteil über sich zuzustimmen, dass Sokrates in einem fundamentalen Dissens zu ihnen steht. Sie beginnen zu ahnen, dass Sokrates mehr ist als bloß ein schlechter Vertreter des Prinzips der Tugend, der aufgrund von Charakterschwäche oder Irrtum die Jugend verdirbt und seinen religiösen Pflichten nicht nachkommt. Seine Weigerung ist für sie ein erster Hinweis auf die weltgeschichtliche Bedeutung des Prozesses. Indem Hegel die Reaktion der Richter nicht auf blinden Jähzorn reduziert, sondern ihnen ein vernünftiges Verhalten zuschreibt, basiert seine Deutung auf einem geschichtsphilosophischen principle of charity im Gegensatz zu den traditionelleren Deutungen. In diesem Abschnitt stelle ich Hegels Deutung dieser Wendung vor und erläutere zunächst, wie sich aus Sicht der Richter der erste Teil des Prozesses vom zweiten unterscheidet. Ich erkläre, wie Sokrates’ Verweigerung der Zustimmung von den Richtern als radikaler Bruch mit der Gemeinschaft aufgefasst wird. Die Todesstrafe ist nach dieser Deutung eine Reaktion auf diesen Bruch und nicht etwa auf die vermeintlichen oder tatsächlichen früheren Vergehen des Sokrates. Insofern ist die zweite Abstimmung über das Strafmaß unabhängig von der ersten Abstimmung. Anschließend gehe ich auf die 426 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Sichtweise des Sokrates ein und diskutiere, wie sich diese Perspektive von der Sichtweise der Richter unterscheidet und wie sich aus seiner Sicht die Verweigerung der Zustimmung begründen lässt. Das eigentliche Prozessgeschehen muss laut Hegel über den Unterschied und den Konflikt dieser beiden Perspektiven verstanden werden – hierin zeigt sich die Parallele zum dramatischen Konflikt einer Tragödie. Für Hegel stellen die zweite Rede des Sokrates und die anschließende Abstimmung über das Strafmaß einen Wendepunkt des Prozesses dar. Im ersten Teil des Prozesses, der eigentlichen Verhandlung, sind das Thema die Vorwürfe der Anklage gegen Sokrates. Die Richter entscheiden, ob Sokrates ihrer Ansicht nach die sittlichen Normen ihrer Gemeinschaft verletzt hat. Beurteilt wird also das Verhalten des Sokrates, das dem Prozess vorangegangen ist, zum Beispiel seine zahllosen Gespräche und Diskussionen, sein Unterricht der Jugend sowie seine Teilnahme am öffentlichen Leben, etwa den religiösen Riten. Der entsprechende Zeitraum erstreckt sich somit über Jahrzehnte. Im zweiten Teil des Prozesses verschiebt sich der Fokus. Nun geht es nicht mehr um frühere Handlungen des Sokrates, sondern um sein Verhalten während des Prozesses. Auch ist die eigentliche Frage nicht mehr, ob Sokrates gegen bestimmte Tugendnormen verstoßen habe. Stattdessen stehen die Berechtigung der Normen überhaupt und die Autorität der Richter selbst auf dem Spiel, wie Hegel erläutert: In dem Prozesse des Sokrates haben wir die zwei Seiten zu unterscheiden: die eine den Inhalt der Anklage, die Verurteilung durchs Gericht; die andere das Verhältnis des Sokrates zum Volke, zum Souverän. In dem Rechtsgange liegt das Gedoppelte: das Verhalten des Angeklagten, wegen dessen er angeklagt wird, und das Verhalten desselben gegen das Volk, gegen die Kompetenz oder Anerkennung der Majestät desselben. Sokrates ist schuldig von den Richtern befunden worden, in Ansehung des Inhalts seiner Anklage; aber zum Tode ist er verurteilt worden, weil er die Kompetenz des Volkes, die Majestät desselben über einen Angeklagten anzuerkennen sich weigerte. 149
Die »zwei Seiten« des Prozesses, die Hegel im obigen Zitat unterscheidet, entsprechen den beiden zeitlichen Abschnitten des Verfahrens. Im ersten Teil geht es um »das Verhalten des Angeklagten, wegen dessen er angeklagt wird«, also um die inhaltliche Prüfung der 149
Hegel, VGPhil.I S. 498.
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Vorwürfe. Dieser erste Teil erscheint den Richtern noch als ein gewöhnlicher Prozess, da sie die gängigen sittlichen Kategorien auf Sokrates anwenden und die einschlägigen sittlichen Normen prüfen. Auch wenn seine Zeitgenossen Sokrates fraglos für einen Sonderling halten, sehen sie sein Verhalten nicht als etwas radikal Neues an. Aus diesem Grund greifen sie auf gängige Begrifflichkeiten wie den Vorwurf der Asebie zurück, um seine Handlungen einzuordnen. Für die Griechen scheint es also, als füge sich Sokrates in bekannte Denkmuster ein. Im zweiten Teil des Prozesses ändert sich dies. Durch die sokratische Weigerung, ein Strafmaß vorzuschlagen, steht plötzlich sein »Verhalten […] gegen das Volk, gegen die Kompetenz oder Anerkennung der Majestät desselben« im Vordergrund. Sokrates entfacht auf diese Weise eine Diskussion auf der Metaebene: Statt einfach wie bisher die Tugendnormen anzuwenden und zu beurteilen, ob das konkrete Verhalten des Sokrates unter diese Normen fällt oder sie verletzt, wird jetzt die Zulässigkeit der Anwendung dieser Normen durch die Richter thematisiert. Die ursprüngliche Frage »Verdirbt Sokrates mit seinem Verhalten die Jugend?« wird durch die neue Frage »Dürfen die Athener über die Frage urteilen, ob Sokrates mit seinem Verhalten die Jugend verdirbt?« ersetzt. Da Hegel den Prozess in Analogie zum dramatischen Geschehen einer Tragödie deutet, deren Konflikt durch die Unvereinbarkeit zweier Sichtweisen entsteht, müssen wir auch für den zweiten Teil des Gerichtsverfahrens zwei Perspektiven unterscheiden. Aus der Perspektive der Richter stellt sich Sokrates’ Verweigerung so dar, als spreche er ihnen grundsätzlich die Kompetenz ab, über ihn zu urteilen. Für die Athener Richter ist dies eine schwerwiegende Unterstellung: Da nach griechischer Auffassung der Besitz der Tugend die einzige Voraussetzung ist, um an der gemeinsamen Korrekturpraxis teilzunehmen und somit auch das Richteramt auszuüben (siehe Abschnitt VI.5.1), bedeutet der Zweifel an der Kompetenz der Richter für sie nichts anderes als einen Zweifel an ihrer Tugend. Ein solcher Zweifel erscheint den Richtern als eine Ungeheuerlichkeit. Die Tugend ist in den Augen der Griechen die Fähigkeit zur vollwertigen Teilnahme am politischen Leben, sie ist daher die Bedingung für die Anerkennung als ebenbürtiges Kooperationssubjekt. Es erscheint ihnen daher so, als spreche Sokrates mit seiner Verweigerung ihnen nicht etwa nur juristische Kompetenz ab, sondern stelle sogar ihre Berechtigung als pólis-Bürger und vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft in Frage. Hegel formuliert den Konflikt des zweiten Pro428 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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zessabschnitts daher auch in Begrifflichkeiten der Anerkennung und der Gemeinschaft: Das Verhalten des Sokrates richte sich »gegen das Volk, gegen die Kompetenz oder Anerkennung desselben« 150. Durch diese Verschiebung von einer Frage der Normentsprechung zur Frage der grundlegenden Anerkennung findet für die Richter ein Paradigmenwechsel statt: Im ersten Teil des Prozesses, in dem sie das Verhalten des Sokrates nach den Maßstäben der gemeinsamen Tugendnormen beurteilen, fassen sie Sokrates noch als ein Mitglied ihrer Gemeinschaft auf. Die Gerichtsprozesse gehören für die Griechen zur selbstbestimmten Kooperation, sie bilden einen Bestandteil einer gemeinsamen Selbstkorrektur. Das heißt, nach ihrer Auffassung wird nicht einfach über den Angeklagten entschieden, sondern der Angeklagte behält für sich seine Autonomie und wird »selbst zum Richter über sich konstituiert« 151, indem er dem Gerichtsurteil über sich zustimmt. Die Verweigerung des Sokrates im zweiten Teil des Prozesses hingegen werten die Richter als einen Selbstausschluss aus der Gemeinschaft: Weil Sokrates ihrer Ansicht nach den Richtern und sogar der Gesamtheit der pólis-Bürger die sittliche Urteilskompetenz und damit die Anerkennung abspricht, bricht er die gemeinsame Kooperation ab und stellt sich selbst außerhalb der pólis. Dieser zunächst einseitige Abbruch der Kooperation durch Sokrates zwingt die Richter dazu, ihrerseits Sokrates aus der Gemeinschaft auszuschließen. Da er sich weigert, dem Urteil zuzustimmen, erscheint er den Richtern unbelehrbar und somit ohne Tugend. Seine Verweigerungshaltung disqualifiziert ihn für die weitere Teilnahme am gemeinsamen Leben. Somit müssen die Richter ihm ebenfalls die Anerkennung als Kooperationssubjekt absprechen, die nach griechischem Verständnis an die Anerkennungsbedingung der Tugend gebunden ist. Dem Anschein nach schließt Sokrates sich zuerst selbst aus der pólis aus und die Richter bestätigen mit ihrer Entscheidung lediglich diesen Ausschluss. Nach dem Verständnis der Richter ist es nun nicht mehr möglich, Sokrates auf die herkömmliche Weise zu be- oder verurteilen. Die sittlichen Normen der Gemeinschaft haben für ein Subjekt außerhalb dieser Gemeinschaft keine Geltung, weil sie wesentlich selbstbestimmte Normen sind. Somit spielen ab diesem Wendepunkt für die Richter die vermeintlichen Verfehlungen des Sokrates keine Rolle mehr, für die er im ersten Teil des Prozesses verurteilt wurde. 150 151
S. o., ebd. Ebd., S. 508.
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Für sie können strenggenommen nur diejenigen Handlungen als Verfehlungen gelten, das heißt als Abweichungen von der Tugendnorm, deren handelndes Subjekt als solches unter die Tugendnorm fällt. Dies trifft aber nach griechischer Auffassung im eigentlichen Sinn nur für die vollwertigen Mitglieder der pólis-Gemeinschaft zu, da nur diese in der Lage sind, sich selbstbestimmt auf die Tugendnormen zu verpflichten. Sobald Sokrates in den Augen der Richter de facto kein Mitglied der Gemeinschaft mehr ist, kann er nicht mehr an den Tugendnormen gemessen werden. 152 Es geht den Richtern daher nicht mehr darum, eine angemessene Strafe für ein bestimmtes Vergehen zu bestimmen, sondern nur noch, Sokrates’ Ausschluss aus der Gemeinschaft institutionell festzustellen. Auf diese Weise kann Hegel den scheinbaren Sinneswandel der achtzig Richter bei der zweiten Abstimmung erklären: Die zweite Abstimmung ist nach Hegels Deutung unabhängig von der ersten Abstimmung. Auch diejenigen Richter, die Sokrates für unschuldig im Sinne der Anklageschrift halten, können dennoch der Ansicht sein, dass sich Sokrates mit seiner Verweigerung aus der Gemeinschaft ausschließt. Demnach handeln diese achtzig Richter nicht etwa inkonsequent oder irrational. Ihrer Meinung nach werden die ursprünglichen Vorwürfe gegen Sokrates irrelevant, weil Sokrates im zweiten Teil des Prozesses sich einer radikaleren Untat schuldig macht: Er verletzt nicht etwa die Tugendnormen, sondern verwirft sie gänzlich. Ausgehend von dem griechischen Verständnis gemeinschaftlicher Selbstbestimmung bedeutet dieser Akt, dass Sokrates die eigene Selbstbestimmung als handelndes Subjekt aufgibt. Die zweite Abstimmung ist demnach eine Reaktion auf das sokratische Verhalten im Prozess und nicht etwa auf sein früheres, dem Prozess vorangegangenes Verhalten. Die Todesstrafe, die über Sokrates verhängt wird, darf nach dieser Deutung auch nicht als eine Strafe aufgefasst werden, die in irgendeiner Proportion zu einem besonderen Vergehen steht. Vielmehr steht die Todesstrafe in Hegels Deutung für den absoluten Abbruch der Kooperation zwischen Sokrates und den pólis-Bürgern. Weil Sokrates es ausdrücklich abgelehnt hatte, in die Verbannung zu gehen, 153 erscheint seine Hin152 Nach diesem Verständnis können Nichtgriechen und natürliche Sklaven ebenfalls nicht lasterhaft sein, da sie im strengen Sinn nicht unter die Tugendnorm fallen. Ihnen fehlt die Tugend, es handelt sich also um eine grundsätzliche Form der Privation. Dennoch kann ihr Verhalten natürlich im analogen oder übertragenen Sinn als lasterhaft bezeichnet werden. 153 Platon, Apologie, 37e-38a.
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richtung den Richtern als die einzige verbliebene Möglichkeit, den radikalen Ausschluss aus der Gemeinschaft zu verwirklichen. In Übereinstimmung mit seiner Analogie zwischen dem Prozess und einem Tragödiengeschehen beschreibt Hegel die Entscheidung der Richter weniger als einen willkürlichen Akt und mehr als ein Ereignis, das mit tragischer Notwendigkeit erzwungen wird. Sokrates lässt den Richtern keine Wahl, so scheint es, da er durch seine Verweigerung schon längst seinen sozialen Tod besiegelt hat. Die Richter reagieren lediglich auf diese vermeintlichen geschaffenen Fakten. Hegel spricht daher im folgenden Zitat auch nicht von Strafe, sondern vom »Schicksal« des Sokrates, um die tragische Zwangsläufigkeit des Geschehens auszudrücken: »Weil er sich nicht selbst die Strafe bestimmen wollte, weil er also die Anerkennung der richterlichen Gewalt des Volkes verschmähte, so war sein Schicksal der Tod.« 154 Aus Sicht der Richter begeht Sokrates sozialen Selbstmord, indem er sie zwingt, ihm die Anerkennung als Kooperationsmitglied zu entziehen. Zugleich entmündigt er sich als handelndes Subjekt, weil er sich die Möglichkeit nimmt, ein selbstbestimmtes Leben in Gemeinschaft zu führen. Die Richter reagieren folgerichtig auf dieses Verhalten im Prozess, so Hegels Deutung. Wir können uns allerdings vorstellen, dass ihnen Sokrates’ Handeln fundamental unverständlich bleibt. Aus griechischer Sicht gibt es keinen sinnvollen Grund, sich selbst aus der tugendhaften Kooperation der pólis auszuschließen. Sokrates ist ihnen daher fremd, was vor allem daran liegt, dass ihnen die sokratische Perspektive auf den Prozess verschlossen bleibt. Nach Hegels Deutung unterscheidet sich Sokrates’ Sicht auf den Prozess in einigen wesentlichen Punkten von derjenigen der Richter. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Sokrates seine Verweigerung der Zustimmung nicht als einen Bruch der Kooperation versteht. Anders als die Richter sieht sich Sokrates immer noch als ein Mitglied der pólis-Gemeinschaft. Er verwirft auch nicht die gemeinsamen Normen als Normen selbstbestimmten Handelns, wie ihm die Richter unterstellen. Allerdings begreift er die Seinsweise dieser Normen grundlegend anders und interpretiert auch das Verhältnis zwischen Einzelnem und der Gemeinschaft sowie die gemeinsame Bezugsweise auf die Normen anders als seine Zeitgenossen. Die Verweigerung des Sokrates ist daher nur als ein Ausdruck seiner Auffassung von Normativität angemessen zu verstehen. Leider beschreibt 154
Hegel, VGPhil.I S. 490.
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Hegel die sokratische Sichtweise auf den Prozess in seinen Vorlesungen nur mit geradezu enigmatischer Knappheit. Trotz ihrer Kürze ist die folgende Bemerkung aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aufschlussreich: Wir bewundern eine moralische Selbständigkeit, welche, ihres Rechtes sich bewußt, darauf besteht, sich nicht beugt, weder dazu, anders zu handeln, noch das für Unrecht anzuerkennen, was sie selbst für Recht erkennt. Er [Sokrates, MP] setzt sich dem Tode deshalb aus. Seine Weigerung, dem Volke seine Unterwürfigkeit gegen dessen Macht zu bezeigen, führte die Verurteilung zum Tode herbei. Weil er sich nicht selbst die Strafe bestimmen wollte, weil er also die Anerkennung der richterlichen Gewalt des Volkes verschmähte, so war sein Schicksal der Tod. Im allgemeinen hat er wohl die Souveränität des Volks, der Regierung anerkannt, aber nicht in diesem einzelnen Falle; aber sie ist nicht nur im allgemeinen, sondern in jedem einzelnen Falle anzuerkennen. Sein Los wart also der Tod. 155
In diesem Zitat weist Hegel uns vor allem auf zwei wichtige Überzeugungen des Sokrates hin: Erstens ist Sokrates entgegen der Einschätzung seiner Richter nicht der Ansicht, dass er sich mit seinem Verhalten aus der Gemeinschaft ausschließt. Weder will er die Kooperation abbrechen, noch entzieht er seinen Mitbürgern oder den Richtern die Anerkennung als ebenbürtige Subjekte: »Im allgemeinen hat er wohl die Souveränität des Volks, der Regierung anerkannt, aber nicht in diesem einzelnen Falle […].« Sokrates fühlt sich auch weiterhin der pólis-Gemeinschaft gegenüber verpflichtet und er erkennt auch die Autorität von Gemeinschaftsentschlüssen an. Dies zeigt sich am deutlichsten in seinem späteren Gehorsam gegenüber dem Urteil: Obwohl Sokrates das Urteil der Heliaía inhaltlich ablehnt und auch die Möglichkeit gehabt hätte, aus dem Gefängnis zu fliehen, lässt er sich dennoch bereitwillig hinrichten (siehe unten). Sokrates betrachtet also das Urteil über ihn als bindend. Ein eindrücklicheres Zeugnis für seine Anerkennung der pólis-Gemeinschaft ist schwerlich denkbar. Sokrates will daher mit seiner Verweigerung der Zustimmung die Kooperation auch nicht abbrechen, sondern lediglich in einer Weise modifizieren, dass sie seiner Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung gerecht wird. Sokrates’ Verweigerung ist daher nichts anderes als die Wiederholung seiner Forderung, eine Praxis des Gewissens einzurichten, die der Endlichkeit menschlichen Urteilens Rechnung trägt. An diese Forderung schließt sich auch 155
Ebd., S. 509 f.
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Sokrates’ zweite Überzeugung an: Bemerkenswerterweise widerspricht Sokrates nicht dem Gerichtsurteil, weil er es für falsch und sein eigenes Handeln für richtig hält, sondern weil er das Urteil der Richter für übergriffig hält. Sokrates behauptet ausdrücklich nicht, dass er sich fehler- und irrtumsfrei verhalten habe – dies wäre angesichts der Endlichkeit menschlichen Handelns auch eine maßlose Selbstüberschätzung. Stattdessen beansprucht Sokrates für sich, in seinen philosophischen Unterredungen stets gewissenhaft gehandelt zu haben, das heißt, sich ernsthaft, aufrichtig und sorgfältig bemüht zu haben, das Richtige zu tun (vgl. Kapitel VI.4). Im obigen Zitat formuliert Hegel diese Differenzierung noch etwas verklausuliert: Sokrates beweise »moralische Selbständigkeit«, das heißt, er reklamiere für sein Urteil, dass es nicht auf die Bestätigung durch andere angewiesen sei. Diese Selbstständigkeit erkenne es »selbst für Recht«, sich nicht dem Urteil anderer beugen zu müssen. Es geht ihm an dieser Stelle also weniger um die Richtigkeit seines früheren Handelns, als um die Berechtigung, die entsprechenden Entscheidungen fällen zu dürfen. Sokrates beansprucht für sich, mit anderen Worten, dass sein Handeln in den Bereich einer Gewissensentscheidung falle und daher von seinen Mitmenschen toleriert werden müsse. Das »Unrecht«, dem sich Sokrates nicht beugen will, ist der Eingriff in die Eigenständigkeit des Subjekts, für sich selbst seine Entschließung zu fällen. Wenige Absätze später unterstreicht Hegel in diesen Vorlesungen die Behauptung, dass Sokrates’ Anliegen vor allem die Freiheit zur Gewissensentscheidung sei: »Sokrates hat dem richterlichen Ausspruch sein Gewissen entgegengesetzt, sich vor dem Tribunal seines Gewissens freigesprochen.« 156 Sokrates gesteht folglich den Richtern zu, dass sie für sich sein Handeln als schlechtes Handeln bewerten dürfen und somit von seinem eigenen praktischen Urteil abweichen. Er pocht jedoch darauf, dass in diesem besonderen Fall aus dem Dissens zwischen ihm und seinen Mitmenschen keine Berechtigung zur Sanktion folge. Er dürfe nicht belangt werden und seine Gewissensentscheidung müsse als solche respektiert werden. Hegel kann sich für diese Interpretation direkt auf Platons Apologie berufen. Dort verteidigt sich Sokrates mit dem Hinweis auf die Lauterkeit seiner Motive, so dass er die Jugend »entweder gar nicht, oder […] unvorsätzlich« verderbe. Ein ernsthaftes Handeln ohne schlechte Vorsätze dürfe aber nicht vor Gericht geahndet werden, so Sokra156
Ebd., S. 510.
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tes. 157 Es ist kaum zu vermuten, dass Platons (und Hegels) Sokrates an dieser Stelle für einen radikalen Subjektivismus plädiert, nach dem jede gewissenhafte Entscheidung unwidersprochen respektiert werden müsse. Vielmehr ist anzunehmen, dass Sokrates glaubt, sein Verhalten falle in dieser konkreten Angelegenheit unter den Schutz der Gewissensfreiheit. Deshalb habe er laut Hegel »im allgemeinen […] die Souveränität des Volks, der Regierung anerkannt, aber nicht in diesem einzelnen Falle« 158. Im Sinne der hegelschen Deutung können wir Sokrates’ Verhalten daher an dieser Stelle so verstehen, dass er die Unterscheidung zwischen einer bestimmten Art von Urteilen eines Subjekts trifft, welche die Gemeinschaft nicht sanktionieren darf, da sie in den Ermessensspielraum des Einzelnen fallen, auf der einen Seite, sowie Urteilen, bei denen die Gemeinschaft berechtigterweise eingreifen kann, auf der anderen. Diese Unterscheidung geht einher mit dem sokratischen Konzept eines »anundfürsichseienden Allgemeinen«, einer Objektivität, die mit der Irreduzibilität der subjektiven Entschließung vereinbar ist (siehe Kapitel VI.4): Durch die symmetrische Ordnung der Ermessensspielräume, die sich die Subjekte gegenseitig für ihre Gewissensentscheidungen zubilligen, wird zugleich die Unterscheidung zwischen Handlungen festgesteckt, die innerhalb des jeweiligen Ermessensspielraums liegen, und solchen, die das Maß des Tolerierbaren überschreiten, da sie die Gewissensfreiheit anderer Subjekte verletzen. Diese Ordnung der Toleranz bildet das Fundament einer Praxis des Gewissens, wie sie Sokrates fordert. Sokrates bezeichnet daher das Urteil der Richter als »Unrecht«, weil sie aus der Tatsache, dass sie die Dinge anders sehen als er, nicht ableiten dürfen, dass er deshalb zurechtgewiesen werden müsse. Ihr Urteil sei in dieser Hinsicht genauso subjektiv wie das seinige und besitze keinen Vorrang – so glaubt zumindest Sokrates. Einen derartigen Vorrang könnte seiner Ansicht nach nur ein solches Urteil besitzen, dass irgendwie eine Verletzung der Ermessensspielräume 157 Platon, Apologie 25d-26a: Sokrates zu seinem Ankläger Meletos: »Wohlan denn, forderst du mich hierher als Verderber und Verschlimmerer der Jugend, so daß ich es vorsätzlich sein soll oder unvorsätzlich? – Vorsätzlich, meine ich. – […] Das glaube ich dir nicht, Meletos, ich meine aber, auch kein anderer Mensch glaubt es dir; sondern entweder ich verderbe sie gar nicht, oder ich verderbe sie unvorsätzlich, so daß du doch in beiden Fällen lügst. Verderbe ich sie aber unvorsätzlich, so ist es solcher und zwar unvorsätzlicher Vergehen wegen nicht gesetzlich, jemanden hierher zu fordern […].« 158 S. o., Hegel, VGPhil.I S. 509.
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nachweist, das sich also auf die Ordnung des Denkens bezieht, die »das Setzen und Produzieren eines solchen ist, was nicht gesetzt, was an und für sich ist« 159. Einerseits hat Sokrates mit seinem Einwand gegen das Richterurteil Recht: Die Endlichkeit des handelnden Subjekts wird nur dann angemessen berücksichtigt, wenn ihm ein solcher Ermessensspielraum zugebilligt wird, mit dem eine Unterscheidung zwischen zu tolerierenden und grenzüberschreitenden Urteilen geschaffen wird. Nach modernen Maßstäben müssten wir vermutlich Sokrates auch zustimmen, dass die Ausübung der Religion und die Äußerung philosophischer Überzeugungen größtenteils in diesen Ermessensspielraum gehören, das heißt, dass sie unter die Gewissensfreiheit des Einzelnen fallen. Andererseits ist das Verhalten des Sokrates höchst problematisch: Da die geforderte Praxis des Gewissens bei den Griechen noch nicht etabliert ist, muss er die Grenzen des Tolerierbaren und des Sanktionswürdigen eigenmächtig ziehen. Die Unterscheidung, die er trifft, bleibt seine willkürliche Setzung und ist daher nicht ohne Weiteres von seinen Mitbürgern anerkennbar. Gerade da bei den Griechen Religion und Erziehung viel stärker zur öffentlich-politischen Sphäre gehören als dies im modernen Staat der Fall ist, könnten Sokrates’ Richter mit gleichem Recht argumentieren, dass die Handlungen des Sokrates sehr wohl die Mitbürger angreifen und daher sanktionierbar sind. Sokrates macht sich durch seine Eigenmächtigkeit gezwungenermaßen der Selbstgerechtigkeit schuldig. Auf diese Problematik werde ich in Abschnitt VI.5.5 eingehen. Zuvor untersuche ich im folgenden Abschnitt VI.5.4, wie laut Hegel Sokrates die Differenz der Perspektiven, die zur tragischen Kollision führt, überwindet und durch sein Verhalten die Griechen dazu zwingt, die Wahrheit seiner Sichtweise zu erkennen.
VI.5.4 Hinrichtung, Gesetzeskonformismus und die Wahrheit der anderen Tugend In Hegels Analogie zwischen Prozess und tragischem Geschehen bildet das Todesurteil, das über Sokrates in der zweiten Abstimmung ausgesprochen wird, das retardierende Moment. Zu diesem Zeitpunkt scheint es so, als habe sich das griechische Prinzip gegen die sokratische Kritik an der Tugend durchgesetzt. Die letzte, eigentliche Wen159
Ebd., S. 443, siehe auch Kapitel VI.4.
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dung der Tragödie, die Peripetie, findet in dieser Darstellung nicht mehr im Gerichtsverfahren statt, sondern drückt sich in Sokrates’ Verhalten nach dem Prozess aus. Sie hat daher auch nicht mehr die theatralische Form der vorangegangenen Ereignisse, die sich in der Heliaía wie auf einer Bühne abspielen. Vielmehr wirkt der tragische Umschlag auf den ersten Blick unscheinbar: Über Sokrates wird das Todesurteil vollstreckt, das im Prozess gegen ihn ausgesprochen wird. Hegel zufolge liegt aber in der Tatsache, dass Sokrates ruhig und duldsam seine Todesstrafe akzeptiert, die weltgeschichtliche Revolution, durch die die Athener die Wahrheit seines Prinzips erkennen. Indem Sokrates sich bereitwillig hinrichten lässt, handle er im Einklang mit seiner Einsicht in die Notwendigkeit des Gewissens und schlage zugleich eine neue Kooperationsweise vor, die ich hier »Gesetzeskonformismus« nenne und die bereits gewisse Ähnlichkeiten mit dem abstrakten Recht in Hegels modernem Staat besitzt. Die Athener hingegen werden durch das sokratische Verhalten gezwungen, ihren Glauben an die Objektivität der Tugendnormen aufzugeben. In diesem Abschnitt untersuche ich Hegels Darstellung der letzten Tage des Sokrates und rekonstruiere seine Begründung, wie die sokratische Opferbereitschaft den Athenern als unmissverständlicher Beweis des neuen weltgeschichtlichen Prinzips erscheint. Zuerst gehe ich dabei auf die sokratische Perspektive und die Begründung seines Gesetzeskonformismus ein, die sich aus dem sokratischen Prinzip der Innerlichkeit speist. Anschließend skizziere ich die Wahrnehmung der Athener Richter und erläutere, wie Sokrates mit seinem Gehorsam gegenüber dem Todesurteil ihre Erwartungen auf den Kopf stellt und zur paradoxen Figur der »anderen Tugend« wird, die dem Glauben an die Objektivität der Tugend widerspricht. Hegel orientiert sich in seiner Darstellung von Sokrates’ letzten Tagen vor allem an Platons Dialogen Kriton und Phaidon: Nach der Verurteilung wird Sokrates zunächst für einige Tage ins Gefängnis gebracht. Die Vollstreckung der Todesstrafe verzögert sich aufgrund religiöser Vorschriften, weil die Athener die Ankunft eines rituellen Festzugs aus Delos abwarten und während dieser Zeit niemand hingerichtet werden darf. 160 Im Gefängnis wird Sokrates von Freunden besucht, die ihn zur Flucht drängen, Sokrates lehnt dies aber mit Hinweis auf seine Verpflichtung gegenüber den Gesetzen der Stadt ab.
160
Platon, Phaidon 58b.
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Sokrates bleibt also aus freien Stücken im Gefängnis. Hegel zitiert Sokrates’ Begründung hierfür aus Platons Phaidon: […] daß nämlich, weil die Athenienser es für besser erachtet, mich zu verurteilen, darum auch ich es für besser erachtet, hier zu sitzen, und für gerechter, zu bleiben und die Strafe zu erdulden, welche sie beschließen würden« (wir müssen uns erinnern, daß einer seiner Freunde alles zur Flucht für Sokrates eingerichtet hatte, der dies aber abschlug), »denn sonst, beim Hunde, wie längst würden diese Knochen und Muskeln zu Megara oder in Böotien sein, von der Meinung des Besten fortbewegt, wenn ich es nicht für gerechter und schöner hielte, statt zu fliehen und davonzulaufen, der Strafe mich zu unterwerfen, welche der Staat mir auflegt. 161
Auch bei seiner Hinrichtung bleibt Sokrates bis zum Schluss gefasst und hadert nicht mit seinem Schicksal: Daß Sokrates seinem Tode auf die edelste, ruhigste (männliche) Weise entgegengegangen, ließ sich von Sokrates nicht anders erwarten. Platons Erzählung der schönen Szenen seiner letzten Stunden, obgleich nichts Ausgezeichnetes enthalten, ist ein erhebendes Bild und wird immer die Darstellung einer edlen Tat sein. 162
Hegel folgt also Platon in dessen Darstellung, dass Sokrates den Schierlingsbecher nicht unter Gewaltandrohung trinkt, sondern aus eigener Entscheidung. Sokrates wird zwar zum Tod verurteilt, aber er behält dennoch seine Autonomie und bleibt Handelnder. Er stirbt, weil er es für »gerechter und schöner« hält, obwohl ihm die Flucht offenbar ein Leichtes gewesen wäre, da er nur nachlässig bewacht wurde und die Wärter mit einem geringen Betrag bestochen werden konnten. 163 Auf den ersten Blick mag diese Bereitschaft des Sokrates überraschen. Schließlich lehnt er das Urteil der Richter in doppelter Hinsicht ab: Zum einen hält er sich für unschuldig in beiden Anklagepunkten. Weder glaubt Sokrates, dass er die Jugend mit seiner Philosophie verdirbt, noch sieht er ein, dass er mit seinem daímon die griechische Götterwelt erschüttert. Zum anderen denkt Sokrates, dass die Richter mit dem Urteil ihre Kompetenz überschreiten. Selbst wenn er schuldig im Sinne der Anklage wäre, stünde es dem Gericht nicht zu, ihn für diese Verfehlungen zu sanktionieren, so der sokratiHegel, VGPhil.I S. 396. Vgl. Platon, Phaidon 98e-99a. Hegel, VGPhil.I S. 511. 163 Platon, Kriton, 45a: »Denn zuerst ist es nicht einmal viel Geld, wofür einige dich retten und von hier wegführen wollen. Und dann, siehst du nicht diese Angeber, wie wohlfeil sie sind und wie gar nicht viel Geld für sie nötig würde?«. 161 162
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sche Einwand. Sein Verhalten fällt für ihn in den Bereich der Gewissensentscheidung. Folglich müssen seiner Ansicht nach die Athener Bürger sein Handeln respektieren, auch wenn sie die entsprechenden praktischen Urteile für falsch halten, solange er die Bedingungen gewissenhaften Handelns der Aufrichtigkeit und Sorgfalt erfüllt (siehe Abschnitt VI.5.3). Für Sokrates ist das Gerichtsurteil daher sowohl inhaltlich falsch als auch formal unberechtigt. Angesichts dieser doppelten Kritik scheint es nahe zu liegen, die Verurteilung nicht anzuerkennen und sich ihren Folgen in irgendeiner Weise zu entziehen. Dies tut Sokrates allerdings nicht. Stattdessen behauptet er, es sei »gerechter und schöner«, die Strafe auf sich zu nehmen. Diese sokratische These, es könne gerechter sein, einem Unrechtsurteil zu folgen als ihm nicht zu folgen, ist charakteristisch für seine Auffassung von Normativität. Indem er sich dem Urteil seiner Richter unterwirft, folgt Sokrates dem weltgeschichtlichen Prinzip der Innerlichkeit und gibt uns einen Hinweis darauf, wie er sich die Verwirklichung der Praxis des Gewissens vorstellt. Nach dem Prinzip der Tugend hätte Sokrates durchaus einen guten Grund, vor der Hinrichtung zu fliehen: Ein Gerichtsurteil bezieht innerhalb der tugendhaften Kooperation seine Berechtigung aus der Umsetzung der gemeinsamen Tugendnormen, auf die sich die Mitglieder der pólis gegenseitig verpflichtet haben. Nur so bleiben nach dieser Auffassung Urteil und Strafe Teil der gemeinsamen Selbstbestimmung, das heißt, die Gemeinschaft kann auf diese Weise in das Handeln eines Individuums eingreifen, ohne seine Selbstbestimmung zu beschneiden. Ein schwerwiegendes Fehlurteil scheitert hingegen an der Umsetzung der Tugendnormen. Somit fehlt ihm in den Augen der Griechen die Legitimität für einen Eingriff in die Selbstbestimmung. Nach dem Prinzip der Tugend ist es daher in der Regel nicht gerecht, einem ungerechten Urteil zu gehorchen – so wie Aristoteles sagt, es sei ungerecht, wenn der Tugendhafte von weniger Tugendhaften beherrscht wird. 164 Sokrates’ Praxis des Gewissens hingegen setzt eine Entkoppelung der Kooperation vom sittlich-tugendhaften Urteil voraus. Die Praxis des Gewissens verlangt eine Toleranz für die Entscheidungen anderer Subjekte, sofern diese sich im tolerierbaren Rahmen der Gewissensentscheidung bewegen. Folglich muss ich im Rahmen der Praxis des Gewissens auch mit solchen Menschen kooperieren, deren Entscheidungen ich als untugendhaft verwerfe. Eine 164
Aristoteles Pol. III.13, 1284b25–35.
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Gemeinschaft, die auf der Praxis des Gewissens aufbaut, benötigt also einen modus operandi, der nicht auf gemeinsamen Werturteilen beruht. In der Tugend-Kooperation wird die Einheit der Gemeinschaft und des politischen Handelns durch eine Harmonie im Urteilen geschaffen: Nach griechischer Auffassung urteilen und handeln alle tugendhaften Bürger ähnlich, weil sie scheinbar dieselben Normen auf dieselbe Weise umsetzen. Nachdem die sophistisch-sokratische Kritik diese Auffassung von einer Objektivität der Tugendnormen als frommen Wunsch entlarvt, wird es nötig, eine neue Form der Einheit von Gemeinschaft und der politischen Willensbildung zu schaffen, die eben kein gemeinsames Werturteil aller Beteiligten als Grundlage voraussetzt. Das sokratische Prinzip verlangt daher nach einer neuen Kooperationsweise, in der vom Inhalt der praktischen Überzeugungen der Teilnehmer abstrahiert werden kann, solange sie den zulässigen Rahmen des Gewissensspielraums nicht verletzen. Ein moderner Staat, in dem das sokratische Prinzip der Innerlichkeit verwirklicht ist, muss den Spagat schaffen zwischen einerseits der toleranten Liberalität des »leben und leben lassen« und andererseits einer gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit, die eine gewisse Einheit und vor allem eine gemeinsame Willensbildung erfordert. Sokrates’ zugegebenermaßen nicht besonders origineller Vorschlag für eine solche vom sittlich-tugendethischen Werturteil entkoppelte Kooperation besteht in einem Gesetzeskonformismus: Das Positive, was Sokrates an die Stelle des Festen [d. h. die vermeintliche Objektivität der Tugendnormen, MP] setzt, ist einesteils im Gegensatze wieder dieses, den Gesetzen zu gehorchen; […]. 165
Der sokratische Gesetzeskonformismus sieht also eine Unterscheidung zwischen äußerem Verhalten und innerem Urteil vor. Auf der äußeren Ebene müssen die Individuen den positiven Gesetzen gehorchen, gleichgültig, ob sie mit den zugrundeliegenden Werten oder der konkreten Intention des Gesetzesgebers einverstanden sind. Zugleich steht es den Bürgern frei, diesen Werten zu widersprechen und eine abweichende Meinung zu äußern. Genau diese Unterscheidung nimmt Sokrates mit seinem eigenen Verhalten im Prozess vor, indem er dem Urteil der Athener Richter seine Zustimmung verweigert, aber ihm dennoch gehorcht. Sokrates ist sich offenbar im Klaren, welche zersetzenden Kräfte auf die Gemeinschaft seine Einsicht in 165
Hegel, VGPhil.I S. 480.
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die Irreduzibilität der Entschließung entfaltet. Sein Gesetzeskonformismus soll die sozialen Fliehkräfte ausgleichen und eine einheitliche Interaktion der Bürger erlauben, während ihre individuellen praktischen Urteile freigelassen sind. In der dürren, inhaltsarmen Weise, in der Sokrates seinen Vorschlag äußert – genaugenommen deutet er ihn nur durch sein Handeln an –, bleibt er freilich hochproblematisch. Die griechischen Gesetze sind nicht auf einen Gehorsam bei gleichzeitiger Zurückhaltung der subjektiven Zustimmung ausgelegt. Als tugendethisch verstandene Normen sind die Gesetze der Griechen erzieherisch auf die Tugend der Bürger ausgerichtet. 166 Sokrates’ Gesetzeskonformismus, der lediglich einen innerlich distanzierten Gehorsam um des sozialen Friedens willen fordert, verletzt daher die Tugendnormen der pólis. Abgesehen von derartigen Schwierigkeiten, auf die ich im folgenden Abschnitt VI.5.5 näher eingehen werde, ist Sokrates’ Vorschlag allerdings durchaus zukunftsweisend: In seiner Beschreibung des modernen Staats entwirft Hegel das abstrakte Recht als eine solche Kooperationsform, die unabhängig von bestimmten, sittlich-tugendethischen Werturteilen ist. Die Bürger können sich mit dieser Kooperationsform des abstrakten Rechts behelfen, falls sie mit unauflösbaren Wertkonflikten innerhalb ihres Staats konfrontiert werden. Das abstrakte Recht erlaubt einen solchen Umgang, weil es den Bürger lediglich als Rechtsperson betrachtet, das heißt, es sieht von allen konkreten Charaktereigenschaften und weiteren Besonderheiten ab, insbesondere von seiner Tugendhaftigkeit: Im formellen Rechte kommt es daher nicht auf das besondere Interesse, meinen Nutzen oder mein Wohl an – ebensowenig auf den besonderen Bestimmungsgrund meines Willens, auf die Einsicht und Absicht. 167
Das abstrakte Recht schafft somit eine Umgangsform, die mir erlaubt, auch mit solchen Menschen gemeinsam zu handeln, die meine persönlichen Werte ablehnen und mich für lasterhaft halten. Die Anerkennung des anderen als Rechtsperson verlangt nicht, dass ich ihn als tugendhaft einschätze. Somit bildet das abstrakte Recht zum einen die Grundlage für eine vielfältigere, weitreichendere Kooperation als die tugendethische Kooperation der Griechen, die gezwungenermaßen auf eine homogene Gemeinschaft von Gleichgesinnten beschränkt ist (siehe auch Abschnitt IV.2.3). Zum anderen ermöglicht 166 167
Aristoteles, NE X.10. Hegel, GPhR § 37, S. 96.
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das abstrakte Recht eine Praxis des Gewissens, indem es den Bürgern ein Zusammenleben erlaubt, ohne dass gegenseitig die praktischen Urteile kontrolliert und abgeglichen werden müssen. An diesen skizzenhaften Hinweisen lässt sich bereits erkennen, wie in Hegels Staatsauffassung Recht und Moral ineinander greifen. Beide Bereiche bilden zwar jeweils unterschiedliche Sphären mit ihren eigentümlichen Urteilsformen. Zugleich sind sie aber aufeinander angewiesen und eng miteinander verzahnt. Die Praxis des Gewissens, welche die Grundlage für Hegels Verständnis der Moral bildet, kann nur dann in einem Staat verwirklicht werden, wenn eine hinreichend abstrakte Kooperationsform wie diejenige des abstrakten Rechts zur Verfügung steht. Andererseits legitimiert die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens diese abstrakte Betrachtungsweise des Rechts, die wiederum Voraussetzung für den modernen, weltanschaulich pluralen Staat mitsamt der ökonomischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist. Hegels Sokrates kann selbstverständlich die Idee des abstrakten Rechts noch nicht kennen. Durch seine Verweigerung der Zustimmung zum Urteil deutet er aber bereits die Abstraktion des modernen Rechts an. Hegel zufolge kann das moderne Gericht, anders als die Gerichtshöfe der griechischen Antike, auf die Forderung nach der Zustimmung des Verurteilten zum Urteil verzichten. Das moderne Recht erlaubt es, mit dem Verurteilten als Rechtsperson umzugehen, so dass die charakterlichen Besonderheiten des Subjekts irrelevant bleiben: Bei uns wird die Kompetenz der Gerichte vorausgesetzt und ohne weiteres der Verbrecher verurteilt; bei den Atheniensern aber sehen wir die eigentümliche Forderung, daß der Verurteilte durch den Akt des Sichschätzens zugleich ausdrücklich den richterlichen Spruch, schuldig zu sein, selbst anerkennen, sanktionieren mußte. (Heutzutage wird das Subjekt freigelassen, nur auf die Tat gesehen.) 168
Das abstrakte Recht behandelt nur das äußere Verhalten des Angeklagten (es wird »nur auf die Tat gesehen«) und blendet den Charakter und die inneren Überzeugungen aus. Folglich nimmt Sokrates mit seinem zweigleisigen Vorgehen, bei dem er zwischen äußerlichem Gesetzesgehorsam und innerer Zustimmung zum Urteil unterscheidet, das Verhältnis des modernen abstrakten Rechts zum Individuum vorweg. Anhand von Hegels Bemerkung im obigen Zitat können wir 168
Ders., VGPhil.I S. 510.
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sehen, dass mit dieser Abstraktionsform des Rechts ein neues Verständnis von Freiheit verbunden ist. Für die antiken Griechen ist die Forderung nach Zustimmung des Verurteilten noch entscheidend, um das Gericht als eine Institution der Selbstkorrektur auszuweisen. 169 Nach griechischer-tugendethischer Vorstellung erscheint die Zustimmung folglich notwendig für die Selbstbestimmung des Angeklagten. Hegel hingegen sieht im Verzicht der modernen Rechtsprechung auf eine derartige Zustimmung einen Zugewinn an Freiheit: »Heutzutage wird das Subjekt freigelassen, nur auf die Tat gesehen.« Das moderne Gericht maßt sich nicht mehr an, über die Tugendhaftigkeit des Angeklagten zu urteilen, und schafft so die Freiheit für das Subjekt, unabhängig über seine Wertordnung und Selbstgestaltung zu entscheiden, die zentral für die Praxis des Gewissens ist. Aus Sicht der Athener Richter stellt sich das sokratische Handeln freilich nicht in dieser differenzierten Weise dar. Ihnen fehlen die nötigen Begrifflichkeiten, um die sokratische Perspektive angemessen zu rekonstruieren. Aus diesem Grund stoßen die philosophisch-theoretischen Erläuterungen seiner Haltung bei ihnen auf taube Ohren. Sokrates’ Gehorsam durchbricht jedoch ihre Erwartungen und zwingt sie, ihre ursprüngliche Bewertung zu revidieren. Die Tatsache, dass Sokrates für seine Überzeugungen zu sterben bereit ist, beweist ihnen jetzt unmissverständlich, dass er sich erstens immer noch als ein Mitglied der Gemeinschaft sieht und dass er zweitens der Vertreter einer neuen, höheren (»anundfürsichseienden« 170) Auffassung von Objektivität ist: Allein man muß sagen, daß diesem Prinzip erst durch die Art des Ausgangs seine eigentliche Ehre widerfahren ist. Es ist dies Prinzip Totalität, – nicht so neu, so eigentümlich, sondern ein absolut wesentliches Moment in dem sich entwickelnden Bewußtsein seiner selbst, bestimmt, eine neue höhere Wirklichkeit zu gebären. Es ist seiner würdig, daß dies Prinzip erscheint in direkter Beziehung auf die Wirklichkeit, nicht bloß als Meinung und Lehre usf. Diese Beziehung liegt selbst in dem Prinzip; es ist seine wahrhafte Stellung, daß es sie hat, und zwar gegen das Prinzip des griechischen Geistes. Und die Athenienser haben ihm diese Ehre widerfahren lassen; sie selbst hatten die richtige Einsicht, daß dies Prinzip diese und zwar feindselige Beziehung auf 169 Vgl. ebd., S. 508: »Der schuldig Befundene wird selbst zum Richter über sich konstituiert, – worin lag, daß er sich dem Ausspruch des Gerichts unterwarf und sich für schuldig erkannte.« 170 Ebd., S. 442.
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ihre Wirklichkeit hat, und sind danach verfahren. Und so ist der Verfolg nicht zufällig, sondern er ist notwendig in dem Prinzip bedingt. 171
Erst durch den Tod des Sokrates ist seinem Prinzip die »eigentliche Ehre widerfahren«, so Hegel. Es musste »in direkter Beziehung auf die Wirklichkeit, nicht bloß als Meinung und Lehre usf.« erscheinen. In Abschnitt VI.3 habe ich erläutert, weshalb für Hegel jeglicher Formulierungsversuch des neuen weltgeschichtlichen Prinzips doppeldeutig bleiben muss und den antiken Griechen als eine weitere Variante des sophistischen Relativismus erscheint. Auch im Prozess betrachten die Athener Sokrates nicht als einen Vertreter eines neuen Prinzips, sondern stattdessen als einen Untugendhaften, der unfähig ist, an der gemeinsamen Korrekturpraxis teilzunehmen. Die sokratische Kritik an der Objektivität der Tugend und an ihrer vermeintlichen Umsetzung im Prozess halten sie daher für das Gerede eines Sophisten, der die Tugendnormen gänzlich ablehnt und seine eigene Willkür als einzige Quelle von Normativität setzen will. Mit dieser Einschätzung passt allerdings nicht die sokratische Bereitschaft zusammen, für seine Überzeugung zu sterben und dem Urteil der pólis-Bürger zu gehorchen. Für einen Sophisten besäße das Urteil des attischen Gerichtshofs keinerlei bindende Wirkung. Die Sophisten erkennen schließlich weder die Existenz objektiver Normen an, noch sprechen sie der pólis-Gemeinschaft irgendeine verpflichtende Autorität zu (siehe Kapitel V.1). Die einzige Instanz, die die Sophisten für sich anerkennen, ist ihre jeweils eigene Willkür. Der attische Gerichtshof erscheint ihnen genauso wie die übrigen demokratischen Versammlungen nur als ein Ort für Machtkämpfe, in denen sich der Gerissenste durchsetzt. Ein Sophist hätte daher, stünde er an Stelle des Sokrates vor Gericht, nach allen Mitteln gegriffen, um sich die Gerichtsversammlung gewogen zu stimmen. Vermutlich bestünde die erfolgversprechendste Strategie für ihn darin, sich den Anschein der Tugend zu geben und den naiven Glauben der Griechen an objektive Tugendnormen auszunutzen. Wäre es dennoch zu einer Verurteilung gekommen, besäße der Sophist keine Skrupel, dem Urteil zuzustimmen, um eine mildere Strafe auszuhandeln, oder wenigstens im Anschluss aus dem Gefängnis zu fliehen. Die Sophisten nehmen aufgrund ihres Wertnihilismus eine machiavellistische Haltung zu den griechischen Institutionen ein. Ihr Verhalten vor Gericht wäre 171
Ebd., S. 512 f.
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rein instrumentell bestimmt und nicht wie bei Sokrates aus Überzeugung. Insofern sind die Sophisten Trittbrettfahrer der griechischen Kooperationsgemeinschaft, die vorgeben, dazuzugehören, sich aber in Wirklichkeit von ihr distanzieren. Weil die Sophisten den Glauben an verbindliche Normen nicht teilen, gibt es für sie keinen Grund, ihr Leben aus Gehorsam gegenüber den Gesetzen der pólis zu opfern. 172 Die Bereitschaft zu Sterben trennt die sophistische Maskerade der Tugend von wirklicher Tugendhaftigkeit. Durch das Erdulden der Todesstrafe beweist Sokrates den Athenern, dass er kein Sophist ist. Die Athener konfrontiert er dadurch mit einem Paradox: Offenbar ist Sokrates nicht im herkömmlichen Sinne tugendhaft, sonst hätte er dem rechtmäßig zustande gekommenen Urteil zugestimmt. Andererseits kann er nicht tugendlos sein, wie die Richter zunächst vermuten. Für den Tugendlosen gilt die gemeinsame Selbstverpflichtung durch die Gesetze der pólis nicht und somit kennt er keinen Grund, sein Leben für diese Gesetze zu opfern. Der Tugendlose ist von der gemeinsamen Selbstbestimmung ausgeschlossen, die Gesetze der Gemeinschaft sind daher nicht seine Normen. Sokrates hingegen zeigt, dass ihm die Gesetze der pólis wichtiger sind als sein eigenes Leben, als er bereitwillig den Schierlingsbecher trinkt. Mit diesem Opfer schließt Sokrates vollkommen aus, dass er sich wie ein Sophist lediglich den Anschein der Tugend gibt und nur aus instrumentellen Gründen den Gesetzen folgt. Unter anderen Umständen entspräche sein Verhalten der griechischen Lehrbuchdefinition von Tapferkeit. 173 Sokrates erscheint den Griechen daher als tugendhaft und nicht tugendhaft zugleich. Sie erkennen ihn so als den Vertreter einer anderen Tugend, dessen Handeln von einem anderen, neuen Prinzip geleitet wird. Sokrates zeigt den Griechen eine Tugend neben der üblichen Tugend. Mit diesem Beweis zerstört er freilich endgültig ihren Glauben an die Objektivität der Tugendnormen, nach der jeder Tugendhafte in einer ähnlichen Situation ähnlich handelt und urteilt. Sokrates führt gewissermaßen einen Pluralismus der Tugend ein, der aber das Ende der Tugend im klassischen Sinn bedeutet und insbesondere die Tugend als Grundlage einer Gemeinschaft und gemeinschaftlichen Handelns unmöglich macht.
172 Der Sophist Protagoras, der wie Sokrates von den Athenern der Asebie angeklagt wurde, wählte deshalb auch die Verbannung als Strafe (vgl. Hegel, VGPhil.I S. 429). 173 Vgl. Aristoteles, NE III.10.
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Dass Sokrates diese neue, andere Tugend – ein Handeln auf Grundlage eines neuen Prinzips der anundfürsichseienden Objektivität – besitzt und nicht etwa tugendlos oder lasterhaft ist, kann nur durch seine Bereitschaft gezeigt werden, für die Gesetze der pólis zu sterben. Diese Bereitschaft wiederum wird nur dadurch bewiesen, dass er sich tatsächlich hinrichten lässt. In diesem Sinn erklärt Hegel Prozess und Hinrichtung des Sokrates für weltgeschichtlich notwendig. Auch wenn Sokrates das neue weltgeschichtliche Prinzip der Innerlichkeit bereits gedacht hat, kann es erst Wirklichkeit werden, indem Sokrates sein Leben für dieses Prinzip opfert. Mit dem Tod des Sokrates wird den Athenern die Wahrheit seines Prinzips demonstriert. In dieser Hinsicht besitze Sokrates’ Tod eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Sterben Jesu, so Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion: Beide haben die »Wahrheit der Lehre mit dem Tode versiegelt«, indem sie »für die Wahrheit gestorben« sind. 174 Es handle sich bei beiden in dieser Hinsicht um »ähnliche Individualitäten und ähnliche Schicksale«, da erst ihr Tod die Wahrheit ihrer Überzeugung den Zeitgenossen »zum Bewußtsein gebracht« 175 habe. In dieser historischen Notwendigkeit der Hinrichtung liegt laut Hegel die Tragik des Sokrates, aber auch die Tragik der Athener. Sokrates kann die Wahrheit seines Prinzips nur vermitteln, indem er stirbt. Die Athener hingegen können ihren Irrtum erst einsehen, als es zu spät ist und er nicht mehr rückgängig gemacht werden kann: Auch haben die Athener nachher diese Verurteilung des Sokrates bereut und seine Ankläger teils selbst mit dem Tode, teils mit Verweisung bestraft. Denn überhaupt unterwarf sich nach atheniensischen Gesetzen der, der eine Anklage machte, dafür, daß die Klage falsch befunden wurde, derselben Strafe, die im entgegengesetzten Falle den Verbrecher traf. Dies ist der letzte Akt in diesem Drama. Einerseits anerkennen die Athenienser durch ihre Reue die individuelle Größe des Mannes; andererseits (und das ist der nähere Sinn) erkennen sie aber auch, daß dies Prinzip in Sokrates, was verderblich und gegen sie feindselig ist – Einführung neuer Götter und Nichtachtung der Eltern –, selbst schon in ihren eigenen Geist eingekehrt sei, daß sie selbst schon in diesem Zwiespalte sind, daß sie in Sokrates nur ihr eigenes verdammt haben. Sie bereuten die gerechte Verurteilung des Sokrates; es scheint darin zu liegen, daß sie selbst wünschten, sie hätte nicht geschehen sollen. Allein aus der Reue folgt nicht, daß es nicht hätte geschehen sollen; sondern für ihr Bewußtsein, – daß es nicht hätte geschehen sollen. 174 175
Hegel, VPhRel.II S. 286. Ebd.
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Wenn es so für ihr Bewußtsein war, so folgt nicht, daß es an sich nicht hätte geschehen sollen. Beide sind die Unschuld, die schuldig [ist] und ihre Schuld büßt; und nur ungeistig, verächtlich wäre, wenn sie keine Schuld wäre. 176
Der »letzte Akt« in der weltgeschichtlichen Tragik des Prozesses gegen Sokrates ist laut Hegel die Reue der Athener. 177 Durch den Tod haben sie die Wahrheit des sokratischen Prinzips und die Fehlerhaftigkeit ihres eigenen Prinzips eingesehen. Die andere Tugend des Sokrates beweist ihnen, dass sie mit ihrem Glauben an die Objektivität der Tugendnormen einem Mythos aufgesessen sind. Sokrates’ Prinzip ist daher »verderblich und gegen sie feindselig«, weil seine Wahrheit direkt die griechischen Überzeugungen widerlegt, auf denen die Tugendkooperation beruht. Hinter diese Einsicht können die Griechen nicht zurück. Sie können also nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Ihre »Reue« über die Verurteilung des Sokrates scheint diesen unerfüllbaren Wunsch auszudrücken. Die Tragik der Griechen besteht darin, dass sie nicht zur Tugendkooperation zurückkehren können. Ihr Versuch, mit der Verurteilung des Sokrates die pólis-Gemeinschaft zu schützen, bewirkt das Gegenteil und zerstört die Kooperation auf der Grundlage der Tugend. Statt das sokratische Prinzip auszumerzen, haben sie es bestätigt: Wenn er [Sokrates, MP.] nun aber, weil er das Prinzip, das nunmehr herankommen muß, ausspricht, zum Tode verurteilt wird, so liegt darin ebensosehr die hohe Gerechtigkeit, daß das athenische Volk seinen absoluten Feind verurteilt, als auch das Hochtragische, daß die Athener erfahren mußten, daß das, was sie im Sokrates verdammten, bei ihnen schon feste Wurzel gefaßt hatte, daß sie ebenso mitschuldig oder ebenso freizusprechen seien. 178
Das neue weltgeschichtliche Prinzip der Innerlichkeit kann allerdings keinen Ersatz bieten für den verloren gegangenen Glauben an die Objektivität der Tugend. Sokrates beweist zwar eindrucksvoll die Wahrheit seiner Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung. Er kann den Griechen aber keine Alternative für die tugendhafte Kooperation bieten. Sein eigenes Verhalten ist zu widersprüchlich und sein angedeuteter Entwurf einer Praxis des Gewissens Hegel, VGPhil.I S. 513 Es ist allerdings umstritten, ob Hegel mit dieser Einschätzung richtig liegt. Scholz zufolge verspürten die Athener nach dem Prozess mehrheitlich keine Reue, anders als es beispielsweise Diodor überliefert (Scholz (2000), S. 169). 178 Hegel, VPhGes S. 329 f. 176 177
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bleibt zu problembehaftet, um eine stabile Kooperation zu ermöglichen. Im abschließenden Abschnitt VI.5.5 dieses Kapitels gehe ich auf diese Schwierigkeiten und Widersprüche des Sokrates ein. Hierfür zeige ich, wie Sokrates trotz seiner richtigen Einsichten das Konzept des Gewissens nicht in den Griff bekommt und sich der Selbstgerechtigkeit schuldig macht. In seiner Weltgeschichte führt Hegel vor, dass es noch Jahrhunderte dauert, bis diese Schwierigkeiten überwunden sind und ein robuster Begriff des Gewissens gebildet werden kann. Für die Griechen bedeutet dies in Hegels Darstellung, dass der Weg zurück und der Weg nach vorn versperrt sind. So wird ihr Untergang als weltgeschichtliches Volk unausweichlich.
VI.5.5 Gewissen und Selbstgerechtigkeit Im weltgeschichtlichen Konflikt zwischen dem griechischen Kooperationsprinzip der Tugend und dem sokratischen Prinzip der Innerlichkeit herrscht offenbar keine Waffengleichheit: Die Athener Richter sind Sokrates nicht nur rein zahlenmäßig überlegen, sie handeln und urteilen auch im Rahmen von Praktiken und Institutionen, die vollkommen durch das Prinzip der Tugend geprägt sind. Den antiken Griechen ist das Denken in Begrifflichkeiten der Tugend zur Selbstverständlichkeit geworden und färbt ihre gesamte Weltsicht. Die Position des Sokrates ist hingegen ist erheblich schwächer. Er kann für seine Kritik der griechischen Tugend zwar auf die Einsichten seiner sophistischen Vorgänger zurückgreifen. Für ein positives Verständnis des neuen weltgeschichtlichen Prinzips der Innerlichkeit allerdings, welches über den rein negativen Standpunkt der Sophisten hinausgeht, betritt Sokrates Neuland. Anders als seine Antagonisten kann Sokrates nicht auf etablierte Institutionen und eingeübte Verhaltensmuster zurückgreifen, in denen sein Prinzip verwirklicht ist. Alle Handlungen des Sokrates, mit denen er sein Prinzip der Innerlichkeit umsetzen will, sind durch seine subjektive Reflexion vermittelt. Dabei muss er nicht nur seine Mitbürger überzeugen, sondern auch die eigene Sozialisierung nach dem alten Prinzip der Tugend überwinden. Schon aus diesem Grund erscheint Sokrates unbeholfener als seine Zeitgenossen. Sein Handeln ist aber auch deshalb unvollkommen, weil er als Einzelner keine vollständige Praxis aus der Taufe heben kann. Ihm stehen die Handlungsformen, Begründungstypen und institutionellen Voraussetzungen für eine Praxis des Ge447 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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wissens nicht zur Verfügung. Sokrates muss daher improvisieren, etwa indem er sein Gewissen als »daímon«, also als ein persönliches Orakel bezeichnet (siehe Kapitel VI.4). Wie vermutlich jeder soziale Pionier wird Sokrates gezwungen, ungeeignete Begrifflichkeiten zu verwenden, deren Bedeutung er überdehnt und verändert. Nicht nur bei seinen Mitmenschen stößt Sokrates daher auf Unverständnis, auch er selbst kann die Konsequenzen seines radikal neuen Handelns nicht vollständig verfassen. Seine Forderung nach einem neuen Prinzip des Handelns und nach einer Praxis des Gewissens weist zwar über sich und seine Zeit hinaus, wie Hegel betont: »Sokrates ist der Heros, daß er mit Bewußtsein das höhere Prinzip des Geistes erkannt und ausgesprochen hat.« 179 Sokrates gelingt es aber nicht, ein überzeugendes positives Bild dieser neuen Kooperationsform zu entwerfen, die dem Einzelnen genügend subjektiven Freiheitsraum eröffnet und zugleich eine Einheit des gemeinschaftlichen Handelns ermöglicht. Sein Vorschlag des Gesetzeskonformismus (siehe Abschnitt IV.5.4) bleibt unbefriedigend, weil Sokrates seine eigenen begrifflichen Gestaltungsmöglichkeiten überschätzt, wie ich in diesem Abschnitt erläutern werde. Wie ein Held der antiken Tragödie macht sich Sokrates der Hybris schuldig und verurteilt so die antike pólis zum Untergang, da seine Kritik zwar die Tugendkooperation als unhaltbar entlarvt, sein positiver Ansatz des Gesetzeskonformismus aber zugleich nicht tragfähig genug ist. So wird den Griechen der Weg zurück versperrt, ohne dass ein weiterer Weg erschlossen ist. Eine erste Schwierigkeit des sokratischen Gesetzeskonformismus besteht darin, dass er zwar die äußerliche Einhaltung der griechischen Gesetze fordert, aber im Grunde unvereinbar mit dem Kern dieser Gesetze ist. Für Hegels Griechen sind die Gesetze ihrer pólis wesentlich Tugendnormen (oder zumindest mittelbar auf die Erziehung der Bürger zur Tugend ausgerichtet). Dies bedeutet, dass ihre Gesetze nicht auf das äußere Verhalten allein zielen, sondern stets die innere Einstellung und den tugendhaften Habitus des Handelnden miteinbeziehen. Es ist daher gar nicht möglich, rein äußerlich diese Gesetze zu befolgen, weil dies der Struktur der Tugendnormen zuwiderläuft. Ein Bürger, der den Gesetzen der pólis seine innere Zustimmung verweigert, handelt nach griechischer Auffassung schlecht, auch wenn er vielleicht durch seinen äußeren Konformismus den Anschein der Tugendhaftigkeit erweckt. Ein solches Verhal179
Hegel, VGPhil.I S. 514.
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ten erscheint daher lediglich als gesetzeskonform, ist es aber nicht. Der bloß äußerlich Gesetzestreue verstößt gegen den eigentlichen Zweck und Wesenskern der griechischen Gesetze. Folglich ist der sokratische Gesetzeskonformismus, nach dem es erlaubt sein soll, eine bestimmte Norm inhaltlich abzulehnen, solange sie um des sozialen Friedens willen eingehalten wird, nach griechischem Verständnis überhaupt nicht konsistent formulierbar. Tatsächlich setzt die sokratische Forderung bereits seine neue Auffassung von Normativität voraus, in der Kooperation und sittlich-tugendethisches Urteil entkoppelt sind. Es sind also nicht die Gesetze der pólis, die Sokrates einzuhalten fordert, 180 sondern seine eigenen, die sich wesentlich von den Tugendnormen der Griechen unterscheiden. Der sokratische Gesetzeskonformismus ist daher nur mit einem transformierten Verständnis der Gesetze möglich und der konservative Anschein, mit dem Hegels Sokrates die Radikalität seiner Position verharmlost, trügt. Nach griechischem Verständnis ist ein derartiges Verhalten eines rein äußerlichen Gesetzeskonformismus sogar fatal. Es widerspricht dem griechischen Ideal der selbstbestimmten Gemeinschaft, welches vorsieht, dass der Einzelne nur solchen Gesetzen gehorchen muss, denen er unmittelbar zustimmen kann. Allein auf diese Weise könne der Einzelne in der Gemeinschaft gänzlich »bei sich« sein und ein zwangloses, selbstbestimmtes Leben führen, so die griechische Auffassung. Im sokratischen Gesetzeskonformismus erkennen die antiken Griechen hingegen – mit Recht, wie sich in späteren Epochen der Weltgeschichte herausstellt – die Gefahr der Entfremdung, bei der der Einzelne seine wahrhafte Selbstbestimmung auf den privaten Bereich beschränkt und in der Sphäre des Öffentlich-Politischen sich aus instrumentellen Gründen einem äußeren Reglement unterwirft. 181 Sokrates’ Vorschlag, ein rein instrumentelles Verhältnis zu diesen Normen einzunehmen, schafft in ihren Augen keine Freiheit
Vgl. ebd., S. 480. Dementsprechend ziehen sich laut Hegel die Philosophen nach Sokrates auch aus dem Bereich des Öffentlichen ins Private zurück. Statt in Gesprächen auf der Agora findet die Philosophie in Gärten und Privathäusern statt: »Dies Prinzip des Innerlichseins des Bewußtseins für sich ist die Ursache, daß die folgenden Philosophen sich von den Staatsgeschäften zurückgezogen, sich auf die Ausbildung einer innerlichen Welt beschränkt, den allgemeinen Zweck der sittlichen Ausbildung des Volks von sich abgetrennt, eine Stellung gegen den Geist Athens, gegen die Athene genommen haben.« (Hegel, VGPhil.I S. 515) 180 181
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für das Individuum, sondern zerstört im Gegenteil das selbstbestimmte Handeln des Einzelnen. Die innere Widersprüchlichkeit des sokratischen Gesetzeskonformismus zeigt sich auch im Verhalten des Sokrates, der Hegel zufolge selbst inkonsequent zwischen Gehorsam und Auflehnung schwankt. Wie Hegel bemerkt, hätte Sokrates mit dem gleichen Argument, mit dem er im Gefängnis Kritons Angebot zur Flucht ausschlägt, weil er die Gesetzestreue höher als sein Leben schätzt, auch vor Gericht das Urteil der Richter anerkennen müssen. Da in der griechischen Sittlichkeit die sokratische Unterscheidung zwischen äußerer Form des Gesetzes und inhaltlicher Zustimmung zur Norm noch gar nicht existiert, ließe sich die Anerkennung des Urteils auch als bloße »Formalität« deuten, welche der Verurteilte unabhängig von seinen inneren Überzeugungen zu erfüllen habe: Nach athenischen Gesetzen hatte der schuldig Befundene Freiheit, sich selbst die Strafe zu bestimmen. […] Sokrates weigerte sich, jene zu wählen, sich zu schätzen, wie die Formalität war, weil er, wie er sagte, damit eine Schuld eingestanden hätte […]. Man kann diese Weigerung allerdings wohl für eine moralische Größe halten, andererseits widerspricht sie einigermaßen dem, was Sokrates später im Gefängnisse sagte: daß er hier sitze, weil es den Atheniensern besser scheine, und ihm besser, sich den Gesetzen zu unterwerfen; er habe nicht fliehen wollen. Aber die erste Unterwerfung wäre eben dies gewesen, weil die Athener ihn für schuldig gefunden, dies zu respektieren und sich schuldig zu bekennen. Konsequenterweise hätte er es auch für besser halten müssen, sich die Strafe aufzuerlegen, da er sich den Gesetzen dadurch ebenfalls unterwarf nicht nur, sondern auch dem Urteil. 182
Hegel betont ganz richtig, dass es unklar ist, weshalb Sokrates im Prozess sich offenkundig gegen die Normen eines üblichen Gerichtsverfahrens stemmt und so seine Richter brüskiert, nur um sich im Anschluss diesen Gesetzen zu unterwerfen. Sokrates versteht zwar mit Recht, dass ein gewisser Gesetzeskonformismus nötig ist, um die Kooperation einer Gesellschaft aufrecht zu halten. Allerdings erlaubt ihm die noch undifferenzierte Tugendsittlichkeit der Griechen nicht, eine eindeutige Unterscheidung zu treffen, wo die bloß äußerliche Handlung endet und wo die innere Zustimmung beginnt. Es ließe sich Sokrates also mit einiger Berechtigung vorwerfen, dass er den Gesetzeskonformismus zwar propagiert, selbst aber willkürlich 182
Hegel, VGPhil.I S. 508 f.
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festlegt, wie die Grenze zwischen notwendiger Anpassung und Freiheit des Gewissens verläuft. Auf diese Weise erhebt Sokrates zwangsläufig seine Willkür zum letzten Standard, weil er auf keine üblichen, etablierten Unterscheidungsweisen zurückgreifen kann. Somit ist seine Verweigerung der Zustimmung zum Gerichtsurteil genau das Gegenteil eines Konformismus: Sokrates hat dem richterlichen Ausspruch sein Gewissen entgegengesetzt, sich vor dem Tribunal seines Gewissens freigesprochen. Aber kein Volk, am wenigstens ein freies Volk (und von dieser Freiheit wie das atheniensische Volk) hat ein Tribunal des Gewissens anzuerkennen; dies kennt kein Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben, als das Bewußtsein, das es hat. »Wenn du das Bewußtsein hast, deine Pflicht erfüllt zu haben, so müssen auch wir dies Bewußtsein haben, daß du sie erfüllt hast.« Das Volk ist hier Regierung, Gericht, das Allgemeine. Und das erste Prinzip eines Staats überhaupt ist, daß es keine höhere Vernunft, Gewissen, Rechtschaffenheit, wie man will, gibt als das, was der Staat für Recht erkennt. Quäker, Wiedertäufer usf., die bestimmten Rechten des Staats, der Verteidigung des Vaterlandes, sich widersetzen, können in einem wahren Staate nicht stattfinden. Diese elende Freiheit, zu denken und zu meinen, was jeder will, findet nicht statt; ebenso nicht dies Zurückziehen in das Bewußtsein seiner Pflicht. Wenn dies Bewußtsein keine Heuchelei ist, so muß, daß es Pflicht, was der Einzelne tut, von allem als solche erkannt sein. Wenn das Volk irren kann, so kann noch viel mehr der Einzelne irren; und daß er dies könne und viel mehr als das Volk, muß er sich bewußt sein. Das Gericht hat auch Gewissen, hat danach zu sprechen; das Gericht ist das privilegierte Gewissen. Der Widerspruch des Rechts kann sein, daß jedes Gewissen etwas anderes verlangt; nur das Gewissen des Gerichts gilt. Der Gerichtshof ist das allgemeine gesetzliche Gewissen und hat das besondere Gewissen des Angeschuldigten nicht anzuerkennen. Zu leicht nur sind die Menschen davon überzeugt, ihre Pflicht erfüllt zu haben; aber der Richter untersucht, ob die Pflicht in der Tat erfüllt ist, wenngleich die Menschen das Bewußtsein davon haben. 183
Sokrates überschätzt sich daher selbst, so Hegels Darstellung. Als echter tragischer Held begeht er die Verfehlung der Hybris. Sein Pochen auf das eigene Gewissen, das sich dem Urteil der Mehrheit nicht unterwerfen müsse, beruht zwar einerseits auf der richtigen Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Entschließung, andererseits verletzt es eine zentrale Voraussetzung, ohne die eine Praxis des Gewissens nicht als gemeinsame Praxis funktionieren kann: In einer solchen Praxis darf ein Subjekt sich für eine Entscheidung nur dann 183
Ebd., S. 510 f.
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auf sein Gewissen berufen, sofern für die übrigen Teilnehmer der Praxis zumindest der Möglichkeit nach erkennbar ist, dass es diese Entscheidung tatsächlich mit der angemessenen Ernsthaftigkeit getroffen hat, wie Hegel im obigen Zitat festhält: »Wenn dies Bewußtsein keine Heuchelei ist, so muß, daß es Pflicht, was der Einzelne tut, von allem als solche erkannt sein.« Ist diese Erkennbarkeit der Gewissenhaftigkeit jedoch nicht gegeben, insbesondere wenn das entsprechende Subjekt sich über das gleichwertige Recht aller anderen Teilnehmer auf ihre Gewissensentscheidung hinwegsetzt und nur seine eigene Entschließung gelten lässt, überschreitet es die Grenzen der Toleranz. Das Subjekt wird so zum Gewissenstäter, zum moralischen Terroristen, der einerseits wie die Sophisten seine eigene subjektive Willkür zum einzigen Standard erhebt, aber andererseits dieses Verhalten auch noch moralistisch verbrämt und für sich die Objektivität des Handelns beansprucht, die es von allen anderen Anerkennung einfordert. Diese Art des Handelns charakterisiert Hegel in seinen Vorlesungen über die Grundlinien der Philosophie des Rechts als ein böses Handeln: Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein. 184
Dieser nahtlose Übergang vom gewissenhaften Handeln zum Bösen ist laut Hegel kein Zufall, sondern im Begriff des Gewissens angelegt: Das Gewissen ist als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben beide, die Moralität und das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel. 185
Sokrates ist daher als Erfinder des Gewissens und der Moral in der Weltgeschichte auch der Erfinder des Bösen. Er vollzieht den Sündenfall aus der griechischen Unschuld. 186 Allerdings wäre es falsch, ihm diese doppelte Erfindung vorzuwerfen. Sokrates hat keine andere Wahl, als mit dem Gewissen das Böse in die Welt zu bringen. Wie wir in Kapitel VI.4 gesehen haben, gehört es notwendigerweise zum 184 185 186
Hegel, GPhR § 139, 260 f. Ebd., Zusatz zu § 139, S. 261. Vgl. ders., VGPhil.I S. 515.
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Wesen der Gewissensentscheidung, dass sie als solche durch andere erkennbar ist – sie kann zwar nicht unmittelbar inhaltlich nachvollzogen werden, wie die Griechen die Nachvollziehbarkeit der tugendhaften Entscheidung verstehen, aber es muss eine mittelbare, formale Nachvollziehbarkeit bestehen, durch die sie als gewissenhafte, also sorgfältig und aufrichtig gefällte Entscheidung ausgewiesen werden kann. Die Praxis des Gewissens muss, um überhaupt eine geteilte Praxis sein zu können, Bedingungen der mittelbaren Anerkennbarkeit von Gewissensentscheidungen bereitstellen. Diese Anforderung führt jedoch dazu, dass die Lage des Sokrates in seiner besonderen historischen Situation ausweglos ist: Die antiken Griechen kennen und verstehen die Berufung auf das eigene Gewissen nicht. Somit können sie auch mit keinem Beweis von Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit etwas anfangen. Für sie ist jedes Urteil schlichtweg inakzeptabel, das sie nicht inhaltlich nachvollziehen können. Dies bedeutet freilich, dass in der griechischen Sittlichkeit keine einzige Handlung den internen Anforderungen an eine Gewissenshandlung entspricht, weil sie faktisch nicht als solche von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern erkennbar ist. Jeder Versuch einer Gewissenshandlung unter diesen Umständen, nicht nur derjenige des Sokrates, muss daher am eigenen Standard scheitern. Es besteht eine systematische Notwendigkeit, dass das erste Subjekt, das sich auf sein Gewissen beruft und somit den Anstoß zur Schaffung einer stabilen Praxis des Gewissens geben will, zwangsläufig ein Gewissenstäter, ein moralischer Terrorist ist. Die Tragik des Sokrates besteht in dieser Zwangsläufigkeit. Obwohl er sich auf eine zutreffende Einsicht stützt, muss sein Handeln fehlschlagen. Er ist daher schuldig im Sinne der Anklage. In seinem Verhalten können wir zwar die richtigen Ansätze zu einer Praxis des Gewissens und sogar die Trennung zwischen Kooperation und sittlichem Urteil sehen, die der Vorläufer für die Abstraktion des formalen Rechts in Hegels modernem Staat ist. Dennoch sind all diese Begrifflichkeiten bei ihm nicht entwickelt und daher genauso falsch wie richtig. Er präsentiert den Athenern keine Lösungen, sondern stößt sie nur auf die Probleme. Das Prinzip der Innerlichkeit zeigt sich in ihm, aber eher als Forderung denn als Formulierung. Insofern gleicht Sokrates in Hegels Geschichtsschreibung Moses, der das gelobte Land nur aus der Ferne sieht, es aber nicht betreten darf.
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VI.6 Ausblick: Die Folgen des Untergangs der pólis Der athenische Staat hat noch lange bestanden, aber die Blume seiner Eigentümlichkeit ist bald verwelkt. Bei Sokrates ist dies Eigentümliche, daß er dies Prinzip im Gedanken, in der Erkenntnis aufgefaßt und für dieselbe hat geltend gemacht. Das ist die höhere Weise. Die Erkenntnis hat den Sündenfall gebracht, sie hat aber ebenso das Prinzip der Erlösung. Was also bei den anderen nur als Verderben war, war bei Sokrates (da Prinzip des Erkennens) auch Prinzip, das ist die Heilung in sich enthalten. Die Entwicklung dieses Prinzips ist die ganze folgende Geschichte. 187
Mit Sokrates’ Tod ist der weltgeschichtliche Untergang der griechischen pólis besiegelt. Auch wenn der »athenische Staat […] noch lange bestanden« hat, spielt er keine große Rolle mehr. Die griechischen Institutionen sind nur noch eine äußere Hülle ihres früheren Selbst. Ihre Legitimationsgrundlage ist zerbrochen, die Bürger haben das Vertrauen in ihre Gemeinschaft verloren, nachdem Sokrates ihren Aberglauben an die Objektivität der Tugendnormen entlarvt hat. Mit diesem Vertrauen schwindet die Identifikation des Einzelnen mit der pólis. Das Individuum sieht sich nicht mehr aufgehoben in der Tätigkeit für die Gemeinschaft. Somit wird das politische Leben in der pólis nicht mehr als Verwirklichung der eigenen Selbstbestimmung verstanden. Statt der Orientierung am Gemeinwohl treten Partikularinteressen in den Vordergrund. Mit diesem inneren Zerfall verblasst auch die Strahlkraft und der politische Einfluss der griechischen Stadtstaaten nach außen: Das atheniensische Leben wurde so schwach, der Staat wurde ohnmächtig nach außen, weil der Geist ein in sich Geteiltes war. So wurde er abhängig von Lakedämon; und dann sehen wir zuletzt überhaupt die äußerliche Unterordnung solcher Staaten unter die Makedonier. 188
Die Griechen stehen also vor einem Scherbenhaufen. Ihr Experiment der »schönen Freiheit«, einer selbstbestimmten Gemeinschaft auf der Grundlage von Tugendnormen ist gescheitert. Indem Hegel sich dafür entscheidet, Sokrates und dem sokratischen Prozess in seiner Weltgeschichte eine derart prominente Rolle im Untergang der pólis zuzusprechen, macht er vor allem auf die Grundsätzlichkeit des griechischen Scheiterns aufmerksam. Die »schöne Freiheit« vergeht nicht 187 188
Hegel, VGPhil.I S. 515. Ebd., S. 516.
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etwa, weil die Griechen zügellos geworden wären und ihre alten Ideale verloren hätten. Schuld am Untergang der pólis ist kein Sittenverfall. Vielmehr liegt der Fehler im griechischen Prinzip selbst: Die tugendhafte Kooperation der Griechen gründet auf einer Täuschung, nämlich dem hypostasierenden und vergegenständlichenden Verständnis der geteilten Normen. Die sokratische Kritik zwingt die Athener Bürger, diesen Irrtum zu erkennen. Nachdem dies geschehen ist, können sie jedoch nicht einfach weiterleben wie bisher. Die sokratische Einsicht lässt sich nicht ungeschehen machen, ohne in einen Selbstbetrug zu verfallen, der allzu leicht durchschaubar wäre. Weil der Fehler der griechischen Freiheit prinzipieller Natur ist, ist ihr Scheitern endgültig. Für die Griechen gibt es keine »Heilung, Besserung und Trost«, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie bemerkt. 189 Keine Reform, keine Neuorganisation oder institutionentechnische Ausbesserung hätte die pólis auf Dauer retten können, solange solche Veränderungen nicht das Kooperationsprinzip selbst betreffen. Die sokratische Erkenntnis hat allerdings nicht nur eine zerstörerische Wirkung, sie bringt zugleich auch das »Prinzip der Erlösung« 190. Diese Formulierung Hegels lässt sich derart verstehen, dass die sokratische Erkenntnis den Weg für eine zukünftige selbstbestimmte Kooperation eröffnet. Nach dieser Deutung verschuldet Sokrates zwar das Ende der ersten wirklichen Freiheit, aber er beendet nicht die Geschichte der Freiheit überhaupt. Der griechische Lösungsansatz für das Paradox der selbstbestimmten Gemeinschaft (siehe Teil III) ist nicht die einzige Möglichkeit, den begrifflichen und praktischen Schwierigkeiten der Autonomie zu begegnen. Die sokratische Einsicht deutet bereits die moderne Lösung an, welche die prinzipiellen Fehler der Griechen vermeidet. Dies bedeutet, dass sich laut Hegel aus dem Untergang der Griechen Lehren ziehen lassen, die für das Verständnis der modernen Freiheit und Staatlichkeit hilfreich sind. Diese Lehren sind allerdings keine moralischen Ermahnungen oder praktischen Ratschläge. Einen solchen naiv-unmittelbaren Zugang zur Geschichte lehnt Hegel ab.191 Vielmehr handelt es sich um syste-
Ders., VPhGes S. 338. S. o., ders., VGPhil.I S. 515. 191 Vgl. ders., VPhGes S. 17: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.« 189 190
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matisch-philosophische Einsichten in das Wesen der Freiheit – und somit um nichts anderes als um eine Selbsterkenntnis des Menschen. Eine erste, vor allem negative Lehre, die wir mit Hegel aus dem Untergang der pólis ziehen können, besagt, dass sich die Tugend nicht als Prinzip der Gemeinschaft eignet. Dies heißt, dass das Zusammenleben und politische Handeln einer Gemeinschaft sich nicht ausschließlich über Begrifflichkeiten der Tugend und Tugendnormen organisieren lässt. Hegel zielt mit dieser Feststellung nicht allein auf antike Autoren wie Aristoteles und Platon, die in ihren Werken eine solche Auffassung vertreten, sondern gleichermaßen auf neuzeitliche Autoren, auf die das griechische Ideal eine erhebliche Anziehungskraft besitzt. Ein wichtiger Adressat seiner Kritik ist sicherlich Rousseau, der mit seinem Contrat Social ein Plädoyer für die politische Tugend verfasst. Aber Hegels Kritik lässt sich auch mutatis mutandis auf Kommunitaristen von Alasdair MacIntyre bis Michael Walzer übertragen, die ebenfalls dem Charme einer harmonisch-sittlichen Gemeinschaft von Tugendhaften erlegen sind. Hegel zeigt Verständnis für derartige Positionen: Die »schöne Freiheit« einer tugendhaften Kooperation verspricht die Möglichkeit einer vollständigen Identifikation des Einzelnen mit seiner Gemeinschaft, ohne dass er sich dabei als selbstbestimmtes Individuum aufgeben müsse. In einer solchen tugendhaften Kooperation scheint es keine Gefahr einer Entfremdung zu geben und keinen machiavellistischen Zugang zur Politik. Das Ideal der politischen Tugend kennt keinen Machtzynismus, keine Interessenkämpfe oder Hinterzimmergeschäfte. Hegels Griechenexkurs führt uns jedoch vor, dass solche klangvollen Versprechungen lediglich die Restauration einer Selbsttäuschung sind. Die Tugend als Gemeinschaftsprinzip scheitert letztlich an ihren eigenen Ansprüchen. Ins Positive gewendet, lässt sich aus dieser Einsicht die zweite Lehre ziehen, dass in einer freien, selbstbestimmten Gemeinschaft die Tugendnormen durch zusätzliche Arten von Normen ergänzt werden müssen, mit deren Hilfe die Kooperation selbst dann aufrechterhalten werden kann, wenn kein gemeinsames tugendethisches Werturteil möglich ist. Anders als die Griechen vor der sokratischsophistischen Kritik an der Objektivität der Tugendnormen glauben, kann die Tugend eben keine Übereinstimmung im Urteilen und Handeln gewährleisten. Ein fundamentaler Dissens kann immer auftreten, da die handelnden Subjekte endlich sind. Aus dieser Tatsache folgt, dass bestimmte Abstraktionstechniken entwickelt werden müs456 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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sen, die ein gemeinsames Zusammenleben und einheitliches Handeln der Gemeinschaft trotz solcher unvereinbaren Urteile erlauben. In Hegels modernem Staat stellt beispielsweise das Recht eine solche Abstraktionsmethode zur Verfügung. Hegel fasst daher den Untergang der pólis als einen Beweis für die Notwendigkeit des abstrakten Rechts auf. Es wird bisweilen die Kritik am modernen Rechtswesen geäußert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Auseinanderklaffen von Recht und tugendethischer Gerechtigkeit nicht um eine Schwäche, sondern um eine Stärke des Rechts, wie Hegel zeigt. Das abstrakte Recht bietet gerade durch seine Unabhängigkeit vom tugendethisch-sittlichen Gerechtigkeitsempfinden eine robuste, umfassende Kooperationsform, die beispielsweise auch den Umgang mit Personen erlaubt, die ein fundamental anderes Wertverständnis besitzen. Gewissermaßen als Nebenprodukt seiner Kritik legt Sokrates so den Grundbaustein für den modernen pluralistischen Staat, in dem Menschen unterschiedlichster Herkünfte, Religionszugehörigkeiten, Weltanschauungen und Persönlichkeiten friedlich zusammen leben können. In vergleichbarer Weise lässt sich auch die moderne Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft zu diesen Folgen zählen. Der freie marktwirtschaftliche Austausch von Waren und Dienstleistungen beruht auf einer ähnlichen Abstraktionsleistung wie das Recht, da in der bürgerlichen Gesellschaft der Gegenüber vor allem nach der verlässlichen Qualität seiner Arbeit und seiner äußeren Gesetzestreue beurteilt wird, nicht aber, ob er ein tugend- oder lasterhaftes Leben führt. Die dritte und vielleicht wichtigste Lehre aus dem Untergang ist die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens, die Sokrates im Prozess fordert, weil er erkennt, dass nur durch eine solche Praxis eine selbstbestimmte Gemeinschaft geschaffen werden kann, die dem Menschen als endlichem Subjekt gerecht wird. Von der sokratischen Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Praxis bis zu ihrer Verwirklichung ist es allerdings ein weiter Weg in Hegels Weltgeschichte. Die Entkoppelung des sittlich-tugendethischen Werturteils von der Kooperation, welche die Abstraktion des Rechts durchführt, genügt nicht, um die objektive Ordnung des wechselseitigen Respekts zu schaffen, die die Praxis des Gewissens ausmacht. Das abstrakte Recht bildet lediglich eine Säule der Praxis des Gewissens, indem es erlaubt, dass die Kooperation trotz unterschiedlicher Überzeugungen verschiedener Subjekte fortgesetzt wird. Die zweite wesentliche Komponente des Gewissens besteht allerdings in der tatsächlichen gegen457 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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seitigen Anerkennung aller beteiligten Subjekte. Das Recht für sich alleine genommen führt nicht zu dieser Anerkennung. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte schildert Hegel dieses Unvermögen des für sich allein genommenen abstrakten Rechts im Abschnitt zu den Römern, die er als weltgeschichtliche Nachfolger der Griechen und Vertreter des Prinzips des abstrakten Rechts betrachtet: Das den Griechen fehlende Moment der Innerlichkeit fanden wir bei den Römern; […] Dies Element der Innerlichkeit ist dann weiter realisiert als Persönlichkeit der Individuen, welche Realisierung dem Prinzipe adäquat und so abstrakt und formell, wie dieses ist. Als dieses Ich bin ich für mich unendlich, und das Dasein meiner ist mein Eigentum und meine Anerkennung als Person. Weiter geht diese Innerlichkeit nicht; aller weitere Inhalt ist darin verschwunden. Dadurch sind die Individuen als Atome gesetzt; zugleich aber stehen sie unter der harten Herrschaft des Einen, welche als monas monadum die Macht über die Privatpersonen ist. Dies Privatrecht ist daher ebenso ein Nichtdasein, ein Nichtanerkennen der Person, und dieser Zustand des Rechts ist vollendete Rechtlosigkeit. Dieser Widerspruch ist das Elend der römischen Welt. Das Subjekt ist nach dem Prinzipe seiner Persönlichkeit nur zu dem Besitze berechtigt, und die Person der Personen zum Besitz aller, so daß das einzelne Recht zugleich aufgehoben und rechtlos ist. Das Elend dieses Widerspruchs ist aber die Zucht der Welt. […] Jener Widerspruch der römischen Welt ist das Verhältnis solcher Zucht; er ist die Zucht der Bildung, durch welche die Person zugleich ihre Nichtigkeit manifestiert. 192
Die Abstraktion des Rechts schafft zwar die Bedingungen, um den Andersdenkenden anzuerkennen, es liefert jedoch keinen hinreichenden Grund, eine solche Anerkennung auch wirklich vorzunehmen. Gerade durch das Absehen von allen Besonderheiten eines konkreten Subjekts im Recht wird dieses auf ein Abstraktum reduziert, welches sich lediglich durch eine willkürliche Setzung von einer Sache unterscheidet. Der verengte Blick des Rechts betrachtet das Subjekt nur als rechtliches »Atom«, und nicht als ein Individuum mit Befindlichkeiten, Interessen, Überzeugungen und Wünschen. Die Sichtweise des Rechts, wird sie durch keine zusätzlichen Prinzipien aufgefangen, wirkt daher entmenschlichend. Erst das Christentum, so Hegels These, stellt durch den Modus einer unbedingten Anerkennung die zweite Säule der Praxis des Gewissens zur Verfügung:
192
Hegel, VPhGes S. 387 f.
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Ausblick: Die Folgen des Untergangs der pólis
Durch die christliche Religion ist also die absolute Idee Gottes in ihrer Wahrheit zum Bewußtsein gekommen, worin ebenso der Mensch nach seiner wahrhaften Natur, die in der bestimmten Anschauung des Sohnes gegeben ist, sich selbst aufgenommen findet. Der Mensch, als endlicher für sich betrachtet, ist zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm selbst; er ist Selbstzweck, hat in ihm selbst unendlichen Wert und die Bestimmung zur Ewigkeit. 193
In der Praxis des Gewissens wirken die Abstraktion des Rechts und der Modus der unbedingten Anerkennung des Christentums zusammen: Das Recht erlaubt eine Urteilsenthaltung über das Denken und Handeln des anderen. Ich kann also die Äußerungen des anderen einklammern und mit ihm kooperieren, auch wenn ich eine abweichende Sicht der Dinge vertrete. Der Modus der unbedingten Anerkennung hingegen führt dazu, dass ich voraussetze, dass der andere es wert ist, mit ihm tatsächlich zu kooperieren und ihn als Subjekt zu verstehen, welches sich selbst seine Zwecke setzt. Dieses Zusammenspiel von Recht und unbedingter Anerkennung in der Praxis des Gewissens illustriert Hegel anhand der Entwicklung der Sklaverei nach dem Untergang der tugendhaften Kooperation der pólis. In Kapitel IV.2.3 haben wir gesehen, dass für Hegel zur tugendhaften Kooperation notwendigerweise die Sklaverei gehört: Eine Gemeinschaft, in der die vollberechtigte Teilhabe an den Besitz der Tugend geknüpft ist, ist zwangsläufig exklusiv. Bei ihr wird es immer Individuen geben, welche die Fähigkeit zur tugendhaften Kooperation nur teilweise oder sogar überhaupt nicht besitzen. Solchen Individuen bleibt die Anerkennung in einer Tugend-Kooperation als ebenbürtige Subjekte verwehrt. Sie erhalten daher in der pólis-Gemeinschaft lediglich eine untergeordnete Stellung und sind von der Mitbestimmung teilweise (wie Handwerker oder Frauen) oder ganz ausgeschlossen (Sklaven). 194 Aristoteles’ Rechtfertigung der Sklaverei, das Skandalon der aristotelischen Philosophie und Ausgangspunkt dieser Untersuchung, führt Hegel demnach auf die Tatsache zurück, dass Aristoteles wie alle seiner Zeitgenossen ausschließlich Tugendnormen als Normen der Selbstbestimmung kennt. Die Figur des natürlichen Sklaven ist sozusagen das Ergebnis einer Hilflosigkeit der tugendhaften Kooperation, deren integrative Kraft zu schwach ist, um den Tugendlosen mit einzubeziehen. Das abstrak193 194
Ebd., S. 403. Vgl. ebd., S. 311, siehe auch Teile I und IV.
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te Recht kennt diese Hilflosigkeit hingegen nicht mehr, es erlaubt, mit jedem zu kooperieren, ungeachtet seines Charakters oder seiner Fähigkeiten. Somit kann im abstrakten Recht jeder als Rechtsperson und folglich auch als Kooperationspartner anerkannt werden, unabhängig von seiner konkreten Individualität. Dementsprechend verschwindet die typisch griechische Figur des natürlichen Sklaven mit der Einführung des abstrakten Rechts durch die Römer. Im gleichen Schritt geht allerdings auch der griechische Modus der Anerkennung durch die Tugend verloren. Hegels Griechen erkennen ihr Gegenüber als ebenbürtigen Kooperationsteilnehmer an, falls er die Tugend besitzt. Das abstrakte Recht hingegen, weil es von der Besonderheit des Gegenübers abstrahiert, kann seine Anerkennung nicht an die Tugend oder irgendeine vergleichbare Eigenschaft knüpfen. Es kann also keine konkreten Eigenschaften eines Subjekts geben, welche die Gemeinschaft gewissermaßen zur Anerkennung zwingen. Das abstrakte Recht kennt daher keinen natürlichen Sklaven, aber auch keinen »natürlichen Bürger«. In der Kooperation des abstrakten Rechts werden Bürgerrechte zur positiven Setzung, die im Grunde willkürlich zuoder abgesprochen werden können. 195 Das abstrakte Recht für sich allein genommen, wie es Hegel bei den Römern sieht, beendet somit nicht die Sklaverei, sondern hat das Potential, sie bis ins Extrem auszuweiten. Nach dem römischen Recht kann jeder als vollwertiger Bürger anerkannt werden, unabhängig von allen besonderen Eigenschaften, die er als Individuum besitzt. Gleichermaßen wird im römischen Recht der rechtliche Status des Sklaven – der eigentlich ein Unrechtsstatus der Nicht-Anerkennung ist – völlig unabhängig von Talenten, Intelligenz, Charakter, Bildung oder Leistungen des Betroffenen zugesprochen. Nach aristotelischem Verständnis ist der natürliche Sklave eine Randfigur, der Sonderfall einer extremen Privation. Eine solche Wertung ist dem römischen Recht fremd. Seine Positivität erlaubt die massenhafte Versklavung ganzer Völker, unbesehen von den betroffenen Persönlichkeiten. Der gebildete Hauslehrer-Sklave, der die Kinder einer Patrizierfamilie unterrichtete, ist daher eine Erfindung der Abstraktion des römischen Rechts, ebenso wie der servus publicus, der als Staatsbeamter wichtige Verwaltungsaufgaben ausführte und oft einen erheblichen Einfluss besaß. In dieser Hinsicht führt die Abstraktion des Rechts nicht zu einem Ende der Sklaverei, 195 Ein Beispiel für die Willkürlichkeit der rechtlichen Setzung führt der römische Kaiser Caligula vor, indem er ein Pferd zum Senatoren ernennt.
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Ausblick: Die Folgen des Untergangs der pólis
sondern zu ihrem Exzess. Erst das Christentum beendet die Sklaverei, so Hegel, indem es die Abstraktion des Rechts durch die Einsicht in die unendliche Würde des Subjekts ergänzt und ihm so die Unmenschlichkeit nimmt. Im Christentum findet eine Sakralisierung des Subjekts statt, die eine unbedingte Anerkennung eines jeden verlangt: Erstens: die Sklaverei ist im Christentum unmöglich, denn der Mensch ist jetzt als Mensch nach seiner allgemeinen Natur in Gott angeschaut; jeder Einzelne ist ein Gegenstand der Gnade Gottes und des göttlichen Endzwecks: Gott will, daß alle Menschen selig werden. Ganz ohne alle Partikularität, an und für sich hat also der Mensch, und zwar schon als Mensch, unendlichen Wert, und eben dieser unendliche Wert hebt alle Partikularität der Geburt und des Vaterlandes auf. 196
Zur Errichtung einer funktionierenden Praxis des Gewissens ist es also ein weiter Weg in der Weltgeschichte. Bei Hegel gelingt diese Aufgabe erst mit der Reformation, wobei diese Behauptung vermutlich noch zu optimistisch erscheint, wenn wir uns beispielsweise anschauen, wie hartnäckig Sklaverei legal auch noch in der Neuzeit betrieben wurde und zum Teil sogar immer noch existiert. Die begriffliche Komplexität und die zahlreichen institutionellen Voraussetzungen des Gewissens verdeutlichen, dass Hegel Sokrates nicht das alleinige Verdienst für diese Praxis zuschreiben kann. Allerdings kommt laut Hegel Sokrates die weltgeschichtlich unschätzbare Einsicht zu, dass eine solche Praxis notwendig ist, weil wir Menschen endliche Subjekte sind. Daher können wir auch sagen, dass Sokrates zumindest mittelbar die Notwendigkeit des abstrakten Rechts und eines Modus der unbedingten Anerkennung erkannt hat, auch wenn er freilich noch weit davon entfernt war, ihre Verwirklichung zu erahnen. Aus diesem Grund ist Sokrates zwar nicht der erste moderne Mensch in Hegels Weltgeschichte, aber er gibt die Initialzündung für diese radikale Wandlung des Geistes.
196
Hegel, VPhGes S. 403 f.
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In dieser Arbeit habe ich Hegels Bild der griechischen pólis als eine Gemeinschaft rekonstruiert, die auf dem Prinzip der Tugend gegründet ist. Dies bedeutet vor allem: Hegels Griechen gestalten ihre Kooperation nach Maßstäben der Tugend. Sie knüpfen die Anerkennung als ebenbürtiges Gemeinschaftssubjekt an die Bedingung eines tugendhaften Charakters und erschaffen sich Institutionen, die zum einen die Bürger zur Tugend erziehen sollen, zum anderen darauf angewiesen sind, dass die Amtsträger ihre Aufgaben mit tugendhafter Kompetenz erfüllen. Auf diese Weise verwirklichen die Griechen für eine kurze, aber ungemein einflussreiche Epoche der Weltgeschichte in der pólis ihre »schöne Freiheit«, in der die Selbstbestimmung des Einzelnen und der Gemeinschaft miteinander versöhnt und verschränkt sind. Den Niedergang und Bedeutungsverlust der pólis im Nachgang des Peloponnesischen Krieges deutet Hegel als eine notwendige Entwicklung: Die schöne Freiheit der Griechen beruhe auf grundlegenden Missverständnissen über das Wesen praktischer Normen. Insbesondere zählt Hegel hierzu das griechische Zwei-PhasenModell, welches Normgestaltung und Normanwendung für zwei strikt getrennte Tätigkeiten hält, sowie den damit verbundenen Glauben an die Objektivität der Tugendnormen in der Anwendungsphase. Diese Irrtümer der Griechen führen nicht nur zu einer theoretisch verzerrten Auffassung von Selbstbestimmung, sondern beschränken auch die griechische Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Selbstbestimmung empfindlich und machen die pólis für die historischen Krisen verwundbar. Diese Verknüpfung von theoretischer Überzeugung, Selbstverständnis und Krisenanfälligkeit nutzt Hegel mit seiner Methode der historisch-immanenten Kritik: Indem Hegel in seinen weltgeschichtlichen Erläuterungen zeigt, dass das Scheitern der pólis notwendigerweise mit dem griechischen Verständnis praktischer Normen verbunden ist, widerlegt er zugleich eben dieses Normverständnis. Das griechische Projekt einer selbstbestimmten Gemein463 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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schaft auf Grundlage der Tugend mag auf dem Papier noch so plausibel klingen, es ist doch zum Scheitern verurteilt. Eine freie, dauerhafte Kooperation muss daher auf ein anderes, erweitertes Verständnis von Normen zurückgreifen. Wenn wir nun am Ende dieser Untersuchung einen Blick zurück zu ihrem Ausgangspunkt werfen, der aristotelischen Rechtfertigung der Sklaverei, und überprüfen, wie die historisch-immanente Kritik Hegels konkret als Widerlegung dieses Gedankens genutzt werden kann, dann fällt auf, dass Hegel die griechische Sklaverei in seiner Schilderung des Untergangs der pólis nicht mehr erwähnt. Diese Auslassung erscheint aus systematischen Gründen bemerkenswert: Hegel bezeichnet in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Institution der Sklaverei als eine der drei zentralen und charakteristischen Beschränkungen der griechischen Freiheit, neben den Orakelbefragungen und der Kleinheit der Stadtstaaten. 1 Somit rechnet Hegel die Sklaverei zu den wichtigsten Symptomen für die Unzulänglichkeit des griechischen Selbst- und Normverständnisses. In der Akzeptanz der Sklaverei zeigt sich der Mangel des aristotelisch-griechischen Denkens und die Unangemessenheit der griechischen Lebensweise für den Menschen als geistiges Wesen am deutlichsten. Allerdings trägt die Sklaverei in Hegels Augen nicht zum Scheitern der griechischen Kooperationsgemeinschaft bei. Sie hat Hegel zufolge keine destabilisierende Wirkung auf die pólis, auch wenn einige Interpreten in der Nachfolge Alexandre Kojèves dies vermuten und im Zusammenbruch der griechischen Stadtstaaten die Dynamik von Herrschaft und Knechtschaft am Werke sehen, welche sich in einem unterschwelligen Klassenkampf äußere. 2 Eine solche quasimarxistische Lesart hat jedoch keine Grundlage in Hegels Geschichtsvorlesungen. Den historischen Sklavenaufständen, die im antiken Griechenland stattfanden – etwa unter den spartanischen Heloten – schenkt Hegel keine besondere Aufmerksamkeit. 3 Anders verhält es sich jedoch mit den beiden anderen genannten Beschränkungen der griechischen Freiheit. Ihnen spricht Hegel durchaus eine entscheidende Rolle in der Krise des antiken Griechenlands zu: Als die Griechen das Vertrauen in ihre Orakel verlieren, führe dies zur inneren Zersetzung der pólis-Gemeinschaft, die ihre Fähigkeit zur Einigung einbüße 1 2 3
Hegel, VPhGes S. 310–312. Z. B. Oquendo (1999) und Shklar (1976), siehe auch Kojève (1947). Vgl. die lakonische Beschreibung der Helotenaufstände in Hegel, VPhGes S. 320.
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und in streitende Fraktionen zerfalle. 4 Die Kleinheit der Stadtstaaten hingegen mache sie angreifbar für die Heere der Makedonier und Römer. Folglich offenbaren sich in diesen beiden Beschränkungen der griechischen Freiheit laut Hegel nicht nur Mängel des griechischen Denkens, er sieht sie zugleich auch als Ursachen der inneren und äußeren Instabilität der pólis. Hegel kann daher mit seiner historisch-immanenten Kritik, die vor allem auf die Krisenanfälligkeit von Institutionen achtet, unmittelbar bei diesen beiden Beschränkungen des griechischen Geistes ansetzen. Im Gegensatz dazu scheint der Bezug seiner Kritik zur Sklaverei fraglich. Dieser Eindruck wird möglicherweise dadurch verstärkt, dass die Institution der Sklaverei den Untergang der griechischen pólis überdauert. Die antiken Römer, die Hegel als das nächste weltgeschichtliche Volk nach den Griechen betrachtet, praktizieren ebenfalls Sklaverei. Durch die ausgedehnten Feldzüge der Römer, in denen sie eine Unzahl von Kriegsgefangenen verschleppen und versklaven, sowie durch die Abstraktionsfähigkeit des römischen Rechts, die es erlaubt, praktisch jede beliebige Person per Dekret zum Sklaven zu erklären, nimmt die römische Sklaverei Ausmaße an, die in Griechenland so noch nicht bekannt waren (siehe auch hierzu VI.6). Bekanntermaßen endet die unselige Geschichte der Sklaverei längst nicht mit dem Fall Roms, sondern setzt sich bis in unsere Zeit fort. Auch in dieser Hinsicht scheint sich die Sklaverei von den anderen beiden Beschränkungen des griechischen Geistes zu unterscheiden: Sowohl die Größenbeschränkung der Stadtstaaten als auch die Orakel als politische Instanz der Entschließung werden Hegel zufolge von den Römern überwunden. Dank des römischen Rechts und eines ausgefeilten bürokratischen Apparats umspannt das römische Imperium nahezu die gesamte antike Welt. Die politische Funktion der Orakel wird laut Hegel von der subjektiven Willkür des Kaisers übernommen. 5 In dieser oberflächlichen Betrachtung scheint die Institution der Sklaverei als Beschränkung der Freiheit nur lose mit dem griechischen Prinzip der Tugend verbunden zu sein: Eine Gemeinschaft, die wie die griechische pólis auf Tugendnormen basiert, ist zwar zwangsläufig exklusiv, da sie ihre Anerkennung an die Bedingung der Tugendhaftigkeit knüpft. Ein bedingter Modus der Anerkennung führt jedoch immer dazu, dass bestimmte Subjekte oder sogar ganze 4 5
Ebd., S. 311. Vgl. ebd., S. 508 f.
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Gruppen von der vollen Teilhabe an der Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Insofern ist die Tugend als politisches Prinzip hinreichend für eine interne Rechtfertigung der Sklaverei. Allerdings scheint diese Verknüpfung nicht notwendig zu sein: Wie die Geschichte lehrt, finden wir Formen der Sklaverei in nahezu allen Kulturen und Epochen. Die Institution der Sklaverei besitzt folglich, wie es den Anschein hat, eine historische Kontinuität, die gegen die Methode der historisch-immanenten Kritik weitgehend immun scheint – schließlich haben die robustesten Sklavenhaltergesellschaften der Geschichte, wie beispielsweise das antike Rom und China, mehr als ein Jahrtausend überdauert. Noch steht der Beweis aus, dass die liberalen Demokratien der Neuzeit ähnlich krisenfest die Zeiten überstehen können. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Überlegung jedoch um einen Trugschluss, der auf einer allzu abstrakten Betrachtung der Geschichte beruht. Sehen wir genauer auf die historischen Phänomene, dann zeigt sich, dass die vermeintliche Kontinuität der Sklaverei nur oberflächlich besteht. Es ist zwar richtig, dass zu fast allen Zeiten Verhältnisse der Unfreiheit und Ausbeutung existierten, vom griechischen doûlos, dem jüdischen Schuldknecht und dem römischen servus, über die mesopotamischen Zandsch, die unterworfenen Slaven in Europa und die islamischen Mamelucken bis hin zu den amerikanischen Plantagensklaven. Im Einzelnen sind diese Verhältnisse jedoch rechtlich und sozial derart unterschiedlich, dass sie nur auf abstrakteste Weise unter denselben Oberbegriff fallen. Die Sklaverei hält sich deshalb so hartnäckig in der Geschichte, weil sie als Institution wandlungsfähig ist und sich der jeweils herrschenden Denkweise anpasst. 6 Somit lässt sich sagen, dass die Sklaverei zwar nicht mit dem Bedeutungsverlust der griechischen pólis endet, aber dabei eine neue Form annimmt, die durch die Bedingungen der römischen Weltanschauung und insbesondere des römischen Rechts geprägt ist. Die spezifisch griechische Form der Sklaverei ist allerdings mit der pólis untergegangen. Dies bedeutet vor allem, dass die Doktrin des natürlichen Sklaven und mit ihr die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei unhaltbar werden. 7 In dieser Hinsicht bietet uns die historischFür einen Überblick über die Transformationen der Institution der Sklaverei in der Geschichte siehe z. B. Davis (1984). 7 Zu späteren Zeiten wird die aristotelische Doktrin zwar erneut aufgegriffen und beispielsweise von den europäischen Eroberern auf die brasilianischen Ureinwohner 6
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immanente Kritik der Tugend sehr wohl Argumente gegen die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei, auch wenn sie nicht direkt zum Zusammenbruch der pólis-Gemeinschaft beigetragen hat. Der natürliche Sklave, von dem Aristoteles spricht, ist ein unmittelbares Produkt seiner tugendzentrierten Weltanschauung, die sich im Verlauf der Geschichte als unhaltbar erweist. Mit der historisch-immanenten Kritik des griechischen Prinzips der Tugend wird also das Ziel einer Widerlegung der aristotelischen Rechtfertigung erreicht. Es muss hierbei freilich mit Bescheidenheit zugestanden werden, dass die Reichweite dieser Widerlegung begrenzt ist. Mit der systematischen Rekonstruktion der Notwendigkeit des Untergangs der pólis, wie es von dieser Untersuchung vorgenommen wurde, kann nicht die Unrechtmäßigkeit der Sklaverei überhaupt bewiesen werden. Vielmehr wurde lediglich gezeigt, dass die aristotelische Doktrin vom natürlichen Sklaven, die den Status des Sklaven an die Fähigkeit zur Selbstbestimmung knüpft, unvernünftig ist. Für die römische Sklaverei beispielsweise, welche die Frage der Anerkennung und Nicht-Anerkennung einfach durch rechtliche Setzung ohne vorige Bewertung der jeweiligen Person beantwortet, muss ein anderer Argumentationsweg gefunden werden. In den Augen der antiken Römer durfte durchaus ein Jude aus Tarsus vollwertiger Bürger sein, genauso wie einer ihrer römischen Landsleute in die Schuldsklaverei verkauft werden konnte. Für sie handelte es sich lediglich um einen rechtlichen Status, der nicht an die Fähigkeiten, Geburt, Herkunft oder andere Eigenschaften des Betroffenen geknüpft war. Der römische Sklave ist daher auch kein natürlicher Sklave im aristotelischen Sinn und die interne Rechtfertigung der römischen Sklaverei hat eine andere Form als die aristotelische. Hegel verfolgt mit seiner Weltgeschichte dabei durchaus das größere, anspruchsvollere Argumentationsziel, das sich gegen die Sklaverei überhaupt richtet. Für dieses Ziel ist jedoch eine wesentlich umfangreichere Untersuchung nötig, die laut Hegel die gesamte Geschichte des römischen Reichs und des Christentums bis in die Neuzeit mit angewendet (siehe hierzu Teil I). Mit einer sorgfältigen Betrachtung der einzelnen Fälle ließe sich jedoch zeigen, dass das aristotelische Argument entweder radikal umgeformt wird oder ohnehin nur als Feigenblatt für eine Praxis verwendet wird, deren Ungerechtigkeit klar ist. Das Selbst- und Politikverständnis der spanischen Konquistadoren hat praktisch nichts mehr mit den antiken pólis-Bürgern gemein, genauso wenig wie die Lebensbedingungen der versklavten Ureinwohner denen eines natürlichen Sklaven bei Aristoteles ähneln.
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einbeziehen muss (siehe Abschnitt VI.6). Erst mit einer derartig umfassenden Anwendung der historisch-immanenten Kritik lässt sich auch Hegels Begriff der unbedingten Würde erfassen, der für dieses Argumentationsziel nötig ist. Die Ergebnisse dieser Arbeit beschränken sich jedoch, wie gesagt, auf das bescheidenere Ziel, eine angemessene Widerlegung der aristotelischen Doktrin zu entwerfen. Hierfür sind vor allem zwei Einsichten hilfreich, die uns die bisherige Untersuchung des Scheiterns der griechischen pólis an die Hand gibt, nämlich die Widerlegung des Zwei-Phasen-Modells praktischer Normen und die sokratische Einsicht in die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens. Im verbleibenden Abschnitt dieser Arbeit skizziere ich, wie diese beiden Einsichten gegen die Figur des natürlichen Sklaven sprechen. Zum Kollaps des Zwei-Phasen-Modells praktischer Normen: Die sophistisch-sokratische Kritik an der Objektivität der Tugend greift die vergegenständlichende Normauffassung der Griechen an. Es wird gezeigt, dass Normen nicht unabhängig von ihrer Auslegung und den Entscheidungen der Subjekte existieren, die sie anwenden. Folglich beruht auch die strikte Trennung, die die Griechen zwischen der Gestaltung und der Anwendung von Normen vornehmen, auf einem Irrtum. Jeder Akt der Normanwendung ist zugleich ein Akt der Normausdeutung und somit eine freie, gestalterische – allerdings nicht beliebige – Tätigkeit. Das zweiphasige Modell selbstbestimmter Normativität muss also durch ein monistisches Modell ersetzt werden, in dem die scheinbar gegensätzlichen Momente der Selbstgestaltung und Selbstbindung auf eine andere Weise miteinander vereinbart werden als durch die zeitliche Trennung des Zwei-PhasenModells. 8 Aus dieser Einsicht folgt zum einen, dass die griechische Gemeinschaftsstruktur eines harmonischen Gleichgewichts zwischen Phasen der Gesetzgebung und Phasen der Habitualisierung verfehlt ist. Zum anderen zieht diese Einsicht Konsequenzen für die griechische Auffassung von Anerkennung nach sich: Nach griechischem Selbstverständnis darf nur der (zumindest ansatzweise) Tugendhafte an der gemeinsamen Kooperation als ebenbürtiges Subjekt teilnehmen. Die Anerkennungsbedingung der Tugend bedeutet, dass jeder Einzelne gewissermaßen geprüft wird, ob er die geistigen Fähigkeiten zur Selbstbestimmung besitzt oder ob er ein natürlicher Sklave im aristotelischen Sinn ist. Eine solche Prüfung setzt allerdings die ver8
Vgl. Brandom (2015), S. 277.
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fehlte griechische Normauffassung voraus. Die Griechen verhalten sich so, als sei es möglich, die Kompetenz des Einzelnen nach einem objektiven Maßstab zu beurteilen, der weder von der Zustimmung des Einzelnen noch von den Entscheidungen seiner Beobachter abhängt. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer monistischen Normauffassung hingegen verrät, dass dieses griechische Bild verkehrt ist. Jeder Akt der Beurteilung ist zugleich mit einer schöpferischen Normgestaltung verbunden. Dieses Moment der Gestaltung stellt jedoch eine andere Beziehung zwischen den urteilenden Subjekten her, als nur durch das Moment der bloßen Normanwendung besteht. Die Gestaltung kann keine einseitige Tätigkeit sein, sondern läuft auf eine gemeinsame Aushandlung der Normen hinaus. Dies verlangt aber vor allem eine vorgängige Anerkennung des Gegenübers als freies Subjekt. Daraus folgt, dass die grundlegende Anerkennung eines Subjekts nicht von einer Beurteilung seiner Normenkompetenz abhängig gemacht werden kann, wie es im griechischen Denken geschieht. Die Anerkennung des anderen ist vielmehr vorgängig. Indem ich den anderen auf seine Tugendhaftigkeit beurteile, habe ich ihn immer schon als Kooperationssubjekt anerkannt, da er bei der Beurteilung mitwirkt. Diese vorgängige Anerkennung des anderen schließt freilich nicht aus, dass ich ihm im Verlauf einer Beurteilung seine Tugendhaftigkeit oder eine bestimmte Normenkompetenz abspreche. Allerdings ist der Beurteilte zu diesem Zeitpunkt längst schon als Mitglied der selbstbestimmten Aushandlungsgemeinschaft anerkannt. Die aristotelische Idee, Anerkennung könne an eine Bedingung wie die Tugend (oder andere vergleichbare Fähigkeiten) geknüpft werden, die in einem quasi-empirischen Prozess überprüft werde, bricht so mit dem verfehlten Zwei-Phasen-Modell praktischer Normen zusammen. Die Notwendigkeit des Gewissens: Die sokratische Einsicht in die Notwendigkeit einer Praxis des Gewissens beruht auf der Erkenntnis, dass jede Handlungssituation grundsätzlich unüberschaubar ist (vgl. Kapitel V.2). Eine angemessene Handlungsbeurteilung muss also stets die allgemeine Überforderung des endlichen Subjekts berücksichtigen. Dies schließt nicht nur das handelnde Subjekt mit ein, sondern auch das beurteilende Subjekt. Eine Praxis des Gewissens trägt diesem Umstand Rechnung und gesteht den einzelnen Handelnden einen Ermessensspielraum für ihre Entscheidungen und Handlungen zu, innerhalb dem sie von Forderungen nach Begründung und Rechtfertigung befreit sind. Solange die Handlungen eines 469 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Subjekts diesen Freiraum nicht überschreiten – indem sie etwa den Gewissensfreiraum eines anderen Subjekts verletzen –, fordert die Praxis des Gewissens von den anderen Teilnehmern Toleranz für diese Handlungen. Selbst wenn ich mit den entsprechenden Entscheidungen nicht einverstanden bin und die fraglichen Handlungen für schlecht oder lasterhaft erkläre, muss ich mein Urteil für mich behalten. Somit beschneidet die Praxis des Gewissens die Reichweite drittpersonaler ethischer Beurteilungen. Gewissermaßen wird durch die Praxis des Gewissens der Gedanke einer Privatsphäre geboren. Mit der sokratischen Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen können wir das aristotelische Konzept des natürlichen Sklaven in zweierlei Hinsicht als übergriffig ausweisen: Erstens bestimmt Aristoteles den natürlichen Sklaven als einen Menschen, der unfähig ist, für sich einen Begriff des gelungenen Lebens zu fassen und die entsprechenden praktischen Überlegungen zu treffen. Der natürliche Sklave ist ein Subjekt ohne »bouleutikón«, also ohne die Fähigkeit zur vernünftigen Zwecksetzung (siehe Teil I). Die Praxis des Gewissens verlangt aber von mir, dass ich die Zwecke und Überlegungen des anderen toleriere, solange sie sich in dem Ermessensspielraum des Gewissens bewegen. Insbesondere betrifft dies Zwecksetzungen, die nur für das jeweilige Subjekt relevant sind und niemand anderen in seiner Selbstbestimmung verletzten. Selbst wenn ich die Entscheidungen eines anderen für untugendhaft, schlecht, widersinnig oder unvernünftig halte, hat mein diesbezügliches Urteil keine Bedeutung, weil diese Entscheidungen durch den Ermessensspielraum des Gewissens geschützt werden. Das aristotelische Urteil, dass ein Individuum gänzlich unfähig zum vernünftigen Überlegen sei, überschreitet diesen Schutzraum des Gewissens und muss deshalb zurückgewiesen werden. Selbst wenn alle übrigen Mitglieder einer Gemeinschaft der Ansicht wären, dass ein konkretes Individuum über keinen Begriff des gelungenen Lebens verfüge, müssten sie es dennoch so behandeln, als besäße es einen derartigen Begriff. Zweitens beruht die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei auf der Überlegung, dass es für den natürlichen Sklaven keine Güter gebe und daher nur ein Ausbeutungsverhältnis zu ihm möglich sei. Tatsächlich ist mit der Praxis des Gewissens selbst ein metastufiges Gut verbunden, nämlich die gegenseitige Respektierung der Gewissensentscheidung. Das »anundfürsichseiende Objektive« der Praxis des Gewissens, das wechselseitige Zugeständnis eines Ermessensspielraums ist ebenfalls ein Gut – und zwar sowohl für den Einzelnen 470 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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als auch für die Gemeinschaft als Ganzes. Wenn wir also die Entscheidungen eines Gemeinschaftsmitglieds nicht tolerieren, obwohl sie in diesen Ermessensspielraum fallen, dann schaden wir ihm und der Gemeinschaft. Das Gut, dass durch die Praxis des Gewissens realisiert wird, ist das Gut einer vernünftigen Handlungsbewertung, die dem endlichen Subjekt in einer offenen, unüberschaubaren Welt angemessen ist. Dieses Gut darf keinem einzelnen Subjekt abgesprochen werden, ganz gleich welche Fähigkeiten es hat, wenn wir es nicht für die gesamte Gemeinschaft gefährden wollen.
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Danksagung
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich 2018 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereicht und verteidigt habe. Im Verlaufe der Arbeit habe ich von zahlreichen Personen und Institutionen vielfältige Unterstützung erfahren, sei es durch Ermutigung, philosophische Diskussion, kritische Hinweise, Geduld oder entgegenkommendes Vertrauen. Besonders danken möchte ich meinen beiden Gutachtern, Andrea Kern und Pirmin Stekeler-Weithofer, die sich bereit erklärt haben, mich als Doktorand zu betreuen. Ein weiterer Dank gilt den Teilnehmern des Oberseminars am Leipziger Institut für Philosophie und allen weiteren Personen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir meine Ideen zu diskutieren oder Teile meiner Arbeit zu lesen und im gemeinsamen Gespräch auf Herz und Nieren zu prüfen. Insbesondere möchte ich hier James Conant, Thomas Dworschak, Rebekka Gersbach, Wolfram Gobsch, Johann Gudmundsson, Matthias Haase, Adrian Haddock, Falk Hamann, Jonas Held, Peter Heuer, Thomas Khurana, Ingolf Max, Sebastian Rödl, Henning Tegtmeyer, Evi Palauneck, Anton Walsch, Katrin Weickmann und Peter Wiersbinski nennen. Robert Brandom erklärte sich im Rahmen seiner Leipziger Veranstaltungsreihe mehrfach geduldig bereit, sich meinen kritischen Fragen zu stellen. Während eines äußerst produktiven Forschungssemesters an der University of Chicago erfuhr ich viele Anregungen und philosophische Gastfreundschaft, unter anderem von Matthew Boyle, Agnes Callard, Gabriel Richardson Lear, Joshua Mendelsohn, Anselm W. Müller, Rory O’Connell, Robert Pippin und Candace Vogler. Weiterer Dank gebührt der Studienstiftung des deutschen Volkes, die diese Dissertation mit einem Promotionsstipendium gefördert hat, sowie der Jury des Karl-Alber-Preises, welche die Arbeit für auszeichnungswürdig befunden hat und mir so die Verlagspublikation ermöglicht. 473 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
Danksagung
Schließlich danke ich meiner Familie, vor allem meinen Eltern und meiner Frau, deren Unterstützung die ausdauerndste und langmütigste war. Bonn, August 2020
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Bibliographie
Siglen Aristoteles EE Eudemische Ethik NE Nikomachische Ethik Pol. Politik Diogenes Laertius Vitae Von den Leben und Meinungen berühmter Philosophen Hegel, G. W. F. Enz.I-III Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Werke Band 8–10) GPhR Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke Band 7) PhG Phänomenologie des Geistes (Werke Band 3) VÄsth.I-III Vorlesungen über Ästhetik (Werke Band 13–15) VGPhil.I-III Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke Band 18–20) VPhGes Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke Band 12) VPhRel.I-II Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Werke Band 16–17) Kant, Immanuel KU Kritik der Urteilskraft Thomas von Aquin STh Summa Theologia
Klassische Literatur Die klassischen Texte zitiere ich in dem jeweils üblichen Format (in der Regel mit der Nennung des Buchs und Kapitels oder des Paragraphen). Für Aristoteles verwende ich die Bekker-Zählung und für 475 https://doi.org/10.5771/9783495823873 .
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Platon die Stephanus-Paginierung. Hegel hingegen zitiere ich der Vergleichbarkeit und Zugänglichkeit halber ausschließlich über die Seitenzahlen der Suhrkamp-Werkausgabe in 20 Bänden. Aristophanes, Die Wolken, übersetzt von Otto Seel, Stuttgart 1963. Aristoteles, Etica Nicomachea, Testo greco a fronte, tradotto e edita da Carlo Natali, Editori Laterza, Roma 1999. – Kategorien, griechisch-deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ingo Rath, Stuttgart 1998. – Historia Animalium, Books I – X, edited by D. M. Balme, Cambridge 2002. – Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, herausgegeben von Héctor Carvallo und Ernesto Grassi, München 1966. – Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006. – Politica, edited by W. D. Ross, Oxford 1957. – Politik, übersetzt von Franz Susemihl, kommentiert von Wolfgang Kullmann, Reinbek bei Hamburg 1994. – Sophistische Widerlegungen, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1968. – Rhetorik, übersetzt und kommentiert von Franz G. Sieveke, München 1980. – Staat der Athener, übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Band 10 Teil I), Berlin 1990. Cicero, Marcus Tullius, Über die Wahrsagekunst/De Divinatione, lateinischdeutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, Sammlung Tusculum, Berlin 2013. Diogenes Laertius, Von den Leben und den Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt von Otto Apelt, herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1998. Hegel, G. W. F., Werke in 20 Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832– 1845 neu editierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986. Herodot, Historiae, 2 Volumes, edited by Nigel Guy Wilson, Oxford Classical Texts, Oxford 2015. Hesiod, Werke in einem Band: Theogonie, Werke und Tage, Der Schild des Herakles, Fragmente, übersetzt von Luise und Klaus Hallof, Berlin und Weimar 1994. Hobbes, Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, übersetzt von Walter Euchner, herausgegeben von Iring Fetscher, Berlin 1966.
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