Gesammelten Schriften Band 1 Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen [1] 9783534268184, 3534268180

Ernst Troeltschs ›Gesammelte Schriften‹, erschienen in den Jahren 1912 - 1925, waren lange vergriffen; die vorliegende A

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German Pages 3610 [1043] Year 2016

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Titel
Impressum
Ernst Troeltsch. Leben und Werk
Vorwort
Inhaltsübersicht
Einleitung und methodische Vorfragen
I. Kapitel. Die Grundlagen in der alten Kirche
1. Das Evangelium
2. Paulus
3. Der Frühkatholizismus
II. Kapitel. Der Mittelalterliche Katholizismus
1. Das Problem
2. Ansätze für die Mittelalterliche Einheitskultur
3. Die landeskirchliche Periode des Frühmittelalters
4. Die universalkirchliche Reaktion und die katholische Einheitskultur
5. Die Bedeutung der Askese im System des mittelalterlichen Lebens
6. Relative Annäherung der tatsächlichen sozialen Lebensformen an das kirchliche Ideal
7. Die theoretische Durchleuchtung der kirchlichen Einheitskultur in der thomistischen Ethik
8. Die mittelalterliche Sozialphilosophie nach den Grundsätzen des Thomismus
9. Das absolute Gottes- und Naturrecht und die Sekten
III. Kapitel. Der Protestantismus
1. Das soziologische Problem des Protestantismus
2. Das Luthertum
3. Der Calvinismus
4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden
Schluss
Sachregister
Namenregister
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Gesammelten Schriften Band 1 Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen [1]
 9783534268184, 3534268180

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Gesammelte Schriften von

Ernst Troeltsch

Erster Band

Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen

Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von

Ernst Troeltsch Mit einer Einführung zu Ernst Troeltschs Leben und Werk von Friedemann Voigt

Reprografischer Nachdruck der 1912 im Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen erschienenen Ausgabe, erweitert um eine Einführung zu Ernst Troeltschs Leben und Werk von Friedemann Voigt. Ernst Troeltschs Einleitung zu den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ sowie die Kapitel I – III 2 des Werkes sind ein veränderter Abdruck aus den Bänden 26–30 des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einband- und Schubergestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26818-4 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: ebook (pdf) 978-3-534-74239-4

Ernst Troeltsch. Leben und Werk Von Friedemann Voigt Voigt Ernst Troeltsch –Friedemann Leben und Werk

Ernst Troeltsch (1865–1923) war einer der bedeutendsten Intellektuellen des ausgehenden Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik. Mit seinen Beiträgen zur theologischen Dogmatik und Ethik, zur Kulturgeschichte und Religionssoziologie, zur Geschichtsphilosophie, zu Politik und Zeitgeschichte gehört er nicht nur zu den prägenden Denkern seiner Zeit, sondern vermittelt bis in die Gegenwart Anstöße in allen diesen Themenkreisen. Troeltschs Werk ist insgesamt eine ethische Theorie, die in ihrer Vielfalt und Weite dem Ziel verpflichtet ist, unter Bedingungen der modernen Welt Gemeinsinn unter Bedingungen freier Individualität zu bewahren und konstruktiv zu entwickeln. Werkgeschichtlich entfaltet sich dies aus dem dezidiert theologischen Interesse an der Zusammenbestehbarkeit von Religion und moderner Welt. Seine Arbeiten führen über kulturgeschichtliche Studien zur Bedeutung des Protestantismus in eine großangelegte Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie mit einem zunehmenden Bewusstsein von der Notwendigkeit konkreter politischer Umsetzung.

1. Studium und Lizentiatenarbeit Ernst Peter Wilhelm Troeltsch wurde am 17. Februar 1865 in Haunstetten bei Augsburg geboren.1 Nach Schulzeit und Militärdienst studierte er von 1884 bis 1888 in Erlangen, Berlin und Göttingen Theologie. Seine wichtigsten theologischen Lehrer in diesen Studienjahren waren Julius Kaftan und vor allem Albrecht Ritschl, die bestimmende Gestalt der protestantischen Schultheologie. Ritschls Unternehmen, einerseits das Eigentümliche des Christentums durch einen betont wissenschaft1 Für die Biographie Troeltschs vgl. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991; Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der „Kleinen Göttinger Fakultät“ 1888–1893, Gütersloh 21985 (Troeltsch-Studien, Band 1).

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lichen Religionsvergleich zu gewinnen, andererseits die Erkenntnis der Offenbarung an den dogmatischen Standpunkt der Gemeinde zu knüpfen und darüber hinaus den christlichen Glauben als notwendige Bedingung der Sittlichkeit zu behaupten, beeindruckte die jungen Theologen, die nach einer Möglichkeit suchten, moderne Wissenschaft, kulturelle Offenheit und christlichen Glauben zu vereinen. Ritschls Theologie bot dazu ganz unterschiedlichen theologischen Temperamenten Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten der Akzentuierung. Troeltsch hat sich später zunehmend deutlich, um nicht zu sagen aggressiv, von der Theologie Ritschls und seiner Schüler abgewandt, die er im Kern von einem dogmatischen Verständnis beherrscht sah, welches das historische Denken nur als Akzidenz begreifen konnte. Dem widersprach die für Troeltsch entscheidende Erfahrung und Einsicht seiner Studienjahre: Die alles durchdringende und verändernde Kraft des geschichtlichen Bewusstseins. Die prägende Erfahrung von Troeltschs Studium war tatsächlich die Beschäftigung mit der Religionsgeschichte, wie sie damals vor allem in der alttestamentlichen Wissenschaft betrieben wurde. In Göttingen wurde diese religionsgeschichtliche Methode von Bernhard Duhm vertreten und regte einen Kreis begabter junger Theologen zum Weiterdenken an, die den Kern der „Religionsgeschichtlichen Schule“ bilden sollten, darunter die zukünftigen Alttestamentler Hermann Gunkel und Alfred Rahlfs sowie die Neutestamentler Wilhelm Bousset, Johannes Weiß und William Wrede.2 Troeltsch nahm in dem Kreis insofern eine Sonderstellung ein, als er der Systematiker dieser „Kleinen Göttinger Fakultät“ war.3 Nachdem Troeltsch 1888 die theologische Aufnahmeprüfung im bayerischen Ansbach abgelegt hatte und noch im selben Jahr in München ordiniert wurde (im Sommer 1891 folgte das Zweite Theologische Examen in Ansbach), ließ er sich nach einigen Monaten als Hilfsgeistlicher für zwei Jahre vom Kirchendienst beurlauben, um in Göttingen die Lizentiatenprüfung abzulegen. Mit seiner Studie über „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon“4 arbeitet sich Troeltsch durchaus noch im 2 Ernst Troeltsch, Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule“, in: Ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913 (Gesammelte Schriften, Band 2), 500–524. Im Folgenden zitiert als: GS 2. 3 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Untersuchungen zur Biographie, 235–290. 4 Ernst Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon, in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hg.

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Geiste seines Lehrers Albrecht Ritschl an einem Verständnis der Dogmatik ab, das auf die Vermittlung von offenbarten Glaubenswahrheiten und wissenschaftlichen Vernunftwahrheiten abzielt. Aufgrund dieser Arbeit wurde Troeltsch von der Göttinger theologischen Fakultät im Februar 1891 zum Lic. theol. promoviert und in einem damit verschränkten Verfahren auch habilitiert. In seiner ersten These zur Erlangung der Lizentiatenwürde verdichtete er sein Anliegen, die Methoden und Konsequenzen der Religionsgeschichtlichen Schule über den Bereich der alt- und neutestamentlichen Forschung hinaus auf die Christentumsgeschichte zu übertragen und in ihrer fundamentalen Bedeutung für die Theologie darzulegen: „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den großen Religionen, die wir genauer kennen.“5 Diese These kann als programmatisch für die Arbeit Troeltschs in der nächsten Dekade gelten.

2. Theologieprofessor in Bonn und Heidelberg Die akademische Karriere Troeltschs entwickelte sich sehr zügig. 1892 wurde er zum außerordentlichen Professor für Systematische Theologie in Bonn berufen, 1894 zum ordentlichen Professor für Systematische Theologie in Heidelberg. Dort wirkte Troeltsch zwei Jahrzehnte und entwickelte sich in dieser Zeit weit über die Theologie hinaus zu einer zentralen Gestalt des deutschen Geisteslebens. Troeltschs Heidelberger Lehrtätigkeit war vor allem Dogmatik und Religionsphilosophie gewidmet. Die dogmatischen Publikationen Troeltschs finden sich in seinen 26 Artikeln der Erstauflage des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“6, das Troeltsch auch v. Christian Albrecht, Berlin / New York 2009 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 1), 81–338. Im Folgenden zitiert als: KGA 1. 5 Ders., Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde, in: KGA 1, 69–71, 70. 6 Ernst Troeltsch, „Aemter Christi“, „Akkomodation Jesu“, „Berufung“, „Concursus divinus“, „Dogma“, „Dogmatik“, „Eschatologie: IV. Dogmatisch“, „Erlösung: II. Dogmatisch“, „Gericht Gottes 2.“, „Gesetz. Uebersicht. I. Religionsphilosophisch“, „Gesetz: II. Dogmatisch“, „Gesetz: III. Ethisch“, „Glaube: III. Dogmatisch“, „Glaube: IV. Glaube und Geschichte“, „Glaube: V. Glaubensartikel, dogmatisch“, „Gnade Gottes: III. Dogmatisch“, „Gnadenmittel“, „Heilstatsachen“, „Kirche: III. Dogmatisch“, „Naturrecht, christliches“, „Offenbarung, dogmatisch“, „Prädestination: III. dogmatisch“, „Prinzip, religiöses“, „Protestantismus: II. P.[rotestantismus] im Verhältnis zur Kultur“, „Theodizee:

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als Fachberater für Dogmatik begleitete, in Aufsätzen sowie in der „Glaubenslehre“, die postum aus Nachschriften von Vorlesungen veröffentlicht wurde.7 Nicht zuletzt konturierte Troeltsch sein systematisch-theologisches Programm in zahlreichen Rezensionen, die eine wichtige Quelle seiner Theologie darstellen.8 Die Entwürfe zur Religionsphilosophie sind – mit Ausnahme der Schriften zur Absolutheitsthematik9 und des umfangreichen Aufsatzes zur „Selbständigkeit der Religion“10 – im zweiten Band der „Gesammelten Schriften“ Troeltschs enthalten, auch wenn in ihnen das von Troeltsch mehrfach angekündigte System der Religionsphilosophie nur in Ansätzen zu erkennen ist.11 2.1 Von der Religionsgeschichte zur historischen Methode der Theologie Das Vorhaben, die Theologie nach dem Vorbild der religionsgeschichtlichen Arbeit umzubauen bedurfte einer gründlichen Besinnung auf die Grundlagen der Geschichtserkenntnis: „Wie die Religion ein Bestandteil des geschichtlichen Lebens ist, so liegen die Hauptfragen auf dem II. Systematisch“, „Weiterentwickelung der christlichen Religion“. Alle Artikel sind erschienen in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, hg. v. Friedrich Michael Schiele und Leopold Zscharnack, 5 Bände, Tübingen 1909–1913. 7 Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen der Jahre 1911 und 1912, hg. von Gertrud von le Fort, München / Leipzig 1925 (ND Aalen 1981). Vgl. Hans-Joachim Birkner, Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker, in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987 (Troeltsch-Studien, Band 4), 325–337; Walter Edward Wyman Jr., The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, Chico 1983. 8 Vgl. Maren Bienert, Protestantische Selbstverortung. Die Rezensionen Ernst Troeltschs, Berlin / Boston 2014 (Troeltsch-Studien. Neue Folgen, Band 5). 9 Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: Ders., Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902 / 1912). Mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin / New York 1998 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 5), 81–244. Im Folgenden zitiert als: KGA 5. 10 Ders., Die Selbständigkeit der Religion, in: KGA 1, 364–535. 11 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984 (Troeltsch-Studien, Band 3), 207–230.

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geschichtlichen Gebiete.“12 Troeltsch war sich des damit einhergehenden geschichtsphilosophischen und methodischen Anspruchs bewusst. Die Bearbeitung dieses Problems war in der Folgezeit ein Motor der theologischen Innovation und starken Veränderungen unterworfen. Zunächst versuchte Troeltsch, stark beeinflusst von idealistischen Gedanken, die geistigen „Grundtendenzen“ als „Entfaltung der menschlichen Gesamtvernunft“ zu begreifen.13 Die Religion sollte als selbständiges Gebiet des menschlichen Geistes dargelegt werden. Das lässt sich als Ziel von Troeltschs religionsphilosophischen Arbeiten von Mitte der  1890er Jahre14 bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beschreiben.15 Von dem religiösen „Grunderlebnis“16 ausgehend sollten die unterschiedlichen Religionen als seine verschiedenen Erscheinungsformen analysiert werden. Die Religionsforschung sollte so von lehrhaften Überformungen befreit werden und einer unbefangenen Betrachtungsweise Raum geben. Damit distanzierte sich Troeltsch von der teleologischen Deutung der Religionsgeschichte, nach welcher der allgemeine Begriff der Religion zugleich die „Triebkraft dieser Entwickelung“ in sich trägt und so letztlich das Christentum als „notwendige Vollendung“ aufweist.17 Gegenüber manchen Verzeichnungen in der Wahrnehmung von Troeltschs Arbeiten zur Religionsgeschichte dieser Epoche verdient es in Erinnerung gerufen zu werden, dass es ihm dabei darum ging, die historische Betrachtungsweise auf die innere Konstitution der Theologie konsequent anzuwenden. Dieser innertheologische Kontext war für Troeltschs Beschäftigung mit der Religionsgeschichte und Absolutheitsthematik bestimmend.18 Allerdings ist zu sagen, dass sich Troeltsch mit den Überlegungen bis 1897 noch deutlich in den Spuren seines Lehrers Albrecht Ritschl und einer Auffassung der Religionsgeschichte bewegte, die vor allem dem apologetischen Zweck diente, die Sonderstellung des Christentums unter den Religionen zu demonstrieren. Das methodische Problem dieser Arbeiten liegt auf der Hand: Die Auswahl der Kriterien religiöser Entwicklung scheint von vorneherein so auf 12 Ernst Troeltsch, Christentum und Religionsgeschichte, in: GS 2, 328–363, 333. 13 Ebd., 338. 14 Ders., Die Selbständigkeit der Religion, 364–535. 15 Ders., Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS 2, 452–499. 16 Ders., Die Selbständigkeit der Religion, 448. 17 Ders., Christentum und Religionsgeschichte, 353. Für die genauere Analyse von Troeltschs Konstruktion der Religionsgeschichte s. Friedemann Voigt, Die Idee der Persönlichkeit. Ernst Troeltsch und die ,Einheit der Religionsgeschichte‘, in: Zeitschrift für Religions- und Missionswissenschaft 97 (2013), 27–38. 18 Vgl. Trutz Rendtorff, Einleitung, in: KGA 5, 1–50, bes. 4–15.

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einen bestimmten Typus von Religion, nämlich die jüdisch-christliche Überlieferung zugeschnitten, dass ihre Bestimmung als vollendete Religion eine petitio principii ist. Es spricht für die Dynamik und ein hohes Maß an kritischer Selbständigkeit seines Denkens, dass Troeltsch diese Schwäche seiner Theorie selbst erkannte und korrigierte. Mit seinem Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie“19 von 1898 vollzog Troeltsch den entscheidenden Schritt, indem er die historische Betrachtungsweise nicht nur auf die Objekte der Theologie und Religionsgeschichte anwendete, sondern auch auf den eigenen, subjektiven Konstruktionsstandpunkt bezog. Die Theologie kann nicht von einem Ort jenseits der Geschichte betrieben werden. Das ging einher mit einer neu geschärften Kritik an der apologetisch ausgerichteten Dogmatik Ritschls und seiner Schüler. Denn diese konstruiere einen Dualismus „natürlicher“ Geschichte einerseits und „übernatürlicher“ Heilsgeschichte andererseits, durch den das Christentum von allen anderen Religionen grundsätzlich geschieden sei und sich als die geoffenbarte absolute Religion von diesen anderen Religionen unterscheide. Die überlieferte Dogmatik ist die Ausbuchstabierung der Heilsgeschichte, die sich gegenüber den Anfragen der Weltbzw. Religionsgeschichte immun erachtet und sich dank ihrer vermeinten Immunität einen gleichsam freien Umgang mit den Daten und Ereignissen der natürlichen Geschichte erlaubt. Die so konstruierte Geschichte hat allerdings „dogmatische und keine historische Autorität“20. Damit verliert sie freilich auch den Charakter einer allgemein und wissenschaftlich nachzuvollziehenden Einsicht und damit den Anschluss an die modernen Rationalitätsstandards, vor allem an „die echte, moderne Historie, die eine bestimmte Stellung zum geistigen Leben überhaupt in sich schließt“.21 Um diesen Anschluss, die „Zusammenbestehbarkeit“22 der Theologie mit dem modernen Denken zu gewährleisten, „muß voller Ernst mit der historischen Methode gemacht werden“23, muss statt ihrer dogmatischen Methode der „Aufbau[] der Theologie auf historischer, universalgeschichtlicher Methode“ erfolgen, der die religionsgeschichtliche Arbeit eingegliedert ist.24 19 Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: GS 2, 729–753. 20 Ebd., 741. 21 Ebd., 731. 22 Ders., Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: GS 2, 227–327, 229. 23 Ders., Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, 738. 24 Ebd.

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Mit diesem Programmaufsatz von 1898 hat Troeltsch die wesentlichen Fragestellungen eröffnet, die seine theologische Arbeit der nächsten Jahre bestimmen und ihn aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit weit über die Grenzen der Theologie hinaus zu einer großangelegten ethischen Kulturtheorie bewegten. Die wesentlichen Fragekreise lauten erstens: Was bedeutet es für die Theologie und ihre Lehrstücke, wenn sie auf die historische Methode umgestellt werden? Zweitens: Was bedeutet es für die Konstitution und Zukunft des Christentums und seiner Kirchen, wenn das theologische Selbstverständnis historisch imprägniert ist? Und schließlich drittens: Was bedeutet es für die Gesamtkultur, wenn eine ihrer wesentlichen Ingredienzien, die Religion, einen solchen Transformationsprozess durchläuft? Mit seiner Schrift „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ von 1902 hatte Troeltsch eine Antwort auf die ersten beiden Fragekreise gegeben. Er vollzieht damit den endgültigen Bruch mit der Ritschl-Schule. In konstruktivem Interesse war ferner darzulegen, dass die historische Methode der Theologie für die Frömmigkeit förderlich und eben nicht, wie ihm von seinen Gegnern vorgeworfen wurde, zerstörerisch wirke. In aller Kürze ist der Gang der Argumentation Troeltschs in der Absolutheitsschrift so zusammenzufassen: Troeltsch setzt bei dem Gedanken an, dass das Christentum wesentlich durch seine persönliche Gottesbeziehung ausgezeichnet ist. Korrelat dieser persönlichen Gottesbeziehung ist die Schätzung der individuellen Persönlichkeit. Nach seiner Auffassung von 1902 ist Christentum die „stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiosität“25, zugleich aber relativiert er – gemäß der Geltungskraft historischer Erkenntnisse – den Anspruch der „Absolutheit“ auf das Urteil einer „Höchstgeltung“ des Christentums. Diese wissenschaftliche Relativierung aber tue der subjektiven Frömmigkeit keinen Abbruch, denn sie stärke die Anschauung vom Christentum als „einer wirklichen Offenbarung Gottes und der Gewißheit, daß er [der Fromme, F. V.] eine höhere sonst nirgends finden könne.“26 Troeltsch ist es mit dieser Argumentation um den Aufweis zu tun, daß die historisch verfahrende Theologie in einem konstruktiven Verhältnis zu Religion und Frömmigkeit steht. In seinen Worten: Der subjektiven Frömmigkeit genügt die historische Betrachtungsweise, „um ihr volle Kraft und Sicherheit zu geben“.27 Ist dies der Fall, kann ge25 Ders., Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: KGA 5, 81–244, 195. 26 Ebd., 204. 27 Ebd., 205.

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sagt werden, dass zwischen dem christlichen Glauben und dem historischen Denken, dass zwischen Christentum und moderner Welt ein konstruktiver und lebensfähiger Zusammenhang besteht. Hatte Troeltsch also die grundsätzliche Möglichkeit eines Zusammenbestehens von christlicher und wissenschaftlicher Weltanschauung erhoben, musste im Interesse einer theologischen Wahrung dieser Möglichkeit seine Analyse tiefer in deren Verhältnis eindringen. Den Unterschied zwischen der Gewissheit subjektiver Frömmigkeit einerseits und wissenschaftlicher Relativität andererseits markierte Troeltsch durch die Begriffe von „naiver“ und „wissenschaftlicher“ Absolutheit. „Naive Absolutheit“ mache ein Strukturmerkmal aller Frömmigkeit aus, während die wissenschaftliche Absolutheit unter Bedingungen des historischen Denkens unmöglich geworden sei.28 Dieses Problem der zwei Absolutheiten aber, so Troeltsch, steht für „das allgemeine Problem des Verhältnisses des naiven Weltbildes zum wissenschaftlichen in seiner Anwendung auf die Religion.“29 Gerade unter der Bedingung der Zusammenbestehbarkeit von christlichem Glauben und wissenschaftlichem Denken sind die Einwirkungen modernen Wissens und Denkens auf die subjektive Frömmigkeit unverkennbar. Dazu zählt, dass die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Absolutheit den Verlust des apologetischen Fundamentes der Kirche mit sich bringt.30 Dies bedeutet den Schwund gemeinschaftsorientierter und das Anwachsen individualistischer Frömmigkeitstypen. Darüber hinaus hat das Bewusstsein konkurrierender Wahrheitsansprüche zur Auflösung eines gegenständlich-eindeutigen Wahrheitsbewusstseins geführt. Die „naive Selbstgewißheit der Religion“ werde „zu wissenschaftlichen Begründungen und Auseinandersetzungen genötigt, in denen schließlich die Religion psychologisch zu einem vielfach bedingten Phänomen des Subjekts und historisch zu einem unbegrenzten Reiche einzelner, großenteils gleiche Ansprüche erhebender, Religionen geworden ist.“31 Hier wird deutlich: Für Troeltsch hatte sich die Aufgabe einer historischen Methode der Theologie von der rein religionsgeschichtlichen Frage zur Erfassung der Religion als selbständige Bewusstseinsgestalt erweitert, die nun den Anforderungen und Anfragen des modernen Denkens und der modernen Kultur ausgesetzt ist  – und zwar sowohl theoretisch wie praktisch. Die Frage lautet dann nicht nur, wie Religion psychologisch und historisch zu begründen ist, sondern welche Bedeu28 Vgl. Kap. 6 der Absolutheitsschrift, ebd., 210–244. 29 Ebd., 215. 30 Ebd., 230 f. 31 Ebd., 215.

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tung sie für die moderne Kulturgeschichte und die moderne Welt hat. Nicht der Erweis einer „Höchstgeltung“ des Christentums war für ihn eigentlich entscheidend, sondern diese Herausforderung der Religion durch den modernen Geist, auf welche die selbst in geschichtlicher Entwicklung begriffene Religion eine Antwort haben muss. 2.2 Protestantismus und moderne Welt Troeltschs Interessen- und Publikationsgebiet erweiterte sich in den Heidelberger Jahren zusehends auf Fragen der Religions- und Kulturgeschichte, insbesondere auf den Beitrag des Christentums zur modernen Welt. Gründe für diese Ausweitung seiner Arbeit sind zum einen werkimmanent in der historischen Anlage seines Denkens zu sehen, zum anderen aber auch durch äußere Einflüsse veranlasst. Das Heidelberg um 1900 ist als „Schnittpunkt intellektueller Kreise“ bezeichnet worden, dessen „geistige Geselligkeit“ zu hoher Produktivität und Originalität beitrug.32 Auch für Troeltsch waren es besonders die Begegnungen außerhalb der Theologischen Fakultät, die für sein Werk bestimmend wurden. Von besonderer Bedeutung war die „Fachmenschenfreundschaft“ mit Max Weber, der 1897 nach Heidelberg kam.33 1910 zogen die Familien Troeltsch und Weber in ein gemeinsames Haus in der Ziegelhäuser Landstr. 17. Ernst Troeltsch hatte 1901 die Offizierstochter Marta Fick geheiratet, 1913 wurde ihr einziges Kind Ernst Eberhard geboren. Die gemeinsame Frage nach der Genese der modernen Welt und nach der Rolle, die der Protestantismus dabei spielte, war Thema ihrer zahlreichen Gespräche, die auch in dem erweiterten Zirkel des „Eranos“Kreises fortgeführt wurden. Troeltsch konnte hier seine Kenntnisse über die Geistes- und Religionsgeschichte der modernen Welt einbringen und vertiefen.34 1904 fuhren Troeltsch, Max und Marianne Weber zu dem „International Congress of Arts and Sciences“ nach St. Louis.35 Die Reise durch die USA war eine tief beeindruckende Begegnung mit 32 Vgl. Hubert Treiber / Karol Sauerland (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“ 1850– 1950, Opladen 1995. 33 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu ,Max Weber und Ernst Troeltsch‘, in: Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen / Zürich 1988, 313–336. 34 Vgl. dazu die in GS 4 zusammengestellten Texte. 35 Vgl. Hans Rollmann, „Meet me in St. Louis“: Troeltsch and Weber in America, in: Hartmut Lehmann / Guenther Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts, Cambridge / New York / Melbourne 1993, 357–383.

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Technisierung und Industrialisierung in einer neuen Dimension, die Troeltschs kritische Auseinandersetzung mit den Kosten und Ambivalenzen der Moderne tief prägte.36 In engem Austausch mit Weber entstanden die wegweisenden Studien über den genetischen Zusammenhang von asketischem Protestantismus und moderner Welt. In der Fachwelt wurde von der „Troeltsch-Weber-These“ gesprochen.37 In dem Vortrag auf dem Historikertag 1906 „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ entwickelte Troeltsch die Doppelthese von der weitgehend vom Protestantismus unabhängigen Entstehung der modernen Welt einerseits sowie der indirekten Folgen des christlichen Persönlichkeitsgedankens für den modernen Individualismus andererseits. Denn auch der „moderne Individualismus und Rationalismus“ habe seine Wurzeln in einer Metaphysik und Ethik, die durch das Christentum „in die Seele unserer ganzen Kultur eingesenkt ist.“38 Der so geprägte Freiheits- und Persönlichkeitsgedanke finde gerade in der modernen Kultur „ungeheure Ausbreitung und Intensität“ und bilde „ihren besten Gehalt“.39 Der Zusammenhang von christlichem und modernem Individualismus wurde von Troeltsch aber nicht durch die Behauptung einer Kontinuität oder gar Identität ermöglicht, sondern gerade in der Analyse einer Diskontinuität. In kritischer Prüfung des Protestantismus macht er deutlich, dass jener personalistische Kern bei Luther und dem Altprotestantismus von mittelalterlich-katholischen Elementen verhüllt gewesen sei und erst im Prozess der Aufklärung und gesamtkulturellen Emanzipation seit dem 18. Jahrhundert zu neuer Klarheit gekommen sei. In dieser „neuprotestantischen“40 Gestalt habe der christliche Persönlichkeitsgedanke katalysatorische Wirkung auf die moderne Kulturentwicklung gehabt. So wird bei Troeltsch die Religionsgeschichte des modernen 36 Bes. Ernst Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1925 (Gesammelte Schriften, Band 4), 297–338. Im Folgenden zitiert als: GS 4. 37 Vgl. dazu die Beiträge in: Wolfgang Schluchter / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ,Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 38 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin / New York 2001 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 8), 199–316, 221 f. Im Folgenden zitiert als: KGA 8. 39 Ebd., 315. 40 Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906 / 1909 / 1922), hg. von Volker Drehsen, Berlin / New York 2004 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 7).

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Protestantismus zur „religiösen Kulturgeschichte eines sozial wirksamen neuzeitlichen Individualismus“. 41 Es ist gerade die Unterscheidung von modernem Individualismus und christlichem Personalismus, welche es ermöglicht, dem christlichen, bes. dem protestantischen Glauben eine korrigierende Funktion gegenüber den depersonifizierenden Kräften der Moderne zuzuschreiben. Die These von der „Selbständigkeit“ der Religion erhält hier eine weitere, modernitätstheoretische Dimension. Denn erst ihre Selbständigkeit gegenüber anderen, ihrerseits jeweils selbständigen Bereichen der modernen Kultur bedingt ihre Möglichkeit, sich ihnen gegenüber in freier und kritisch-konstruktiver Weise zu verhalten. Das selbständige, personalistische Potenzial des Christentums ermöglicht ihm Distanz und Nähe zur modernen Welt. Es ist nur ein kleiner und naheliegender Schritt, von hier aus zur Analyse der Beziehung des Christentums zur modernen Welt fortzuschreiten. Diese Darstellung der vom Christentum teils bedingten, teils unabhängigen Entwicklung der modernen Welt ist für Troeltsch aber nicht nur naheliegend, sie ist auch systematisch notwendig: Sie bringt wesentliche Argumente zur Berechtigung der eigenen theologischen Position bei, deren Angemessenheit von der Analyse der Genese der modernen Welt gleichsam überprüft wird. Troeltsch erweitert damit seine historische Methode der Theologie über die Behandlung dogmatischer Lehrstücke hinaus auf eine kulturtheoretische Standortepistemologie in theologischer Absicht 42: Die Beziehung von Protestantismus und Moderne lässt sich nicht in der Weise rekonstruieren, dass dabei ein vermeintlich objektiver historischer Blick über eine subjektive theologische Position zu Gerichte sitzt, sondern es wird eine Selbstbestimmung der theologischen Position vollzogen, die das Wissen über sich selbst als historische Position einschließt. Dies erfordert und ermöglicht erstens die streng wissenschaftliche, „wertfreie“ historische Forschung, setzt diese aber in einem zweiten Schritt in einen konstruktiven Zusammenhang mit den normativen Urteilen über den Wert der Religion. So hebt Troeltsch in der „Vorbemerkung“ seines Vortrags mehrfach den streng wissenschaftlichen Charak41 Vgl. Gangolf Hübinger, Ernst Troeltsch – Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 187–218, 201. 42 Vgl. Friedemann Voigt, Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006 (Troeltsch-Studien. Neue Folge, Band 1), 155–173.

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ter der folgenden Ausführungen hervor43 und lässt auch während des Vortrags mehrfach den Konstruktionscharakter der Darstellung deutlich werden. Die materiale Durchführung erfolgt dann so, dass zunächst die Unterschiede der modernen Kultur zu Mittelalter und Altprotestantismus dargelegt werden und die tiefgreifenden Gegensätze der kirchlichen zur modernen, „kirchenfreien“ Kultur hervortreten, um sodann im Neuprotestantismus eine zur modernen Kultur vermittlungsfähige Gestalt des Christentums zu identifizieren. Die kausalgeschichtliche Betrachtung führt also zu der differenzierten These von der Selbständigkeit der modernen Welt und der indirekten Einwirkung des Protestantismus auf den modernen Individualismus. Wenn Troeltsch dann im Schlusskapitel im neuprotestantischen Personalismus die Gestalt der Religion identifiziert, die der modernen individualistischen Kultur auf Augenhöhe zu begegnen erlaubt 44, vollzieht er den Brückenschlag hin zur normativen Bestimmung. Dabei verlässt er die Ebene der rein historischen Betrachtung und erweitert diese, gleichsam in einer Beobachtung zweiter Ordnung, zu einer theologischen Standortepistemologie. Die historische Analyse des Verhältnisses von Christentum und Welt erfolgt somit im normativen theologischen Interesse. Der sich dabei aufdrängenden Frage nach der Geltung solcher „nur“ historisch begründeter Normativität war Troeltsch in seiner Absolutheitsschrift von 1902 mit dem Aufweis begegnet, dass die historisch verfahrende Theologie in einem konstruktiven Verhältnis zu Religion und Frömmigkeit stehe. Nun hat er zudem die kritisch-konstruktive Kraft einer so konstituierten Theologie für die moderne Gegenwartskultur aufgewiesen. Mit seinen Studien zur Religionsgeschichte des Protestantismus hat er so ein zentrales Konstitutionsproblem seiner Theologie auf ein neues Niveau gehoben. Auch wenn für Troeltsch Fragen der konkreten Gegenwartsgestaltung also in direkter Konsequenz seiner Theologie lagen, verstand sich Troeltsch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als intellektueller Begleiter und Deuter der modernen Kultur. Troeltsch engagierte sich zwar wissenschafts- und hochschulpolitisch: 1906 / 07 war er Prorektor der Heidelberger Universität, 1910 bis 1914 Universitätsvertreter in der Ersten Badischen Kammer. Er war an der Gründung der „Heidelberger Akademie der Wissenschaften“ 1909 beteiligt und korrespondierendes Mitglied der Akademien in Berlin und München. Allerdings betrachtete Troeltsch die aus ganz unterschiedlichen politischen Interessen sich speisende Ten43 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 201–207. 44 Ebd., 297–316, bes. 314.

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denz, das Christentum mit konkreten politischen und sozialen Forderungen zu identifizieren, mit Argwohn. Ihm selbst war zu dieser Zeit direktes politisches Engagement eher fern. Zwar arbeitete Troeltsch ab 1904 im „Evangelisch-sozialen Kongreß“ (ESK) mit und seine konservative Grundhaltung wurde zunehmend von liberaler Reformbereitschaft durchdrungen. 45 Die Bitte Adolf von Harnacks, Troeltsch möge ihn 1911 als Präsident des ESK ablösen, schlug er jedoch aus. Dennoch sind es diese sozialpolitischen Kontexte, die ihn zu seiner ausgreifenden Studie „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ inspirieren, die als Kulminations- und Höhepunkt seiner Heidelberger Zeit anzusehen ist. 2.3 Die „Soziallehren“ „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“46 entsprangen Troeltschs Auseinandersetzung mit einer Reihe von Schriften, die sich unter dem Eindruck der sozialen Frage dem Verhältnis von Christentum und Gesellschaft widmeten. Der konkrete Anlass war die Anfrage des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, eine Rezension des Buchs des sozial-konservativen Theologen Martin von Nathusius über die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage zu verfassen. 47 Aber gleich ob von sozialkonservativer oder sozialrevolutionärer Seite, Troeltsch beklagte vehement die „Verworrenheit“48, welche die meisten Schriften auszeichne, wenn es über das Verhältnis des Christentums zum Sozialen gehe. Er entschließt sich 45 Eine wichtige Ausnahme bildet der auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß von 1904 gehaltene Vortrag: Ernst Troeltsch, Politische Ethik und Christentum, in: Ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin / Boston 2014 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 6 / 1), 134–196. Im Folgenden zitiert als: KGA 6 / 1. Vgl. Karsten Fischer, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Liberalismus. Zum Problem der Sozial-Moral moderner Gesellschaften bei Ernst Troeltsch, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“, 117–136. 46 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 (Gesammelte Schriften, Band 1). Im Folgenden zitiert als: GS 1. 47 Vgl. Stefan Pautler, Ernst Troeltschs „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 01 / 2015. Schwerpunkt: Der harte Stoff der sozialen Wirklichkeit. 150 Jahre Ernst Troeltsch, 30–34. Zu weiteren Kontexten und Interpretationsperspektiven vgl. Friedrich Wilhelm Graf / Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Gütersloh 1993 (Troeltsch-Studien, Band 6). 48 GS 1, 5.

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deshalb, für das Archiv eine Reihe von Aufsätzen über die Genealogie des Verhältnisses von Christentum und Gesellschaft zu verfassen. Hatte Troeltsch in seinem Vortrag von 1906 von der „indirekten“ Wirkung des Protestantismus auf die moderne Welt gesprochen und in der Selbständigkeit der Religion gerade ihre Möglichkeit der Distanznahme zur Gesellschaft identifiziert, verfolgt er nun in historischer Perspektive von den Anfängen des Christentums an, wie dieses Verhältnis sogar durch einen Gegensatz geprägt ist, der am deutlichsten in der ethischen Einstellung Ausdruck findet. Indem Troeltsch dies bis zur „rein religiöse[n] Predigt“49 Jesu zurückverfolgt, widerspricht er der Annahme, dieser Antagonismus sei erst in der modernen Welt aufgetreten. In der Predigt Jesu sieht Troeltsch zunächst den „Verzicht auf das innerirdische Sozialideal, auf die politischen und ökonomischen Werte überhaupt“50, wohl aber ist in ihr eine „soziologische Struktur“ enthalten, die die Bahn vorgibt, in der das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verläuft: Es ist die „Doppelstruktur“ von „absolutem Individualismus“, wie er der persönlichen Gottesgemeinschaft entspricht, und „absolutem Universalismus“, wie er dem Gedanken der universalen Liebesgemeinschaft entspricht. Ist in dieser Doppelstruktur der Gegensatz des Christentums zur Welt grundsätzlich enthalten, mußte das Christentum im praktischen Verhältnis mit der Welt stets Kompromisse eingehen, wofür das Naturrechtsdenken den ideologischen Rahmen bereitstellte. Die daraus resultierenden ethischen Konkretionen sieht Troeltsch in Abhängigkeit von der organisatorischen Selbstgestaltung der christlichen Idee in den Gemeinschaftsformen von Kirche, Sekte und Mystik, in denen sich die soziologische Doppelstruktur der christlichen Idee manifestiert. Die jeweilige organisatorische Gestalt enthält also zugleich bestimmte Prädispositionen für das Weltverhältnis.51 Mit ungeheurer Intensität und Arbeitskraft dringt Troeltsch nun tief in die Geschichte der christlichen ethischen Lehrbildungen ein. Die zunächst auf nur wenige Aufsätze geplante Untersuchung wird von ihm immer stärker erweitert. So entsteht eine Untersuchung, die von 49 Ebd., 35. 50 Ebd., 32. Zu Troeltschs Beschäftigung mit der Jesus-Forschung vgl. Johann Hinrich Claussen, Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997 (Beiträge zur historischen Theologie, Band 99). 51 Zur religionssoziologischen Typologie von Kirche, Sekte und Mystik vgl. Arie L. Molendijk, Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik, Gütersloh 1996 (Troeltsch-Studien, Band 9).

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der Predigt Jesu über die Alte Kirche, den mittelalterlichen Katholizismus und den Protestantismus bis in die Neuzeit führt. Es ist „eine volle Parallele zu Harnacks Dogmengeschichte“ auf dem Gebiet der christlichen Ethik.52 Troeltsch bezeichnete die „Soziallehren“ gelegentlich als sein „Lieblingsbuch“.53 Die „Soziallehren“ bilden so den historischen Unterbau für Troeltschs Theorie des Verhältnisses von Neuprotestantismus und Moderne. Es ist deshalb für ihr Verständnis von entscheidender Bedeutung, daß die jeweilige Gemeinschaftsform nicht nur theoriegeschichtlich für die Ausgestaltung der ethischen Lehren, sondern ebenso für die in ihnen sozialisierte Persönlichkeit von prägender Bedeutung ist.54 Das steht ganz im Zeichen von Troeltschs Gegenwartsinteresse, im christlichen Personalismus ein Korrektiv zu den destruktiven Tendenzen der modernen Welt zu behaupten. Zur Ausbildung und Bewahrung dieser personalistischen Kraft bedarf es aber Gemeinschaftsformen, die eben dies leisten. Die religionssoziologischen und theologischen Untersuchungen der „Soziallehren“ münden daher im Schlusskapitel in die Frage nach der angemessenen Organisationsform der Gegenwart.55 Auf dem zeitgenössischen Hintergrund wird die Kirche damit als Institution gekennzeichnet, die zur Ausbildung einer der Moderne gewachsenen sittlichen Persönlichkeit eine volkskirchliche Verfassung benötigt, die sie von der lutherischen Staatskirche ebenso unterscheidet wie von den weltabgewandten Sekten. In daran anschließenden Überlegungen entwickelte Troeltsch daher das Konzept einer „elastisch gemachten Volkskirche“.56 Die Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie Fragen der Kirchenorganisation beschäftigten Troeltsch in der Folgezeit immer wieder und bis in die konkrete politische Arbeit. 52 Ernst Troeltsch, Meine Bücher, in: GS 4, 3–18, 11. Vgl. Joachim Mehlhausen, Ernst Troeltschs „Soziallehren“ und Adolf von Harnacks „Lehrbuch der Dogmengeschichte“. Eine historisch-systematische Skizze, in: Friedrich Wilhelm Graf / Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren, 193–211. 53 Brief Troeltschs an Paul Siebeck vom 18. Januar 1914, zit. nach Hans-Georg Drescher, Zur Entstehung von Troeltschs „Soziallehren“, in: Friedrich Wilhelm Graf / Trutz Rendtorff (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren, 11–26, 11. 54 Für dieses Programm der Soziallehren vgl. Friedemann Voigt, „Die Tragödie  des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels, Gütersloh 1998 (Troeltsch-Studien, Band 10). 55 GS 1, 965–986. 56 Ernst Troeltsch, Die Kirche im Leben der Gegenwart, in: GS 2, 91–108, 105. Vgl. Kristian Fechtner, Volkskirche im neuzeitlichen Christentum. Die Bedeutung Ernst Troeltschs für eine künftige praktisch-theologische Theorie der Kirche, Gütersloh 1995 (Troeltsch-Studien, Band 8).

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3. Troeltsch in Berlin Der Ruf Troeltschs auf den Berliner Lehrstuhl für „Religions-, Sozialund Geschichtsphilosophie und die christliche Religionsgeschichte“ erfolgte wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Weltkrieg und die politischen Folgen für Deutschland und Europa sollten Troeltschs weitere Tätigkeit entscheidend prägen. Die Jahre in Berlin sind für Troeltsch die eines schnell wachsenden und sich wandelnden politischen Bewusstseins sowie von direktem politischen Engagement. Wie gezeigt hatte sich Troeltschs Denken über die Theologie im engeren disziplinären Verständnis hinaus zu einer ethischen Kultur theorie entwickelt. Der Berliner Lehrstuhl war speziell auf seine Arbeitsgebiete zugeschnitten. Die sich so abzeichnende berufsbiografische Veränderung wurde von Troeltsch als durchaus organisch verstanden. Er sah darin die Möglichkeit, seine ethischen Ideen, die er in seinen ausgreifenden theologischen und kulturphilosophischen Studien entwickelt hatte, mit Hilfe der Geschichtsphilosophie für eine im dramatischen Wandel begriffene moderne Welt für die gesamte Gesellschaft wirksam werden zu lassen. Als er im Frühjahr 1915 in der Reichshauptstadt eintraf, war der Eindruck des Kriegsgeschehens übermächtig. Die Politisierung der Öffentlichkeit durch den Ersten Weltkrieg war im Machtzentrum besonders greifbar. Troeltsch hatte nach seinem Eintreffen in Berlin praktisch unmittelbar Zugang zu Zirkeln der geistig-kulturellen und politischen Eliten. Er gehörte der „Deutschen Gesellschaft 1914“ und dem „Mittwochabend“ Hans Delbrücks an, mit dem befreundeten Historiker Friedrich Meinecke bildete er den Kern der „Dahlemer Spaziergänge“, die dem informellen politischen Meinungsaustausch unter einflußreichen Wissenschaftlern dienten. 3.1 Die Kriegspublizistik Troeltsch gehört zu den meistbeachteten Gelehrten des Ersten Weltkriegs und wird zu den herausragenden Vertretern politischen Denkens im Deutschland dieser Epoche gezählt, was durchaus unterschiedliche Bewertungen nicht ausschließt.57 Diese Unterschiede spiegeln unter57 Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel / Stuttgart 1963, bes. 227–234; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000; Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004.

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schiedliche Tendenzen in den Schriften Troeltschs aus den Kriegsjahren. Auf Ausgleich zwischen den Kriegsmächten bedachte Einlassungen und Kriegspolemik, „souveräne historisch-politische Urteilskraft“58 und „geistige Mobilmachung“ (Kurt Flasch) stehen häufig dicht nebeneinander. Diese Bewegungen in Troeltschs Denken hängen oft mit unmittelbaren Eindrücken des Kriegsgeschehens, aber auch Kriegsdeutungen anderer zusammen, die Troeltsch intensiv rezipierte und mit der ihm eigenen Impulsivität verarbeitete. Die unterschiedlichen Aspekte seiner Kriegspublizistik sind aber auch eng mit dem Anlass der jeweiligen Schrift und ihrem Leserkreis verbunden. Troeltsch schrieb sehr stark situations- und rezipientenabhängig.59 Das diese unterschiedlichen Texte umfassende Narrativ, das Troeltsch zur Deutung des Krieges entwarf, diente freilich zugleich dem Ausweis der Notwendigkeit des Krieges aus deutscher Sicht: Den Kriegsgegnern gehe es um Vernichtung Deutschlands, d. h. deutscher Politik, Wirtschaft, aber auch deutscher Kultur, deutschen Geistes. Diese Vernichtung sei illegitim und verlange einen Verteidigungskrieg. Als ein solcher Verteidigungskrieg begriffen darf dies nicht selbst mit dem Anspruch geschehen, andere Völker mit dem Deutschtum zu überziehen.60 Das Stichwort der Selbstbegrenzung spielt eine große Rolle in diesen Kriegsschriften Troeltschs, sie ist gleichermaßen Mahnung nach innen wie Forderung nach außen. Eine solche Selbstbegrenzung und damit letztlich eine Verständigung zwischen den Nationen hielt Troeltsch nur für möglich, wenn es eine allseitige Aufgeklärtheit über die jeweilige kulturelle, nationale Identität gibt. Den Mangel daran sowie die jedes Verständnis zerstörende, den politischen Gegner diffamierende Kriegspolemik fasste er unter dem Begriff des „Kulturkrieges“.61 Diesem „geistigen Krieg“ setzte er ein Programm der Aufklärung in 58 Vgl. Bernd Sösemann, Das „erneuerte Deutschland“. Ernst Troeltschs politisches Engagement im Ersten Weltkrieg, in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, 120–144, 142. 59 Zu den politischen Schriften Ernst Troeltschs 1914–1918 vgl. Friedemann Voigt, Deutsche Freiheit und das europäische Projekt der Moderne. Ernst Troeltsch und der Erste Weltkrieg, in: Joachim Negel / Karl Pinggéra (Hg.), Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914–1918 im Spiegel der zeitgenössischen Theologie, Freiburg / Basel / Wien 2016, 281–303. 60 Ernst Troeltsch, Deutscher Glaube und Deutsche Sitte in unserem großen Kriege, Berlin 1914 (Unterm Eisernen Kreuz 1914. Kriegsschriften des Kaiser-WilhelmDank. Verein der Soldatenfreunde 9), 24. 61 Ders., Der Kulturkrieg. Rede am 1. Juli 1915 gehalten (Deutsche Reden in schwerer Zeit 27), hg. v. der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und dem Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern, Berlin 1915.

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historischer und kulturphilosophischer Arbeit entgegen, um damit sowohl auf die breite Bevölkerung als auch auf politische Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen. Troeltsch konnte dazu an seine kulturgeschichtlichen und –philosophischen Studien anknüpfen, in denen er die Moderne auf ihre Genealogie und ihr Wesen analysiert hatte. Er blieb dabei auch seinem normativen Interesse treu, ein konstruktives Verhältnis zur modernen Welt zu bewahren. Das bedeutet, dass der „Kulturkrieg“ nicht durch eine Abwehr der modernen westeuropäischen Ideen zu bestreiten ist. Troeltschs Vorgehen ist durchaus differenzierter und zukunftsorientierter. Zum einen geht es ihm darum, die Besonderheiten des deutschen Geistes und der „deutschen Idee der Freiheit“ herauszuarbeiten.62 Das tut er aber keineswegs allein in der Ausarbeitung ihrer Besonderheit, sondern mit dem historischen Blick darauf, wo auch die gemeinsamen Wurzeln der deutschen und der westeuropäischen Freiheitsideen liegen. In bemerkenswerter Weise sucht Troeltsch das Konzept der Menschenwürde als einen Konvergenzpunkt von modernem, aufgeklärtem Denken, idealistischem Freiheitsverständnis und christlichem Glauben darzulegen. Diese Verbindung stellte Troeltsch in den Kriegsschriften einige Male her.63 Diese Gedanken sind bei Troeltsch zwar nicht neu, sie lassen sich schon 1904 finden.64 In der aufgeladenen Situation des „Kulturkrieges“ erhalten sie aber noch einmal neue Bedeutung. Es finden sich in Troeltschs Kriegsschriften allerdings, häufig eng am tagesaktuellen Geschehen orientiert, auch außenpolitisch reaktionäre und kriegsbejahende Einlassungen. Trotz solcher Verhärtungen versuchte Troeltsch zeitgleich, nach innen politisch mäßigend einzuwirken und die Perspektive einer demokratischen und europäischen Öffnung voranzutreiben. Im Frühjahr und Sommer 1917 spitzt sich diese Lage zu. Noch im Mai verteidigte Troeltsch den deutschen U-BootKrieg gegen den „Ansturm der westlichen Demokratien“.65 Als im Sommer 1917 mit dem Scheitern der Reform des preußischen Wahlrechts und dem Rückzug Bethmann-Hollwegs Bestrebungen einer inneren Überbrückung zwischen liberalem und konservativem Lager scheiter62 Ders., Die deutsche Idee von der Freiheit, in: Die neue Rundschau 27 (1916), 50–75. 63 Vgl. hierfür Friedemann Voigt, Deutsche Freiheit und das europäische Projekt der Moderne, 292–296. 64 Ernst Troeltsch, Politische Ethik und Christentum, 134–196. 65 Ernst Troeltsch, Der Ansturm der westlichen Demokratie, in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge von Harnack / Meinecke / Sering / Troeltsch / Hintze, Gotha 1917, 79–113. Vgl. Peter Hoeres, Krieg der Philosophen, 414–422.

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ten, war für Troeltsch der Zeitpunkt direkten politischen Handelns gekommen. Er gründete den „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ und trat damit den Nationalisten der sog. „Vaterlandspartei“ entgegen. Damit beginnt die Wirksamkeit des politischen Ernst Troeltsch, der nun zunehmend zu einem Verfechter eines demokratischen Umbaus Deutschlands wird, weil ihm alleine eine solche gleichberechtigte Beteiligung der gesamten Bevölkerung als Möglichkeit erschien, eine Revolution und damit ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft in verfeindete politische und soziale Gruppen zu verhindern. 3.2 Politische Arbeit in der Weimarer Republik Troeltschs politische Wirksamkeit in der frühen Weimarer Republik ist vielfältig. Sie umfasst, neben politischer Publizistik, parteipolitisches Engagement und politische Arbeit im Kultusministerium. Troeltsch veröffentlichte von November 1918 bis September 1922 alle zwei Wochen unter dem Pseudonym „Spectator“ in der Zeitschrift „Kunstwart und Kulturwart“ eine Kolumne zum Zeitgeschehen.66 In diesen „Spectator-Briefen“ begleitete und verteidigte er, inzwischen zu einem bekennenden Liberalen geworden, die junge demokratische Republik gegen ihre inneren und äußeren Gegner. Nach innen trat er entschieden den Demokratiefeinden linker wie rechter Prägung entgegen. Auch hier reagierte Troeltsch geradezu seismographisch auf die politischen Ereignisse von Revolution und Bürgerkrieg, die er in Berlin unmittelbar miterlebte. Er gab seinen Lesern aber auch Einblicke in die Berliner Kultur- und Salonszene, in der Künstler und Gelehrte sich abfällig über Parlamentarismus und allgemeines Wahlrecht äußerten, anarchistische und marxistische Utopien entwarfen. Troeltsch hielt damit den Lesern des Kunstwarts, einem wirtschaftlich gesicherten, ästhetisch interessierten, aber nur selten politisch gebildeten Bürgertum, gleichsam den Spiegel vor und wollte es zu verantwortungsvollem gesellschaftlichen Handeln bewegen. Die außenpolitische Situation deutete Troeltsch als die einer epochalen, weltumgreifenden Suche nach einer neuen politischen Ordnung. Als das Kraftzentrum dieser politischen Neuordnung machte Troeltsch hellsichtig die westlichen Demokratien, vor allem die USA, aus und als ihren Gegenspieler den sowjetischen Bolschewismus. Im Bolschewismus sah Troeltsch eine Hauptgefahr für eine friedliche gesellschaftliche Ordnung. Ebenso 66 Ernst Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hg. v. Gangolf Hübinger, Berlin / Boston 2015 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 14). Im Folgenden zitiert als: KGA 14.

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wandte er sich gegen einen entfesselten Kapitalismus und seine destruktiven Folgen für den sozialen Zusammenhalt. Die Demokratie befürwortete Troeltsch vor allem, weil sie die politische Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen ermöglicht und damit also geeignet ist, sozialen Zusammenhalt in einer Zeit der krisenhaften Neuordnung der zentralen Lebensmächte von Politik und Wirtschaft zu schaffen. Troeltschs Interesse ist deshalb auch als das an einer „sozialen Demokratie“ beschrieben worden.67 Schon bald nach ihrer Gründung trat Troeltsch in die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein, die eine republikanische Gesinnung mit bürgerlichen Idealen und sozialer Gerechtigkeit verband. Im heutigen politischen Spektrum ließe sich von „linksliberaler“ Orientierung sprechen. In Troeltschs Interesse an der sozialintegrativen Kraft der Demokratie lässt sich eine Kontinuität zu seinen politischen Kriegsschriften identifi zieren. Kontinuität besteht auch darin, dass Troeltsch trotz seiner Bejahung von Demokratie über ihre konkrete politische Form unsicher war. Gegen die „Massendemokratie“ US-amerikanischen Zuschnitts und den Parlamentarismus blieb lange das aus seiner Weltkriegspublizistik bekannte Misstrauen bestehen. Troeltsch zeigte Sympathien für eine „elitendemokratische Struktur“ (Gangolf Hübinger). So wollte er die parlamentarische Parteiendemokratie durch Elemente einer berufsständischen Vertretung ergänzen, um vor allem eine möglichst breite Beteiligung des Bürgertums zu erreichen.68 Auch hinsichtlich der Rolle von Religion und Kirche in der neuen politischen Ordnung bestehen Kontinuitäten zu den Kriegsschriften. Angesichts zunehmender weltanschaulicher und sozialer Fragmentierung der Gesellschaft haben die Kirchen ihre sozialintegrative Kraft eingebüßt. Der Staat muss dies nun leisten. Daher ist es nur konsequent, wenn durch die Auflösung des Staatskirchentums und die Trennung von Staat und Kirche dies auch politisch vollzogen wird. Zugleich erschien Troeltsch genau diese Trennung der richtige Schritt, um durch eine neue Konzentration auf die eigentliche „Souveränität der religiösen Überzeugung“69 motivationale Ressourcen für die politische Verantwortungsethik zu gewinnen. So arbeitete Troeltsch, der von 1919 67 Vgl. Hartmut Ruddies, Soziale Demokratie und freier Protestantismus. Ernst Troeltsch in den Anfängen der Weimarer Republik, in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, 145–174. 68 Vgl. Gangolf Hübinger, Einleitung, in: KGA 14, 1–20, bes. 15–20. 69 Ernst Troeltsch, Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirche (1919), in: Ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hg. v. Gangolf Hübinger, Berlin / New York 2002 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 15), 123–146, 133. Im Folgenden zitiert als: KGA 15.

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bis 1921 für die DDP in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung saß, als Unterstaatssekretär für Kirchenangelegenheiten im preußischen Kultusministerium an der Überführung der Konsistorien in die selbständige kirchliche Verwaltung. 3.3 Die Berliner Geschichtsphilosophie Troeltschs wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit galt in der Berliner Zeit hauptsächlich der Geschichtsphilosophie. Im Sommersemester 1915 hielt Troeltsch seine Berliner Antrittsvorlesung über Kulturphilosophie und Ethik. Den Hörern eröffnete Troeltsch, er sei gekommen, die „Anarchie der Werte“70 zu überwinden. Ihr unversöhnlicher Widerstreit resultiere aus einer tiefgreifenden Krise des historischen Denkens  – und zwar nicht nur einer Krise der historischen Wissenschaft oder der Geschichtsphilosophie, sondern einer sich tief in die Mentalität einlagernden Verunsicherung über die Grundlagen gegenwärtiger Weltanschauung und Ethik: „Wenn man heute von einer Krisis der Geschichtswissenschaft reden hört, dann ist es doch weniger eine solche der historischen Forschung der Gelehrten und Fachleute als eine solche des historischen Denkens der Menschen im allgemeinen.“71 Seine Aufgabe als Philosoph sah Troeltsch darin, dem allgemeinen historischen Denken wieder eine wissenschaftlich begründete Basis zu geben, von der aus eine neue Sicherheit für die Lebensführung gewonnen werden könne. Diese Grundlage, so seine feste Überzeugung, müsse im historischen Denken selbst gefunden werden und nicht etwa in der Verabschiedung des Historischen: „Die Idee des Aufbaues heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen.“72 Dieses Ziel verfolgte Troeltsch in einer Reihe geschichtsphilosophischer Aufsätze, die schließlich 1922 überarbeitet und erweitert als der voluminöse Band „Der Historismus und sein Probleme“ als dritter Band seiner „Gesammelten Schriften“ erschienen. Im Untertitel heißt es: „Erstes Buch. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“, denn Troeltsch hatte geplant, dieser kritischen Revision der Geschichtsphilosophie in einem zweiten Band eine Ausarbeitung seiner

70 Ders., Die Krisis des Historismus, in: KGA 15, 437–456, 448. 71 Ders., Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922 (Gesammelte Schriften, Band 3), 1. Im Folgenden zitiert als: GS 3. 72 Ebd., 772.

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eigenen Position folgen zu lassen, was jedoch durch seinen Tod verhindert wurde.73 Der materiale Bestand des Historismus-Bandes ist überwiegend eine großangelegte Darstellung und Kritik der Traditionen des historischen Denkens von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Systematisch verfolgt Troeltschs Auseinandersetzung mit dem Historismus drei Fragestellungen: Zum einen das erkenntnistheoretisch-logische Problem der Objektivität historischer Erkenntnis. Wie ist das Verhältnis zwischen den nach den Gesetzen des Geistes hervorgebrachten Geschichtsdeutungen und dem Geschichtsgeschehen selbst zu bestimmen? Zum zweiten hat Troeltsch die philosophischen Überlegungen zur geschichtlichen Entwicklung um soziologische Aspekte ergänzen wollen, d. h. um etwa die ökonomischen und technischen Bedingungen. Drittens geht es um die Konsequenzen, die daraus für ein der Gegenwart angemessenes, ihren Antagonismus überwindendes ethisches Wertesystem folgen. Es lässt sich also durchaus sagen, dass Troeltsch damit Probleme verhandelt, die ihn in unterschiedlicher Weise seit seinen frühen theologischen Studien beschäftigt haben: Die Frage der Standortgebundenheit historischen Denkens, die Frage nach den geistigen Grundlagen sowie der soziologischen Organisation einer sozial integrierten modernen Gesellschaft. Das Thema der Standortgebundenheit, das damit einhergehende Bewusstsein von der Relativität der eigenen Position und die daraus entstehenden Herausforderungen bei der Bildung historischer und ethischer Wertmaßstäbe sind Gegenstand der „Kaisergeburtstagsrede“ an der Berliner Universität im Januar 1916 „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge“.74 Troeltsch macht deutlich, dass in den objektivistischen und teleologischen Geschichtsbildern das handelnde Subjekt zu einem individuell wertlosen Spielball des Geschichtsprozesses zu werden drohe. Demgegenüber betont er die Einsicht in den eigenen historischen Standort und sein Gewordensein, wodurch die Möglichkeit entsteht, sich der eigenen Geschichte gegenüber in verantwortlicher 73 Zur Werkgeschichte und den Kontexten vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922) hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Berlin / New York 2008 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 16 / 1), 1–82 sowie den Editorischen Bericht, 83–157. Im Folgenden zitiert als: KGA 16 / 1. Zu Interpretation, Kontexten und Rezeption dieses Buches vgl. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“, Gütersloh 22003 (Troeltsch-Studien, Band 11), sowie Ders. (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“. 74 Überarbeitet in GS 3, 111–220.

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Freiheit zu verhalten. So kommt es bei Troeltsch zu dem Verzicht auf den objektivistischen Adlerblick des Universalhistorikers und zu der Begrenzung auf den eigenen „Kulturkreis“ Europa. Diese europäische Perspektive verstärkte und konkretisierte Troeltsch in den folgenden Jahren. Die in seinen Überlegungen zum „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“75 herausgearbeiteten „Grundgewalten“ der modernen europäischen Welt: Hebräischer Prophetismus, klassisches Griechentum, antiker Imperialismus und abendländisches Mittelalter geben der modernen europäischen Welt immer noch wesentliche Impulse, die freilich mit den eigenständigen neuen Kräften verbunden werden müssen, um zur „seelischen Kraft der Zukunft“ werden zu können. Es lässt sich also sagen, dass die „Berliner Historik“76 Troeltschs seine früheren Überlegungen zu einer Standortepistemologie weiterführt und transformiert: Das Konstruktionsprinzip ist nun nicht der moderne religiöse Individualismus, sondern jene Grundgewalten, die zum Aufbau Europas beigetragen haben und auch eine zukünftige europäische Kultursynthese ermöglichen sollen. Diese materiale Ausweitung seiner Historik lässt die Darstellung des Gewordenseins der eigenen Position zur multiperspektivischen europäischen Kulturgeschichte werden. Die Rechtfertigung dieser Konstruktionsperspektive liegt nicht nur in ihrer heuristischen Fruchtbarkeit, sondern auch in ihrer ethischen Kraft, zu einer europäischen „Kultursynthese“ anzuleiten, „die das Ziel der Geschichtsphilosophie ist“.77 Troeltschs Position ist treffend als „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ beschrieben worden.78 Dazu gehörte auch die Absicht, diese idealen Gehalte der Kultursynthese mit einem „soziologischen Leib“ auszustatten.79 Mit Recht ist darauf verwiesen worden, dass dies in Analogie zu der am Ende der „Soziallehren“ erhobenen Forderung steht, für den Protestantismus eine geeignete organisatorische Form zu finden, um ihn zukunftsfähig zu machen.80 75 Ebd., 694–777. 76 Vgl. Gangolf Hübinger, Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik. Ernst Troeltschs Berliner Historik, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“, 75–92. 77 GS 3, 772. 78 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf / Hartmut Ruddies, Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.) Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit, Band 4, Göttingen 1986, S. 128–164, 146. 79 GS 3, 771. 80 Vgl. Trutz Rendtorff, ,Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Beobachtungen zur methodischen Struktur des Historismus, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“, 285–325, bes. 306–313.

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Es liegt nahe, in Troeltschs politischer und kirchlicher Tätigkeit sowie seinen politischen Veröffentlichungen das praktische Gegenstück zu seinen philosophischen Überlegungen zu einer gegenwärtigen Kultursynthese zu erblicken, wie es hier in dieser Einleitung angedeutet wurde. Es ist eine der vordringlichen Aufgaben der Troeltsch-Forschung heute, die durch die Kritische Gesamtausgabe zugänglich gemachten politischen und kulturphilosophischen Texte der Berliner Zeit mit der gleichzeitig sich entwickelnden Geschichtsphilosophie historisch-systematisch zu verbinden. Für den von Troeltsch nicht mehr in Angriff genommenen zweiten Band des „Historismus“ mit einer materialen Geschichtsphilosophie konnten auch im Nachlass keine zusammenhängenden Entwürfe und Vorarbeiten gefunden werden. Stattdessen hat ein Schüler Troeltschs, Hans Baron, als Herausgeber des postum erschienenen vierten Bandes der „Gesammelten Schriften“ Troeltschs Arbeiten aus vier Jahrzehnten zu einer großangelegten europäischen Kulturgeschichte zusammengefügt (vgl. unten 4.). 3.4 Gegen den Radikalismus des Entweder-Oder Mit seinen Bemühungen um die Gewinnung eines gemeinsamen europäischen Ethos erlangte Troeltsch auch im Ausland große Anerkennung. Als einer der ersten deutschen Gelehrten nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Troeltsch eine Einladung zu Vorträgen in einem Land der Kriegsgegner. London, Oxford und Edinburgh sollten die Stationen einer Reise im März 1923 sein. Aber zu der Fahrt nach England kam es nicht mehr. Im Januar erkrankte Troeltsch an einer Lungenembolie, an deren Folgen er am 1. Februar 1923 starb. Die Texte für diese Vortragsreise sind erhalten.81 Sie sind ebenfalls dem Zusammenhang von Geschichtsphilosophie, Ethik und praktischer Politik gewidmet und entwerfen zugleich die Probleme, mit denen der beabsichtigte zweite Historismus-Band beschäftigt sein sollte, auch wenn sie dabei über erste Ansätze nicht hinauskommen. Unter den Texten, in denen Troeltsch dieses Programm inhaltlich anreicherte, ragt derjenige über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ heraus. Dieser Aufsatz ist zugleich eine Art Bilanz einer 81 Ernst Troeltsch, Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923), hg. v. Gangolf Hübinger, Berlin / New York 2006 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 17), 105–118. Im Folgenden zitiert als: KGA 17.

Ernst Troeltsch – Leben und Werk

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Reihe von Überlegungen, die Troeltsch zum Verhältnis deutschen und westlichen Denkens angestellt hatte. Das Ideenensemble für einen geistigen Neuaufbau wird von Troeltsch hier erneut kritisch geprüft. Die Spannung zwischen deutschem und westeuropäischem Geist, romantischem Individualitätsdenken und rationalistischem Gleichheitsideal soll nun durch die „westeuropäische“ Idee der Menschenrechte als dem gemeinsamen Grund relativiert werden. Auf dieser Basis sei der Aufbau einer europäischen Zukunft möglich. Troeltsch sprach davon, dies sei ein „Programm der Selbstbesinnung des deutschen historisch-poltischethischen Denkens“.82 Bis heute gilt dieser Beitrag Troeltschs als einer „der wichtigsten philosophischen Texte zum Thema Menschenrechte überhaupt.“83 Kein Geringerer als Thomas Mann schrieb in der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Zeitung des Jahres 1923 eine begeisterte Würdigung dieser Schrift, zugleich ein Nachruf auf den 1923 verstorbenen Troeltsch. „Was […] hier von einem gelehrten Denker mit stärkender Bestimmtheit ausgesprochen wurde, das war, gefühlsweise, als dunkle Gewissensregung, seit Jahr und Tag in manchen Deutschen lebendig gewesen – in solchen vielleicht sogar, die im Zauberberge des romantischen Ästhetizismus recht lange und gründlich geweilt – und hatte zu Bekenntnissen geführt, die von einer Zukunftslosigkeit, die sich treu dünkt, als Zeugnis des Überläufertums und der Gesinnungslumperei übel begrüßt worden waren“.84 Troeltsch starb auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit und seines Einflusses.85 Er war sich der Konflikte durchaus bewusst, die auf ein Denken in den von ihm eingeschlagenen Bahnen zukommen würden. Mit Sorge betrachtete Troeltsch auch in der deutschen Bildungswelt statt einer selbstbewussten Zuwendung zum westlichen Denken eine neue Romantik und Wissenschaftskritik. Er verwarf keineswegs alle neuen Strömungen. Der jugendbewegten Hypostasierung solcher Ansätze zu einem neuen Wissenschaftsideal stellte sich Troeltsch allerdings entschieden entgegen und warnte vor der Isolation sowie dem Verlust an kultureller und politischer Anschlussfähigkeit, die aus einem radikalen 82 Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (1923), in: KGA 15, 493–512, 510. 83 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 269. 84 Zit. nach Jörn Leonhardt, „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“  – Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), ,Geschichte durch Geschichte überwinden‘, 205–230, 226. 85 Vgl. dafür eindrucksvoll: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Ernst Troeltsch in Nachrufen, Gütersloh 2002 (Troeltsch-Studien, Band 12).

XXX

Friedemann Voigt

Abbruch gegenüber der Tradition und den Problembeständen von Rationalismus und Historismus folgen würden. Auch auf den Gebieten von Religion und Theologie sah er „das Ringen zwischen ästhetisch-paganisierender Antichristlichkeit und katholisierender, Gesetz und Norm suchender Christlichkeit“86. Dies sei das „Religionsproblem Europas“, welches eine Tiefenschicht der aktuellen Bildungskrise ausmache. Damit rief Troeltsch die kulturelle Verflechtung von Wissenschaft und Bildung mit der Religion wieder ins Bewusstsein, deren Bedeutung von mancher Seite marginalisiert wurde, andererseits macht er klar, daß die Ungeklärtheit der religiösen Lage der Zeit nicht eben dazu angetan war, Halt und Orientierung in der unübersichtlichen modernen Kultur zu geben. Gerade in dieser Krisensituation galt es für Troeltsch den religiösen Glauben als „die Kraft des Diesseits“87 zu bewahren. Eine historisch aufgeklärte Sicht auf das Christentum werde dabei aber auf „den Radikalismus des Entweder-Oder“ verzichten: „Alle Radikalismen führen ins Unmögliche und ins Verderben. Hier ist doch die Geschichte des Christentums selber unendlich lehrreich. Es ist im Ganzen ein ungeheurer und immer neuer Kompromiß der Utopie des Gottesreiches mit dem realen und dauernden Leben […]. Schließlich ist alles Leben selbst, das rein animalische wie das leiblich-geistige, ein beständiger labiler Kompromiß der es bildenden und zusammensetzenden Kräfte. Erst aus dem Leben und aus dem Kompromiß heraus bilden sich die höchsten Höhen religiöser Innerlichkeit und religiöser Verbundenheit und sie weisen dann auf ein Jenseits hin, in dem sie erst völlig frei werden können.“88 Die von Troeltsch kritisch beobachtete „antihistorische Revolution“89, die Verachtung des Historischen und des Kompromisses, die neue Begeisterung für den „Radikalismus des Entweder-Oder“ fielen auch und besonders in der protestantischen Theologie heftig aus. Die von Karl Barth verächtlich gemeinte Bezeichnung Troeltschs als „Geistesgeschichtler“90 ist nur ein Beispiel für ein neues Interesse an einer Diastase von historischem und dogmatischem Denken, die aus freilich komplexen Gründen bis heute in Theologie und Philosophie prominent ist. Im Zuge des neuen Interesses an kulturwissenschaft86 Ernst Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in: GS 4, 653–677, 676. 87 GS 1, 979: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“. 88 Ernst Troeltsch, Politik, Patriotismus, Religion, in: KGA 17, 119–132, 132. 89 Vgl. Kurt Nowak, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: H. Renz / F. W. Graf (Hg.), Umstrittene Moderne, 133–171. 90 Vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1946, 105.

Ernst Troeltsch – Leben und Werk

XXXI

lichen Methoden hat sich seit den 1980er Jahren eine neue Auseinandersetzung mit Troeltsch etabliert, die sich über positionelle Differenzen hinweg konstruktiv mit den Sachfragen seiner Theologie beschäftigt. Praktisch gleichzeitig hat die Wiederentdeckung der Religionssoziologie zu einer verstärkten Zuwendung zu Leben und Werk Troeltschs geführt, die von Deutschland über Frankreich und den angloamerikanischen Raum bis hin nach Japan reicht. Die 1981 gegründete „ErnstTroeltsch-Gesellschaft“ fördert die interdisziplinäre und internationale Beschäftigung mit Troeltschs Werk.91 Die auf 25 Bände angelegte „Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe“ erscheint seit 1998 im Berliner Verlag de Gruyter, durch die Troeltschs Schriften vollständig und in kommentierter Form zugänglich werden.92 In der Theologie gilt Troeltsch heute als der bedeutendste Vertreter einer historisch-systematischen Religionstheologie mit dem programmatischen Ziel einer „Zusammenbestehbarkeit“ von Religion und Moderne im Gefolge Schleiermachers.93 Weit über die Theologie hinaus vermittelt Troeltsch heute Anstöße für eine kulturwissenschaftlich orientierte Religionsdeutung94 und gilt als ein, längst aus dem Schatten Max Webers herausgetretener Klassiker der Religionssoziologie95 und Kulturwissenschaften96, Vertreter eines eigenständigen Paradigmas einer zeitdiagnostisch interessierten Kulturgeschichte97 sowie als methodologischer Bezugspunkt für die Begründung ethischer Werte unter Bedingungen des historischen Be91 S. dafür die Website der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft unter www.ErnstTroeltsch.de. 92 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die Kritische Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs, in: Akademie Aktuell 01 / 2015, 56–61. 93 Vgl. Trutz Rendtorff, Art. Troeltsch, Ernst, in: TRE, Band 34, Berlin / New York 130–143; Martin Laube, Der Denker der „Zusammenbestehbarkeit“. Ernst Troeltschs Ringen um die Vermittlung von Religion und Moderne, in: Akademie Aktuell 01 / 2015, 38–41. 94 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf / Friedemann Voigt (Hg.), Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin / New York 2010 (Troeltsch-Studien. Neue Folge, Band 2). 95 Vgl. Hans Joas, Selbsttranszendenz und Wertbindung. Ernst Troeltsch als Ausgangspunkt einer modernen Religionssoziologie, in: F. W. Graf / F. Voigt (Hg.), Religion(en) deuten, 51–64. Zu Troeltsch und Weber in historischer und systematischer Hinsicht vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin /Boston 2014 (Troeltsch-Studien. Neue Folge, Band 3). 96 Vgl. Gunter Scholtz, Zum Strukturwandel in den Grundlagen kulturwissenschaftlichen Denkens (1880–1945), in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 19–50. 97 Vgl. Gangolf Hübinger, Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, Göttingen 2016.

XXXII

Friedemann Voigt

wusstseins.98 Die in dieser Einführung skizzierte Interpretationskraft von Troeltschs Denken weist zahlreiche weitere Bezüge und Kontexte auf, die noch zu erschließen und fruchtbar zu machen sind.

4. Die „Gesammelten Schriften“ Die „Gesammelten Schriften“ Ernst Troeltschs, die hier in einem Nachdruck vorgelegt werden, sind ursprünglich im Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienen. Mit dem Verleger Paul Siebeck verband Troeltsch eine Freundschaft und es war das nachdrückliche Engagement Siebecks und seines Verlags, das die Bücher ermöglichte. Troeltsch hatte bei Siebeck schon einige Texte veröffentlicht, darunter vor allem sein bis dato theologisches Hauptwerk „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (1902, zweite Auflage 1912). Wie die nun im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe edierten Briefe aus der Zeit 1905–1915 zeigen, haben sich Troeltsch und Siebeck 1907 über zwei Bände „Kleiner Schriften“ Troeltschs geeinigt, die zum einen die im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienenen Aufsätze zu den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“, zum anderen diverse verstreute Texte enthalten sollten, darunter die in der „Realencyklopädie“ erschienenen Beiträge zur Geistesgeschichte. Auch wurde ein dritter Band für zukünftige Schriften Troeltschs in Aussicht gestellt.99 Die Gründe, dass die „Soziallehren“ als erster Band und „Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik“ als zweiter Band dann erst in den Jahren 1912 und 1913 tatsächlich erschienen, sind vor allem bei Ernst Troeltsch zu suchen. Er veränderte immer wieder seine Schreib- und Publikationspläne, wollte Texte überarbeiten, was sich teils verzögerte, teils dazu führte, dass die Überarbeitung auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Die Aufnahme des „Historismus“ als dritter Band der „Gesammelten Schriften“ verlief nicht reibungslos, weil Troeltsch erwog, sie bei Siebecks Verlag „oder bei einem der zahlreichen anderen, die mich jetzt reichlich erfreuen“ zu publizieren.100 Siebeck zeigte sich von dieser Be98 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person, 147–203. 99 Für die detaillierte Entstehung der „Gesammelten Schriften“ vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: Ernst Troeltsch, Briefe III (1905–1915), hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Berlin / Boston 2016 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 20), 1–39, bes. 2–4. 100 Brief Troeltschs an Paul Siebeck vom 2. Januar 1919, zit. nach Friedrich Wilhelm Graf, Editorischer Bericht, in: KGA 16 / 1, 83–157, 130.

Ernst Troeltsch – Leben und Werk

XXXIII

merkung Troeltschs irritiert und insistierte auf früheren Verträgen, die diesen dritten Band enthielten. Die Missstimmung währte allerdings nicht lange, weil Troeltsch umgehend einwilligte.101 Auch hier dauerte es noch mehrere Jahre, bis der Band erschien. Es wurden zwischen Verlag und Troeltsch auch bereits Absprachen über das zweite Buch zum Historismus getroffen, allerdings war ein Veröffentlichungstermin dafür nicht absehbar.102 Zur gleichen Zeit hat Siebeck auch wegen einer Überarbeitung der „Soziallehren“ nachgefragt, was Troeltsch aber mit Hinweis auf seine geschichtsphilosophischen Studien um ein Jahr verschieben wollte.103 Troeltsch hatte schon kurz nach Veröffentlichung der „Soziallehren“ mit den Arbeiten an einer zweiten, erweiterten Auflage begonnen, die in den Folgejahren immer umfangreicher wurden. Sie sind als handschriftliche Marginalien und Einlegeblätter erhalten, zu einer Überarbeitung für den Druck ist Troeltsch nicht mehr gekommen.104 Die „Soziallehren“ erschienen 1919 als Neudruck in zweiter und 1923 als Nachdruck in dritter Auflage. 1931 wurden die „Soziallehren“ in englischer Übersetzung veröffentlicht.105 1922 erschien als zweite Auflage ein Nachdruck des zweiten Bandes der „Gesammelte Schriften“. Vom Historismus-Band wurde nur eine Auflage gedruckt. Eine Besonderheit stellt der 1925 erschienene vierte Band der „Gesammelten Schriften“ dar. Die „Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie“ sind der einzige Band, der nicht von Troeltsch selbst zusammengestellt und autorisiert wurde.106 Der Herausgeber ist ein Schüler Troeltschs, der Historiker Hans Baron, der als Jude 1933 aus Deutschland emigrieren musste und später in den USA lehrte. Baron hatte im Nachlass Troeltschs nach Texten und Vorarbeiten zu dem materialen, zweiten Band der Geschichtsphilosophie gesucht, dort aber, wie er im Vorbericht zum vierten Band der „Gesammelten Schriften“ schrieb, „[k]ein einziges zusammenhängendes Manuskript“ gefunden.107 Ihm sei so nur geblieben, „den ursprünglichen Plan Troeltschs wieder aufzunehmen, d. h. an die Stelle der ,materialen Geschichtsphi101 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Editorischer Bericht, in: KGA 16 / 1, 83–157, 131 f. 102 Ebd., 132. 103 Ebd., 128 f. 104 Diese Überarbeitungen und Erweiterungen werden durch die Veröffentlichung der „Soziallehren“ als Band der Kritischen Gesamtausgabe verfügbar. Vgl. Stefan Pautler, Ernst Troeltschs „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“, 33. 105 Ernst Troeltsch, The Social Teaching of the Christian Churches, translated by Olive Wyon, with an introductory note by Charles Gore, London / New York 1931. 106 Für Näheres s. Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: KGA 16 / 1, 1–82, bes. 72–75. 107 Vgl. Hans Baron, Vorbericht des Herausgebers, in: GS 4, V–XX, VI.

XXXIV

Friedemann Voigt

losophie‘ eine Sammlung der schon gedruckten Aufsätze zu setzen.“108 Baron konnte dabei auf Arbeiten Troeltschs seit den 1890er Jahren und bis in die letzten Lebensjahre Troeltschs zurückgreifen und so eine bemerkenswert umfassende Darstellungsreihe von der Antike bis in die Moderne zusammenstellen. Zudem sind handschriftliche Ergänzungen Troeltschs im Anhang beigefügt.109 Die „Gesammelten Schriften“ waren über Jahrzehnte der wichtigste Bezugspunkt für die Beschäftigung mit Ernst Troeltsch. Die fortgeschrittene Forschung hat inzwischen darüber hinaus auch seine Studien zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt, seine dogmatischen Beiträge und seine politischen Texte in den Fokus gerückt hat. Dennoch bieten die „Gesammelten Schriften“ mit den „Soziallehren“ und dem „Historismus“ die zwei Hauptwerke Troeltschs aus der Heidelberger und Berliner Zeit und vermitteln einen hervorragenden Eindruck seiner religiösen Zeitdiagnostik sowie seiner religionsphilosophischen und kulturgeschichtlichen Studien. Troeltsch hat geschrieben, dass seine Lehre ein „doppeltes Gesicht trägt und tragen muß. Sie arbeitet vom Gegebenen, von der historischpsychologischen Wirklichkeit her durch begriffliche Arbeit auf eine ideelle Gestaltung hin.“110 Die „Gesammelten Schriften“, die mit der vorliegenden Ausgabe wieder zugänglich gemacht werden, vermitteln einen faszinierenden Eindruck von der Zusammengehörigkeit dieser Aspekte und der bleibenden Aktualität eines Denkens, das diesen Zusammenhang bewahrt.

108 Ebd. 109 GS 4, 817–851. 110 GS 4, 817.

Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von

Ernst Troeltsch Dr theol, phil, jur.

Der hohen philosophischen Fakultät zu Greifswald

und

Der hohen juristischen Fakultät zu Breslau

m tiefster Dankbarkeit und Ehrerbietung gewidmet.

Vorwort. Eigenen und fremden Wünschen folgend sammle ich hier­ mit meine zerstreuten Untersuchungen. Meine bisherige Arbeit hat - abgesehen von der großen Darstellung des Protestantis­ mus in der Kultur der Gegenwart - in monographischen, me­ thodischen und skizzierenden Untersuchungen bestanden, die sich über sehr verschiedene Stoffe erstreckten. Indem sie nun hier gesammelt zu Tage treten, wird sich zeigen, daß sie trotz aller scheinbaren Zersplitterung doch einem einheitlichen Plane ent­ springen. Darüber seien hier ein paar Worte gesagt. Der Zusammenhang ist leicht erkennbar. In der Schule Ritschls ausgebildet, empfand ich frühzeitig, daß in der eindrucksvollen Lehre dieses energischen und großen Gelehrten zweierlei verbunden war: eine bestimmte Auffassung der dogmatischen Ueberlieferung, vermöge deren sie den modernen Bedürfnissen und Fragestellungen entgegen kam, und eine ebenso bestimmte Auffassung der mo­ dernen geistigen und religiösen Lage, vermöge deren diese zur Auf­ nahme und Fortsetzung der in Ritschls Sinn verstandenen Tradi­ tion befähigt schien. Daraus entstand naturgemäß die Frage, ob mit jenem ersten die dogmatische Tradition in ihrem eigent­ lichen historischen Sinn getreu verstanden und ob in jenem zweiten die gegenwärtige Lage in ihrer wirklichen Verfassung er­ griffen sei. Da wurde klar, daß hier von beiden. Seiten her An­ gleichungen vollzogen waren, die der Sachlage nicht entsprachen und die den wirklichen Gegensatz nicht voll zur Geltung kommen ließen. So ergab sich für mich naturgemäß die doppelte Auf­ gabe, die kirchlich-dogmatische Tradition des Protestantismus in ihrem eigenen historischen Sinn und die geistig-praktische Lage der Gegenwart in ihren wahren Grundbestrebungen mir deutlich zu machen. Daraus entstand die Doppelseitigkeit meiner Unter­ suchungen, die Analyse des Altprotestantismus und die Analyse

XL der modernen Welt.

Freilich sollte all das nur der Lösung der

systematischen Aufgabe

dienen ,

nun selbständig

mit

rückhalt­

loserem Eingehen auf die moderne Welt die christliche Ideen- und Lebenswelt zu durchdenken und zu formulieren.

Das führte

zu

methodologischen und religionsphilosophischen Untersuchungen, auf denen sich erst eine christliche Glaubens- und Lebenslehre erbauen kann.

Je mehr ich aber hierbei gerade auf die modernen

Problemstellungen

einging, um so mehr verschob

Schwergewicht nach der Seite der Ethik.

Ist

sich

mir das

das Christentum

vor allem Praxis, so liegen seine Hauptfragen auf praktischem Ge­ biet, und eben aus diesem erheben sich heute die allerschwierigsten Verwickelungen

und Gegensätze

gegen die christliche

Lebens­

Insbesondere gegenüber den Anforderungen der heutigen

welt.

Sozialethik ist die Ethik der Kirchen dem

veraltet.

Ging

ich aber

weiter nach, so kam ich auf die Frage, wie denn ein der­

artig neu sich bildender Begriff der christlichen Lebenswelt zu ihren alten Organisationen, den Kirchen, sich verhalte,

ob

sich

eine

solche neue Erfassung überhaupt auf die alten Organisationen auf­ pfropfen lasse, und wenn nicht, welche Möglichkeit der Gemein­ schaftsbildung und des Anschlusses eine solche Neubildung über­ haupt habe. Aus diesen Erwägungen gingen die Untersuchungen hervor, die in diesem ersten Bande vereinigt sind.

Sie gewannen leicht

ein Einheitsband, wenn auf die gesamte Geschichte des Christen­ tums überhaupt die soziologische Fragestellung übertragen wurde. Sie erleuchtete

mit Einem Bedeutung und Wesen der religiösen

Gemeinschaftsbildungen, die Grundzüge des christlichen Ethos in seinem Verhältnis zu den ethischen Problemen und Aufgaben des außerreligiösen Lebens und die innere Beziehungjeder dogmatischen Gedankenbildung auf einen kreis.

ihr vorschwebenden Gemeinschafts­

Ueberdies entstand damit zugleich eine eigentümliche Auf­

fassung vom Wesen des Christentums, seiner Geschichte und seinen Beziehungen auf die allgemeine Kulturgeschichte, damit ein Fort­ schritt in meiner Gesamtbegründung der theologischen Aufgabe überhaupt. Die Ergebnisse sind in der Schlußabhandlung zusammen­ gefaßt

Sie sind wirkliche Ergebnisse, die aus der Untersuchung

herausspringen, nicht Thesen, schrieben worden wäre. nicht am Anfang.

zu deren Erweis

das

Buch ge­

Darum stehen sie auch am Schluß und

Doch kann der Leser die Sache sich erleichtern

durch Vorwegnahme des Schlusses, wenn er nicht

lieber selber

XLI aus dem ausgebreiteten Sachzusammenhang sich die Folgerungen erwachsen zu lassen vorzieht. Das Buch ist nun freilich mit seinen ungefähr 1000 Seiten recht massiv geworden. Insbesondere erforderte der Text eine höchst um­ fangreiche Unterkellerung durch Anmerkungen. Das ließ sich nicht ändern, wenn ich meine Begründungen vorlegen

und

die Aus­

einandersetzung mit der bisherigen Forschung vollziehen wollte. Ungefähr zwei Drittel waren bereits im Archiv für Sozialwissen­ schaft und Sozialpolitik veröffentlicht, die Kapitel über Calvinis­ mus, Sektentypus und Mystik sind völlig neu hinzugekommen.

Die

vorausgehenden Kapitel wurden nach der Veröffentlichung im Ar­ chiv noch einmal überarbeitet und erweitert, dann aber aus dem Satz genommen.

Daraus erklärt sich, daß einige neueste litera­

rische Erscheinungen nicht mehr verwertet sind. Ein Umstand tröstet mich über die Dickleibigkeit dieses Ban­ des, der Umstand, daß er dadurch imstande ist, die Last und Weihe einer Doppelwidmung zu tragen.

Die philosophische Fa­

kultät zu Greifswald hat mir im Jahre 1903 bei Gelegenheit ihrer Jubelfeier die hohe :ghre erwiesen, mich zum Doctor philosophiae honoris causa zu promovieren.

Die Ehre bezog sich in erster

Linie auf meine damals soeben erschienene Gesamtdarstellung des Protestantismus. stische

Fakultät

Im laufenden Jahre 191 r hat mir die juri­

zu Breslau aus Anlaß ihrer Zentennarfeier die

Würde eines Doctor juris honoris causa übertragen. Die Begrün­ dung bezog sich wesentlich auf den bereits im Archiv veröffent­ lichten Teil dieses Buches.

Da nun aber dieses vorliegende Buch

mit dem ersten sich nahe berührt und zu vielen seiner Sätze erst die eingehenden Beweise liefert, so darf ich für das Wagnis der Doppelwidmung mich außer der stofflichen Schwere dieses Buches auch auf

die Einheitlichkeit der Beziehungen berufen,

welche

beide Promotionen zu seinem geistigen Inhalt haben. Es ist nicht zu leugnen und ist auch durch diese beiden Promotionen mittelbar angedeutet, daß meine Arbeit keine beson­ deren theologischen, insbesondere der Forschung anerkennt. durch diese Arbeit als

keine christlichen, Methoden

Allein ich bin gewiß und sehe es auch

bezeugt an,

daß

dabei die

christliche

Lebenswelt an Größe und innerer Bedeutung nichts verliert. He i d e l b e r g ,

1.

November 1911. Ernst Troeltsch.

Inhaltsübersicht. EINLEITUNG UND METHODISCHE VORFRAGEN. Ausgangspunkt von den sozialethischen Fragen der Gegenwart 1-4. Begriff der soziologischen Selbstgestaltung des Christentums 4-6. Begriff der profanen sozialen Bildungen 6-9. Herstellung eines beide überwölbenden und irgendwie von der religiösen Idee bestimmten soziologischen Grundschemas 9-10. Stellung der religiösen Ethik zu den sozialen Hauptbildungen des Staates, der Familie, der Wirtschaft innerhalb dieses Grundschemas 10-14. Gewinnung der Kategorien für den Stoff aus diesen Erörterungen 14-15. I. KAPITEL.

DIE GRUNDLAGEN IN DER ALTEN KIRCHE. 1. DAS EVA N GE L I UM. Unabhängigkeit des ältesten Christentums von allen direkten Einflüssen der sozialen Bewegungen der Spätantike und der Kaiserzeit 16-25. Hervorgang aus der religiösen Gesamtbewegung der Spätantike 25-29. Mittelbarer Zusammenhang mit der Sozialgeschichte 29-33. Der ethische Grundgedanke der Predigt Jesu 34-38, Soziologischer Charak­ ter und Bedeutung dieser Grundgedanken 39-45. Stellung zu den sozialen Wer­ ten des Staates, der Wirtschaft, der Familie, der Gesellschaft 45-52. Religiöse und soziologische Parallelbildung in der Stoa 52-58. 2. PAU LUS. Die Entstehung einer neuen Kultgemeinde und soziologische Wirkung dieses Vorgangs 54-60. Entwickelung eines soziologischen Grundschemas von der Kirche her; Gleichheit und Ungleichheit; Patriarchalismus 60-69. Stellung zu Familie, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft 69-72, Konservative und revolutionäre Elemente in der neuen Religionsgemeinschaft 72-78. Wahlverwandtschaft des Christentums mit gewissen Kulturformen. Ausblick auf die kommende Entwickelung 78-83, 3. DE R F R Ü H K A T H O L I Z ISMUS. Bildung der Kirche und ihrer Verfassung 83-92, Auseinandertreten von Kirche und Welt als Folge davon 93-95, Die Askese 95-105, Die aus diesem Gegensatz entwickelte und ihn überbrückende Ethik der Kirche 106-109. Rege-

XLIV Jung

der

sozialen Probleme

in

der Kirche

und durch

die Kirche als Staat im

Staate I 09-1I3. Der Besitz 113-II7. Der Handel

127-129.

Die Arbeit 117-120.

Die Familie

Liebestätigkeit 134-139.

Die Entstehung

Berufe

und Stände 120-127. 132-134.

Die

eines neuen Standes 139-143.

Die

129-132.

Die Sklaverei

Wissenschaft und die Rezeption der stoischen Ethik 144-147. Das Verhältnis zum Staat 148-155·

Gewinnung

einer positiven Staatsethik

durch Rezeption der stoischen Lehre vom sittlichen Naturgesetz 156-165. kratische Auffassung der kaiserlichen Gewalt 165-170.

T heo­

Entscheidende Bedeutung

der Lex naturae für das Ganze einer christlichen Kulturethik 171-174· Ergebnisse der Entwickelung in der alten Kirche 175-178.

li. KAPITEL.

DER MITTELALTERLICHE KATHOLIZISMUS. 1. DAS PROB LEM. Der

Begriff

der

christlichen Einheitskultur

und

das Mittelalter

178-185.

Dialektik der Idee und Zufall 185-186. 2. A NS Ä T ZE F ÜR D IE MIT TE LA L TE R LI CHE EIN­ HEI T S K U LT UR. Der Ausbau

der kirchlichen Verfassung und stockender Abschluß im Osten

187-195· 3. DIE

LANDESKIRCHLICHE

PERIODE DES

FR ÜH ­

MI T T E LA L T E R S. Das

germanische

Landeskirchenturn

Bedeutung

195-198.

dieses

Landes­

kirebenturns für die christliche Kultur 199-206. 4· D I E U NI VER SA L KI R CH LI CHE RE AK T I 0 N UN D D IE KATHOLISC HE EINHEIT SKU LTUR. Die z.entralistisch-papalistische Reaktion 206-209.

Der Ertrag dieser Reak­

tion: Papalidee, Freiheit derKirche, Sakraments- und Gnadendogma 209-221. Die kirchliche Einheitskultur auf diesen Grundlagen 221-226. 5· D IE

BE DE UT U N G DE R A SK ESE IM S YS T EM DES M I T T E LA L T E R L I C H E N

LE BE NS.

Die askl>tische Idee und ihre Vereinigung mit dem Weltlebel\ 226-230. kirchlichung des Mönchtums 230-234. 6. R E L A TI VE

Ver­

Relativer Sinn der Askese 234-238.

A NN AHE RUN G DER

T A T S Ä C H LI CHEN S 0-

zI A L EN L E BENS F 0RMEN A N D A S KIR C H LI C HE IDEAL. Die Sozialgeschichte

des Mittelalters

238-245.

Günstige

und ungünstige

Dispositionen der mittelalterlieben Gesellschaft für die christliche Ethik 246-249. Die Bedeutung der Stadt für die Verchristlichung der Kultur 249-252,

XLV 7· DIE THEORETISCHE DURCHLEUCHTUNG DER KIRCH­ LICHEN EINHEITSKULTUR

IN

DER THOMISTISCHEN

ETHIK. Vermittelungscharakter Begriffs

der Iex

naturae

der

thomistischen Ethik

als des

Werkzeugs

der

252-254. VermitteJung

Fortbildung

danke der ethischen Stufenfolge und der Entwickelung von der Natur 263-272.

Verbleibende Gegensätze innerhalb dieses Stufenbaus

des

255-262. Ge­ zur Gnade

272-276.

Die

besondere Art des hier ausgebildetenEntwickelungsgedankens 276-282. Klassische Bedeutung des Thomismus für die katholische Ethik !Und Sozialphilosophie 283-285. 8.

DIE

MIT TEL AL TE RL ICHE

S 0 Z I A L PHI L 0S 0 P H IE

NACH DEN GRUNDSÄTZEN DES TH 0MI SMU S. Jetzt erst vorhandene Möglichkeit sophie 286-291.

einer umfassenden christlichen Sozialphilo­

Gewinnung eines soziologischen Grundschemas: Patriarchalismus

und Organismus 292-31 1. Ausarbeitung des Grundschemas zu dem Begriff eines Kosmos der Berufe

311-313.

Grundschema 314-324.

Innere

Widersprüche

upd Antinomien in dem

Keine Sozialreform sondern Karität 324-328.

tholische Naturrecht 328-329.

Rückblick

Das ka­

und Ausblick 330-336.

Die Sozialethik der Familie, des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft 337 -348.

Leitung dieses Kosmos durch die Obergewalt der Kirche 348-351.

Bedingtheit der katholischen Sozialphilosophie durch die allgemeine Kulturge­ schichte und umgekehrte Frage nach ihrem Einfluß auf sie 352-358. 9. DA S AB S 0LUTE G 0 T T ES- UND N AT U R RE CH T U ND DIE SEKTEN. Wiederauftauchen des alten Gegensatzes

gegen

den kirchlichen Kompromiß

358-360. Der Sektentypus im Unterschied vom Kirchentypus 360-377. Radikale Gestaltung des Naturrechts im Sektentypus und weitere dogmatische Eigentümlich­ keiten 377-383. Ausgangspunkt der Sektenbildung von der gregorianischen Kirchenreform 383 -389.

Waldenser 389-390.

Franziskaner

390-393.

Der Hussitismus 401-410. Bauernaufstände 410-41 I. souveränetät 412-416. 417-418. Die

Die Wikkliffie 393-401. Die Literatur der Volks­

Naturrechtliche Elemente in der konziliaren Reformtheorie

städtische Kultur

und

der Individualismus, die Mystik 418-422.

Abschluß und Vorausblick 422-426. HI. KAPITEL.

DER PROTESTANTISMUS. r.

DAS SOZIOLOGISCHE

PROBLEM

DES

PROTESTAN ­

TISMUS. Der Protestantismus als neuer Typus der christlichen Idee 427-430.

soziologischen Selbstgestaltung der

Ausgangspunkt in der Originalität Luthers und Verhält­

nis zu denKlassenbewegungen der Zeit 431-434. Die religiöseIdeeLuthers 434-448. Soziologische Konsequenzen dieser Idee 448. Folgerungen aus diesem Kirchenbegriff:

I.

Der neue Kirchenbegriff 448-458.

Der absolute Wahrheitsbegriff.

2. Das

XLVI Amt der Wortverkündigung als Mittel der Organisation, 3. Das Landeskirchenturn und

die Zwangsherrschaft

der

Kirche

459-472.

sprechende Kompromiß-Ethik 473-490. lichen Ethik:

Die

dem

Kirchenbegriff ent­

Sondercharakter der protestantisch-kirch­

die Zentralstellung des Dekalogs, die doppelte Moral des Amtes und

der Person 491-506.

Rückblick und Vorblick 506

-

512.

2. DA S LU T HER TU M. Kirchenbegriff und kirchliche Organisation

des Luthertums

512-521.

staatlich-kirchliche Lebenseinheit der christlichen Gesellschaft 521-523. des Luthertums 524-531.

Das lutherische Naturrecht 532-548.

Das soziologische Grundschema des Luthertums 549-555· -559·

Die

Die Ethik

Der Staat 560-570.

Die Wirtschaft

derung und die Berufe 581-584.

571-580.

Die Familie 555

Die Gesellschaftsglie­

Sozialpolitik, Sozialreform und Karität 585-593.

Schlußfrage nach Zusammenhang des Luthertums mit der allgemeinen deutseben Kulturlage und Rückwirkung jenes auf diese 594-602.

Bedeutung des Luthertums

für die deutsche politische und soziale Lage 603-605. 3-

D ER

CA L V I N I S MU S.

Ueberfiügelung des Luthertums

durch

primitiven und des Neu-Calvinismus.

den Calvinismus.

Unterscheidung des

Ursprünglicher Ausgang des Calvinismus vom

Luthertum 607-612. Religiös-ethische Besonderheit des p r i m i tiv e n C a I v i n i s m u s 613-681. 1.

3-

Prädestinationslehre 615-621; 2. Der calvinistische Individualismus 622-624; Die heilige Gemeinde und Analogien

calvinistische Ethik.

mit

dem Täuferturn 615-642;

Die Askese. Die Berufsidee.

4- Die

Das natürliche Sittengesetz 625

-666; 5· Das soziologische Grundschema. Gleichheit und Ungleichheit. Christlicher Sozialismus 667-679. Der Einfluß der Genfer kulturellen Lage auf den -728.

1.

primitiven Calvinismus 681

Der demokratisch-konstitutionelle Zug des Calvinismus. Genfer Zustände.

Bezas Staatslehre. Die bugenottisch-monarchomachische Staatslehre. Die schottische Staatslehre.

Cromwell. Althusius.

2. Der kapitalistische Zug und Kapitalismus.

in

Grotius.

Locke. Hobbes.

Pofendorf 681-703.

der Wirtschaftsethik des Calvinismus.

Einschränkungen des Kapitalismus durch

Calvinismus

christliche Forderun­

gen. Aussöhnung des Calvinismus mit der modernen Wirtschaftsordnung 704-722. 3· Politische

Internationalität

des

Calvinismus.

Das

Kriegsproblem.

Die Inter­

ventionspolitik 723-728. Die eigentümlichen reformierten Soziallehren. Der Kirchenbegriff. Gesellschafts­ und Familienbegriff 728-733. Der Uebergang zum N e u c a I v i n i s m u s im Freikirchenturn und Pietismus als Folge der Uebertragung der Maßstäbe der heiligen Gemeinde auf große Volks­ kulturen 733-737Das Freikirchenturn 738-773. Der Kongregationalismus

745

-

748.

Der Brownismus und Barrowismus 741-744. Der

englische

Independentismus

Eindringen des Freikirchenprinzips in den echten Calvinismus 755-757.

749-755. Die To-

XLVII leranz 758-761.

Naturrechtlicher und liberaler Charakter des freikirchlichen Neu­

calvinismus 762-772. Puritanismus, Präzisismus und Pietismus 773-789. mus 774-780,

Der

niederländische

Präzisismus

Der

englische Puritanis­ Der Pietismus

781-787.

am

Niederrhein und in der Schweiz 788-789. Die Ethik des Neu-Calvinismus verbürgerlichten Sektentypus.

und ihre Verschmelzung

mit

der Ethik

des

Entstehung der Gesamtgruppe des a s k e t i s c h e n

P r o t e s t a n t i s m u s aus dieser Verschmelzung 790-794. 4·

S E K TEN T Y P U S

UN D

M YST I K

S CHEM

AU F

P R 0 TE S T AN T 1-

BODEN.

Komplementärbewegung der Sekten und der Mystik neben dem protestantisch­ konfessionellen Landeskirchenturn und ursprüngliche Eingeschlossenheit beider in die reformatorische Ideenwelt 794-797· D a s T ä u f e r tu m u n d d i e p r o t e s t a n t i s c h e n S e k t e n 797-848. Anknüpfungspunkte des Täuferturns selbständigung

des Sektenmotivs

im

rakteristik des Täuferturns 8oo-8o4.

bei den

Reformatoren 797- 8o o.

organisierten

Täufertum.

Ver­

Allgemeine Cha­

Herkunft des Täuferturns

805-809.

Ver­

schiedene Stellung des Sektenmotivs im Katholizismus und Protestantismus 809-812. Züricher Täuferturn und erste Ausbreitung Englische Täufer und Entstehung

der

812-814.

General Baptists

Täuferturn in der englischen Revolution 817-819. Diggers 822-824.

Die Millenarier

Herrnhuter 832-835.

825-826.

Der Methodismus

derne Sekten 841-843.

Mennoniten 814-815. Das

815-817.

radikale

Die Leveller 820-821.

Die

Der Pietismus 827-831.

Die

Der Labadismus 841,

Mo­

836-840.

Der christliche Sozialismus 843-846.

Tolstoi 847-848.

D i e M y s t i k u n d d e r S p i r i t u a I i s m u s 848-940. Das religiöse Wesen der Mystik überhaupt Testament 852-853.

Spiritualismus 858-859.

Die Mystik im Neuen

Der protestantische Spiritualismus 86o-862.

von den Täufern 863-865.

Thomas Münzer 878-879 .

Ethik des Spiritualismus 875-877.

Karlstadt 879-8 8o.

Schwenkfeld 881-885.

Seb.

Castellio 889-890. Coornheert 891-893. Die Collegianten 894

-895. Spiritualistische Theologen aus dem Täuferturn 895-897. 897-898.

Der

Unterschied

Soziologischer Charakter des Spiritualismus 865-868.

Wirkungen auf das Dogma 868-874.

Franck 886-888.

849-851.

Die religionsphilosophisch unterbaute Mystik 853-858.

David Joris 899-900,

Heinrich Nikläs 901-902.

Naturphilosophen Labadie 902-903.

Niederländische Mystik des 17. Jh. 903-906. Englische Mystik des 17. Jh. 907 -9 10.

Die Quäker

hutertom 922-925.

9I1-916.

Methodismus

und

Pietismus

Die moderne Religionsphilosophie

Die Romantik 929-932.

917-921.

Herrn­

des Idealismus 926-928.

Die moderne Theologie 933-935.

Soziologische Folgen

des modernen Spiritualismus 936-940. Die Soziallehren der Mystik und des Spiritualismus 940-942. siven Sekten 943-946.

Die

duldende Sekte

Die der aggres­

und ihre Verschmelzung mit

Neucalvinismus; nochmals der asketische Protestantismus 946-948.

dem

Das soziolo-

XLVIII gisehe Grundschema des 951-952. lung

des

asketischen Protestantismus

Die politische Ethik 953-955· asketischen

Protestantismus

in

949-951.

Die Sexualethik

Die Wirtschaftsethik 955-958. Stel­ der

Geschichte

der christlichen Ethik

959-961. Schlußfrage nach Wechselbeeinflussung schilderten Gruppen 960-963.

der

allgemeinen Kultur

und der ge­

Bedeutung des asketischen Protestantismus in der

Gegenwart 964. SCHLUSS. Die neue Lage der Ergebnisse: lichen Idee.

I.

christlichen

2. Die

soziologische

3· Wahrheitsbegriff und Toleranz. Ethik.

Soziallehren seit

dem

x8. Jahrh. 965-966.

Die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christ­

5· Die Bedeutung

Bedingtheit

des Dogmas

und

der Theologie.

4· Die Entwickelungsgeschichte der christlichen

der Marxistischen Methode

fiir

die Theologie.

6. Der

bleibende ethische Gehalt des Christentums. 7· Die zweckmäßigste Organisation des christlich-religiösen Lebens in der Gegenwart. 8. Das Christentum und das moderne soziale Problem 967-986. Sachregister 987-991. Namenregister 992-994.

Einleitung u n d m e t h o d i s c h e V o r f r a g e n. In den sozialen Kämpfen der Gegenwart, die teils von den modernen Riesen- und Einheitsstaaten, ihrer Demokratisierung und dem Kampf der Gruppen um die Beeinflussung des Staats­ willens, teils von der modernen Industrialisierung , der Bildung des Proletariats und der Emanzipation der internationalen Massen ausgehen, erheben neben den politischen Parteien, den ökonomisch - soziologischen Fachwissenschaften und den fnodern autonomen Kulturphilosophen auch die auf uralte histo­ rische Kräfte begründeten Kirchen ihre Stimme. Zugleich verwen­ den sie ihre beträchtliche Organisationskraft mit zur Lösung dieser Probleme. Großenteils fallen sie dabei mit den Parteien zusammen wie das bei Zentrum, Konservativen und antisemitischen Mittel­ ständlern mehr oder minder der Fall ist, und erleiden dann frei­ lich auch starke Rückwirkungen durch die in jenen wirkenden politischen und Klasseninteressen ; teils suchen sie in der Weü:e des Evangelisch-sozialen Kongresses und mit den Mitteln ein.�r wissenschaftlichen Literatur eine parteilose geistige und praktische Einwirkung; teils finden sie in den halb-kirchlichen Vereinen und Organisationen der »Innern Mission« und verwandter Bestrebungen ihre Wirksamkeit. Jedenfalls haben diese kirchlichen und reli­ giösen Gruppen, seit und soweit sie anerkannt haben, daß ihrer Lebensregelung von der modernen sozialen Lage her neue Vor­ aussetzungen und Aufgaben gestellt sind, sich in diese Probleme praktisch und theoretisch vertieft und unter Anschluß an die be­ stehende wissenschaftliche Literatur eine eigentümlich christliche Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftslehre zu entwerfen oder ab­ zugrenzen gesucht, wobei die wachsende Einsicht in die Be­ deutung des ökonomischen Unterbaues für alle höhere geistige Kultur auch sie stark zur Beschäftigung mit ökonomischen Dingen gezwung-en hat. Auch sind manche Nationalökonomen und manche Vertreter der politischen Wissenschaft ihnen darin entgegengeT r o e l t s c h , Gesammelte Schriften.

I.

2

Einleitung.

kommen. Daß die leitenden Persönlichkeiten der Regierungen sich auf solche Gedanken gerne berufen und daß das insbeson­ dere Bismarck in merkwürdigem Gegensatz zu seinem sonstigen politischen Realismus und Naturalismus nachdrücklich getan hat, ist bekannt. Ein solches Unternehmen ist an sich auch wohl ver­ ständlich und in der Ordnung, da die Gesellschaftslehre in der Tat rein aus sich die letzten Werte und Normen nicht zu erzeugen vermag, da auch die ökonomische Lehre in Bezug auf die letzte Wertung der von ihr behandelten Güter und auf die von ihr vorauszusetzenden komplizierten sozialen, politischen und sitt­ lichen Kräfte an außerhalb der Fachwissenschaft liegende In­ stanzen gewiesen ist 1). Die Frage kann daher nicht sein , ob das Unternehmen kirchlicher und religiös bestimmter Soziallehren überhaupt berechtigt sei, sondern nur die, ob von ihnen etwas für die moderne Lage Brauchbares und Wertvolles mit geleistet wor­ den sei. Um diese Frage aber zu beantworten, bedarf es vor allem der Kenntnis dieser Bestrebungen. Eine solche Aufgabe ist freilich sehr kompliziert. Zu beur­ teilen, was die kirchliche Sozialpolitik und Gesellschaftslehre prak­ tisch geleistet hat, ist eine derart umfangreiche Sache, daß ihr nur ein diesen Fragen sich widmender Fachmann mit nationalökonomi­ scher und politischer Schulung gewachsen ist. Darüber kann ich mir hier kein Urteil erlauben. Aber ein anderes, theoretisch noch wichtigeres Interesse liegt nach der Seite der d o g m e ng e s c h i c h t1 i c h e n F r a g e , wie die Kirchen prinzipiell ihre Lehre begrün­ den, von ihrem ganzen Grundwesen aus prinzipiell sich zu dem modernen sozialen Problem stellen und nach ihren Ideen stellen müssen. Diese Frage ist umsomehr von Bedeutung, als es gerade einer der besonderen Vorzüge der kirchlichen Soziallehre ist, prin­ zipielle , metaphysisch begründete Ueberzeugungen zu besitzen. Darin sind sie mit den Sozialdemokraten einig, und darum haben das sozialpolitische Zentrum, die patriarchalischen Konservativen und die revolutionären Sozialdemokraten die stärkste suggestive Macht, während der in individuelle Besonderheiten, praktische Korn1) Das veranschaulicht mit bewunderungswürdiger Breite der Kenntnisse und Feinfühligkeit für die Zusammenhänge Schmollers »Grundriß der Volkswirtschaft«, der freilich ebenso deutlich für die Selbständigkeit aller Beurteilungsnormen zeugt. Denn für die Gewinnung dieser hat Schmoller nur den historisch-psychologischen Kausalzusammenhang zur Verfügung, aus dem er Normen und gültige Werte teils gar nicht, teils nur durch Erschleichung gewinnt.

Begrenzung des Themas auf die Dogmengeschichte des Problems.

3

promisse und bürgerliche Gelehrsamkeit sich relativistisch auflösende Liberalismus diese Kraft nicht oder nicht mehr besitzt, nachdem sein individualistischer Grundgedanke sich mindestens vorläufig erschöpft hat. Eine derartige dogmengeschichtliche Studie ist in erster Linie Sache des Theologen und Religionshistorikers oder doch wenigstens des mit diesen Kenntnissen Vertrauten. Denn hier stößt man schon beim ersten Versuch immer wieder auf die Grundtatsache, daß die Kirchen und das Christentum als vor allem historische Mächte in allen Stücken bedingt sind durch ihre Vergangenheit, durch das Evangelium, das mit der Bibel stets von neuem seine Ein­ flüsse geltend macht, und durch die das soziale Leben und das Kulturganze betreffenden Dogmen. In Zustimmung und Gegen­ satz, in Abhängigheit und Umdeutung sind alle modernen kirch­ lichen Soziallehren von hier aus bestimmt ; und, wie ihre seelische Kraft nur durch dieses Bewußtsein eines uralten und weltweiten Zusammenhangs der Glaubenstradition zu Stande kommt, so ist auch ihr Inhalt nur aus diesem Zusammenhang zu verstehen. Aus der Geschichte der christlichen Ethik und sozusagen ihren Grunddogmen müßten sie verstanden werden, wenn es eine solche gäbe, die das christliche Ethos in seinem inneren Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturgeschichte darzustellen wüßte 2). Da 2) Geschichten der christlichen Ethik von Luthhardt 1888/93 (lutherisch­ konfessionell: die christliche Ethik ist im Evangelium und im Ideal die Durch­ dringung des Systems der weltlichen Berufe mit dem Geist des Gottvertrauens und der Nächstenliebe), Gaß 1881 (viel Stoff und wenig Ordnung: Versöhnung und Durchdringung des Christlich-Supranaturalen und Human-Natürlichen). Ziegler 1886 (Theorie von der Selbstauflösung des christlichen Dualismus in moderne Immanenz und Autonomie). Hier ist überall die christliche Ethik wesentlich unter den Ge­ sichtspunkt gestellt, daß sie Gnadenhilfe für die sündige Schwachheit oder Un­ fähigkeit sei und daher wesentlich die Gnadenlehre behandelt. Die Frage nach dem i n h a ltli c h e n Sondercharakter des christlichen Ethos und nach der Verbin­ dung seines Inhaltes mit den übrigen, inhaltlichen sittlichen Normen und Gütern der Kulturmenschheit kommt daher immer nur nebenbei in Betracht. Das gilt auch von der Berücksichtigung der christlichen Ethik, die Jod! in seiner lehrreichen ,Geschichte der Ethik« I 2 1906 gibt. Sie ist ihm mit Stoa und Platonismus zu­ sammen der Typus der spiritualistischen, metaphysischen und dualistischen Ethik, die, auf religiösen Illusionen beruhend, wesentlich die Gnadenhilfe und mit ihr den extremen Dualismus bis zur Askese behauptet, im übrigen aber im Gegensatz gegen Stoa und Platonismus die Züge barbarischer Unwissenschaftlichkeit trägt, ja vielleicht in ihrem Besten nur eine Barbarisierung und populäre Mythisierung der stoisch-pla­ tonischen Lehre ist. In all diesen Fällen fehlt es an einer genügenden Analyse 1*

4

Einleitung.

es eine solche nicht oder kaum gibt, muß man gerade für die hier aufgeworfene Frage selbst sich den Weg bahnen zum Ver­ ständnis der Soziallehren des Evangeliums, der alten Kirche, des Mittelalters, der nachreformatorischen Konfessionen bis zur Bildung der neuen Lage in der modernen Welt, wo die alten Theorien nicht mehr ausreichen und daher aus Altern und Neuem, bewußt oder unbewußt, eingestanden oder uneingestanden, neue Theorien aufgebaut werden. Es muß also versucht werden, von diesen historischen Grund­ lagen ein Bild zu gewinnen, und gerade eine möglichst kurze Darstellung ist geeignet, hier die entscheidenden Linien hervor­ treten zu lassen, die in ausführlichen Darstellungen allzuleicht von den krausen und bei der spinösen Ausbildung der kirchlichen Dogmen besonders verwirrenden Einzelheiten verdeckt werden. Hier liegt nun aber bereits in der ersten Fragestellung eine große der ethischen Grundideen des Evangeliums, und daher auch an einer solchen der soziologischen Eigenkonstitution und der sozialen Beziehungen des Christentums. Eine wertvolle, den Zusammenhang mit dem allgemeinen, namentlich wirtschaft­ lichen, Leben am meisten betonende, aber naturgemäß nicht erschöpfende Darstel­ lung der christlichen Ethik ist Uhlhorn >Die christliche Liebestätigkeit« I 2 1882, II 1884, III 1890. Die Auffassung im ganzen ist lutherisch-konfessionell. Aehnlich bei A. Ritschl, »Geschichte des Pietismus«, 1880/84/86, wo die Ethik eines moder­ nisierten, ,weltoffenen« Luthertums klassisch entwickelt ist. - Ganz entgegengesetzt sind die kulturgeschichtlichen Auffassungen, die die in vielen Gedanken verwandten, aber freilich auch vielfach dann wieder auseinandergehenden Basler Jakob Burkhardt, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche andeutend entwickelt haben. Ihnen er­ scheint die christliche Ethik wie den Katholiken wesentlich als Askese, nur daß die vom Katholizismus stets daneben betonte Einbeziehung des Natürlich-Innerweltlichen dabei abgestoßen wird. In der Tat ist das Problem der Askese ein Hauptproblem in diesem ganzen Zusammenhang. Aber die Auffassung des Evangeliums rein als Askese ist eine Verkennung seines religiösen Grundgedankens und damit auch eine Unterschätzung der von diesem religiösen Grundgedanken ausgehenden soziologischen Kräfte, wie denn alle drei heftige Gegner der Masse und des ,Sozialen« sind und ebendaher für diese Seite des Gegenstandes kein Interesse oder nur Polemik haben. Wäre das Christentum reine Askese, dann wäre über seine Soziallehren überhaupt nur zu sagen, daß es konsequent das Mönchtum und inkonsequent ein Halbmönch­ tum als Anpassung an die Welt hervorgebracht habe. Es liegt aber auf der Hand, daß das den Sachverhalt nicht erschöpft und jedenfalls noch andres in ihm ent­ halten sein muß. - Auch Renan in den •Ürigines du Christianisme« hat gelegent­ lich Derartiges geäußert, aber in seiner schillernden Weise dann auch wieder sehr viel weitergehende ethische und soziologische Gehalte anerkannt.

1. Der soziologische Kreis des Christentums.

5

Schwierigkeit und Dunkelheit. Was heißt überhaupt das »Soziale« im Verhältnis zu den Kirchen und dem Christentum ? Angesichts der Verworrenheit, die die meisten mit dem so gestellten Problem sich beschäftigenden Schriften erfüllt, ist vor allem von vorn­ herein schon in dieser Fragestellung selbst Ordnung zu schaffen. Sieht man sich eine der typischen Arbeiten , etwa das in dritter Auflage vorliegende Buch von Nathusius »die Mitarbeit der Kirche an der Lösung d�r sozialen Frage« 1904 an, so ge­ wahrt man ein Doppeltes in einander gewirrt, dessen Verwirrung die Unverständlichkeiten und Irrtümer des Buches offenkundig bewirkt. Es ist hier nämlich einmal die Rede von einer aus der religiösen Idee selbst hervorgehenden Gemeinschaft , von einem »sozialen Charakter des Christentums« überhaupt. Das aber ist bei näherer Ueberlegung etwas ganz Selbstverständliches, es ist nichts anderes als die von dem religiösen Objekt aus sich ergebende, besondere religiöse Gemeinschaft, die s o z i o l o g i s c h e A u s w i r k u n g d e s r e l i g i ö s e n P h ä n o m e n s , geradeso wie jedes beliebige andere Phänomen, etwa der Geschlechtstrieb, die Kunst, die Wissenschaft, die Gewinnung des Lebensunterhalts, oder auch jede Liebhaberei und jede flüchtige Zwecksetzung ihre soziologische Wirkung hat, ihren größeren oder kleineren, dau­ ernderen oder flüchtigeren, so oder so in der Lagerung seiner Glieder konstituierten soziologischen Kreis um sich zieht 3). Mit dem »Sozialen« im gewöhnlichen Sinn des Wortes hat das gar nichts zu tun, vielmehr lehrt jede soziologische Ueberlegung die kolossale Verschiedenheit in Begründung und Struktur, in Funk­ tion und Verknüpfung mit anderen Kreisen kennen, die je nach dem die Beziehung hervorbringenden Objekt zwischen diesen Ge­ bilden besteht. Aber bei Nathusius ist deutlich, wie hier der Gebrauch des Wortes »sozial« für diese soziologische, aus der christlichen Idee hervorgehenden Gesellung alles verwirrt. Im Handumdrehen wird aus dem Christentum wegen dieses seines »sozialen« Charakters ein Prinzip des sozialen Lebens überhaupt, und, da dieses nach dem Verfasser »in den natürlichen Beziehungen des Geschlechts, Alters u. s. w., in den natürlichen wirtschaftlichen Bedürfnissen, in den davon ausgehenden Gliederungen, dem Eigen­ tum und einer menschlichen Völkergemeinschaft« seinerseits be8) Hierzu vergl. die verschiedenen, äußerst belehrenden soziologischen Ab­ handlungen Simmels ; der oben ausgesprochene Gedanke in ,Soziologie der Ueber­ und Unterordnung«, Band XXIV (1907) dieses Archivs.

6

Einleitung.

steht, so wird das soziale Prinzip des Christentums eo ipso zum Prinzip auch aller dieser Dinge. Nun kann man sich nicht mehr wundern, wenn es schlankweg heißt, »daß nicht nur im allge­ meinen dem Christentum ein s o z i a 1 e r Geist innewohnt, eine die Menschen zusammenführende Macht, sondern daß auch (eben damit) gewisse Grundsätze aufgestellt sind für die natürliche Gliederung der Menschen, die Geschlechts- und Altersverhältnisse, Lebensbe­ dingungen, von deren Einhaltung ihre gesunde Entwicklung abhängt« ! (S. 307). Hier fehlt jeder Gedanke daran, ob nicht vielleicht der soziologische, aus der christlichen Idee hervorgehende, Kreis von den aus jenen anderen Zwecken soziologisch hervorgehenden Kreisen innerlich und wesentlich verschieden sei; um der bloßen formalen Gleichheit willen, daß sie »assoziierende Mächte« (S. 307) sind, werden sie auch inhaltlich zusammengeworfen und eins aus dem anderen bestimmt. Das ist aber gar nicht die einzige verhängnisvolle Ver­ worrenheit in diesem Gedankengang. Die zweite ergibt sich bei der Frage nach dem Begriff der Gesellschaft oder des »Sozialen«, das so mit dem soziologischen Kreis der christlichen Idee zusammen­ geworfen worden ist. Er ist nichts weniger als selbstverständlich und bedeutet keineswegs den Inbegriff soziologischer Beziehungen, die neben dem soziologischen Kreis des Christentums vorhanden und möglich sind. Wenn Nathusius dem Christlich-Soziologischen alle andere Gesellung als eine Einheit gegenüberstellt und nun beide Einheiten wie Vernunft und Offenbarung, die ja auch in der Wurzel d. h. in Gott eins sind, auf einander reduziert, so wirkt darin zunächst die apologetische Gewohnheit der christlichen Dogmatiker, dem absolut gemachten Christentum alles Uebrige als eine Einheit gegenüberzustellen und es dann mit ihm zusam­ men irgendwie auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen und dadurch die Gegensätze auszugleichen, ein Irrtum, den jede rein historische Betrachtung auflöst. Aber in dieser Denkweise liegt doch ein noch viel weiter greifender Irrtum, eine Weitschichtig­ keit und Allgemeinheit im Gebrauch des Begriffs des Sozialen, die jede bestimmte und klare Fragestellung unmöglich macht und die auch den nicht-theologischen Dogmatikern, den Vertretern des naturwissenschaftlichen Gesellschaftsbegriffes, sehr geläufig ist. Der Begriff des Sozialen bedeutet weder den Inbegriff der ,natürlichen« Gesellung im Unterschied von der »übernatürlich« bewirkten Vergesellschaftung, noch den Inbegriff menschlicher

2. Der Begriff des »Sozialen«.

7

Vergesellschaftung überhaupt, unter den als Allgemeinbegriff jedes soziologische Phänomen als Einzelfall fiele und durch den es dann damit erklärt und begriffen wäre. Da entsteht dann von der entgegengesetzten Seite her die gleiche Verwirrung wie bei Nathusius, statt der Auflösung des Sozialen in das Christlich­ Soziologische die Auflösung des letzteren in den angeblich klaren und eindeutigen Begriff des Sozialen. Hier steht dem theologischen Dogmatiker als Beispiel der sozialistische Dogmatiker gegenüber, wie man etwa aus Kautskys Programmschrift »Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche« (2. Aufl. 1906) ersehen kann 3•). f Der Begrif des »Sozialen« bedeutet vielmehr in dem heute geläufigen Sinn einen ganz bestimmten und eng begrenzten Ausschnitt aus den allgemeinen soziologischen Phänomenen, 8 •) Hier wird die Kirche von vornherein lediglich als ökonomisches Phäno­ men aufgefaßt, da sie als soziologisches Phänomen eo ipso auch ein wesentlich ökonomisches sein muß. Im Gegensatz zur Demokratie und Priesterlosigkeit aller urwüchsigen, mit der Gesellschaft als solcher noch zusammenfallenden Religion ist die christliche Religion als Verfallsprodukt eine neue eigene Vergesellschaftung kommu­ nistischer Art. Bei der Ausbreitung in der Masse differenziert dieser Kommunis­ mus jedoch wieder eine Herrenschicht aus sich heraus, den Klerus, und die weitere Entwickelung bringt nur die Festigung der politischen und ökonomischen Herren­ stellung d�s Klerus, der damit teils zum Konkurrenten, teils zum Komplizen der jeweiligen politisch-ökonomischen Herrenschicht überhaupt wird. Von einer aus einem spezifisch religiösen Motiv folgenden religiös-soziologischen Bildung ist also hierbei überhaupt nicht die Rede und die Kirche lediglich in die allgemeine öko­ nomisch-soziale Bewegung aufgelöst, innerhalb deren sie anfangs eine kommuni­ stische Klassenbewegung der Armen darstellt und in ihrer religiösen Liebesidee sich ihren ökonomisch-kommunistischen Sinn verhüllt. Daher dann auch die Kirchen­ politik des heutigen Proletariats ; es akzeptiert die kommunistische, religiös ver­ hüllte Tendenz und schont darum die religiösen Ideen durch die Proklamierung der Religion zur Privatsache und sichert sich die Sympathieen der Katholiken durch Bekämpfung aller Ausnahmegesetzgebung , z. B. gegen die Orden. Gleichzeitig soll freilich die Trennung von Staat und Kirche, die Verweisung der Religion aus der Schule und die Bekämpfung der religiösen Idee durch die sozialistische Wissen­ schaft die Macht des Klerus brechen. In dieser widerspruchsvollen Kirchenpolitik, die Schonung und Vernichtung der Religion zugleich ist, kommt dann freilich der wirkliche Sachverhalt zum Ausdruck, daß in der Kirche noch etwas anderes ent­ halten ist als ein ökonomisch-klassenkämpferisches Phänomen, daß in der ideologisch­ religiösen > Verhüllung« ein selbständiges Interesse steckt. Aber diese �oh! mehr diplomatische als aufrichtige Anerkennung bleibt ohne jede tiefere Wirkung auf die Auffassung des Problems selbst, das von dem dogmatischen Allgemeinbegriff der »Gesellschaft« aus überhaupt nicht lösbar ist.

8

Einleitung,

nämlich die von der staatlichen Regulierung und dem poli­ tischen Interesse freigelassenen oder nur sekundär berührten so­ ziologischen Beziehungen , die sich aus dem wirtschaftlichen Leben, der Bevölkerungsspannung, der Arbeitsteilung, der Stände­ gliederung und einigen anderen nicht direkt als politisch zu charak­ terisierenden Interessen ergeben, die aber tatsächlich das staatliche Gesamtleben aufs stärkste beeinflussen und seit der Ausbildung des modernen Rechtsstaates sich von ihm deutlich geschieden haben, so daß das »soziale Problem« recht eigentlich in dem Verhältnis der politischen Gemeinschaft zu diesen in der Wurzel unpolitischen, aber politisch überaus wichtigen soziologischen Erscheinungen be­ steht. So hat Lorenz von Stein aus der Beobachtung der franzö­ sischen Entwicklung heraus den Begriff der »Gesellschaft« neben den des Staates gestellt und das soziale Problem der Gegenwart angekündigt. So hat Rodbertus, der andere Prophet des »sozialen Problems«, die Gesellschaft bezeichnet als den bpersonifizierten Inbegriff der peripherischen Lebenstätigkeiten, die von unten, von den individuellen Vielheiten aus, auf den ihnen (vom Staat) frei­ gelassenen Teilen des sozialen Lebens sich äußern« 4). Bei dieser engeren Bedeutung des Wortes »Gesellschaft« und »sozial«, wie es durch die gegenwärtige Lage besonders akzentuiert ist, muß man aber bleiben. Denn von der Gesellschaft als dem Inbegriff aller großen, kleinen und kleinsten soziologischen Kreise und ihrer gegenseitigen Verschlingungen und Beeinflussungen kann man als von etwas Uebersehbarem und wissenschaftlich Brauch­ barem überhaupt nicht reden ; die ist in der Unendlichkeit ihrer Bildungen und der für jede Betrachtungsweise beliebig vornehm­ baren Verknüpfung der Phänomene etwas überhaupt Unausdenk­ bares, ein Abstraktum wie Kultur oder Geschichte überhaupt, von denen auch nur die· Dilettanten immer im Ganzen reden ; in Wahrheit ist jedes Denken über sie ein Herausgreifen irgend eines interessierenden Momentes, bei dem dann jedesmal seine soziologischen Nachbarbeziehungen freilich mit in das Gesichts­ feld treten , aber auch für den schärfsten , anschauungs- und abstraktionsfähigsten Denker nach allen Seiten in die Unendlich­ keit der von beliebigen anderen Gesichtspunkten ausgehenden so­ ziologischen Gliederungen verlaufen. Es gibt keinen naturwissen') Vgl. Gothein, Artikel »Gesellschaft« im HWB. der Staatswissenschaften. L. von Stein, »Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs« 1842. Dietzel, »Rodbertus« II 1888, S. 46.

3, Das soziologische Grundschema.

9

schaftlichen Begriff der Gesellschaft, wie es einen solchen der Mechanik gibt, mit dem dann alle Einzelphänomene gedeckt wären, sondern der Begriff der Gesellschaft ist ein historischer, der aus einer unendlichen Fülle individueller soziologischer Gestaltungen nur stets einige herausgreifen und in ihren Beziehungen verfolgen kann ; auch wenn er die für das Leben wichtigsten herausgreift und damit naturgemäß auch auf eine äußerst reiche Verwickelung soziologischer Kreise stößt, so erschöpft er doch nie den allge­ meinen Begriff der Gesellschaft überhaupt 5). Das aber bedeutet für unseren Fall, daß die »Gesellschaft« und das »Soziale« im Sinne des heutigen Problems nur ein besonders wichtiges heute durch die Lage stark betontes Stück des allgemeinen soziologischen Zu­ sammenhanges ist, nicht dieser selbst. Ein Verhältnis des Christen­ tums zu den sozialen Problemen kann nur das Verhältnis zu diesen bestimmten, von der heutigen Lage besonders betonten, immer aber vorhanden gewesenen Größen der »G e s e 11 s c h a f t« i m e n g e r e n , S t e i n ' s c h e n S i n n e d e s W o r t e s bedeuten. So widersinnig, wie es ist, um des soziologischen assoziierenden Charakters willen das Christentum mit allen anderen soziologisch­ assoziierenden Phänomenen zusammenzuwerfen, ebenso verkehrt ist es, mit der Gesellschaft und dem Sozialen, das ihm gegenüber­ steht, die Gesellschaft überhaupt zu meinen. Ja, auch der Steinsehe Begriff der Gesellschaft, der alles vom modernen Rechts­ staat Freigelassene umfaßt, ist noch zu weit; die moderne Wissen­ schaft denkt bei der »Gesellschaft« mit Recht in erster Linie an die aus den ökonomischen Phänomenen sich ergebenden Lebens­ zusammenhänge. Es kann also zunächst nur die arbeitsteilige, Klassen-Stände bildende, Güter produzierende und tauschende, vom wirtschaftlichen Existenzbedürfnis aus organisierte Gesellschaft samt ihren mannigfachen Komplikationen gemeint sein. Gewiß bedeutet nun freilich eine von so allgemeinen Ideen ausgehende soziologische Grundanschauung, wie die christliche Ordnung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, überhaupt ein s o z i o 1 o g i s c h e s G r u n d s c h e m a , das auf 6) Es ist deutlich erkennbar, daß hier die Belehrungen durch Simmel, ,Probleme der Geschichtsphilosophie 8« 1907, Rickert, »Die Grenzen der naturwissen­ schaftlichen Begriffsbildung« 1902, Kistiakowski, >Gesellschaft und Einzelwesen« 1899, Max Weber, »Stammlers »Ueberwindung« der materialistischen Geschichtsauf­ fassung« (Band XXIV (1907) dieses Archivs), G. Jellinek , »Recht des modernen Staates« 1 2 1905, S. 1-9, 24-32 zugrunde liegen.

IO

Einleitung.

alle Lebensbeziehungen irgendwie wirken wird. Aber es wirkt nur bald stärker bald schwächer, bald reiner bald gebrochener auf sie, und ist nie mit ihnen identisch. Es ist hier immer nur möglich von Fall zu Fall, von Lebenskreis zu Lebenskreis, die etwaige Einwirkung des Grundschemas aufzudecken. Denn alle diese Lebenskreise haben selbständige Orga.;_isationstriebe, und es kann sich immer nur darum handeln, wie weit das religiös­ soziologische Grundschema in sie einzudringen und diese Kreise sich zu assimilieren vermocht hat. Wo und soweit es geschieht, wird es den verschiedenen Kreisen gegenüber sehr verschieden erreicht werden ; insbesondere die ökonomisch-arbeitsteilige » Ge­ sellschaft« bleibt immer ein selbständiges Phänomen mit eigenen soziologischen Grundlagen gegenüber der aus religiösen Ideen ge­ leiteten Gemeinschaftlichkeit. Dazu kommt ein Weiteres. Die Frage nach der inneren Wirkung des Christentums auf die Selbst­ empfindung der Persönlichkeit und auf die ethische Wechselbe­ ziehung als solche, ist gewiß ungeheuer wichtig, aber sie ist so im allgemeinen unbeantwortbar und unfaßbar. Sie kann gerade nur dadurch beantwortet werden, daß man die konkrete Einwirkung auf die verschiedenen Lebenskreise untersucht. Dabei werden freilich so große Gebiete, wie das ökonomisch-soziale, ein ent­ sprechend starkes Licht auf die allgemeine Grundtendenz der christlichen Soziologie zurückwerfen und Rückschlüsse auf den allgemeinen Charakter und die prinzipielle Kulturwirkung der christlich-soziologischen Prinzipien erlauben. Es wird das ein Ge­ winn sein, der bei der Frage nach dem Verhältnis der christlichen Idee zum »Sozialen« sich mit ergibt. Aber man muß dann wissen, daß man damit eine ganz konkrete Verengung, eine Stellvertretung des allgemeinen durch- ein besonderes Problem vornimmt. Das Soziale in einem faßbaren Sinn ist eben nicht die »Gesellschaft« überhaupt und erst recht nicht das ethische Leben überhaupt, sondern ein Ausschnitt; und alle Beleuchtung der soziologischen Kulturwirkungen des Christentums von dem »Sozialen« her ist nur die Beleuchtung von einem besonders wichtigen Kulturgebiete her, nicht aber eine Enthüllung seiner soziologischen Gesamtwir­ kung auf das Kulturganze überhaupt. Das führt aber auf einen weiteren wichtigen Punkt. Staat und Gesellschaft sind erst unterschieden von unserem modernen Sprach­ gebrauch, und das Charakteristische der »Gesellschaft« entsteht erst durch den Gegensatz gegen den modernen, formal-rechtlichen

4. Erweiterung des Begriffes des ,Sozialen« auch auf Staat und Familie.

II

Staatsbegriff, aus welchem Gegensatz heraus überhaupt erst der ganze Begriff sein Licht und seinen konkreten Sinn erhält. Nun ist es aber ein ganz neues und ganz besonderes Problem, wenn diese zunächst nur in ihrer Trennung und Verschiedenheit vom Staat charakterisierte Gesellschaft zu der Kirche oder den Kirchen in Beziehung gesetzt wird. Sie gewinnt in dieser Kontrastierung ganz offenkundig einen neuen Sinn. Es wird dann der Gegensatz eines von dem religiösen Gedanken der Gottes- und Menschenliebe aus organisierten soziologischen Kreises zu den aus sehr weltlichen Zwecken heraus organisierten soziologischen Mächten. Das moderne soziale Problem ist eben ein zunächst am Staatsgedanken orientiertes und wird bei der Orientierung an der Kirche zu dem ganz anders­ artigen Problem des Verhältnisses der religiösen Kräfte zu den ökonomisch-gesellschaftlich-politischen. Das ist das W ahrheitsmo­ ment in der Unterscheidung, die die theologischen Dogmatiker zwi­ schen dem religiösen Lebenskreis und der gegenüberstehenden Ein­ heit der nichtreligiösen Lebenskreise machen; aber der Unterschied ist nicht der des »Natürlichen« und » Uebernatürlichen«, sondern der zwischen einer aus dem religiösen Zweck hervorgehenden Verge­ sellschaftung und den wichtigsten, aus den innerweltlichen Zwecken hervorgehenden Gesellungen. Nicht der Allgemeinbegriff des »Na­ türlichen« und auch nicht der des »Sozialen überhaupt« kommt dann in dem Letzteren zur Geltung, sondern die beiden kraftvollsten und eingreifendsten soziologischen Bildungen neben dem religiösen Lebenskreis und deren beiderseitige Begründung in einem innerwelt­ lichen Beziehungspunkt, während die Kirchen einen religiösen und das heißt überweltlichen Beziehungspunkt sich zuschreiben. Dabei rückt dann aber der S t a a t w i e d e r m i t d e n ö k o n o m i s c h­ s o z i a I e n Pr o b 1 e m e n zusammen, und die Soziallehren der Kirche, abgesehen von der Selbstanschauung ihres eigenen sozio­ logischen Wesens , werden zu der Lehre ihres Verhältnisses zu Staat und Gesellschaft zusammen, die die wichtigsten weltlichen ihr gegenüberstehenden Mächte sind 6). So ist auch in der wirk8) Von Wissenschaft und Kunst ist dabei abgesehen, die bei einer einiger­ maßen festen Begrenzung des »Sozialen« eben nicht zu ihm gehören, so wichtige Bestandteile des allgemeinen soziologischen Systems sie auch sind und so wichtig namentlich die erstere für eine Religion der Erkenntnis und des Glaubens ist. Allein das muß der Dogmen- und Kunstgeschichte vorbehalten bleiben. Immerhin sei auf die interessante Parallele verwiesen, die hier das Verhältnis zur » WeltGesellschaft« als Konsequenz des modernen Staatsbegriffes vgl. Troeltsch, ,Die Trennung von Staat und Kirche«, 1907, S. 23-48. 7") Z.B. von dem christlichen Sozialismus St. Simons, der die jedem positiven Sozialsystem nötige metaphysisch-religiöse Grundlage in dem christlichen Gemein­ schaftsgedanken proklamierte, dabei übrigens sich darüber klar war, daß sein nouveau christianisme dann auch wirklich ein neuer, das heißt die Werte des Weltlebens viel offener anerkennender sein müsse. (v. Stein, Sozialismus und Kommunismus, S. 174.) Immerhin aber fließt auch so die christliche Brüderlichkeit mit dem sehr unbestimmten Egalitätsprinzip als dem sozialen Prinzip überhaupt zusammen. Die Geschichtswidrigkeit gerade dieser Identifikation wird das Folgende deutlich zeigen.

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Einleitung.

dem sozialen, d. h. soziologischen Wesen der Kirche schon soziale d. h. dem Leben der Gesellschaft und des Staates angehörende Probleme gelöst zu haben, mit der Liebesorganisation einer aus Gott quellenden und zu ihm zurückkehrenden Liebe schon die menschlichen Gemeinschaften überhaupt zu umfassen. Davon kann aber keine Rede sein; ja jede solche Meinung wird das Verständnis der wirklichen geschichtlichen Bedeutung des Evangeliums und seiner Entwickelungsgeschichte verdunkeln, und all die häufigen Reden vom »sozialen Geiste des Christentums« enthalten diese Zweideutigkeit auch für die Gegenwartsprobleme. Sie sind nicht notwendig falsch, aber vieldeutig und irreführend. Damit sind für unsere Untersuchung die Richtlinien gegeben. Wir werden überall zuerst zu fragen haben nach der e i g e n e n s o z i o l o g i s c h e n I d e e d e s Ch r i s t e n t u m s u n d d e­ r e n A u s b a u u n d O r g a n i s a t i o n. In ihr wird dann im­ mer ein über die Grenzen der eigentlich religiösen Gemeinschaft oder Kirche hinausstrebendes Ideal von einem allgemeinen Grund­ schema menschlicher Lebensbeziehungen überhaupt enthalten sein; aber das Problem ist dann erst, wie weit dieses Grundschema in andere Verhältnisse eindringt, wie es auf sie wirkt, wie es von ihnen, rückwirkend seinerseits beeinflußt wird, und wie weit in alledem eine innere Einheitlichkeit des Lebens zu Stande kommt und zu Stande kommen kann. Wir werden daher dann weiter zu fragen haben nach d e m V e r h ä l t n i s d i e s e r s o z i o l o­ g i s c h e n B i l d u n g z u m S o z i a l e n , d. h. z u S t a a t , ö k ono m i s c h-a r b e i t s t e i l i g e r Ge s e l l s c h a f t u n d F a m i l i e. Selbstverständlich wird in der geschichtlichen Wirk­ lichkeit das letztere stets vom ersteren aus behandelt und reguliert, aber die Probleme liegen dann eben immer gerade darin, welches die w i r k 1 i c h e n E i n w i r k u n g e n des soziologischen reli­ giösen Grundschemas auf andere Lebenskreise waren, welche Ein­ flüsse damit tatsächlich von den Kirchen auf soziale Phänomene ausgegangen sind und welche Einwirkungen umgekehrt die reli­ giöse Gemeinschaft von den politisch-sozialen Bildungen erfahren hat 8), wie weit schließlich dabei eine innere Berührung und Durch8) Ein glänzendes Beispiel für die letztere Fragestellung mit besonderer Zu­ spitzung auf das ökonomische Gebiet ist Max Webers bekannte Abhandlung >Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, Jg. 1903/04 dieses Archivs, die Andeutung eines Beispiels für die erstere desselben Gelehrten Auf­ satz: ,Kirchen« und ,Sekten« in Nordamerika, Christi. Welt 1906, S. 558 ff., 577 ff,

Grundlegende Tatsachen.

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dringung möglich gewesen und wie weit daraus eine i n n e r e E i n h e i t 1 i c h k e i t d e s G e s a m t 1 e b e n s hervorgegangen ist 9). Im Altertum ist das nie erreicht worden; im Mittelalter und in seinen reformatorischen Tochterkirchen ist es verwirklicht worden, wenigstens in Ideal und Theorie; in der modernen Welt ist der Zwiespalt wieder aufgeklafft. Aus diesen dem Blick sich unmittelbar so darbietenden Bildern von Altertum, Mittelalter und Konfessionen, und schließlich moderner Welt ergibt sich die Tei­ lung des Stoffes. In erster Linie aber wird das Evangelium und die Bibel selbst sowie die alte Kirche zu betrachten sein; sie schaffen die dauernde Grundlegung. I. D i e G r u n d 1 a g e n i n d e r a 1 t e n K i r c h e. I. Das Evangelium. Für das Verständnis der gesamten Grundrichtung des Chri­ stentums in ihrem Verhältnis zu den sozialen Problemen ist ent­ scheidend die Erkenntnis, daß die Predigt Jesu und die Bildung der neuen Religionsgemeinde k e i n e S c h ö p f u n g e i n e r s o z i a 1 e n B e w e g u n g i s t , das heißt nicht aus irgend einem Klassenkampf hervorgegangen oder auf ihn zugeschnitten ist und überhaupt nirgends direkt an die sozialen Umwälzungen der an9) Das sind dann die prinzipiellen Fragestellungen vom ethischen, theologischen oder kulturphilosophischen Interesse und Standpunkt aus, während die vorhin ge­ nannten Beispiele Max Webers dem rein Tatsächlichen zugewendet sind, und zwar vom Standpunkt und Interesse der Wirtschafts- und der Sozialgeschichte aus. Eine Arbeit wie die von v. Schulze-Gävernitz, »Britischer Imperialismus und englischer Freihandel« 1906 faßt beide Gruppen von Fragestellungen zusammen. Für die vorliegende Arbeit kommt es wesentlich auf die zweite Gruppe an, weil diese Frage­ stellung das eigentliche Grundinteresse der kirchlichen Soziallehren bildet, während die Untersuch1mgen über das faktische Verhalten und Wirken der christlichen Idee­ mächte gegenüber den politischen und ökonomischen Lebenskreisen nur als Voraus­ setzungen für die Beantwortung dieser prinzipiellen Frage in Betracht kommen. Meine Arbeit verfügt bezüglich jener Probleme des faktischen Verhältnisses nur in sehr beschränktem Maße über eigene Quellenforschung, am wenigsten bezüglich der alten und mittelalterlichen Kirche. Ihr etwaiges Verdienst liegt überhaupt nicht in selbständiger Quellenforschung, sondern in selbständigem Durchdenken der aus der jeweiligen Lage und Konstellation der Interessen erfolgenden Vereinheitlichung des Ganzen zu einer Theorie der Stellung des Religiösen zum Politisch-Sozialen. Doch hoffe ich für die Tatsachenfragen mich überall an die besten Darstellungen gehalten zu hahen.

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1. Alte Kirche, I. Evangelium.

tiken Gesellschaft anknüpft. Die Tatsache freilich steht fest , daß Jesus wesentlich an die Gedrückten und Kleinen sich gewendet hat , daß er den Reichtum für seelengefährlich hielt und dem jüdischen Priesteradel wie der herrschenden Theologenwelt feind­ lich gegenüberstand, daß ebenso die beginnende Kirche ihre Gläu­ bigen tatsächlich wesentlich in den niederen Ständen der Städte suchte und fand , daß erst seit dem zweiten Jahrhundert die so­ ziale Oberschicht von Bildung und Besitz langsam in sie einmün­ dete und daß das nicht ohne starke Reibungen sowohl mit der Bildung und Wissenschaft als mit dem Reichtum von statten ging. Allein ebenso fest steht die andere Tatsache , daß die gesamte altchristliche Missions- und Erbauungsliteratur innerhalb und aus­ serhalb des Neuen Testamentes von einer prinzipiellen sozialen Fragestellung nichts weiß, daß im Mittelpunkt überall rein die Fragen des Seelenheils, des Monotheismus, des Lebens nach dem Tod, des reinen Kultus, der richtigen Gemeindeorganisation, der praktischen Bewährung, der strengen Heiligkeitsgrundsätze stehen, daß von Anfang an keine Klassenunterschiede gemacht, sondern diese vielmehr in der großen Frage nach dem ewigen Heil und den inneren Gütern ausgelöscht worden sind. Insbesondere arbeiten alle apologetischen Empfehlungen nicht mit einer in Aussicht stehenden Verbesserung der sozialen Lage oder einer Heilung der sozialen Schäden , sondern mit rein theologisch-philosophischen oder mit ethischen Argumenten , welche letzteren sich gerade stets auf die Nüchternheit, Zuverlässigkeit, Arbeitsamkeit, bürger­ liche Brauchbarkeit der Christen beziehen. Auch die große Er­ lösungshoffnung des kommenden Gottesreiches , von der Jesus seinen Ausgang nimmt und die über der ganzen Gemeinde liegt, ist nirgends ein vollendeter Sozialzustand , den nur an Stelle menschlicher Kunst die Wunderkraft Gottes herbeiführte , oder die Vertröstung irdischen Gesellschaftselends auf ein glückliches, ausgleichendes oder gar umkehrendes Jenseits , das den Besitz­ losen im Gegensatz zu den jetzt herrschenden Gesellschaftsmäch­ ten durch das Evangelium gesichert würde; sondern es ist überall in erster Linie der ethische und religiöse Idealzustand einer rein von Gott beherrschten Welt, wo alle wahren Werte des reinen Innenlebens zu ihrer wirklichen Geltung und Anerkennung kom­ men werden; und , als dann später die kommende Erlösung zu­ rücktritt hinter der bereits im Leben und Tod des Christus voll­ brachten, da zeigten sich auch hier die Güter der Erlösung als

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Soziale Verhältnisse der Kaiserzeit.

rein innerliche , ethische und geistige , für welche eine leidlose Seligkeit nur die selbstverständliche Vollendung ist. Das ist die Grundtatsache, von der ausgegangen werden muß 10). 10) Vgl. hierzu im allgemeinen Uhlhorn, Christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche', 1882, Harnack, »Dogmengeschichte« 3 und Harnack, »Mission und Aus­ breitung des Christentums in den ersten 3 Jahrhunderten«•, 1906, welches Buch die besten mir bekannten Sammlungen zur Sozialgeschichte des Christentums ent­ hält. Außerdem Möller-V. Schubert, »Lehrbuch der Kirchengeschichte« I 2, 1904; Duchesne, »Historie ancienne de l'eglise«, 1907; Weizsäcker, »Das apostolische Zeitalter« 3 1902; Knopf, »Das nachapostolische Zeitalter«, 1905; Th. Keim, »Rom und das Christentum«, 1881; Gierke, »Das deutsche Genossenschaftsrecht«, III 1887, wo die christliche Korporationsidee ausgezeichnet entwickelt ist. - Vgl. auch die Rede A. Harnacks auf dem Ev.-sozialen Kongreß 1894, >Die ev.-soziale Aufgabe im Lichte der Kirche« (Reden und Aufsätze, 1904). - Die Gesamtstellung in der Antike zeichnet jetzt vortrefflich P. Wendland, »Die hellenistisch-römische Kultur•, 1907, wo jedoch die Sozialgeschichte absichtlich beiseite gelassen ist. In allen bisher genannten Werken ist die Auffassung zugrunde gelegt, daß es sich um eine in erster Linie religiöse Bewegung handelt. Es fehlt aber auch nicht an solchen, die das Christentum zu einer rein sozialen Bewegung machen. P ö h 1 m a n n , »Gesch. d. antiken Sozialismus und Kommunismus«, 1893/1901 wollte ursprünglich das Christentum als die Ausmündung des antiken Sozialismus schildern. Es stelle in seiner Gottesreichshoffnung dem sich philosophisch resig­ nierenden und faktisch vom Imperium unterdrückten Sozialismus die psychologischen Motive und Kräfte zur Verfügung, die den rein politisch-sozialen und den philosophi­ schen Bemühungen ausgegangen wären, II 583-617. Allein er hat es bei dieser Andeutung bewenden lassen und die Ausführung nicht unternommen, vermutlich weil die These sich als nicht so leicht durchführbar erwies. Sie beruht auf einem Mißverständnis der Gottesreichsidee, die schlechterdings keine politisch-soziale Er­ neuerung bedeutet, worüber weiteres später. - Die gleiche Voraussetzung macht selbstverständlich K a u t s k y in seinem Beitrag zu der »Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen«, I 1, 1895 S. 16-40, Auf Grund der »geschichtsmateria­ listischen« Methode kann er im Christentum nur eine aus den Gesellschaftszuständen des römischen Reiches hervorgegangene kommunistische Bewegung sehen , eine Reaktion gegen das pauperistische Massenelend, das durch Verdrängung der Bürger aus Landbesitz und Handwerk, durch die Konkurrenz der mit Sklaven betriebenen Plantagen- und Fabrikarbeit bewirkt ist und das in der Staatsfütterung dieses deklas­ sierten und arbeitslosen Lumpenproletariats zum öffentlichen Ausdruck kommt. Aus diesem vom antiken Kapitalismus bewirkten Elend suchten enthusiastisch veranlagte Elemente den Ausweg durch das Wunder; der Erlöser Christus sollte die ideale kommunistische Gesellschaft durch eine göttliche Welterneuerung herbeiführen, wo­ für besonders die Apokalypse als Beleg dient, die nur freilich gar keine kommu­ nistischen Züge trägt, sondern nur den Haß gegen die sündige Welt und das Römer­ reich ausspricht. Aus diesem bald verblaßten chiliastischen Enthusiasmus ging T r o c 1 t s c h , Gesammelte Schriften.

I.

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1. Alte Kirche, I. Evangelium.

Sie hat ihre weitere Erläuterung und Bestätigung daran, daß auch die parallelen Kulte und religiösen Vereinsorganisationen, aber dann auch bereits für das Diesseit� eine praktisch-kommunistische Wirkung hervor. Es ergibt sich in dem großstädtischen christlichen Proletariat, das eben damit an die Stadtwirtschaft gebunden bleibt und auf das Privateigentum auf der erreichten wirtschaftlichen Stufe noch nicht verzichten kann, ein Kommunismus lediglich der Konsumtion und Verteilung, wozu das Vorbild der Staatsfütterungen anleitete. Die Produktionsmittel werden in Genußmittel verwandelt und an die Armen verteilt. Daher der durchgehende Widerspruch in diesem Kommunismus auf der Grundlage des Privateigentums, der eben deshalb dann auch zugrunde geht und nur theoretisch in den Deklamationen der Kirchenväter fortbesteht, unter denen besonders Chrysostomus hervorgehoben wird. Das Christentum muß so die gegebene Gesellschaftsordnung bestehen lassen und vermehrt sie nur durch eine neue Herren-Klasse, den Klerus und den kirchlichen Grundbesitz, deren Auf­ kommen aus der Schwächlichkeit solcher Demokratie des bloßen Enthusiasmus wohl verständlich ist. Es ist der Cäsarismus der Bischöfe. In ihrem Zusammen­ schluß entsteht die katholische Kirche, und »so wird aus einer kommunistischen Anstalt die riesenhafteste Ausbeutungsmaschine, die die Welt gesehen hat«, S. 34. In den germanischen Völkerwanderungsstaaten hört mit der Geldwirtschaft auch das antike Massenelend auf, und die Kirche wird im Zusammenhang mit dem Lehenswesen und dem Großgrundbesitz eine rein politische Institution, der Sammel­ punkt der herrschenden Schicht. Damit verschwindet auch die Liebestätigkeit des alten Kommunismus; die verbleibende Liebestätigkeit ist nur die allen natural­ wirtschaftlichen Stufen eigene Freude an der Mitteilung des Ueberflusses, den man selbst nicht aufessen kann. In dem dann im Spätmittelalter der moderne Kapitalis­ mus entsteht und das Problem des Massenelends von neuem aufwirft, entsteht jetzt die neue kommunistische Bewegung, aber dieses Mal nicht auf dem Boden eines arbeitslosen Lumpenproletariats, sondern auf dem der für die Produktion unentbehrlichen freien Lohnarbeiterschaft. Damit ist die Rolle der Kirche als Vertreterin des Sozialismus völlig zu Ende , nur die Klöster bleiben mit dem bei solchen Institutionen üblichen Konservatismus bei den Resten des alten Kommunismus und seiner Liebestätigkeit stehen. Diese Darstellung Kautskys verkennt freilich gröblich die selbständige Bedeutung religiöser Ideen , ist aber abgesehen davon nicht ganz ohne Wert, indem sie auf sonst unbeachtete Seiten der Sache hinweist. Namentlich der geldwirtschaftliche Charakter der alten Kirche und der naturalwirtschaftliche der mittelalterlichen macht in der Tat einen wichti­ gen Unterschied aus, der nur anderswo liegt, als wo Kautsky ihn sieht. Darüber unten. - Aehnliche Wege geht K a 1 t h o f f , »Die Entstehung des Christen­ tums«, 1905, nur daß seine Stellung zur Religion anders ist. Seine Voraussetzungen sind: I. die völlige Autonomie des religiösen Bewußtseins der Gegenwart, dessen Abhängigkeit von der Geschichte am radikalsten aufgehoben wird, wenn man nachweist, daß Jesus gar nicht existiert hat oder jedenfalls ein ganz obskurer jüdischer Enthusiast unter vielen seinesgleichens gewesen ist ; es ist die radikale

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Soziale Verhältnisse der Kaiserzeit.

wie z. B. die Hauptmasse des sogenannten Gnostizismus oder die Mithrasmysterien sich nicht als soziales Klassenevangelium Vollendung der Biedermannschen Dogmatik, die hier der liberale Theologe voll­ zieht; 2. die Unmöglichkeit, aus den biblischen Wundergeschichten irgend einen Wahrheitskern herauszuschälen, und die Unmöglichkeit, die Verwandlung Jesu in das gottmenschliche Wesen bei Paulus zu erklären, während all das erklärbar wird, wenn es freie Dichtung des zweiten Jahrhunderts ist; 3. die moderne kollektivi­ stische, antiindividualistische und soziologische Geschichtsmethode, die den Aus­ gang solcher Bewegungen von einem oder mehreren Individuen nicht mehr glaub­ haft erscheinen läßt und eine Erklärung aus sozialen Massenbewegungen verlangt. So ergibt sich die Entstehung des Christentums aus der stoischen Philosophie, den kommunistischen Klubs der Spätantike und dem messianischen Enthusiasmus der Juden, deren Mischung sich in Jesus einen Heros eponymos schuf und die bib­ lische Literatur als Urgeschichte erdichtete. Die Leidens- und Todesspekulationen spiegeln den Leidens- und Siegesweg der Gemeinde. Die ganze Darstellung be­ ruht auf völlig willkürlichen, zum Teil unrichtigen Voraussetzungen und ist in ihrem positiven Teil reine Phantasie. Vor allem aber ist von einer Schätzung der wirklichen Urkunden als relativ historisch-richtiger Ueberlieferungen sehr wohl zu einem verständlichen Zusammenhang zu gelangen. Der noch unaufgehellte Punkt ist nur die Entstehung der paulinischen Christuslehre, die aber doch in Wahrheit nicht ein Produkt der Kirchenbildung, sondern ihre offenkundige Voraussetzung ist. An dem Faktum ihrer Entstehung aus der Bekehrung des Paulus ist nicht zu zweifeln, was man auch sonst zu ihrer Aufhellung aus der außerchristlichen Welt noch heranziehen mag. Allen solchen Versuchen »sozialer« Erklärung steht mit erfreulicher Klarheit gegenüber die Abhandlung von O v e r b e c k , »Studien zur Geschichte der alten Kirche«, 1875, über »das Verhältnis der alten Kirche zur Sklaverei im römischen Reiche«. Es ist der Punkt, wo sich eine soziale Reformtendenz und ein Zusammen­ hang mit ihr am ehesten zeigen müßte. 0. zeigt, wie im vollsten Gegensatze dazu die Sklaverei von Anfang an im Zusammenhang mit Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Familie als ein Stück der sündigen Welt gilt, die unabwendbar so ist, wie sie einmal ist. Sklaven nicht-christlicher Herren dürfen nur mit Einwilligung ihrer Herren Mitglieder werden, um jeden Zudrang von politisch und sozial Emanzipa­ tionslustigen zu verhindern (S. 188 und 202); ja die Sklaverei wird als zu den herkömmlichen Besitzverhältnissen gehörig vom Christentum geradezu gefestigt, wie denn später die Kirche selbst Sklaven hält und sie nicht einmal freilas;en darf. Die Ueberwindung der Sklaverei ist rein innerlich und religiös, indem Herr und Sklave gleicherweise Christo zugehörig sind; beide sind religiös gleichberechtigt und die Sklaven in_ der Kirche am Anfang ämterfähig. Kommunistische Neigungen haben nur gnostische Sekten und werden daher stark bekämpft. Näheres unten. Aber diese ganze, mit der Möglichkeit freier Bewegung der Kirche sich eher ver­ schärfende als mildernde rechtliche Anerkennung der Sklaverei und ihre Auffassung als wesentlicher Bestandteil der Ordnung ist eine schlagende Widerlegung. 2*

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I. Alte Kirche, I. Evangelium.

oder als Ueberwindung sozialer Schäden geberden, sondern als Anstalten höherer Theologie , kräftigerer Weihen , gesicherten Seelenheils 11). Wenn unter den Gnostikern sich kommunistische Gruppen, vor allem die übrigens dem Christentum ganz fern stehenden Karpokratianer, finden, so ist auch das auf den eigenen Zirkel beschränkt und kein Programm allgemeiner sozialpoliti­ scher Reform. Weithin richtet sich seit dem zweiten Jahrhundert der Sinn auf das Transszendente, aber der Drang organisatori­ scher Weltverbesserung ist ermüdet. Es ist das auch durchaus nicht verwunderlich. So tief erschütternde Klassenkämpfe die antike Welt seit dem peloponnesischen Kriege und seit der Re­ formbewegung der Gracchen erlebt hatte und so weitgreifende so­ zialpolitische, ökonomische, staatssozialistische , kommunistische und anarchistische Ideale dabei die demokratische Politik und die philosophische Reflexion und Literatur hervorgebracht hatten 12), 11) Vgl. Wendland; Ziebarth, ,Das griechische Vereinswesen«, 1896. Die religiöse Form dieses besonders in der hellenistischen und Kaiserzeit üppig wu­ chernden Vereinswesens stammt davon her, daß das griechische Denken den Verein nur in der Form einer um einen Kult gruppierten dauernden Gemeinschaft denken konnte, wobei diese religiöse Form oft völlig äußerlich ist; eine religiöse Bewegung stellen sie daher an sich durchaus nicht dar. Die mit der Entnationalisierung und dem Verkehr sich steigernden, wirklich religiösen Zwecken dienenden Vereine sind teils zur Sammlung von Landsleuten in der Fremde, teils zur Aufnahme neuer Kulte bestimmt und entfalten eine soziale Bedeutung insofern, als sie einen engen familienhaften Zusammenschluß und die Auf hebung der Standesunterschiede in der Anteilnahme am Kult bedeuten , sind daher in einem Zeitalter des steigenden Individualismus auch aus diesem Grunde gesucht; aber sie lassen, genau wie die Christengemeinde, die sozialen Unterschiede außerhalb des Kultes bestehen; auch hebt Z. an diesen Kultvereinen gerade die Beteiligung der oberen Klassen hervor, S. 210. Von »kommunistischen Klubs«, die der Mutterboden des Christentums nach Kalthoff gewesen sein sollen, ist daher nicht die Rede; daher muß auch K. zu­ geben, daß in ihnen ,noch soziale und religiöse Lebenstriebe in völliger Einheit zusammenleben«, S. 83. Aber für Kalthoff ist die Synagoge kommunistisch, ist Johannes der Täufer kommunistisch 1 ! Außerdem bedenke man das aufs strengste gehandhabte Verbot der Kaiser gegen alle politischen oder politisch verdächtigen Vereine und das beständige Bestreben der Christen, die politische Unschuld ihrer Vereine zu beweisen, vgl. Neumann, »Der römische Staat und die allg. Kirche«, I 1890. 12) Vgl. die Darstellung bei Pöhlmann. Die verdienstliche Arbeit muß frei­ lich, wie mich Max Weber belehrt, mit Vorsicht benützt werden. Sie arbeitet zu sehr mit modern sozialistischen Kategorien, obwohl deren Voraussetzung, eine neu

Soziale Verhältnisse der Kaiserzeit.

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mit den hellenistischen Reichen und dann mit dem Imperium des Cäsarismus war die fiebernde Zeit dieser Kämpfe in der Hauptsache beschlossen, kehrte Ordnung und Gedeihen wieder, verringerten sich die Umwälzungen und Deklassierungen, die ver­ elendende Ausbeutungspolitik und die Unsicherheiten des Erwerbs. Die eiserne Festigkeit der Monarchie teilt sich dem ganzen Ge­ danken der sozialen und politischen Ordnung mit, und die freie Bewegung zieht sich auf das eigene Innenleben, die ethische und religiöse Reflexion zurück. Die Verringerung der Sklavenmärkte als Folge des Friedens läßt einen Mittelstand wieder aufkommen. Die lange so heiß gesuchte soziale Gerechtigkeit liegt in den Händen der Kaiser, und die große humanitäre Schule der Stoa, die das volle Ideal nur in der Urzeit als verwirklicht ansah, lehrt sich teils in die Lage und ihre mannigfache Beschränkung erge­ ben, teils beeinflußt sie die kaiserliche Gesetzgebung zu Gunsten wohltätigster Reformen 13). Zwar ist die Sozialgeschichte der Kaisersich emporkämpfende Klasse, überhaupt fehlt. Es gibt keinen Großbetrieb und keine Fabrik. Nur in der Landwirtschaft haben die Karthager und nach deren Vor­ bild die Römer den Großbetrieb organisiert, damit auch die Sklavenkaserne, Eine Fabrikindustrie dagegen gibt es nicht, weil eine solche mit Sklaven überhaupt nicht zu betreiben ist und der freie Handwerker sich dazu nicht hergab. So fehlen die Grundlagen einer sozialistischen Bewegung. Die Kämpfe spielen sich vielmehr innerhalb der herrschenden Schicht ab und sind mehr demokratisch als sozialistisch, wobei sich das wirtschaftliche Motiv ja von selbst versteht. Es sind stets die alten Klassen, die miteinander kämpfen, und die Macht und Besitz neu zu verteilen streben. P. überschätzt die Bedeutung der Staatsromane, und geht zu wenig auf das Praktische ein. Wenn auch Eduard Meyer in seinen viel zutreffenderen Dar­ stellungen von >Fabrik« redet, so bestreiten das die Nationalökonomen, die im übrigen den Historikern zugegeben haben, daß der Umfang der Geldwirtschaft und der freien Lohnarbeit größer war, als die Nationalökonomen bis dahin anzunehmen geneigt waren. 18) Wendland; Mommsen, Römische Geschichte Band V; L. Hahn, •Rom und Romanismus im griechisch-römischen Osten«, 1906; Pöhlmann weiß hier in Wahr­ heit nur von der sich auf die Utopie und die Urzeit zurückziehenden sozialphiloso­ phischen Romantik der Gebildeten zu berichten und fügt hinzu: ,Drängt sich hier nicht ganz von selbst der Gedanke auf: Wenn schon in den gebildeten Kreisen der römischen Gesellschaft eine derartige Illusionsfähigkeit, ein solcher Utopismus möglich war, zu welchen Phantasieen mag sich dann vollends die revolutionäre Ideologie des Proletariers verstiegen haben«, II 606 ! Das ist eine sehr bedenkliche Argumentation, wenn man ein solches Proletariat nicht auch zu zeigen hat; es scheinen nach S. 616 f. die Christen sein zu sollen, deren tausendjähriges Reich

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I. Alte Kirche, r. Evangelium.

zeit noch wenig durchforscht und hat sich in ihr der Prozeß der Auflösung der antiken Gesellschaft nur verlangsamt. Allein mit den wichtigsten sozialgeschichtlichen Vorgängen der Kaiserzeit, dem Schwinden des Bauernstandes, der Verringerung des Sklavenbe­ standes, der Verwandlung der Sklaven in Hörige, der Verlegung des Kapitals auf den Großgrundbesitz , der Zurückziehung des Schwergewichtes von den Küstenstädten in das Binnenland, der völ­ ligen Veränderung des Heerwesens und des Beamtenwesens, dem schließlichen Rückfall in die Naturalwirtschaft 14) haben gerade die dem sozialen Menschheitsstaat Zenos entsprechen und der >religiösen Erscheinungs­ form des antiken Sozialismus« angehören soll. Davon wissen aber die christlichen Urkunden selber lediglich nichts. H) Ueber die Sozialgeschichte der Kaiserzeit vgl. Max Weber, ,Agrar­ geschichte (Altertum)« im HWB. der Staatswissenschaften und »Wahrheit« (Stutt­ gart 1896) S. 57-77 •Ueber die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur«; Eduard Meyer, >Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums«, 1895, »Die Sklaverei im Altertum«, 1897 und »Bevölkerung des Altertums« im HWB. d. Staatsw.; U. Wilcken, »Griechische Ostraka aus Aegypten und Nubien«, I 1899 S. 664-704. Stark abweichend von diesen Darstellungen Uhlhorn, ,Liebestätig­ keit«, S. 93-II3, 213-238. Was Weber schildert, die Entstehung und Auflösung eines auf Sklavenarbeit und -Kasernierung beruhenden großkapitalistischen Plan­ tagen- und Grundbesitzerwesens, das zugleich von der Küste ins Binnenland sich zurückzieht, damit die bisherigen Träger der dünnen geldwirtschaftlichen Verkehrs­ kultur verkümmern läßt und durch seine Konkurrenz ein arbeitsloses Hungerprole­ tariat von Freien schafft, das gehört der w e s t 1 i c h e n Entwickelung an und bedeutet durch Entziehung des Verkehres auch für Griechenland das Wachstum eines solchen Proletariats. In den Kasernensklaven des Großbetriebs wird das Christentum aber wenig Möglichkeit des Eindringens gefunden haben; erst als mit dem Eintritt des Sklavenmangels der Sklave zum hörigen Kolonen gemacht und damit der Familie und dem Privateigentum zurückgegeben wird, setzt das Christen­ tum bei ihnen ein. »Dies geht der siegreichen Entwickelung des Christentums parallel: in den Sklavenkasernen hätte es schwerlich Boden gefunden, die unfreien afrikanischen Bauern der Zeit Augustins waren bereits Träger einer Sektenbewegung« (Wahrheit 68). Die christlichen Sklaven werden daher wohl meist der nicht allzu­ großen Kategorie der Haussklaven angehört haben oder auch der Kategorie derjeni­ gen, die irgend ein Geschäft im Auftrag und mit den Mitteln ihres Herrn betreiben und so zwar rechtlich Sklaven blieben, aber ökonomisch und persönlich ein erheb­ liches Maß von Selbständigkeit genossen. Ein Beispiel ist der bekannte Kalixt, der ein solches Bankgeschäft betrieb und dann trotz seiner geschäftlichen Hallunken­ streiche es bis zum Bischof und Papst brachte; das ist nur eine andere Form des Mittelstandes. Wie es dagegen mit dem freien Hungerproletariat (dem Lumpenprole­ tariat Kautskys) und seinen Beziehungen zum Christentum steht, ist schwer zu sagen.

Soziale Verhältnisse der Kaiserzeit.

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christlichen Gemeinden des Anfangs sehr wenig zu tun, die wäh­ rend der ersten Jahrhunderte den unteren Schichten der Städte Die Spuren davon müßten sich in den Nachrichten über die Liebestätigkeit finden und hier finden wir in der Tat die Maxime, Arbeitsunfähige zu unterstützen, Arbeits­ losen Arbeit zu verschaffen (Harnack, Mission I 150 f.), wobei sich das letztere auf solches Proletariat beziehen mag, übrigens aber vor allem Schutz gegen arbeits­ scheue Elemente ist. Auch darf man an die Notitz denken, daß Rom ca. 250 gegen 1500 Hilfsbedürftige jährlich zu ernähren hatte (H. I 136). Aber jedenfalls bildet diese Arbeitsbeschaffung kein Zentralanliegen der Gemeinde und wäre ein Erfolg im großen Stil kaum möglich gewesen, sodaß man daraus den Rückschluß auf eine nicht allzu zahlreiche Beteiligung dieses Proletariats ziehen muß; und nirgends handelt es sich dabei um eine Ermunterung oder Vertröstung etwaiger revolutionärer Klassenhoffnungen. Ueberdies betrifft all das wesentlich nur den Westen. Zudem ist die römische Gemeinde bis Ende des zweiten Jahrhunderts wesentlich griechisch, hat also mit deklassierten italischen Bauern und Handwerkern wenig zu tun. Erheblich anders liegen die Dinge im O s t e n , wo doch das Schwergewicht der Gemeinden, ihrer Literatur und Ideenbildung lag. Hier über­ wiegt die die Grenze von Stadt und Dorf nivellierende Geldwirtschaft und gibt es einen ausgedehnten kleinen Mittelstand der freien Arbeiter neben der nicht allzu ausgedehnten Haussklaverei. In den Kreisen solchen Mittelstandes wird wohl die Hauptmasse der Christen zu suchen sein, deren sozialer Charakter somit städtisch und überwiegend geldwirtschaftlich wäre, ohne daß davon die Dörfer allzuweit abstünden. Die Nachrichten über die stark in Geldzahlungen sich bewegende Liebestätigkeit lassen etwas Aehnliches übrigens auch für das Abend­ land erschließen (Harnack I 127-172); welche RoIJe daneben die Naturalunter­ stützung in Gastfreundschaft, Aufnahme in Dienst und Arbeit, Darbringung von Lebensmitteln und Naturalgaben bei den Agapen (Uhlhorn I 138) gespielt hat, ist nicht zu ermitteln; sie waren schwerlich die Hauptsache. So bewegt sich das Christentum ein Jahrhundert lang in den Kreisen, die von der großen sozialen Um­ wälzung noch wenig berührt werden. Das Gesamtergebnis der Umwälzung, die man als Aufzehrung des Bauernstandes durch die antike Stadtkultur und Wiederauflösung dieser Stadtkultur durch die Anlage des Kapitals im Großgrundbesitz bezeichnen kann, ist dann freilich die Rückkehr zu überwiegender Naturalwirtschaft und den damit zusammenhängenden festen primitiven sozialen Gliederungen sowie zur Feu­ dalität, wodurch im Westen das Reich in die mittelalterliche Naturalwirtschaft übergeht, im Osten ein stark naturalwirtschaftlich bedingter, in erblichen Kasten geschlossener Beamtenstaat entsteht. Die christliche Gemeinde ist von diesem Prozeß offenkundig nicht erzeugt, höchstens durch die ihn begleitenden Empfin­ dungen eines materiellen Niedergangs und versorgungsbedürftiger Massen gefördert. Als sie aus dem kleinen Mittelstande und der Masse zur Aufnahme auch der Oberschicht aufgestiegen war, wurde sie dann von den Folgen wie alJe übrigen betroffen und hat dann den Staat und das herrschende System gestützt, ist als eine durchaus konservative Macht in die vom Staat allein nicht mehr lösbare

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und ihrem allmählich wieder beruhigten Erwerbsleben angehören, ihren Schwerpunkt in dem sozial viel weniger zerklüfteten Osten haben, mehr mittelständische als eigentlich proletarische Züge tra­ gen und bei aller Hoffnung auf das Kommen der neuen Welt doch eifrigst für Ruhe und bürgerliche Brauchbarkeit sorgen. Ueberdies hat es im Altertum, wo die Bauern wenigstens fiktiv Bürger waren und ihre Interessenkämpfe in den bürgerlichen Parteikämpfen mit ausfochten , wo es keine Fabrikarbeit im mo­ dernen Sinne und damit keine große freie Lohnarbeiterschaft gab, zu einer großen sozialen Emanzipationsbewegung, zum Auf­ steigen einer neuen Klasse, gar nicht kommen können. Die Kämpfe sind stets politisch- demokratische Kämpfe und drehen sich um Landverteilung und Schulderleichterung; die Fortdauer der untersten Schicht als Sklavenschicht wird dabei von allen vorausgesetzt. Die Humanisierung des Sklavenloses hat praktisch nie eine Emanzipation bedeutet. So fehlt auch abgesehen von Aufgabe der Bekämpfung des Elends eingetreten. Aber das beginnt erst mit dem dritten Jahi;hundert. Vgl. die Ergebnisse , die Harnack aus seinen statisti­ schen Untersuchungen zieht (Mission II 276-287). >Das Christentum war Städtereligion: je größer die Stadt, desto stärker - wahrscheinlich auch relativ - die Zahl der Christen. Daneben aber war es in einer großen Anzahl von Provinzen bereits (um 300) tief in das Land eingedrungen: wir wissen das bestimmt in Bezug auf die Mehrzahl der kleinasiatischen Provinzen, ferner in Bezug auf Armenien, Syrien und Aegypten, auf Teile von Palästina und auch Nordafrika.« S. 278. »Der große Unterschied der Ost- und Westhälfte d es Reiches springt vor allem in die Augen. Trennt man aber gar noch Griechisch und Lateinisch, so steigt jener Prozentsatz noch höher. Die Erklärung ist einfach genug: eine grie­ chische Christenheit hat es seit dem apostolischen Zeitalter gegeben, eine nennens­ werte lateinische wahrscheinlich erst seit den Zeiten Mark Aurels«, 282. Dabei erweisen sich die Christengemeinden überall als Träger des Hellenismus, >es ist aber nicht der ägyptische, sondern der kleinasiatische Hellenismus mit seinen bis auf die persische Kultur zurückreichenden Elementen und Erinnerungen, der die Führung übernahm«, 283. Auch das zeigt, daß man nicht in erster Linie mit dem italischen Lumpenproletariat zu rechnen hat. - Viel interessante Einzelheiten bei Uhlhorn, aber die Gesamtanschauung, daß die Sklavenarbeit die freie Arbeit erdrückt und den Pauperismus geschaffen habe, den das Christentum durch Liebestätigkeit und Adelung der Arbeit wieder habe überwinden wollen, daß es dann aber an der Unüberwindlichkeit des Gegensatzes gescheitert sei und darüber der Askese sich ergeben habe, trifft für die ersten Jahrhunderte nicht zu, wo im Gegenteil Besserung eintrat. Erst das vierte Jahrhundert bringt den Staatsbankerott und das steigende Elend.

Zusammenhang nicht mit d. Sozial-, sondernd. Religionsgeschichte d. Kaiserzeit. 2 5

der mit dem Kaisertum eintretenden Beruhigung überhaupt eine emanzipationsbedürftige Klassenbewegung; die verschiedenen phi­ losophischen Theorien und Staatsromane bedeuten wohl ethisch und innerlich eine Milderung der Gegensätze, aber kein prakti­ sches Aufsteigen einer neuen Klasse. Auch die soziale Zusammen­ setzung der Gemeinden schließlich darf man sich keineswegs als eine rein klassenmäßig bedingte vorstellen. Freilich bestanden die Gemeinden in der Hauptsache lange aus Sklaven, Freigelas­ senen und Handwerkern, wobei man aber, wie Overbeck richtig bemerkt, angesichts der überhaupt vorhandenen Sklavenzahl und angesichts der Vorsicht in der Aufnahme von Sklaven deren Be­ teiligung nicht übertreiben darf; jedenfalls war für Fernhaltung emanzipationslustiger Sklaven ausdrücklich gesorgt. Aber schon vom ersten Anfang an haben Mitglieder der Oberschicht nicht ge­ fehlt, sie haben wohl hauptsächlich die nötigen Mittel und die Ver­ sammlungsmöglichkeit beschafft. Unter Domitian drang das Chri­ stentum bis in die obersten Hof kreise, und der berühmte Brief des Plinius spricht ausdrücklich von multi omnis ordinis. Seit Com­ modus ist dann die Beteiligung der Oberschicht in starkem Steigen. Alles das ist nicht mehr als natürlich unter der Voraussetzung, daß es sich um eine wesentlich religiöse Bewegung handelt, und ein klarer Gegenbeweis gegen die Meinung, daß es sich um eine »Klas­ senbewegung des Proletariats« oder um eine religiöse » Umformung des antiken Sozialismus« handele 15). So ist das Aufkommen des Christentums nicht aus der So­ zialgeschichte, wohl aber aus der R e 1 i g i o n s g e s c h i c h t e des Altertums zu verstehen. Das religiöse Leben hat eben bei aller Verflechtung in das übrige Leben doch seine eigene Ent­ wicklung und eigene Dialektik. Die Zertrümmerung der natio­ nalen Religionen, die sich mit dem Ver lust der nationalen Selb­ ständigkeit von selbst ergab, die Völkermischung, die ganz von selbst auch die Kulte durcheinander würfelt, die Entstehung rein inner­ licher, von Nation und Geburt unabhängiger Mysterienkulte , die Vermischungen der von ihrem alten Nationalboden gelösten Reli­ gionsfragmente , die philosophische Religion der Bildung mit ihren 15)

Ueber die soziale Zusammensetzung vgl. Keim 164, 319, Overbeck 188; bes. Harnack, »Mission« 2 II 25 ff. und Bigelmair, »Die Beteiligung der Christen am öffentlichen Leben«, 1902, S. 208-226, Knopf, »Die soziale Zusammensetzung der ältesten heidenchristlichen Gemeinden«, Z. f. Theo!. u. Kirche 1900 und Knopf, ,Nachapo,t. Zeitalter«, S. 64 ff.

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mannigfachen Angleichungen an die Volksreligionen , das Be­ dürfnis des Weltreiches nach einer universalen Weltreligion, dem der Kaiserkult doch nur sehr äußerlich genügte, die außerordent­ liche Vertiefung und Verinnerlichung des ethischen Denkens in einer vierhundertjährigen Geistesgeschichte von beispiellosem Reich­ tum an Kritik und Selbstv�rtiefung, die mit alledem verbundene Auflösung des Polytheismus, seines Mythus und seines Kultus und das Verlangen nach einer letzte, ewige Werte darbietenden Religio­ sität: das alles bedeutet als Abschluß der Antike die Heraufführung eines neuen Zeitalters religiöser Produktivität und Reizbarkeit. Das Altertum endet mit einer vielfachst begründeten, in letzter Linie aber aus der Verinnerlichung und Ethisierung des religiösen Denkens hervorgehenden Zersetzung der Volksreligionen und in einer ge­ waltigen, von allen Seiten zusammenströmenden religiösen Neubil­ dung 16). Der letzte Grund von alledem aber ist die eigene selb­ ständige Kausalität des religiösen Gedankens selbst. Aus diesem Zustande ist das Christentum hervorgegangen, und das Erbe dieses Zustandes hat es in das große weite Sammelbecken der Kirche aufgesammelt, indem es all das um seine leitenden Grundgedanken, so gut es ging, gruppierte. Ist es aber derart aus der inneren religiösen Entwickelung des Altertums zu verstehen, so erklärt sich damit zugleich auch seine zuerst erwähnte R i c h t u•n g a u f d i e u n t e r e n K 1 a s­ s e n und sein Hervorgehen aus diesen. Nicht aus d�r angeblichen Herausbildung aus einem sozialen Prozesse, sondern gerade aus dem Wesen religiöser Neubildungen erklärt sich diese Haltung. Solche Neubildungen vollziehen sich auf doppelte Weise. Sie gehen aus von den Höhen der Bildung und Reflexion und greifen um sich als Kritik und als Spekulation; sie sind um so bedeutsamer, je tiefere wirkliche religiöse Lebensgehalte in diese Formen der Kritik und Spekulation eingehüllt sind. So sind Platonismus und Stoa eine Art religiöser Neubildung. Aber sie sind im wesent­ lichen doch Reflexion und Vernunftbeweise und erlangen damit niemals die spezifisch religiöse Kraft eines Offenbarungsglaubens, sie bleiben im Gefühl ihrer Schwäche teils haften am alten Volks­ glauben, den sie nur umdeuten, teils vertrauen sie sich der Kraft 16) Vgl. Ed. Meyer, » Volkswirtsch. Entw.« 52. ,Die (religiöse) Bewegung beginnt in der Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr., in der Zeit, wo der Abschluß der antiken Entwickelung zunächst im Osten, dann auch im Westen sich vor­ bereitet, der dann durch den Staat des Prinzipats seine definitive Gestalt erhält«.

Richtung auf die Unterschicht religiös begründet.

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des abstrakten Beweises an , den jeder in stiller Auseinander­ setzung mit ihnen sich selbst klar machen mag. Dagegen sind die eigentlich schöpferischen, gemeindebildenden religiösen Grund­ legungen das Werk der unteren Schichten. Hier allein ist die Un­ gebrochenheit der Phantasie , die Einfachheit des Gemütslebens, die Unreflektiertheit des Gedankens, die Urwüchsigkeit der Kraft und die Heftigkeit des Bedürfnisses vereinigt, aus denen heraus der unbedingte Autoritätsglaube an eine göttliche Offenbarung, die Naivetät der Hingabe und die Intransigenz der Gewißheit sich bilden kann. Die Bedürftigkeit einerseits und die Abwesenheit der stets relativierenden Reflexio nskultur andrerseits sind nur hier zu Hause. Alle großen gemeinschaftsbildenden Offenbarungen sind je und je aus solchen Kreisen hervorgegangen, und die Be­ deutung und Entwickelungsfähigkeit des so gebildeten Religions­ kreises war stets abhängig von der Macht und Tiefe des in sol­ cher naiver Offenbarung erteilten Anstoßes , wie andrerseits von der Energie der diesen Anstoß verabsolutierenden und vergött­ lichenden Glaubensüberzeugung. Keineswegs immer kommt freilich solchen Bildungen eine wirklich tiefe innere Kraft zu. Aber wo das der Fall ist, da ist es die Eigentümlichkeit und Ueberlegenheit der Naivetät über die Reflexionskultur, daß sie die stärksten Kräfte entwickeln und die tiefsten Erkenntnisse finden läßt; und da kann es dann auch nicht ausbleiben , daß in der weiteren Ent­ wickelung der zuerst naiv gegebene Lebensgehalt sich verbindet und verwickelt mit allen höchsten religiösen Mächten der dane­ ben bestehenden Reflexionskultur; andernfalls würde er von ihr wieder zerbrochen werden. Eine solche Verbindung ist im Christen­ tum vom zweiten Jahrhundert an immer stärker eingetreten, zum deutlichen Zeichen dafür, daß es sich in ihm um eine tiefe reli• giöse Macht handelt, die auch der Zusammenstoß mit der Re­ flexionskultur nicht zerbricht, sondern befruchtet und fortentwickelt. Aber seine Anfänge zeigen die Volkstümlichkeit und die Volks­ gebundenheit aller naiven Religion. Daher kommt es auch, daß von ihm nicht die vielberufene Senilität der Kaiserzeit gelten kann. Jesus selbst ist ein Mann des Volkes und sein Evangelium trägt deutlich die Spur der einfachen bäuerlich - kleinhandwerkerlichen Verhältnisse Galiläas. Nur die Armen und Demütigen fassen sein Evangelium leicht , den Reichen und den Theologen wird es schwer , weil sie nicht das Gefühl ihrer Bedürftigkeit haben, weil sie in ihrer Weisheit den Wald vor lauter Bäumen nicht

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sehen, weil ihre Herzen an zu vielerlei gebunden sind, um unbe­ dingte Opfer bringen zu können ; doch ist bei Gott kein Ding unmöglich, auch der Reiche kann noch selig werden und auch der Schriftgelehrte kann nicht weit vom Reiche Gottes sein. Aus solchen Kreisen stammen seine ersten Jünger und die erste um den Glauben an den Auferstandenen gesammelte Gemeinde, die übrigens ausdrücklich nicht als besitzlos geschildert wird 17). Aber auch der Mann, der diesen Jesusglauben zur missionierenden Weltreligion und den Christuskult zur Grundlage einer neuen Kirche und Got­ tesverehrung gemacht hat , Paulus , ist eine wesentlich organisa17) Die sog. ebionitischen Stücke des Lukas, die die Armut an sich zu ver­ herrlichen scheinen, sind dagegen kein Einwand. Denn einerseits setzen sie, wie die ganze sonstige Haltung des Evangeliums beweist, auch in der Meinung des Evangelisten die ethisch-religiöse Wirkung der Armut zu besserer religiöser Dis­ position voraus, andererseits entsprechen sie der Neigung des Verfassers, im In­ teresse des Erlösungsglaubens Krankheit, Schwäche, Elend und Armut zu betonen. Auch wäre es nicht verwunderlich, wenn die Tradition, aus der der Verfasser schöpft, die Armut bereits um ihrer selbst willen verherrlicht hätte. Die Neigung dazu liegt nahe genug. Aber Jesu Verkündigung vom unendlichen Wert der Seele liegt der Gedanke eines Wertes und Entschädigungsanspruchs der Armut an sich unzweifelhaft ferne. Vgl. Holtzmann, »Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie«, 1897, I 448-454, der in diesen Stücken wesentlich den Reflex der spätem popu­ lären Entwickelung sieht; diese hat ganz naturgemäß das Gottesreich als Entschä­ digung für irdisches Leiden und Belohnung der Entsagung betrachtet. Aber das ist eine sehr natürliche Folge und Herabziehung des Gedankens, nicht der Aus­ gangspunkt. Die Apokalypse des Johannes predigt nur den Haß gegen Römerreich und Kaiserkult und hat mit sozialen Gegensätzen nichts zu tun. Der aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts stammende Jakobusbrief kämpft c 2 gegen die Reichen, aber die sind Mitglieder der Gemeinde I Die schärfere Stelle c 5 1 1-6 geht gegen die Reichen überhaupt, aber das ist in seiner ganz allgemein erbaulichen Haltung wohl zu beurteilen, wie die ebionitischen Stücke. Das ist der Geist der kleinen Leute. Es ist ähnlich, wie wenn das Dogma der Sozialdemokratie vom Klein­ Leute-Geist als > Verteilung« und »Rache an den Reichen« behandelt wir.d; in bei­ den Fällen haben dann sehr große Leute sich diese Meinung der kleinen angeeig­ net und darin die Offenbarung des Prinzips der Sache sehen zu dürfen gemeint ; das erleichtert die Kritik. Bedeutsam ist, daß das Johannesevangelium in seiner überaus wichtigen Prägung der religiösen Ideen von alledem nichts weiß. Hier steht dem Klein-Leute-Geist der eigentlich religiöse Gedanke gegenüber. Aehnlich verhält es sich bei Paulus. Weinel, »Die Stellung des Urchristentums zum Staat«, 1907, S. 12-17 überschätzt die »sozialradikale Unterströmung«, und, indem er sie wesentlich aus den Mahnungen zur Ruhe und Bescheidung erschließt, zeigt sich gerade im letzteren, was der eigentliche Geist ist.

Indirekter Zusammenhang mit der Sozialgeschichte.

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torisch schaffende, mystisch-religiöse Natur, die bei aller Reflexion in Wahrheit mehr kontemplativ ist und jedenfalls von jedem Geiste eigentlicher Wissenschaft, abwägender Kritik und höherer Welt­ kultur völlig fern ist. Er ist ein »unliterarischer Mensch in der unliterarischen Schicht der Kaiserzeit, aber als Pneumatiker über diese Schicht hinausragend und die Umwelt der zeitgenössischen Bildung mit überlegenem Kraftbewußtsein betrachtend. Alles Systematische , das sich in Ansätzen da und dort findet , zeigt die Grenzen seiner Begabung ; im systemlos Religiösen liegt das Geheimnis seiner Größe«. Nicht minder ist dann die ganze alt­ christliche Literatur eine unterirdische, von der Bildungswelt lange nicht beachtete und nicht beeinflußte Volksliteratur mit allen Eigentümlichkeiten der Volksüberlieferung , in der Sprache des Volkes und auf Bedürfnisse und Phantasie des Volkes überall bezogen. Auch ihr legendärer Charakter , verbunden mit guter und sicherer U eberlieferung, zeigt die Eigentümlichkeit der Volks­ überlieferung. Von den Höhen der Evangelienschöpfung , der paulinischen Briefe und der johanneischen , bereits der Bildungs­ welt genäherten Mysteriosophie herabsinkend zeigt sie dann auch die Dürftigkeit der Volksliteratur, bis nach einem Jahrhundert mit den sogenannten Apologeten der Aufstieg in die literarische Ober­ schicht, ihre Sprach- und Gedankenwelt, beginnt. Indem hierbei die Apologeten auch ihrerseits die Einfachheit, Armut und Bildungslosig­ keit der Christen betonen und daraus im Stile der Kyniker eine captatio benevolentiae machen, zeigen auch sie , wie wenig jene Richtung auf die niederen Schichten im Sinne irgend eines Klas­ sengedankens oder eines chiliastischen Sozialismus gemeint war. Die Armut und die Einfachheit ist der Boden der Wahrheit, die eine erkünstelte und verfeinerte Bildung nicht sieht oder nicht glaubt , ganz ähnlich wie das später Rousseau für die ,,natür­ liche« Wahrheit geltend gemacht hat 18). Freilich kann man nun sagen , daß gerade die ganze große religiöse Wendung des Altertums selbst ein Ergebnis der sozialen Kämpfe sei , daß offenkundig die Zertrümmerung der National­ staaten im Orient und Occident den ganzen Vorgang einleite, 18)

Diese Gesichtspunkte kräftig hervorgehoben bei Overbeck, »Ueber die Anfänge der patristischen Literatur«, Hist, Zeitschrift 1882 S. 417-472 und Deiß­ mann, »Bibelstudien«, 1895, »Neue Bibelstudien«, 1897, »Das Neue Testament und die Schriftdenkmäler der römischen Kaiserzeit« (Jahrbuch des Freien deutschen Hochstiftes 1905).

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daß die Selbstverzehrung in den großen, Jap.rhunderte dauernden sozialen Kämpfen und das daraus folgende unermeßliche Elend die Gemüter für religiöse Erlösungsgedanken öffnete , daß der Verzieht auf ein eigenes Schaffen in sozialen Dingen und die Ergebung in die Weltherrschaft des Imperiums das Individuum in das eigene Innenleben und in die Verfeinerung der Privatmoral hineintreibt, die Sozialideale transszendent werden läßt und in­ zwischen das Individuum und freie Kreise von Individuen in reli­ giöser Erhebung Trost über die hoffnungslose Zeitlichkeit finden läßt. Das Scheitern so vieler großer Pläne an Kleinlichkeit und Selbstsucht der Massen und verbrecherischer Zügellosigkeit der Großen bringt Sündhaftigkeit und Gebrechlichkeit der Menschen zur Empfindung , und der rasende Wechsel der Geschicke ver­ bunden mit dem Hinsinken der für die Ewigkeit gebauten und religiös geweihten Politien läßt den Wunsch nach bleibenden Werten in höheren Sphären entstehen 19). Es sind das freilich Kämpfe, die mit den modernen Emanzipationskämpfen erst eines hörigen Bauerntums und dann einer proletarischen Lohnarbeiter­ schaft wenig zu tun haben. Aber es ist die Zersetzung der an­ tiken Polis und die Auslöschung der alten Freiheit im bureau­ kratischen Großstaat, damit die Zerbrechung alter Lebensinteressen und mannigfacher schwerer Druck, der die ' Gedanken auf ver­ innerlichte Lebensziele lenkt. Das ist gewiß im Orient und Occident der Fall. In solcher Stimmung vollzieht sich die Nivellierung der Klassen und Stände und ihre Einigung in inner­ lichen und religiösen Werten. Es ist nicht zu bezweifeln: die große religiöse Schlußwendung der Antike ist mit die Folge un­ geheurer sozialer Krisen, in denen das Sozialideal durch mensch­ liche Arbeit und Reflexion sich als nicht erreichbar gezeigt hat und nach denen man sich der Ordnung durch den Cäsarismus gerne ergab , indem man ihm das Aeußerliche preisgab und für sich S. Jodl, »Gesch, der Ethik« 2 I 97, I 13 ff. und Zeller, »Gesch. d. griech, Philos.« III 2, S. 360 f. Immerhin bestimmen diese Motive mehr die gebildete vom politischen Leben abgedrängte Oberschicht. Die Unterschicht wird man bei aller Beeinflussung durch die Moralpredigt und Diatribe der Kyniker und Stoiker doch weniger ermüdet und resigniert denken dürfen. Sie hat vor allem unter der wirtschaftlichen Verkümmerung gelitten. Ueber ihre Stimmungen und Dispositionen gegenüber der christlichen Bewegung gibt es m. W. noch keine ausreichenden Dokumente oder doch wenigstens keine Sammlung und Bearbeitung, die aus In­ schriften und Papyri zu gewinnen sein mag. 19)

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die Freiheit der Seele gewann und ausbaute. Das gilt für die spätere Entwickelung des Platonismus und Stoizismus, es gilt für zahllose religiöse Neuerungen, es gilt insbesondere auch für die Durchsetzung des Christentums ; es gilt auch für seine innerjü­ dische Vorbereitung. Und, wenn unter diesen Einwirkungen vor­ zugsweise die Oberschicht steht, so wirkt doch die Entwurzelung der Institutionen, das Mißtrauen gegen den alten Glauben, die ethisch-religiöse Propaganda der Weishei tslehrer auch nach unten und läßt die hier vorhandenen Energieen mit Leidenschaft neue Wege suchen. Wie oben der Boden ist für verinnerlichte und allgemein humane Theoreme, so ist unten der Boden für neue verinnerlichte und universale Kulte. Allein eine derartige sozial­ geschichtliche Bedingtheit ist eben doch nur eine i n d i r e k t e. Nur wer sich alle Geistesbewegungen lediglich als Wirkungen so­ zialer Bewegungen und insbesondere alle Religion nur als Spiege­ lung sozialer Verhältnisse ins Transszendente vorstellen kann, wird darin eine direkte Verursachung der religiösen Wendung sehen. In Wahrheit aber zeigt alle unbefangene Religionsforschung die relative Selbständigkeit der religiösen Idee, die eine eigene innere Dialektik und Entwicklungskraft besitzt und gerade derartige Lagen der Zer­ trümmerung menschlicher Hoffnungen und Anstrengungen benützt, um den frei gewordenen Raum mit ihren Ideen und Gefühlen zu beherrschen. Schon in der griechischen Auf klärungskritik und in deren Beantwortung durch neue spekulativ - monotheistische Re­ gungen sowie in den Synkretismen der ihrer Bodenständigkeit beraubten orientalischen Religionen entfaltete sich selbständig diese Dialektik, die dann , nachdem die Zeit ihrer Vollentfaltung ge­ kommen war, das Interesse ethischer und religiöser Erneuerung mit der Kaiserzeit immer stärker aufkeimen läßt. Und indem sie so Boden gewinnt, entfaltet sie dann eine Fülle von Konsequen­ zen, die nur aus ihrem eigenen Wesen stammen und die an Stelle der innerweltlichen Lebenswerte in steigendem Maße rein mysti­ sche und religiöse Werte setzen. Die Konzentrierung und Auf­ sammiung dieser Strebungen ist unzweifelhaft das eigentliche Werk des Christentums in der Spätantike, und darin setzt es nur den bereits begonnenen gewaltigen religiösen Prozeß fort, indem es ihm ein neues Zentrum in einer wahrhaft starken populären Religionsbildung mit neuem Kult und neuem Offenbarungsglau­ ben gibt. Das alles aber ist doch nur eine indirekte Wirkung der sozialen Entwickelung, alles Eigentliche und Wesentliche er-

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gibt sich aus der eigenen Dialektik der religiösen Ideen. Insbe­ sondere ist das, was die religiöse Idee bietet, nicht etwa ein bloß ins Transszendente gewandeltes Sozialideal, die Verheißung einer Welt der Gleichheit, Freiheit, Schmerzlosigkeit und Lebens­ befriedigung durch göttlichen Wundereingriff, nachdem mensch­ liche Tätigkeit zu dessen Herbeiführung sich als unzureichend er­ wiesen hat 20). Es ist vielmehr der Verzicht auf.das innerirdische Sozialideal , auf die politischen und ökonomischen Werte über­ haupt, und die Zuwendung zu den Gütern des religiösen Seelen­ friedens, der Menschenliebe, der Gottesgemeinschaft , die für alle sein können , weil sie keinen Schwierigkeiten der Leitung und Organisation überhaupt unterliegen. Es ist eine Veränderung in den Werten überhaupt, nicht eine Zuweisung der für Menschen nicht erreichbaren Organisation innerweltlicher Werte an die Kraft der Gottheit. Das ist ganz offenkundig im Stoizismus und in den Erlösungskulten der Fall, das ist aber auch der Sinn des christ­ lichen Gottesreiches. Der ganze Ge danke der Eudämonie oder das ethische Grundprinzip der Glückseligkeit, der Coincidenz von sittlicher Würde und politisch-ökonomischem Glück, hat sich ver­ ändert; es heißt nun mit dem Verse Rückerts: »Glückseligkeit zerpflück und jedem gib ein Stück, mir gib die Seligkeit und dem der will das Glück«. Die Seligkeit selbst aber wird in steigendem Maße jenseitig und eben damit das irdische Glück entbehrlicher; die Ideen einer unheilbaren Sündhaftigkeit oder einer in der Welt unüberwindlichen Stoffgebundenheit entwerten weiterhin das inner20) Das meint Pöhlmann II 533, der im Christentum ,mit seinen ausschwei­ fenden chiliastischen Umsturzgedanken« die gewaltigste revolutionäre Ideologie sieht. Wie wenig genau Pöhlmann in diesen Gegenständen ist, zeigt der Umstand, daß er diese Ideologie >gerade in Rom weiteste Verbreitung« finden läßt. Der Chiliasmus oder das Gottesreich hat nun aber mit sozialen Idealzuständen gar nichts zu tun, vgl. Wernle, ,Die Anfänge unserer Religion« 2, 1904 S. 38-49, 260-266. Stützen könnte sich P. nur auf die bereits erwähnten ,ebionitischen« Stücke, zu denen die altkirchliche Literatur zahlreiche Parallelen hat. Darüber ist das Nötige bereits gesagt. Wie wenig aber auch dann noch von einer »sozialen Revolution von oben oder von Gott her« geredet werden kann, zeigt der einfache Umstand, daß die Armut dabei großenteils aus dem religiösen Grunde des höheren Wertes der Opfergesinnung und der Selbstüberwindung erst künstlich durch Wegschenken herbeigeführt wird. Das Beherrschende in der Schätzung der Armut ist nicht die zu erwartende Erniedrigung des Reichen, sondern sehr bald die asketisch-religiöse Denkweise, die das Gegenteil von jedem Sozialismus ist.

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irdische Leben. So neutralisiert die religiöse Idee von sich aus die weltlichen Unterschiede, und mit der Entwertung der politisch­ ökonomischen Güter hebt sie auch die Schranken der Rassen, Völker und Klassen auf. Daß sie dann damit wieder umgekehrt eine starke Anziehungskraft iür alle entfaltet , die unter diesen Schranken leiden , ist selbstverständlich , und daß insbesondere das Christentum seine Anhänger unter den diesen Druck am stärk­ sten Empfindenden in erster Linie suchen und finden mußte, versteht sich gleichfalls von selbst. Dabei ist auch der einfache Umstand nicht zu vergessen , daß eine von Hause aus an Ge­ dankenwelt und Gefühlskreis der unteren Klassen sich wendende Volksbewegung ihre Verbindungen und Fortleitungen immer we­ sentlich nur in diesen Kreisen finden und nur schwer die Ober­ schicht erreichen kann , also auf lange die Empfänglichen we­ sentlich nur in diesen Kreisen wird finden können und in ihrer Apologetik aus dieser Not gerne eine Tugend macht. An Versuchen, die Gleichgesinnten der Oberschicht , deren es zahllose gab, zu erreichen, hat es von Anfang an nicht gefehlt, und schließlich wird ihnen ja auch steigender Erfolg zu teil. Ebenso einflußreich ist die einfache Tatsache, daß eine Religion, die ihre Anhänger in schroffsten Gegensatz gegen den Staatskult und gegen die die Gesellschaft beherrschenden , mit dem Kult zusammenhängen­ den Sitten stellt , ihre Anhänger nur ausnahmsweise aus den mit allen Institutionen verflochtenen Kreisen an Bildung und Be­ sitz finden kann , aus dem gleichen Grund arbeitet z. B. die österreichische Los-von-Rom-Bewegung wesentlich in den unteren Klassen; sie sind weniger gebunden an das herrschende religiöse System. Insofern steht es allerdings unter einer starken indirek­ ten Wirkung der sozialen Lage. Und diese Wirkung wird dann in dem Maße eine direkte , als es im Besitz starker Gemeinde­ bildungen seinen Angehörigen auch etwas leisten muß über die bloße Heilspredigt hinaus, als es ihnen Heimat und Hilfe schaffen muß für die Zeit der irdischen Kämpfe. Je mehr es aber dann so selbst zu einer Gesellschaft in der Gesellschaft oder zu einem Staat im Staate wird, um so stärker spürt es dann auch seine Verflochten­ heit in die konkreten Sozialprobleme und wendet auch diesen seine Aufmerksamkeit und Organisationskraft zu. Alles das aber ist erst Folge und Wirkung, nicht aber Ausgangspunkt und Wesen. Stehen nun aber die Dinge so , dann ist es überhaupt ein Mißverständnis , an die all dem zu Grunde liegende P r e d i g t T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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I. Alte Kirche,

I.

Evangelium.

J e s u in erster Linie �soziale« Fragestellungen heranzubringen. Sie ist ganz offenkundig eine r e i n r e 1 i g i ö s e P r e d i g t und aus einem bestimmten Gedanken von Gott und dem göttlichen Wil­ len mit den Menschen geflossen. Der religiöse Lebenswert ist ihm ein und alles; in ihm geht sein ganzes Leben und Denken auf. Dabei steht es auch für die Wendung des Spätjudentums zum rein Religiösen ebenso wie in der Antike überhaupt: politische und so­ ziale Zersetzung hat die alten innerweltlichen Ideale auch hier auf­ gelöst und die Wendung nach Innen oder aufs Transszendente nahe­ gelegt 21 ). Sehr wohl aber ist es zulässig, an diese religiösen Ge­ danken die soziologische Fragestellung heranzubringen, zu fragen, wie von diesem religiösen Gedanken aus das Verhältnis von Indi­ viduum und Gemeinschaft überhaupt sich gestalte , wie die an jeden großen Gedanken sich anschließende soziologische Struktur von dieser religiösen Idee aus sich bilde. Und hierbei stößt man allerdings auf sehr wichtige und folgenreiche Dinge, deren Eigen­ tümlichkeit es gerade ist, aus der Dialektik der religiösen Idee zu entspringen 22). Aus allen Unsicherheiten der Ueberlieferung ist der G r u n d­ g e d a n k e d e r P r e d i g t J e s u doch einfach zu erkennen. Es handelt sich um die Ankündigung der großen Endentscheidung, des Kommens des Gottesreiches als des Inbegriffes der vollen­ deten Gottesherrschaft, wo der Wille Gottes auf Erden geschieht, wie jetzt bloß im Himmel, ohne Sünde, ohne Leid und Schmer­ zen, und wo die wahren Werte der Gesinnung und des reinen Willens leuchten werden in der ihnen zukommenden Herrlich­ keit; eben darum werden auch die ihre Sünden erkennenden Sün­ der und die in Leid und Armut zur Hingebungsfähigkeit und De­ mut Erzogenen vorangehen in das Reich Gottes vor den Satten und Gerechten wie vor den Reichen und Mächtigen. Es handelt sich aber weiterhin auch um Sammlung der Gemeinde , die des Gottesreiches harrt und die unterdes in Jesus die Bürgschaft und die Vorbereitung seines Kommens hat; zur Sammlung dieser Ge21)

S. Bousset, >Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter'. Zum folgenden vergl. Holtzmann, ,Neutestamentliche Theologie«, Wernle, ,Anfänge« und die ,Reichsgotteshoffnung«, 1903, Wrede, ,Predigt Jesu vom Reiche Gottes« (Vorträge und Studien 1907), vor allem Jülicher, >Gleichnisreden« II 1899, A. Harnack, ,Sprüche und Reden Jesu« Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas«, 1907; bezüglich der evangelischen Ethik halte ich auch hier fest an den Auseinandersetzungen in ,Grundprobleme der Ethik«, Z. f. Theol. u. Kirche 1902. 22)

Gesamtcharakter der evangelischen Predigt.

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meinde dient der engere Kreis der unmittelbaren Jünger und Gefolgsleute, denen daher auch die besonderen Pflichten der Send­ boten auferlegt werden. Mit ihrer Hilfe wird das Reich überall hin gepredigt. Ueber die Beschaffenheit des Gottesreiches selbst spekuliert Jesus nicht, es ist eben der Inbegriff aller ethischen und religiösen Ideale, mit denen dann die Leidlosigkeit von selbst ver­ bunden ist. Die einzelnen Angaben zu näherer Bestimmung sind unvollständig und unsicher. Auch über »Wie« und »Wann« des Kommens ist nur zu sagen, daß es bald kommen wird ; den Zeit­ punkt selbst hat er rein Gott anheimgestellt, und über das » Wie« ist aus der Ueberlieferung eine sichere Anschauung nicht mehr zu entnehmen. Das Gottesreich ist eine Gottesherrschaft auf Erden, der das Weltende und Gericht erst später folgen wird. Aber beides gehört doch so eng zusammen und die Bereitung auf das kommende Reich ist auch für das Endschicksal so entscheidend, daß über Unterschied und Verhältnis beider nichts Bestimmtes gelehrt wird. Aller Nachdruck liegt auf der B e r e i t u n g fü r d a s G o t t e s r e i c h , und diese Bereitung kann eine so tief­ greifende sein, daß die des Gottesreiches harrende Gemeinde selbst schon in der Vorausnahme als Gottesreich bezeichnet werden kann. Nicht eine besondere Gruppe soll damit organisiert werden, son­ dern nur möglichst vielen der Weg gezeigt werden, der zum Heil führt, und der feste Felsen, auf den sie ihr Haus bauen sollen. In dieser Forderung der Bereitung liegt die Ethik und der sie bedingende Gottesgedanke Jesu eingeschlossen, wobei die Frage nach der Neuheit gegenüber der jüdischen Umgebung hier gleich­ gültig ist. Die sittliche Grundforderung ist, kurz gesagt, die Selbstheili­ gung in allem sittlichen Tun für Gott oder die Herzensreinheit, in der man Gott schauen wird beim Kommen des Reiches. Die sittlichen Gebote selbst werden aus der Praxis und der all­ gemeinen Anschauung aufgenommen, aber sie werden unter die Beleuchtung gestellt, daß in ihrer Erfüllung aus reiner innerer Anerkennung heraus das Handeln unter dem alles durchdringen­ den und die letzten Gesinnungswurzeln prüfenden Gottesauge steht, daß es im Gehorsam sich hingibt an Gott, um damit das eigent­ liche und wahre Leben , die wirkliche Seele und den ewigen Wert vor Gott zu gewinnen. Daher einerseits der Charakter der reinen Gesinnungsmoral, der Radikalismus der aufs äußerste ge­ steigerten Konsequenz aller sittlichen Gebote ohne jede Rück3*

I. Alte Kirche, I. Evangelium.

sieht auf andere Motive und Zweckmäßigkeiten; daher andrerseits und vor allem die überall durchgreifende Beziehung auf ein in diesem Handeln zu gewinnendes Verhältnis zu Gott, auf den darin zu erwerbenden unendlichen Wert der Seele, den keine Welt aufwiegen kann. Die Eingewickeltheit dieses Gedankens in die Anerkennung des jüdischen Gesetzes, der üblichen Volksmoral und in die pupulären Erwartungen von Lohn und Vergeltung, zugleich mit den mancherlei kritischen Ausbrüchen gegen diese Ideenmassen, können hier auf sich beruhen. Die Hauptsache ist, daß dieses ethische Ideal absolut durchdrungen ist von dem religiösen Ge­ danken der den Menschen innerlich durchschauenden und im Ge­ wissensgebot an sich heranziehenden Gottesgegenwart und von dem Gedanken eines in der Selbstopferung für Gott zu gewinnenden un­ endlichen und ewigen Wertes der Seele. Lauter Dinge, die der von der Sündenschuld Gedrückte leichter versteht als der Gerechte, die der nicht in die Welt und ihre Sorgen Verstrickte leichter ver­ wirklicht als der Reiche und von tausend Rücksichten Gebundene, die auch dem Armen und Kleinen einen Weg zum Heil eröffnen, der von dem Guten der Welt sich ausgeschlossen sieht. Ihnen entspricht, daß auch alle Wertungen des Menschenwertes bei Gott andere sind als im Weltleben und Treiben des Tages. Damit sind die G r u n d z ü g e d e r E t h i k des Evangeliums gegeben. Man würde in ihr vergeblich irgend eine besondere Liste sittlicher Forderungen aufsuchen. Die Forderungen werden als selbstverständlich so 'aufgenommen, wie sie das jüdische Leben enthielt, und werden damit ganz selbstverständlich als allgemein menschliche angesehen. Hier gibt es im Evangelium weder irgend eine Vollständigkeit noch auch irgend eine Systematik. Aber es wäre doch irrig um deswillen die Ethik des Evangeliums für eine rein subjektivistische Gesinnungsmoral zu halten, für die bloße Forde­ rung der autonomen Gewissensmäßigkeit des Handelns. Denn es wird völlig unbefangen vom Lohn in den Himmeln geredet, bei dem nur von keiner Aequivalenz mit der Leistung die Rede ist; der eigentliche Lohn ist das Gottesreich selbst, das Ziel einer re­ ligiösen Vollendung; und es sind ganz unverkennbar unter den aus dem allgemeinen Bewußtsein aufgenommenen Forderungen Abstu­ fungen gemacht, die sittliche Unterweisung auf ganz bestimmte Punkte hingedrängt, so daß die Ethik des Evangeliums nicht bloß auf die Form des Willens oder das Motiv innerer Gewissensnotwendigkeit, sondern auf bestimmte, sachliche Forderungen sich bezieht. Diese

Grundzüge der Ethik Jesu.

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konkrete und höchst charakteristische Richtung empfängt es durch die Stellung des Gottesgedankens im Zentrum alles sittlichen Wol­ lens. Es ist der Herzen und Nieren prüfende, alles bis in den in­ nersten Winkel und den feinsten Selbstbetrug hinein durchschauende Gott, der zugleich ein lebendig-tätiger Wille in der Weise des Prophetismus ist und den von ihm im innersten Wesenskern er­ faßten Menschen in sein eigenes Schaffen und Wollen hineinzieht. So werden alle Tugenden von dem religiösen Grundzweck, dem Zweck der Einigung mit dem Willen-Wesen Gottes und des Mit­ wirkens am Werke Gottes, aus durchgängig organisiert. Es treten diejenigen hervor und gewinnen die Leitung, in denen eine Selbst­ heiligung, Selbstopferung und Selbsthingebung an Gott durch Ge­ horsam am offenkundigsten stattfindet. In der Richtung auf die Gestaltung des eigenen Selbst sind es in erster Linie die Tu­ genden der völligen Lauterkeit und Wahrhaftigkeit, in denen allein eine Verbindung mit dem allwissenden Heiligen möglich ist, und daraus folgend die Gewissensmäßigkeit des Handelns; weiter sind es alle Tugenden der Demut, die, vor Gott die Kleinheit des Menschen empfindend, die Schulden der Menschen gegeneinander nicht geltend machen darf, und alle Tugenden der Selbstverleug­ nung, in denen die Selbstliebe, die Genußsucht, die Bequem­ lichkeit, die menschlichen Sympathien der Strenge der mit Gott verbindenden sittlichen Forderungen geopfert werden müssen. Er fordert die Unabhängigkeit von Glück und Geld, die geschlecht­ liche Selbstbegrenzung, die Innerlichkeit der Gesinnung, die ein­ heitliche Grundrichtung der Persönlichkeit. Hier geht das Evan­ gelium bis zum äußersten Radikalismus. Es ist keine Askese, wohl aber eine alle Bedingungen der Möglichkeit und Durchführ­ barkeit beiseite setzende Strenge ; die Harmlosigkeit der Lebens­ freude selbst ist dabei in keiner Weise gebrochen. In der Richtung auf das Verhältnis zu anderen Menschen gilt ganz das Gleiche ; alle sittlichen Leistungen dieser Art treten unter den Gesichts­ punkt des Wirkens an Gottes Werk, der Offenbarung der in uns aufgenommenen wahren Gesinnung Gottes selbst, der Weckung des Sinnes für die wahre Gotteserkenntnis durch Offenbarung seines Wesens in unserem Handeln. Wie Gott die tätige schaf­ fende Liebe ist und sein Licht leuchten läßt über Gute und Böse, so sollen die Gott geheiligten Menschen ihre Liebe kund werden lassen an Freunde und Feinde, an Gute und Böse, und die Feind­ schaft wie den Trotz überwinden durch ein Uebermaß der Liebe,

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das den andern beschämt und Verständnis für die Liebe weckt. Damit verbindet sich Milde, Vergebungsbereitschaft, Dienstbereit­ schaft, Gemütswärme der persönlichen Beziehungen, Dauer und Konsequenz in der Richtung auf andere Persönlichkeiten, Großher­ zigkeit, Bescheidenheit, Verträglichkeit. Auch hier gibt es keine Askese, die die Verkürzung des eigenen Selbst um der Mortifikation des natürlichen Menschen willen ohne konkreten Anlaß und sozu­ sagen auf Vorrat forderte, sondern nur eine Strenge, die das fast Uebermenschliche verlangt, und einen Idealismus, der den stumpfen Widerstand der Masse und des Nützlichkeitsverstandes brechen zu können gewiß ist. Die sonstigen geselligen Lebensbeziehungen selbst bleiben unangetastet. Alle übrigen Tugenden aber, alle Forderungen der Selbstbeherrschung und Selbstbearbeitung wie alle Forderungen der Billigkeit und Gerechtigkeit und ähnliches treten zurück hinter diesen Hauptforderungen, werden nur mehr oder minder zufällig berührt. Sie mögen sich von selbst der Grund­ tendenz einfügen, die in dem Doppelgebote liegt, Gott zu lieben, das heißt ihm in dem Gehorsam gegen seine Gebote sich hinzu­ geben, und den Nächsten zu lieben, d. h. im Verkehr mit ihm die Gottesgesinnung der Liebe zu offenbaren oder zu wecken 23). 28) Mit diesen Begriffen hat man auch die Grundlagen der Geschichte der christlichen Ethik, Die sittlichen Forderungen selbst werden auch später als selbst­ verständlich und jedem bekannt vorausgesetzt; wie bei Jesus die jüdische wird später die individualistisch-humanitäre Moral der Spätanti,ke einfach vorausgesetzt (Harnack, Mission I 180). Alle christlichen Tugend- und Lastertafeln, die kasuis­ tischen Einzelerörterungen und gelegentlichen Erörterungen von Forderungen sind daher mehr oder minder zufällig; auch die späteren Einpressungen der Tugenden in die platonische oder aristotelische Tugendtafel oder in stoische und Cicero­ nianische Kategorien sind lediglich wissenschaftlicher Scheinluxus. Die Forderungen und Ideale werden aus dem allgemeinen Bewußtsein aufgegriffen, ganz entgegen­ stehende Schulen wie die der Hedoniker scharf bekämpft als völlige, gar nicht ernst zu nehmende Verkehrtheit. Jeder Versuch einer wirklich wissenschaftlichen Ableitung aus den Grundprinzipien liegt ganz fern und ist überflüssig, Nur Detail­ fragen, wie die nach dem Verhältnis der natürlichen Kräfte und der Gnadensittlich­ keit, von mehr weltgemäßer und mehr asketischer Lebenshaltung treten hervor, und, indem die Erörterungen in der Regel an der Hand der Bibelstellen verlaufen, werden sie vollends zufällig und prinziplos, Daher bei den meisten Geschichten der christlichen Ethik der Eindruck einer unendlichen Verworrenheit. In Wahrheit aber gibt es doch instinktiv ein Ausleseprinzip unter den vorausgesetzten sittlichen Urteilen, und zwar liegt das Prinzip schon bei Jesus in den hier angegebenen Doppeltendenzen, Freilich bringen dann das Eindringen der Askese, die die Selbst-

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Von diesen Gedanken aus ergibt sich die s o z i o 1 o g i s c h e S t r u k t u r. Es ist einerseits der unbegrenzte und unbedingte I n d i v i d u a I i s m u s , der sein Maß rein in sich selber hat, in dem, was er als der Selbstheiligung für Gott dienend empfindet; er ist verpflichtet, bis zur radikalsten und rücksichtslosesten Konsequenz der empfundenen Forderungen zu gehen; er hat seinen Grund und sein Recht in dem Berufensein des Menschen zur Gottes­ gemeinschaft, oder wie es hier heißt, zur Gotteskindschaft und in dem hierin zu gewinnenden ewigen Seelenwert. Das Indivi­ duum, das Gottes Kind ist, darf sich als unendlich wertvoll be­ trachten, aber es kommt zu diesem Ziel nur durch Selbstopferung in rücksichtslosem Gehorsam an den heiligen Gotteswillen. Nicht an die naturhafte Individualität , sondern an einen erst in der Gottesgemeinschaft zu gewinnenden Wert ist gedacht. Es ist begreiflich, daß ein solcher Individualismus ein schlechthin radi­ kaler, auch alle Naturschranken und Unterschiede durch das Ideal des religiösen Seelenwertes überwindender ist, und ebenso begreif­ lich, daß ein solcher Individualismus nur auf dieser religiösen Grund­ lage überhaupt möglich ist. Nur die Gottesgemeinschaft gibt dem Individuum diesen Wert, und nur in der über alles Irdische über­ greifenden gemeinsamen Beziehung auf Gott verschwinden die Naturunterschiede. Wo solcher Individualismus Platz greift, sind zugleich in der alles befassenden und alle irdischen Unterschiede zum Nichts herabsetzenden göttlichen Allmacht und Liebesmacht alle sonstigen Unterschiede ausgelöscht und besteht nurmehr die Differenzierung in die unendlichen Wert besitzenden und ihn durch sittliches Handeln in sich schaffenden Individuen überhaupt, deren jedes mit seinem Pfund nach bestem Vermögen zu wuchern hat verleugnung zum Selbstzweck und zur Uebung an jedem beliebigen Stoffe macht, das Uebergewicht der reinen priesterlichen Autorität, die die Kirchengebote um ihrer selbst willen zum Gesetz und den Gehorsam zu einem asketischen Werk der Demut macht, die Beziehung auf die Aequivalenz des Lohnes und der Fegfeuer­ strafen, die das Handeln nicht zu Mitteln der Vereinigung mit Gott, sondern zum Mittel der Garantierung des jenseitigen Schicksals macht , und schließlich die Kasuistik, die Gebote aus Geboten herausspinnt, eine Unsicherheit in der Orien­ tierung hervor, die äußerst verwirrend wirkt, die aber von allen innerlichen Na­ turen wieder siegreich durchbrochen wird. Erst spät wird der jüdische Dekalog zum Kompendium der christlichen Moral gemacht, und werden ihm die »evange­ lischen Ratschläge« als das neue eigentlich Christliche zur Seite gestellt. Damit ist dann der wirkliche Sachzusammenhang völlig verdunkelt.

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und mit den Interessen und Unterschieden der Welt schlechter­ dings keine Kompromisse schließen darf. Ob freilich bei allen dieses Ideal auch wirklich Platz greifen wird, ist eine andere Frage. Hier hemmt die Sünde und die Welt, und angesichts des schweren Kampfes mit der widerstrebenden Welt gilt der Satz, daß viele berufen und wenige auserwählt sind. Doch tröstet sich Jesus angesichts dieser Schwierigkeiten, denen sein absoluter religiöser Individualismus begegnet, damit, daß bei Gott wohl möglich ist, was für Menschenaugen unmöglich erscheint. Es ist von Hause aus kein Massenideal. Auch ist bei der hohen Spannung der Forderungen nicht zu vergessen, daß es sich um die Endent­ scheidung und um die letzte Zeit eines zu Ende gehenden Welt­ laufs handelt. So wenig die Forderungen aus der Erwartung des Endes selber abgeleitet werden dürfen, so sehr muß man doch bedenken, daß ihr Radikalismus und ihre Unbekümmertheit um Möglichkeit und Durchführbarkeit nur von hier aus zu verstehen sind. Der Boden auf dem sie durchgeführt werden sollen, wird nicht lange dauern und hat keinen Wert in sich selbst. Aber dieser absolute religiöse Individualismus, diese Auf­ hebung aller Differenzierungen in der bloßen Differenzierung der selbstwertigen Persönlichkeit an sich, enthält nun doch zugleich einen starken Gemeinschaftsgedanken, der auch seinerseits genau ebenso aus der spezifisch religiösen Grundidee hervorgeht. Er liegt nicht bloß darin, daß zu den in der Selbstheiligung für Gott befolgten Geboten die altruistischen Gebote überhaupt mit ge­ gehören und um der Gesinnungsreinheit wie um der Selbstver­ leugnung willen bis zum äußersten Radikalismus zu verwirklichen sind. Er liegt vielmehr im letzten Grunde darin, daß die für Gott sich Heiligenden im gemeinsamen Ziel, in Gott, sich treffen; und da der obwaltende Gottesgedanke nicht der einer ruhenden, die Seelen in sich aufnehmenden Seligkeit, sondern der eines schaf­ fenden Willens ist, so müssen die in Gott Geeinigten, vom Willen oder der Gesinnung Gottes erfüllt, den Liebeswillen Gottes be­ tätigen. Daher gibt es für die Gotteskinder kein Recht und keinen Zwang, keinen Krieg und Kampf, sondern nur eine rest­ lose Liebe und eine Ueberwindung des Bösen mit Gutem, For­ derungen, die die Bergpredigt an extremen Fällen verdeutlicht. Wie der absolute Individualismus aus der religiösen Idee der herzensreinen Selbsthingabe an den die Seelen suchenden und zur Kindschaft berufenden Vaterwillen ausgeht , so wird aus der

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gleichen Grundidee heraus der absolute Individualismus zu einer ebenso absoluten Liebesgemeinschaft der in Gott Verbundenen, zu einer Betätigung der Gottesliebe auch gegen alle Fremden und Feindlichen, weil nur durch die Offenbarung der absoluten Liebe in ihnen das wahre Gottesverständnis geweckt und der Weg zu Gott geöffnet wird. Das ist überall der Hintergrund und Sinn der Bruder- und Nächstenliebe des Evangeliums. Sie ist nicht einfach Güte und Mildtätigkeit überhaupt, sondern die Verbundenheit der in Gott Geeinigten und die Offenbarung und Weckung des Verständnisses für dit� wahren Lebenswerte durch die Erweisung der Liebe, die Zerschmelzung irdischer Kleinlich­ keit und Weltsinnigkeit in dem Feuer der göttlichen Liebe, der nichts Weltliches widerstehen kann. Diese Gemeinschaft reicht aber nur so weit, als ihre religiösen Voraussetzungen reichen. Sie ist absolut, wo diese vorhanden sind ; sie sucht und wirbt, wo sie nicht vorhanden sind; aber der Weg zum Heil ist schmal, und wenige sind es, die ihn finden ; und unter diesen Wenigen finden ihn die Leidenden am leichtesten. An ein Gattungs- und Mensch­ heitsideal an und für sich ist nicht gedacht. Für die Fälle des Mißlingens in dem Werben um diese Gemeinschaft hat das Evangelium nur die Anweisung des Leidens und Duldens, bis das Gericht die wahren Verhältnisse wieder herstellt. Auch hier ist für das Verständnis von Jesu Weisungen zu bedenken, daß diese Wiederherstellung nicht in endloser Form nach einem langen Weltleben, sondern in kurzer Frist stattfinden wird. So entsteht aus dem absoluten Individualismus ein ebenso absoluter U n i­ v e r s a 1 i s m u s , beide rein religiös begründet, ihren festen Halt in dem Gedanken des heiligen göttlichen Liebeswillens besitzend und sich gegenseitig mit völliger logischer Konsequenz fordernd, wobei die Einzelfrage , wie weit Jesus die populäre Vorzugs­ stellung des Judentums wirklich aufgehoben hat, hier nicht weiter zu verfolgen ist. Hier interessiert nur der aus der religiösen Idee unmittelbar entspringende soziologische Doppelcharakter eines ab­ soluten Individualismus und Universalismus. Beide fordern ein­ ander. Denn der Individualismus wird absolut nur durch die ethische Hingebung an Gott und die Erfüllung mit Gott ; und wiederum im Besitz des Absoluten schmelzen die individuellen Differenzen zusammen zur unbedingten Liebe, deren Urbild der die Seelen berufende und in sich vereinigende Vatergott selbst ist. Das müssen alle lernen und tun, die ihre Seele retten wollen

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1m Gericht und Teil gewinnen am Gottesreich; und die, welche es tun, sind seine Brüder und Schwestern und damit die Erst­ linge des kommenden Gottesreiches 24). H) An diesem Punkt glaube ich Harnacks Auffassung des grundlegenden Sachverhaltes nicht ganz zustimmen zu können. H. (Reden 1 28 f.) analysiert das Evangelium und findet hier drei Momente: I. das Gottvertrauen, 2. den Erlösungs­ glauben, 3. die Nächstenliebe. Das erste führe gelegentlich zum Quietismus, das zweite zu heiliger Weltindifferenz oder zu radikaler Weltverbesserung, das dritte sei das sozial treibende. Man wird die Momente m. E. nicht so sondern und ein­ fach nebeneinander stellen dürfen. Es gehört zunächst jedenfalls das Gottvertrauen und der Ersösungsglaube unbedingt zusammen; jenes bedeutet, daß der Mensch ruhig und unbedingt dem höchsten Interesse, dem des Seelenheils im Gericht, sich hingeben kann, da Gott für das Zeitliche genugsam sorgt und keine Sorgen um Zeitliches haben will; auch das Leiden, das ganz besonders zum Zeitlichen gehört, ist in solchem Vertrauen hinzunehmen als gerade dem Seelenheil dienend; dagegen ist ein ruhiges und ausdauerndes Gottvertrauen in Arbeit und Ordnung einer beständigen Welt erst die spezifisch lutherische Wendung des Gedankens. Dem das Gottvertrauen in sich schließenden und bedingenden E r I ö s u n g s g I a u b e n , der eben das Prinzip des von mir charakterisierten absoluten religiösen Individualismus ist, steht nun aber die N ä c h s t e n 1 i e b e nicht einfach zur Seite oder gar im Kontrast gegenüber. Sie ist ganz deutlich aus dem religiösen Grundgedanken motiviert als Bekundung der vollkommenen Gottesgesinnung, als Weckung des Verständnisses für das wahre Wesen Gottes, als Erfüllung des eigentlichsten Willens Gottes, in dessen Erfüllung gerade die Seele sich aus der Welt befreit und Gott übergibt. Gewiß wird »zwischen leiblicher und seelischer Not« im Evangelium nicht unter­ schieden und »soll mit allen Kräften der Liebe dem Bedürftigen und Elenden ge­ holfen werden«. S. 30. Aber es ist doch eben auch die leibliche Hilfe der Aus­ fluß der gemeinsamen Verbundenheit aller in Gott und die Bewährung der Voll­ kommenheit Gottes, der seine Sonne scheinen läßt über Gerechte und Ungerechte. Gewiß ist solche Bruderliebe nicht ohne wirkliche Liebesgesinnung zu fordern mög­ lich gewesen, aber diese Liebesgesinnung haftet mehr an dem Gedanken Gottes als der tätigen Vaterliebe und nicht an dem Gedanken der Hilfe und Förderung um ihrer selbst willen. Sonst wäre die Beschränkung auf reine Liebeserweisung und der Verzicht auf alle politisch-sozialen Reformforderungen gar nicht zu er­ klären. Die Liebe hat immer einigermaßen den Charakter der Selbstüber­ windung oder doch einen propagandistischen der Offenbarung oder Weckung des wahren Gottesverständnisses; sie ist um Gottes willen gefordert und nicht um des Menschen willen. Das gilt für Jesus und für die ganze nächste Folgezeit. H. sagt S. 30: »Die Welt sah ein neues Schauspiel: während sich die Religion bisher an das Irdische angeschmiegt und alle Zustände willig begleitet oder sich allem entgegengesetzt und in die Wolken gebaut hatte, empfing sie nun eine neue Auf­ gabe: irdische Not und Elend ebenso wie irdisches Glück für etwas Geringes zu achten (im Erlösungsglauben) u n d d o c h jeglicher Not zu steuern (im sozial-

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Die Bedeutung, welche für Mut und Freudigkeit solcher Selbst­ bereitung die Vergewisserung über Sündenvergebung und Gnaden­ wille Gottes schon in der Predigt Jesu hat, kann dabei hier außer Frage bleiben. Soziologisch hat sie ja erstlich nur die Bedeutung einer Verstärkung der Motive und einer Ueberwindung der bei treibenden Motiv), das Haupt im Glauben mutig zum Himmel zu erheben u n d do c h mit Herz und Mund und Hand auf dieser Erde für den Bruder zu arbeiten«. Hier scheint mir das »u n d d o c hc unrichtig zu sein. Der Satz S. 32 »Wo der Christ klar erkennt, daß ein wirtschaftlicher Zustand zur Notlage für die Menschen geworden ist, da soll er nach Abhilfe suchen; denn er ist ein Jünger dessen, der ein Heiland war« hat für die alte Kirche nie gegolten, wie am besten die Ge­ schichte der Sklaverei zeigt, deren den Charakter gefährdende Wirkung und deren schmerzenreiches Elend der alten Kirche wohl bekannt war und auch in christlichen Haushaltungen keineswegs immer vermieden war. Ihr Idealismus und zugleich ihr Glaube an die Unveränderlichkeit der Welt, wie sie einmal ist, haben eine derartige Reflexion auf die Bedingtheit ethisch-religiöser Werte durch die Naturbasis des Lebens nie gekannt. Kann ich H. in all diesen Punkten nicht zustimmen, so kann ich mich eher der Charakteristik anschließen, die Schmoller (Grundriß I 79) gibt. »Sicher ist, daß diese Einseitigkeiten notwendige Begleiterscheinungen jenes mora­ lischen Idealismus waren, der wie ein Sauerteig die Völker des Abendlandes ergriff und emporhob. Es entstand mit dieser christlichen Hingabe an Gott, mit diesen Hoffnungen auf Unsterblichkeit und ewige Seligkeit ein Gottvertrauen und eine Selbstbeherrschung, die bis zum moralischen Heroismus ging; eine Seelenreinheit und eine Selbstlosigkeit, ein Sichopfern für ideale Zwecke wurde möglich, wie man es früher nicht gekannt hatte. Die Idee der brüderlichen Liebe, der Nächsten­ und Menschenliebe, b e g a n n a 11 e L e b e n s v e r h ä 1 t n i s s e z u d u r c h­ d r i n g e n und erzeugte eine Erweichung des harten Eigentumsbegriffes, einen Sieg des gesellschaftlichen und Gattungsinteresses über die egoistischen Individual-, Klassen- und Nationalinteressen, eine Fürsorge für die Armen und Schwachen, die man im Altertum vergeblich sucht«. Hier ist richtig das soziologische Prinzip selbst und seine soziale Anwendung und Wirkung unterschieden; freilich die i n n e r e Schwie­ rigkeit, die der letzteren entgegenstand, ist dabei auch hier nicht genügend in Betracht gezogen. Das Unzutreffende in Harnacks Auffassung dagegen liegt meines Erachtens darin, daß er beides nicht unterschieden, sondern von vornherein in eins gezogen hat, - Uebereinstimmend mit meiner Analyse ist die Deutung des christlichen Liebes­ gedankens bei Augustin im ersten Kapitel seiner doctrina Christiana, auch Clemens im Protrepticus c. 9 am Schluß, und die Darstellung von Uhlhorn, S. 51-66, nur daß Uhlhorn dann andrerseits, die eschatologische Natur des Gottesreichs verkennend, von einem Gestalten und Zum-Organ-Machen der Welt für das Gottesreich als die in der Gottesliebe geeinigte erlöste Menschheit spricht. Das aber sind lutherische und noch mehr moderne Eintragungen. Die ganze folgende Darstellung wird zeigen, wie wenig ein derartiger Gedanke auf die alte Kirche zutrifft.

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der Verwirklichung des Ideals sich unvermeidlich einstellenden Hemmnisse und Trübungen. Zweitens gibt sie freilich dem In­ dividualismus und Universalismus eine mit seiner religiösen Wurzel eng zusammenhängende Färbung. Nicht bloß das Hochgefühl des gotteinigen Individuums , sondern auch seine sündhafte Schwäche und geschöpfliche Gebrechlichkeit, das Bedürfnis nach Gottvertrauen und Gotteshilfe und die Zuversicht zu seiner Gnade als der Quelle alles Guten sind damit betont. Und ebenso wird der Universalismus damit aus der bloßen Verbundenheit in Gott und gemeinsamen Beziehung auf Gott eine Verbundenheit durch gemeinsame Bedürftigkeit, durch gegenseitige Vergebungsbereit­ schaft, durch Mitgefühl mit der Sünde und Kampf gegen die Sünde. Der Sündenvergebung bedürftig bleibt das Individuum auch im höchsten Selbstwert ein unnützer Knecht Gottes, und der Abrechnung vor Gott gewärtig muss die Bruderliebe alle mensch­ lichen Schuldbücher, alle Rechnungen von Mensch zu Mensch vernichten. Die Gottesidee trägt, wie die Züge der alle zum höchsten Lebenswert berufenden Vatergüte, so di€ einer beständig in Demut erhaltenden und durch Sündenvergebung ermunternden, unendlich überlegenen und den Abstand nie auf hebenden Voll­ kommenheit. Eben damit aber stellt sie sich auch nicht als ein stets spontan erzeugbarer denknotwendiger Gedanke, sondern als Au­ torität und Offenbarung dar. Der hebräische Willensgott gibt sich bei seinem Abstand von den Menschen nur in lebendiger Offenbarung kund, im Gesetz und den Propheten und in der Autorität, mit der Jesus beide deutet. Damit ist in das so­ ziologische Gefüge der Autoritätsgedanke eingeführt. Aus dem Glauben an solche Autorität quillt das ganze geschilderte Denken, und die Sicherung dieser Autorität, dieses Quellpunktes, wird eine dauernde Aufgabe des ganzen Gefüges sein. An all diesen Punkten unterscheidet sich dieses Gefüge von dem im übrigen nahe verwandten, später zu schildernden religiös-ethischen und soziologischen Denken der späteren Stoa. Im übrigen ist dies soziologische Gefüge eine völlig freie Gemeinschaft des Gedankens und der Erkenntnis. Seine Gläu­ bigen sind überall untergemischt unter die Kinder der Welt und fahren fort teil zu nehmen am nationalen Kultus. Sie bereiten sich nur innerlich und durch das rechte Verhalten gegeneinander auf das Kommen des Reiches. Organisiert hat Jesus keine Ge­ meinde, sondern nur die Predigt, für die er Gehilfen sucht, die

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alles verlassen und alles ihm und der Sache opfern. Das ist einer der Hauptunterschiede von der Ordensstiftung der Essener, mit denen Jesu Werk immer wieder zusammengeworfen wird von Leuten, die meinen es sei durchaus die Aufgabe des Historikers klüger zu sein als seine Urkunden und alles für wahrscheinlicher und möglicher zu halten als was diese sagen. Es ist auch der Grund, weshalb der soziologische Gedanke des Evangeliums stets von neuem gegen kirchliche Verfestigungen zu reagieren ver­ mocht hat. Leicht läßt sich von hier aus verstehen, wie die Beziehungen zu den einem ganz anderen Interessenkreis angehörenden s o z i a1 e n Pr o b 1 e m e n sich gestalten müssen 26). Sie gehören der Welt an und werden mit ihr vergehen. Wie diese überhaupt ge­ mischt ist aus Gutem und Bösem, so sind auch jene Dinge mit ihrer Ordnung, ihrer Freude und ihrer Arbeit nicht ohne Gutes, aber reich an Gefahr und an Ablenkung von dem einen, was not tut. Jesu Predigt ist nicht asketisch; es fehlt jede Herabsetzung der Sinnlichkeit und des Genusses als solcher, auch jede Verherr­ lichung der Armut um ihrer selbst willen. Aber Lebensordnung und Arbeit gelten nur soweit als sie zum Leben überhaupt notwendig sind, und dann wie selbstverständlich, und tragen keinerlei eigenen ethischen Wert in sich selber. Hier liegen die Unterschiede ori­ entalischen Volksempfindens gegenüber allen Bedürfnissen höherer Kultur und spricht der religiöse Radikalismus, der in allem nicht direkt auf religiöse Werte Beziehbaren einen ethischen Wert über­ haupt nicht anzuerkennen im Stande ist. Jesu Ethik ist eher heroisch als asketisch. Sie mildert ihren Heroismus nur durch die Weichheit des religiösen Gottvertrauens und Vergebungsglau­ bens, aber nicht durch Kompromisse mit den Forderungen des Weltlebens und der »Natur der Dinge�. So versteht sich von hier aus die Stellung zu Staat, Gesellschaft, Arbeit und Besitz von selbst. Vom S t a a t ist nicht die Rede. Das jüdische Volkstum wird in allen seinen Hoffnungen auf das entschiedenste verleug­ net, auch wenn Israel als der Kern der kommenden Welt erscheint. Jesu Gottesreich ist die Herrschaft Gottes und nicht die des jüdischen Volkes. Der Römerstaat wird mit schroffsten Worten als mit Gottes Zulassung zu recht bestehend anerkannt; man soll nur 25) Vgl. hierzu Jacoby, Neutestamentliche Ethik, 1899, wo nur die Bedeutung der Zukunft des Gottesreiches stark unterschätzt ist.

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ohne Rücksicht auf die Heiden Gott geben, was Gottes ist. Das w i r t s c h a f t 1 i c h e L e b e n wird mit einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages betrachtet, wo man Gott für den kommenden Tag sorgen lassen soll. Im übrigen ist die opfernde und mitteilende Liebe, bei der übrigens eben deshalb Arbeit und Erwerb vorausgesetzt ist, die höchste Probe wahrer Frömmigkeit, und ist der Verzicht auf alle Güter die Bedingung des engeren Anschlusses an die eigentliche missionierende Jünger­ schaft 26). Daß Gott durch Arbeit jeden seinen Unterhalt finden 26) Bei der Frage nach den ökonomischen Lehren des Evangeliums von der Geschichte vom reichen Jüngling und den daran angefügten bekannten Worten über die Reichen (Mt, 19, 16 ff,) auszugehen, ist verkehrt. L. Brentano, >Die wirtschaftlichen Lehren des christlichen Altertums« (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Münchener Akademie 1902), hat das getan und konnte sich dabei auf die Kirchenväter allerdings berufen. Allein diese Väter stehen bereits unter dem Einfluß des Bedürfnisses, die Worte der Bibel zu dogmatisieren, und des im Kampf mit der Welt asketisch entwickelten Armutsgedankens. Da bot sich ihrer Verlegen­ heit das Wort Jesu sehr bequem dar, indem es einen gewöhnlichen Gehorsam und eine höhere Vollkommenheit zu unterscheiden, eben damit aber beiden Bedürf­ nissen, der Weltförmigkeit und der asketischen Selbstentäußerung , zu genügen schien, Die Worte über die Seelengefährlichkeit des Reichtums verstehen sich von Jesu Grundanschauung aus von selbst und enthalten keinerlei Negation des Be­ sitzes und keine Askese überhaupt. Die Geschichte vom reichen Jüngling aber, deren Tatsächlichkeit nicht bewiesen und nicht bestritten werden kann, bedeutet jedenfalls keine Gründung eines Dogmas. Jesu Meinung über den Besitz ist auch sonst deutlich genug, nämlich am ersten nach dem Gottesreich zu trachten und nicht zu sorgen für den kommenden Tag. Der Jüngling aber will etwas Besonderes tun, und daher fordert ihn Jesus auf, in seine Missionsarbeit einzutreten und alles zu verkaufen für die Armen. Das ist nur dann anstößig, wenn man Jesus die Lehre zuschreibt, daß es keine besonderen heroischen Anstrengungen geben dürfe, sondern alles gleich pflichtgemäß sei. Allein diese abstrakte Lehre ist Jesus ganz fern; sein Prinzip ist gewahrt, wenn eine solche Anstrengung kein Verdienst begründet. Die ganze Aufopferung der Jünger und die Aufforderung zur Selbstprüfung, ob die Kraft hierzu auch zureiche, Luc, 14, 33, ist ein Zeichen, daß jener Gedanke be­ sonderer Leistungen Jesus nicht fern liegt, wie er ja auch sehr natürlich ist. Uebrigens ist wohl möglich, daß die Geschichte ganz oder in ihrer Form durch spätere asketische Gedanken beeinflußt ist. Jedenfalls aber ist sie nicht der Schlüssel zu den ökonomischen Lehren des Evangeliums, sondern nur der Schlüssel zu denen der späteren Kirche, die mit viel entwickelteren ökonomischen Verhält­ nissen kämpfend den Gegensatz und die Schwierigkeit viel stärker empfand. Für sie aber war dann der erste Teil, daß es genügen könne die Gebote zu halten, ebenso wichtig als der zweite. Ohne die Annahme, daß Jesus für seine Jünger

Soziale Konsequenzen des Evangeliums.

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lasse und daß im Falle der Not überall die Liebe helfen könne, das ist zusammen mit der Scheu vor dem seelengefährlichen Reichtum die einzige ökonomische Lehre des Evangeliums, die ebendeshalb mit jeder realistischen Einsicht in die Spannung zwischen Bevöl­ kerung und Möglichkeit der Bedarfsdeckung so schwer zusammen­ stößt. Die religiös geforderte Liebe erweist sich als das einfachste Mittel, zugleich auch die Lebensnöte zu beseitigen. Zudem sind alle Fragen des Besitzes lediglich vom Standpunkt des Kon­ sums betrachtet, der bescheiden bleiben muß, wenn er gesund bleiben soll, und der die Mängel der Bedürftigkeit durch Mild­ tätigkeit deckt. Dabei ist wohl nicht zu bezweifeln, daß das Mit­ leid mit der Armut und dem Leiden der Predigt Jesu eine be­ sondere Wendung auf die Armen gibt. Aber es geschieht doch immer in der selbstverständlichen Voraussetzung, daß hier das Wort am wenigsten steinigen oder dornigen Grund findet, auch in der Voraussetzung, daß Gottes Gerechtigkeit und Güte sich darin zeigt, daß gerade die scheinbar Zurückgesetzten und Enterbten es leichter haben zum Heil zu kommen als die scheinbar vor der Welt Bevorzugten. Es scheint in der Wendung zu den Armen auch ein Element der Theodizee zu liegen : Elend und Not, die die Menschen nicht begreifen können, erweisen sich in Gottes Augen als ein Weg zum Heil. Aber nicht um die Ausgleichung der Armut mit jenseitigem Lohn handelt es sich dabei , sondern um den Vorzug des Leidens für die Erkenntnis Gottes und der wahren Lebenswerte. Dabei schränkt sich die Predigt ja auch gar nicht auf die Armen ein, sondern geht an alle. Wenn Naumann, dem unter dem unmittelbaren Eindruck Palästinas alle diese Erwägungen schwer sich aufdrängten, trotzdem meint: »Sein Herz ist die Liehe zu den Armen, der Kampf gegen die Bedrücker, die Freude am Erwachen der Unmündigen ; nur die Art, wie er seinem Herzen folgte, ist dem menschenfreundlichen Tun un­ seres Zeitalters ferner als wir dachten«, so ist das schwerlich ganz richtig 27). Vom Kampf gegen die Bedrücker ist nichts zu spüren, nur von dem gegen die falschen Seelenführer ; und die Liebe zu den Armen wie die Freude am Erwachen der Unmün­ digen sind doch nicht das Streben nach Emporhebung und Ernim engeren Sinne oder die Missionare und Gottesreichsboten andere Forderungen aufgestellt hat als für die Masse seiner Anhänger ist übrigens m. E. das ganze Evangelium nicht zu verstehen, es fehlte ihm dann alle Konsequenz. 27) Naumann, Asia, S, u5.

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porentwickelung der Gedrückten und Zurückgebliebenen, sondern neben der Betätigung des eigensten Grundsatzes und Grundge­ fühls der Liebe doch zugleich die Aufsuchung des empfänglichsten Bodens. Alle Fragen und Schwierigkeiten des Pauperismus aber, ob nicht gerade in der Armut und in dem Mangel an geistigem und materiellem Fortschritt schwere ethische Gefahren und ernste Hindernisse geistiger Erhebung liegen können, liegen außerhalb des Horizontes des Evangeliums. Näher und inniger ist schließ­ lich seine Stellung zur F a m i I i e. Die Familie in dem reinen und keuschen Sinn der spätjüdischen Moral gibt die Bilder für die höchsten Bezeichnungen Gottes, den Namen für das letzte religiöse Ziel, das Urbild der Jüngerschaft Jesu, den häufigsten Stoff der Gleichnisse und ist insofern eine der Grundvoraus­ setzungen seines Empfindens. Die Individualisierung der Personen in der monogamischen Familie und die Innigkeit des Familien­ bandes ist in der Tat auch innerlich verwandt mit dem religiösen Individualismus und Universalismus seiner Predigt und die Schät­ �ung des Gemütes mit dem undogmatisch-intuitiven Charakter seines Gottesglaubens. Daher die Forderung der Unlösbarkeit der Ehe und der geschlechtlichen Selbstbeschränkung auch des Mannes auf die Ehe. Auf die Keimzelle alles Gemeinschafts­ lebens, die Familie, wirkt das neue soziologische Ideal am un­ mittelbarsten und stärksten. Aber immerhin im Himmelreich werden die Menschen geschlechtslos sein und das Seelenheil fordert im Notfall auch die Opferung des Familienbandes, der Missionsberuf den Verzicht auf das eheliche Leben , die Ver­ schneidung fürs Himmelreich 28). So fehlt jedes Programm einer sozialen Erneuerung, an sei­ ner Stelle steht die Forderung innerhalb der noch fortdauernden Ordnungen der Welt in der rein religiösen Gemeinschaft der Liebe und in der Arbeit der Selbstheiligung sich zu bereiten auf das Kommen des Gottesreichoo. Und auch dieses Gottesreich selbst ist nicht etwa wenigstens dann seinerseits die von Gott gestiftete soziale Neuordnung. Es bringt eine neue Ordnung auf Erden, aber mit Staat, Gesellschaft und Familie hat sie nichts mehr zu tun. Wie sie im einzelnen aussehen wird, ist Gottes Sache; der Mensch hat nur auf sie sich zu bereiten. Und wenn 28)

1907,

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Vgl. Marianne Weber, >Ehefotu und Mutter in der Rechtsentwickelung«, 180 ff.

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Der Liebeskommunismus der Urgemeinde.

dabei von Jesus und späterhin für alle Leidenden und Armen die Trocknung der Tränen und Sättigung versprochen wird , so ist das nur natürlich bei einer wesentlich an die Armen sich wen­ denden Predigt , aber es ist nicht die Hauptsache. Die Haupt­ sache ist die dann eintretende vollständige und ungetrübte Herr­ schaft Gottes und die Ueberwindung der bösen Geister. Sobald nun freilich um eine solche Predigt sich eine dauernde Gemeinschaft sammelt, ist es unausbleiblich, daß aus diesem P r o­ g r a m m a u c h e i n e s o z i a 1 e O r d n u n g w i r d , daß die zu­ nächst rein religiös gedachte soziologische Struktur sich in eine soziale Organisation innerhalb des übrigen Lebens umsetzt. Min­ destens das Liebesgebot muß eine kleine , persönlich unter sich verbundene Glaubensgemeinde auch in ihrem ökonomischen Ver­ halten bestimmen und zu einem ersten Versuch seiner Verwirk­ lichung führen , so lange ihr nicht äußere Hemmnisse entgegen­ stehen und sie unmöglich machen. Die Gesinnungsmäßigkeit der Liebe läßt sich ja an sich unter allen denkbaren Verhältnissen betätigen, aber so lange das Liebesgebot noch nicht durch den Zwang solcher Verhältnisse sich zur Resignation verurteilt sieht, muß es dem inneren Trieb gehorchen , der eine Organisation wenigstens des Zusammenlebens der eigenen Gemeinde nach den ökonomischen Grundsätzen dieses Gebotes verlangt. Zu Jesu Lebzeiten ist von einer organisierten Gemeinde nichts erkennbar. Die Folgen treten erst in der um sein Andenken gescharten Ge­ meinde hervor. So geschah es auch in der Urgemeinde. Aber die Neuordnung beschränkt sich auf die Gemeinde selbst und ist nicht ein Programm der sozialen Volkserneuerung überhaupt. Innerhalb der Gemeinde selbst aber, klein und denselben allge­ meinen Lebensverhältnissen angehörig wie sie war , blieb dann keine andere Möglichkeit, als die der Organisation eines Kom­ munismus, den man im Unterschied von allem andern Kommunismus den r e l i g iös e n Li e b e s k o m m u n i s m u s nennen muß. Das ist ein Kommunismus, der die Gemeinsamkeit der Güter als Beweis der Liebe und des religiösen Opfersinnes betrachtet, der lediglich ein Kommunismus der Konsumtion ist und den fortdauernden privaten Erwerb als die Voraussetzung der Möglichkeit von Schen­ kung und Opfer zur Bedingung hat. Ihm fehlt vor allem jede Gleichheitsidee, sei es die absolute Gleichheit der Anteile, sei es die relative der Verdienst und Leistung entsprechenden Beteili­ gung ; das Entscheidende ist nur , daß alle opfern und daß alle Tr

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e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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zu leben haben; wie viel das ist beim ersten und beim zwei­ ten, ist Nebensache. Ebenso fehlen jede technische Ueberlegung und Begründung, die vor allem eine gemeinsame Produktionsord­ nung verlangt hätten. Schließlich fehlt auch selbstverständlich jeder Gegensatz gegen das eigentliche Hemmnis jedes echten Kom­ munismus, gegen die mit der Privatwirtschaft innerlichst verbun­ dene Familie. Dagegen hat es vermutlich Enthaltung vom Eide, Zurückhaltung von den Gerichten und allem offiziellen Wesen gegeben. In diesem Sinne wird die berühmte Erzählung der Apostelgeschichte vom urchristlichen Kommunismus zu verstehen sein, die alle innere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Daß er nicht dauern konnte , jedenfalls nicht in die Weltmission über­ gehen konnte , das hat seinen sehr begreiflichen Grund in der inneren Struktur eines solchen Kommunismus , der allenfalls in einer kleinen und gleichartigen Gemeinde möglich sein mochte, der aber für eine Weltpropaganda viel zu lose gefügt und be­ gründet war. Aber daß er in ihr sofort verschwand ohne jeden Kampf um sein Prinzip , das ist wieder nur ein Zeichen dafür, daß er nur eine Folgeerscheinung und nicht eine Grundidee war. Die Grundidee ist lediglich die des Seelenheils 29). Immerhin aber blieb von den Reden Jesu aus die Konsequenz des Liebeskommunismus bestehen. Die späteren Gemeindebil­ dungen haben in Zeiten der Not ihm gewiß sich oft wieder ge­ nähert. Die theoretischen Darlegungen der späteren Kirchenväter verkündigen ihn vielfach als die eigentliche christliche Grundlehre : frei und allen gemein wie Licht , Luft und Erde , wie der Ur­ sprung aus Gott und die Bestimmung für Gott sei allen der irdi­ sche Besitz durch die alles mitteilende Liebe. Wo man es dann später rein abstrakt wieder unternahm, Weisungen Jesu über so­ ziale Dinge, d. h. über die absolute Opferbereitschaft der Liebe zu formulieren, da entstand stets von neuem aus der inneren Kon­ sequenz der Sache der Liebeskommunismus. Das Mönchtum, die mittelalterlichen kommunistischen Bewegungen, die Wieder­ täufer, moderne Schwärmer und Idealisten, alle sind auf dieser Spur gegangen. Es steckt ein revolutionäres Element darin, freilich an sich ohne jeden Willen zur Revolution 30). Auch die 29) Vgl. Pfleiderer >Urchristentum« 1902, I 22 f, 30) Dieser Entwickelung geht Nathanael Schmidt »The prophet of Nazaret« New-York 1905 nach, den ich jedoch nur aus einer lesenswerten Anzeige von Wemle Theo!. Lit.Ztg, 1907, 603 ff. kenne, Beachtenswert ist auch die Bemerkung,

Der Liebeskommunismus der Urgemeinde.

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Kirche hat diese Konsequenz sehr wohl empfunden und aner­ kannt. Wir werden sehen, wie sie mit der Gestaltung ihrer Na-· turrechtslehre dieser Konsequenz sich entzog , indem sie sie zu­ gleich anerkannte, nur freilich nicht für die Gegenwart, sondern für den Urstand. Für die Gegenwart aber wandert die Ge­ meinde schon von Paulus ab ganz andere Wege und zwar prin­ zipiell sozialkonservative Wege 81). Das Beherrschende des Gedankenganzen ist angesichts des­ sen jedenfalls nicht diese soziale Konsequenz, sondern der ideale, von der religiösen Idee ausgehende Gedanke der soziologischen Struktur überhaupt. Ihm ist eine ungeheure historische Mission beschieden, gleichviel ob aus ihm sozialkonservative oder sozial­ revolutionäre Folgerungen gezogen werden. Zur Macht gekomdaß diese Nachahmung Jesu überall dem Zurücktreten des Dogmas vom Gottmen­ schen parallel geht. Das letztere rückt in der Tat die Ethik Jesu aus aller Ver­ gleichbarkeit heraus und weist vielmehr auf den Gehorsam gegen die Kirche, deren Stiftung sein eigentliches Werk ist. 31) Merkwürdig ist , daß die kommunistisch-sozialistischen Aeußerungen de r Kirchenlehrer erst in der nachkonstantinischen Zeit stark hervortreten. Das hat Harnack (Reden II, 41 f.) mit Recht hervorgehoben und geht auch aus der Stellen­ sammlung deutlich hervor, die L. Brentano gemacht hat (•Die wirtschaftlichen Lehren des christlichen Altertums«) und auf die auch bereits seine Rektoratsrede ,Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte« 1901 hingedeutet hatte. Brentano selbst beachtet das nicht und spricht daher auf Grund dieser spätem Kirchenlehrer von einem ,stark sozialistischen Grundzug, der die christliche Eigentumslehre durch­ wehe« S. 183. Auch Kautsky und Pöhlmann haben außer auf das Mißverständnis der Reich-Gottes-Idee und der Apokalypse auf diese späten Lehrer und vor allem auf die Homilie XI in acta apost. des Chrysostomus sich als den Beweis des kom­ munistischen Charakters des Christentums berufen. Diese allerdings auffallende Pre­ digt hat nun aber als Text die Geschichte von Ananias und Saphira acta 4 und ist damit ganz erklärlicherweise durch den Text auf den Kommunismus gelenkt. Immerhin ist die Erscheinung auffallend. Sie erklärt sich, wie schon Uhlhorn I, 265 ff. zeigt, teils aus der sehr verschlechterten wirtschaftlichen Lage, teils aus der von den späteren Vätern ausgebildeten und unten darzulegenden Lehre vom Ur­ stand, teils und vor allem aus dem Mönchtum, wie ja Chrysostomus selbst andeu­ tet: »So lebt man heute in den Klöstern, wie ehemals die (ierusalemischen) Gläu­ bigen lebten« (Brentano 158). Praktisch gab die Kirche dem auch nicht die ge­ ringste Folge, wie Harnack (Reden 43), Overbeck ,Sklaverei« 229 und Uhlhorn I, 293 hervorheben, eher das Gegenteil. Brentanos Darstellung entbehrt jeder Ver­ trautheit mit dem Geist der alten Kirche, will ja auch nur die Unbrauchbarkeit der altchristlichen Ideen für eine liberale kapitalistische Wirtschaftspolitik dartun, woran ohnedies nicht zu zweifeln war.

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men , wird er überall das soziologische Grundschema verändern, in dem sich Mensch zu Mensch empfindet. Soziale und politische Konsequenzen werden unvermeidlich sein und so oder so dem Bestehenden einen eigentümlichen Geist einhauchen. Auch ist von vorneherein klar , daß die Auseinandersetzung und Ausglei­ chung mit dem Politisch-Sozialen nichts weniger als leicht und einfach sein wird. Vor allem aber bedarf es, bis es dazu kom­ men kann, noch einer viel größeren Festigung und inneren Durch­ arbeitung des religiös-soziologischen Gedankens selbst , der im Evangelium nur wie ein strenges , aber wenig bestimmtes Ideal über dem Ernst der Bereitung für das bevorstehende Gottesreich erhaben schwebt , und den keine christlich-religiöse Organisation je später so hat übernehmen und fortführen können , wie er in heroischer Größe und kindlicher Unbefangenheit vom Evangelium gepredigt worden ist. Die Frage ist nur, ob dieser Gedanke im Christen-Evange­ lium völlig einzig auftritt, oder ob er nicht etwa verwandte Rich­ tungen neben sich hat. Eine solche ist nun unzweifelhaft vorhan­ den in der späteren, namentlich der r ö m i s c h e n S t o a , und ein Blick auf sie ist nicht bloß für die Analyse des Gedankens, son­ dern auch für das Verständnis der weiteren geschichtlichen Ent­ wickelung von hoher Bedeutung. Auch die stoische Lehre ist in erster Linie eine religiös-metaphysische Lehre , hervorgegangen aus dem religiösen Umbildungsprozeß der Spätantike, und auch bei ihr handelt es sich dann um eine von ihrem religiösen Gedanken­ zentrum ausgehende allgemeine soziologische Struktur. Auch von ihrem philosophischen Monotheismus geht eine der antiken Volks­ religion schlechthin entgegengesetzte religiöse Menschenbeziehung aus. Der Grundgedanke ist die Idee Gottes als des allgemeinen geistig-physischen Naturgesetzes, das alles einheitlich durchwaltet und als allgem eines Weltgesetz die Natur ordnet , die verschie­ denen Positionen des Einzelnen in Natur und Gesellschaft hervor­ bringt und im Menschen zum Gesetz der Gott erkennenden und darum mit Gott einigen Vernunft wird. So verlangt das N a t u r­ g e s e t z, ein Begriff, der dann auch in der christlichen Theologie zu einer außerordentlichen Rolle berufen war, einerseits die Fü­ gung in den harmonischen Gang der Natur und die dem einzelnen zugefallene Rolle innerhalb des sozialen Systems, andererseits die innere Erhebung über all das und die sittlich-religiöse Freiheit der mit Gott einigen und darum von keiner sinnlich-äußerlichen

Religiöse und soziologische Parallelbildung in der Stoa.

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Tatsächlichkeit zu störenden Vernunftwürde. Es ist die Aufgabe des Willens, dieses Naturgesetz zu erkennen und durch diese Erkenntnis die Bändigung des äußerlichen und sinnlichen Be­ gehrens wie die innere Hoheit und Reinheit des Willenseinklangs mit der göttlichen Weltregierung , die in Gott durch Erkenntnis geborgene Persönlichkeit, zu erarbeiten. Daraus ergibt sich auch hier ein prinzipieller Individualismus der religiös -ethischen Per­ sönlichkeitsidee und ebenso sein unumgängliches Korrelat , ein ebenso prinzipieller Universalismus , der alle Men schen zur glei­ chen Gotteserkenntnis berufen weiß und sie in gemeinsamer Hin­ gabe an das göttliche Naturgesetz ethisch verbindet. Es ist eine volle Analogie zu dem soziologischen Gedanken des Christentums. Auch fehlen die entsprechenden Rückwirkungen auf die sozialen Probleme nicht. Am deutlichsten sind sie auch hier an dem die­ sen Rückwirkungen zugänglichsten Punkte , bei der Familie und der Sexualethik. Die sittliche Freiheit und Gleichheit von Frauen, Kindern und Sklaven wird proklamiert auf Grund auch ihrer Be­ rufung zur Gotteserkenntnis, und, weil es sich in der Ehe um ein Verhältnis sittlicher Persönlichkeiten handelt , wird auch vom Manne die volle persönliche Hingabe an die Frau gefordert und damit die voreheliche und außereheliche Keuschheit. Auch der Sklavenbefreiung und Sklavenbehandlung werden von hier aus neue Wege gezeigt, Armenversorgung und Anfänge öffentlicher Liebestätigkeit organisiert. Ja, ein Sozialideal wird aufgerichtet, das für alle die sittliche Freiheit und Gleichheit fordert und ohne Zwang, Staat, Krieg und Recht in der Vollkommenheit der sitt­ lichen Gesinnung die Menschen in kommunistischer Leidlosigkeit leben läßt. An eine Verwirklichung dieses Ideals war freilich nicht zu denken. Es wurde von den Stoikern der goldenen Ur­ zeit zugeschrieben und als unwiederbringlich verloren betrachtet; erst ein neuer Weltlauf kann hier wieder von vorne anfangen. In seltsamem Gegensatz zu dem Grundgedanken der pantheisti­ schen Harmonie wird die Verwirklichung des Ideals nicht bloß als dem Willen der Menschen zugewiesen betrachtet , sondern auch als durch die Schwäche und Sünde verhindert; die Mensch­ heit ist gesunken und in der Gegenwart gibt es die Erhebung nur für den Einzelnen und im privaten Kreise. Nichtsdestoweni­ ger versucht man aber doch auch das tatsächliche Recht mög­ lichst diesen Humanitätsideen anzupassen. Die stoische Welt­ immanenz des Naturgesetzes, die umdeutende Annahme der Volks-

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religion , die Zugehörigkeit zur herrschenden Oberschicht ermög­ licht den Stoikern eine reformatorische Einwirkung auf die Welt, die dem christlichen Dualismus und seiner Ausschließlichkeit un­ möglich war. Die römischen Juristen der Kaiserzeit sind von ihren Ideen erfüllt und suchen sie mit dem positiven Recht aus­ zugleichen. Die Gesetzgebung hat daher jene Grundsätze viel­ fach in die Praxis übergeführt, und vor allem hat die Theorie der Juristen das positive Rechtsgesetz auf das allgemeine gött­ liche Naturgesetz zurückzuführen unternommen und aus dem Na­ turgesetz als besondere Anwendung die Idee des Natur r e c h t s be­ gründet, aus dem letztlich alle positiv-rechtlichen Ordnungen und damit Staat und Gesellschaft selbst hervorgehen oder dem sie doch möglichst sich anpassen sollten. Hier ist insbesondere Ci­ cero von höchster Bedeutung. Damit sind äußerst zukunftsreiche Begriffe geschaffen. Der kommunistische, dem Ideal oder Naturge­ setz entsprechende Urzustand und das wenigstens relativ dem Natur­ gesetz entsprechende oder entsprechen sollende positive Gesetz von Staat und Gesellschaft : das sind Begr,iffe , die der christ­ lichen Theologie später noch die wichtigsten Dienste leisten sollten. Die nahe Verwandtschaft dieser Gedanken mit dem Christen­ tum liegt auf der Hand, insbesondere da , wo, wie in der römi­ schen Stoa und besonders bei Seneca und Epiktet, das göttliche Weltgesetz die Züge einer gütigen Vorsehung und die religiöse Stimmung die Färbung einer persönlichen Gottesgemeinschaft an­ nimmt. Insbesondere nach der soziologischen Seite ist die Ueber­ einstimmung der Folgerungen aus diesem Gottesglauben, ganz ähnlich denjenigen, die Jesus zieht; und es ist begreiflich , daß Zöglinge stoischer Ethik im Christentum dann später die gesuchte philosophische Religion wie umgekehrt die Christen eine Entlehnung aus der Bibel oder einen Stützpunkt allgemeiner natürlicher Er­ kenntnis bei ihnen zu finden meinten. Bei Epiktet ist in der Tat eine Mitwirkung christlicher Einflüsse nicht ganz von der Hand zu weisen; bei Seneca verbindet sich mit der stoischen Weltregie­ rungslehre und Theodicee die dualistische Psychologie Platons und der Glaube an die Anähnlichung der Vernunft an Gott: und bei beiden mildert die Beobachtung des Lebens den stoi­ schen Rigorismus und die stoische Selbstgerechtigkeit durch Mit­ gefühl mit den Schwächen und Sünden der Menschen. Aber trotzdem liegen doch auch die Unterschiede klar zu Tage. Durch

Religiöse und soziologische Parallelbildung in der Stoa.

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allen Theismus schlägt immer der urwüchsige Pantheismus wieder durch, der keinen , der Welt und Sünde entgegengesetzten und aus ihr heraus zum Kampfe und zur Gemeinde führenden Got­ teswillen kennt; im Zusammenhang mit ihm werden die sittlichen Naturgesetze leicht auch zu utilitarischen Gesetzen der Weltord­ nung und die Gottverwandtschaft des Menschen zur Naturver­ wandtschaft. Schließlich ist bei der Eindeutung dieser Begriffe in die Volksreligion auch nach dieser Seite hin jede neue Reli­ gionsbildung ausgeschlossen und fehlt insbesondere jede Verkün­ digung eines kommenden Gottesreiches und der Welterneuerung, statt dessen die Blicke vielmehr nur auf ein für immer ver­ schwundenes goldenes Zeitalter gerichtet sind, das auch bei einer neuen Weltperiode sich nicht lange behaupten wird; die Einheit und Schönheit der pantheistisch verstandenen Welt wird eben durch die menschliche Schwäche nicht allzutief beeinträchtigt. Vor allem aber ist es der Glaube der Oberschicht, die bei aller Kon­ zentration auf innere Güter der Tugend doch an alle bestehenden In­ stitutionen gebunden bleibt und daher im stoischen Ideal nur die Aussonderung Einzelner zu hoher Bildung und sittlicher Erkenntnis sieht. Zugleich damit erhält sich in ihr der aristokratisch-selbst­ genügsame Geist einer nur eben aufgeklärten und ethisch ver­ tieften Herrenschicht. Das Christentum ist demgegenüber die Bewegung der unteren Schicht , die etwas völlig Neues wollen kann und in ihrem Mythos und ihrem Heros über ganz andere massenpsychologische Kräfte verfügt. Das eine ist das religiöse und ethische Korrelat des Weltreiches und die ethische Erhal­ tung und Reform des Bestehenden, das andere ist die geistige Re­ volution, die Schaffung eines neuen Gemeinschaftsgebildes und einer neuen Zukunft von unten her. Noch schärfer unterscheidet sich der Stoizismus dann aller­ dings von der paulinischen und kirchlichen Lehre, die mit ihrer Lehre von Sünde und Erlösung und ihrer Darbietung der Gnaden­ und Liebeshilfe durch die Wunderkräfte der Christus-Mystik Ideen in Bewegung setzt, die der stoischen Lehre ganz fremd sind, und ganz anders eine zukunftssichere Gemeinde aufzubauen im Stande sind. Selbständig geworden und in die gebildete Ober­ schicht eindringend wird aber diese Gemeinde dann die stoischen Gedanken für ihre Ethik und Soziologie immer stärker heran­ ziehen , je mehr sie ihr neues Sondergut auf die Basis allgemei­ ner wissenschaftlicher Erkenntnisse zu stellen dann für notwen-

I. Alte Kirche, 1 . Evangelium.

dig finden wird 32). Alles in allem handelt es sich bei Evangelium und Stoa und bei den weiteren verwandten, von der Forschung erst aufzuhel82) Vgl. Wendland; Zeller > Gesch. d. griech. Philos. « III3 1 und III8 2 ; Over­ beck ,Stellung der alten Kirche u. s. w. « ; Keim S. 31-55; 308-328; Bonhöffer »Die Ethik des Stoikers Epiktet « 189 4; Zahn »Der Stoiker Epiktet und sein Ver­ hältnis zum Christentum « 1895 ; Baur »Drei Abhandlungen zur Geschichte der alten Philosophie und ihres Verhältnisses zum Christentum « 1876; Jod!I, 584-587, 82-I08. Die universale Sozialethik gehört der Stoa allein an, und darauf beruht auch ihre außerordentliche im folgenden zu zeigende Bedeutung für das Christentum. Die vielfach nah verwandte k y n i s c h e Ethik und Diatribe berührt sich freilich auch nahe genug mit ihm, ist aber bei dem Mangel einer in der religiösen Idee der Gotteseinheit und der Gottesliebe begründeten Sozialethik nicht entfernt von der dauernden Bedeutung; sie wirkt mehr in der Richtung des reinen Individualismus, der Beschränkung auf innere Güter, der Askese. Von einer Bedeutung der anderen sozialethischen Großmächte der antiken Philosophenschulen ist in der alten Zeit des Christentums dann überhaupt nicht die Rede. Die a r i s t o t e 1 i s c h e Sozial­ philosophie mit ihrem bloß auf den staatsbildenden Vernunfttrieb beschränkten und keinerlei rechtliche Folgerungen aus ihm ableitenden Naturrecht, mit ihrem Haften am konkreten antiken Stadtstaat und ihrer bloßen philosophischen Regulierung des konkreten geschichtlichen Staates liegt auf Jahrhunderte dem christlichen Denken fern und ist später erst durch Einschmelzung in die stoische Idee vom Naturgesetz zu Bedeutung gekommen. Der seit dem zweiten Jahrhundert sich erneuernde P 1 a­ t o n i s m u s ist freilich von höchster Bedeutung für das christliche Denken, aber nur durch seine religiöse Mystik und dualistische Metaphysik, nicht durch seine Sozialphilosophie. Die ist beim echten Platon ebenfalls am Stadtstaat orientiert, spezifisch hellenisch und aristokratisch, und ihr Kommunismus ist nicht aus der Liebe zu Gott und in Gott, sondern aus dem Triebe der Idee zu ihrer einheitlichen Selbst­ darstellung motiviert, hat daher keine innere Verwandtschaft mit den christlichen Ideen des universalen Liebeskommunismus. Der neue Pythagoräismus und Platonismus hat im Unterschiede von dem patriotischen und sozialreformerischen Interesse des noch dem konkreten Griechentum zugewandten Plato ein alles überwiegendes religiöses Interesse in dem Sinne der Mystik, der Askese, des Unsterblichkeitsglaubens und der Sicherung des Seelenheils in innerer Wiedergeburt und Vergeistigung des Kultus, in dem dem Gläubigen göttliche Offenbarungen zuteil werden. Sozialethisch und po­ litisch finden sie sich mit dem Imperium ab, predigen eine Ethisierung der bestehen­ den Einrichtungen und allgemeines Wohlwollen, aber die eigentliche Spitze des Ge­ dankens ist nicht die einer im ethischen Gottesdienst geeinigten Menschheit, son­ dern die mystische, 5tark aristokratisch und intellektualistisch gedachte Kultgemein­ schaft. Der eigentliche N e u p 1 a t o n i s m u s vollends stellt die politischen und für die Antike damit immer eng zusamenhängenden sozial-ethischen Interessen über­ haupt zurück hinter die völlig subjektive, in der Ekstase gipfelnde Religiosität; sein Gottesbegriff enthält wohl Grundlagen der Mystik, aber keine der Sozialethik.

Gemeinsam. Gegensatz d, Christentums u. d. Stoa geg. naturalist. u. rechtl. Ethik.

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!enden Bildungen des späten Altertums um eine Wandelung der Lebenswerte und um ein neues Ideal des Menschentums, wie es aus der Zerbrechung der militaristischen und polytheistischen Na­ tional- und Eroberungsstaaten hervorgeht. Dem Monotheismus ent­ spricht die geschlossene Persönlichkeit und der universale Mensch­ heitsgedanke. Dem verinnerlichten Gottesglauben, der im Gegensatz zu den Staat, Recht, Krieg, Gesellschaft heiligenden polytheistischen Kulten emporsteigt, entspricht eine Menschheit der inneren Freiheit und der Gesinnungsgemeinschaft ohne Macht, Recht, Krieg und Gewalt. Die Art, wie hier und dort der neue Gedanke sich be­ gründet und durchsetzt, ist trotz aller Aehnlichkeit sehr verschie­ den, aber die Kräfte strömen doch zusammen und bauen gemein­ sam ein neues soziologisches und dann auch sozial-politisches Ideal auf, das bleibend seine innere Spannung gegen die rein innerweltlichen Lebensformationen, gegen die aus dem Kampf ums Dasein und dessen rechtlichen Milderungen entsprungenen Institu­ tionen, behält, auch nachdem sie ihre polytheistische Sanktion verloren haben. Die Gleichheit und Einigung aller im Besitz der Gottesvernunft dort, die Emporhebung und Verschmelzung der Seelen in der Gottesliebe hier, beides bedeutet ein auf reine reli­ giöse Gedanken begründetes Menschheitsideal, das von den alten naturalistischen oder die Naturtriebe nur einschränkenden und ausgleichenden Idealen durch eine tiefe Kluft getrennt ist und doch immer wieder zum Versuch einer Ueberwindung dieser Kluft genötigt ist. Beide verkürzen in ihrem Idealismus die NaDas ist wohl höchst bedeutend für die Theorie der religiösen Erkenntnis und für die Metaphysik, für das Mönchtum und für die Stellung der Kirche gegen die Welt, aber nicht für den Gedanken einer universalen Sozialethik. Daher beziehen sich auch alle späteren Annäherungen an die Politeia Platons nur auf das Verhältnis der Kirche zur Welt, der seelenleitenden Körperschaft zu den Laien, aber nicht auf die allgemeine Sozialethik des Christentums. Zeller III, 142 f., 146-189, 605. Von Dantes christlicher Sozialethik und Politik auf die sie bedingenden historischen Elemente zurückgehend kommt Voßler >Die göttliche Komödie« I, 2, 1907 zu ganz ähnlichen Ergebnissen, soweit die hellenistisch-römische Soziallehre und Ethik in Betracht kommt, - Ueber die außerordentliche Bedeutung Ciceros für die christ­ liche Ethik s. auch das ausgezeichnete Buch von Thamin, St. Ambroise et Ja mo­ rale chretienne au 4eme siecle 1895. •II est un de ses ancetres moraux et, a sa ma­ niere, lui aussi un pere de l'eglise« 172. Ders. über Seneca 178: Jeröme le compta donc au nombres des ecrivains ecclesiastiques, et pendant douze siecles ce fut une tradition incontestee. Merkwürdigerweise spielt Epiktet nicht entfernt die gleiche Rolle.

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I. Alte Kirche, 2. Paulus.

turbasis des Lebens und haben beide mit deren beständiger Wiedergeltendmachung zu tun. So arbeitet sich in beiden ein neues, an Spannungen und Schwierigkeiten reiches Ethos empor, das ein dauernder Besitz der europäischen Menschheitsbildung ge­ blieben ist, aber auch dauernd im· Kampfe steht gegen die rea­ listischen Forderungen der Naturtriebe, der materiellen Existenz­ bedürfnisse und gegen die politischrechtlichen Machtbildungen. Die Führung aber in dieser Herausbildung übernimmt in stei­ gendem Maße die Organisation, die aus dem Evangelium her­ vorwuchs s2a).

II. 2. Pa u 1 u s. Wie in allen Stücken , so bedeutet auch in unserer Frage die Organisation einer vom Judentum abgelösten, auf den Christus­ kult begründeten und für diesen Christus missionierenden Welt­ kirche eine wesentliche Aenderung des Gedankens. Der Grund­ vorgang , die Entstehung des mystischen Glaubens an die die Gemeinde erfüllende Gegenwart des himmlischen und auferstan­ denen Herrn und an die hiemit bewirkte Erlösung und Befreiung auch seiner ihm eingepflanzten Gläubigen vom sündigen bis­ herigen Weltlauf, all das kann hier auf sich beruhen 88); hier han­ delt es sich nur um seine soziologischen und sozialen Folgen. Diese sind beträchtlich genug. Die des Gottesreiches harrende und auf sein Kommen sich bereitende, freie und fließende Gemeinde der Jesus-Gläubigen wird durch den Glauben an Jesus als den Auferstandenen , durch die Deutung Jesu als Messias und im engen Zusammenhang damit als erlösenden göttlichen Weltprinzips, durch den neuen Christus­ kult und seine mystische Erlösungsidee, durch Taufe und Herrn32") Hierzu s. Weine!, ,Stellung des Urchristentums< S. 34 ff., 41. Aehnlich, nur mit der entgegengesetzten Parteinahme zeichnet Jod! die platonische, stoische, neuplatonische und christliche Ethik als metaphysische (d. h. religiös-monotheistische) und stellt alles übrige dem als empiristische und der Natur gerecht werdende Ethik gegenüber. 88) Vgl. Wrede ,Paulus«, 1905, Jülicher » Jesus und Paulus«, 1907, Wernle »Anfänge«. Die Einsicht, daß der entscheidende Vorgang des Urchristentums die Entstehung eines Christus-Kultus aus dem Christus-Glauben ist und daß erst damit eine neue Religionsgemeinschaft, weil ein neuer Kult, entsteht, verdanke ich meinem Freunde Deißmann. Ich setze hier nur die soziologischen Konsequenzen auseinander.

Die neue Kultgemeinde und ihre soziologische Wirkung.

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mahl als Mittel der Verpflanzung in den gegenwärtigen himm­ lischen Christus zu einer s e 1 b s t ä n d i g e n R e 1 i g i o n s­ g e m e i n s c h a f t , die wenigstens im Ideal streng geschlossen und einheitlich verbunden ist. Es ist ein neuer Kult. Die Kult­ gemeinde ist der Leib des Christus, in den man durch die Taufe eingepflanzt wird und durch den man im Herrnmahl gespeist und getränkt wird. Die genaueren historischen Anknüpfungen, in de­ nen sich dieser Gedanke einer neuen Kultgemeinde formt, wie weit dabei das Vorbild der Synagoge oder etwa auch Vorbilder der Mysterienkulte wirksam gewesen sein mögen, kann gleichfalls hier auf sich beruhen saa). Das Entscheidende ist, daß in dieser, wie immer historisch-genetisch zu verstehenden, Form ein selb­ ständiger, von den wesentlichen Tendenzen des Evangeliums er­ füllter Strom der Ideen und Kräfte entsteht, die dann auch Sy­ nagoge und Mysterienkulten gegenüber ihre eigene spezifische Dialektik entfalten. Dabei bleiben die Grundzüge der Ethik des Evangeliums bestehen, aber als Ethik einer Kultgemeinde empfangen sie eine neue Nuancierung. Die Herzensreinheit wird zur Heili­ gung mit einem starken Gegensatz der durch die Taufe in Christus eingepflanzten Gläubigen gegen die Welt, wobei aber immer noch alles einbegriffen bleiben kann, »was gerecht, heilig, liebenswürdig, ehrbar, etwa eine Tugend, etwa ein Lob ist«. Die Nächstenliebe wird zur Bruderliebe und zum Liebesprinzip überhaupt , dem Paulus sein berühmtes hohes Lied gesungen hat. Mit der Be­ tonung der Gemeinde scheint sogar das Liebesprinzip stark in den Vordergrund zu treten, und im Johannes-Evangelium ist die Liebe geradezu der einzige Inbegriff der christlichen Ethik. Allein das ist nur scheinbar, die Liebe ruht auf religiös-individualistischem Grunde , und der religiöse Individualismus ist und bleibt die Kernidee. Stärkere Veränderungen erfährt dagegen begreiflicher­ weise die s o z i o 1 o g i s c h e S t r u k t u r. Die sehr allgemeine Individualitätsidee und die sehr freie und bewegliche Gemein­ schaftsidee des Evangeliums bekommen eine starke Zuspitzung und eine empfindliche Verengung. Der soziologische Gedanke empfängt in dem alles durchwirkenden, mit dem Gottesgeist identischen Pneuma-Christus eine unermeßlich wirksame kultische V e r g e g e n83

a) Für das erstere vgl. K. Rieker »Staat und Kirche« in »Festschrift für Emil Friedberg« 1908, für das zweite A. Dieterich »Eine Mithrasliturgie« 1903. Diese ganzen Fragen sind noch sehr wenig geklärt.

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w ä r t i g u n g s e i n e s B e z i e h u n g smo m e n t e s , aber auch eine e n g e r e u n d d o g m a t i s c h g e b u n d e n e K n ü p f u n g d i e s e r B e z i e h u n g e n selbst. Der unendliche Wert des Indi­ viduums knüpft sich nun nicht bloss an die Selbstheiligung für den väterlichen Gotteswillen, sondern an das Sein und Leben in dem mystisch durch die Gemüter ausgegossenen, in Taufe und Herrn­ mahl wirkenden, das eigentliche höhere Leben in dem Gläubigen bildenden Christus , der freilich in seinem jetzt enthüllten himm­ lisch-pneumatischen Wesen nichts anderes ist als der erlösende, die Dämonen, Gesetz und Sünde bezwingende Gottesgeist selbst. Die Gotteskindschaft als Inbegriff des absoluten religiösen Indi­ vidualismus wird zum »Sein in Christo«. Ganz entsprechend wird dann auch die Gemeinschaft der Gotteskinder in der Bru­ derliebe zur Bruderschaft nicht in Gott , sondern in Christo; in der gemeinsamen Verbindung aller Gläubigen durch das Leben in der realen mystischen Lebenssubstanz des Christus werden sie zu Gliedern am Leibe Christi. Der Universalismus ferner, der in der Liebe die Gottesgesinnung an alle Welt offenbarte und durch solche Offenbarung weckte, bleibt dies nach innen, wird aber nach aussen zur Mission und Bekehrung, die vor der Wiederkunft Christi und dem Gericht die gesamte ohne Christus verlorene Welt aufnehmen will in die erlösende Anteilnahme an Tod und Auferstehung des Pneuma­ Christus und diese Bekehrung durch sehr viel verwickeltere Arbeit herbeiführt als durch das bloße Kundwerdenlassen der Liebe als der Gesinnung Gottes ; sehr natürlich, da es sich nicht mehr um eine Predigt an die die Voraussetzung teilenden Volksgenossen handelt, wie bei Jesus , und nicht mehr bloß um Gottes Willen und Gottes Reich , sondern um die Lehre vom Seelenheil in Christo. Mit dieser konkreten Fassung und der von da aus sich er­ gebenden geschlossenen praktischen Durchführung der soziologi­ schen Grundgedanken tritt nun aber eine weitere wichtige Eigen­ tümlichkeit hervor, die zwar im Evangelium durchaus begründet ist und auch von Jesus gelegentlich ausgesprochen ist, die aber erst bei der Bildung eines geschlossenen , seine Glieder gegen­ seitig auf sich anweisenden Kultkreises von Bedeutung wird. Es ist die dem christlichen religiös-soziologischen Gedanken eigen­ tümliche Fassung des G 1 e i c h h e i t s- u n d U n g 1 e i c h h e i t s­ p r o b 1 e m s. Jedes derartig zugleich individualistische und uni­ versalistische System enthält naturnotwendig irgendwie den Ge-

Die christliche Gleichheitsidee auf d, religiös-kultische Sphäre beschränkt.

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danken der Gleichheit, stellt alle Individuen auf den Boden eines gleichen Anspruches an den höchsten und letzten Lebenswerten oder doch einer gemeinsamen Berufung und Bestimmung für diese Werte. Das scheint mit dem Gedanken eines absoluten Wertes überhaupt gegeben. Aber da zeigt sich nun wieder so­ fort die eigentümliche Wirkung des religiösen Ausgangspunktes auf den ganzen soziologischen Gedanken. Wie der Individualis­ mus nur in Gott sich begründet und voliendet und wie der Uni­ versalismus nur in der von Gottes allumfassender Liebe aus­ gehenden Liebesrichtung auf den Nächsten begründet ist , so ist der hier eingeschlossene Gleichheitsgedanke rein auf die religiöse Sphäre beschränkt. Es ist eine Gleichheit rein vor Gott und in Gott, lediglich in der religiösen Beziehung auf Gott als den Mit­ telpunkt des Ganzen. Und zwar ist diese Gleichheit zunächst gar nicht eine Gleichheit des Anspruchs, sondern eine Gleichheit des Abstandes und Gegensatzes gegen die unendliche Heiligkeit Gottes. Indem für die Missionspredigt der Gedanke einer glei­ chen Bedürftigkeit aller nach der Erlösung in Christo beherr­ schend wird, tritt auch dieses erste und wichtigste Merkmal der Gleichheit hervor: in der gemeinsamen Sündhaftigkeit und Be­ dürftigkeit verschwinden Gott gegenüber alle Unterschiede der Menschen. Nicht vom gleichen Anspruch, sondern von der glei­ chen Unwürdigkeit aller geht die Nivellierung aus. Freilich ist nun dann aber diese sozusagen negative Gleichheit nur die Un­ terlage für die Hingebung an das in Christo, der Gemeinde und ihren Sakramenten gegebene Heil der Gnade, die dann ihrer­ seits wieder allen Gläubigen das absolute Heil mitteilt. Die aber Teil haben am Absoluten und Göttlichen, sind eben dadurch nun positiv im Besitz des Absoluten gleich, da es hier kein Mehr und kein Weniger gibt. Immerhin ist diese Gleichheit in der Gnade eine ganz eigentümliche Gleichheit. Sie ist auch hier nicht be­ gründet in einem naturgegebenen gleichen Anspruch, sondern in der Gnadenmitteilung der göttlichen Liebe, die überall , wo sie sich überhaupt mitteilt, nur ganz sich mitteilen kann , und die durch sich selbst ohne jede äußere soziale Veranstaltung und Sicht­ barmachung die prinzipielle Gleichheit mitteilt trotz aller Unter­ schiede in menschlicher Lebensstellung, in Begabung und in ethischer Leistung. Es ist eine Gleichheit, die daher nur in der gleichen An­ teilnahme aller am Kult zum Ausdruck kommt. Das Herrenmahl ist zugleich das Fest der Brüderlichkeit. Sklaven können Kultvor-

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steher sein. Ganz von selbst und rein innerlich teilt sich durch den Christuskult die Gleichheit mit, und es bedarf keiner andern Sicherstellung der Teilnahme aller am religiösen Heilsgut. Denn dies Gut ist die in sich einheitliche und in sich unendliche Liebe Gottes, die sich in keiner Mitteilung erschöpfen kann, die durch keine Teilung verringert werden kann und die sich immer als ein in sich wesentlich Einheitliches und Ganzes mitteilen muß 34). Ihre äußere Wirkung und Sichtbarmachung, ihre Organisation und Ver­ teilung besteht daher lediglich in der Gemeinsamkeit eines Kultus, der keine Unterschiede vor Gott kennt, und in der Liebe, die keine Ueberhebung kennt im Gefühl eigener Unwürdigkeit und die alles mitteilt im Gefühl, daß sie selbst alles erst empfangen hat. Hierbei bleibt nun aber ein für den Gleichheitsgedanken ganz außerordentlich wichtiger Punkt noch offen. Alle sind gleich in dem Abstand von Gott , und alle sind gleich vor Gott und in Gott durch den Besitz der Gnade. Haben aber nun auch alle Menschen Bestimmung und Anspruch , aus dieser Gleichheit des Abstandes zu der Gleichheit des Gnadenbesitzes erlöst zu wer­ den? Ist auch der Uebergang von der einen Gleichheit zur an­ deren Gleichheit selbst ein in gleicher Weise allen bestimmter und, da wo er nicht zustande kommt, lediglich in Wille und Schuld des Menschen, aber nicht in Wille und Wesen Gottes begründet? Es ist der wichtigste Punkt der Gleichheitsidee, und an ihm tritt im paulinischen Evangelium ein charakteristisches Schwanken ein, das für die ganze weitere Entwicklung von höchster Bedeu­ tung ist. Es sind die berühmten großen Probleme der P r ä d e­ s t i n a t i o n e i n e r s e i t s, d e s u n i v e r s a l e n g ö t t l i c h e n L i e b e s w i 11 e n s a n d e r e r s e i t s. Sie sind nicht bloß reli­ giös-dogmatische Probleme von einer außerordentlichen Schwierig­ keit geworden, sie sind vielmehr auf Jahrhunderte grundlegende Koeffizienten des soziologischen und damit auch des sozialen Denkens geworden. Dabei handelt es sich auch nicht etwa bloß um eine zufällige paulinische Lehre, die durch die Kanonisation der pau­ linischen Briefe dann ein historisches Schicksal der christlichen Ideen­ welt geworden wäre. Vielmehr ist die paulinische Lehre selbst nur eine Auswirkung des im ganzen Gottesgedanken des Evangeliums enthaltenen Willensmomentes, das im israelitischen Gottesgedanken 84) Vgl. Simmel »Die Religion« (Die Gesellschaft, Frankfurt, Bd. II) S. 47. Die kleine Schrift enthält viel Feines, aber auch viel Gesuchtes und Willkürliches über die Soziologie der Religion.

Der religiöse Gleichheitsanspruch durch die Prädestination beschränkt.

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stets besonders stark ausgeprägt war und ihm seine Gewalt der un­ endlichen, das Geschöpf überragenden Allmacht verliehen hatte. Auch als heilige und gütige Vaterliebe bleibt er der Wille, dessen Heiligkeit eine Setzung seines Willens ist und dessen Liebe eine Tat der grundlosen Gnade ist. Aber es ist auch nicht bloß eine Zufälligkeit des semitischen Gottesgedankens, der hier in Jesu und Pauli Predigt erhalten geblieben und nur noch nicht völlig in sittliches Gesetz und universale Liebe aufgelöst wäre. Man braucht nur an die weitere Geschichte des Gedankens und seine philoso­ phische Entfaltung von Augustin bis Descartes zu denken, um zu bemerken, daß darin ein wesentliches und grundlegendes religiö­ ses und metaphysisches Problem überhaupt enthalten ist , das in jedem von religiösen Gedanken ausgehenden soziologischen Denken dieses Problem wiederkehren muß. Ist Heiligkeit und Liebe Norm für Gott selbst oder gelten sie nur durch seinen grundlosen Willen? oder anders ausgedrückt: Sind Denkgesetze und Werte gültig durch sich selbst oder durch einen sie erst setzenden Willen? ist das Allgemeingültige gültig durch seine Allgemeinheit oder folgt seine Allgemeinheit aus Setzung durch einen selbst nicht unter Allgemeingültigkeit stehenden Willen? Es sind die Probleme des Intellektualismus und Voluntarismus, die am Ende aller Erkenntnistheorie und Metaphysik liegen und die aus jedem tieferen Durchdenken des Gottesbegriffes, aus der Dialektik des religiösen Gedankens , folgen 35). Paulus weiß nun freilich nichts von diesen weitgreifenden Gedanken, er denkt an die­ sem Punkte wie an so vielen anderen instinktiv und intuitiv; aber trotz seiner hilflosen, an die rabbinische Auslegungskunst sich klam­ mernden Argumentation findet seine religiöse Genialität den dem Ganzen entsprechenden Ausweg. Gottes Güte ist Gnade und grund­ lose Barmherzigkeit, gleicherweise inSchöpfung und Erlösung. Daher gibt es keinen Anspruch des Geschöpfes auf gleichen Anteil aller am Heil; es bleibt Gottes Sache , die einen zu berufen und die an­ deren nicht zu berufen, die einen länger in d.e, Irre zu belassen als die andern. Darin äußert sich der prädestinatianische Wille Gottes. Aber indem dieser Wille sich das Ziel der Gnade und Güte setzt, wird wohl die ungleiche Verteilung der Berufung sich nur auf die Verteilung der Geschicke im Zusammenhang der Heilsgeschichte beziehen , wird sie nur ein Früher oder Später, 85) Vgl. Kahl, Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustin, Duns Scotus und Descartes, 1886 und meinen Aufsatz >Prädestination« in •Christliche Welt« 1907.

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ein längeres oder kürzeres Preisgeben an Irrtum und Sünde be­ deuten und schließlich alle doch zu sich heranholen, bis Gott ist alles in allem. So legt er sich die Geschicke seines Volkes, die scheinbare Verwerfung Israels, zurecht. Es ist ein Ausweg. Ob dieser Ausweg eine Lösung des Probl ems ist, kann hier auf sich beruhen. Hier interessiert nur die außerordentliche Bedeutung dieser Ideen für die Soziologie des christlichen Gedankens, für die in ihm eingeschlossene Gleich­ heitsidee. Der p r ä d e s t i n a t i a n i s c h e G e d a n k e z e r­ b r i c h t d e n Ne rv d e r a b s o l u t e n u n d a b s t r a k t e n G I e i c h h e i t s i d e e , der gleichen Berufung aller zum höchsten Werte, des Anspruchs aller auf das höchste Ziel. Trotz der Gleich­ heit aller in ihrer sündigen Unwürdigkeit und in ihrem Gnadenbesitz ist doch die eigentliche Gleichheit an sich, der gleiche Anspruch aller auf gleiche Anteilnahme am höchsten Lebenswert durch gleiche Auswirkung der Berufung und Bestimmung, aufgehoben. Auch wenn im letzten Endziel schließlich der auf alle gerichtete Liebeswille Gottes sich verwirklicht, es bleibt in der Verteilung der Einzelnen auf den Weg zu diesem Ziele die unbegreifliche Willenssetzung Gottes, die es dem einen erleichtert, dem andern erschwert, die die einen lange fernhält und die andern rasch zum Ziele bringt. Bei aller Durchleuchtung der Welt mit einem absoluten religiös-ethi­ schen Wert, bleibt in ihr ein Moment des Irrationalen in der Betei­ ligung an diesem absoluten Wert, und dies Moment geht zurück auf den unergründlichen Willen Gottes. Das aber wirkt auf die soziologische Idee dahin , daß ein gleicher auf gleiche Weise zu verwi rklichender Anspruch aller an das Heil oder an das Abso­ lute nicht unbedingt besteht , daß man sich begnügen muß an der Gleichheit des Abstandes von Gott und an der Gleichheit in der L iebe zu Gott , wo überall die letztere Wurzel gefaßt hat. Alles übrige ist Gott anheimzustellen. Von Paulus her haben diese Gedanken überall die ganze Christenheit mehr oder minder klar durchwirkt , und es liegt auf der Hand, welcher starke Gegensatz dadurch für die christliche Gleichheitsidee gegenüber allen anderen im europäischen Kultur­ leben auftauchenden Gleichheitsideen gegeben ist. Vor allem ist es der Gegensatz gegen alle naturrechtlich-rationalistische Gleich­ heitsidee, die aus der Allgemeingültigkeit der Vernunft auch die Allgemeinheit der Vernunft und damit die Gleichheit aller in der Beteiligung an den Vernunftwerten fordert, in der Voraussetzung,

Anerkennung und religiöse Wertung der sozialen Ungleichheiten.

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daß um eben dieser Allgemeingiltigkeit der Vernunft willen auch in jedem die Möglichkeit zu ihrer Vollverwirklichung enthalten sei. Es wird aber auch verständlich, daß das Christentum bei aller radi­ kalen Gleichmachung der Menschen vor Gott, bei aller Hineinwir­ kung dieser Empfindung in das ganze Seelenleben und alle persön­ lichen Beziehungen der Menschen zu einander, doch weiterhin auch sehr zurückhaltend ist gegen jede Hineintragung dieser Gleichheit in die weltlichen Beziehungen und Ordnungen, die mit dem eigentlich religiösen Grunde dieser Gleichheit nichts zu tun haben. In den großen Differenzierungen des staatlichen und sozialen Lebens wird es geneigt sein, zunächst etwas dem religiösen Interesse Fremdes zu erblicken und es wird auch hier, soweit sie nicht offenkundig auf Sünde beruhen, die Tendenz haben, darin göttliche Ordnungen und Setzungen zu sehen, die ohne Frage nach ihren Gründen hinzunehmen sind. Es wird diese Neigung doppelt groß sein in einer Zeit, wo die religiöse Propaganda und Arbeit alles aufzehrt wie im Urchristentum, und in einer Lage, wo alle politischen und sozialen Verhältnisse für die allgemeine Empfindung unwandelbar fertig sind wie im römischen Kaiserreich , in einer Missionstätig­ keit, wo jeder Schein politischer Ungesetzlichkeit und Gefährlich­ keit sorgfältig vermieden werden muß. Das Christentum wird immer instinktiv sich ablehnend verhalten gegen alle Gleichheitsideen trotz seiner nahen Verwandtschaft mit ihnen, und es wird an diesem Punkt stets seine Hauptschwierig­ keit in der Ausdeutung des Begriffes der Gerechtigkeit Gottes haben, die als gleiche Bestimmung aller zum gleichen Zweck zu be­ zeichnen es genötigt sein wird, und die es doch wiederum in dieser Bedeutung nicht wird festhalten können. Hier liegt der Gegensatz gegen das rationalistische stoische Ideal, das wenigstens für den Urstand das Prinzip der abstrakten Gleichheit aus dem Vernunft­ besitz aller folgert. Andererseits aber ist es mit seiner Betonung gleicher Gebrechlichkeit aller und eines radikalen Abstandes aller von Gott, sowie mit seiner Zurückführung alles Heils auf den Gna­ denwillen Gottes weit entfernt von jeder prinzipiell aristokratischen Denkweise, von der Grundlehre der Herrschaft und des Vorzugs der Wenigen auf Grund natürlicher Anlagen und geschichtlicher Auslese. Es ist der von der religiösen Idee ausgehende sozio­ logische Gedanke eben ein völlig anderer in seiner Grundstruktur als der vom Rationalismus oder der vom Naturalismus ausgehende, so oft er sich nach beiden Seiten mit den anderen begegnet. Si T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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duo faciunt idem, non est idem. Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt , wo wiederum die Lehren des Paulus , aus dem Grundgedanken des Evangeliums schöpfend , gerade durch ihre Formulierung un­ endlich folgenreich und charakteristisch sind. Es handelt sich um die Ungleichheiten der Menschen in ihrem weltlichen Leben, wie sie teils durch Begabung und Anlage, teils durch soziale und politische Lage bedingt sind. Aus dem Bisherigen geht schon hervor , daß an eine Aufhebung dieser Ungleichheiten nicht ge­ dacht wird. Aber sie werden darum doch nicht rein negativ be­ handelt, sie werden p o s iti v a u f g e n o m m e n i n d e n s o z ia­ l o g i s c h e n G r u n d g e d a n k e n d e s We r t e s d e r P e r s ö n1 i c h k e i t und der unbedingten Liebesgemeinschaft, sie werden zu Quellpunkten eigentümlicher ethischer Werte gemacht. In die re­ ligiöse Gleichheit wird die irdische Ungleichheit hineingewirkt als ein Stoff, von dem die erstere einen besonderen Anlaß zur Betäti­ gung empfängt. Paulus benützt hier das bekannte antike Bild vom Organismus und dem Verhältnis seiner edleren und unedleren Glieder zu einander , aber er meint damit etwas anderes als eine bloße , organische« Sozialidee. Er macht dem religiösen Grundge­ danken entsprechend die Ungleichheiten zu Anregung und Stoff der Liebestätigkeit. Der gegenseitige Dienst aller an einander mit den von Gott gegebenen Gaben , die Ueberwindung des Bö­ sen mit Gutem und die Stärkung des Guten im Kampf gegen das Böse, die Hingebung und Unterordnung wie die Leitung und Fürsorge, die Rücksicht der Starken auf die Schwachen und die Hebung der Schwachen durch die Starken, all das begründet ein gegenseitiges Nehmen und Geben, in dem die christlichen Grund­ tugenden der Selbsthingebung und Demut wie der Liebe und Verantwortlichkeit für andere , überhaupt der ganze enge innere Zusammenhang eines in sich verbundenen und in allen Punkten sich gegenseitig bedingenden und durchdringenden Systems, zum Ausdruck kommt. Jede Arbeit und Leistung, auch die geringste, findet so ihre Ehre ; und jede Größe und jeder Besitz findet so seine Pflicht gegen andere; und alle Demut ist keine Selbstweg­ werfung wie auch alle Liebesleistung , Fürsorge und Autorität keine Ueberhebung ist , weil in diesem soziologischen System es nie bloß der Mensch mit dem Menschen, sondern stets das Gött­ liche im einen mit dem Göttlichen im anderen zu tun hat , weil sie alle in diesen Leistungen nur Haushalter Gottes sind und das,

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Typus des christlichen Patriarchalismus eröffnet.

was sie tun , nicht Menschen sondern Gott oder Christus tun. Daß hierin ein gewisser Quietismus enthalten ist , ist unleugbar; es ist nirgends von Verbesserumg der Lebensbedingungen , son­ dern nur von ihrem Ertragen und Fruchtbarmachen für inneren Gewinn die Rede. Doch wirkt in solchem Quietismus auch die Erwartung des Endes mit und ist bei dauernder Einrichtung in der Welt von hier aus dann auch eine durchgreifendere Reform möglich geworden. Auch bleibt in einem solchen System bei aller Fügung und Ergebung doch das Ziel , die gerade in die­ ser Nützung der Unterschiede zu erreichende Gleichheit der inneren Seelenwerte, und damit die zunächst nur verdeckte re­ volutionäre Kraft eines wenigstens in der Richtung auf das Ziel wirkenden Gleichheitsgedankens , der schwerlich verfehlen kann, auch schon auf die Selbstempfindung vor dem erreichten Ziel zurückzuwirken. In der Tat gibt es in Christo bereits jetzt kei­ nen Unterschied mehr von Nation und Rasse , von Sklave und Herr, von Arm und Reich , von Mann und Frau. Zugleich ist der Enthusiasmus noch groß genug, um an dieser inneren Gleich­ heit sich genügen zu lassen und um an die Möglichkeit einer Herstellung dieser Art von Gleichheit bei gutem Willen zu glau­ ben. Die realistische Frage , ob es nicht Arten und Grade des Pauperismus gebe, die auch zu solcher Gleichheit aufzusteigen unmöglich imstande sind und ob nicht erst eine äußere Hebung des Lebens notwendig sei , liegt dieser Ueberzeugung von der Allmacht des guten Willens noch fern. Damit ist nun aber wieder ein außerordentlich wichtiger so­ ziologischer Typus geschaffen. Es ist der auf religiöse Anerken­ nung und religiöse Ueberwindung der irdischen Ungleichheit zu­ gleich begründete T y p u s d e s c h r i s t l i c h en P a t r i ar c h a l i s­ m u s 35"), der seine Vorbereitung im spätjüdischen gehabt hat, aber durch die Wärme der christlichen Liebesidee, durch den Zusam­ menschluß aller in dem Leibe Christi, seine besondere Färbung erhält. Hier halte man den Jesus Sirach und die Paulusbriefe zu­ sammen, um Aehnlichkeit und Unterschied zu sehen. Seine volle Ausbildung hat er freilich erst im Mittelalter erhalten und damit auch einen spezifischen Charakter, wovon später noch die Rede sein muß. Jetzt hindert noch die Kompliziertheit und die weitgehende Atomisierung des spätantiken Lebens, vor allem der städtische Cha35 ") Diese Doppelbegründung und Doppelrichtung treffend charakterisiert bei F. J. Stahl »Der christliche Staat«, 1858, S. 11-13.

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rakter der Gemeinden und die relative Unbedeutendheit der sozialen Differenzen innerhalb der Gemeinden seine volle Ausbildung. Aber seine Grundidee der willigen Akzeptierung der gegebener Ungleich­ heiten und ihrer Fruchtbarmachung für die ethischen Werte der persönlichen Aufeinanderbeziehung ist gegeben. Alles Tun ist ein Gottesdienst und ein anvertrautes Amt, die Herrschaft wie der Ge­ horsam. Als Haushalter Gottes sorgen die Großen für die Kleinen und als Diener Gottes ordnen sich die Kleinen den Großen unter; und, indem so sich beide im Dienste Gottes begegnen, behauptet sich die innere religiöse Gleichheit und erweitert sich der ethische Besitz durch die zarten Tugenden der Haftung für andere und der ver­ trauensvollen Hingebung. Dieses Ideal schwebt unverkennbar dem Paulus vor, und nur durch dieses Ideal will er von innen heraus die gegebenen Verhältnisse geistig ändern, ohne sie äußerlich anzutasten. Derart erfährt nun aber der allgemeine soziologische Zusam­ menhang eine i n n e r e G l i e d e r u n g d u r c h U e b e r o r d­ n u n g e n u n d U n t e r o r d n u n g e n , wie sie in keinem sozio­ logischen System ausbleiben können 55b). Der radikale Individua­ lismus und Universalismus ist an sich gliederungslos, er umschließt lauter gleiche, weil unendlich wertvolle Persönlichkeiten und um­ faßt alle mit gleicher, weil ins Zentrum der Seele dringender Stärke. Wie das System bei praktischer Verwirklichung nicht einfach bei jenen hohen Idealen verharren kann, sondern im Pneuma-Christus eine es zusammenhaltende Autorität, eine Festlegung seiner Grund­ gedanken und ein anschaulich-suggestiv wirkendes persönliches Ur­ bild hervorbrachte, so machen sich zwischen den beiden Polen des Individualismus und Universalismus auch die natürlichen Differen­ zierungen geltend, wie sie verschiedene Anlagen, Stellungen und Leistungen innerhalb des Ganzen, aber auch das Hereinragen der von andern Verhältnissen her bereits bewirkten Differenzierungen mit sich bringen. Aber diese Differenzierungen treten in inneren Zusammenhang mit dem religiösen Gemeinschaftsgedanken selbst, indem sie zu Mitteln der Entwickelung gerade religiös-ethischer Werte gemacht werden, indem sie die religiös motivierte Solidari­ tät, Gesamtverantwortlichkeit und Fürsorge gegenüber den jeweils Untergeordneten und die religiös motivierte Hingebung , Liebe und Gehorsamspflicht gegenüber den jeweils Uebergeordneten be35•) Vgl. die schon genannte Abhandlung von Simmel >Soziologie der Ueber­ und Unterordnung« (Archiv, Band XXIV, 1907), sowie meine Abhandlung >Poli­ tische Ethik und Christentum< 1904.

Stellung zu den sozialen Bildungen: Familie, Staat, Gesellschaft.

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haupten. So entsteht eine beständige Bewegung und mit ihr selbst doch eine Ausgleichung aller Bewegung und Unterschied­ lichkeit in dem allen gemeinsamen göttlichen Leben , ein sozio­ logischer Typus , der nur auf religiöser Grundlage möglich ist, weil nur hier das Zurückgehen von jeder individuellen Verschie­ denheit auf den sie hervorbringenden und zum Organ seiner Ein­ heitszwecke machenden göttlichen Willen möglich ist. Die Indi­ viduen gehen nicht bloß mit einem Teil ihres Wesens auf das Ganze ein, wie das sonst in soziologischen Systemen der Fall ist; sondern weil sie ganz und gar, auch mit ihren Besonderheiten, von dem einheitlichen göttlichen Willen gewollt sind , gehen sie gerade mit dem Ganzen und Besonderen ihres Wesens und ihrer Lage in das Gesamtleben ein und löschen es hier nicht aus, son­ dern machen es zu Mitteln spezifischer ethischer Werte , zu Mit­ teln gerade der Herstellung des Ganzen. Damit sind wir von dem allgemeinen religiös-soziologischen Gedanken schon auf die s o z i a l e n Probleme geführt 35•). Der sozio­ logische Gedanke will sie von innen heraus bei äußerer Beibehal­ tung ihrer Form geistig verwandeln. Aber bei dieser bloß inne­ ren Wandelung kann es nicht bleiben. Indem die Gemeinden einen eigenen Kult- und Lebenskreis zu bilden anfangen, müssen sie auch ä u ß e r l i c h gegen Staat und Gesellschaft sich abgrenzen und müssen sie im eigenen Innern, soweit es in ihrer Macht steht, bei sich selbst die sozialen Verhältnisse ordnen. Das geschieht denn auch bei Paulus, und der Zukunft werden von ihm auch in die­ ser Hinsicht die wichtigsten Richtlinien gezeigt , die gegenüber dem Evangelium neu sind und die wenigstens für die alte Kirche den nächsten Weg bestimmen, die aber durch die Kanonisierung der Paulusbriefe auch für spätere Zeit eine vielfache dogmatische Wirkung haben. Die Kindlichkeit, Weite und Höhe des Evan­ geliums zieht sich schon jetzt ins Konkrete und Praktische, und der herbe Radikalismus weicht schon jetzt den Kompromissen mit einer von der Welt geforderten Verständigkeit. Immer aber bleibt bei aller Verständigkeit doch der moderne Gedanke fern, daß gerade der Aufbau einer geistig-sittlichen Welt einen entspre­ chenden Unterbau der materiellen und sozialen Verhältnisse er­ fordere. Es sind nur äußere Anpassungen, nicht innere Verbin­ dungen. Die Ideologie des guten Willens fühlt sich für mehr als 850) Vgl. auch hier Jacoby ,Neutestamentliche Ethikc und Weinel, •Stellung des Urchristentumsc.

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ein Jahrstausend allmächtig, völlig autonom und selbstgenügsam. Wo die Naturbasis sich nicht gutwillig fügt und einpaßt, wird sie zerbrochen von der Entsagung. Das positive Verhältnis zu den sozialen Bildungen bleibt lediglich ein Aufsuchen der von selbst sich darbietenden Berührungspunkte. So wurde die Beiseitesetzung des S t a a t e s für eine in das geordnete Weltreich übergehende Propaganda ebenso unmöglich wie der Liebeskommunismus für ausgedehnte Gemeinwesen und Vereine, die der Ordnung und der Einpassung in das allgemeine Leben bedurften. In der Tat hat die paulinische Weltkirche im Gegensatze zu revolutionären Folgerungen , wie sie die Apoka­ lypse zeigt , den Staat nicht bloß als von Gott zugelassen aner­ kannt, sondern geradezu als eine wenigstens für Recht, Ordnung und äußere Sittlichkeit sorgende Anstalt geschätzt. Er greift hier bereits nach der stoischen Lehre vom angeborenen Sittengesetz und schreibt auch den Heiden eine Erkenntnis des Guten zu, die in ihrem Staat und ihrem Recht zum Ausdruck kommt. Das Imperium trägt das Schwert mit Gottes Willen und aus Gottes Ordnung. Mit der staatlichen Ordnung wird aber auch die ganze, untrennbar ihr zugehörige g e s e 11 s c h a f t 1 i c h e O r d n u n g , die Verteilung von Besitz und Stand, die ganze soziale Organisation anerkannt. Zwar sollen die Christen die staatlichen Rechtsbehör­ den nicht benützen 35d) und sollen sie von allen mit dem Heiden­ tum befleckenden Gewerben und Berufen sich zurückhalten, auch eine mit dem heidnischen Kult in Berührung bringende Gesellig­ keit vermeiden. Aber im ganzen sollen die Christen die bestehen­ den Ordnungen achten und sie zum Guten wenden, da ihr Staat und ihre Gesellschaft ja überhaupt nicht auf Erden sondern im Himmel ist. Sie sollen sich als gute und fleißige Bürger erwei­ sen und vor allem jeder selbst das Nötige erwerben um der Ord­ nung willen und als Voraussetzung der Mildtätigkeit. Darin kommt auch der Umstand zum Ausdruck , daß die religiöse Gemeinde nicht mehr den einfachen ländlichen Boden Galiläas mit der orien­ talischen Bedürfnislosigkeit und losen Rechtsordnung, sondern den der städtischen Welt von Sklaven und Kleinbürgern mit der ver­ wickelteren Wirtschaft und der strengeren Rechtsordnung unter den as•) Paulus verweist die streitenden Christen auf die Entscheidung vor der Gemeinde oder vor Schiedsrichtern, womit Anfänge eines eigenen Gemeinderechtes gegeben sind und der Verzicht der Bergpredigt auf das Rechtsuchen überhaupt charakteristisch vergessen ist. H. Weine!, Stellung des Urchristentums, S. 32, 36.

Stellung zu den sozialen Bildungen: Familie, Staat, Gesellschaft.

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Füßen hat 86). Die Begrenzung auf solche städtische Verhältnisse nötigt die ethischen Ideen ganz von selbst zur Anpassung an diese Lage und läßt die radikale Art der Anwendung und Veranschau­ lichung in der Bergpredigt ganz von selbst zurücktreten. Selbst­ verständlich ist das konservative Verhältnis auch zur F a m i l i e , die die Voraussetzung dieses ganzen geordneten Lebens ist. Die Ehe wird als das Bild für den wichtigsten Grundgedanken des Paulus, für die Einheit des Christus und seiner Gemeinde verwendet. Der vorgefundene Patriarchalismus mit der Vorherrschaft des Mannes wird als Naturordnung hingenommen und die Unterordnung unter sie ethisch gefordert, dafür aber aufs Schärfste auch vom Mann die geschlechtliche Reinheit vor der Ehe und die monogamische Treue verlangt nebst der persönlichen Gemütshingebung an Gat­ tin und Kind; die beiden letzteren wie auch der Sklave sind religiös und sittlich dem Manne und dem Freien gleichgestellt, was faktisch, wenn auch nicht rechtlich die ganze Praxis des Fa­ milienlebens vertieft und verinnerlicht. Den Fragen der Mischehe wird bereits eine gleichfalls sehr vorsichtige und die Aufrecht­ erhaltung der Ehe möglichst wahrende Behandlung zuteil. Wenn Paulus persönlich hierbei seine Bedenken gegen das Geschlechts­ leben nicht unterdrückt und mindestens die möglichste Einschrän­ kung fordert, um in der Geschlechtsleidenschaft keinen zu starken Wettbewerber gegen die Herrschaft des religiösen Interesses zu finden , so hat das mit der Schätzung der Familie als sozialer Institution nichts zu tun; es ist die begreifliche asketische Konse­ quenz eines alles beherrschenden religiösen Interesses , die dann freilich folgenreich genug werden sollte und der edleren Konse­ quenz des christlichen Gedankens, der Verpersönlichung, Indivi­ dualisierung und Verinnigung der Familie, noch schwere Anfech36) Die Bemerkung Kautskys ist richtig, daß ein Kommunismus mit Beibehaltung des Privateigentums notwendig sofort den Konsequenzen des Privateigentums wieder erliegt. Darin liegt wohl der eigentliche Grund des Verschwindens des urchristlichen Kommunismus. Weiter aber kommt hinzu, was Kautsky bei seiner Auffassung des Christentums als Proletarier-Sozialismus nicht sehen kann, die konservativ-religiöse Haltung, die mit der Weltordnung naturgemäß auch die Besitzordnung als deren integrierenden Bestandteil akzeptiert und daher auch durch die Ablehnung aller Revolution zur Aufgebung des Kommunismus genötigt ist. Ein solcher wäre ja nur durchführbar gewesen, wenn er sehr viel weiter ging als in der Urzeit und das Privateigentum überhaupt beseitigte, Daran aber dachte niemand , denn es hätte eine neue Ordnung und eine totale Revolution bedeutet,

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tungen bereiten sollte. So ist von dieser Lehre des Paulus her der k o n s e r v a t i v e C h a r a k t e r des Christentums gegenüber allem politisch-sozialen We­ sen auf lange Zeit hinaus entschieden. Es ist die merkwürdige Erscheinung , daß das an sich völlig radikale und revolutionäre Prinzip des unbedingten Individualismus und Universalismus doch eine so durchaus sozialkonservative Haltung einnimmt. Freilich ist trotz alledem seine r e v o I u t i o n ä r e Wirkung tatsächlich nicht ausge­ blieben. Die konservative Haltung beruhte eben nicht auf Liebe und Schätzung für die Institutionen, sondern auf einer Mischung von Verachtung, Ergebung und relativer Anerkennung. Es hat da­ mit trotz aller Unterwürfigkeit den römischen Staat zerstört, in­ dem es die Seelen seinen Idealen entfremdete , und es wirkt zerstörend auf jeden reinen Nationalismus wie auf jede rein ir­ dische Autorität überhaupt. Aber indem sein Individualismus und sein Universalismus von der religiösen Idee ausgeht und auf religiöse Werte sich bezieht, ist ihm eine solche konservative Haltung durchaus möglich. Es scheinen in der Tat zweierlei soziale Konsequenzen in ihm zu liegen, entweder der idealistische Anarchismus und der Liebes­ kommunismus, die mit radikaler Gleichgiltigkeit oder mit Abneigung gegen die sonstigen Ordnungen der Welt im kleinen Kreise die Liebesidee verwirklichen, oder die sozialkonservative Ausbildung einer in Gottes Ordnung und Willen sich fügenden Haltung gegen­ über der Welt mit starker Selbständigkeit der nach innen ihre eige­ nen Angelegenheiten ordnenden Gemeinde, die bei wachsendem Umfang die Ordnungen der Welt nicht ignorieren kann, sondern sie tunlichst für ihre Aufgaben benützen muß. Von dem ersten Ideal gehen stets von neuem sozial-radikale Pläne für kleinere oder größere Kreise aus, von dem zweiten stets von neuem die konser­ vativen Prinzipien des Duldens und Leidens in der Welt, deren Ord­ nungen durch Gottes Zulassung sind, deren Möglichkeiten die Chri­ sten für ihre Zwecke benützen und deren Bestand sie gewähren lassen, weil sie innerlich an ihm unbeteiligt sind. Die dritte Mög­ lichkeit, die sozialen Ordnungen positiv als Unterlagen und Vor­ formen der Erreichung des höchsten religiös-ethischen Zieles zu gestalten, liegt noch völlig außerhalb des Gesichtskreises der alten Christenheit. Sie denkt noch nicht daran , die geistig ethischen Werte in kontinuier�ichem Zusammenhang mit und in Abhängig­ keit von der Naturbasis des Lebens zu verstehen. Daran denkt auch das ganze Mittelalter noch nicht, und daran denkt auch die

Konservative und revolutionäre Elemente im Christentum.

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religiös-metaphysische Ethik der Antike nicht; nur die empirische Ethik des Aristoteles achtet auf diese Zusammenhänge. Aus die­ sem Grunde vor allem wird auch das ganze Problem der Wirt­ schaft und des Besitzes wesentlich vom Standpunkt der Konsum­ tion her betrachtet und dem entsprechend wesentlich im Sinne der Genügsamkeit reguliert. Daß Reichtum und Besitz ein Mittel unbegrenzter Produktivkraft und damit der Beschaffung einer ge­ sunden Lebensbasis für eine steigende Bevölkerungsmenge seien, das sind Gedanken, die überhaupt erst im Zusammenhang mit der Einsicht in die Abhängigkeit ethisch-geistiger Werte von der sozialen und wirtschaftlichen Organisation der modernen Welt eigentümlich sind; diese hat dann ja auch nicht verfehlt, von dem ideologischen Extrem zum geschichtsmaterialistischen überzugehen, und für sie ist das Verhältnis beider Kausalitäten doch auch noch heute ein schwieriges Problem. Tritt aber derart die Abhängig­ keit des ideologischen Ueberbaus von den wirtschaftlichen Ver­ hältnissen zurück, so stellt sich auch Staat und Recht in einem sehr viel loseren Verhältnis zu den Lebensgrundlagen dar und erscheinen wesentlich nur als Wächter des Friedens, der öffent­ lichen Ordnung und der Zucht. Indem der Staat zugleich die religiös­ polytheistische Weihe verliert , tritt er damit überhaupt natur­ gemäß in dem ethischen Interesse zurück und kommt nur mit seinen äußerlichsten und oberflächlichsten Funktionen für das christliche Interesse in Betracht. So ist es den paulinischen Ge­ meinden und dem Urchristentum möglich gewesen, eine sozial­ konservative Stellung einzunehmen und doch dabei innerlich von dem ganzen sozialen Leben tief geschieden zu bleiben, in die Verhältnisse sich duldend zu fügen und sie klug zu benützen, und doch ihnen ein völlig neues, ganz andersartiges Gemeindeleben entgegenzusetzen. Die Stellung, wie sie hier schon an der Schwelle der großen Zukunftsentwickelung der Paulinismus vorschreibt, ist Anerkennung und Benützung der sozialen Bildungen als nicht ohne Gottes Willen geworden und ein Element des Guten ent­ haltend, zugleich aber innere Ablehnung und Unabhängigkeit ge­ gen sie als zur untergehenden Welt gehörend und überall mit dem Heidentum durchflochten. Damit ist wohl ein positives Ver­ hältnis angedeutet, das weiterer Entwickelung fähig ist und eine solche auch, wie sich zeigen wird, in der alten Kirche zunehmend hervorgebracht hat, das aber auch bei einer unvergleichlich viel stärkeren Ausbreitung der christlichen Gemeinden niemals zu

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einem Programm der Sozialreform oder etwa gar einer christlichen Kultur werden konnte. Wo etwas derartiges später geschehen sollte, mußten ganz neue Verhältnisse und Gedanken ins Spiel treten. Die sozial-konservative Wendung des Gedankens, die für uns vor allem durch die Briefe des Paulus dokumentiert ist und durch die Aufnahme dieser Briefe in den Kanon dann zu einer dauern­ den autoritativen Wirkung kam, enthält derart doch zugleich die radikalen Elemente der christlichen Idee, die rein auf die innere Erneuerung, die religiöse Persönlichkeit und die Gemeinschaft der Persönlichkeiten untereinander, damit zugleich auf ein jenseitiges Ziel der ethisch-religiösen Vollendung gehen und daher die innerwelt­ lichen Lebensorganisationen zu benützbaren Stützpunkten, aber doch nur zu duldenden und innerlich fremden Provisorien macht. So ist in klassischer und für lange Zeit maßgebender Weise das konservative und revolutionäre Element in der christlichen Idee vereinigt und wird eines durch das andere begrenzt; und diese Wen­ dung ist keineswegs nur durch die Erwartung der Weltverwan­ delung bewirkt, wenn auch durch sie begünstigt; sie bleibt auch bei dem völligen Zurücktreten der Enderwartung im ganzen Alter­ tum, ja sie reicht bis in das Mittelalter und den Protestantismus hinein. Es ist daher schon hier an der Schwelle der ganzen ge­ schichtlichen Entwickelung die Frage zu erheben, ob d i e s e V e r­ b in d u n g dem inneren Wesen der christlichen Idee entspricht oder eine Zufälligkeit der persönlichen Stellungnahme des Paulus und der Bedürfnisse der ältesten Gemeinden ist, ob darin ein für alle christlichen Soziallehren wesentlicher Zug aus der christlichen Idee selbst herausgebildet ist, der schon von hier aus die zukünf­ tigen Entwickelungen erleuchtet. Die beiden entgegengesetzten sozialen Konsequenzen, von denen oben gesprochen wurde, sind dann vielleicht nicht zwei nebeneinanderliegende, gleich mögliche Anwendungen, sondern sie gehören in Wahrheit vielleicht zusam­ men und vereinigen sich in dem von hier ab ausgebildeten Grund­ gedanken selbst. Das wird um so wahrscheinlicher, wenn man be­ denkt, daß einerseits der Liebeskommunismus der kleinen Urgemeinde doch im übrigen die Welt ruhig bestehen lassen will und daß der apokalyptische Fanatismus doch nicht eine politische oder soziale Reform, sondern den Haß gegen die Heiden und die Hoffnung auf das Wunder ausdrückt, daß andrerseits der paulinische Sozial­ konservatismus doch auch von sich aus kein inneres Interesse an

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den Werten und Ordnungen der Welt in sich trägt, sondern sie nur als Gottes Setzung und Zulassung duldet und benützt. So sehr beide Konsequenzen auch manchmal auseinandergehen mö­ gen, sie könnten vielleicht doch in einem inneren Zusammen­ hang und für das Große und Ganze zu einer einheitlichen Ent­ wickelungslinie sich verbinden 11 0a). 88") Als dies niedergeschrieben war, kam mir Harnacks lehrreiche Besprechung meines ersten Stückes in den Preuß. Jahrb.März 1908 zur Hand. Ueber das augen­ blickliche Problem dieses zweiten Stückes findet sich dort die Bemerkung : »Einer­ seits schwebt eine Art von »Liebeskommunismus« über der sich ausgestaltenden Entwickelung der Gemeinde, der sich aus dem Radikalismus der Gottes- und Nächstenliebe von selbst ergab, andrerseits konnte nicht leicht daran gedacht wer­ den, diesen Liebeskommunismus tatsächlich zu verwirklichen, oder es mußte doch die Verwirklichung sofort wieder aufgehoben werden. Man war nicht dafür dispo­ niert, an den Zuständen überhaupt zu ändern. Die Folge war, daß das geschah, was in der stumpfen Welt doch das einzig Fördernde ist, - man schickte sich, ohne es zu wissen und zu wollen (?), zu einer langsamen Umbildung im Rahmen des Gegebenen an oder vielmehr zu einer allgemeinen Versittlichung der Verhält­ nisse. Naturgemäß kam das zuerst der Familie zu gut, dann dem Verkehr in Handel, Wandel und Geselligkeit, in Treu und Glauben, in Reinheit und Frieden, in Unterstützung und Hilfe . . . Alles ist freilich a u f d i e G e m e i n d e n i n i h r e m i n n e r e n V e r h ä I t n i s u n t e r s i c h b e s c h r ä n k t , aber diese Gemeinden wurden immer größer und daneben fehlen doch auch Beispiele der Fürsorge für Andersgläubige nicht. Der gewonnene Zustand war in sozialer Hin­ sicht - auf die Aktionsfähigkeit gesehen - der denkbar günstigste: über den Gemeinden als Ideal der Liebeskommunismus schwebend, stark genug, um sie nicht einschlafen zu lassen, aber vie_l zu hoch um - unbedeutende Ausnahmen abge­ rechnet - zur Verwirklichung zu verführen; in den Gemeinden selbst kräftige sittliche Forderungen zur Heiligung des privaten Lebens, der Ehe, der Familie und des gesamten Verkehrs, aber angeschlossen an die wirklichen Zustände. Die neue Religion war von Anfang an oder wurde sehr bald in der Heidenkirche eine in Bezug auf die sozialen Zustände konservative Macht. . . . Sie hatte und brachte neben der Ideologie ihres schwebenden Liebeskommunismus überhaupt kein ihr eigentümliches soziales Programm •.. , sondern nur eine in ihren Wirkungen zwei­ schneidige, absolute Autorität, ferner Verbesserungen, Versittlichungen, Verinner­ lichungen und eine tatsächliche Hilfeleistung, die wahrscheinlich alles hinter sich ließ, was ähnliches im Reiche vorhanden war.« S. 457 f. Das ist natürlich alles richtig. Aber einmal scheint mir dabei die Fremdheit des neuen Ganzen gegen die Welt und deren ideeller Grund doch unterschätzt zu sein , andererseits glaube ich, daß in diesem geschichtlichen Sachverhalt doch tiefere prinzipielle Konse­ quenzen und Untergründe enthalten sind, die der besonderen Formulierung bedürfen. Die »langsame Umbildung im Rahmen des Gegebenen« enthält eine eigentümliche

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Man wird, wie ich glaube, ohne Gefahr einer allzu gewalt­ tätigen Konstruktion, in der Tat sagen dürfen, daß die paulinische Wendung des Gedankens in Bezug auf die sozialen Dinge dem Geist und Sinne des Evangeliums entspricht und die klassische Zusammenfassung der Grundtendenzen in dieser Hinsicht darstellt bis zu dem Beginne des modernen Lebens. Eine religiöse Lehre, die, wie der christliche Monotheismus, die Religion aus allen In­ vestierungen in gegebenen Verhältnissen und Ordnungen heraus­ zieht und sie rein zu einem ethischen Erlösungsglauben heraus­ differenziert und verselbständigt, wird allem Gegebenen gegenüber den Radikalismus eines ethischen und universalen Ideals besitzen und äußern. Aber sie wird andererseits gerade als religiöser Glaube, der die ganze Welt und ihren Lauf trotz Teufel und Dä­ monen von Gott geleitet glaubt, als Ergebung in den prädestinie­ renden und Unterschiede setzenden göttlichen Willen, niemals prinzipiell revolutionär sein können. Sie wird insofern den ge­ gebenen sozialen Ordnungen und Institutionen, den Machtverhält­ nissen und Unterschieden gegenüber immer einen konservativen Zug der Fügung und Ergebung haben. Eine prinzipiell revolu­ tionäre Neigung wird nur auf dem Boden des abstrakten Ratio­ nalismus möglich sein , der vom Subjekt und seiner allgemein­ giltigen Vernunfteinsicht her das Rationelle herstellt und das Gött­ liche nur in der Allgemeinheit der Vernunfteinsicht anerkennt, aber nicht im irrationalen Lauf der vom Subjekt nicht beherrsch­ baren Dinge. Daher ist auch erst der moderne Rationalismus der Boden einer prinzipiell revolutionären Theorie und Praxis, des Aufbaus der Gesellschaft auf Forderungen der Vernunft 36h). AnOpposition gegen das Gegebene verbunden mit einer eigentümlichen Akzeptierung und stellt damit gleich am Anfang das Problem des Verhältnisses der revolutionären und der konservativen Elemente in der christlichen Idee, ein Problem, das in ihrer ganzen Geschichte immer wieder kehrt. 86b) Ueber das letztere s. Jak. Burkhardts Lehre über die weltgeschichtlichen Krisen und Revolutionen und den besonderen Charakter der modernen Krisen: >Weltgeschichtliche Betrachtungen«, 1905, S. 132-137, 193 f., 198, 200, 128. Ueber den relativ konservativen Charakter der christlichen Ethik s. meine ,Politische Ethik und Christentum«, 1904, wo dann freilich auch die Gegenseite betont ist. Die Beobachtung der beiden Tendenzen auch bei F. J. Stahl, der unter allen Um­ ständen ein scharfsinniger, heute noch lehrreicher Denker ist. Vgl. ,Der christliche Staate S. 8: >Die christliche Gesinnung, jene Einigung von Pietät, Demut, Hin­ gebung mit Freiheit, Unabhängigkeit, Offenheit, der aller knechtische Sinn fremd

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dererseits aber wird jene christliche Ergebung und Fügung doch im­ mer ihre Grenzen haben an den Werten des Innenlebens, an der reli­ giös-ethischen Idealwelt und der ihr dienenden kirchlichen Organisa­ tion. Sie wird bald durch gleichgiltige Zurückziehung des In­ teresses vom Gegebenen, bald durch Unterwerfung des Gegebenen unter die allein giltigen Maßstäbe ihrer Ideale und unter ihre transszendenten Werte zerstörend, auflösend, neubildend wirken und hierbei ohne prinzipiellen Willen zur Revolution doch tat­ sächlich die stärksten Wandelungen bewirken und die tiefsten Eingriffe wagen 36•). Eine rein und unbedingt konservative Soziallehre wird daher niemals aus ihm entstehen können. Monotheismus, Universalismus, Erlösungsglaube und ethisch-persönliche Innerlichist«. Ihre Ausgleichung ist ihm daher die konstitutionelle Monarchie; >eben das, wenn gleich in minder vollkommener Form, muß auch das Grundverhältnis einer echten Repu­ blik bilden«, >Auch historisch ist die Institution des konstitutionellen Staates ebenso wie diese politische Gesinnung aus dem Christentum hervorgegangen. Von der katholischen Kirche haben die germanischen Völker . . die erhabene, geheiligte Autorität, die Obrigkeit, die von Gott ist, empfangen, und der christlich-religiösen Bewegung der englischen Puritanier und Independenten entstammt der Gedanke der Freiheit und Selbstherrschaft des christlichen Volkes«. 86 0) Diese notwendige revolutionäre Wirkung der universalistisch-transszen­ denten religiösen Idee gegenüber allem Gegebenen in Staat, Gesellschaft und Kultur kommt in unseren Kirchengeschichten nicht genügend zum Ausdruck. Auch hier bewährt die äußerst gedankenreiche, oben erwähnte Phänomenologie der Geschichte von J. Burkhardt ihren scharfen Blick. Die Lehre von den sechs gegenseitigen Bedingtheiten des Staates, der Religion und der Kultur gegeneinander ist eine Fundgrube treffender Beobachtungen. Ueber den revolutionären Charakter des Christentums und der Universalreligion überhaupt s. S. 137-145. >Juden und Urchristentum bauten eben die Gesellschaft auf die Religion wie der Islam• S. 138. Dadurch kamen sie in schärfsten Konflikt mit der auf dem Staat aufgebauten Kultur. Daß der radikale Gegensatz auch heute noch fortdauert, wo viele nur mit Burkhardt die >Komplizität« der religiös-kirchlichen Mächte mit den durch den abstrakten Rationalismus und die freie Kulturbewegung bedrohten Staaten und konservativen Machtinteressen sehen, zeigt jeder Blick auf die fortdauernden Kämpfe der römischen Kirche mit dem Staat und der modernen Kultur, in denen nicht bloß reaktionäre Motive oder zentralistische Bedürfnisse stecken, der Zusammenstoß des religiösen Kosmopolitismus und der Friedensbewegung mit den politischen Interessen, der Gegensatz der ethischen Politik und ihres >Humanitätsdusels« gegen die Prinzipienlosigkeit der Real- und Machtpolitik , der Verdacht revolutionärer Neigungen, in den jede christliche Sozialpolitik bei den Konservativen kommt, das häufige Eingreifen sozialethischer Forderungen in politische Programme von seiten der Gemeinden und Geistlichen in den kalvinistischen Ländern.

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keit enthalten einen Radikalismus und ein Einheitsstreben, die stets bloß gegebene Verhältnisse vergleichgiltigen oder aufheben und über allen nationalen und sonstigen Lebenseinheiten auf eine ideale religiöse, geistig-innerliche Lebenseinheit dringen werden. Allerdings hat nun außerdem das Christentum unverkenn­ bar einen Zug zu verhältnismäßig e i n f a c h e n a 11 g e m e i n e n L e b e n s v e r h ä l t n i s s e n , in denen der unmittelbare Ver­ kehr mit den Gottesgaben der Natur den Erwerb und die Lebens­ möglichkeit bestimmt, die Anhänglichkeits- und Dankbarkeits­ gefühle gegenüber den göttlichen Naturgaben lebendig hält, zu den kleinen, persönlich verbundenen Kreisen und Korporationen, in denen noch nicht die rechtliche und wirtschaftliche Formalisie­ rung, Entpersönlichung und abstrakte Organisation des Gesamtlebens die rein persönlichen Beziehungen und die Entscheidungen von Fall zu Fall zurückdrängt. Aber das ist ein neuer, mit dem bisheri­ gen noch nicht erklärten Zug des Christentums und hat an sich nichts mit dem Konservatismus des Christentums zu tun, son­ dern hat seinen Grund darin, daß eine so ganz auf das Persön­ liche gestellte und überall so radikal die innerliche Gesinnung betonende, zugleich das Recht durch Liebe und Vertrauen er­ setzende Moral viel leichter in jenen einfacheren Lebensverhält­ nissen ausführbar ist als in den komplizierten einer rechtlich, po­ litisch und wirtschaftlich formalisierten und abstrakt gemachten, vor allem auf Recht und unpersönlichen Institutionen und Not­ wendigkeiten beruhenden Kultur. Darin liegt schon der Grund, weshalb in der alten Kirche die kleinbürgerlichen und mittelstän­ dischen Kreise, in denen etwas von jener primitiveren Vertrauens­ und Gruppenmoral erhalten geblieben ist , sich leichter be­ wegt und ausbildet als in den Oberschichten. Die paulinischen Gemeinden sind überhaupt nur als kleine Gemeinden und als ab­ liegend von dem großen rechtlichen Treiben des Massenstaates denkbar. Darin liegen aber auch weiter die Gründe, weshalb die spätere Geschichte im Hochmittelalter wie im Luthertum diese einfacheren Verhältnisse festzuhalten versucht. Mit einer sozial­ konservativen Haltung hat das nur insofern zu tun, als hieraus sich ein Drängen auf einfache Verhältnisse ergibt, das mit der Konser­ vierung älterer und unentwickelterer Verhältnisse unter Umständen zusammentrifft. Der Sinn davon ist aber dann in diesem Falle nicht die Ergebung und Fügung in das Gegebene, sondern die Aufsuchung derjenigen allgemeinen Verhältnisse, in denen die Befolgung der

Zug des Christentums zu bestimmten Kulturformen,

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evangelischen Moral sich leichter und mit weniger Kompromissen durchführen läßt. Diesem Zwecke dient ja auch ein großer Teil des späteren Mönchtums - freilich nicht das Mönchtum überhaupt und an und für sich -, indem es im kleinen Kreise, in einfacher Naturbezogenheit, in persönlicher Behandlung aller Verhältnisse und in Besitzlosigkeit das durchführt, was in dem großen Treiben der verwickelten sozialen Welt nicht oder nur eingeschränkt durch­ führbar ist 86 d). 36d) Hierzu vergl. das äußerst geistvolle Buch von Simmel >Die Philosophie des Geldes« 2, 1908, das die geistig-ethischen Korrelate der Naturalwirtschaft und die der Geldwirtschaft gegeneinander überaus lehrreich kontrastiert und mir für diese Zusammenhänge gerade auch bei den verschiedenen Formationen und Krisen der christlichen Ethik die Augen geöffnet hat. Es erscheint mir von größter Wich­ tigkeit, daß dieser Zug der christlichen Ethik zu den einfacheren nicht formalisierten Lebensverhältnissen von der in den neueren Zeiten eingetretenen Komplizität kirch­ licher und politisch-sozial-konservativer Interessen unterschieden wird. Der Kon­ servatismus der alten Kirche und des Mittelalters hatte mit diesem Zuge nichts zu tun, da er gerade nicht etwa solche Verhältnisse zu konservieren trachtete, sondern nur die Fügung und Ergebung in die gegebenen, von Gott geschaffenen und nach ihrer Art in der Sünde begründeten Machtverhältnisse war. Der Konservatismus der modernen Kirchen aber richtet sich auf Konservierung politisch-sozialer Macht­ verhältnisse, die ihrerseits durchaus nicht ohne weiteres mit jenen patriarchalisch­ persönlichen Lebensformen zusammenfallen , ja in der heutigen kapitalistischen Großindustrie und in den kapitalistischen landwirtschaftlichen Großbetrieben mit Saisonarbeitern aus aller Herren Ländern gar nicht mehr zusammenfallen können, Es ist das Bedenklichste an der heutigen ,Christlichkeit« konservativer Sozialethik, daß sie diesen letzteren Umstand beharrlich sich und anderen verbirgt. Da­ gegen ist es wohl in der Sache begründet, wenn bäuerliche und handwerkliche Politik sich auf die ethischen Maßstäbe des patriarchalisch verstandenen Christen­ tums berufen; das ist dann aber durchaus nicht identisch mit dem konservativen Prinzip der Unterordnung unter die von Gott geschaffenen oder zugelassenen Machtverhältnisse und Autoritäten. Auch Stahl wagte jenen Trieb zu den ein­ facheren patriarchalischen Zuständen nicht ohne weiteres für den politisch-sozialen Konservatismus in Anspruch zu nehmen , sondern nur für » die konservative Richtung im lautersten Sinn, die keinen gezeitigten Fortschritt ausschließt«, der Konservatismus habe ethisches Recht nur auf dieser Grundlage, S. 16. - Auf die Fortdauer der primitiveren und persönlicheren Gruppenmoral in den mittel­ ständischen Klassen, in denen die alte Kirche vor allem sich ausbreitete, be­ sonders in den auf persönliche Aushilfe und Sichvertragen angewiesenen Hetärieen und Eranoi des Altertums, weist Max Weber mich gesprächsweise hin. Die alten Christengemeinden sind ihnen analog und bewegen sich teilweise in ihren Lebens­ formen, was längst anerkannt ist. Als Aeusserung dieses Geistes bezeichnet er die

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Der so aus dem Sachverhalt zu erschließenden, inneren Auf­ einanderbeziehung konservativer und revolutionärer Elemente, von denen die Paulusbriefe die ersten betonen, ohne die zweiten zu verleugnen, entspricht auch die kommende Geschichte. Das Christentum ist in der Tat bei aller konservativen Haltung ein Prinzip der ungeheuersten geistigen und, seit Zusammenschluß seiner kirchlich-theokratischen Kräfte, auch der materiellen, recht­ lichen und institutionellen Revolution geworden. Es hat den antiken Geist und Staat zertrümmert ; es hat in der gregoriani­ schen Revolution das Landeskirchenrecht und die Staats- und Volksrechte zerstört; es hat in der Reformation die Kirche revo­ lutioniert und neue politisch-kirchliche Formen geschaffen; aber es hat in alledem doch stets das Gegebene entweder geduldet und nur innerlich ausgehöhlt, oder in relativ konservativer Haltung gestützt und vergöttlicht. Prinzipiell revolutionär ist es nur ge­ worden, wo sein Ideal, das in gleich zu zeigenden Vorgängen mit dem stoischen Naturrecht sich verschmolz, die Christianisie­ rung und Einschränkung seines Naturrechts durchbrach und dessen rationalistische Konsequenzen sich zu eigen machte. Umgekehrt ist es prinzipiell konservativ nur geworden, wo seine religiöse Sanktionierung des Gegebenen rein im politischen Klasseninteresse verwendet wurde unter Verdunkelung oder Beseitigung seines ethischen Radikalismus. Dabei beruht diese Aufeinanderbeziehung der konservativen und radikalen Elemente charakteristisch gerade auf dem bisher stets betonten Umstande, daß eine innere Verbindung und Kon­ tinuität zwischen den allgemeinen politisch-wirtschaftlich-sozialen Zuständen und den Werten des persönlich-religiösen Lebens nicht gesucht und nicht gefunden wird, daß der Radikalismus der Ideo­ logie alles von innen heraus mit Gesinnung und Willen oder von außen her mit Gesetz und Forderung machen will und daher die Begründung des Verbotes des Zinsnehmens von Glaubens- und Vereinsgenossen mit charakteristischer Berufung auf das jüdische analoge Gesetz. Das entspreche einem allgemeinen soziologischen Tatbestand, daß im eigenen Stamm, Gemeinde oder Verein die persönlichen Billigkeits- und Rücksichtsgründe entscheiden, während dem Fremden gegenüber solche Rücksichten wegfallen und entweder Uebervorteilung oder abstrakter Rechtsstandpunkt eintritt, Indem die Christen diese Regel sich aneignen, zeigen sie, wie eng die Möglichkeit der Betätigung ihrer Moralität mit derartig mehr primitiven , die persönliche Wertung und Verbundenheit zur Grundlage machenden Verhältnissen zusammenhängt.

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Ausblick in die weitere Entwickelung.

Substruktionen der geistig-ethischen Welt teils sich selbst überläßt, teils geradezu ablehnt, in beiden Fällen aber als göttliche Ein­ setzung oder Fügung in der sündigen Welt toleriert und dadurch konserviert. Alle Reform und alle Heilung der Verhältnisse geht daher auf in Liebestätigkeit, die den Personen hilft und die Zu­ stände bestehen läßt und daher nur in kleinen übersichtlichen Kreisen und bei relativ erträglichen allgemeinen wirtschaftlichen Zuständen zu ihrem Ziel gelangen kann 86•). Mit diesem Prinzip des bloßen Nebeneinanders der gegebenen Zustände und der idealen Forderung und das heißt dann auch mit dieser Verbindung des 380) Das ist der Unterschied zwischen Carität und Sozialpolitik. Daher weist auch Uhlhorn in seiner ,Geschichte der Liebestätigkeit« beim Altertum und Mittel­ alter immer wieder darauf hin , es habe der Gedanke der ,Prophylaxe« gefehlt. Aber er hebt nicht hervor, was dieses Fehlen und dann das Eintreten des Ge­ dankens für einen prinzipiellen Unterschied in der geistigen Gesamtverfassung be­ deutet. Er bedeutet die Herstellung einer inneren Beziehung zwischen den all­ gemeinen Z u s t ä n d e n und den p e r s ö n 1 i c h e t h i s c h e n Werten, damit eine Wertung der allgemeinen Zustände , der sowohl eine andere Auffassung vom Zusammenhang des Geistigen und Materiellen als auch eine Rehabilitierung des Natürlichen gegen seine Versenkung in die Gleichgültigkeit und Verderbtheit des Erbsündenbereiches. Dahinter liegt im Grunde eine andere Auffassung des Ver­ hältnisses von Gott und Welt, von Natur und Geist, von Allgemein-Zuständlichem und Persönlich-Individuellem. Eben deshalb muß ich auch Harnack (Preuss. Jahrbb. 1908 S. 455 f.) gegenüber meine Bestreitung des Satzes festhalten: » Wo der Christ klar erkennt, daß ein wirtschaftlicher Z u s t a n d zur Notlage für d i e Menschen geworden ist, da soll er nach Abhilfe suchen; denn er ist ein Jünger dessen, der ein Heiland war«. Die Beispiele, die Harnack dagegen anführt, sind Beispiele der Liebestätig­ keit, die mit Zuständen gar nichts zu tun haben, und ich kann es nur für eine Be­ stätigung meines Satzes halten, wenn H. am Schlusse sagt: »das Auge des Christen sieht immer nur P e r s o n e n , die unter wirtschaftlichen Zuständen leiden; ihnen aber soll geholfen werden«. Gewiß, aber ein solches Auge sieht dann eben auch keine Probleme der Sozialreform, sondern das Bild der sündigen Welt, in der der Christ teils mit konservativer Ergebung in ihre Verhältnisse , teils mit ethisch - radikalem Widerspruch , teils mit aufopfernder Liebestätigkeit sich einrichtet. Gewiß ist die auf die Person gehende, mit den religiösen Kräften motivierte und verbündete Liebes­ tätigkeit bei der Ueberfülle menschlichen Leidens und bei den seelischen Bedürf­ nissen des Menschen eine unentbehrliche und unersetzlich große Sache; aber aus ihr allein entsteht keine Soziallehre, keine Sozialreform und keine Sozialpolitik. Um es dazu zu bringen, muß noch anderes hinzukommen. Das allein wollte ich sagen. Die allgemeinen Einwendungen gegen meine Auffassung des Liebesgebotes Jesu finde ich dagegen allerdings teilweise überzeugend und werden mich zu neuen Formu­ lierungen veranlassen. T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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Konservativen und Radikalen bricht erst der Calvinismus, der die modernen wirtschaftlichen Erwerbsformen und das moderne poli­ tische Leben als Voraussetzung der Emporentwickelung eines heiligen Gemeinwesens, eines christlich-sozialen Ganzen anerkennt und ein Auge gewinnt für die materielle , äußerliche und zuständ­ liche Bedingtheit der geistigen Werte. Daher entwickelt auch der Calvinismus eine radikale, die allgemeinen Zustände politisch und wirtschaftlich formende Konsequenz, die hier Stück für Stück den alten christlichen Konservatismus und seine Passivität überwindet, ohne daß damit die gerade hier stark ausgeprägte prädestinatianisch­ voluntaristische Gottesidee aufgehört hatte, zur Anerkennung und ethischen Nützung der naturgesetzten Differenzen im Sinne des Paulus zu wirken 86�. Auf diesem Wege gefolgt sind dann dem Calvinismus die Sozialtheorien und Sozialpolitik der modernen Kon­ fessionen, denen überall die modernen Verhältnisse und die mo­ derne theoretisch- sozialwissenschaftliche, ökonomische und poli­ tische Einsicht die Anerkennung aufgenötigt hat, daß die ethisch­ religiösen Werte der christlichen Persönlichkeits- und Liebesidee an allgemeine Voraussetzungen des ökonomisch - rechtlich - poli­ tischen Unterbaus genau so gebunden sind, wie alle sonstigen geistig-ethischen Werte überhaupt. Die ungeheure Tragweite , die die erste Zusammenziehung und Formung der soziologischen Ideen und sozialen Stellung­ nahmen des Evangeliums in der ältesten Heidenkirche in sich birgt, nötigte hier vom Paulinismus aus bereits soweit die Blicke in die Zukunft schweifen zu lassen. Aber damit ist allerdings der kommenden Darstellung weit vorgegriffen, und die Größe des hier sich zeigenden Bildes bringt erst recht den Kontrast in Er­ innerung , in dem sich die kleinen paulinischen Gemeinden zu diesen Zukunftswirkungen befinden. Noch fehlt ihnen nicht bloß die Größe und Bedeutung , sondern auch die volle Klarheit des Prinzips und die Geschlossenheit des Organismus, aus der heraus allein erst die Klarheit des Prinzips und die Beziehung auf Gegen­ sätze und Umgebung sich herstellen kann. Sie sind vor allem zunächst noch damit beschäftigt , die sozialrevolutionäre und die sozialkonservative Tendenz gegen einander, die radikale, jenseitig zugespitzte Heiligungs- und Liebesethik gegen die natürlichen ssr) Hierfür sei vorläufig nur verwiesen auf Choisy, >La theocratie a Geneve au temps de Calvin« und L'etat chretien calviniste a Geneve au temps de Theodore de Beze o, J,

Der Ausbau des soziologischen Systems.

Forderungen des gesellschaftlichen Daseins , abzugrenzen und in dieser Abgrenzung vor allem das Leben der Gemeinde selbst auszubauen, wozu die bisher erreichte Festigung und Formung des eigenen soziologischen Prinzips der Gemeinde durch den Glauben an den mystisch gegenwärtigen Christus und den von ihm aus­ gegossenen Geist nicht genügte. 3. D e r F r ü h k a t h o l i z i s m u s. Die soziologische Idee im Sinne Jesu hatte ihren Ausgangs­ punkt und ihren Rückhalt in dem Gottesglauben, wie er aus der jüdischen Bibel und dem jüdischen Volksleben heraus durch die Verkündigung des Reiches accentuiert und beleuchtet wurde, und in der Verkörperung durch die Persönlichkeit Jesu selbst. Als aber seiner inneren Konsequenz gemäß dieser Glaube sich von der alten Volks- und Kultzusammengehörigkeit löste und Jesus von seinen Anhängern geschieden war, da bedurfte es eines Er­ satzes für diesen Rückhalt, eines selbständigen Zentrums der Or­ ganisation und einer gegenwärtigen Verkörperung des Beziehungs­ momentes, aus dem jener Individualismus und Universalismus immer neu hervorgehen und indem er sein, ihn bei der religiösen Grund­ lage festhaltendes, Maß immer wieder finden konnte. Oder viel­ mehr nur weil ein solcher Haltpunkt sich darbot, konnte es zur Entfaltung und dauernden Behauptung jener Konsequenzen kom­ men. Dieser Haltpunkt war der Glaube an den erhöhten, gegen­ wärtigen, alles durchdringenden Pneuma-Christus. Dieser Glaube ist die organisierende Kraft der neuen Gemeinde : er schafft den einzigen neuen Glaubensartikel als den Glauben an den mit dem Gottesgeist identischen Christus ; er schafft den neuen Kultus, durch den allein von einer neuen Religionsgemeinde die Rede sein konnte, die Anbetung Gottes in Christus, die Einpflanzung durch die Taufe in den Christus und die Speisung und Tränkung durch den erhöhten Christus ; er schafft die neue Ethik als einen Zusammen­ schluß der Christusgläubigen gegen die Welt und als ein Sterben und Auferstehen des sündigen weltsinnigen Menschen mit dem Christus zu dem neuen Leben im Geist, d. h. in der Selbstheili­ gung für Gott und in der Bruderliebe. Dabei ist Dogma, Kult und Ethik noch frei beweglich und einfach, flüssig und unfaßbar w ie der ganze Gedanke des Erhöhten selbst, der die historischen Schranken von sich abgestreift hat und aus dem frei und beweg1 ich gewordenen Bilde die mannigfaltigsten neuen Anwendungen 6*

L Alte Kirche, 3. Frühkatholizismus.

und Deutungen auszustrahlen vermag. Seine eigentlichste Wir­ kung sind daher auch die enthusiastischen Geistwirkungen, die über gewöhnliches Menschenvermögen hinauszugehen scheinenden Leistungen der religiösen Erregung und Andacht, der theologischen Deutung und Schriftgelehrsamkeit, der missionarischen Tätigkeit und der organisatorischen Kunst, der Liebe und des Opfers, der Selbstüberwindung und Charakterveränderung. All das bedeutet für die antike und populäre Wunderpsychologie ebensoviel Wunder. Der Pneuma-Christus ist die objektive Gegenwart des sozio­ logischen Beziehungsmomentes. Daß alle Theologie von da aus auf die Frage nach der Identität und trotzdem bei;tehenden Ver­ schiedenheit des Pneuma-Christus und Gottes gewiesen war , ver­ steht sich dann von selbst. So wurde die Lehre vom Vater und vom Logos zum ersten Fundamentaldogma, woraus sich dann in hier nicht zu erörternden Zusammenhängen schliesslich das Trini­ tätsdogma ergab. Aber ebenso ist auch leicht einzusehen, daß dieser unfaßbare Pneuma-Christus und die Geisterscheinungen auf die Dauer nicht genügen konnten als Verkörperung und Gegen­ wart des soziologischen Beziehungsmomentes. Der enthusiastische Geistesglaube bedrohte durch schwärmerische Verworrenheit ebenso wie durch die unausbleibliche Ermattung den mit ihm verbundenen Christusglauben; und andererseits war die Verkörperung des Got­ tesgedankens in dieser Christusmystik durch die Konkurrenz und Aehnlichkeit der synkretistischen Kulte und Spekulationen der Ueberwucherung und Verflüchtigung um so mehr ausgesetzt, als er selbst nur durch theologische Deutungen zu Stande gekom­ men war, die mit diesen Kultideen bereits mannigfach verwandt gewesen zu sein scheinen, als er weder an der jüdischen Bibel noch an den Evangelienerzählungen eine hinreichend feste Fixie­ rung seines eigentümlichen religiösen Gehalts besaß. Gerade das soziologische Bedürfnis verlangte eine stärkere Festlegung, eine gegenständlichere Anschauung, eine praktisch vollziehbare Ab­ grenzung, eine zusammenhängendere Durchsichtigkeit, eine folge­ richtigere Deutungssicherheit für das soziologische Beziehungsmo­ ment. Aus diesem Bedürfnis vor allem entstand das eigentümliche christliche P r i e s t e r t u m , d e r E p i s k o p a t , in engem Zu­ sammenhang mit der neuen christlichen Bibel oder dem neuen Tes­ tament, der Heraushebung einer echten durch die Bischöfe ge­ sicherten Tradition und dem Ausbau der Sakramentsidee, die die Wunderwirkung in den neuen Kultakten festlegte und den Vollzug

Das christliche Priestertum als Mittel des Ausbaus.

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des Sakramentes nur in der rechtmäßigen Gemeinde und nur in der Hand des ordnungsmäßigen Klerus wirksam sein ließ. Es ist die Herausbildung des Frühkatholizismus, der zweiten großen Fortbil­ dung des Evangeliums nach dem Paulinismus. Wie weit darin auch hier, und hier ganz besonders, Entlehnungen und Angleichungen an jüdische und heidnische Institutionen stattgefunden haben, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Die Hauptsache ist, daß irgend etwas Derartiges durch das soziologische Bedürfnis in der Tat gefordert war und daß in diesem Hauptinteresse trotz allem die Kontinuität deutlich erkennbar ist. Der Episkopat ist die Eingrenzung des Geistesbesitzes, der Fortleitung der wunderbaren Kräfte, der Au­ torität und des Sakramentsvollzugs auf das von den Organisations­ bedürfnissen emporgetragene Gemeindeamt, das durch die tatsäch­ liche Autorität der Ueberlieferung und des Zusammenhanges mit den ersten Gründern eine solche Heraushebung auch in der Tat nahe legte. Er ist die Ersetzung und Materialisierung des erhöhten • Christus und des Geistes, er ist der Nachfolger Christi und der Apo­ stel, der Träger des Geistes, die Verlängerung oder Verewigung der Menschwerdung, die Sichtbar- und Faßbarmachung der göttlichen Wahrheit und Kraft, die konkrete Gegenwart des soziologischen Beziehungsmomentes 37). Er wirkt auf das Christusbild auch dem­ entsprechend zurück, indem er aus der Menschwerdung des frei wirkenden Geistes den Christus zum ersten Priester und Liturgen, zur Quelle priesterlicher Gnadenkräfte, macht 38). Dabei ist auch hier an dieser ganzen Entwicklung deutlich, wie die treibende Kraft der Organisation und ganzen Entwickelung der religiöse Gedanke und nicht etwa ein Gedanke sozialer Hilfstätigkeit ist. Das der Liebes­ tätigkeit gewidmete Amt, das Diakonenamt, steht unter dem Bi­ schofsamt zum deutlichen Zeichen dafür, daß auch alle Liebes­ tätigkeit nur ein Ausfluß des religiösen Gedankens ist und in seinem Dienste steht 39). Die episkopale Sakraments- und Traditionskirche 37) Das ist einer der Hauptgedanken des berühmten und lehrreichen Buches von Loisy, ,L'evangile et l'eglise«, 1902. 38) Höchst interessant dargelegt auf Grund der Kultustheologie von Thalhofer, Handbuch der katholischen Liturgik 2, 1894. 89) Der Idee nach ist diese Anstalt der Hilfeleistung von Anfang an der Ausfluß der supranaturalen Idee des Christusleibes oder der Ecclesia, die in der Gegenwart Christi und im Geist überall die objektiven anstaltlichen Merkmale trägt, wie Sohm, >Kirchenrecht« 1 1892 S. 20 richtig ausführt. Gerade von der Geld-­ opferung heißt es in einer von Sohm zitierten Stelle aus De aleatoribus: pecuniam

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ist daher das zweite Fundamentaldogma geworden. Das ist nun freilich eine weitere ganz außerordentliche Ver­ engung des ursprünglichen soziologischen Gedankens eines absoluten religiösen Individualismus und Universalismus. Die religiöse Gemein­ schaft ist nun nicht mehr bloß an die Christusanbetung, die Taufe und das Herrnmahl gebunden, sondern an die Gemeinde, den Bischof, die Tradition und die vom rechtmäßigen Bischof ausgeübte sakra­ mentale Gnadenmitteilung. Allein schon bei Jesus war doch jene Idee nicht lediglich getragen von einer rein autonomen Gotteserkennt­ nis, sondern von einer autoritativen Ueberlieferung und von seiner eigenen Autorität. Der Episkopat ist nur die Umwandelung jener autoritativen Träger in Mächte, welche auch zur wirklichen Or­ ganisation und Ausbreitung des soziologischen Gedankens fähig sind, indem sie seinen Ausgangspunkt und seine Grundlage, die Gottesidee und Gotteskraft, festlegen in dem Amt und im Sakra­ ment. Eben deshalb ist dieses neue christliche Priestertum doch auch e i n e g a n z e i g e n t'ü m l i c h e Erscheinung. Seine Autorität beruht ausdrücklich nicht auf dem Menschen im Priester, sondern auf dem durch Tradition und Weihe ihm einwohnenden Göttlichen; nur soweit sein Handeln aus dieser Quelle fließt, ist es ein gött­ liches; soweit es ein menschliches ist, hat es keine andere als zu­ fällige und Zweckmäßigkeitsgeltung. Und dies Göttliche wiederum ist nicht die Stiftung großer Priestergeschlechter oder eine be­ sondere jedesmalige wunderbare Berufung , sondern die Gegen­ wart des Christusgeistes, der in der Priesterweihe und Succession nur sozusagen sicher kanalisiert ist. Das Priestertum hebt die all­ gemeine religiöse Gleichheit und Freiheit, den reinen Gemeinde­ charakter aller christlichen Religionsgemeinschaft nicht auf und ordnet nicht Menschen den Menschen über ; es ist nur der her­ ausgehobene und ordnungsmäßige Träger des Christusgeistes, das Organ der Wahrheitsdarstellung und erlösenden Sakramental­ kraft. Indem man sich ihm unterordnet, ordnet man sich nur Gott unter, und zwar nicht besonderen nur dem Priester zukom­ menden Erleuchtungen, sondern der allgemeinen, der Gemeinde zukommenden Wahrheit und Gnadenkraft, die nur im Priester kenntlich lokalisiert ist. Er ist nur die Verkörperung und Kontuam adsidente Christo, spectantibus angelis et martyribus praesentibus super mensam dominicam sparge. Das ergibt den richtigen Sinn für das Wort Harnacks : »Ein Tisch verband als Altar den Ausdruck der Gottes- und der Nächstenliebe« S. 39. - Ueber das Diakonenamt s. Uhlhorn I 154-159.

W eitere Mittel des Ausbaus,

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kretion der allgemeinen religiösen Wahrheit und auch das nur, soferne er sich in deren Auswirkung betätigt. Indem diese seine Stellung vom Kirchenrecht festgelegt wird, unterscheidet es ganz folgerichtig das jus divinum, das nur auf diese heilsverkörpernde und darum heilsvermittelnde Stellung des Priesters und deren unmittelbare Folgen sich bezieht , während die ganze übrige, organisatorisch unter Umständen viel bedeutendere Tätigkeit nur ein jus humanum, d. h. freie und veränderliche rein menschliche Zwecktätigkeit ist. In dem Maße, als der Katholizismus diesen Charakter des Priestertums betont, kann er sich als einen »religiösen und unpolitischen« Katholizismus bezeichnen; er trennt das Gött­ liche vom blqß Menschlichen. Aber freilich liegt der ganze or­ ganisatorische Wert der Institution darin, daß das Göttliche und Menschliche in ihr so schwer zu scheiden ist, und daß menschliche Ordnung und Zentralisation durch diese Verbindung so leicht mit dem Charakter göttlicher Autorität zu bekleiden ist. Die ganze Unterscheidung ist eine Fiktion, die den freien rein religiösen Geist und seine streng bindenden Verwirklichungsmittel inein­ anderfließen läßt, und, indem sie die ursprüngliche ganz innerliche Idee behauptet, ihr doch unlösbar die strenge klerikal-sakramentale Bindung und Formung unterschiebt. Das ist die eigentliche Ver­ weltlichung der Kirche, die Materialisierung und Veräußerlichung des religiösen Zentralpunktes, die Selbstauslieferung an die Be­ dingungen weltlicher Organisationskunst. Im Vergleich dazu ist die Verweltlichung auf den anderen Gebieten, der Wissenschaft, dem Staats- und Gesellschaftsleben, der Kunst viel unvollständiger durchgeführt. Ihnen gegenüber erhält sich der ursprüngliche reli­ giös-überweltliche Charakter der christlichen Idee, und von ihnen gehen daher seit der Vollendung der soziologischen Konsequenzen des sakramentalen Priestertums teils schon im Mönchtum , teils später in der Laienreligion des sich auflösenden Mittelalters die schärfsten Reaktionen aus. Sie bedeuten dann aber auch charakte­ ristischerweise immer tiefe Erschütterungen und Schwierigkeiten für die Soziologie der religiösen Gemeinschaft selbst. Jedenfalls aber ist jetzt zu Anfang in dem neuen Priester­ tum zunächst das dringendste Bedürfnis , die konkrete Faßbar­ machnng des soziologischen Beziehungsmomentes , erfüllt und ordnen sich nun ihm auch alle anderen diesem Zweck dienen­ den Einrichtungen ein und unter. Es ist nur der Mittel- und Anziehungspunkt für alle derartigen Entwickelungen , keineswegs

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selbst die einzige. Da ein bestimmter Gedanke von Gott das Zentrum des Ganzen ist , so wird die Sicherstellung dieses Ge­ dankens und damit der Lehre ein Hauptanliegen. Die Siche­ rung, Erweisung und Ausbildung der Lehrtradition wird Sache des Klerus und dadurch bekleidet sich der Gottesbegriff, der soziologische Beziehungspunkt des Ganzen , mit einem Wahr­ heitsbegriff starrster Art, der dem Wahrheitsbegriff der philoso­ phischen Schullehren formell völlig entspricht, aber auf Autorität und Offenbarung beruht. Eine eindeutige und umfassende höchste Erkenntnis ist das vom Amt getragene Zentrum, und der exklusive, alles sich und seinem Dogma unterwerfende W a h r h e i t s b e g r i f f ist dann die treibende Kraft aller Unifizierung und Zentralisierung ; er wird später der Grund des Anspruches der Kirche auf Allein­ herrschaft sein über das geistige Leben und alles, was damit zusammenhängt. Ein Nebeneinander verschiedener Kirchen wird erst auf Grund eines veränderten Wahrheitsbegriffes wieder mög­ lich sein, gerade wie ja auch die bunte Verschiedenheit des vor­ katholischen Christentums mit dem Wahrheitsbegriff eines indivi­ dualistischen Enthusiasmus zusammenhing'0). Religionsgeschicht­ lich noch wichtiger ist, daß die von der neuen Gotteserkenntnis ausgehenden Gesinnungskräfte nicht dem rein innerlichen Wirken des Gedankens überlassen blieben, sondern als wunderbare Vor­ gänge an das W u nder s a k r ame n t a l e r Fei e r n vorzugsweise geknüpft wurden. Die Mysterienkulte werden in das Christentum hineingezogen , vor allem um die erlösende Kraft der neuen Gotteserkenntnis in bestimmten objektiven Vorgängen zu konzen40) Diese Bedingtheit der kirchlichen Organisation und ihres Verhältnisses zu anderen Lebenskreisen durch den Wahrheitsbegriff ist der Gesichtspunkt, unter dem meine Abhandlung, >Die Trennung von Staat und Kirche«, 1907, das Problem zu klären sucht. Aus diesem Grunde halte ich es auch für falsch, im Katholizis­ mus allzusehr den Erben des römischen Reichsgedankens zu sehen ; sein Zentrali­ sationsbedürfnis und seine Ausschließlichkeit stammt aus dem Wahrheits- und Sakramentsbegriff in erster Linie, und hängt mit dem Kaiserreich nur dadurch zu­ sammen, daß eben das Kaiserreich eine Einheitsreligion als sein Korrelat forderte. Aus dem gleichen Grunde halte ich es für falsch, den Dogmatismus und Intellek­ tualismus, der doch nur an der Einheit und nicht an der Begreiflichkeit der Lehre hängt, aus der ,Hellenisierung< und der Vermischung mit griechischer Metaphysik abzuleiten. Er erklärt sich in der Hauptsache aus der Herausbildung der Ein­ heitsidee auch auf dem Lehrgebiet. Der Geist wirklicher griechischer Wissenschaft ist selten genug in der Dogmengeschichte und stets verdammt worden,

Juristische Fassung der christlichen Gemeinschaftsbegriffe.

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trieren und sie dadurch der schwankenden, bloß menschlichen Subjektivität zu entnehmen. Auch diese ursprünglich freien Riten werden dem Klerus unterstellt. Das gewinnt nun aber dann auch eine ganz außerordentliche soziologische Bedeutung, indem die Sakramente nicht bloß der Höhe- und Sammelpunkt des Kultus werden, sondern indem sie vor allem die entscheidenden Heilsver­ mittler werden. Außer dem Sakrament ist kein Heil, und, da kein Sakrament - mit geringfügigen Ausnahmen - außer dem Priester ist, so ist auch außer der Kirche kein Heil. Sie hat nicht bloß allein die Wahrheit, sondern vor allem allein die sinnlich-übersinnlichen Heilsvermittelungen der Sakramente. Das völlig unsakramentale, rein ethische Evangelium nimmt damit eine auch seinen jüdischen Voraussetzungen fremde Ideenmasse auf, die aber im Grundtriebe aller naturwüchsigen Religion liegt und die von der Christusmy­ stik her als Mittel der Herstellung der realen Substanzvereinigung sehr wohl angeeignet werden konnte 40 a). Das aber ist dann auch zugleich eine Festigung des religiös-soziologischen Zusammenhangs, die der ursprünglichen Grundidee zwar sehr entgegengesetzt ist, die aber jedenfalls deren Unbestimmtheit und Lockerheit durch einen unzerreißbaren Zusammenhang ersetzt. So lange der Glaube an Priestertum, Sakrament und Einheit der religiösen Erkenntnis ge­ teilt wird, ist er unauflöslich und führen alle Lockerungen wieder zu ihm zurück. Mit diesen organisatorischen Mitteln aufgebaut, wird die Kirche zu einem eigenen Organismus, und ihr Gedanke kann schließ­ lich nicht verfehlen, eine j u r i s t i s c h e Fassung seiner selbst her­ vorzubringen. Sie begründet demgemäß allmählich ein eigenes Recht, das Recht der Kirche, in dem sie von sich aus, ohne jede Rücksicht auf den Staat als die bis dahin allein mögliche Rechts­ quelle, ihre eigentümliche Auffassung von dem Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Individuum, Kirche und Welt juristisch darlegt. Die aus dem Interesse des Seelenheils sich bildende spezifische soziologische Idee schafft sich auch ein neues spezifisches Recht. Aus der ursprünglichen naiven und anschaulich unbegrifflichen Denkweise , die am sin�lichen Bilde der Gemeinde und der Christusgegenwart in der Gemeinde und dann weiter an der tat46•) Vgl. Heitmüller, »Taufe und Abendmahl bei Paulus« 1903. Ueber die grundlegende Bedeutung des Sakramentalismus für die katholische Christlichkeit vgl. meinen Aufsatz »Der Ehrhardsche Reformkatholizismus« Christi. Welt 1902 Nr. 3o.

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sächlichen Verbindung der Gemeinden unter einander im gemein­ samen Wahrheits- und Heilsbesitze haftet, löst sich die darin un­ bewußt enthaltene Struktur zu begrifflicher Klarheit und juri­ stischem Ausdruck ab. Die Rechtssubjektivität des Gesamtver­ bandes und der Einzelgemeinde, die Befugnissphäre der Bischöfe in der ersten und zweiten Hinsicht, die Vertretung dieser Rechts­ subjektivität, die Rechte der Einzelnen gegenüber diesem objektiven Recht, der kirchliche Besitz , die religiösen Liebesanstalten, die kirchlicher Regelung zugänglichen Lebensbeziehungen vor allem im Eherecht, die Entscheidung von Streitigkeiten der Christen unter einander und die Sittenaufsicht, all das wird in steigendem Maße Gegenstand eines kirchlich-juristischen Denkens 41). Aus die­ sem aber entsteht ein fester, in kirchliche Stände gegliederter Organis­ mus, der schließlich vom Staate anerkannt und mühsam mit dem ganz andersartigen staatlichen Recht zum Kompromiß gebracht wird, der aber freilich in der alten Kirche eine darüber hinausgehende auch in die allgemeine Ordnung eingreifende Wirkung noch nicht ge­ winnt. Gierke hat feinsinnig den soziologischen Sinn dieses kirch­ lichen Rechtes im Gegensatze zu den allgemeinen Gemeinschaftsbe­ griffen der Antike und des Germanentums analysiert und die Bedeu­ tung des kirchlichen Rechtsbegriffes für die Entwickelung der Ge­ meinschaftsidee überhaupt untersucht. Im Altertum geht das sozio­ logische Ideal instinktiv von der Anschauung des Stadtstaates, der Bürgergemeinde und der Herrschenden aus; über alle herrscht das Gesetz, und die objektive Geltung des Gesetzes ist das Wesen der Gemeinschaft ohne Rechtssubjektivität des Ganzen und ohne solche des Einzelnen anders als sie in der Teilnahme am Gesetz des Ganzen begründet ist. Die gesetzliche Gemeinschaft selbst geht ihm aus einem zentralen Triebe der menschlichen Wesens­ anlage aus. Alle Religion ist Staatsangelegenheit und gehört selbst mit zu den Gesetzen, alle Vereine sind entweder mit dem Staat identisch oder lediglich zufällige Zweckverbindungen, denen das römische Recht unter Umständen die juristische Persönlich­ keit als bewußte Fiktion verlieh. Dem gegenüber stellt die Kirche wie einen ganz anderen soziologischen Gedanken so auch ein ganz anderes Recht dar. »Indem eine nach Ursprung, Wesen und 0) Gass, Gesch. d. Ethik I 71 f., 229 ff. Versuche eines kirchlichen Ehe­ rechtes schon bei Kallist, Ablehnung der Todesstrafe und Versuche sie durch geistliches Verfahren zu ersetzen; Biegelmair 92-94, Konstantin verleiht dann den bischöflichen Urteilen Rechtsgültigkeit; Weinel >Stellung u. s. w. < S. 35-37.

Gliederung und Differenzierung im Organismus der Kirche.

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Bestimmung transszendente Verbandseinheit zugleich als solche zum Subjekt einer irdischen Rechtssphäre berufen wurde, trat ein bisher unbekanntes Element in den Entwickelungsprozeß der Kör­ perschaftstheorie ein . . . . Wie die antike Theorie den Staat, so faßte die christliche Theologie die Kirche als lebendigen Organis­ mus, als ein selbständiges und einheitliches Ganze auf. Allein die organische Denkweise empfing hier einen neuen religiös­ mystischen Gehalt. Sie führte das Bild eines beseelten Körpers in einem über verwandte Vorstellungen der antiken Philosophie weit erhobenen Sinne durch. Insbesondere war hier einerseits dem Ganzen in seinem transszendenten Mittelpunkt eine lebendige geistige Einheit beigelegt , und es war doch andrerseits jedem Gliede ein eigener Wert, eine besondere Persönlichkeit gewahrt. Hier war das Verhältnis des Ganzen zu seinen Gliedern und der Glieder zu einander als ein Verhältnis voller Gegenseitigkeit gedacht; hier waren die Prinzipien der Einheit und der Vielheit als gleich reale und gleich notwendige Elemente des allumfassenden gött­ lichen Seins gedacht« 42). Indem dies göttliche Sein im Episkopat faßbar wurde, » erschien die Kirche als ein corpus mysticum, welches einerseits auf mystische Weise von Gott zur Lebensein­ heit verbunden, beseelt und geleitet wurde, andrerseits aber als ein so konstituierter Körper auch ein äußeres Verbandssubjekt bildete und mit dem Anspruch auf eine rechtliche Herrschafts­ sphäre in die irdischen Verhältnisse eintrat«. Nach innen er­ scheint so die Kirche als ein Organismus, der sich teils als An­ stalt für den Glauben, teils als Gemeinschaft der Gläubigen dar­ stellt, nach außen erscheint sie als Trägerin eines vom Staat un­ abhängigen und eine vom Staat unantastbare Sphäre begrün­ denden Rechtes. Es ist deutlich, daß hier das christliche Ineinander von Individualismus und Universalismus um eine juristische Fixie­ rung ringt ; und Gierke hebt die Annäherung an die germanischen Korporationsideen hervor, »die neben der Rechtssubjektivität der in ihrer Besonderheit abgeschlossenen Individuen eine Rechtssub­ jektivität der aus der Verbindung von Einzelwesen erwachsenden Gemeinwesen statuieren«. Innerhalb der alten Kirche blieb all das freilich auf die eigene Theorie der Kirche von sich selbst be­ schränkt und färbte sie auch nicht ab auf das rechtliche und sozio'2) Vgl. Gierk e, »Genossenschaftsrecht« III, 108 f., auch den interessanten Abschnitt bei Harnack, »Mission« I, 206-234, über die Selbstbezeichnung der Christen als »neues Volk und drittes Geschlecht«.

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logische Denken des Staates, aber damit sind Entwickelungen von größter Tragweite für alles politische und soziologische Denken wie für die konkreten Institutionen geschaffen 48). Der tiefe innere Wider­ spruch eines aus transszendenter Quelle ausfließenden Rechtes zu dem grundlegenden Merkmal alles Rechtes, der Erzwingbarkeit, ist nur die im Recht sich zeigende Folge des allgemeinen Wider­ spruchs zwischen einer rein religiösen Gemeinschaft innerlichen Lebens und ihrer objektiven Faßbarmachung in Dogma, Sakra­ ment und Amt und deutet damit nur das unter allen Formen wiederkehrende schwere Problem aller rein religiösen Gemein­ schaftsbildung an 44). Das Bedeutsame an dieser Entwicklung ist nun aber nicht bloß die Festigung des soziologischen Zusammenhangs durch eine Autorität, die nach allen Seiten hin als supranaturale Autorität, als Inkarnation des \\,-unders in Priester, Bibel, Sakrament, Tra­ dition und Recht erscheint und die den Ausgangspunkt des ganzen kirchlichen Supranaturalismus bildet, sondern ebenso wichtig ist der damit gemachte F o r t s c h r i t t i n d e r G 1 i e d e r u n g und D i f f er e n zie r u n g i n n e r h a l b des gemeinsamen G a n z e n. Es ist im Klerus eine führende und regierende Schicht emporgehoben, die durch das Bedürfnis der Organisation nach immer stärkerer Gliederung in sich selber strebt und die alten charis­ matischen Gaben und freien Dienstleistungen konsequent in ein aufsteigendes System priesterlicher Weihen verwandelt 4 4a) und dann wieder die Bischöfe und den Klerus selbst der sonstigen Gemeinde als den Laien gegenüberstellt. Es sind die Grundlagen der theo­ kratischen Gliederung der Kirche, in der das allgemeine Priester­ tum und die abstrakte religiöse Gleichheit sich besondert zu tief­ g reifenden und wesentlichen Differenzen. Aber im Unterschied von jeder sonstigen Aristokratie ist die regierende Schicht nur eine Kon­ kretion und Sichtbarmachung der im Ganzen enthaltenen Heils­ kräfte, die nur um der Sicherung gegen Trübung und Vermensch­ lichung willen dieser H eraushebung bedarf und daher im Grunde 43) Gierke III uo f., die Formeln für die germanische Korporationsidee III I f. 44) Der Ausführung dieses Gedankens dient Sohms Kirchenrecht mit seiner These, daß »Kirchenrecht« ein Widerspruch in sich selbst sei. Freilich hat er bis jetzt nicht gezeigt, wie Kirche und organisierte religiöse Gemeinschaft ohne Recht möglich sei. 440) Vgl. Harnack »Ueber den Ursprung des Lektorats und der anderen nie­ deren Weihen« (Texte und Untersu chungen Ilh).

Kluft zwischen Welt und Kirche. Der Begriff >Welt«.

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immer wieder zurückgeht in das Ganze, worin freilich begründet ist, daß dieses letztere entweder zur Fiktion oder zur Einschränkung und Herabsetzung des Klerus wird. Daher wird der Gegensatz der priesterlichen Ueberordnung über die Laien mit denselben Mitteln des religiösen Patriarchalismus ethisch fruchtbar gemacht, wie wir das bereits von den sonstigen Differenzen gesehen haben: der Priester ist der Vater der Gemeinde und der Knecht der Knechte Gottes. Wie die Keime des Patriarchalismus in der re­ ligiösen Würdigung und Bewältigung der Zufallsdifferenzen liegen, so liegen in dieser theokratischen Autorität die Keime einer staffel­ förmigen Gliederung der ganzen Gesellschaft, die dann im Mittel­ alter mit dem Feudalismus sich berühren wird. In der alten Kirche kommt beides noch nicht zur Entwickelung. Das erstere wirkt lediglich zur konservativen Hinnahme der Verhältnisse, das letz­ tere zum geschlossenen Aufbau der Kirche in sich selbst. Dabei sind die Bischöfe der alten Zeit noch einfache Handwerker, Kauf­ leute, unter Umständen auch Sklaven. Das priesterliche Amt ist nur ein Ehrenamt, neben dem der bürgerliche Erwerb hergeht. Erst allmählich dringen die intellektuell und finanziell hervor­ ragenden Leute in das Amt wie etwa Cyprian, und erst mit dem Erwerb des kirchlichen Grundbesitzes und nach den kaiserlichen Privilegien der nachkonstantinischen Zeit werden die Bischöfe eine Herrenschicht. Von hier aus entsteht nun die Frage, wie dieser christlich­ soziologische Organismus zu den s o z i a I e n B i! d u n g e n d er »Welt« sich stellt. Aber ehe diese Frage beantwortet werden kann, sind die Veränderungen und Fortentwickelungen in dem ethischen Denken und Empfinden der Christengemeinden zu ver­ deutlichen. Von ihnen ist die Stellung zu diesen Fragen abhängig, und besonders charakteristisch ist hierbei der Sinn, den der Be­ griff der » Welt« als Inbegriff all jener Dinge annimmt und durch den er die Stellung zu ihnen bedingt. Jemehr nämlich so der Bereich des Heils sich zusammen­ schloß zur organisierten Einheit, um so stärker schloß auch umgekehrt für die mit dem Heil und dem Gottesreich beschäf­ tigte Phantasie sich das ü b r i g e L e b e n z u s a m m e n i m B e g r i f f d e r W e 1 t. War das allgemeine Leben für Jesus trotz aller Sünde noch voll von Spuren göttlicher Güte, konnte er in Kindern, Sündern und Samaritern den naiven Naturlaut der Fröm­ migkeit anerkennen und lag für ihn der Schnitt nicht zwischen Welt

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und Kirche, sondern zwischen Gegenwart und Zukunft, so steht schon für Paulus das Reich Christi oder die Kirche im vollen Gegen­ satz zum Reiche des ersten Adams, des Fleisches, der Sünde, des Gesetzes und des bösen Geistes. Mit dem Gedanken der klerikal-sakramentalen Kirche als der civitas Dei m), um die die Engel spielen und in der der Christus-Gott thront, verstärkt sich dann auch der Gegensatz der Welt als des Satansreiches, in dem es nur Verlorenheit und sittliche Unkraft gibt. In diesem Kon­ trastgedanken vollendet sich erst die soziologische Geschlossen­ heit des christlichen Gedankens, und dieser Kontrast wird immer bedeutender für die christliche Soziallehre. Hier setzt die alt­ christliche Apologetik und der Angriff ein, indem um der allein erlösenden Kraft des Christusglaubens willen alle Kräfte der Welt zum guten geleugnet oder beschränkt werden mußten. Und von dieser Apologetik her sind alle weiteren Gedanken­ bildungen und Einrichtungen bedingt. Einmal wird die Ret­ tung aus der Welt als ein völliges sakramentales Wunder be­ trachtet, sei es in der Taufe, sei es in der Buße und damit die Ethik der Kirche zu der Ethik der Gnadensittlichkeit, der suprana­ turalen Einflößung sittlicher Kräfte, die nicht aus der Welt, son­ dern nur aus dem Wunder der gottmenschlichen Kirche stammen können. Ferner wird alles sittliche Handeln nun auch in seinem Inhalt dem weltlichen Handeln aufs schärfste entgegengestellt, und das was bei Jesus ein die natürlichen Lebensbedingungen gering einschätzender Heroismus war, wird unter Einwirkungen ver­ schiedenartiger Motive, vor allem aber doch unter dem Eindruck dieser Kluft von Welt und Gottesreich zur Askese, die gegen die Natur mißtrauisch und feindlich ist und sich von der platonischen Lehre der Widergöttlichkeit aller Materie und Sinnlichkeit be­ zaubern läßt. Vor allem aber - und das ist für unseren Zu­ sammenhang das Wichtigste - tritt die Welt mit all ihren Ord­ nungen als eine geschlossene und unabänderliche Masse unter den Gesichtspunkt eines Systems der Sünde, das nur en bloc verworfen werden kann oder nur en bloc angeeignet werden kann. Das erste tut das Mönchtum und wird zur idealen Lebens­ regel auch des Klerus, das letztere tut die große arbeitende Masse, •0) Der Ausdruck »civitas Dei« ist nicht erst augustinisch ; schon Paulus be­ zeichnet die Christengemeinschaft als ein 1toÄ(-ce;uµa; iv oiipa;vot,, und 1t6Ä1, ist auch bei Hermas der Ausdruck für das Christentum im Gegensatz gegen die Stadt der Welt, Weinei >Stellung u. s. w.« S. 52,

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indem sie mit der Akzeptierung der Welt sich unter die Konse­ quenzen der Sünde beugt. Die Begründung der Teilnahme der Christen an den weltlichen und das heißt außerkirchlichen Dingen wird von da ab stets damit begründet, daß diese Dinge, so wie sie sind, Folgen der Sünde sind und der Christ in der Teilnahme an ihnen sich unter die Folgen der gemeinsamen Sünde beugt. Er kann sie nicht ändern und darf sich unter sie nur beugen, indem er den inneren Herzenswiderspruch gegen sie nicht aufgibt und wenigstens selbst keine innere Freude und Anteilnahme hat an dem, was die Uebermacht der durch die Sünde bedingten Ordnungen auch von ihm erzwingt. Das ist in der ganzen alten Kirche so geblieben, und auch spätere Zeiten haben wenigstens im Bedarfsfall immer auf diese Argumentation zurückgegriffen. Die wichtigen Folgen hievon werden uns bei der Frage nach der sozialen Stellung und Betätiguug der Kirche entgegentreten. In der Herausbildung jenes Gegensatzes von Welt und Kirche wurzelt nun, wie bereits angedeutet, vor allem die entscheidende Macht der alten Kirche, die A s k e s e i n d e r b e s o n d e r e n c h r i s t 1 i c h-k i r c h 1 i c h e n F o r m. Nichts freilich wäre ver­ kehrter, als den Grund dieser gewaltigen und ernsten Erscheinung lediglich in dem Bedürfnis nach einem solchen Kontrast und seiner Verfestigung zu suchen. Aber die besondere Form und Wirkung der kirchlichen Askese hängt damit allerdings eng zusammen. An sich hat die Askese einen sehr viel breiteren Untergrund, freilich aber auch eine Vieldeutigkeit des Sinnes, der jedesmal erst fest­ gestellt werden muß. Es gibt eine »Askese«, die lediglich die Folge des zu sich selbst gekommenen und nun seine ganze Tiefe ent­ faltenden religiösen Denkens ist. Wo Gottesgemeinschaft und Leben in Gott gesucht wird, da stellt der Gegensatz der Vergänglichkeit, der Nichtigkeit oder mindestens Unselbständigkeit aller weltlichen Werte von selbst sich ein und wird die Religion zur Erlösung. Mit der religiösen Schlußwendung der Antike tritt daher durch die in­ nere Dialektik des Gedankens selbst auch der Erlösungsglaube und die Zurückstellung der weltlichen Werte ein. Dabei ist aber ein wirklicher Dualismus, der Glaube an ein Gott entgegengesetztes Prinzip in der Welt, keineswegs eine notwendige Folgerung. Es ist Ueberweltlichkeit, nicht Weltverneinung 45). In diesen Zusam'b) Vgl. Siebeck, >Lehrbuch der Religionsphilosophie«, 1893, S. 1-31, 101-156. Ein Positivist wie Bender sieht schon in jeder Metaphysik, d. h. in

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menhang gehört auch das Evangelium und die Predigt Jesu, der in der Erwartung des Gottesreiches und in dem Radikalismus der ethisch-religiösen Forderung die weltlichen Interessen mit der Forderung des Gottvertrauens und der materiellen Bedürfnislosig­ keit einfach abtat, im übrigen aber schon im Zusammenhang mit dem jüdischen Schöpfungsglauben die Welt und ihre schlichten Freuden ohne weiteres gelten ließ. Die Jesus und die älteste Gemeinde erfüllende Gewißheit von einer baldigen, wunderbaren Verwirklichung des Ideals tat das ihrige dazu, um die kurze noch vorhandene Spanne der Welt zu entwerten, aber nicht im Sinne der Verneinung von Welt, Sinnlichkeit und Natur, sondern im Sinne der Gleichgültigkeit gegen das doch bald Vergehende. Es ist das mehr radikale Ueberweltlichkeit und um die irdischen Lebensbedingungen sich wenig kümmernder Heroismus als Askese im eigentlichen Sinne 46). Erst das Eindringen der Mystik und eines akosmistischen Pantheismus macht den Erlösungsglauben zur eigentlichen Askese, weshalb dann auch das Mönchsleben als das philosophische Leben bezeichnet wird. Aber nicht nur aus der zen­ tralen religiösen Zwecksetzung, sondern zweitens auch aus dem e t h i s c h en Rig o r i s m u s des Evangeliums ging »Askese« hervor . . Die reine Gesinnungsethik ohne Recht und Gewalt ist nur in ganz einfachen sozialen Verhältnissen praktisch auszuüben und setzt kleine Lebenskreise voraus. Bei dem Aufstieg in größere und verwickeltere Verhältnisse wurde den Christen die Zurückhaltung von ihnen oder die Herstellung besonderer Lebenskreise rätlich, in denen solche Praxis möglich war. Auch das ist nicht eigent­ liche Askese, sondern nur Zurückhaltung von den Gefahren und Verwickeltheiten des Lebens, schlug aber freilich, namentlich in Mönchskreisen leicht in solche um 46 a). Hieran schloß sich dann jeder Behauptung einer von der unmittelbaren Erfahrung verschiedenen, nur durch Denken faßbaren Realität, die Keime des Dualismus und mit ihm der Askese ; vgl.: Metaphysik und Asketik (Archiv f. Gesch. d. Philos. VI 1888). 46) Hier enthalten die Ausführungen Jacobys, »Neutestamentliche Ethik«, viel Treffendes. 46 a) Siehe oben S. 78 u. Hamack, »Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte«, 1907 S. IO: »In der Nachfolge Jesu, in welcher sich das Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit verwirklicht, liegt die Entäusse­ rung von allem, was hemmend ist, beschlossen. Das Mönchtum hat aber nachmals versucht, der entscheidenden evangelischen Forderung »Enthalte dich« so gerecht zu werden, daß es den Umfang des Verzichtes ohne Rücksicht auf die individuelle

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drittens durch eine psychologisch naheliegende, aber höchst folgen­ reiche Verwechselung leicht die e i g e n t l i c h e Askese an. Indem das Merkmal der evangelischen Ethik die Selbstverleugnung und die Schwere der Anforderung war, schien umgekehrt alles was schwer, selbstverleugnend, gegen die Natur ist, ein vom Evange­ lium geforderter Gottesdienst. Und ähnlich wirkt eine verwandte Verwechselung, wenn die der religiösen Konzentration und der Bändigung der Sinnlichkeit dienenden Uebungen den entscheiden­ den Ton auf sich ziehen und zum Zweck statt zum Mittel, zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Auszeichnung und Absonder­ lichkeit werden, wie das in aufgeregten Zirkeln nie ausbleibt. Während die Selbstverleugnung der evangelischen Ethik einem positiven Zweck, der Gottesliebe und Menschenliebe , dient und damit die inneren Werte der Vereinigung mit Gott oder der Gotteskindschaft, und der Bruderliebe oder der Gemeinschaft in Gott hervorbringt, wird hier die Selbstverleugnung zum Selbst­ zweck , zum guten Werke , zur Büßung , zur Leistung , die um so wertvoller ist , je mehr sie gegen die natürlichen Gefühle geht und je schwerer man sie sich abringt. Im Zusammenhang mit dem Herabsinken der evangelischen Gesinnungsethik auf das Niveau der quantitativen Leistung und des Verdienstes , mit der Entwertung und Verächtlichmachung des Natürlichen durch die Sündenlehre und mit der Beziehung auf eine ausführliche Escha­ tologie der Belohnungen und Bestrafungen - Uebertreibungen und Gemeinwerden , wie sie bei jedem Idealismus und so auch beim altchristlichen sich einstellten - wurde daraus das dem Seelenheil und der Rettung im Gericht dienende gute Werk der Mortifikation und Humilität. Das ist wohl - neben der Virgi­ nität - die eigentlichste und häufigste Form christlicher Askese geworden, die an der zunehmenden Erbsündenstimmung und der immer weiter ausgebildeten Eschatologie ihren dauernden Nähr­ boden empfing. In ihr liegt ein toter Punkt der Passivität, reinen Negation und ethischen Zwecklosigkeit, der sie eben darum dann auch immer als ein Hemmnis der eigentlich christlichen Ethik er­ scheinen läßt und mit ihren Grundtendenzen in Widerspruch bringt. Aber indem eine solche Askese doch eine außerordentliche Anstren­ gung des Willens und des Enthusiasmus voraussetzt, ist sie zugleich Beschaffenheit und den Beruf des Einzelnen bestimmte.« Das letztere wird freilich Kategorien, in denen erst das Lutherthum das Problem löste oder zu lösen meinte. T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften.

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stets oder doch sehr häufig das stärkste Belebungs- und An­ regungsmittel der christlichen Ideenbewegungen geworden ; und, da sie nicht auf einem System des Akosmismus und überhaupt auf keinem System beruht, sondern nur außerordentliche Willens­ steigerung und eschatologisch-eudämonistische Sicherstellung ist, so kann sie sich mit allen positiven Tendenzen zweckvoller Liebes­ arbeit oder nützlicher Beschäftigung völlig prinziplos verknüpfen und kann somit unter Umständen die buntesten Wirkungen, hem­ mende und fördernde, prinzipgemäße und prinzipwidrige ausüben, kann in allen Formen und Graden , in bloßer Selbstdisziplin und Zurückhaltung , in mönchischem Leben, in den tollsten Exzentri­ täten ausgeübt werden 46b). Eine andere Quelle der eigentlichen Askese ist dagegen der bewußte und gewollte Du alismus, der im Orient mit den sog., in ihren Ursprüngen noch sehr dunklen, gnostischen Bewegungen auftaucht und der im Occident aus dem erneuerten Platonismus und Pythagoräismus sich entwickelt. Hier kommt es zu dem Gegensatz von Sinnlichkeit und Geist, zu dem Kampf gegen Sinnlichkeit und Materialität als solche , wobei die Verneinung der Materie bald in strengster Enthaltung, bald in libertinistischer Ignorierung zum Ausdruck kommt 47). In die Lehre 48b) Vgl. Zöckler >Kritische Geschichte der Askese« 1863, wesentlich Material­ sammlung über heidnische, jüdische, katholische und protestantische Askese, sowie Referat über die theologischen Theorien der Askese, aber gerade dadurch sehr lehr­ reich. Dagegen fehlt fast jede psychologische Vertiefung. In letzterer Hinsicht feine Bemerkungen bei James >The varieties of religious experiencec 1902. Ein­ seitige und phantastische Erregung des religiösen Gefühls bei Zurücktreten des ethischen Elementes und bei dem Mangel der Objektivitätsgesinnung, die die wissen­ schaftliche Bildung anerzieht, führt bei dazu veranlagten Individuen zu einer Fülle psychopathischer Erscheinungen. Aber auch bei höchster ethischer und wissen­ schaftlicher Bildung neigt der Melancholiker dazu , die religiöse Empfindung des Abstandes von Gott sowie die der. Einigung mit allerhand Gewaltmitteln zu intensi­ vieren wie Origenes und Pascal zeigen. Uebrigens schließen derartige Abnormi­ täten das Erwachsen starker und wertvoller religiöser Gehalte in diesen Formen, die von diesen Entstehungsbedingungen sich ablösen können, nicht aus; vgl. Hell­ pach, Zur Formenkunde der Beziehungen zwischen Religiosität und Abnormität, Z. f. Religionspsychologie 1907. 47) Vgl. Anz, ,Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus« (Texte und Untersuchungen XV4). Rohde, Psyche 2, 1898. Die Forschung über diese Dinge ist erst jetzt in Bewegung gekommen. Namentlich sind hier auch die eschatolo­ gischen Ideen der Spätantike daraufhin zu untersuchen, wie weit sie Askese zur Folge haben. Nur ist zu betonen, daß Eschatologie an sich noch nicht Askese bedeutet.

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Askese.

des Paulus von Fleisch und Geist scheint bereits derartiges hinein­ zuspielen, und auch seine Fassung des Erlösungsgedankens ist von daher beeinflußt : nicht mehr bloß die zukünftige Erlösung im Gottesreich , sondern eine geschehene Erlösung in der Fleisches­ überwindung durch den Tod des Christus bieten bei ihm sich dar. Doch hat Paulus daraus die Askese nicht gefolgert; auch ist die Sündhaftigkeit des Fleisches für ihn doch erst durch den Sünden­ fall d. h. den Willen der Kreatur bedingt. Aber mit dem Gnosti­ zismus drang die dualistische Askese ein, und in ihrem Gefolge die ganze Technik der orgiastischen und ekstatischen Erregung. Hinter und unter diesen religiösen Erlösungsstimmungen und dem spekula­ tiven Dualismus steht nun aber fünftens als allgemeinere Macht die E rmüdung einer ü b e rr e i f e n und f e r t i g e n Kultur, deren Lebens­ lust und Lebenskraft ausgekostet ist und die in dumpfer Unbefriedi­ gung an sich selbst etwas Neues sucht, über sich selbst hinaus will und darum nach all den neuen Bewegungen greift, ein ernstes und erschütterndes Schauspiel für jeden, der diese Kultur in ihrer großartigen Entfaltung bewundernd begleitet hat und jeder reifen Kultur ein ähnliches Schicksal drohend fühlt. Auch das ist nicht eigentliche Askese, das ist nur Uebersättigung , Er­ schöpfung und Ermüdung und greift nur leicht in den sich dar­ bietenden asketischen Lehren und Kulten nach etwas Neuem und Höherem 48). Weiter kommt noch hinzu, was uns besonders fremd­ artig ist, der von der Spätantike und ihrer religiösen Unrast neu belebte D ämo n e n g l a u b e , dessen Quellen in der allgemeinen Religions­ mischung die buntesten sein mögen. Ueberall wimmelt es von un­ reinen und gefährlichen Geistern, mit denen die Berührung vermie­ den werden muß. Das gibt unzählige Vorsichtsmaßregeln und Ab­ wehrmittel, die dem Leben die Unbefangenheit der Hingabe nehmen, und es bedarf nur der Identifizierung der Materie mit bösen Geistern und Weltprinzipien oder der Heidenwelt mit der Satansherrschaft, um eine Zurückhaltung gegenüber allem Weltlichen und Sinn­ lichen zu begründen, die aus Vorsicht lieber zu viel als zu wenig '8) Vgl. J. Burkhardt, ,Die Zeit Konstantins des Großen«, 1853. Freilich trifft eine solche Charakteristik mehr die Oberschicht, wie schon früher erwähnt. Aber das zerstört doch auch für die Unterschicht die Zuversicht zur bisherigen Ordnung der Dinge und den alten Lebensnormen. Wie weit die Askese, die ja in ihren Leistungen an sich eine enorme Kraftentfaltung ist, dann etwa gerade die ins Transszendente gewendete Naturkraft dieser Unterschichten vielfach sein mag, ist schwer zu sagen, aber wohl zu erwägen.

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tut und damit zur Askese wird, ohne eigentlich und streng den me­ taphysischen Dualismus von Geist und Materie zu Grunde zu legen. Es kann ein prinzipieller Monotheismus und die Einheit des Welt­ prinzips zu Grunde liegen, aber die mächtig aufschießenden und neubelebten Elemente des Polytheismus finden in ihm dadurch Platz, daß sie als gute und böse Dämonen mit dem Guten und Bösen in Verbindung gebracht werden ; und indem der Polytheis­ mus sich in Dämonenangst verwandelt, kann er trotz prinzpiell be­ haupteter Güte der Welt zur Förderung der Askese wirken 49). Vielleicht kann man schließlich auch noch eine in den unbekannten Gesetzen des S e xu a 11 eben s begründete Ermüdung und Erschlaffung des Geschlechtstriebes, eine neuropathische Schwäche des Lebens­ triebes hinzurechnen. Jedenfalls hat dieser Umstand der Kaiser­ zeit überaus viel zu schaffen gemacht, und, daß das Ideal der Virginität in einem so grandiosen Maße um sich greift ist aus rein sozialen und rein ideellen Gründen schwerlich zu erklären; das naturgemäße Interesse starker Religiosität , die Konkur­ renz der Erotik zu beseitigen, sei es durch strenge Zucht des Geschlechtstriebes, sei es durch Verschmelzung erotischer und religiöser Erregungen, oder auch durch die Stärke seiner Emp­ findung das Geschlechtsleben zu neutralisieren 50), kann den un­ geheuren Einfluß des Virginitätsideals kaum ganz erklären. Es muß etwas wie eine nervöse Kulturkrankheit zu Grunde liegen, die sich dann in religiösen Gedanken Reinigung und Halt sucht. Jedenfalls ist aber von dem Eindringen des Virginitätsideals aus der Askese überhaupt das Tor geöffnet, wie denn vegetarische und diätetische Lehren, Verkündigungen der Bedürfnislosigkeit und des Naturzustandes und Lobpreisungen des einsamen Lebens gleichzeitig in die Höhe schießen. Indem dieses Virginitätsideal dann auch die gesunden und kräftigen Schichten ergreift, ergeben sich aus ihm eine Fülle von körperlichen Selbstquälereien, die nur der Unterdrückung des Geschlechtstriebes dienen und in eine Art Methodik zu diesem Zweck gebracht werden. Daran schließen 49) Vgl. Weine!, ,Geist und Geister im nachapostolischen Zeitalter« 1899. 50) Wie wenig die Virginität an sich schon aber eine negativ-asketische Haltung zum Leben bedeutet, zeigt der Apostel Paulus, bei dem die Neigung zur Virginität ein vereinzelter Punkt ist und deutlich aus der Abneigung gegen die Konkurrenz der Geschlechtsleidenschaft erklärt ist. Die in andern Kulten vor der Kultausübung vor­ geschriebene Enthaltung hat teils den gleichen Grund, teils beruht sie auf Vorstel­ lungen von Verunreinigung, die von der Art des physiologischen Vorgangs bedingt sind.

Christliche Ausbildung und Einschränkung der Askese.

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sich dann alle Abnormitäten des irregeleiteten Geschlechtstriebes. Alle diese Dinge verschlingen sich nun in der christlichen Gemeinde. Das Evangelium Jesu und die Lehre des Paulus hat sie nicht auf die Bahn der Askese, sondern auf die eines die Naturbedingungen des Daseins gering schätzenden, nur im Mindest­ maß anerkennenden und in der Enderwartung überfliegenden Herois­ mus gestellt, hat sie zugleich an Lebensverhältnisse von grosser Einfachheit und Intimität gewiesen. Es blieb ihr von da aus immer die Unmöglichkeit, Natur, Welt und Sinne als wesentlich und meta­ physisch böse und gottfeindlich zu betrachten, eine Richtung, in der ja auch das im Kampf gegen die Gnosis siegreich behauptete alte Testament mit seinem Schöpfungsglauben, seiner Naturpoesie und seiner gesunden jüdischen Spruchmoral sie befestigen mußte. Darin hat auch die mit dem Wachstum der Gemeinde steigende Akzeptierung der Welt und die später zu zeigende Lehre von einem göttlichen Vernunftkern auch in den Ordnungen der Welt ihr inneres Recht und ihre Kontinuität mit dem Ursprung. Aber nun war einmal das Maß der damit gegebenen Anerkennung der Welt überaus unsicher; es war die Richtung auf ein Mindestmaß erteilt und war jedenfalls jede Anerkennung weltlicher Werte als Selbstzweck und Eigenwert völlig ausgeschlossen; sie waren günstigsten Falles die mit der Schöpfung gegebenen, in Gottes Willen begründeten und einfach hinzunehmenden Ordnungen. Unter diesen Umständen ist jedes positive Interesse an ihnen ausgeschlossen und führt die Herabsetzung auf das Mindestmaß leicht zur vollen Negation; dann ist man sicher, das Mindestmaß getroffen zu haben. Dazu kommen nun aber noch all die anderen genannten Einflüsse, insbesondere der Dämonenglaube, der bei allem prinzipiell festgehaltene Monotheismus und Glauben an die Güte der Welt doch die Welt per accidens so stark in Sünde und Teufelsmacht verstrikt sein lassen kann, daß die praktische Stellung auf Negation hinauskommt. Dazu kommt der spekulative Dualismus, die Kulturmüdigkeit, das Eremitentum, die Virginität, die Stimmung des Martyriums und der Kampf um die Behandlung der dem Martyrium sich Entziehenden, um die Unsicherheit voll zu machen und in die Anerkennung der Welt ein Schwanken und eine Gewissensunsicherheit zu bringen, der diejenigen, die es konnten, am besten durch Weltflucht entgingen. Auch das immer wieder von den Vätern zitierte paulinische Wort von dem Bleiben in dem Stande, in welchem man berufen war, enthielt nur Unter-

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werfung unter diese Ordnung , aber keine innere Schätzung und wurde um so schwieriger, je mehr man in die Berufe der eigent­ lichen großen Welt hineinwuchs. Die Haltung der Kirchenlehrer gegenüber der Welt« ist so ein schwankender über seine Grundlage unsicherer, halber Asketismus geworden, der durch das Prinzip des Christentums zur Anerkennung eines Mindestmaßes von Berech­ tigung der Welt verbunden ist, aber in seiner Unsicherheit dieses Mindestmaß bald im Sinne eigentlicher und voller Askese auf­ hebt, bald unter dem Druck der praktischen Verhältnisse sehr umfassend erweitert 51). In diese Schwankungen bringt nun die oben charakterisierte Zusammenfassung der Kirche gegen die Welt, die Herausarbei­ tung der soziologischen Einheit der Kirche und die Auffassung der Welt als einer dem gegenüberstehenden, gleichfalls in sich zusammengefassten, Einheit eine gewisse Ordnung und Sicher­ heit und damit eine E i n s c h r ä n k u n g u n d Z u s p i t z u n g d e r A s k e s e u n d d e s W e 1 t b e g r i f f e s zugleich. Die Welt ist nicht an sich böse, sondern nur durch den Sündenfall h

51)

Der Uebergang vom Evangelium zur Askese vollzieht sich leicht, wenn das, was an sich Sinn und Bedeutung nur hat in Beziehung auf die zu gewinnende Gottesgemeinschaft, um seiner selbst willen eingeübt und sozusagen auf Vorrat erworben wird, um dann Gott gegenüber bereit zu stehen. So wird die Brechung des Eigenwillens, der Selbst- und Weltliebe, die Dienstbereitschaft, die Demut und Liebe auch an ganz indifferenten Stoffen und Fällen eingeübt, um dann umso leichter in der eigentlichen und alleinigen Rücksicht betätigt werden zu können. Auf die­ sem Wege vollzieht sich psychologisch der Uebergang von dem Heroismus des Evangeliums zur Askese, und, einmal vollzogen, zieht er dann alle weiteren in der Zeit liegenden Motive der Askese an sich. Zeugnis hierfür ist der ursprüngliche Sinn und der Bedeutungswandel von ,Askese«, vgl. Gass I 104; es heißt zunächst die Einübung der Tugend und bildet z. B. bei Clemens die Bedingung der höheren gnostischen Vollkommenheit, Asketen sind dann die Märtyrer als ,entwickelte und leidensstarke Darsteller der Nachfolge Christi«. Von hier aus ergab sich gerad­ linig die Anwendung auf das Mönchtum«. ,Es war ebensowohl möglich , die Askese als ein Beförderungsmittel sittlicher Tätigkeit anzusehen, wie auch ihr eine Bedeutung für sich, einen Verdienstwert beizulegen. Der Unterschied war zu fein, als daß nicht das eine in das andere hätte überfließen sollen.« Von da aus hat dann erst das Wort seinen modernen Sinn als »Mortifikation« und Entwertung der Welt, Weltverneinung und Weltflucht, erhalten, während die katholische Kirchen­ sprache es noch heute in erster Linie im Sinn von Tugendübung und Tugend­ mittel gebraucht. Es ist in diesem Sinne sogar in die protestantischen Ethiken übergegangen.

Christliche Ausbildung und Einschränkung der Askese.

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und steht unter der Macht der Dämonen nur, soweit sie sündig ist. Aber von Sünde ist sie allerdings überall durchdrungen und bildet ein in sich zusammenhängendes System der Sünde, ein soziologisches Gegenbild der Kirche. Göttlich ist in ihr nur der Geist der Ordnung und des Rechtes, der die pax terrena und damit die friedliche Arbeit der Christen sichert. Die Christen selber aber leben gar nicht unmittelbar in der Welt, sondern nur durch Vermittelung der Kirche. Sie sind in erster Linie Glieder der Kirche und leben nur als solche zugleich in der Welt, da die Kirche noch im Fleische ist als ecclesia militans. So schreibt die Kirche ihnen das Mindestmaß der Beteiligung an der Welt vor und nimmt ihnen die Verantwortung der eigenen Entscheidung ab. Sie reguliert das anzuerkennende Mindestmaß und sichert dann doch den asketischen Geist gerade durch die Forderung des Verhältnisses zur Kirche, des demütigen Selbstverzichtes auf eige­ nen Willen, der selbstentäußernden Unterwerfung unter die sakra­ mentale Gnade mit der allein von ihr ausgehenden Kraft zum wahr­ haft Guten, der die Einheit der Kirche über alles setzenden Liebe. Unter diesen Bedingungen ist für die große Allgemeinheit der aske­ tische Geist zugleich gemildert und gesichert 52). Zugleich aber wird 62) Charakteristisch ist hier die Erklärung Augustins, De doctrina christiana I 3 ff. : er unterscheidet frui und uti, was dann zu einer Grundlehre der ganzen spä­ teren katholischen Ethik geworden ist. Etwas »genießen« heißt etwas »liebenAypOGcpo,; vo­ µo,; (Abhh. der philol.-hist. Klasse der Sächsischen Akademie 1903 Bd. XX S. 16 -17.) Die Lehre vom OG, v. sei bei Philon teils unter dem Einfluß seines Glaubens teils der Philosophie geprägt: »Ungeschriebene Gesetze stellen in ihrem Leben die Weisen der alten Geschichte, die Patriarchen und Stammväter dar, von denen ebendeshalb zur Nacheiferung der Späteren Moses geschrieben hat. In ihnen ist das Gesetz erfüllt und persönlich geworden. Sie selber aber bedurften wiederum einer Norm , nach der sie richteten und die ihnen die Natur darbot. Auch diese Norm wird von Philo einmal als ungeschriebenes Gesetz bezeichnet .. A. v. ist ihm ein Gesetz, das nicht auf Stein oder Papier sich darstellt, sondern lebendig hervortritt in dem Handeln und Treiben, sei es einzelner hervorragender Vertreter desselben, der Patriarchen oder Heroen, sei es endlich des höchsten Wesens, des Universums oder der Gottheit.« Den Inhalt der Bücher De Abrahamo, de Josepho, de vita Mosis, de decalogo faßt Heinrici dahin zusammen: »In den beiden ersten Schriften wird das Normative der Lebensführung dieser Patriarchen herausgear­ beitet; ihr Leben sei die Verkörperung des ungeschriebenen Gesetzes, des beseelten 10*

I. Alte Kirche, 3, Frühkatholizismus.

Damit kommen wir zum letzten der großen sozialen Pro­ bleme des Christentums, dem Verhältnis des Christentums zum St aat. und v e r n ü n f t i g e n G e s e t z e s , in dem die Menschen n a t u r nach ihrer Vollendung erscheine und das die Voraussetzung sei für das später kodifizierte Ge­ setz, Abraham wird dargestellt als Typus des rechten Erkennens, Joseph als Ty­ pus des Staatsmannes , •.• ( eine verloren gegangene Schrift) schildert Isaak als Typus des Autodidakten, der sein Wesen (Cf'UOI�) ebenmäßig ausbildet und Jakob als Typus des Asketen, das will hier sagen als Helden selbstverleugnender und er­ folgreicher Tatkraft. Das Hauptstück aber , , ist das Leben des Moses, in dem der Held als vollkommener Gesetzgeber erscheint, der zugleich als König, Priester und Prophet gefeiert wird, Die Schrift de decalogo schloß sich nach den Angaben ihrer Einleitung an die Reihe der v6µ01 ä.ypOGCflOI an, Sie verherrlicht die ewige sittliche Wahrheit, die unmittelbar von Gott seinem Hermeneuten mitgeteilt ist als die Grundlage aller weiteren Gesetzgebung, < (Theol. Litztg. 1903 col. 77.) Jeder Leser der beiden einzigen Ethiken der alten Kirche, des Pädagogus des Clemens und der Offizien des Ambrosius, erkennt, wie beide ohne weiteres diesem Ideen­ gang folgen. Die ausdrückliche Nachahmung Philons durch Ambrosius und die Alexandriner konstatiert auch Thamin , St. Ambroise et la morale chretienne au 4eme siede 1895. Die Gleichung zwischen Naturgesetz und mosaisch-christlichem Gesetz ist hergestellt teils durch die Identität des in ihnen wirkenden Logos teils durch die bekannte Lehre von der Entlehnung der griechischen Weisheit aus dem Orient. - Ueber Paulus s. Quimbach ,Die Lehre des h. Paulus von der natürlichen Gotteserkenntnis und dem natürlichen Sittengesetz« Freiburg 1906 (Straßburger Theo!. Studien VII 4); Q. betont mit Recht schon hier die wesentliche Identität des Natur­ gesetzes mit dem Dekalog. - Waldstein »Der Einfluß des Stoizismus auf die älteste christliche Lehrbildung« (Theol. Stud. u. Krit, 1880) meint, die Rezeption der e t h i s c h e n Lehren der Stoa sei auf Justin und Klemens beschränkt, d a allerdings sehr gründlich, wobei der Logos das stoische Naturgesetz bedeute nach dem Worte des Chrysipp: 1'Ju:ntep 'tSAO\; ytve'tOGI 't il &. x o A o 6 ,& eo \; 't 1i Cf' 6 a e 1 � ij v, öitep Sa'tl 'XOG'ta. ye 't'!]V OGÖ'tOU :KOG! 'XOG'tCX. 't'!]V 'tWV ÖAWV, oÖ1'l6V svepyoiiV'tOG(; ffiV CX.1t0Gyope6e1v etw&ev 6 v 6 µ o , 6 'X o I v 6 , , ö a 'lt e p s a 't l v 6 ö p ,& il � A 6 y o � 1'J 1 &. 1t a. v 't eo v s p X 6µ e v o � , 6 OGÖ'tb� rov 'tip Ueber den Reich­ tum«, in dem alles darauf hinausläuft, den Erwerbsbetrieb, den er nur als Selbst­ sucht zu würdigen weiß, einzuschränken und die Entsagung als die höchste, wenn nicht fast sogar einzige, Tugend zu feiern. Oder man prüfe die Mittel zur Heilung der sozialen Schäden, welche in den historisch-politischen Blättern angepriesen werden. Vor allem soll die Produktion eingeschränkt werden. Es sollen sich Mäßigkeitsvereine bilden, deren Mitglieder sich verpflichten , kein Fabrikat zu kaufen, das nicht zur Befriedigung eines wirklichen Bedürfnisses dient, kein Haus­ gerät, kein Kleidungsstück anzuschaffen, das bloß zur Zierde dient. Das dadurch ersparte Geld soll dann zur Vermehrung der klösterlichen Institute verwandt werden, die dann weiter dazu dienen, die Vermehrung der Bevölkerung aufzuhalten«. Das letztere ist besonders wichtig ; dieses Sozialideal setzt eine nicht allzu dichte Be­ völkerung als erste Bedingung der Beseitigung des Konkurrenzkampfes voraus.

Die soziologischen Einzelprobleme.

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dem religiösen Zentralzweck und damit zu der alles überwölbenden und zusammenschließenden Einheit der Kirche und kirchlichen Autorität in feste Beziehung gestellt wird. Die kirchliche Sozialphilosophie lehrt jetzt einen vollkommen geschlossenen, logisch zusammenhängenden, entwicklungsgeschicht­ lichen A u f s t i e g u n d F o r t s c h r i t t d e r S o z i a 1 b i 1d u n g e n. Die Ur- und Grundform ist die Familie, die nach Aristoteles und nach der Bibel als monogamischc Familie die erste Wirkung der gemeinschaftbildenden Vernunft und die durch ihre Fortpflanzungsfunktion besonders geheiligte, gerade die persön­ lichen Beziehungen vorbildlich bestimmende Mustergestalt mensch­ lichen Gemeinschaftslebens ist. Aus dem Zusammenschluß der Fa­ milien entsteht die Gemeinde, die Thomas aus noch zu besprechen­ den Gründen wesentlich als städtische in Betracht zieht, neben der aber die dörf lichen und hofrechtlichen Vereinigungen natürlich auch in Betracht kommen. Ueber den Gemeinden erheben sich Provinz und Reich. Die Staaten sind von unbegrenzter Zahl. An ihre Zusammenfassung im Kaisertum denkt Thomas und das spätere Mittelalter nur wenig, die heutige katholische Soziallehre begreiflicher Weise gar nicht. Innerhalb der Gemeinden und des Staates bewegen sich dann schließlich die ständisch-beruflichen Grup­ pen und Genossenschaften, die die Träger des sozialen Lebens im engeren Sinne sind und bei denen die charakteristischen korporativen und ständischen Gliederungen des Mittelalters vorausgesetzt werden. Das Ganze aber wird zusammengeschlossen in der Kirche mit ihren hierarchischen Gliederungen und Ordensgenossenschaften, in letzter Linie also regiert vom Papste und durch ihn von Christus, dem Herrn der Christenheit selbst, wobei der Stand der Kleriker und der Asketen das eigentliche Mittel der Regierung ist 147). 147) Das Grundschema in seiner Wirkung auf die Einzelkreise s. Gierke III 513 f., 544 f., 559, 640; Althusius 60, 133 f., 232. Der Auf bau in Familie, Ge­ meinde, Reich, Kirche, Feugueray 177, 142 f., Gierke, Althusius 227, 229, 241, Cathrein II 515, 520. Die ständische und korporative Gliederung Agargeschichte, II. Mittelalter u. Neu­ zeit« in ,Die Religion in Geschichte und Gegenwart« I S. 247 f.: ,Direkt gegen den Zusammenhang der Sippe ist die Ehegesetzgebung, in der das Zusammen­ wirken von Staat und Kirche am deutlichsten ist, gerichtet. Man kann sie ge­ radezu als eine Emanzipation des Individuums, namentlich des weiblichen, bezeich­ nen, ein Verdienst, das die Frauen dann auch mit dauernder Anhänglichkeit an die Kirche vergolten haben. Die Durchführung der kirchlichen Eheschließung in der Höhezeit des Mittelalters, die auch ein Höhepunkt der Stellung der Frau ist, bildet den Schlußstein: durch sie ist die Eheschließung durch die Sippe dauernd verdrängt worden.« Ein weiteres Mittel der Individualisierung in der Familie gegen die Sippe und der Familie in sich selbst ist dann die freilich im kirchlichen In­ teresse durchgeführte Testirfreiheit. Ebd. 248. 22*

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II. Mittelalterl. Katholizismus.

8. Thomistische Sozialphilosophie.

mischte Verfassung, wobei wohl an ständische Repräsentationen und deren Mitwirkung gedacht ist ; freilich fließen sie für Thomas beständig mit der Volksversammlung der aristotelischen Polis zu­ sammen und sind in seiner Theorie die Beziehungen auf das kon­ krete Verfassungsleben der Zeit auffallend verblasst; das hat zur Folge eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit der katholischen Theorie von dem Lehenswesen und der Feudalität , eine stark abstrakte Behandlung des Verhältnisses der öffentlichen Gewalt und der subjektiven öffentlichen Rechte. Gegenüber einer den Staats­ zweck verleugnenden selbstsüchtigen und tyrannischen Regie­ rung besteht Revolutionsrecht und sogar Revolutionspflicht, frei­ lich unter der Bedingung, daß durch eine solche Revolution nicht mehr geschadet als genützt wird. Die Einzelausführungen, die gerade hier bei Thomas sehr stark unter buchgelehrtem Einfluß stehen und weder auf den mittelalterlichen Staat noch auf die moderne Welt anwendbar sind, können hier auf sich be­ ruhen; seine Lehre über die Entstehung des Staates, über das Ver­ hältnis des natürlichen, positiven und Völkerrechtes, seine Anschau­ ung von dem Verlauf der politischen Geschichte, sein Verhältnis zu den Rechtstheorien und -Quellen seiner Zeit, haben nur mono­ graphisches Interesse. Die Hauptsache ist die Einschränkung des Staatszweckes auf die utilitarische Wohlfahrt und die legale Gerechtigkeit, die Verbindung von göttlicher Autorität der Staats­ gewalt mit subjektiven Rechten und Ansprüchen der Individuen, die Bedeutung von Pietät, Vertrag und patriarchalischer Gesinnung für das politische Ganze. Das sind dauernde Grundzüge der katholischen Staatstheorie. Der Staat ist die Organisation der weltlichen und rechtlichen Interessen, soweit eine solche für die christliche Gesellschaft notwendig ist, und insoferne überhaupt nur eine Ingredienz der letzteren. Er ist die weltliche Seite der­ selben Gesellschaft, deren geistliche die Kirche darstellt. Dabei ist dann auch die Beziehung des Staates auf den religiösen Zentralzweck leicht ersichtlich. Sie liegt außer in der Betonung der patriarchalisch­ organischen Liebeselemente, die auch den Staat zur Vorschule christ­ licher Gesinnung machen, in der strengen Eingrenzung des Staats­ zweckes auf irdische Interessen und formale Gerechtigkeit. Dadurch wird die Verselbständigung des politischen Ideals als eines ethischen Selbstzweckes ferngehalten, die für den antiken und modernen Staatsbegriff charakteristisch ist und die jeder Lehre von der letzten Geltung religiöser Lebenszwecke bedenklich sein muß.

Politische Gewalt und Gemeinschaft.

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Ebenso ist diese rein utilitarische Auffassung eine Fernhaltung des Staates von allen geistigen, religiösen und höheren ethischen Interessen, die er vielmehr erst von der Kirche empfängt und die unter Leitung der Kirche bleiben müssen. In die ersteren Gebiete kann er beliebig eingreifen, ja gerade das wirtschaftliche Leben kann er durch Preistaxen und durch allerhand die Autarkie jeder Gemeinde schützende Vorschriften aufs tiefste beeinflussen; aber das geistige Leben muß er frei lassen für die Kirche. Das Ver­ hältnis der Staaten untereinander soll das von Gliedern der christ­ lichen Familie sein; Kriege sind nur als gerechte, durch die Schuld des andern hervorgerufene erlaubt und sollen das Gute fördern, Uebles vermeiden helfen. Auch sind sie nur als offizielle vom Fürsten angeordnete zulässig, während die Privatkriege und Fehden ver­ boten sind. Der Egoismus der Nationalitäten vollends kommt für die internationale christliche Lebenseinheit noch gar nicht in Be­ tracht; die Metaphysik der Kirche läßt die des Nationalgefühls über­ haupt noch nicht auf kommen. Die Frage der Gerechtigkeit eines Krieges entscheidet in letzter Linie die Oberrichterin aller mora­ lischen Dinge, die Kirche. Schließlich und vor allem kommt die Eingliederung in den geistlichen Lebenszweck zum Ausdruck in der Theorie von der Oberherrschaft der Kirche, die zwar in den rein irdischen Angelegenheiten nur eingreift, wo sie mit den geist­ lichen Interessen zusammenhängen, aber über die Fälle solchen Zusammenhanges souverän von sich aus entscheidet. Die geistliche Autorität ist die regierende und leitende Seele auch der welt­ lichen Autorität, ganz so wie Gott den Organismus der Welt regiert, auch da, wo er ihn zunächst seinen eigenen Gesetzen überläßt. Die Hauptaufgabe ist hier, daß überall der wahre Glaube und das ihm entsprechende kanonische Recht herrsche ; doch sind Gewaltbekehrungen gegen Juden und Ungläubige un­ erlaubt; allerdings werden die Häretiker im Falle hartnäckiger Leugnung aus Fürsorge für das Heil der Uebrigen exkommunziert und dann der Staatsgewalt zur Bestrafung übergeben als schäd­ liche Störer der Gesellschaft. Unterordnungen von Gläubigen unter Ungläubige sind nur erlaubt, soweit es die äußeren Rechts­ und Machtverhältnisse mit sich bringen. Der Verkehr mit Un­ gläubigen ist nur erlaubt, soweit er Hoffnung auf Bekehrung erwecken kann, im übrigen soweit die Not ihn gebietet. Nur durch die Taufe gehört man sowohl der staatlichen als der kirchlichen Ordnung an, und für Ungläubige ist die Taufe die

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II. Mittelalter!. Katholizismus.

8. Thomistische Sozialphilosophie.

Naturalisation in der christlichen Gesellschaft. Nimmt man hier noch die Leitung der fürstlichen Gewissen durch das kirch­ liche Ideal hinzu und bedenkt man die Forderung, daß es Auf­ gabe der Fürsten ist die Völker zur Tugend zu erziehen, so ist die Eingliederung des Staates unter den religiösen Zweck trotz seiner naturgesetzlichen Selbständigkeit eine alles beherr­ schende. Andererseits aber ist von einem so sich verstehenden Staat auch keinerlei ethisches Motiv des Widerstandes gegen diese Erfüllung mit dem absoluten religiösen Lebenswert zu be­ fürchten. Differenzen sind nur möglich über das Maß und Ver­ hältnis der Beteiligung der weltlichen und der geistlichen Gewalt an der gemeinsamen Aufgabe, wie ja der ganze ungeheure Kampf von Kaisertum und Papsttum nur eine Differenz solcher Art ge­ wesen ist, soweit Theorien und Prinzipien dabei in Frage standen. Die thomistische Lehre vertritt hier klar und ehrlich die völlige Vorherrschaft der geistlichen Gewalt, in der sich das Zweckreich der Vernunft und Erlösung erst einheitlich zusammenschließt 150). Sehr viel lückenhafter und unklarer liegen die Dinge bei der thomistischen Lehre von der e i g e n t l i c h e n G e sel l s c h a f t; sie ist auch nur sehr bedingt als typisch für die katholische Sozial­ lehre anzusehen. Typisch allerdings ist der Grundzug, daß die ganze Gesellschaftsgliederung auf der Notwendigkeit der Arbeit und 150) Vgl. hierzu Feugueray, Baumann, Gierke; im übrigen v. Eicken 356-436, Cathrein II 449-678. So sind auch die bei Aristoteles politisch gemeinten Aeuße­ rungen über die soziale Natur der menschlichen Vernunft von Thomas unwillkürlich lediglich sozial verstanden als Aussagen über die notwendige wirtschaftliche Ergän­ zung der Berufe innerhalb des Staates, was wiederum seinerseits Aristoteles von seinem antiken Ideal des Vollbürgers und Rentenbeziehers aus verwirft, s. Mauren­ brecher 30 und 36, zugleich ein Beispiel für die Art des thomistischen »Aristote­ lismus«. - Gegen die modernen Staatstheorien charakteristisch Zirkel bei Ludwig II 419: »Die Kirche hat im Himmel ihren Ursprung und hat sich auf der Erde niedergelassen, nicht als auf dem Gebiete des Staates, sondern als in dem davon ganz verschiedenen Gebiete des Gewissens . . Die Kirche ist beschäftigt, für das ewige Heil der Menschen zu wirken, während der Staat ihr zeitliches Wohl be­ sorgte. - Ueber den Kampf von Kaisertum und Papsttum s. jetzt Rampe, »Deutsche Kai�ergeschichte« 1909. Ueber die Gebundenheit der Kaiser in dem gleichen Ideal und die Forderung bloß größerer Beteiligung an der Regierung der christlichen Gesellschaft, die dann die kaiserliche Politik der päpstlichen selbstverständlich unterlegen macht, s. S. 19: ,Aber vertragen sich die Grundsätze einer christlichen Sittenlehre in dem Maße, wie sie Heinrich III. übte, noch mit den Forderungen einer erfolgreichen Staatskunst?«

Gesellschaft im engeren Sinne und Wirtschaftslehre.

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der sich ergänzenden Arbeitsteilung naturgesetzlich beruhe. Das ist gegenüber der alten Kirche, in der nur ganz gelegentlich sich solche Aeußerungen fanden, etwas Neues. Diese hatte im Grunde das alte Ideal des rentenbeziehenden antibanausen Bürgers fest­ gehalten und für die arbeitenden Klassen nur Liebe und Mildtätig­ keit verlangt, im übrigen die Arbeit nur im Kloster zur vollen Ehre gebracht. Jetzt spiegelt sich die mittelalterliche bürgerliche Ordnung in dem sozialen Ideal von Arbeit und Eigentum und einer nur auf Arbeit begründeten Differenzierung. Daraus er­ geben sich naturgesetzlich die Ständegliederungen und Korpo­ rationen gemeinsamer Arbeit, sowie die Aufgabe der die Gesell­ schaft leitenden Autorität; sie besteht darin, einerseits für die Aufrechterhaltung dieser Gruppen und für Nahrungsschutz zu sorgen, andererseits die Einzelnen bei ihrem Stand und ihrer Arbeit fest­ zuhalten, damit die gesellschaftliche Gliederung nicht gestört werde. Dabei denkt Thomas überall an kleine Wirtschaftseinheiten von autonomer Bedarfsdeckung, in welchem Sinne er die aristotelische Autarkie interpretiert; er setzt an Stelle der politisch-ethischen Selbstzwecklichkeit des Staates die Sicherheit einer nicht durch unübersehbare Zusammenhänge gestörten Bedarfsdeckung , wo nach Möglichkeit alle Bedürfnisse von der Wirtschaftseinheit selbst gedeckt werden und nach außen nur ein ergänzender Passiv­ handel zu wünschen ist. Das ergäbe ein radikal auf persönliche Arbeitsleistung und gerechten Lohn begründetes soziales Sy­ stem, bei dem nur durch die Anerkennung des Erbrechtes, als naturgesetzlich in der Fortsetzung der Persönlichkeit durch die Familie begründet, die revolutionärsten Folgen vermieden wären 151). Aber dieses System paßt sich ganz von selbst den gegebenen Verhält­ nissen an, indem die Arbeit differenziert wird in körperliche, geistige und herrschende Tätigkeit, indem das Einkommen standesgemäß 151)

So wird auch die Eigentumslehre ohne jeden Zusammenhang mit der Lehre von der Arbeitsteilung und Berufsdifferenzierung ganz selbständig und gelegentlich als Frage des Naturrechtes verhandelt, wo dann die Fragen des urständlichen Kommunismus und des Rechtes des Eigentums im Sündenstande verhandelt werden. Maurenbrecher S. 96 f. Instinktiv muß aber ein Zusammenhang bestanden haben, da Thomas die Eigentumsbildung aus dem anfänglichen Gebrauchskommunismus sich naturgesetzlich notwendig entwickeln läßt und das gleiche von der Arbeits­ teilung lehrt. Auch hängt die der alten Kirche gegenüber neue, an Aristoteles an­ geschlossene Theorie vom Naturrecht des Eigentums (Maurenbrecher S. 104 f.) un­ zweifelhaft mit der ebenfalls neuen Schätzung der Berufe und der Arbeit zusammen, die er ja gleichfalls aus dem Aristoteles herauszulesen meinte. S. auch M. S. IIO.

II. Mittelalter!. Katholizismus.

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8. Thomistische Sozialphilosophie.

sein muß und indem die Unfreiheit als Folge des Sündenfalls ohne weiteres acceptiert wird. Damit greifen nun ganz andere Motive in die auf Arbeitsleistung und Sicherung eines ausgiebigen Existenzminimums begründete Idee der Gesellschaftsgliederung ein. Der Patriarchalismus durchbricht die einfache Grundtheorie, und der eigentliche Geist dieser Soziallehre wird nur mehr an­ wendbar auf die agrarisch-bäuerliche und die gewerblich-städtische Arbeit. Die domini saeculares oder die herrschende Aristokratie sowie die Männer des beschaulichen und gedanklichen Lebens, der Wissenschaft und der Kirche, rücken unter einen ganz an­ deren,. sehr aristokratischen Gesichtspunkt. Die materielle Arbeit verbleibt den unteren Ständen, teils ein· auch hier nicht zu um­ gehendes Zugeständnis an die Naturbedingungen der Gesell­ schaft 161a), teils eine Einwirkung des aristotelischen Aristokratismus. Hier ist nun das Merkwürdige, daß im Gegensatz zu der Neigung des modernen Katholizismus für die ländliche Bevöl­ kerung und ihr spezifisches Ethos bei Thomas wesentlich nur die Stadt in Betracht kommt. Der Mensch ist ihm von Natur städtisch, und das Landleben ist ihm nur eine Folge von Unglück oder Not; freilich ist seine Stadt selber zugleich stark agrarisch und deckt ihre Bedürfnisse im geordneten Austausch mit dem ihr untergebenen Lande. Diese völlig einseitige Beziehung auf die Stadt ist nun aber doch schwerlich nur durch den Zufall ver­ anlaßt, daß der Italiener und Bettelmönch wesentlich bloß die Stadt kennt und daß der Kommentator des Aristoteles überall am Stadtstaat hängen bleibt. Denn Aristoteles bevorzugt den Landbau vor den Gewerben, während Thomas den ersteren als schmutzig und elend bezeichnet; außerdem bezieht Thomas die aristotelische Geringschätzung des Gewerbes nur auf die ab­ hängigen Lohnwerker , während er die am Stadtregiment teil­ nehmenden Gewerbetreibenden mit den aristotelischen Vollbür­ gern vereinerleit, ganz gegen den Sinn des Aristoteles. Vielmehr deutet all das hin auf den bereits früher hervorgehobenen Um­ stand, daß doch erst die mittelalterliche Stadt mit ihrem Friedens­ prinzip, ihrer Begründung auf freie Arbeit und korporative Ar­ beitsgruppen, mit ihrem stärkeren geistigen Interesse und ihrer fürsorglichen, jeden schützenden · Verwaltung der eigentliche Boa) Ueber diese Naturbedingungen sehr lehrreich Michels »Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft.« Archiv XXI. 151

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den für die christlichen Ideale wurde 152). So ist zwar die Be­ schränkung auf die Stadt äußerst einseitig, aber sie veranschau­ licht in dem Ideal der Stadt doch typische Züge der katholisch­ christlichen Gesellschaftslehre , die eine Uebertragung auch auf das Allgemeine und Ganze zulassen. Insbesondere ist nur von hier aus und nicht von der Anschauung der Feudalgesellschaft aus die Forderung der Sozialtheorie begründet, daß alles Ein­ kommen und alle Differenzierung auf der persönlichen Arbeits­ leistung beruhen müsse. Das ist bürgerliche, nicht mehr feudale Ethik. Thomas, selbst ein Sprößling des Feudaladels, ignoriert Lehenswesen und Feudalität, setzt aber ü!Jerall die ständische Gliederung als selbstverständlich voraus. Er liebt es nur nicht, sie an der Feudalität zu veranschaulichen. Und in diesem Sinne hat auch die übrigens so einseitige Orientierung des Thomas an der Stadt ihre allgemeine und typische Bedeutung für die katho­ lische Sozialethik. Sie ist patriarchalisch in den Grenzen der not­ wendigen Konzessionen an die unvermeidlichen natürlichen Macht­ verhältnisse und Unterschiede, aber in keiner Weise feudal. Sie ist bürgerlich im Sinne der agrarisch-gewerblichen Stadt mit ihren festen Arbeitsgliederungen und ihren durchsichtigen Proportionen von Arbeit und Einkommen 153). Das Einzelne ist hier nur von monographischem Interesse. Allgemein bedeutsam sind wiederum nur diejenigen Züge an diesem bürgerlichen Ideal, die einer Verallgemeinerung für das Ganze fähig sind und den Geist dieser Arbeits- und Erwerbsordnung zeigen. Das Entscheidende ist einerseits die positive Schätzung der Arbeit, des Erwerbes, des Privateigentums, des Erbrechtes 152)

Ueber diese christliche Bedeutung der Stadt, die ept eine wirkliche christ­ liche Laienkultur von selbständiger Regsamkeit bringt s. Uhlhorn, Liebestätigkeit II 17 4, 20 I, 2 IO; namentlich der Berufsbegriff gegenüber den bisherigen Geburtsständen ist in der Stadt zu Hause S. 325 f., ebenso die Idee der gegenseitigen Ergänzung S. 404, Anfänge einer bewußten Sozialpolitik 450. 158) Die Belege zu alledem bei Maurenbrecher, der nur den Gründen nicht nachgeht, weshalb Thomas die Stadt so auffallend vor dem Lande bevorzugt. Daß die mittelalterliche Gesellschaftslehre der Theologen die Feudalität ignoriert, ist auch sonst immer aufgefallen. Erst die romantisch - antirevolutionäre Staats­ doktrin der Restauration, L. v. Haller und de Bonald , kommen auf sie zurück. Sie ist aber von da auch heute nicht in die eigentliche katholische Soziallehre ein­ gedrungen. Diese bevorzugt demokratische, bäuerlich -agrarische und bürgerlich­ mittelständische Ideale.

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und die Einräumung einer naturgesetzlichen Pflicht für sich und die Seinigen, das dem Stande entsprechende und die Erhaltung der Familie sichernde Maß von Eigentum zu erwerben. Indem das naturgesetzlich, d. h. mit Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit für die Produktion begründet wird, ist damit der die alte Kirche völlig beherrschende reine Konsumtionsstandpunkt aufgegeben und den realen Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens Rechnung getragen. Andererseits ist es der, wie ihn Max Weber im Ge­ gensatz zum kapitalistischen Geiste nennt, traditionalistische Geist der ganzen Wirtschaftsauffassung. Er kommt zum Ausdruck in der standesgemäßen Unterscheidung der Lebenshaltung und in der Anweisung an die politischen Gewalten, durch eine Politik des Nahrungsschutzes und der Preisregulierung jeden bei diesem stan­ desgemäßen Einkommen zu erhalten. Es ist der Standpunkt der Konservierung der Nahrungen, der mit der Festhaltung stehender ständischer Gruppen und dem Ausschluß des Berufswechsels, der Fortsetzung des väterlichen Berufs durch die Kinder, eng zusam­ menhängt. Er kommt weiter zum Ausdruck in der den Verkehr und Austausch regulierenden Preislehre vom pretium justum, das dem Warenwert objektiv genau entsprechen und nur den Zu­ schlag des für das Leben des Händlers Notwendigen enthalten soll; wie freilich ein solcher objektiver Wert festgestellt werden soll, darüber sagt die noch sehr kindliche ökonomische Reflexion nichts; sie passt sich den wirklichen Verhältnissen nur durch das Zugeständnis gewisser Schwankungen und durch gelegentliche Anerkennung subjektiver .Faktoren in der Preisbildung an. Er kommt schließlich zum Ausdruck in der bekannten Zins- und Wucherlehre, die jetzt auf der aristotelischen Lehre von der Un­ fruchtbarkeit des Geldes beruht und eine ganze Geldtheorie ent­ hält; ihr Sinn ist im Grunde, sowohl der ungerechten Ausbeu­ tung als einer gefährlichen Mobilisierung des Güterverkehres, der ganzen Unberechenbarkeit einer ins Unendliche hineinarbeiten­ den und vom begrenzten Kundenkreis sich emanzipierenden Pro­ duktion, vorzubeugen, auch ein Einkommen ohne Arbeit zu ver­ hindern. Die außerordentlich verwickelten Einzelheiten und Ab­ hängigkeiten dieser ökonomischen Lehren müssen hier auf sich be­ ruhen. Begründung von Eigentum und Erwerb auf persönliche Ar­ beitsleistung, Güteraustausch nur soweit er nötig und dann nach Grundsätzen eines gerechten, niemand übervorteilenden Preises, den am besten die Obrigkeit reguliert, Konsumtion nach dem Grundsatz

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einer nur den natürlichen Zweck der Daseinsbehauptung erfüllenden Mäßigkeit und einer die Not anderer berücksichtigenden Mildtätig­ keit, doch mit Zugeständnis starker standesgemäßer Differenzen und gelegentlicher Liberalitäten: das ist der Geist dieser ökonomischen Denkweise. Es genügt hervorzuheben, daß dieser Geist auch da bestehen bleibt, wo mit der unumgänglichen modernen Arbeits­ zerlegung und der Größe der modernen Versorgungskreise das Ka­ pital anerkannt wird. Er ist auch dem Neuthomismus eigentüm­ lich geblieben bis heute. Betonung des Eigentums für jeden, Konservierung in standesgemäßer Nahrung, Bescheidung und Ein­ grenzung der Produktion auf wirkliche Anregung der wirtschaft­ lich notwendigen Gütererzeugung, Verzicht auf einen aus reiner Spekulation stammenden privaten Unternehmergewinn , mög­ lichste Vereinigung von Kapitalbesitz und Arbeit , Bereitwillig­ keit der Besitzenden eine solche Zusammenlegung nach Möglich­ keit auch durch persönliche Opfer an Gewinnchancen in Asso­ ziationen und Gewinnbeteiligung zu ermöglichen, schließlich neben diesen Gesinnungselementen starke staatliche Regulierungen zur Durchführung und Behauptung einer derartigen Gesellschaftsver­ fassung : das ist heute noch bei Ratzinger das christliche Sozial­ ideal, an dem die Welt genesen soll 154). 154) Hierzu vor allem Ratzingers » Volkswirtschaft« in ihren historischen und systematischen Partien. Ueber das pretium justum bei Thomas s. Brentano, »Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte« 1901, S. 35 f.; darnach hat Th. den erlaubten Handelsgewinn gleichfalls von dem Maß der standesgemäßen Erhaltungsbedürfnisse abhängig gemacht und den subjektiven Bedingungen der Preisbildung (Liebhaber­ werte u. a.) wenigstens einen beschränkten Einfluß auf das objektive pretium justum gewährt; also auch hier die Konzessionen an das praktisch Unvermeidliche. - Ein­ gehender ist F. X. Funk, »Ueber die ökonomischen Anschauungen der mittelalter­ lichen Theologie«, Z. f. ges. Staatswissenschaft, 25. Jahrg. 1864. F. hebt die Lücken­ haftigkeit, Zufälligkeit , zeitgeschichtliche Bedingtheit und spezifisch-theologische, den Beichtrat betreffende Art der Aeußerungen des Thomas hervor und hält sich mehr an Antonius von Florenz und Bernhardin v. Siena, teilt übrigens auch über Thomas das Wesentliche mit. Er hebt hervor, daß die Erkenntnis von der pro­ duktiven Natur des Kapitals wohl vorhanden sei und in den berechtigten ,Zins­ titeln« auch zur Geltung komme, daß also auch hier schon bei Th. eine starke An­ näherung an das praktisch Notwendige stattfinde, daß aber juristische Autoritäten (der römische Mutuatarvertrag) und aristotelische Theorien (Unfruchtbarkeit des Geldes) es nicht zu einer Lösung der Schwierigkeiten kommen liessen, Auch die altkirchlichen und angeblich biblischen Wucherverbote bestimmen ihn. Aber er ist im Begriff, den Unterschied von Wucher und Zins zu begreifen; nur, indem die ari­ stotelische Theorie ihn zugleich mit dem positiven Rechte zwingt, bildet er seine,

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All das aber bezieht sich freilich erst auf das naturgesetz­ liche Ideal der Gesellschaft. Darüber steht der religiöse Enddiese Einsicht wieder bedenklich einschränkende, Lehre vom Wucher- und Zinsverbot aus, doch nicht ohne einschränkende Klauseln für das letztere im Lucrum cessans, wozu später das damnum emergens und das periculum sortis hinzukommen. - Aehn­ lich Ch. Jourdain, ,Les commencements de l'economie politique dans les ecoles du moyen äge, Memoires de l'institut national de France, Academie des inscriptions et belles lettres, Bd. 28, Jahrg. 1854; J. sieht darin freilich nur die auf eine völlige Indifferenz in allen ökonomischen Dingen folgende Anregung eines ganz elemen­ taren ökonomischen Denkens durch Aristoteles: quelques notions sur la monnaie, des maximes severes en matiere de pret, d'injustes preventions contre le commerce temperees par !es sentiments pour ses avantages sociaux« S. 24 und verkennt den darin sich - freilich unbehilflich genug - aussprechenden eigentümlichen, von der christlichen Grundidee in der Tat inspirierten Geist. - Klar erkannt und ein­ gehend dargelegt nach Thomas ist dieser Geist bei Ashley, »Englische Wirtschafts­ geschichte«, übers. von Oppenheim I 1896, S. 129-167; er hebt auch treffend hervor, wie diese Auffassungen mit den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, d. h. mit ihrer meist bestehenden persönlichen Beziehung zwischen Konsumenten und Produzenten und der Unentwickeltheit des Handels- und Kreditgeschäftes zu­ sammenhängt, welches letztere in einem Stadium hoher Entwickelung allerdings trotz aller günstigen Wirkungen auf Gütererzeugung und Güterverteilung doch reich sei an ethischen Gefahren. Das ist in der Tat der sehr verständliche eigentliche Grundgedanke der christl. »Oekonomik«, wo sie, wie bei Thomas, dem bereits ent­ wickelteren Verkehrsleben gegenübersteht. Die Notwendigkeit befriedigender Be­ darfsdeckung anzuerkennen und doch die Gefahren eines zum Selbstzweck werden­ den wirtschaftlichen Egoismus zu vermeiden, das ist der Sinn des Programms, und das scheint ihm die mittelalterliche Stadt in dem ihm vor Augen liegenden Stadium der Entwickelung zu leisten. Dabei ist es dann freilich nicht geblieben, sondern aus der Stadt ist der moderne Kapitalismus und die moderne Staatsverwaltung hervor­ gewachsen; darum ist die moderne katholische Oekonomik jetzt umgekehrt mehr auf die agrarischen Verhältnisse gerichtet und erstrebt in Bezug auf die Stadt ein Ana­ logon der alten Gruppierungen und Bindungen, das der modernen städtischen Kultur nur durch ein Uebergewicht des Landes abgezwungen werden kann. Im übrigen ist ihr Sozialideal bis heute nicht entfernt in dem Maße agrarisch wie das lutherisch­ konservative. Darin äußert sich der größere Welthorizont des Katholizismus und wirkt auch die Tatsache sicherlich mit, daß die Grundlegung der Sozialethik bei Thomas sich bereits an der Stadt orientiert hat. - Der Artikel Th. v. A. von F. Walther im H. W. St. 2 gibt eine stark an Maurenbrecher angelehnte, aber sehr vollständige Zusammenfassung. Sehr kurz handelt von Thomas, aber auf Grund­ lage seiner patristischen Voraussetzungen 0. Schilling, Reichtum und Eigentum in der ethisch-rechtlichen Literatur, 1908. Das Buch bestätigt übrigens durchaus mit einem reichen Material von Zitationen die Darstellung, die ich vom Frühkatholizis­ mus im ersten Teil gegeben habe.

Christliche Abzweckung und Leitung der Gesellschaft.

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zweck. Seine christliche Beziehung auf diesen besteht zunächst darin , daß die für die Behauptung dieses naturgesetzlichen Sy­ stems nötige Selbstbescheidung, der Opfersinn und der ganze Traditionalismus wirklich aufgebracht werden können nur unter starker Mithilfe der christlichen Tugenden der Liebe, der De­ mut und der Hoffnung auf den eigentlichen Lebenswert im Jenseits. Es ist der Sinn der heroischen Entsagungen des Mönchtums, diesen Geist durch ihr Vorbild zu stärken und ihn der Gesellschaft als unentbehrliche Grundlage auch der natürlichen Lebensformen zu erhalten 154a). Weiterhin erscheint die Arbeit neben ihrem positiven Wert als Mittel der Existenz auch als ein wohltätiges Mittel der Askese, das fleischliche Gedanken bricht und die Zerstreuung der Weltlust hemmt. Ueberdies ist sie als Folge des Sündenfalls auch eine Mahnung zur Demut. Auch sie ist Strafe und Heilmittel. zugleich. Unter diesen geistigen Ein­ flüssen richtig verstanden und ausgeführt ist sie das Mittel zur Erhaltung der physischen Existenz der christlichen Gesellschaft, insoferne mit dem Besitz von Gott geordnet als Voraussetzung der höheren Lebenswerte. Zu allerhöchst aber dient sie nicht bloß der Selbsterhaltung der christlichen Gesellschaft , sondern der Liebe, indem der Erwerb zum Unterhalt der Kirchen und Klöster teils in festen Abgaben teils in freien Schenkungen be­ fähigt und indem alles darüber hinaus zum Leben nicht Nötige in den Dienst der Bruderliebe und Mildtätigkeit gestellt wird. Im Falle der Not und des Bedürfnisses tritt die Gemeinsamkeit des Besitzes wieder ein, der ja überhaupt sich nur aus Zweck­ mäßigkeitsgründen zum Privateigentum entwickelt hat. So wird auch der Diebstahl des hl. Crispin gerechtfertigt. Hier kehren dann die bekannten altkirchlichen Gedanken wieder. Freilich 154•) Vgl. hierzu die Begründung für Wiedereinführung des Mönchtums bei Zirkel, Ludwig II. 164 f.: >Das Mönchtum ist die religiöse Idee, die in einzelnen Individuen in einem höheren Grad entwickelt eine Gewalt erhält, durch die sie sich alle Neigungen und Triebe der menschlichen Natur unterwirft. Daher das Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams . • . Die Menschheit bedarf ein öffentliches Beispiel dieser Lebensweise, um sich daran zu erinnern, was sie in sittlicher Hinsicht vermag und daß die stärksten Leidenschaften nicht unüberwind­ lich sind, wenn sie dieselben mit ernstem Willen beherrschen will. Im Staatsver­ band sieht sie die Anstalten dieser Art um so lieber, weil bei der Beschäftigung und Zerstreuung aller übrigen Stände sie einen S t a n d gern in ihrer Mitte hat, der für alle übrigen der Gottheit den Tribut schuldiger Anbetung und des Dankes leistet.«

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gießt die neue Soziallehre sehr viel Wasser in den Wein der ra­ dikalen Liebesethik. Die Pflicht des Verschenkens beginnt nicht bloß erst bei dem Ueberschreiten des Existenzminimums , das überdies standesgemäß sehr verschieden ist, sondern es ist ge­ radezu eine Pflicht, zuerst die Selbsterhaltung sicher zu stellen, und es ist unerlaubt, die Grundlagen der wirtschaftlichen Existenz der Familie durch eine die eigene Existenz bedrohende Freigebig­ keit zu gefährden. Das ist bei dem Mann, der selbst Bettel­ mönch war, gewiß nicht Weltsinn oder Gesetzlichkeit, sondern Rücksicht auf die Bedingungen des wirtschaftlichen Gedeihens. Für die aus der Welt Ausscheidenden macht er dann um so schärfer die Notwendigkeit völligen Verzichts auf jedes Eigentum geltend und verteidigt diese Forderungen lebhaft gegen die alten Orden. Für das Weltleben aber erkennt er charakteristisch eine solche Relativierung des Liebesgebotes als unumgänglich an, auch dies, wie so vieles andere, ein Zeichen, daß wir auf ganz ande­ rem Boden stehen als auf dem der alten Kirche, daß wir nun eine dauernde christliche Gesellschaftsordnung mit Eingliederung und Heiligung der Naturbasis des Lebens vor uns haben. Es ist nicht mehr die Liebestätigkeit als der einzige soziale Gedanke, der die Brücke schlägt von dem vollkommenen Urzustand der Gleichheit zu der kommenden Liebesgleichheit der himmlischen Seligkeit über eine der Sünde verfallene und der Vergänglichkeit bestimmte Welt hinüber 155). Die Grund z ü ge d e r m i t t e lalter lieh e n So z i a l p h i l o ­ s o p h i e sind damit auch nach den Einzelanwendungen hin deut­ lich. Sie hebt sich sowohl in ihrer Geschlossenheit und All­ seitigkeit als in ihrer positiven Welteingliederung deutlich ab von der unbestimmten, lückenhaften und gegen die Welt nie recht ins klare kommenden Soziallehre der alten Kirche. Sie be­ kundet damit dann freilich vollends auch ihren Abstand von der so­ ziologischen Idee des Evangeliums. Das Flügelroß des absoluten religiösen Individualismus und der radikalen Liebesethik ist vor den Pflug der Gesellschaftsordnung gespannt, zieht seine frucht­ baren Furchen in einem verhältnismäßig leicht bearbeitbaren Boden und strebt nur am letzten Ende in die Regionen der Uebersinnlichkeit und Ewigkeit hinein. Das neue Menschentum 155) Hierzu im einzelnen Maurenbrecher; auch v. Eicken 488-547 f. und die erwähnte Abhandlung von Funk; außerdem Ratzinger, > Volkswirtschaft< und viel Material bei Uhlhorn, >Liebestätigkeit II«.

Rückblick auf den Gesamtcharakter der Theorie,

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der religiösen Persönlichkeit und der Liebesgemeinschaft in Gott hat seinen Kompromiß geschlossen mit dem alten Menschentum des Kampfes ums Dasein, des Rechts, des Zwanges, des Krieges und der Gewalt, mit der Naturbasis des Daseins 156). Der Kompromiß war erst möglich auf dem Boden der mittelalterlichen Gesellschafts­ ordnung, die aus der Verjüngung der ganzen Gesellschaftsord� nung in einer kulturschwachen Naturalwirtschaft zu den ersten, noch gemäßigten Anfängen der höheren politischen und wirt­ schaftlichen Differenzierung und Vereinheitlichung emporstieg und in einem starken Vorwiegen des persönlichen Elementes über das abstrakte und rationalistische der religiösen Ethik leicht zugängliche Einsatzpunkte darbot 157). Die kirchliche Theorie hat darum diese Zustände verabsolutiert in ihrem christlichen Na­ turrecht und dieses in ihrer wissenschaftlichen Metaphysik ebenso wie in ihrer Offenbarungslehre verankert. Es ist keine Ideologie, die die Naturbasis vernichtet und ignoriert, aber auch keine Sozialreform, die sie umwandelt und christianisiert, sondern eine Verbindung von Vorsehungsglaube und Rationalismus , die die von der Vernunft durchwaltete Naturbasis als von selbst auf den religiösen Zweck hin geordnet betrachtet: die Zustände, welche tatsächlich und praktisch eine solche Annahme vor­ übergehend ermöglicht haben , werden verewigt zum Naturge­ setz im architektonisch-entwickelungsgeschichtlichen Sinne dieses Begriffes und dabei selbstverständlich für diesen Zweck gegen­ über ihrer wirklichen Beschaffenheit noch erheblich idealisiert. Es mag fraglich sein , ob dies in der Tat die einzigen Zu­ stände sind, die der christlichen Idee eine leidlich - mögliche Verwirklichung gewähren. Jedenfalls ist die katholische Kirche 166) Vgl. hierzu die sehr charakteristische Aeußerung über den Kommunismus der Urgemeinde: Contra Gent. 135: Primus quidem modus, seil. quod de pretio possessionum venditarum omnes communiter vivant, sufficiens est, n o n t arne n a d l o n g u m t e m p u s. Et ideo Apostoli hunc modum vivendi fidelibus in Jerusalem in­ stituebant, quia praevidebant per Spiritum S., quod non diu in Jerusalem simul commorari deberent... Unde non fuit necessarium nisi ad modicum tempus fidelibus providere et propter hoc transeuntes ad gentes, in quibus fi r m a n d a e t p e r d u­ r a t u r a e r a t E c c 1 e s i a, h u n c m o d u m v i v e n d i n o n 1 e g u n t u r i n­ s t i t u i s s e. Maurenbrecher notiert noch weitere ähnliche Stellen S. 109. Das ist eine grundlegende Einsicht, s. weiter unten den Gegensatz der Sektenlehren. 157) Das ist auch von Uhlhorn II 439 f. hervorgehoben; aber auch die Schat­ tenseiten S. 441; sie bestehen darin, daß, sobald die »natürliche Ordnung« ver­ sagte, man den sozialen Krisen hilflos gegenüberstand.

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nach den Zersetzungen dieser Soziallehren im 14. und l 5. Jahr­ hundert im Zeitalter der Gegenreformation zu diesen Theorien wieder zurückgekehrt und hat sie diese nach einer abermaligen Erschütterung im 18. Jahrhundert mit einigen Neuanpassungen be­ sonders an Demokratie, Kapitalismus und modernes Staatskirchen­ recht von neuem aufgenommen. Wie sehr aber diese Theorien - wenigstens in ihren Grundzügen, in der Vereinigung von Natur­ gesetz und Gnadensittlichkeit zur einheitlichen christlichen Gesell­ schaft, -- das einzige bisher aufgestellte System einer christlichen Gesellschaftslehre sind, das zeigt sich schließlich vor allem auch darin, daß die aus der religiösen Krisis des 16. Jahrhunderts her­ vorgehende Neuformung der christlichen Idee, der Protestantismus, auch seinerseits eine Gesellschaftslehre nur aufstellen konnte durch die Weiterführung und Umbildung dieser katholischen Sozial­ philosophie. Auch seine Sozialphilosophie beruht auf dem Be­ griff des Naturgesetzes. Freilich liegt es nun hier nahe zum Schlusse auch die umge­ kehrte Frage zu stellen, w i e w e i t i h r e r s e i t s d i e c h r i s t l i c h e I d e e d i e s o z i a l e Entwickel u n g d e s Mi t t e l a lter s b e s t i m m t h at, nachdem sie selbst in ihrer sozialphilosophischen Ausgestal­ tung von den faktischen Verhältnissen sehr wirksam oder auch ge­ radezu entscheidend beeinflußt worden ist. Ueber diese ganz außer­ ordentlich schwierige und verwickelte Frage kann ich nur Vermu­ tungen bescheidenster Art äußern. Doch seien sie trotzdem um der Vollständigkeit willen in derjenigen Kürze ausgesprochen , die Vermutungen geziemt. Dabei sehe ich von den bekannten allge­ meinen Kulturwirkungen der Kirche ab, die freilich alle auch eine soziologisch bedeutsame Seite haben ; sie ist die Lehrerin in Kunst und Wissenschaft, Technik und Organisation, Verwaltung und Recht, ist die Fortsetzung der antiken Kultur. Es handelt sich hier nur um eigentlich soziale Wirkungen und um solche, die aus ihren eigentlich religiösen Gedanken hervorgegangen sind. E i n m a 1 scheint es mir hier fraglos, daß es der Kirche gelungen ist, der Gesellschaft den christlichen Begriff der Fa­ milie zu Grunde zu legen, jene Verbindung des autoritären Ele­ mentes mit dem ganz persönlichen und individualistischen. Wie viel immer zur Erweichung des alten germanischen und rö­ misch-rechtlichen Patriarchalismus der Wegfall der Berechnung aller Verhältnisse auf militärische Organisationen, das Interesse der Geschlechter an dem Schicksal ihrer aus dem Verband her-

Umgekehrte Frage nach Wirkung der Theorie auf das Leben.

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aus heiratenden Frauen und ihrer Kinder, die ökonomischen Be­ dürfnisse einer Sicherstellung und rechtlichen Konstruktion des Frauenvermögens getan haben mögen , das Persönlichkeits- und Liebesideal der Kirche hat doch wohl den stärksten Anteil an der Verinnigung und Individualisierung der Familienbeziehungen, wo­ bei dann freilich nicht zu leugnen ist, daß sie auch das Ihrige zur Befestigung der hausväterlichen Autorität beigetragen hat. Dieser christliche Begriff der Familie bildet bis heute, verbunden mit stoischen und jüdischen Gedanken, den Grundpfeiler unserer Gesellschaftsordnung. Alle Reformen und Emanzipationen auf diesem Gebiete stehen vor der Grundfrage, wieweit sie innerhalb des Rahmens dieses Begriffes sich bewegen oder das Zukunfts­ land einer völlig neuen Gesellschaftsordnung eröffnen wollen. Das ungeheure Problem der Sexualmoral ist hier in einem ganz bestimmten Sinne gelöst, der den europäischen Völkern einen ihrer Hauptcharakterzüge gibt oder gab und der den modernen Individualismus bis zu einem gewissen Grade sich zu assimilieren weiß, der aber freilich gerade durch die modernen ökonomi­ schen Verhältnisse wieder schwer bedroht ist 158). Z w e i t e n s scheint mir für die Ueberführung der halbanarchistischen Feu­ dalstaaten und Städteanhäufungen in den vereinheitlichten, bureau­ kratischen und souveränen modernen Staat das Vorbild der Kirche als der einzigen souveränen und mit einem reichen Be­ amtenapparat regierenden, auf unbedingten Gehorsam gestütz­ ten und mit einem formalisierten schriftlichen Recht arbeitenden Institution von höchster Bedeutung zu sein. Ja man wird sogar sagen können, daß der moderne Staatsbegriff mit seiner Bin­ dung der Einzelwillen an einen rechtlich darstellbaren Gesamt­ willen und der gleichzeitigen Sicherstellung persönlicher unan­ tastbarer Rechte des Individuums in dem Corpus mysticum der Kirche sein erstes Orientierungsmittel fand und dadurch von dem antiken Staatsbegriff mit seiner abstrakten Bindung des Staates an die Gesetze und seiner Unmöglichkeit, den Gesamtwillen ge­ gen die Einzelwillen abzugrenzen, sich unterscheidet. Wenigstens sind alle diese modernen staatsrechtlichen Begriffe aus den von der Kirche gebundenen und auf den Gesamtwillen des Corpus mysticum bezogenen staatsphilosophischen Elementen erwachsen 159). Darüber 158) Vgl. hierzu Marianne Weber, Ehefrau und Mutter S. 200-278; Schmol­ ler, Grundriss I, 244-253; auch den schon erwähnten Aufsatz Gotheins. 159) Das ist der Grundgedanke von Gierke III; auch von J. N. Figgis, From

T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften

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hinaus aber wird man d r i t t e n s wohl überhaupt das ganze so­ ziale Denken und Empfinden überhaupt als tiefgehend beeinflußt ansehen dürfen von dem Gedanken einer objektiven Gemeinschaft in absoluten Werten und Wahrheiten. Die geschichtsphilosophi­ sche Idee des »objektiven Geistes« ist eine Umformung der kirch­ lichen Lebenseinheit ohne die kirchlichen Gemeinschaftsmittel. Für diesen Gedanken war der platonische Staat und der stoische Kosmopolitismus doch nur ein Vorspiel. Erst die Kirche hat praktisch eine Vereinigung vollzogen, die in absoluten geistigen Werten zunächst die Gemeinschaft bindet und gerade durch An­ teilnahme des Individuums an diesen persönlichen Werten zu­ gleich das Individuum auf sich selbst stellt als Eigenwert. In dieser Hinsicht setzt gerade der Liberalismus einen von der Kirche zuerst verwirklichten Gedanken in säkularisierter Form fort, und es ist sehr die Frage, wie weit dieses Ideal gegen naturalistische Rückschläge ohne jeden religiösen Halt zu behaupten ist. Es ist ein Hauptargument katholischer Apologetik, daß gerade die idea­ listischen und humanen Forderungen des Liberalismus an ihr ihren festesten Halt hätten. Und daß hier ein gewisser Zusam­ menhang vorliegt, ist sicher nicht zu bezweifeln, wenn auch frei­ lich der Halt an der Kirche damals und noch mehr heute mit starken Einbußen gerade des idealistischen Individualismus und der Beweglichkeit der geistigen Inhalte bezahlt werden muß. V i e r t e n s wird man sagen dürfen , daß die fortschreitende Milderung der Unfreiheit, die Lockerung des Hörigenwesens , die Herausbildung städtischer Freiheit aus den in der Stadt sich sam­ melnden Untertänigen und damit die Richtung auf das freie zünf­ tige Gewerbe und damit dann auch die ganze Konzentration des neu entstehenden Kapitalismus auf die Organisation der freien Arbeit von dem religiösen Persönlichkeitsideal und seiner prak­ tisch-rechtlichen Durchsetzung wenigstens mitbedingt ist. Wenn auch das neue Kapital von vorne herein in wesentlich anderer Lage ist als das antike und bei der intensiven Bodenwirtschaft nicht an Sklavenplantagen, an Investierung in Staatspacht und an überwiegende, durch die Küstenkultur bedingte Beschäfti­ gung im Seehandel denken kann, vielmehr auf Binnenhandel und Gewerbe gewiesen ist, zu welchen Zwecken es nur die zur QuaGerson to Grotius, der das moderne politische Denken aus der in Katholizismus, Luthertum und Calvinismus sich spaltenden Idee der christlichen Gesellschaft er­ wachsen läßt unter gleichzeitiger Einwirkung der Renaissance.

Wirkung der Theorie auf das Leben der Gesellschaft.

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litätsarbeit erziehbare, durch Eigeninteresse belebte freie Ar­ beit verwenden kann, so wird doch die völlig neue Wendung des Kapitalismus auf die freie Arbeit und das daraus entstehende spezifisch moderne Sozialproblem des Verhältnisses der freien kapitallosen Arbeit zum rationell-kalkulierenden Kapital als mit­ bedingt durch die ethische Forderung der Freiheit des Indivi­ duums betrachtet werden dürfen. Ein Rückfall der neu aufstreben­ den Kultur in das soziale System der Sklavenhaltung, der an sich ja nahe genug liegt und in Amerika praktisch geworden ist, wurde doch nicht bloß durch die politische und ökonomische Struktur aus­ geschlossen, die dem neuen Kapital seine Wege vorzeichnete, son­ dern diese Struktur selbst ist - neben der gewiß den Hauptgrund bildenden Wirkung der hofrechtlichen Verfassung auf ökonomische und schließlich auch rechtliche Verselbständigung der Unfreien doch irgendwie auch bedingt durch die Arbeit der Kirche an der Eroberung von Persönlichkeitsrechten für die Unfreien. Sie hat es nie als Rechtsforderung aufgestellt, sondern hier stets das posi­ tive Recht und die Wirkungen des Sündenfalls respektiert, wie sie das auch gegenüber der das ganze Mittelalter durch dauern­ den Sklaverei getan hat. Aber indirekt und von innen heraus, namentlich in der Sicherung der Familie, hat sie aller Wahrschein­ lichkeit nach doch in dieser Richtung wenigstens mitgewirkt. Vol­ lends die städtische Freiheit 1;1nd die Individualisierung des reli­ giösen Lebens hängen unverkennbar als Wechselwirkung zusam­ men. Insofern geht der eigentliche Charakter der modernen öko­ nomischen Entwicklung doch mit zurück auf die Freiheit und die Menschenrechte, die die Kirche verkündigte 160). Daß die Folgen 160) Vgl. Ed. Meyer, ,Die Sklaverei im Altertum« S. 39; Max Weber, ,Agrar­ geschichte« (Altertum) S. 174 f. lehnt diese Auffassung freilich ab und denkt ledig­ lich an die Sonderbedingungen der Entstehung der mittelalterlichen Stadt, die nicht zu militärischen, sondern zu ökonomischen Zwecken gegründet wurde und bei der Art des binnenländischen Verkehrs, der Art der Bedürfnisse und den Antezedentien der Entwickelung der Unfreiheit auf die freie Arbeit allein gerichtet sein konnte. Immerhin bringt er doch auch die Friedensidee der Kirche mit diesem ökonomisch­ unmilitärischen Wesen der Gewerbestadt in Verbindung. Hier ist sicherlich zuzugeben, daß die Ausgleichung zwischen den verschiedenen Klassen der Unfreiheit und Abhängig­ keit so gut wie die ökonomische und rechtliche Verselbständigung der Unfreien und Halb­ freien ihren eigentlichen Grund in der Verwandelung der Grundherrschaft aus einer Eigenwirtschaft in ein System von Rentenbezügen gehabt hat und daß auch die Ab­ gabe der Abhängigen an die Stadt, wo sie von ihrem Verdienste her zinsen konnten, ein Hauptmotiv für die Entstehung der Städte war. Aber trotzdem wird doch mit 23 *

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davon freilich sehr zweischneidig sind, das hat diese Erscheinung mit allen andern großen historischen Bildungen gemeinsam. Jeden­ falls aber arbeitet die christliche Idee bis heute an der Beseiti­ gung oder Einschränkung der ungünstigen Folgen und erblickt sie gerade darin heute eine ihrer Hauptaufgaben. Die katholische Soziallehre arbeitet hier heute gerade in erster Linie mit; und es liegt nur in der Konsequenz ihrer ganzen Entwickelung, wenn sie Sicherheit angenommen werden dürfen, daß die christliche Idee und die Kirche auf diese Milderungen auch ihren Einfluß gehabt haben und daß namentlich in der Stadt die Durchsetzung der Freiheitsidee mit dem städtischen religiösen Leben zusammen­ hing. Maurer, Gesch. d. Fronhöfe II 80-93 führt die Milderung auf die ,Sitte« zurück und sagt S. 90 : »Jemehr nun aber der Mensch in dem Leibeigenen Geltung erhielt, desto mehr hat sich die Lage der Unfreien gebessert«, gibt aber allerdings keine Belege an. Jedenfalls hat die Kirche die Ehe der Unfreien geschützt und ihnen das Menschenrecht des Familienlebens gesichert, womit schon naturgemäß eine Lockerung der Abhängigkeit verbunden ist. Maurenbrecher 82. Langer, »Skla­ verei in Europa während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters«, Bautzener Gymnasialprogramm 1891, untersucht die Frage eingehend, führt von Anfang an die Milderungen des alten Sklavenwesens bei den germanischen Staaten auf Ein­ wirkungen des römischen Rechtes und des Christentums zurück und räumt auch in den weiteren Entwickelungen der Kirche einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Milderung ein. Uebrigens ist die eigentliche Sklaverei von dem Hörigenwesen streng zu unterscheiden. Wenn das letztere zur freien Arbeit sich vielfach ent­ wickelte, so hat die Sklaverei und der Sklavenhandel durch das ganze Mittelalter hindurch gedauert und ist von der Kirche niemals prinzipiell verworfen worden. Alle in theologischen Werken üblichen Verherrlichungen des Christentums, daß es im Mittelalter wenigstens die Sklaverei abgeschafft habe, beruhen auf krasser Unwissenheit oder verlogener Apologetik. Ungefähr das Gegenteil ist wahr. Diese Sklaven sind in der Regel Nichtchristen und werden durch Kriegsrecht oder Handel gewonnen; oft freilich werden auch ganze christliche Städte nach der Be­ siegung versklavt. In Spanien dauert die Sklaverei bis ins 18. Jahrhundert und ist von da nach Amerika einfach übertragen worden. Die Milderung der dortigen Sklaverei durch die Kirche bestand nur in der Ersetzung der einheimischen Sklaverei durch importierte Negersklaven, an die man in Spanien und Südeuropa gewohnt war. So knüpft sich die moderne amerikanische Negersklaverei unmittelbar an die des Mittelalters an und hat, so lange sie bestand, dieselben theologischen Argu­ mente für sich anzuführen gewußt. Wo �ie in Europa auf hörte, sind politische und ökonomische Verhältnisse die Ursache; niemals aber ein Verbot der Kirche. Ja, die Sklaverei nimmt in Südeuropa geradezu gegen Ende des Mittelalters einen Auf­ schwung, und die Kirche ist nicht bloß am Sklavenbesitz beteiligt, sondern verhängt auch geradezu Versklavung als Strafe in den verschiedensten Fällen I Die oben ausgesprochene Ansicht bezieht sich nur auf Hörige und Eigene, die zu Freien oder

Wirkung der Theorie auf das Leben der Gesellschaft.

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bei der Lösung dieser aus ihrer eigenen Idee mit hervorgewach­ senen Schwierigkeiten schwankt zwischen den älteren Mitteln des Patriarchalismus und den modernen einer individualistisch-demo­ kratischen Arbeitsordnung; wie die ganze Lage selbst, so sind beide Mittel zum großen Teil aus ihrer eigenen Entwickelung und Geschichte hervorgewachsen. S c h l i e ß l i c h dürfen auch zwei allgemeine Gesichtspunkte nicht übersehen werden. Die kirchliche Sozialphilosophie beruht auf der Idee der kirchlichen Einheitskul­ tur und dem Sieg der Universalkirche über die Landeskirchen, von denen sie die Durchdringung des Geistlichen und Weltlichen übernommen hatte, über denen sie aber ihr neues, kirchliche Bil­ dung und Wissenschaft wie kirchliches Recht und kirchliche Poli­ tik zentralisierendes System aufrichtete. Es ist mit Recht betont worden, daß wir nur diesem Umstande die E i n h e i t d e r e u r o­ p ä i s c h e n K u l t u r u n d i hr e r B i l d u n g s g r u n d l a g e n in Antike und Christentum verdanken. Die Einheitlichkeit der abend­ ländischen Kultur wurde präformiert von der Einheitlichkeit der Kirche und von dieser mit ihren eigentlichen Nahrungsmitteln ver­ sehen 161). Andererseits aber bedeutet die Erziehung der euro­ päischen Völker durch die Einheitsmacht der Kirche doch zu­ gleich eine steigende Verinnerlichung und Subjektivierung des Ge­ fühlslebens, eine Personalisierung aller Lebensbeziehungen, die in den frühmittelalterlichen Ordensbewegungen ihren ersten groß­ artigen Ausdruck findet und dann in der städtischen Kultur und den ihr entsprechenden neuen Orden auf einen Gipfel steigt, auf dem dann freilich schließlich die Einheit der Kirche zerbricht. Was auch immer Antike und Renaissance zur V e r t i e f u n g d e r I n di­ v i d u a li t ä t getan haben, die stärkste Wirkung hat das Christen­ tum, das ja immer Stoizismus und Neuplatonismus zugleich in sich schloß, gehabt, und der eigentlich nachhaltige Durchbruch zum In­ dividualismus ist doch die religiöse, nicht die weltliche Bewegung, die Reformation, nicht die Renaissance gewesen. Wenn aus dem naturhaften anarchistischen Individualismus der Unkultur der gei­ stige Individualismus der autonomen, mit objektiven Werten erfast Freien wurden. Wie abhängig freilich derartige Dinge von ökonomischen Ent­ wickelungen sind und wie vor dem modernen Individualismus die Kirche nur relativ hierauf wirken konnte und wollte, zeigt der Umstand, daß mit dem Zurücksinken in die Naturalwirtschaft seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland die Leibeigen­ schaft wieder zugenommen hat. 161) S. Ranke, ,Die Romanisch-germanischen Völker«, Einleitung.

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8. Thomistische Sozialphilosophie.

füllten und darum einen eigenen Selbstwert darstellenden Persön­ lichkeit wird, so ist dieses Ideal modernen soziologischen Denkens - zugleich freilich mit allen ihm einwohnenden Schwierigkeiten eine Wirkung zwar nicht allein, aber doch großenteils des mittel­ alterlichen Christentums. Wie die Gemeinschaftsidee des »objek­ tiven Geistes�, so hängt auch die Individualidee der »Persönlich­ keit« mit der mittelalterlichen Periode eng zusammen. In den individualistischen Sektenbewegungen und vor allem in der Re­ formation werden wir ihn die kirchlich-katholische Hülle sprengen und auf die katholische Lösung der ihm einwohnenden Probleme mehr oder minder verzichten sehen 162). Es ist dann freilich unendlich reizvoll wahrzunehmen, wie mit diesem Durchbruch des religiösen Individualismus und mit dieser Zertrümmerung des alten soziologischen Organismus der sakra­ mental-priesterlichen Kirche für den erneuerten christlichen Indivi­ dualismus auch wieder das ganze Ringen um eine soziologische Organisation seiner selbst und um ein Verhältnis zu den sozialen Bedingungen von neuem entsteht, wie durch die Preisgabe der altkirchlichen und mittelalterlichen hierarchischen Inkrustation die erste Aufgabe außerordentlich erschwert und wie die zweite schließ­ lich doch nur durch Fortführung und Umbildung der mittelalter­ lichen Lösung des Problems in den Grundzügen lösbar gewor­ den ist. 9. D a s a b s o 1 u t e G o t t e s - u n d Na t u r r e c h t u n d d i e S e k t e n. Ehe zur Darstellung der großen reformatorischen Neubildungen fortgeschritten werden kann, ist noch der radikalen Komplemen­ tär-Erscheinung zu gedenken, die auch die hochmittelalterliche, relativ konservative, die Welt anerkennende und sich eingliedernde Sozialtheorie des Christentums ebenso neben sich gehabt hat wie einst die alte Kirche. Die Wendung zum Konservatismus ist seiner Zeit durch den Paulinismus angebahnt und die in diesem vollzogene Verbindung des radikalen und konservativen Elementes ist dann in der thomistischen Soziallehre fortgebildet worden zu einem entwickelungsgeschichtlich-architektonischen Aufbau der christlichen Kultur. Dazu gab ihm die Neubildung aller sozialen 162) S. Thode, Franz v. Assisi; Neumann »Byzantinische Kultur und Renais­ sancekultur«; Brandi, >Das Werden der Renaissance«, 1908; Arnold Berger, >Die Kulturaufgaben der Reformation«, 1895.

Wiederauftauchen d. alten Gegensatzes gegen den kirchl. Kompromiß.

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Verhältnisse im Mittelalter die Möglichkeit und die neuplatonische Lehre von dem stufenweise gegliederten Aufbau des Geistes die theoretischen Mittel. Für die Konstruktion der weltlichen Sozialord­ nungen wurde in diesem System die stoisch-patristische Theorie von der Lex naturae fortgeführt, aber mit der aristotelischen Politik und Oekonomik versetzt. Unter diesem Einfluß erwies sich die erstere als stark zurückgedrängt. Ungleichheit, Staatsbildung, Privateigentum und Herrschaftsverhältnisse gehören nicht erst dem relativen Natur­ recht des Sündenstandes an, sondern wurzeln schon im Natur­ recht und Urstand überhaupt; nur ihre besondere Zwangsform und ihre Schmerzen verdanken sie erst dem relativen Naturrecht des Sündenstandes. Aber bereits neben dem Paulinismus hatte ein weltindifferenter oder gar weltfeindlicher Radikalismus bestanden in Gestalt des Liebeskommunismus der Urgemeinde und der chili­ astisch-apokalyptischen Weltverwerfung , und ähnlich hat dann neben der den Paulinismus fortbildenden sozialen Entwickelung der alten Kirche der Radikalismus weiter bestanden in den mon­ tanistischen und donatistischen Sekten und vor allem im Mönchtum. Unter dessen Einfluß und in Anlehnung an die rationalistisch­ individualistische Naturrechtslehre der Stoa haben die großen Väter des vierten Jahrhunderts dann auch ein Naturrecht des Kommu­ nismus, der Freiheit und Gleichheit gelehrt, während Augustin ein aristokratisches Naturrecht der Herrschaft der Guten lehrte. Es war das Ergebnis des ersten Hauptteils dieser Untersuchung, die doppelte Richtung hervorzuheben, in welche von Anfang an die Soziallehren des Christentums auseinandertraten. Das strenge Bibelgesetz, das radikale Naturrecht, das Mönchtum und die theo­ logische Urstandstheorie zeigten sich dort als Motive und Aeuße­ rungen einer neben den kirchlichen Kompromissen hergehenden zweiten radikalen Richtung 16 2a). Diese zweite Strömung bricht nun aber im Hochmittelalter gerade neben der im Thomismus sich gedanklich vollendenden kirchlichen Einheitskultur und Weltumfassung von neuem mit außerordentlicher Macht hervor. Gegen die Relativierungen und gegen die Kompro­ misse des Sittengesetzes Jesu mit den Ordnungen der \Veit er­ hebt sich der strenge Radikalismus der ganz auf Selbstheiligung und Bruderliebe gestellten Ethik des Evangeliums; er beruft sich, wie auf das Gottesgesetz des Evangeliums, so auf das Naturgesetz des Urstandes, das auch nur Heiligkeit und unbedingte Liebe und 162&) S. oben S. 175-178.

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damit die Abwesenheit der weltlichen, politischen und wirtschaft­ lichen Ungleichheiten und Härten gekannt habe. Indem die Kirche bei ihrer Organisation einer allgemeinen christlichen Ge­ sellschaft und Kultur diesen radikalen Gedanken keinen Raum bot oder vielmehr sie nur in Gestalt eines besonderen ihr dienenden Standes, des Mönchtums, ertragen konnte, waren sie auf eine Entfaltung neben der Kirche angewiesen. Der Gegen­ satz des radikalen Bibelgesetzes und der an ihm gemessenen Lebensführung der radikalen Christen gegen die relativierende und das Ganze umfassende kirchliche Ethik und Soziallehre führt zur S e k t e n b i l d u n g. Und so wird diese Sektenbildung neben der die kirchliche Ethik klassisch zusammenfassenden Soziallehre des Thomismus zur anderen klassischen Gestaltung der Soziallehre des Christentums. Das, was in der kirchlichen Einheitskultur und Gesellschaft nicht zu seiner vollen Geltung kam, schafft sich Raum in den Sekten und wirkt von ihnen her auf die Kirche zurück. Es ist hier nicht die Absicht, die zum Teil noch sehr dunkle und außerordentlich verwickelte Geschichte dieses Sektentums im Einzel­ nen darzustellen. Das muß auch hier der kirchen-und sozialgeschicht­ lichen Einzelforschung überlassen bleiben 163). Aber es ist unum163) Die einzige Kirchengeschichte, die diesen Problemen im Zusammenhang nachgeht, ist die von Karl Müller 1 1892, II, 1, 1902, bes. vgl. I 207 u. II 85 f. Er sieht in diesen Sektenbewegungen das Eindringen des Mönchtums und seiner Ideale in die Laienwelt, das seit dem 13. Jahrhundert beginne und die Doppel­ form teils des gewaltsamen christlichen Sozialismus, teils der duldenden weltabge­ wandten Gemeinde annehme. »In beiden Richtungen dringen die asketischen Ge­ danken und Kräfte der mittelalterlichen Kirche in die Laienwelt ein« II 86. Zu­ gleich hebt er den Zusammenhang mit der Idee des absoluten Naturrechtes her­ vor, wie sie von den Theologen des 4. Jahrh. gelehrt worden war. Doch trifft die Herleitung aus dem Mönchtum und der Askese nur einen Teil des vorliegenden Sachverhaltes und liegt der Zusammenhang mitunter geradezu umgekehrt ; das Mönchtum stellt die Verkirchlichung von Tendenzen dar, die an sich einem ganz anderen soziologischen Typus angehören als dem kirchlichen und die in den Sekten ihren reinen Ausdruck finden. Die große Frage ist nach dem Zu­ sammenhang dieser Ideenwelt mit dem Evangelium selbst , auf das sie sich doch stets nachdrücklich beruft und aus dem sie auch unzweifelhaft direkt her­ vorgeht. Die Frage aber ist dann weiterhin die nach dem Verhältnis des Sekten­ typus und des Kirchentypus überhaupt sowie nach ihrem gemeinsamen Verhältnis zum Evangelium, aus dem sie beide hervorgehen. Müller hält von vornherein, wie die meisten Theologen den Kirchentypus für das Normale und die Sekten für eine ebenso sekundäre Erscheinung wie Mönchtum und Askese, aus deren Populari-

Prinzipielle Bedeutung des Sektentypus.

gänglich, die allgemeine Bedeutung dieses Sektenwesens für die christ­ lichen Soziallehren überhaupt darzutun. Denn das fügt dem Bilde dieser einen neuen, beim Ursprung schon angelegten, aber jetzt erst breit hervortretenden Zug hinzu, der mit dem Uebergang in die moderne Welt immer bedeutender sich geltend macht und die Einsicht in den soziologischen Charakter des Christentums erst abschließt. Diese Bedeutung besteht nun aber darin, daß hiermit neben dem vom Christentum in seiner soziologischen Selbstgesierung sie angeblich erst hervorgehen. Ich glaube, daß hier eine spezifisch sozio­ logische Untersuchung über die innere Struktur der beiderseitigen Gemeinschafts­ verhältnisse ein anderes Bild ergibt. - Eine zusammenhängende Darstellung vom entgegengesetzten Standpunkt aus gibt L. Keller: »Die Reformation und die älteren Reformparteien« 1875. Hier ist die Sekte das Normale und wird überall, zum Teil sehr gewaltsam, auf die Waldenser zurückgeführt; zugleich werden diese letz­ teren wieder an eine unmittelbare uralte Tradition von der altchristlichen Kirche her angeknüpft, Weil der Sektentypus das Normale ist, so wird auch hier das Wesen der Sekten nicht am Gegensatz des Kirchentypus und an der gemeinsamen Begrün­ dung beider im Evangelium erläutert. Vielmehr wird der Kirchentypus als Ent­ stellung des reinen Christentums verworfen und an den Sekten die Toleranz und die praktische Ethik betont, dabei die Kulturlosigkeit teils bestritten, indem möglichst viel Literaten für sie reklamiert werden, teils entschuldigt aus den elenden Verhältnissen, in die die Verfolgung sie gestürzt habe. Die Betonung des Sektentypus überhaupt ist ein entschiedenes Verdienst der Arbeit, aber die materielle Schilderung der Sekten findet nicht die entscheidenden Charakterzüge; die ganze Schilderung visiert auf ein modernes, tolerantes und ethisch ernstes Humanitätschristentum, betont nur die Frei­ willigkeits- und Subjektivitätsposition, ignoriert aber das wörtliche Bibelgesetz und das radikale Naturrecht, den Enthusiasmus und Chiliasmus, womit dann freilich die Kul­ turlosigkeit der Sekten unter eine ganz falsche Beleuchtung tritt. Sie gehört zu ihrem Wesen. - Ohne jeden Wert sind die kurzen Andeutungen bei Luthardt, Gesch. der Ethik I 327-333 ; Ziegler, der in der mittelalterlichen Ethik über­ haupt keine neuen Gedanken findet, ignoriert sie völlig. Sehr dürftig sind auch die Dogmengeschichten; hier gibt es nur die leicht hingeworfenen Beme_rkungen von Seeberg, Dogmengesch. II 166-169. So gut wie gar nichts für den Gegen­ stand bietet Loserth, »Geschichte d. späteren Mittelalters« 1900, obwohl er die Auflösung der »geistlichen Kultur« schildern will l - Einen lehrreichen Abriß eines Teiles der Sektengeschichte gibt Lechler, Joh. v. Wiklif und die Vorgeschichte der Reformation, 1873. Nur ist hier alles auf die Reformation hin betrachtet und der Unterschied zwischen dem Biblizismus des Gottes- und Naturgesetzes bei den Sekten und dem lutherischen Biblizismus des Gnadentrostes und der Christus­ Mystik nicht beachtet; er ist aber in Wahrheit, wie später darzulegen, fundamental, und an ihm zeigt sich gerade der Punkt, wo die Reformation vom Sektentypus sich scheidet.

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

staltung hervorgebrachten Typus der K i r c h e der neue Typus der S e k t e erscheint. Dabei liegen zunächst die rein t a t s ä c h l i c h e n Unterschiede auf der Hand. Der Typus der Kirche ist die überwiegend konser­ vative , relativ weltbejahende , massenbeherrschende und darum ihrem Prinzip nach universale d. h. alles umfassen wollende Or­ ganisation, Die Sekten sind dem gegenüber verhältnismäßig kleine Gruppen, erstreben eine persönlich- innerliche Durchbildung und eine persönlich-unmittelbare Verknüpfung der Glieder ihres Kreises, sind eben damit von Hause aus auf kleinere Gruppenbildung und auf den Verzieht der Weltgewinnung angewiesen; sie verhalten sich gegen Welt, Staat, Gesellschaft indifferent, duldend oder feindlich, da sie ja nicht diese bewältigen und sich eingliedern, sondern vermeiden und neben sich stehen lassen oder etwa durch ihre eigene Gesellschaft ersetzen wollen. Beide stehen ferner im engen Zusammenhang mit dem tatsächlichen Zustand und Lauf der Gesellschaft. Aber während die voll entwickelte Kirche den Staat und die herrschenden Schichten sich dienstbar macht und sich eingliedert, zu einem Bestandteil der allgemeinen Ordnung wird und diese von sich aus teils bestimmt teils sichert , da­ mit aber auch von ihnen und ihrer Entwicklung abhängig wird, haben umgekehrt die Sekten die Beziehungen zu den Unter­ schichten oder doch zu den gegen Staat und Gesellschaft im Gegensatz befindlichen Elementen der Gesellschaft, arbeiten sie von unten herauf und nicht von oben herunter. Damit hängt schließlich auch ihre verschiedenartige Stellung zu der überwelt­ lichen Lebensorientierung des Christentums und zu seiner As­ kese zusammen. Die Kirche bezieht alle weltliche Ordnung als Mittel und Vorstufe auf den überweltlichen Lebenszweck und gliedert die eigentliche Askese als ein Moment ihrem Aufbau unter starker kirchlicher Leitung ein. Die Sekten beziehen ihre Gläubigen unmittelbar auf den überweltlichen Lebenszweck, und in ihnen kommt der individualistische , unmittelbar religiös mit Gott verbindende Charakter der Askese zu einer mindestens viel stärkeren und durchgängigeren Entfaltung, neigt der Gegensatz gegen die Welt und ihre Gewalten, unter die nun auch die weit­ förmige Kirche gehört, zu einer prinzipiellen und allgemeinen Askese. Auch ist nicht zu verkennen, daß die Askese in der Kirche und dem kirchlichen Mönchtum einen anderen Sinn hat als in der Weltenthaltung oder der Weltfeindschaft der Sekten.

Tatsächliche Eigentümlichkeit der Sekten.

Die Askese der Kirche ist Tugendmittel und besonderer Höhe­ punkt der religiösen Leistung, meist zusammenhängend mit der Unterdrückung der Sinnlichkeit oder sich äußernd in exorbitanten Sonderleistungen, im übrigen aber gerade das Weltleben als die gewöhnliche Unterlage und eine relativ weltfreundliche Moral als durchschnittlichen Gegensatz voraussetzend. Die kirchliche As­ kese berührt sich darin mit der Askese der spätantiken Erlösungs­ kulte und der kontemplativen Entsinnlichung, hängt jedenfalls zu­ sammen mit der Doppelheit der Moral. Die Askese der Sekten dagegen ist nur das einfache Prinzip der Weltenthaltung, der Zu­ rückhaltung von Recht, Eid, Besitz, Krieg, Macht. Sie beruft sich auf die Bergpredigt und den schlichten, aber radikalen Gegensatz des Gottesreiches gegen die Interessen und Ordnungen der Welt. Sie betreibt die Entsagung nur als Mittel der Liebestätigkeit, als Voraussetzung eines durchgängigen Liebeskommunismus , und kennt bei der gleichen Verbindlichkeit ihrer Regeln für alle keine exorbitanten und heroischen Werke, auch keine Vertretung der Weltlichkeit und Durchschnittlichkeit der einen durch den Herois­ mus der anderen. Sie ist der einfache Gegensatz gegen die Welt und ihre sozialen Ordnungen, aber nicht der Gegensatz gegen die Sinnlichkeit und gegen den Durchschnitt. Sie berührt sich daher mit der Askese des Mönchtums· nur insoferne, als dieses auch seinerseits sich besondere Lebensbedingungen für ein Leben nach der Bergpredigt und nach dem Ideal des Liebeskommunismus schafft. Aber sie ist meistenteils grundverschieden vom Mönch­ tum, soferne dieses Mortifikation der Sinnlichkeit und überver­ dienstliche Sonderleistung von Armut und Gehorsam um ihrer selbstwillen ist. Nicht Zerbrechung der Sinnlichkeit und des na­ türlichen Selbstgefühls, sondern eine Liebesverbindung, die von den Kämpfen und Abstufungen der Welt nicht berührt wird, ist in allem wesentlichen ihr Ideal 163 a). 163") Ueber diesen wichtigen Unterschied in dem überhaupt sehr vieldeutigen und weitschichtigen Begriff der Askese s. oben S. 95-105. Die urchristliche As­ kese der Weltindifferenz und die kirchlich-spätantike Askese der Mortifikation sind stets zu unterscheiden. Wir werden einen neuen dritten Begriff der Askese beim Protestantismus kennen lernen. In Zöcklers Buch über die Askese ist leider von derartigen Unterscheidungen wenig zu finden und das große Thema sehr urteilslos behandelt. Aber auch die übliche protestantische Polemik gegen die Askese geht an diesen Unterschieden vorbei, auch die Junghegelsche Geschichtskonstruktion z. B. bei v. Eicken, oder auch bei Viktor Hehn, hat dafür kein Auge.

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

Alle diese tatsächlich zwischen der hochmittelalterlichen Kir­ che und den Sekten bestehenden Verschiedenheiten müssen ir­ gendwie in der i n n e r e n Struktur des beiderseitigen soziologi­ schen Aufbaus begründet sein 164). Und, wenn in der Tat beide 164) Für die folgenden Ausführungen verdanke ich einen Teil der entscheiden­ den Gesichtspunkte der inhaltreichen Abhandlung von Max Weber, Kirchen und Sekten in Nordamerika, Christ!. Welt 1906 S. 558 ff. u. 577 ff.; außerdem s. Scheel, Individualismus und Gemeinschaftsleben in der Auseinandersetzung Luthers mit Karlstadt 1524/25, Zeitschrift für Theol. u. Kirche 1907, und meine Abhandlung, Religion und Kirche, Preuß. Jahrb. 1895. Wie überall, so steht auch hier im Hintergrunde meiner Untersuchungen Simmels Auffassung von der Soziologie als der Wissenschaft von den formellen Strukturverhältnissen der verschiedenen Ge­ meinschaftsbildungen. - Die wesentlich gleiche Grundanschauung über das Wesen der Sekten vertritt Kawerau in dem Artikel ,Sektenwesen in DeutschlandKultur der Gegenwart « I 4 und zieht damit aus meinen dortigen Ausführungen Konsequenzen, die mir damals noch nicht so klar waren wie jetzt, Nur ist es weniger der Quietismus der Kirchen unmittelbar, als die Tendenz auf Volksbeherr­ schung und Einheitskultur, was die Kirchen zur Brechung und Relativierung der Maßstäbe des Evangeliums veranlaßt, ebenso wie umgekehrt die Schwierigkeit der Durchführung jener Maßstäbe zur Beschränkung auf kleine Kreise und Freiwilligkeits­ gruppen oder auf Sekten führt, von denen aus eine Universalgesellschaft bisher nur durch chiliastische Gewalttat möglich war. - Eine wichtige Analogie böte hier wie an anderen Stellen unserer ganzen Untersuchung die russische Kirchen- und Kulturgeschichte, wenn diese Dinge bekannter wären als sie sind. Hier kann ich nur verweisen auf die Artikel von Kattenbusch: ,Die Kirche in Rußland « in Christ!. Welt 1908, bes. S. 730 ff., ferner Graß, >Die russischen Sekten« Bd. I 1907 u. desselben Autors Aufsatz ,Die Bedeutung der russischen Sektenkunde für die Beurteilung von russischer Religiosität und Kultur« in ,Z. f. Religion und Geisteskultur«, herausg. von Steinmann, 1908, S. 161 ff. - Charakteristisch und lehr­ reich vom Standpunkt lutherischen Kirchentums über die Sekten Gottschick, Ethik

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haupt zurückfallen. Indem erst an dieser Stelle der Unterschied zwischen beiden scharf und dauernd hervorbricht, ist erst jetzt der Ort, davon zu reden. Es ist auch das hier zu gewinnende Verständnis bedeutsamer für die kommende Entwickelung, in der 1907, S. 232 f.: ,Das Wesen der S e k t e besteht darin, daß sie die empirische Dar­ stellung einer von der Welt geschiedenen Gemeinde von lauter lebendigen Christen sein will. Darüber wird sie zur begriffswidrigen Einengung der christlichen Gemeinschaft; denn sie verkennt nicht nur, daß die christliche Lebensentwickelung unendlich viele Stufen hat, sondern stellt auch partikulare oder gar fehlerhafte Kriterien des Charak­ terstandes auf; weiter verleugnet sie den universalen Beruf der Christenheit, das Reich Gottes in geschichtlicher Entwickelung zur Herrschaft über die Welt zu bringen. Denn sie sieht Staat, Wissenschaft und Recht, Kunst nur als Welt im schlechten Sinne an und verzichtet in chiliastischer Spannung auf die Arbeit für die geistige Ueberwindung der Welt. Im Gegensatz hierzu ist es das charakteristi­ sche Merkmal, wodurch eine christliche religiöse Gemeinschaft sich als K i r c h e be­ währt, daß sie in universalem und geschichtlichem Geiste einerseits auch werdenden Christen und allen christlichen Individualitäten sich als Heimstätte öffnet, und so mit der Wahrheit Ernst macht, daß die Gemeinde als Ganzes dem Einzelnen vor­ angeht, und daß sie andrerseits ihre Rechtsordnung statt als Darstellung der Ge­ meinde der Gläubigen vielmehr als ein System von Mitteln zur Pflege und Ver­ breitung des Christentums organisiert und dabei auf die Aufgabe eingeht, die gott­ geordneten Lebensphären mit christlichem Geist zu erfüllen. In der Bewährung dieses Sinnes ist die Kirche allmählich in die Form der Volkskirche hineinge­ wachsen, d. h. sie hat eine Form angenommen, vermöge derer sie sich die Aufgabe der Erziehung an den Völkern als Ganzen stellt und der Einzelne nicht erst durch freien Entschluß, sondern schon durch seine Geburt in das natürliche Volksleben unter ihren erziehenden Einfluß gelangt . . . Diese Vorzüge der Wirksamkeit kompensieren den unvermeidlichen Nachteil, daß in eine so geordnete Kirche Ele­ mente der Welt im schlechten Sinne in relativ größerem Umfang eindringen als in eine Sekte, Nicht nur wegen dieses Umfanges, sondern vor allem wegen dieses ihres universellen und geschichtlichen Ideals haben die großen Körper der katho­ lischen und protestantischen Kirchen Anspruch auf das Prädikat Kirche«. Gegen• über dieser Beschreibung ist mit Händen zu greifen, daß der Sektentypus der sy­ noptischen Predigt des auf die Zukunft gerichteten, entschlossene Anhänger sam­ melnden und die • Welt« auf ein Mindestmaß herabsetzenden Jesus entspricht, während der Kirchentypus dem auf einen religiösen Besitz der Erlösung zurück­ blickenden und die Welt relativ akzeptierenden Missionsglauben der Apostel und vor allem des Paulus entspricht. Die von Wrede aufgedeckte Differenz zwischen Paulus und Jesus {Paulus 1905, dem ich übrigens nicht in allem zustimme) erweist sich auch nach dieser Seite hin als der Ursprung geteilter Motive, die durch die ganze Geschichte des Christentums bewußt und unbewußt als getrennte hindurch­ gehen, Als biblische Begründung für den Vorzug des Kirchentypus weiß auch

Bedeutung des Ausdrucks »Sekten«.

die Sekte immer stärker neben der Kirche hervortritt, als für die ganze bisherige Entwicklung der Kirche, die in den ersten Jahrhunderten selbst noch vielfach zwischen Sekte und Kirche geschwankt und erst mit der Ausbildung der Priester- und Sakramentslehre den Typus der Kirche vollendet hat, die eben deshalb auf ihrem Entwickelungsgang bis zu diesen Jahrhun­ derten die Sekten nur in unbedeutendem Maße und in un­ klarer Unterscheidung neben sich gehabt hatte. Das erste deutliche Auftauchen des Problems bezeichnete der Gegensatz zwischen Augustins sakramental- hierarchischem Kirchenbegriff und den Donatisten. Aber mit dem afrikanischen Christentum erlosch auch dieser Gegensatz, und sein entscheidendes Hervor­ treten folgt erst auf die Vollendung des Kirchenbegriffes in der gregorianischen Kirchenreform. Irreführend ist dabei der Ausdruck »Sekten«. Das Wort ist ursprünglich polemisch und apologetisch gemeint und bezeichnet solche von der offiziellen Kirche abweichende Gruppen, die ge­ wisse Grundelemente der christlichen Idee festhalten, die aber durch ihre Herausstellung aus der kirchlichen Kontinuität und Ge­ meinsamkeit - die übrigens meistens gar keine freiwillige ist sich als minderwertige Nebenbildungen, Einseitigkeiten, Ueber­ treibungen oder Verkürzungen des kirchlichen Christentums er­ weisen. Das ist natürlich lediglich eine Betrachtung vom Stand­ punkt der herrschenden Kirchen, von der Voraussetzung der Alleinberechtigung des kirchlichen Typus, aus; das moderne Staats­ kirchenrecht bezeichnet als Sekten geradezu diejenigen religiösen Gruppen, welche neben den offiziellen, öffentlich-rechtlich privi­ legierten Staatskirchen gar nicht oder nur mit minderem Rechte anerkannt und privilegiert sind. Eine solche Auffassung aber verwirrt den wirklichen Tatbestand. In den sogenannten Sekten kommen oft genug gerade erst wesentliche Triebe des Evange­ liums zu ihrer Auswirkung, wie sie sich denn stets auch auf das Gottschick nichts anzuführen als »die Tatsache, daß im N. T. der christlifhe Cha­ rakter der Familie über die bewußte Christlichkeit ihrer einzelnen Glieder über­ greift, I Kor. 7 u, und daß auch Christus wie Paulus ihre Arbeit bezw. ihre Hoff­ nung auf die Bekehrung von Israel als Volk richten«. 0. 233. Der erstere Punkt ist allerdings wichtig, aber er gehört dem Paulinismus an, und an der Frage der Kindertaufe hat sich dann auch charakteristisch Kirchen- und Sektentypus ge­ schieden oder seine Kompromisse geschlossen. Das zweite ist gerade nicht als Kirche, sondern als eschatologische Tat Gottes gedacht.

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Evangelium und das Urchristentum berufen und die Kirche als abgefallen bezeichnen; es sind stets Triebe, die in den offiziellen Kirchen unterdrückt oder unentwickelt geblieben sind, natürlich aus guten und charakteristischen Gründen, die dann wieder von der leidenschaftlichen Parteipolemik der Sekten nicht gewürdigt werden. Aber an der Tatsache kann kein Zweifel sein, daß die Sekten bei ihrer größeren Unabhängigkeit von der Welt, ihrer beständigen Geltendmachung der Anfangsideale oft geradezu besonders charakteristisch sind für wesentliche Grundideen des Christentums ; sie sind es in ganz besonderem Maße für die Ent­ faltung der soziologischen Folgerungen aus der christlichen Idee. Das zeigt jedes tiefere Studium gerade der das Spätmittel­ alter erfüllenden und an ihrem Teil zu seiner Auflösung bei­ tragenden Sektenbewegungen. Die großen Schutzschriften für die Sekten, die dann später Sebastian Frank und vor allem Gott­ fried Arnold geschrieben haben, verbreiten darüber die vollste Klarheit. Der Hauptzug der christlichen Entwickelung folgt begreiflicher Weise bei seinem Trieb auf Geltendmachung eines universalen alles beherrschenden Ideales, bei dem Bedürfnis, große Massen zu beherrschen und darum die Welt und die Kultur zu bewältigen, dem Typus der K i r c h e. Hierin ist schon trotz seiner stark individualisti­ schen und enthusiastischen Züge der Paulinismus vorangegangen, in dem er die Welt für den Herrn erobern wollte, mit der staatlichen Ordnung sich als einer göttlichen Ordnung und Zulassung abfand, die Berufe und Lebensformen bestehen ließ und nur die Einigung in dem Besitz der Gnadenkräfte des Leibes Christi verlangte, die durch den Geist dann das neue Leben von selbst und von innen her­ aus wirken und damit das baldige Kommen des Gottesreiches als des eigentlichen universalen Abschlusses vorbereiten sollten. Jemehr die Christenheit auf diese supranaturale und eschatologische Vollendung ihres Universalismus verzichtete und seine Herbei­ führung selbst durch Mission und Organisation in die Hand nahm, um so mehr war sie genötigt, ihre Göttlichkeit und Christlich­ keit von der subjektiven Beschaffenheit und Leistung der Gläu­ bigen unabhängig zu machen und sie in ihrem objektiven Besitz an religiösen Wahrheiten und religiösen Kräften zu konzentrieren, welche letzteren in der Ueberlieferung von Christus und in der alles durchdringenden erfüllenden göttlichen Leitung der Gemeinde lagen. Von diesen objektiven Grundlagen aus konnten die sub-

Der Kirchentypus.

jektiven Kräfte immer neu wieder ausströmen und erneuernd wirken, aber jene fielen nicht zusammen mit diesen Wirkungen. Nur so war eine Massenkirche möglich, und nur so war die von einer solchen geforderten relative Anerkennung von Welt, Staat, Gesellschaft und gegebener Kultur keine Beeinträchtigung der Grundlagen. Die Göttlichkeit der Kirche blieb erhalten in ihren ob­ jektiven Grundlagen und brach aus ihnen immer neu hervor. Es galt nur diese in Tradition, Priestertum und Sakrament möglichst zu objektivieren, den soziologischen Beziehungspunkt objektiv in ihnen sicher zu stellen, und man stellte dann damit auch seine subjek­ tive, nur im einzelnen nicht kontrollierbare Wirkung sicher. So war die religiöse Grundgesinnung, etwas göttlich Geschenktes und Erlösendes zu besitzen, gesichert und war zugleich die universalisti­ sche Tendenz zu ihrer Wirkung gebracht, indem sie vor allem das Gnadeninstitut der Kirche aufrichtete und zur Herrschaft empor­ hob. Sie mochte dann unter Nachhilfe des Bußinstitutes und der kirchlichen Seelenleitung, des Ketzerrechtes und der Glaubensüber­ wachung auch die innere Herrschaft gewinnen. Unter diesen Um­ ständen war dann aber auch der Kompromiß mit den Staatsge­ walten, der gesellschaftlichen Ordnung, den ökonomischen Lebens­ bedingungen unausweichlich, wie ihn die thomistische Lehre in einem feinsinnigen, umfassenden und die letzte überweltliche Lebens­ orientierung energisch festhaltenden Aufbau theoretisch konstru­ iert hat. Das Ganze liegt dabei in der Konsequenz des Evange­ liums, sobald man das Evangelium als die Stiftung eines univer­ salen, alle erlösenden Lebenszusammenhanges auffaßt, der zum Ausgangspunkt seiner Wirkungen die vom Evangelium geschenkte Erkenntnis und deren kirchliche Sicherstellung hat. Gerade die Herausarbeitung eines objektiven, soziologischen Beziehungspunktes, seine Sicherstellung und das Streben, von ihm aus eine univer­ sale Weltgewinnung zu organisieren, führte zu dieser Entwickelung. Aber es ist ebel}so offenkundig, daß damit der radikale, auf per­ sönlichste Leistung dringende Individualismus des Evangeliums, seine radikale, alle im persönlichsten Lebenszentrum verknüpfende Liebesgemeinschaft , seine heroische Unbekümmertheit um Welt, Staat und Kultur, sein Mißtrauen gegen die zerstreuende und ablenkende Seelengefährlichkeit eines starken Besitzes und Be­ sitzstrebens zurückgestellt oder auch gar verlassen sind , daß diese Züge nur als Momente im System, aber nicht als beherr­ schende Grundsätze mehr erscheinen. T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

Die S e k t e n dagegen entwickeln nun gerade diese Seite des Evangeliums weiter oder machen sie vielmehr stets von neuem gel­ tend. Das Laienchristentum, die persönliche ethisch-religiöse Lei­ stung, die radikale Liebesgemeinschaft, die religiöse Gleichheit und Brüderlichkeit, die Indifferenz gegen staatliche Gewalt und herrschende Schichten, die Abneigung gegen das technische Recht und den Eid, die Lösung des religiösen Lebens von den Sorgen des ökonomischen Kampfes im Armuts- und Genügsamkeitsideal oder in einer gelegentlich zum Kommunismus übergehenden Liebes­ tätigkeit, die Unmittelbarkeit des persönlichen religiösen Verhält­ nisses, die Kritik an den offiziellen Seelenführern und Theologen, die Berufung auf das Neue Testament und die Urkirche: das sind durchgängig ihre charakteristischen Züge. Der soziologische Be­ ziehungspunkt, von dem aus sich hier die Gemeinschaft bildet, ist ein anderer als der der Kirchenbildung zu Grunde liegende. Setzt diese die objektive dingliche Heiligkeit vom Priesteramt, Succession, Depositum fidei und Sakrament voraus, bezieht sie sich auf die dauernde im Priestertum stattfindende Inkarnation des Göttlichen, so bezieht sich die Sekte auf die immer neue ge­ meinsame Leistung der sittlichen Forderungen, denen als Objek­ tives nur Gesetz und Vorbild Christi zu Grunde liegt. Und es ist unverkennbar, daß sie damit geradezu an die PredigtJesu anknüpfen. Damit verbunden ist daher bewußt oder instinktiv eine andere Stel­ lung zur christlichen Urgeschichte und eine andere Fassung des Christusdogmas. Bibel- und Urgeschichte sind die bleibenden, wört­ lich zu verstehenden Ideale, nicht ein geschichtlich bedingter und begrenzter Ausgangspunkt der Kirchenentwickelung. Christus ist nicht der in der Kirche fortwirkende, in die volle Wahrheit leitende Gottmensch, sondern der durch sein biblisches Gesetz die Ge­ meinde verpflichtende, unmittelbar herrschende Herr der Gemeinde. Entwickelung und Kompromiß auf der einen Seite, wörtliches Fest­ halten und Radikalismus auf der andern. Daher aber rührt dann auch die Unmöglichkeit großer Massenorganisationen und die Be­ schränkung auf kleine persönlich verbundene Kreise , die Not­ wendigkeit immer neuer Einsetzung des Ideals und die Schwäche der Kontinuität, der stark individualistische Charakter und die Wahlverwandtschaft mit allen gedrückten und aufstrebenden Un­ terschichten. Es sind zugleich die Kreise, in denen mit dem heißen Wunsch einer Besserung ihrer Lage die ganze Unkenntnis der verwickelten Lebensbedingungen zu Hause ist und daher eine

Der Sektentypus.

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gläubige Ideologie leicht auf eine Umgestaltung der Welt nach rein moralischen Liebesprinzipien hoffen kann. Die Sekten ge­ winnen so an Intensität des christlichen Lebens; aber sie verlieren an Universalismus, indem sie die Kirche als abgefallen bezeichnen müssen und menschlicher Kraft die Welteroberung nicht möglich glauben, weshalb sie auch immer zu eschatologischen Erwartungen getrieben werden. Sie gewinnen an individueller persönlicher Christlichkeit und bleiben näher an dem radikalen Individualismus des Evangeliums, aber sie verlieren an Unbefangenheit und dank­ barer Hingebung an die göttliche Gnadenoffenbarung, betrachten das Neue Testament als das Gesetz Gottes, neigen mit der Ak­ tivität des persönlichen Liebesverbandes zur Gesetzlichkeit und Betonung der Werke. Sie gewinnen an spezifischer Christlichkeit, aber sie verlieren an geistiger Weite und Aneignungsfähigkeit und revidieren so den ganzen ungeheuren Aneignungsprozeß, den die Kirche vollzogen hat und bei ihrer Sicherstellung der Christlich­ keit in objektiven Grundlagen auch hatte vollziehen können. Die Kirche betont und objektiviert den· Gedanken der Gnade, die Sekte betont und verwirklicht den der subjektiven Heiligkeit. Die Kirche hält sich in der Bibel an die erlösende Stiftung, die Sekte an das Gesetz Gottes und Christi. Indem das die soziologischen Züge der Sekten fast durch­ gängig sind - von den rein dogmatisch begründeten Sondergruppen ist hier nicht die Rede, sie sind übrigens selten und auch die pantheistisch- philosophischen Sekten des Mittelalters laufen fast ununterscheidbar in die Sekte im praktisch-religiösen Sinne über hat ihre Sonderbezeichnung gegenüber den Kirchen doch ihren guten sachlichen Grund 165). Sie sind in der Tat etwas anderes als die Kirche und die Kirchen. Nur bedeutet der Ausdruck »Sekte« nicht ein Werturteil über Verkümmerungen des Kirch­ lichen , sondern einen selbständigen soziologischen Typus der christlichen Idee. Das Wesen der Kirche ist der objektive a n s t a l t 1 i c h e Charakter. In sie wird man hineingeboren, und durch die Kindertaufe tritt man in den Bereich ihres Wunder­ kreises. Das Priestertum und die Hierarchie als Inhaberin der Tradition, der Sakramentalgnade und der Jurisdiktion stellt auch 165) Ueber den prinzipiellen Sondercharakter der mittelalterlichen Sekten gegen­ über den bloß dogmatisch bedingten Häresien des Altertums siehe Lechler I 42. Es ist der Charakter des • Vereins« S. 54. Ueber den Donatismus als Urtypus alles Sektentums s. Kawerau a. a. 0.

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bei zufälliger persönlicher Unwürdigkeit des Priesters den objek­ tiven Gnadenschatz dar, der nur stets auf den Leuchter gestellt werden und in den Sakramenten zur Wirkung gebracht werden muß, um seine Wirkungen vermöge der der Kirche eignenden Wunderkraft zu tun. Es ist die Permanenz des Gottmenschen, die Verlängerung der Menschwerdung, die objektive Organisation der Wunderkraft, von der vermöge göttlicher Weltregierung und Vorsehung die subjektiven Wirkungen von selbst als Folge aus­ gehen. Von hier aus ist der Kompromiß mit der Welt und die Anknüpfung an die aus ihr entgegenkommenden Vorstufen und Dispositionen möglich; denn bei aller Unzulänglichkeit der Per­ sonen bleibt die Heiligkeit und Göttlichkeit der Anstalt, und sie hat die Verheißung, durch die ihr innewohnende Wunderkraft die Welt zu überwinden. Mit diesem Kompromiß wird aber auch erst der Universalismus möglich; er ist eine tatsächliche Herr­ schaft des Instituts als solchen und eine gläubige Zuversicht zu seiner unwiderstehlichen inneren Wirkungskraft. Das persönliche Machen und Leisten ist, so sehr es gelegentlich betont wird und bis zu strenger Gesetzlichkeit gehen mag, doch nur sekundär ; die Hauptsache ist der objektive Besitz und seine universal an­ erkannte Herrschaft ; vom übrigen heißt es : et cetera adjicientur vobis. Es kommt wesentlich darauf an, daß alle Individuen der Möglichkeit der Einwirkung dieser Heilskräfte unterstellt werden; daher ist die Kirche genötigt zur Herrschaft über die Gesell­ schaft und zur Zwangsunterwerfung aller Gesellschaftsglieder unter ihren Einflußbereich; aber sie bleibt in ihrem Bestand doch wieder ganz unabhängig davon, ob diese Wirkung an allen Individuen auch wirklich erreicht wird oder nicht. Sie ist die große Erzieherin der Völker, die wie alle Erzieher Stufen- und Reifeunterschiede zu machen versteht und ihr Ziel nur durch Anpassung und Konnivenz erreicht. Diesem anstaltlichen Prinzip des objektiven Organismus gegenüber ist nun aber die Sekte die G e m e i n s c h a f t d e r F r e i w i 11 i g k e i t und des bewußten Anschlusses. Alles hängt daher dann auch an wirklicher persönlicher Leistung und Be­ teiligung; jeder hat Anteil an der Gemeinschaft als selbständiges Glied ; die Verbundenheit ist nicht eine durch den gemein­ samen Besitz vermittelte, sondern eine in persönlicher Lebens­ beziehung unmittelbar verwirklichte. In die Sekte wird man nicht hineingeboren, sondern ihr tritt man auf Grund bewußter Be­ kehrung bei; die in der Tat ja auch später aufgekommene

Soziologischer Charakter beider Typen.

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Kindertaufe bildet für sie fast stets einen Anstoß. In der Sekte wird man gut und fromm nicht durch objektive Sakramentsver­ sittlichung , sondern durch persönlichste Leistung; ihre Kritik wendet sich daher früher oder später stets gegen den Sakraments­ begriff. Das ist nicht eine Lockerung der Gemeinschaft durch den Individualismus , vielmehr eine Befestigung, indem jedes Indivi­ duum gerade durch Gemeinschaftsleistungen sich als berechtigt er­ weist, Aber es ist eine naturgemäß engere Begrenzung der Gemein­ schaft, und bei der Aufzehrung aller Arbeit in der Behauptung und Betätigung gerade dieser Gemeinschaft eine lndifferenzierung gegen andere Gemeinschaftsformen, die aus weltlichem Interesse entsprin­ gen; und es ist umgekehrt wiederum ein Hereinziehen aller weltlichen Interessen in den engen Rahmen und die Maßstäbe des eigenen Be­ reiches, soweit er sie überhaupt in sich aufzunehmen vermag. Was aber nicht in diesen Interessenkreis der Sekte und in das biblische Ideal einzubeziehen ist, das wird verworfen und gemieden. Die Sekte erzieht daher nicht Völker und Massen, sondern sammelt die Elite der Berufenen und stellt sie der Welt schroff gegenüber. So­ ferne sie den christlichen Universalismus behauptet, kennt sie ihn wie das Evangelium nur in eschatologischer Gestalt, weshalb sie über­ all schließlich die biblische Eschatologie neubelebt. Dabei versteht sich dann die größere Neigung der Sekte zu »asketischem« Leben und Denken von selbst, auch wenn nicht das Urbild des Neuen Testaments darauf hinwiese. Die Abschließ'ung der Gemeinschaft und die Betätigung des Individuums liegt gerade in der prakti­ schen Strenge einer lediglich religiös und nicht vom Kulturinter­ esse her beeinflußten Lebenshaltung. Das ist dann aber auch eine andere Art von Askese, und von hier aus erklärt sich der oben schon konstatierte Unterschied gegen die kirchliche Idee der Askese. Sie ist nicht heroische, ihrem Wesen nach auf Einzelfälle sich be­ schränkende Sonderleistung eines besonderen Standes und Mortifi­ kation der Sinnlichkeit im Interesse einer Unterstützung des höheren religiösen Aufschwungs, sondern einfach im alten biblischen Sinne Zurückhaltung von der Welt, Herabsetzung des weltlichen Genusses auf ein Mindestmaß und äußerste Anspannung der Liebesgemein­ schaft. Wie der Sektentypus in der Predigt Jesu wurzelt, so ist seine Askese auch die des Urchristentums und der Bergpredigt, nicht die der Kirche und der Kontemplation, enger und ängstlicher als Jesu Anweisung, aber beim wörtlichen Verstand doch eben die Fort­ setzung der Haltung Jesu gegen die Welt. Die Konzentration auf

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die persönliche Leistung und die soziologische Beziehung auf ein praktisches Ideal fordert die äußerste Strenge des Anspruchs an die Leistungen und die Zurückhaltung von andersartigen Ver­ bänden. Es ist nicht die Popularisierung und Universalisierung eines von der Kirche nur besonderen Ständen und Verhältnissen vorbehaltenen Ideals. Das kirchliche Ideal der Askese laßt sich gar nicht als universale Moral vorstellen, sondern hat sein Wesen am Absonderlichen und Heroischen. Das asketische Ideal der Sekte dagegen ist selbstverständlich ein allen mögliches und für alle bestimmtes Ideal, das seinem Begriff nach gerade die Ge­ meinschaft verbindet statt sie zu sprengen und seinem Inhalt nach auch einer allgemeinen Verwirklichung fähig ist, soweit der Kreis der Berufenen in Betracht kommt 165•). 165") Um der ,Askese« willen ist es bei einer großen Gruppe protestantischer Forscher üblich, die Sekten als etwas spezifisch Katholisches zu bezeichnen, obwohl sie doch gerade das Zentrum des Katholizismus, Hierarchie, Priestertum, Sakrament und Objektivität der Gnade, durchbrechen. Das geschieht bei denjenigen Forschern, die in der Schule Ritschls als das Wesen des Katholizismus die weltfeindliche Askese, ,das mönchische Vollkommenheitsideal«, haben betrachten lernen und meinen, daß der Katholizismus nur aus Inkonsequenz und wegen äußerer Unmöglichkeit dieses Ideal nicht für alle durchgeführt habe, während die Sekten es für alle durchführen. Das steht bei diesen Theologen in engem Zusammenhang mit ihrer Auffassung des Neuen Testaments und des Protestantismus, wonach das erstere in seiner Idee des Gottesreiches einen ethisch-religiösen Verband gottvertrauender, in der Bruderliebe die Welt beherrschender Gläubiger, und der letztere die Wiederbeseitigung der Askese und die Rückkehr zu einem berufsfreudigen weltbejahenden Christentum bedeute, darin seinen Einklang mit der modernen Welt bezeugend. So sagt Brieger (•Die Reformation« in Ullsteins Weltgeschichte S. 198) von den mittelalterlichen Sekten: >Nur eine winzige Minderheit sonderte sich ab, etwa weil die Wärme ihres religiösen Gefühls auf kalte Satzungen stieß, ihr sittlicher Ernst verletzt wurde, man sehnte sich zurück nach der Gemeinde des apostolischen Zeitalters, von welcher die Papstkirche mit ihren weltlichen Zielen himmelweit abstand. Allein auch diese Abtrünnigen blieben in ihren religiösen Grundanschauungen in Uebereinstimmung mit der Kirche. Die Sekten des M.A. tragen, so mannigfach diese Absplitterungen auch sein mögen, ohne Ausnahme das Gepräge des Katholizismus der Zeit. Sie gehören ihm an, sind seine Gebilde. Nur auf diesem Grund und Boden konnten sie erwachsen ; mehr noch, überall läßt sich in den wilden Senkreisern das Gewebe des Stammes erkennen«. Dieses Gewebe aber ist die »Askese«. So führt Möller­ Kawerau, K.-G. III, die Täufer und Sekten des Reformationszeitalters auf den Katholizismus zurück wegen Askese und Gesetzlichkeit. So hat vor allem Ritschl die zweite große Sektenbewegung des Protestantismus, den Pietismus, als Ein­ schleppung fremder katholischer Maßstäbe erklärt. Allein diese ganze Konstruk-

Begründung beider Typen im Neuen Testament.

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So sind es in der Tat zwei verschiedene soziologische Typen, wobei es gleichgültig ist, daß sie in Wirklichkeit gelegentlich in ein­ ander übergehen. Will man dafür nicht die Ausdrücke »Kirche� und »Sekte« gebrauchen, sondern bezeichnet man, was an sich eine zweckmäßige Terminologie ist 165b), alle aus monotheistisch-uni­ versalistisch-religiösen Motiven her vorgehenden soziologischen Bil­ dungen als Kirchen, so müßte man Anstaltskirchen und Frei­ willigkeitskirchen unterscheiden. Der Ausdruck ist Nebensache. Die Hauptsache ist, daß beide Typen i n d e r K o n s e q u e n z d e s Ev a n g e l i u m s l i e g e n u n d e r s t z u s a m m e n d e n Um k r e i s s ein e r s o z i o l o g i s c h e n W ir k u n g e n u n d d a m i t a u c h in d ir e k t s ein e r s o zia l e n , s t e t s a n d i e r e l i g i ö s e Or g a n i s a t i o n a n k n ü p f e n d e n Ko n s equ e n z en e r s c h ö p f e n. Die Kirche ist in der Tat nicht ein einfacher Abfall vom Evangelium, so sehr das zunächst bei dem Gegensatz von Hierarchie und Sakrament gegen die Predigt Jesu so scheinen mag. Wo nämlich das Evangelium in erster Linie als Gabe, Ge­ schenk und Gnade empfunden wird und in dem Glaubensbilde des Christus als eine göttliche Stiftung sich darstellt, wo die innerliche tion ist grundfalsch. Bezüglich des Katholizismus glaube ich im bisherigen gezeigt zu haben, daß gerade nicht die Askese, sondern die Vereinigung von Askese und Weltleben und die Möglichkeit, beide in dem Stufenbau der Gnadenanstalt zu kombinieren, für ihn charakteristisch ist. Daß die Wurzeln der ,Askese« schon im N. T. liegen, ist heute allgemein anerkannt in engem Zusammenhang mit der Erkenntnis des eschatologischen Charakters des N. T.s. Sie haben auch Luther genug zu schaffen gemacht, von dem Brieger an diesem Punkt urteilt, daß er das N. T. nicht in historischem Sinne, d. h. in seiner gesinnungsmäßigen Frei­ heit und Weltfreundlichkeit zu lesen verstanden habe, sondern zu Unrecht wört­ lich genommen habe I Das alles zeigt aber, daß im m.a.lichen, reformatorisch­ täuferischen und pietistischen Sektentum nicht katholische, sondern biblische Ele­ mente wirken, die neben den andersartigen auf Kirche, Objektivität der Gnade und konservative Weltanpassung hinwirkenden Elementen des N. T. eine eigene Ten­ denz und Geschichte haben. Es st der Sektentypus, der überall als Komplemen­ tärbewegung neben dem Kirchentypus hergeht und überall in dem Maße durch­ bricht, als man sich an die synoptischen und enthusiastischen Partieen des N. T. hält. Dabei ist auch die Vieldeutigkeit des Wortes »Askese« übersehen, von der bereits früher die Rede war. 165b) S. meine Abhandlung, Religion und Kirche , Preuß. Jahrb. 1895. Es wäre eine interessante Frage, wie weit die monotheistisch-universalen nichtchrist­ lichen Organisationen oder Kirchen ähnliche Differenzen in ihrem Schoße tragen. Es ist zu vermuten, daß z. B. beim Islam ähnliche Differenzen sich finden.

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Freiheit des Geistes im Unterschied von allem menschlichen Machen und Organisieren als der Sinn Jesu erlebt und die großartige Un­ bekümmertheit um weltliche Dinge auch im Sinne einer geistigen und innerlichen Unabhängigkeit bei äußerem Gebrauch derselben gefühlt wird, da wird man die Anstalt der Kirche als die natur­ gemäße Fortsetzung und Umwandlung des Evangeliums betrach­ ten. Zugleich enthält sie mit ihrem unbedingten Universalismus doch den Grundtrieb der evangelischen Predigt, nur daß diese alle Einzelfragen der Möglichkeit und Durchführung dem wunder­ baren Kommen des Reiches überlassen hatte, während eine in der Weltdauer arbeitende Kirche hier selbst organisieren und ordnen und dabei ihre Kompromisse schließen mußte. Andrerseits ist aber auch die Sekte nicht eine bloße Vereinseitigung kirchlicher Lebens­ elemente, sondern eine unmittelbare Fortsetzung des evangelischen Gedankens. Der radikale Individualismus und Liebesgedanke kommt nur in ihr zu seiner vollen Geltung, nur sie konstruiert instinktiv die Gemeinschaft von ihm aus und erreicht gerade durch ihn eine ungeheure Festigkeit der subjektiv-innerlichen Verbin­ dung an Stelle der bloßen äußeren Anstaltszugehörigkeit. Sie hält eben damit auch am ursprünglichen Radikalismus des Ideals und seinem Weltgegensatz fest und bleibt bei der Grundforderung persönlicher Leistung, die ja auch sie als Werk der Gnade em­ pfinden kann: aber sie betont an der Gnade die subjektive Verwirk­ lichung und Auswirkung und nicht die objektive Versichertheit und Gegenwart. Sie lebt nicht von dem Wunder der Vergangenheit und nicht von dem Wundercharakter der Anstalt, sondern von dem immer neuen Gegenwartswunder und der subjektiven vVirklichkeit der persönlichen Lebensleistung. Die Kirche geht aus von der apo­ stolischen Verkündigung des himmlischen Christus und dem Glauben an den Erlöser - Christus , in den das Evangelium sich umgesetzt hat, und sie hat darin den objektiven Schatz, den sie in ihrem sakramental-priesterlichen Aufbau immer weiter objektiviert. In­ soferne geht die Kirche schon auf den Paulinismus zurück, der ja auch schon die Wurzeln des Sakramentsgedankens zeigt, aber freilich in dem pneumatischen Enthusiasmus und in dem Dringen auf persönliche Heiligkeit der neuen Kreatur sehr unkirchliche Ele­ mente enthält. Die Sekte dagegen geht aus von der Predigt Jesu und dem Vorbild Jesu, von der subjektiven Leistung der Apostel und dem Muster ihres armen Lebens, und schließt den vom Evangelium gepredigten religiösen Individualismus zusammen zur religiösen Ge-

Begründung beider Typen im Neuen Testament.

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nossenschaft, in der das Amt nicht auf Weihe und Tradition, son­ dern auf religiöser Leistung und Kraft beruht und daher auch völlig den Laien anheimfallen kann. Die Kirche verwaltet die Sakramente unabhängig von der Würdigkeit der Priester, die Sekte mißtraut. den kirchlichen Sakramenten, läßt sie durch Laien voll­ ziehen oder macht sie abhängig von der religiösen Würdigkeit der Spendenden oder beseitigt sie ganz; ihr Individualismus drängt nach unmittelbarem Verkehr des Individuums mit Gott und ersetzt daher oft genug die kirchliche Sakramentslehre wieder durch die ur­ christliche Lehre vom Geist und Enthusiasmus. Die Kirche hat Prie­ ster und Sakrament, beherrscht die Welt und wird von der Welt darum mitbeherrscht; die Sekte ist Laienchristentum, unabhängig von der Welt und darum geneigt zur Askese und zur Mystik. Beides ist in den Grundtrieben des Evangeliums begründet. Es enthält den Gedanken eines objektiven Heilbesitzes in der Gottes­ erkenntnis und Gottesoffenbarung, und in der Ausgestaltung die­ ses Gedankens wird es zur Kirche. Es enthält aber auch den Gedanken der absolut persönlichen Religion und der absolut per­ sönlichen Gemeinschaft, und in dessen Verfolgung wird es zur Sekte. Die Predigt Jesu, die vorwärts blickt auf das kommende Ende und das Reich, die entschlossene Bekenner sammelt und vereinigt, die der Welt und deren Kindern die schroffste Absage erteilt, geht in der letzteren Richtung. Der apostolische Glaube, der zurückblickt auf ein Wunder der Erlösung und der Person Jesu und in den Kräften seines himmlischen Herrn lebt , der etwas Fertiges und Objektives hinter sich hat, in dem er seine Gläubigen zusammenschließt und ausruhen läßt, geht dann in der ersten Richtung. Das Neue Testament wirkt sowohl kirchenbildend als sektenbildend. Es hat das von Anfang an getan. Aber die Kirche hatte den Vorsprung und die große Weltmission. Erst mit der streng­ sten Vollendung der Objektivierung in der Kirche reagierte gegen dieses Uebermaß der Objektivierung wieder die sektenbildende Tendenz. Und wie die erste sich vollzog im Zusammenhang mit der feudalen Gesellschaft des Frühmittelalters, so steht die letztere im Zusammenhang mit dem sozialen Umschwung und den Neu­ bildungen der städtischen Kultur im Hoch- und Spätmittelalter, mit der Subjektivierung und Ansammlung der Massen in den Städten selbst und den Rückwirkungen dieser Städtebildung auf Landbevölkerung und Aristokratie. Von alledem aus versteht sich weiterhin auch das verschie-

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dene Verhalten des Kirchen- und des Sektentypus zu dem n a t u r r e c h t 1 i c h e n G e d a n k e n k r e i s e , der ja längst mit dem biblischen zu einer für das christliche Gefühl selbstverständ­ lichen Einheit zusammengeschmolzen war. Die Kirche beweist die Rationalität und Allgemeingültigkeit ihres Sittengesetzes durch die Zurückführung auf das sittliche Naturgesetz, wie es in seiner Vollkommenheit am Schöpfungsmorgen der Menschheit bestan­ den hatte, und sie überhöht es in der Kirche nur durch die be­ sondere Sittlichkeit, die aus der Begabung mit der sakramentalen Gnade der Uebernatur folgt. Aber das hat nur theoretisch-apolo­ getische Bedeutung. Praktisch kann sie jenes Natur- und Gottes­ gesetz nicht durchführen, da es die allgemeine brüderliche Gleich­ heit, die Abwesenheit von Staat, Besitz, Recht und Zwang mit sich bringt. In der Welt der Sünde ist dieses Gesetz nicht mög­ lich und würde eine Fassung des christlichen Gesetzes in diesem radikalen Sinne die Kirche zur Einflußlosigkeit verurteilen oder zur Revolution nötigen. So entschließt sich die Kirche zu einer Relativierung dieses absoluten Natur- und Gottesgesetzes, es ist im Sündenstande verwandelt in das relative Naturgesetz der staat­ lichen und gesellschaftlichen Ordnung, deren Macht-, Rechts- und Zwangscharakter zugleich eine Strafe, aber auch eine Heilung und Zügelung der Sünde ist. Auf dieses relative Naturgesetz aber kann dann die weltbeherrschende Erlösungsanstalt sich einrichten, indem sie seine Bildungen als Vor- und Unterstufe sich einordnet und mit der kirchlichen Zentralautorität einheitlich beherrscht. Die dabei unausbleiblichen Unvollkommenheiten sind Folge des Sündenstandes und werden durch die der Kirche verliehene Macht der Sündenvergebung getilgt , durch die von dem besonderen Stand der Asketen erworbenen Verdienste gedeckt. Ja, auf der Höhe der wissenschaftlichen Theologie und Ethik hat die Kirche die weltlichen Sozialordnungen schon in das absolute Naturgesetz selbst als Konsequenz hineinverlegt und dem Sündenfall nur die Verwandlung in das schmerzenreiche Gewalt- und Zwangswesen zugeschrieben, so daß Staat, Gesellschaft und Besitz nun geradezu als von Gottes und Natur wegen vollberechtigt erscheinen. Dem­ gegenüber nehmen nun die Sekten eine ganz andere Stellung zu dem Naturrecht ein. Sie halten sich nicht an die gelehrten pa­ tristischen und aristotelischen Untersuchungen über das Gottes­ gesetz, sondern an das klare Gesetz Christi oder der Bergpredigt. Und, wenn sie das Bedürfnis empfinden, diesem Gottesgesetz eine

Gestaltung des Naturrechts in den Sekten.

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rationelle und allgemeingültige Begründung zu geben, da greifen sie lediglich auf das mit ihm identische Naturgesetz des Urstandes zurück, auf das reine Gesetz einer unverdorbenen Natur ohne Ge­ walt, Recht, Krieg , Macht, Eid und Privateigentum. Sie ver­ werfen den Kompromiß mit der Welt und darum das relative Naturgesetz. Sie wissen nichts von dem Stufenbau der Gesell­ schaft und des Universums mit seinen Uebergängen und Relativi­ täten ; sie kennen nur absolute Gegensätze. Durch die Berufung auf das absolute und reine Naturgesetz geben sie aber ihrem Biblizismus dann doch eine verstärkte Betonung, eine einleuch­ tende Begründung und ein leidenschaftliches Pathos. Dabei sind noch mancherlei Unterschiede innerhalb der Fassung dieses ab­ soluten Naturrechtes möglich. Es kann die Ungleichheit der Menschen einschließen an Stellung, Beruf, Einfluß, Besitz und die Ungleichheiten nur in der Liebe, in einem alles für das Ganze verwendenden Liebeskommunismus auslöschen. Es kann aber auch die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Individuen be­ deuten und dann zu demokratisch-kommunistischen Ideen führen. So oder so steht das neutestamentliche Gottesgesetz und abso­ lute Naturrecht im Gegensatz gegen die bestehenden Verhältnisse. Je mehr dann aber nicht bloß die Gottwidrigkeit , sondern auch die Naturwidrigkeit dieser Verhältnisse betont wird, um so näher wird der Antrieb liegen zum Eingriff in sie, zur Reform, zur Besserung, zur Neubildung. Dafür gibt es dann freilich verschie­ dene Wege. Es gibt die reine Zurückziehung von der Welt und die Verwirklichung des Ideals in leidenden und duldepden, aber das Gottesgesetz haltenden Kreisen. Es gibt die friedliche und ge­ ordnete Reform, die die staatlichen und kirchlichen Gewalten zur möglichsten Annäherung der wirklichen Verhältnisse an das Ideal veranlassen will, die Kirche im Sinne des Armutsideals und den Staat im Sinne des Friedensideals, oder die beim Versagen der Kirche den Laien und Obrigkeiten den Auftrag gibt, diese Re­ formen zu erzwingen. Da es leichter ist, die Kirche von diesem Ideal aus zu reformieren als den Staat, und man zur Kirchen­ reform obendrein der staatlichen Hilfe bedarf, so richtet sich diese Reform nach dem absoluten Naturrecht und dem biblischen Gottes­ gesetz mit Vorliebe gegen die Kirche und wird zur Kirchenrevo­ lution. Wo aber der Gedanke sich auch gegen die widernatür­ lichen und widergöttlichen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft richtet, da wird er zur demokratisch-sozialistischen Revolution,

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

die auch vor der Gewalt nicht zurückschreckt und dafür sich auf das Alte Testament und die Apokalypse beruft. Dabei stehen alle diese so oder so gearteten Gestaltungen des absoluten Natur­ rechtes in engem Zusammenhang mit allgemeinen sozialen oder auch politischen und nationalen Bewegungen. Bald ist es die gedrückte Unterschicht, die sich sammeln will zu eigenem Dasein und zu persönlicher Anteilnahme an der Religion kommen will. Bald sind es nationalistische und staatsfreundliche Tendenzen, die wenigstens für die Kirche das Sektenideal durchsetzen und damit das Verhältnis zu einem nationalen Staat erleichtern wollen, da­ mit in der Regel aber ihre naturrechtlichen Ideen auch auf den Staat abfärben lassen. Bald ist es die spätmittelalterliche soziale Revolution, die das Gottes- und Naturrecht für sich reklamiert und eine christliche Ordnung der Gesellschaft als Befriedigung ihrer Interessen mit Gewalt aufrichten will. Diese Verdrängung des relativen Naturrechts durch das mit dem biblischen Gottesgesetz identische absolute Naturrecht ent­ hält nun aber schließlich noch eine Reihe weiterer r e 1 i g i ö s u n d t h e o 1 o g i s c h b e d e u t s a m e r F o 1 g e n , die für den soziologischen Charakter des Sektentums und• sein Verhältnis zum Kirchentum charakteristisch sind. Erstlich ist das Gottesgesetz nicht mehr in erster Linie reduziert auf den Dekalog. An seine Stelle tritt das neutestamentliche oder eigentlich christliche Gottes­ gesetz, das Gesetz Christi oder die Bergpredigt. Der Dekalog hatte sich mit dem relativen Naturgesetz leicht vereinigen lassen, und, indem das christliche Sittengesetz in der Hauptsache auf den Dekalog reduziert wurde, wurde es überhaupt auf das Niveau des Praktisch-Möglichen und in der großen Masse Durchführbaren ge­ senkt. Das Besondere christliche Element kam dann nur zusatz­ weise in dem Ueberbau durch mystisch-kultische Forderungen und durch die evangelischen Räte zur Geltung. Demgegenüber ist das Gottesgesetz der Sekten auf das Spezifisch-Christliche ge­ richtet, freilich nicht sowohl auf die Gesinnungsethik der Berg­ predigt als auf die dort gegebenen Beispiele und die vom Neuen Testament geforderten Bewährungen dieser Gesinnung. Das er­ gibt sicherlich eine Verengung des neutestamentlichen Gedankens, hält diesen aber doch in seiner charakteristischen Grundrichtung fest gegenüber den Ausweitungen durch die Kirche. Zweitens enthält die Einsetzung des absoluten Gottes- und Naturgesetzes in die alleinige Geltung die Beseitigung des ganzen Stufen- und

Weitere religiös-theologische Eigentümlichkeiten der Sekten.

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Entwickelungsgedankens. Das wurde bereits berührt. Es bringt aber weitgreifende Folgen mit sich. Das ganze Bild der Welt und der Dinge wird dann ein anderes, worüber freilich die meist sehr schlichte Theologie der Sekten sich keine Rechenschaft gab. Gottes Verhältnis zur Welt wird viel einfacher und verständlicher. Sein Sinn und Gesetz ist völlig eindeutig in der Bibel und in der Stimme der reinen Natur ausgedrückt; es bedarf keiner verwickel­ ten Gesetzeslehre. Die Forderung ergeht an alle gleich, und es bedarf keiner ständischen Abstufung der Vollkommenheit. Die Schöpfung geht nicht durch verschiedene Stufen herab bis zur Materialität, um dann wieder durch Stufen kunstvoll von der Na­ tur zur Gnade und Uebernatur emporzusteigen. Sie stellt viel­ mehr die Welt einfach und unmittelbar vor die Aufgabe der Ver­ wirklichung des Ideals, und dieses verliert den Charakter der mystischen Uebernatur mit ihrer Erhöhung der Essenz des Men­ schen über sich selbst. Von all diesen Dingen hört man in der Sektenliteratur nichts, und es muß unter diesem Einfluß geschehen sein, wenn im Spätmittelalter diese ganze Idee des kosmischen Stufenganges zurücktritt, um einem unmittelbaren Verhältnis Gottes zur Kreatur Platz zu machen. Nicht wird dagegen hierdurch der Gedanke der berufsmäßigen Gliederung der Gesellschaft berührt. Diese versteht sich in diesen Kreisen, soferne sie nicht zum kom­ munistisch-demokratischen Sozialismus übergehen, von selbst. Ja, von Wiklif wird sie geradezu aufs stärkste betont. Seine Bibel­ übersetzung führt überhaupt das Wort Beruf in seiner heutigen Bedeutung ein 165•). Indem diese Sektenkreise den städtischen Unterschichten zumeist angehören, ist für sie Arbeits- und Berufs­ gliederung und die Arbeitsgesinnung selbstverständlich. Es ist nur die Eingliederung in den natürlich-übernatürlichen Stufenbau, die hier wegfällt. Damit hängt dann das dritte zusammen, die starke Betonung der Idee des Gesetzes. Der Katholizismus hatte für den Gottesbegriff die beiden großen Hauptbestimmungen der über­ endlichen, absoluten Wesenheit und des die Natur- und Geistes­ welt regelnden Gesetzes. Beide Ideen waren in ihm nicht dia­ lektisch ausgeglichen, aber sie lagen beide zusammen in bestän­ diger Ergänzung und Abwechslung seinem Ideal der Menschheits­ gesellschaft und der Gnadenwelt zugrunde, die Gottes natürliches und geoffenbartes Gesetz durch erlösende Gnadenkraft erfüllt und damit der mystischen Seligkeit der überendlichen Uebernatur teil1660) S. Weber, Prot. Ethik, Archiv XX S. 40,

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haftig wird. Da nun die letztere Idee als Krönung des Stufen­ baus für die Sekten wegfällt und höchstens bei einigen Gruppen als Unmittelbarkeit des religiösen Verhältnisses übrig bleibt, rückt der Begriff des Gesetzes in die alles beherrschende Stellung. Gottes Wesen und Wille ist sein Natur- und Offenbarungsgesetz, die Bibel ist das Gesetzbuch der Offenbarung, das mit dem der Natur zusammenfällt. Einerseits äußert sich hierin die Gemein­ samkeit der bisherigen christlichen Ideenentwickelung, die für den Gottesbegriff eben nur die Verbindung jener beiden Begriffe er­ zeugt hatte und von der für die Sektentheologie instinktiv nur der zweite übrig blieb. Andrerseits aber ist es doch nur der Ausdruck für die Betonung der persönlichen Leistung und die Bedeutung des praktisch-sittlichen Gedankens. So wird an Stelle der Gnaden- und Erlösungsanstalt der Gesetzesbegriff zum Zen­ trum der Sektentheologie. Er gibt die wesentliche Wahrheit und den objektiven Beziehungspunkt dieser Gemeinschaften und färbt daher bei aller Betonung der Gnade, und etwa auch der Prädesti­ nation, doch den ganzen Zusammenhalt durch die Gesetzesstrenge. Faßt man diese Hauptpunkte ins Auge, dann ergibt sich auch eine Schattierung der verschiedenen Erscheinungen, die bei einer ungenauen Handhabung des Ausdrucks »Sekte« vielfach unter­ schiedslos zusammengeworfen werden, weil sie sich überhaupt der kirchlichen Bindung entziehen. Die Sekte im eigentlichen Sinne ist ein wirkliches soziologisches Phänomen, ist eine Form streng­ ster gemeinschaftlicher Bindung, nur eine Bindung anderer Art als die kirchliche Bindung. Unter ihren Begriff fallen daher an und für sich alle diejenigen Erscheinungen nicht, die überhaupt keine religiöse Gemeinschaftsbindung enthalten und höchstens durch Gleichartigkeit oder suggestive Ansteckung wechselnde Gruppierungen hervorbringen. So fallen unter ihren Begriff nicht die rein enthusiastischen und rein mystischen Phänomene, in denen die neuplatonischen Ingredienzen des mittelalterlichen Kirchen­ tums oder auch völlig subjektive und spontane Erregungen her­ vortreten. Hier handelt es sich entweder um die rein individuelle unmittelbare Gottesgemeinschaft, die auf das innere Licht be­ gründet ist und der Gemeinschaft an sich gar nicht bedarf, oder es handelt sich um epidemische Ansteckungen, die nur auf Ueber­ tragung starker Affekte beruhen. Während die Sekten ihre Ge­ meinschaft in der biblischen Offenbarung , im Gottesgesetz und in dessen von der Gemeinde kontrollierten Erfüllung objektiv ver-

Nomistische und enthusiastische Sekten.

ankern, hat die Mystik an sich überhaupt kein Gemeinschafts­ prinzip, kennt sie die Gemeinschaft nur als Zusammentreffen der Gleichgesinnten. Aber indirekt wird dann doch der Sektentypus auch für diese Erscheinungen bedeutsam. Sobald sie nämlich sich als Gemeinschaft organisieren wollen, folgen sie dem Vorbild des Sektentypus. Da für sie die kirchliche Objektivität der sakramentalen Anstalt erst recht ausgeschlossen ist, müssen auch sie, soferne sie einen dauernden Zusammenhalt erstreben, sich um die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Strenge der ethischen Bewährung gruppieren. Damit rückt dann auch bei ihnen trotz aller Mystik und aller Lehren von der überendlichen göttlichen Substanz das biblische Sittengesetz in den Mittelpunkt, und sie konstruieren ihre Gemeinschaft von dem Gedanken Christi als des himmlischen Herrn, des Gesetzgebers und Vorbildes und von dem Prinzip der Erfüllung des Gesetzes aus. Damit laufen dann die verschiedenen Erscheinungen ineinander über, kann die Sekte in mystischen Enthusiasmus und der mystische Enthusiasmus in die Sekte übergehen. Aber das Strukturprinzip selbst, soweit es vorhanden und durchgebildet ist, entstammt dabei immer dem Sektentypus, der Freiwilligkeitskirche, die sich den Gnadenstand ihrer Teilnehmer stets an der praktischen Bewährung und Heilig­ keit klar macht. Wo das nicht geschieht, verlaufen sie in Zufalls­ gruppierungen des Enthusiasmus, die sich zwar auf die neutesta­ mentlichen Enthusiasmus berufen können, aber gerade vom Neuen Testament her immer wieder entweder auf den kirchlichen An­ staltstypus oder auf die Freiwilligkeitsgemeinschaft der das volle biblische Gesetz bewährenden Sekte zurückgeworfen werdeh. Diese prinzipiellen und allgemeinen Erkenntnisse gilt es a n d e r G e s c h i c h t e d e s S e k t e n t u m s zu erläutern, wobei ich freilich nur über fremde Forschungen berichten und sie aus den hier auf­ gestellten Gesichtspunkten deuten kann. Dabei wird sich zeigen, daß das kein konstruierter und von außen her aufgedrungener Schematismus, sondern eine aus dem Nachfühlen der Erscheinungen entsprungene und ihren inneren Zusammenhang erst erleuchtende Deutung ist. Den Au s g a n g s p u n k t der mittelalterlichen Sektenbildung bildet die gregorianische Kirchenreform und -revolution 166). Sie ist 166)

Hierzu und zum Folgenden vgl. die überaus lehrreichen und umfassenden Aufsätze von Gioacchimo Volpe, Eretici e moti ereticali de!. XI al XV secolo, nei loro motivi et riferimenti sociali, Rinnovamento 1907, Juni, August, Oktober.

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II. Mittelalter!. Katholizismus.

9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

nach beiden Seiten hin entscheidend, nach der Seite der Kirchen­ bildung unmittelbar, nach der Seite der Sektenbildung mittelbar. In ihr erhob sich das kanonische und universale Papsttum gegen die seigneurale Landeskirche, in der alle Interessen des Lehens­ staates mit denen der Geistlichkeit und alle Aufgaben und Zwecke der Geistlichkeit mit denen des Lehensstaates eng verbunden waren, in der die Durchsetzung der Christlichkeit des Volkes ein Werk der großen, mit allerhand Regierungsaufgaben betrauten Bischöfe war. Eng verfilzt durch Verwandtschaft und Interessen mit dem Adel, umgeben von großen politischen und wirtschaftlichen Ab­ hängigkeitskreisen, ergänzt durch ein nicht minder aus der Ari­ stokratie gespeistes Klosterwesen und auch im Falle streng christ­ licher Interessen von oben herunter reformierend, drückte diese Kirche namentlich in Frankreich und Italien auf die unteren Klassen und den niederen Klerus. In diesen Kreisen bestand daher ein lebhafter Gegensatz gegen die seigneurale Kirche und vor allem machten sich hier die städtischen Arbeiterschichten geltend, die in Italien und Frankreich mit den Städten selbst schon im II. Jahrhundert eine Rolle zu spielen anfangen und die große soziale Bewegung der Bevölkerungssteigerung und Akku­ mulation in den Städten eröffnen. Sie hassen eine Kirche, die den niederen Klerus wie Unfreie behandelt, die die Grundherr­ schaft in ihren Zehnten ausnützt, die das Kirchenvermögen nicht für die Armen, sondern für die Kirche selbst oder für feudale Bedürfnisse der hohen Geistlichkeit verwendet, die in allem das Widerspiel des armen Lebens der Apostel ist und im Unterschied .von der alten Kirche jede Mittätigkeit der Gemeinden ausschließt. Aus diesen Elementen schuf die Agitation Gregors die gregoriani­ s c h e De m a g o g i e und verbündete sich mit ihr gegen die auto­ nome seigneurale Kirche, selber freilich dabei ganz andere Ziele ver­ folgend und die populäre Erregung nur für ihre Zwecke be­ nützend. In den lombardischen Städten und der sogenannten Patarie liegt das offenkundig zu Tage. Hier erhob sich in leiden­ schaftlichen Kämpfen das Laientum gegen den simonistischen und verheirateten Klerus, und in den endlosen Wirren, wo dieser Klerus, vom Papst gebannt, in seinen Funktionen verhindert wurde und in jeder Stadt Bischof und Gegenbischof, Priester und Gegen­ priester sich bekämpften und oft die geistlichen Funktionen ganz stillstanden, breitete sich dieses Laientum immer weiter aus. Die Ungültigkeit der Sakramente und Weihen simonistischer Priester,

Einfluß der gregorianischen Revolution und der dualistischen Sekten,

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die der Papst verhing und mit der er die Laien geradezu zur Kritik des Priestertums aufforderte, erneuerte die Lage des dona­ tistischen Streites. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Skepsis gegen die Personen zur Skepsis gegen das Amt, daß die Ueber­ ordnung des Laien über den simonistischen Priester zur Unab­ hängigkeit vom Priester überhaupt wurde. Und in dieser kriti­ _ schen Lage wurde dieses aufgeregte Laientum reif, die agitatori­ schen Einflüsse einer alten Sekte aufzunehmen, die zwar in ihrem Dogma nur halbchristlich war, aber in ihrer Organisation den Sektentypus des Laienchristentums und der Kritik nach biblischen und urchristlichen Maßstäben in sich trug. Es ist die gnostisch­ manichäische Sekte der Katharer, die vom Orient her auf Han­ delswegen und von den byzantinischen Enklaven Italiens sich ausbreitete und von da in die nordalpinen Gebiete vordrang 167). Je weniger ausreichend und intensiv die kirchliche und seelsorger­ liche Pflege der Gemeinden durch die feudale Kirche war, um so eher mußten sie geneigt sein, der feurigen Propaganda und der vorbildlichen praktischen Lebensstrenge dieser Sektenapostel Ohr und Aufmerksamkeit zu leihen. Dabei war ihr Dogma freilich nur bedingt christlich : ein manichäischer Dualismus in Verbin­ dung mit schroffster metaphysisch begründeter Askese und der Seelenwanderungslehre, gestützt auf eine doketisch verstandene Christologie und auf das allegorisch gedeutete Neue Testament. Aber dieses Dogma ist auch im Einfluß nicht entscheidend, wohl auch vielfach verhüllt gewesen ; es wirkte nur zur Anregung der Kritik gegenüber den kirchlichen, namentlich den hierarchi­ schen und sakramentalen Dogmen, zum Rückzug auf die Bibel und zur Belebung des Geistes einer freien Laienargumentation. Das Entscheidende sind die soziologischen Züge der Sekte : das Laienchristentum und der Apostolat der vollkommenen, armen und enthaltsamen Asketen, die im Gegensatz gegen die unwirk­ samen kirchlichen Sakramente im » Consolamentum « eine wirk­ same Beichte und Absolution vollziehen. Ist hierin ein schwaches Element der Anstaltskirche enthalten - die Wirksamkeit des Consolamentum beruht nicht auf Weihe und Ordination an sich, sondern auf der Vollkommenheit der Spender - so traten doch diese Perfecti in der Propaganda zurück und blieben die Ge­ heimlehren oft unbekannt. Das Wirksame war die freie Laien187) Vgl. hierzu Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des M.A. 1890 und Tocco, L'eresia nel ME. 1884. T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften.

I.

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Il. Mittelalter!. Katholizismus.

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predigt und Kritik, die intime Gemeinschaft der Verstreuten, das praktische Vorbild der Armut, die Unbekümmertheit um Staat und herrschende Schichten, die Verwerfung der offiziellen Kirche und ihres Priestertums, die Verwerfung von Eid, Recht, Gewalt und Kirche, die Beseitigung der Abgaben und Zehnten, das selb­ ständige Bibelstudium und die Kritik nach dem Maßstab der Ur­ kirche. Ueber Ober- und Mittelitalien, Frankreich, Flandern, Holland und Rheinland erstrecken sich bereits gegen Ende des I 1. Jahrhunderts derartige Gruppen, in denen katharische Ein­ flüsse wahrscheinlich sind. Aus ihnen gehen charakteristische Führer hervor: Peter von Bruys, Heinrich von Toulouse, der Vlame Tamchelm, Eudo von Stella. An sie haben sich dann die Sektenbezeichnungen gehalten. Insbesondere ist Arnold von Brescia der deutliche Uebergang vom gregorianischen Partei­ gänger und mystischen Dualisten zu einer Fülle von davon aus­ gehenden häretischen Gruppen. Der weitere Fortgang der Häresie hängt mit dem Emporsteigen n e u e r Kl a s s en u n d S c h i c h t e n , der Entfesselung der Ak­ tivität in den Unterschichten und den Städten zusammen. Daher ist auch zunächst ihr Boden in Südfrankreich, der Lombardei und Italien, wo die Städtebildung mächtig einsetzt. Italien erlebt so seine große Periode religiösen und philosophischen Aufschwungs, die eingekeilt ist zwischen die Perioden religiöser Lauheit. In ihr spielen, dann vom allgemeinen Interesse belebt, kirchliche und sektenhafte Motive gegeneinander und erheben sich in diesen Gegen­ sätzen Waldenser und Franziskaner, Bonaventura und Dante 16 7a). Erst jetzt geht die christliche Bewegung von den Höhen der Ari­ stokratie, der Grundherrschaft, der Könige und Herren herunter auf den Grund des Volkes und wird der in den Städten zusammen­ strömende Ueberschuß der ländlichen Bevölkerung aktiviert zu 187a) S. Voßler, Die göttliche Komödie II 28 ff. Aus Voßlers gerade in diesem Bande besonders origineller Darstellung bekommt man einen lebhaften Eindruck von der außerordentlichen Verschiedenheit in der Stellung der Hauptvölker zu dem geistlichen Lebenssystem des Mittelalters. Die seigneural- landeskirchliche Ent­ wickelung ist hauptsächlich getragen von dem deutschen König- und Kaisertum, daneben von England: hierzu s. Hauck u. Böhmer. Das große klassische System des Hochmittelalters ist französischen Ursprungs und daher die enge Verbindung Frankreichs und des mittelalterlichen Gedankens. Provence und Italien sind ab­ gesehen von den Kleriker-Kreisen seit dem Zeitalter Gregors d. G. einer zunehmen­ den religiösen Indifferenz verfallen und pflegen in erstaunlichem Maße antik-huma­ nistische Reminiszenzen. Erst mit dem zwölften Jahrhundert setzt zugleich mit

Zusammenhang mit der sozialen Entwickelung Italiens.

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eigener Teilnahme an religiösen und kirchlichen Dingen. Wie die offizielle soziale Theorie der Kirche die berufsmäßig geglie­ derte Gesellschaft im eigentlichen Sinne erst dem Ideal der Stadt entnimmt, so wurzeln hier andrerseits auch die häretischen Bewe­ gungen und verstärken sich hier die Bedürfnisse nach einer reli­ giösen Betätigung der Laien, die in den Mönchsreformen und Ordensstiftungen des II. und 12. Jahrhunderts - vor den Bettel­ orden fast durchgängig dem Lande und der Aristokratie ange­ hörig - nicht befriedigt worden waren. Die von verschiedenen Interessen her neu entfaltete Aktivität strömt bei der allbeherr­ schenden Macht religiöser Gedanken auch in die religiösen Inter­ essen ein, es bildet sich eine lebendige religiöse Anteilnahme der Laien, und man sucht unter dem mehr oder minder losen Ein­ fluß der bereits geschilderten Gruppen selbständig die Orien­ tierung an dem alten Christentum und der Bibel. Auch die Kreuz­ züge verstärken teils das Bedürfnis einer solchen Berührung mit dem Urchristentum, teils gehen sie neben anderen Motiven auch aus diesem hervor. Die Bibel und das Neue Testament erlangen eine im Verhältnis zu der bloß handschriftlichen Ueberlieferung erstaunliche Verbreitung und werden in die Volkssprache über­ setzt. »Eine neue ideale Welt nimmt genauere Umrisse an und erleuchtet sich. Und alles, was man wußte oder ahnte und sich einbildete über das Leben der Urkirche, faßte sich in ein Bild von lebhaftesten Farben zusammen : evangelische Armut und apostolisches Leben, Gemeinschaft der Gläubigen und lebendige Anteilnahme an der Kirche; das Priestertum der Gemeinschaft als solcher eignend, gleichsam eine Emanation aus ihr; die Laien alle berechtigt, die Gnadenmittel mit zu verwalten und frei zu predigen; der Klerus zufrieden mit freiwilligen Gaben, nicht be­ waffnet mit weltlichen Waffen und kein Pfleger der Zwietracht zwischen den Christen. Und wie es eine jugendliche Welt ist von absoluten Ideen und Gefühlen, so liebten viele plötzlichen und heftigen Ausdruck dafür. Sie fühlten sich ergriffen von einer unüberwindlichen Leidenschaft, sich in allen Stücken jener Lehre der Entwickelung des Städtewesens die große religiöse Epoche Italiens ein bis zum 15. Jahrh. dauernd. In dieser Epoche aber bildet sich aus diesen Verhältnissen heraus der Unterschied des Kirchen- und Sektentypus aus und sind es gerade diese Gegensätze, die ihm die große Lebendigkeit und Bedeutung verleihen. Der Zu­ sammenhang der nordischen Sektenbewegung mit der südlichen ist unzweifelhaft, aber noch nicht genügend festgestellt.

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und jenem Leben der Urkirche anzupassen; sie hielten es für eine strenge Pflicht jedes Christen, zu leben wie die Apostel, d. h. zu predigen durch die Welt hindurch, die Massen zu erbauen durch das praktische Beispiel. Sie glaubten schließlich wie alle Träumer, Primitiven, des praktischen und des historischen Sinnes Entbehrenden an die Möglichkeit, die christliche Gesellschaft von innen heraus zu reformieren, sie zu bilden nach dem eigenen Ideal und nach der Spur der Schrift« 168). In die Bahn der e i g e n t l i c h e n S e k t e n b i 1 d u n g wurden diese Erregungen aber erst gedrängt durch die Kirche selbst, die sich, sobald ihr Ziel leidlich erreicht war und die Gefahren jener Allianz sich zeigten, nachdrücklich von den erst begün­ stigten demokratischen und kirchlich - oppositionellen Richtungen schied. Ihr Absolutismus war ja in Wahrheit das reine Gegen­ teil davon. So bildete sie nun ihr furchtbares Ketzerrecht aus und drängte alle Opposition in die Sekte. Vor allem wurde jedes selbständige Laienchristentum verhindert und das ihm offen ge­ lassene Ventil der alten kanonischen Bischofswahl geschlossen ; es wurde insbesondere das gegen die simonistischen Priester den Laien gegebene Recht der Prüfung zurückgezogen und lediglich dem Papst und den Legaten vorbehalten. Wie der Einfluß der Fürsten und der Seigneurie wurde nun auch der des Volkes aus der Kirche ausgeschieden. Die Sakramente wurden wieder völlig unabhängig von der sittlichen Beschaffenheit der Priester. Auch von der Verwaltung des Kirchengutes wurden die Laien aus­ geschlossen. Das Priestertum wurde gegen das Laientum aufs schärfste abgegrenzt in Kleidung, Kultsprache und Lebenshaltung. Es war nunmehr allein berechtigt zur Predigt und jede Mitwirkung der Laien beim Kult ausgeschlossen. Die Theologie setzte sich tech­ nisch-scholastisch aller populären Literatur entgegen, und das Recht wurde eine hochgelehrte Sache der Juristen. Die dem neuen zen­ tralisierten Kirchentum nötige Finanzwirtschaft betonte und ver­ stärkte wieder die kirchlichen Abgaben und verzehrte das Armen­ gut genau wie die frühere seigneurale Kirche. Der verhaßte Zehnte, den man simonistischen Priestern nicht liefern durfte, mußte der neuen gregorianischen Kirche erst recht gezollt werden. Die abso­ lutistische Kirche mußte, wie sie das ja auch war, gegenüber der alten feudalen Kirche und gegenüber der patristischen Kirche der konziliaren Legislatur als etwas Neues erscheinen. Die Nötigung zur 188) Volpe, Juni, S. 668 f.

Waldenser und Franziskaner.

Erreichung ihrer Ziele, den ganzen juristischen und politischen Ap­ parat einer in alle Rechts- und Eigentumsverhältnisse eingreifen­ den Verwaltung und Politik zu entfalten, machte auf alle mystisch und innerlich gerichteten Gemüter den Eindruck der harten Aeußer­ lichkeit und Weltlichkeit. Dazu kam schließlich und vor allem, daß in dem Punkte der Herstellung der Moralität des Klerus die gregorianische Reform zweifellos gescheitert war. Ein strenges Urteil war durch ihre Ansprüche bei den Laien erweckt, aber diesem Urteil stand nun ein Klerus gegenüber, der in Wahrheit nicht viel anders war als der frühere oder den die immer erneuten Klagen wohl auch geradezu schlechter zeigten, als den früheren. Und gerade hiefür wurde nun das absolute Papsttum, das sich theoretisch als die Quelle und Organisation von allem darstellte, auch praktisch verantwortlich gemacht, und damit ergab sich eine endlose Kritik des neuen Systems. In diesem Gegensatze der neubelebten biblischen und aske­ tischen Frömmigkeit, die selbst zur Herbeiführung der hochmittel­ alterlichen Kirche mitgewirkt hatte , gegen das Ergebnis dieser Reform wurzelten die zunehmenden radikalen Bewegungen der Laienreligion, und die Ausschließlichkeit der Kirche gegen sie drängte sie zur Sektenbildung. So entstand vor allem die bedeu­ dendste und einflußreichste Sekte, die Wa l d e n s e r. Es war zunächst eine Bewegung der inneren Mission, der Volkspredigt, getragen von Missionaren in der Art der Apostel, die in der Volkssprache predigten, das arme Leben führten, auch zu den Kleinsten und Aermsten gingen und in allem die Missionsregeln der Aussen­ dungsrede Jesu Matth. IO befolgten. Auf das kirchliche Verbot hin wurden sie zur Sekte, in der die religiöse Gleichheit aller Gläubigen, der Frauen und Männer zu Grunde lag und in der wie bei den Katharern das Bußsakrament von den frommen Asketen verwaltet wurde , die in Armut, Ehelosigkeit und heimlicher Seelsorge­ tätigkeit überall umherzogen. Sie verwarfen das Fegfeuer und die Einwirkung auf das Fegfeuer, die Ablässe und die Heiligen­ anrufung, das Schwören und Vergießen von Menschenblut, die Todesstrafe und den Krieg, stellten jeden auf seine eigenen per­ sönlichen Leistungen und guten Werke, d. h. auf seine religiöse Subjektivität. Sie spalteten sich bald in die französische Stamm­ genossenschaft und die radikalere, Sakrament und Priestertum, den kultischen Pomp und das Kirchenrecht überhaupt ver­ werfende lombardische Genossenschaft , die an ältere Reste lo-

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

kaler Häresien anknüpfte. Die Ausbreitung beider Gruppen schritt rasch vorwärts; die französischen Armen beschränkten sich we­ sentlich auf Südfrankreich , die lombardischen drangen bis jen­ seits der Alpen vor 169). In ihren Ausläufern mischten sie sich dann mit fremdartigen Elementen, vor allem dem ihnen ursprüng­ lich ganz fremden mystischen Enthusiasmus , der ohne kirch­ liche und priesterliche Vermittelung im mystischen Aufschwung die Christlichkeit verwirkliche, oder mit den oppositionellen ek­ statischen Bewegungen, die gleichfalls Ausbrüche einer kirchen­ feindlichen Laienreligion waren. Die Ortlibarier, Joachimiten und Brüder vom freien Geiste floßen hier mit ihnen zusammen, und bis in die Vorstufen des Hussitismus lassen sich diese Wirkungen einer der Unterschicht angehörenden Bewegung verfolgen 17 °}. Nahe verwandt ist der waldensischen Bewegung die ursprüngliche f r a n z i s k a n i s c h e; der heilige Franz selbst war vermutlich nicht frei von direkten waldensischen Einflüssen. Den Armen von Lyon und den lombardischen Armen entsprechen die Poverelli des Heiligen von Assisi. Auch die franziskanische Bewegung gehörte ursprünglich dem Sektentypus der Laienreligion an. Hier aber begriff die Kirche die Lage und gliederte die neue Bewegung ihrem System ein, machte aus ihr einen neuen, von ihr beauf­ sichtigten Orden und bediente sich seiner gerade zur Wiederge­ winnung der gefährdeten städtischen Elemente. Aber auch so blieb der Orden mit seinen Laien-Affiliirten vielfach ein Anreger der Laienreligion und der kirchlich indifferenten Mystik, und in seinen späteren Kämpfen erhob sich in den Spiritualen der schroffe Gegensatz gegen die Verkirchlichung des Ordens. Sie predigten das Ideal der Urkirche vor Konstantin und Silvester, der armen Kirche und des apostelgleichen Lebens mit dem Dienst für die Armen, steigerten sich immer mehr im Hasse gegen die Hier­ archie und mündeten in verschiedenartige Häresien und Sekten aus. »Immer sind es ein neues Volk und Bewegungen von de­ mokratischem Charakter in der Richtung auf Ziele, die zugleich religiös und sozial sind, jenes ausdrücklich und bewußt, dieses 189) Volpe hebt mehrfach hervor, daß sie besonders in den Kreisen der Weber und der Wollindustrie sich ausbreitete, d, h. in den Kreisen der umfassendsten und am meisten-zur Hausindustrie gewordenen handwerklichen Produktion, in der soziale Reformideen am meisten oder allein zu Hause sind, vgl. auch Kautsky, Gesch. d. Sozialismus, S. 103. 176) Volpe S. 27, 24, 37, Oktober, S. 296 f.

Einschlag der joachimitischen Eschatologie.

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unsicher und verhüllt aus Mangel an sozialer Erfahrung und weil damals in gewissen Klassen auch jedes materielle Bedürfnis seine Befriedigung in einer religiösen Umformung suchte« 171). Das von den heftigsten Kämpfen zwischen Kurie und Kaiser­ tum, Städten und Adeligen, Klerus und Laien durchtobte Italien mit seiner früh einsetzenden städtischen Entwicklung ist der Ur­ sprungsboden der meisten dieser Bewegungen. Seine Verhält­ nisse brachten es aber dann weiter mit sich, daß bald auch der A d e 1 und die L a n d b e v ö 1 k e r u n g freiwillig und unfrei­ willig in die häretischen Bewegungen hineingezogen wurden und diese dadurch wieder verstärkt wurden. Die Kirche nach dem göttlichen Gesetz des Evangeliums und dem Ideal der Urkirche reformiert, bald mehr nur als entweltlichte Priesterkirche, bald mehr als Laiengemeinschaft , wurde das Schlagwort , und mit ihm verbanden sich die häretisch-mystischen Einflüsse und die apokalyptischen Prophetien. In seiner Klostereinsamkeit verfaßte der aus dem Orient zurückgekehrte Abt Jo a c h i m seine Weis­ sagungen, in denen er das dritte Zeitalter verkündete, nicht mehr ein Zeitalter der Furcht und Knechtschaft, der Arbeit und Disziplin, sondern ein Zeitalter des Geistes und der Freiheit, des Friedens und der Gewaltlosigkeit, der Demütigen und Armen, ohne Klassen und soziale Unterschiede, ohne mein und dein; hier traten die Züge des göttlichen Gesetzes und Naturrechtes im Sinne der absoluten, durch keinen Kompromiß gedämpften stoisch- christ­ lichen Soziallehre hervor. In der Unruhe der krisenreichen Zeit aufgegriffen , wurden diese Prophetien zu einem weiteren wichtigen Ferment der Sektenbewegung. Es kamen die Flagel­ lanten, die Soccati, die apostolischen Brüder, die häretischen Spiri­ tualen, Fra Dolcino und Gerhard Segalleli. »Es sind keine Or­ den mehr, man haßt die Orden und will keine Häupter; man will die Freiheit und Gleichheit der Urzeitc 172). » Vereinfachung des Lebens und der religiösen Organisation, Leidenschaft für die Urkirche und wörtliches Verständnis der h. Schrift, genaue Be­ folgung des Wortes und der Lehren Christi, vollständige und gleichsam mechanische Wiederholung des apostolischen Lebens: das ist der gemeinsame Untergrund, auf dem sich die verschie­ denen Sekten erheben mit Unterschieden, die außerordentlich groß sein können« 173). Das ist die große südeuropäische Sektenbewegung mit ihren 171) Volpe, Juli, S. 26.

172) Volpe S. 72.

173) Volpe S. 73 f.

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Ausstrahlungen. Ihr Grundelement ist der am Neuen Testament be­ lebte und im Gegensatz gegen die materialisierte Anstaltskirche hervorbrechende urchristliche Individualismus und der Zusammen­ schluß der Individuen in der praktischen Lebensleistung der gu­ ten Werke mit starker Indifferenz und Feindschaft gegen die Welt und ihre Macht- und Besitzordnungen. Es ist die für die Sekte typische Verbindung des religiösen Individualismus und des sittlichen Rigorismus , welcher letztere sich an Bergpredigt und absolutes Naturrecht hält, wie das ja auch der ganzen radikal­ christlichen Tradition seit der Urgemeinde und den Mönchsorden entspricht. Das Gemeinschaftsband ist dabei lediglich das wört­ lich verstandene »Gesetz Jesu« und die gleichfalls auf diesem Gesetz beruhende Einrichtung der armen und nur für die Gemeinde lebenden Missionare und Apostel; die letzteren sind oft auch Priester und stehen dann in der Sukzession, aber ihre Berechtigung und Wirkung ist auch dann erst von der persönlichen sittlichen Reinheit und Strenge abhängig. Die paulinische Lehre verschwindet hinter dem Gesetz Jesu fast ganz. Dabei ist das Gesetz Jesu zugleich das Gesetz der Natur in seinem strengen vollen Verstand und als solches meist im Sinne eines weitgehenden Liebeskommunismus und entsprechender Liebestätigkeit gedacht, -nur gelegentlich in die demokratischen Gedanken der Freiheit und Gleichheit hinüber­ spielend. Als ein zweites ganz andersartiges Element macht sich dann neben diesen Hauptströmungen die mystische Religiosität geltend, die neuplatonisch und averroistisch beinflußt einen Ge­ meinschaftstrieb nur hat, sofern sie mit waldensischen und franzis­ kanischen Ideen sich berührt. Und schließlich spielt in dem Ganzen die apokalyptische Prophetie mit, in der die zunächst auf kleine Kreise beschränkte Sektenbewegung den christlichen Uni­ versalismus festhält als ein in der neuen Weltzeit von Gott zu be­ wirkendes Wunder, womit dann oft Mystik, Freiheit und Gleich­ heit als die Ideale jener neuen Weltzeit sich verbinden. In den Wirren des Trecento zieht diese Sektenbewegung den Ghibellinis­ mus in ihre Netze, wird in die politischen Verhältnisse verwickelt, verliert ihre ursprüngliche Orientierung uud stirbt schließlich in allerhand Wirren und Extravaganzen ab, nur einen leicht entzünd­ baren Rest apokalyptischer Ideen zurücklassend. Humanismus und Renaissance, weltliche Politik und der volle Sieg der Kurie machen ihr ein Ende, und in Italien und Südeuropa hat die kirchliche Anstalt von einem Sektenchristentum seitdem nichts

Wiklifie.

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mehr zu fürchten. Es ist einer der Gründe, weshalb es dort zu keiner der deutschen Reformation analogen Bewegung kommen konnte 174). Darauf folgt nun aber im 14. und I 5. Jahrhundert im Norden eine nicht minder durchgreifende Sektenbewegung, die Wiklifie und der Hussitismus 175). Sie haben im Unterschiede von dem italienischen Sektentum sich dauernd behauptet und haben mit verwandten allgemeinen Bewegungen dann den Boden des Prote­ stantismus in mancher Hinsicht bereiten helfen. Grundlegend ist dabei die Wi k l i f i e. Auch für sie war der Ausgangspunkt der Gegensatz gegen den päpstlichen Absolutismus und seine Einwirkungen auf die politischen und ökonomischen Verhältnisse des Landes wie der Gemeinden. Wie überall seit dem 14. Jahrhundert die Staatsge­ walten gegen diese kirchliche Einmischung sich wehrten, so trat auch das englische Königtum in eine Säkularisationspolitik großen Stiles ein. Hierin stellte sich Wiklif auf seine Seite. Es ist also in diesem Falle nicht die Reaktion der Unterschichten, sondern das nationale Gefühl und die politische Verselbständigung das erste Motiv. Aber was Wiklif hier geltend machte, war das alte Oppositions-Ideal der armen Kirche, der Kirche vor Sylvester und Konstantin, wie sie noch dem Gesetz Gottes und des Evan­ geliums entsprochen hatte. Nur eine solche Kirche stimmt zu dem religiösen Ideal und verträgt sich zugleich mit der Selb­ ständigkeit der bürgerlichen Ordnung. Beide Interessen, das Ideal der armen Kirche und der Selb­ ständigkeit der weltlichen Gewalt, verband nun aber Wiklif in einer meines Wissens ihm eigentümlichen , sehr folgereichen Theorie vom göttlichen Recht. Es ist eine originelle Fassung des patristischen naturrechtlich-biblisch-gesetzlichen Gedankenkreises, in welchem von jeher mit dem Ideal der armen Kirche das ab­ solute durch keine Kompromisse abgestumpfte Gottes- und Na­ turgesetz verbunden war. In der neuen kunstvollen Umbildung dieses alten Gedankens äußert sich der gelehrte Theologe, während 174) Ueber diese Frage Volpe, Oktober, 296 f, 175) Hierzu vgl. Lechler >J, v, Wiklif« (der erste Band Wiklif, der zweite Huß und die anderen Vorreformatoren behandelnd); Buddensieg, J, Wiklif und seine Zeit 1885; über das Verhältnis von Wiklif und Huß s. Loserth, Huß und Wiklif, Zur Genesis der Hussitischen Lehre, 1884. Zum Kirchenbegriff bes. Gottschick, Huß', Luthers und Zwinglis Lehre von der Kirche, Z. f. Kirch,-G\lsch., 1886.

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die waldensische und franziskanische Laienreligion nur einfach an die Bibel sich anschloß 176). Das göttliche Gesetz des Evan­ geliums nämlich, das auch ihm mit dem Naturrecht identisch ist, bestimmt nach seiner Theorie, daß aller Besitz und alle Gewalt von Gott stammt und nur demjenigen zu Recht zukommt, der Gottes Moralgesetz der Liebe, Demut und Selbstbeschränkung einhält; es 176) Hier teilt Wiklif die üblichen scholastischen Lehren vom Naturrecht und Gottesrecht, s. Lechler I 467 u. bes. die Stelle aus de civili dominio: »de quanto aliqua lex ducit propinquius ad conformitatem 1 e g i s n a t u r a e , est ista perfec­ tior. Sed lex Christi patiendi injurias propinquius ducit a d s t a t u m n a t u r a e quam civilis. Ergo ista cum suis regulis est lege civili p e r f e c t i o r«; das ist der alte Unterschied von absolutem und relativem Naturrecht, wobei das erstere dem Urstand angehört. Wenn Lechler meint, die spätere Stelle aus De veritate scrip­ turae >in tantum quod si !ex aliqua dicit caritatem aut virtutem aliquam, ipsa adeo est lex Christi« besage ein Zurückstellen des Naturgesetzes hinter das christliche Gesetz, so übersieht er die grundlegende Identität des absoluten Naturgesetzes und des christlichen Gottesgesetzes. Wiklif macht damit nur das absolute Natur­ gest:tz gegen das relative oder zivile Gesetz geltend. Schon die ganze Bezeich­ nung der Bibel und des Christentums als >Gottesgesetz«, die bei Wiklif alles be­ herrscht, zeigt die Orientierung des ganzen Gedankenganges an den Begriffen des Gesetzes Gottes und der Natur, Lechler I 473. Auch die ganze Geltendmachung der Bibel als alleiniger Autorität und Quelle für das Gottesgesetz ist die Geltend­ machung des absoluten und reinen Gesetzes gegen das relative Naturrecht der geltenden Gesellschaftsordnung und die Kompromisse der Kirche. Erst nach und nach folgt aus dieser Aufstellung der Bibel als alleiniger Autorität auch die dogmatische Kritik an rein theologischen Lehren; das ist ein wichtiger Unterschied von Luthers Lehre; s. de civ. dominio: Pure per observantiam l e g i s C h r i s t i sine commixtione traditionis hu­ manae crevit ecclesia celerrime, et post commixtionem fuit continue diminuta. Lechler I 474. Aehnlich: Lex humana est mixta multa nequitia, '!1,t palet de regulis civili­ bus, ex quibus pullulant multa mala ; lex autem evangelica est immaculata. Lechler I 475. So ist die Bibel die ,carta a Deo scripta et nobis donata, per quam vindi­ cabismus regnum Dei«, 476. Es ist das absolute christliche Naturrecht: die Geist­ lichen sollen »uti pro suo regimine lege evangelica i m p e r m i x t e« oder >Utilius et undique expeditius foret sibi (ecclesiae) regulari pure lege scripturae, quam quod traditiones humanae sunt sie commixtae cum veritatibus evangelicis ut sunt modo« 477. Daher ,Lex Christi est medulla legum ecclesiae«. »Omnis lex utilis sanctae matri ecclesiae dicitur explicite et implicite in scriptura«. Das aber ist dann auch das Naturgesetz des gesellschaftlichen Gesamtlebens: >Totum corpus juris humani debet inniti legi evangelicae tanquam regulae essentialiter divinae«. Die ganze Gesellschaft soll und kann nach dem Gesetz Christi reformiert werden und zwar ausschließlich von ihm aus, Doch kann das erst auf die Reform der Kirche folgen, s. c. 44 ,v, Buch I, De dominio civili. Der offizielie Theologe ist für Wi-

Wiklifie.

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ist ein Lehen, das nur solange dem Belehnten zusteht, als er das Gesetz seines Herrn hält. Da nun aber die Kirche dieses Gesetz nicht hält, kommt es dem Staate zu, ihr das unrechte Gut wieder abzunehmen und das Ideal der armen, nur ihren geistlichen Zwecken lebenden Kirche wiederherzustellen. Das Besitzrecht der weltlichen Stände tastet Wiklif hierbei nicht an, da bei ihnen eine solclie Verleugnung von Gottes Gesetz wie im priesterlichen Stande nicht vorliegt. Ihr Besitz hängt mit ihren weltlichen Funk­ tionen rechtmäßig zusammen, während die Funktionen der Kirche keinen irdischen Besitz fordern, ihn vielmehr ausschließen. Diese offenkundig am Lehensbegriff orientierte Fassung der Lex Dei oder Lex Christi oder Lex naturae hat eben zunächst nur die Absicht das Ideal der armen Kirche wieder herzustellen, und der hierin an sich enthaltene soziale Radikalismus bleibt gegen­ über den weltlichen Ordnungen ohne Anwendung 177). Immerklif Doctor traditionis humanae et mixtim theologus, Lechler I 477, worin er un­ zweifelhaft Recht hat. Lex autem christiana debet esse s o I u m !ex Domini et im­ maculate convertens animas (zu der biblischen Lebensstrenge und Liebe) et per con­ sequens recusari debet a cunctis fidelibus propter commixtionem cujuscumque attomi Antichristi, Lechler I 478, Wenn Lechler hierin das reformatorische Schriftprinzip erkennt, so ist das nur bei der Ignorierung des mittelalterlichen naturrechtlich-sozio­ logischen Ideenkreises möglich, noch weniger denkt Buddensieg an ihn, Und doch ist dies der eigentliche Schlüssel zum Verständnis ! Für die von der paulinischen Gnadenreligion ausgehende Lehre der Reformatoren ist die Schrift Gnadenbotschaft und das Gegenteil einer Lex Christi. Ebendeshalb haben die Reformatoren auch gar keinen Sinn für eine gesetzliche Fassung des urchristlichen Radikalismus und die Reform der weltlichen Ordnungen nach ihm. Das ist ihr fundamentaler Unter­ schied von der Wiklifie, mit dem dann auch die Beibehaltung des Kirchentypus zusammenfällt. 177) Die Frage, weshalb Wiklif die radikalen Konsequenzen dieser Idee nicht zieht, ist sehr wichtig für seine Lehre. Seeberg bemerkt nur: ,Es ist natürlich (?) nicht die Meinung, daß die Gerechten sofort den ungerecht von anderen ergriffenen Besitz an sich bringen sollten. Vielmehr sind die positiven Pflichten des Lebens (!) in dem evangelischen Gesetz enthalten«, S. 168. Stellen, die diesen dunklen Satz erklären, sind nicht angegeben. Die Grundschrift De civili dominio (jetzt publi­ ziert in 4 Bänden von Poole, 1885 ff,) gibt deutlichen Aufschluß. Hier wird zu. nächst das jus divinum oder evangelicum als das einzige absolute Recht statuiert, das dem Gerechten und Prädestinierten den Besitz an Gütern und Macht als Gottes­ gabe sichert, aber ihn zugleich zu einem Gebrauch dieses Besitzes im Liebesdienst des Ganzen, also zum Liebeskommunismus, verpflichtet. Nur in diesem Sinne ist Wiklifs Kernsatz omnia bona communia für Urstand und Erlösungsstand zu ver­ stehen; in der Geistigkeit der Liebe und dem Besitz des höchsten mystischen

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hin ist es aber bedeutsam, daß hier mit der strengen Fassung der Lex Dei et Naturae die radikalen sozialen Konsequenzen gegen alle gegebene Ordnung hervortreten, auch wenn sie zunächst bloß gegen den kirchlichen Besitz praktisch gewendet werden ; weiterGutes ist aller Sonderbesitz allen gemeinsam trotz aller durch die prädestinierende Gnade bewirkten Differenz des tatsächlichen Besitzes : dominium epim naturale propter sui spiritualitatem aliud non excludit I 126. Es ist überhaupt nicht im stoisch-rationalistisch-individualistischen Sinne verstanden, sondern in dem Sinne eines alle Berufe und Aemter, allen Besitz und alle Macht im Dienst des radikalen Liebeskommunismus für die christliche Gesellschaft verwendenden Gemeingeistes ; im übrigen aber bleibt die ständisch gegliederte Gesellschaft der vulgares, saecu­ lares domini und sacerdotes, Mit der Prädestination ist grundlegend die Differenz der Berufe, ministeria et officia , behauptet (Lechler I 531), nur sind sie in den Dienst der Liebe bedingungslos gestellt und gilt diese Forderung nicht bloß einem besonderen Stande , dem Mönchtum (Lechler I 582 f.), sondern allen Christen insgemein ; von ihnen allen gilt das Franziskanerideal : p u r e n a t u r a I i t e r v e l e v a n g e l i c e d o m i n a n t e s perfectissime dicunt atque verissime cum Scriptura, quod omnia bona mundi sunt singulorum nostri ordinis et tarnen nihil habemus civiliter in proprio et sie intelligit locutiones venera­ bilis ordinis fratrum minorum , qui sunt quasi nihil habentes secundum civilem solicitudinem et tarnen omnia possidentes, I 129. So werden die Unterschiede als Gnadengaben behauptet und ·doch in der Liebe ausgelöscht , sogar auch die Unterschiede von Herr und Sklave. Quilibet christianus debet reciproce al­ teri ministrare, ergo et esse reciproce servus et dominus; I 75 und es ist regula indispensabilis christianae religionis, qua scimus quemcunque christianum, inquantum est donis Dei fertilior, in tantum debet esse aliis membris Christi servitute sub­ jectior et per consequens magis servus I 77, Das gilt - abgesehen von der erst durch Sünde entstandenen Sklaverei - bereits vom Urstand und auch vom Er­ lösungsstand: Jus divinum est jus a solo deo i n s t i t u t u m , per Christum verbo et opere e x p l a n a t u m ut lex evangelica I 125, und dieses jus divinum creatum est jus divinitus inspiratum; jus humanum (in jus canonicum und jus civile bestehend) est occasione peccati adinventum. Die Sache liegt an sich wie bei Thomas, Dieses menschliche Gesetz wird nun aber hier sehr viel geringer gewertet als in der thomistischen Soziallehre, es ist in Wahrheit das aus der christlichen Gesell­ schaft zu beseitigende Uebel, besonders auf dem Gebiete des künstlich erfundenen kanonischen Rechts, aber auch auf dem des bürgerlichen Rechts, wo ihm nur eine sehr beschränkte Geltung zugeschrieben wird : Ex istis incidenter patet divisio inter dominium n a t u r a I e v e l e v a n g e l i c u m et civile. Dominium quidem naturale est dominium divinitus institutum in primo titulo justitiae fundatum, quot­ libet divites ex aequo compatiens, sed alienationem dominantis servata justitia non permittens. Dominium autem civile est dominium occasione peccati hominibus institutum, incommunicabile singulis et ex aequo multis dominis, sed abdicabile ser­ vata justitia S. 126 f., das heißt: das göttliche Recht bestimmt dem Gerechten und

Wiklifie.

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gehende Folgerungen sind unausbleiblich. Andrerseits aber wirkt dann aber auch die Messung der Kirche an der Lex Christi allmählich zu einer immer stärkeren Annäherung an den Sektentypus, worin Wiklif sich schließlich den Waldensern und den Grundideen der franziskanischen Bewegung nähert. Seit dem Ausbruch des Schismas nämlich ging Wiklif immer mehr von seinem ursprünglichen, bloß patriotischen und kirchlichen Ideal zu einer Kritik des Kirchenbegriffes selbst und zu entsprechenden praktischen Versuchen über, die er gleichfalls aus dem Gesetz Gottes Prädestinierten ein ohne Verletzung der Gerechtigkeit ihm nicht abzunehmendes und nicht veräußerliches Eigentum, das er im Dienst der Liebe schlechthin ver­ wenden soll. Dagegen das menschliche Recht des Sündenstandes bestimmt ein zwangsmäßig gesichertes, nur wenigen eignendes und nicht für das Ganze be­ stimmtes Eigentum , das er eben wegen dieser Abwesenheit der Liebesfunktion für das Ganze in geordneten Formen des Kaufes etc. veräußern kann und das ihm genommen werden kann. Dieses menschliche Recht ist aber die Aufhebung oder Verleugnung der Liebe und nur insoferne berechtigt, als es der sündigen Unordnung und Raubsucht steuert, also einen Rest von Naturrecht in sich be­ wahrt : unde supposito lapsu et cecitate proclivi bonis sensibilibus praecipue inni­ tendi, necesse fuit leges et ordinationes humanas statuere, ne quilibet lapsus de bonis furtim caperet, quantumque voluntas indebite inclinaret I 128, Sequitur ergo, quod jus civile vel humanum, ut sapit justitiam, est jus ordinans idoneum ad custodiam temporalium pro utilitate rei publicae , ad refrenandum voluntates ipsam injuste dirrumpere et ad sagaciter ministrandum illa in necessitate temporum I 129. Es ist die alte Lehre vom relativen Naturrecht der gegebenen Ordnung als frenum et remedium peccati. Immerhin hält Wiklif sehr wenig von diesem Rec)it; der es bestimmende consensus populi ist ungerecht nisi praesupposita ratione, seil. quod persona dominans sit a Deo accepta ad illud officium; et per idem nulla principia juris civilis de successione hereditaria vel commutatione mutua terrenorum est justa nisi de quanto est legis naturae particula I 130. - All dies zeigt, daß der scho­ lastische Begriffsapparat der Lex naturae stark zu Gunsten des; absoluten Naturrechts verschoben ist; aber in diesem hat der Prädestinationsgedanke die Ungleichheiten so sehr befestigt, daß er konservativ wirken kann, solange ein Stand sein dominium als im wesentlichen gerecht und gottgemäß verwaltend betrachtet werden kann. Das nimmt Wiklif mit offenbarer englischer Selbstzufriedenheit von den weltlichen Ständen an, nur vom kirchlichen Stande leugnet er es, daher kehrt sich die revo­ lutionäre Konsequenz vorerst nur gegen diesen, Im Hintergrunde aber lauert eine Prüfung auch des weltlichen Standes nach dem Gottesgesetz und ein christliches Gesellschaftsideal nach der Lex evangelii; es wird nicht individualistisch - kommu­ nistisch sein, aber es wird ein Höchstmaß von freiwilligem Liebeskommunismus verlangen. Die revolutionären Konsequenzen und der radikale Gegensatz gegen die thomistische Sozialphilosophie liegen auf der Hand.

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ableitete. Die Kirche ist ihm nicht mehr die durch das Schisma gefährdete und von der Hierarchie ausgeplünderte Anstaltskirche, sondern die Zahl der Prädestinierten. Hier argumentiert der gelehrte Theologe, die Zierde Oxfords; aber damit tritt - soviel ich weiß zum ersten Male 177 a) - die später im Calvinismus so bedeutsame Wirkung des Prädestinationsbegriffs auf die soziologische Idee des Christentums mit voller Schärfe hervor 178). Von Wirkungen des Prädestinationsgedankens war bisher nur insofern die Rede ge­ wesen, als in ihm sich der Irrationalismus des christlichen Gottes­ gedankens verkörpert und von da aus der Individualismus sich in dem Sinne der wesenhaften Ungleichheit bestimmt. Nun aber tritt seine den Individualismus begünstigende Tendenz auch noch nach der anderen Seite hervor, wo er die Unmittelbarkeit des religiösen Verhältnisses bedeutet und den Begriff der kirchlichen Heils­ anstalt zu zerstören beginnt. Die Prädestination macht die re­ ligiöse Gemeinschaft aus der Wirkung eines seine Wunderkräfte unbegrenzt ausstrahlenden hierarchisch - anstaltlichen Einheits­ kernes zu einer begrenzten Summe von Gläubigen , die nur an die Schrift gebunden sind, als an das Mittel der Auswirkung der Prädestination und sich äußerlich nur an der praktisch-ethischen Betätigung der Prädestination erkennen. Auch die erstere Wir­ kung des Prädestinationsgedankens ist bei Wiklif deutlich erkenn­ bar und scheidet seine christliche Sozialreform von jedem egalitär­ demokratischen Gedanken. Aber noch stärker tritt die zweite Seite des Gedankens bei ihm hervor, da er mehr als an der So­ zialreform an deren Voraussetzung, der Kirchenreform, interessiert ist. Sein Hauptinteresse ist daher vor allem die Entwertung aller 17 7&) Doch verweist Bezold, Die Lehre von der Volkssouveränität im M.A. (bist. Zeitschrift 1876) auf Durandus v. Pourgain und Lull als Vorgänger 338 f.; bei diesen fehlt aber die Einführung des Prädestinationsbegriffs und die Begründung. 178) Das ist ein alter augustinischer Satz, auch vom h. Thomas geteilt. Aber für Thomas ist die Kirche als sakramental - hierarchische Heilsanstalt das Mittel, durch welches die Prädestination sich verwirklicht. Außerdem werden bei der Un­ erkennbarkeit des Heilsstandes und bei der äußeren Ununterscheidbarkeit, ob in einem die Potenz des Heils aktualisiert werden könne oder nicht, die Gesamtheit und mit ihr auch die Nichtprädestinierten unter den Zwangseinfluß der Sakramente gestellt; hier wird die Scheidung erst nach dem Tode stattfinden. Auf diese Weise verträgt sich die Prädestinationslehre mit dem Anstaltsbegriff. Erst wenn diese Begrenzung wegfällt, äußert die Prädestination ihre den Kirchenbegriff auflösende Wirkung. S. die treffenden Bemerkungen bei Gottschick, »Huß', Luthers und Zwinglis Lehre von der Kirche•, Z. f. Kirch.-Gesch., 1886, S. 352-356,

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anstaltlichen Elemente, die individuelle und persönliche Unmittel­ barkeit des Gottesverhältnisses, das von Gott und nicht von der Kirche hervorgebracht wird und über dessen Bestand Gott und nicht die Kirche entscheidet; zu gleicher Zeit die Betonung der praktischen Bewährung, da nur an ihr die Prädestination sichtbar wird und nur in ihr die letztere ihren Zweck hat 179 ). Dabei bewegt sich die praktische Bewährung selbst auf der Linie des biblischen Gottes­ gesetzes d. h. auf der Linie der Zurückhaltung von Welt und Besitz und der äußersten Lebensstrenge und einer in allen Aem­ tern und Berufen der christlichen Gesellschaft dienenden, alles durch die Liebe zum Gemeineigentum machenden Liebesgesinnung. Damit aber ist das Laientum in Wahrheit als der Träger der Gemein­ schaft proklamiert, und ihm wird daher auch von Wiklif zu selb­ ständigem Studium und zur selbständigen Kritik der Kirche das große Grundgesetz der Gemeinde, die Bibel, in der Landessprache in die Hand gegeben. Das Priestertum bleibt wohl bestehen, aber Wiklif verwandelt es in Missionare nach der Vorschrift von Matth. I o, die arm und mildtätig umherziehend das Gesetz Gottes verkünden sollten. Dieses Priestertum hat keinen Charakter indelebilis, und die Weihe kann schließlich auch fehlen; es hat keine Hierarchie und keine organisch- patriarchalische Abstufung, vor allem kein päpstliches Haupt. Der Herr der Kirche d. h. der Prädestinierten ist allein Christus. Damit aber ist der Grundpfeiler der Anstalts­ kirche zerbrochen und durch nichts anderes ersetzt. Freilich ist von keiner selbständigen Neuorganisation der Kirche, sondern nur von einer Reformation , von keiner Nebeneinanderstellung des Staates und der Kirche, sondern von einer Staat und Gesell­ schaft einschließenden Reform der Gesamtchristenheit die Rede. Aber die Christenheit selbst schwebt ihm dabei doch nicht als eine objektive Anstaltskirche vor, sondern als eine im praktischen 179) Vgl. Lechler I 534: Gegen die Gefahr der Verzweiflung am eigenen Gnaden­ stande : > Vivat ergo homo, quam plene sufficit, conformiter legi Dei et habeat perseverantem voluntatem in lege illa standi in vita, defensione et publicatione; et tollitur occasio desperandi. 435 : Quilibet debet examinare vitam propriam, quousque non fuerit sibi conscius de mortali peccato. Istam ergo examinationem tractare diligentissime est necessarium cuilibet viatori, cum quilibet, sicut debet habere spem suae salvationis, ita debet credere absque formidine, quod sit in gratia gratificante. S. 533 Non enim supponeret, quod sint tales (d. h. erwiihlte Mitglieder der wahren Kirche) nisi e v i d e n t i a c a p t a e x o p e r e , quo sequerentur dominum Jesum Christum.

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Handeln sich betätigende, am Schriftgesetz sich selbständig orien­ tierende und des objektiven Priestertums nicht notwendig be­ dürfende Gemeinschaft der Prädestinierten, die die Aufgabe der Reform vorläufig in einzelnen Vereinen und Persönlichkeiten in die Hand nimmt, bis die Zeit der Gesamtreform gekommen sein wird. Das aber ist die Auflösung der Anstaltskirche und die An­ bahnung des Sektentypus 180). Von hier aus ging dann Wiklif schließlich in der Kritik noch weiter, indem er auch den zweiten Grundpfeiler, den Sakraments begriff, untergrub, wenn auch freilich nicht völlig zerstörte. Er bekämpfte in der Transsubstantiations­ lehre bewußt das Zentrum der priesterlichen Herrscherstellung und machte die Eucharistie zu einem den leiblichen begleitenden geistlichen Genuß, wobei dem Priester nur die Ausspendung, nicht das Verwandlungswunder zufiel. Gleichzeitig kritisierte er nach dem Gesetz Christi auch die übrigen Sakramente, und beseitigte das Bußsakrament, die Firmelung, die letzte Oelung. Bestehen ließ er Taufe und Herrenmahl, das Ehesakrament, das eines Priesters an und für sich ja auch gar nicht bedurfte, und das sehr eingeschränkte Sakrament der Priesterweihe. Daß er bei dieser Kritik dann auch die zahllosen Weihen und Segnungen, Wallfahrten, Ablässe, Bruderschaften, Heiligendienst, Bilder und Reliquien, das Zölibat und die organische Gliederung der Kirche beseitigte , versteht sich von selbst. Eine positive Organisation der Prädestinierten und ihre Ausgestaltung zu einem geschlossenen Gemeinschaftskreise hat er nicht unternommen. Er begnügte sich wie der h. Franz mit der Organisation seiner Missionare, der Lollharden. In .dieser Hinsicht fehlt seinen Begriffen der Abschluß. Aber es treten doch in ihnen die charakteristischen Wirkungen des Rückganges auf das radikale biblische Gesetz und Naturrecht und auf die evangelische Laienreligion hervor. Wie überall ist 180) Diese Konsequenzen mit Recht betont von Seeberg, Der Begriff der christ­ lichen Kirche, 1, 1885, S. 77 f. Dem hält Gottschick S. 77 f. aber ebenso richtig ent­ gegen, daß diese Konsequenzen von Wiklif ·tatsächlich nicht gezogen werden, sondern eine Reform der Gesamtkirche erstrebt wird und Priester und Sakrament als An­ staltselemente bestehen bleiben. Die Konsequenz tritt erst dann ein, »wenn auch die Gewißheit der eigenen Prädestination als etwas betrachtet wird, was jedem zugänglich ist. Sobald diese Gewißheit erreicht ist, fällt ja allerdings die Autori­ tät äußerer Institutionen dahin«. S. 363. Nun hat aber doch in der Tat Wiklif die Notwendigkeit des Priestertums unsicher beurteilt und die praktische Bewährung als Merkmal der Prädestinierten bezeichnet. Von da aus ergibt sich der Sekten­ typus, aber er ist allerdings nicht konsequent durchgedacht.

Hussitismus.

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es auch hier der Individualismus des Sektentypus und die radi­ kale Weltablehnung oder doch ein Mindestmaß weltlichen Besitzes und Genusses, dagegen ein Höchstmaß des Liebeskommunismus, die eng verbunden dem kirchlichen Anstaltsbegriffe und der kirch­ lichen organischen Soziallehre mit ihren Kompromissen entgegen­ treten. Beide Konsequenzen, die die Wiklifie nicht gezogen hatte, die Gemeindeorganisation der Sekte und die sozialradikale Ord­ nung auch der weltlichen Verhältnisse nach dem Gesetze Gottes, zog der völlig auf Wiklifs Ideen beruhende H uss i t i s m u s, frei­ lich auch er in seinen verschiedenen Zweigen auf sehr ungleiche Weise. Huß selbst blieb dabei hinter dem Radikalismus Wiklifs erheblich zurück, aber aus seinem Werke entwickelten sich die radikalsten Konsequenzen neben charakteristischen Kompromiß­ formen. In Böhmen hatte der nationale Gegensatz der Tschechen ge­ gen die Deutschen und die mit den allgemeinen Oppositions­ stimmungen zusammenhängende Kritik der Hierarchie bereits mehrfach zu religiösen Bewegungen geführt, auch waren hier Ein­ flüsse von Sekten mannigfach bereits verbreitet. In diese Gärung schlugen die Gedanken Wiklifs ein, und zu ihrem Vertreter wurde Hu ß: »Die Kirche die Gemeinschaft der Prädestinierten, gültig in ihr nur das göttliche Gesetz, das Papsttum nur geschichtlich ge­ worden und jetzt tatsächlich in Widerspruch gegen das göttliche Gesetz, also antichristlich, alle kirchliche Autorität davon ab­ hängig, ob sie mit diesem Gesetz übereinstimmt, jedermann ver­ pflichtet, den falschen Autoritäten zu widerstehen; dann die bit­ tere Kritik der Zustände namentlich im höheren Klerus und Mönchtum, der Schäden im Gefolge weltlichen Besitzes und welt­ licher Herrschaft der Kirche; die Pflicht der Obrigkeit, solche Schäden zu bessern, das Recht der Laien, Gottes Gesetz auch gegen die Hierarchie zu wenden und schlechte Priester zu mei­ den« 181). Für diese Gedanken Wiklifs starb Hüß. Aber sein Mär181)

Vgl. K. Müller, K.-G. II 79. Der Ausgangspunkt ist auch hier die augustini­ sche Prädestinationslehre. »Denn eben die Prädestinationslehre des Wiklif ist es gewesen, die für sich allein und in ihren Folgerungen Huß vom Boden der katho­ lischen Kirche entfernen mußte. « Loserth 59. Im übrigen treten die Konsequenzen des Prädestinationsbegriffes bei Huß noch weniger hervor als bei Wiklif, indem H. die Sakramentskritik sich nicht aneignet und auch den Priesterbegriff viel stärker festhält. Aehnlich wie bei Thomas ist ihm Priestertum und Sakrament das Mittel T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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tyrertod entzündete eine sozial- und kirchengeschichtlich überaus folgenreiche Bewegung, die lange Zeit den ganzen Osten er­ schütterte, den vollkommenen Sektentypus und die revolutionäre Durchsetzung einer absoluten christlichen Sozialordnung aus sich hervortrieb und mit beidem lange - vermutlich noch bis in die Täuferkreise des Reformationszeitalters und in die radikalen Pro­ gramme der Bauernaufstände hinein - nachwirkte. In dieser Re­ volution gliedern sich die Einflüsse der »evangelischen« Ideen in drei charakteristisch verschiedene Gruppen, deren Unterschiede für die soziologischen Wirkungen und die sozialen Folgen des Evangeliums überhaupt bedeutsam sind. Die erste Gruppe, die sog. Kal ixt i n e r oder Utraquisten hal­ ten die konservativen Grundlinien Hussens fest: sie werden zu einer schismatischen Anstaltskirche, die Priestertum und Sakrament beder Auswirkung der Prädestination, an das bei der Unerkennbarkeit der definitiven Prädestination der Einzelne sich zu halten hat. S. hierüber die treffliche Abhand­ lung von Gottschick S. 365. Bes. S. 366: > Wenn Wiklif allerdings .auch erwähl­ ten Laien, wenn Christus sie unmittelbar beruft und begabt, die Befähigung zu priesterlichem Tun im technischen Sinne vindiziert zu haben scheint, so ist für Ruß ein spezifischer Unterschied von Klerus und Laien überall die Voraussetzung«, 366. ,Die von Christus beherrschte Gemeinschaft der Prädestinierten soll das Gottesgesetz verwirklichen, dessen Inhalt, um es mit einem Worte zu sagen, »das franziskanische Lebensideal« ist«. S. 368, »Die Faktoren, in welchen die Kirche in die Erscheinung tritt, die Sakramente und die priesterliche Verwaltung, bezw. die Predigt des Gesetzes Jesu, sind die jenem Zweck untergeordneten Mittel«, S. 370. > Weit entfernt von einem subjektivistischen, von dem Einzelnen ausgehenden Ge­ meinschaftsbegriff, hat H. bezüglich des Leibes Christi durchaus die Vorstellung, daß der Einzelne vom Ganzen getragen wird«, S. 370. »Die Verbindung des Prädestinationsgedankens mit dem der Kirche hat für H. nicht die Entwertung der empirischen Kirche (d. h. der Anstalt), sondern das Bestreben zur Folge, dieselbe in Gemäßheit des Gesetzes Christi zu gestalten«. So haben sich nach dem Gesetz Christi die drei Stände der Kirche, die vulgares, die saeculares domini und die sacerdotes zu verhalten: >Die ersteren haben bei !!rlaubter Arbeit die Gebote Gottes zu halten; die zweiten haben die Zwangsgewalt oder das Schwert, das ihnen Gott verliehen, dem Zweck der Durchführung des Gesetzes Christi in den Dienst zu stellen und darum sowohl die Diener Christi zu schirmen als die Diener des Antichrists zu vertreiben; die dritten aber, die Stellvertreter Christi, sollen in ge­ steigerter Nachfolge Christi, die in einem der Welt abgewandten Leben sich kund­ gibt, der Kirche als Seele das Leben einflößen« 372 f. Man sieht, auch hier hat mehr noch als bei Wiklif, das franziskanische Ideal des Gottesgesetzes doch die Ständegliederung der Welt in sich aufgenommen. Die ganze Kritik wendet sich nur gegen die im Besitz von Macht und Rechtsansprüchen verweltlichte Hierarchie,

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Kalixitiner,

hält, nur den Laienkelch und die Volkssprache sowie ein geistliches Leben der Priesterschaft nach dem Gottesgesetz fordert; der Adel. soll ihnen die kirchliche Reform erkämpfen und schützen. Sie haben sich folgerichtig schließlich gegen einige Zugeständnisse mit der Kirche wieder versöhnt; ohne Anschluß an deren Hier­ archie und Succession war der Anstaltsbegriff im kathol�schen Sinne eben überhaupt nicht zu behaupten. Zur Bildung eines neuen, den katholischen ersetzenden Anstaltsbegriffs waren über­ haupt keine Ansätze da 182). Die zweite Gruppe sind die radikalen Hussiten oder Ta b o­ r i t e n, die durch den kirchlichen Bann zur bewaffneten Revolution und zur selbständigen Organisation nach dem Gottesgesetz ge­ trieben wurden. Mit der religiösen Opposition verbindet sich bei ihnen der nationale Haß, das Bedürfnis nach einer neuen Natio­ nalkirche, und neben dem für das reine Gottesgesetz eintretenden Adel erhoben sich demokratische Strebungen der bäuerlichen und um sie in arme Diener Christi nach Matth. 10 zu verwandeln. Landeskirchen, nach dem Vorbild der Apostel seelsorgerlich und priesterlich versorgt, sind sein Ideal, ,über deren Begrenzung hat H. allerdings nicht weiter reflektiert«, 393. Hiermit sind nun zweifellos im Priestertum, Sakrament und Abfolge von den Aposteln die Elemente des Anstaltsbegriffes bewahrt. Aber andererseits ist gegen Gottschick zu sagen, daß sie doch sehr unsicher gemacht sind und der Uebergang zum Sekten­ typus nahe gelegt ist. Sobald nämlich das amtierende Priestertum als gegen das Gesetz verstoßend außerhalb der prädestinierten Kirche steht und umgekehrt der prädestinierte Gerechte als Exkommunizierter außerhalb der Anstalt steht, sobald ferner zur Feststellung des einen wie des anderen Umstandes den Laien das Gottes­ gesetz der Bibel in die Hand gegeben wird, um den einen als bloßen praescitus und den anderen als praedestinatus zu erkennen, ist die wahre Gemeinschaft eine durch die Laieneinsicht in das Gesetz Gottes und durch die Uebereinstimmung der Laien über das Gesetz Gottes zusammengebrachte; und es wird die Aufgabe, den Zusammenschluß dieser richtig Urteilenden zu bewirken, die sich dann zur Be­ sorgung der priesterlichen Geschäfte einen aus der Succession stammenden, aber frommen Priester gewinnen mögen. Damit aber ist der Anstaltsbegriff verflüchtigt bis auf einen letzten Rest, daß die Gemeinde aus der Succession einen Priester sich besorgen muß. Das das Urteil der Laien regulierende Gottesgesetz ist aber in keiner Weise, wie später das ,Wort« im Luthertum, zum objektiven Produzen­ ten der Gemeinschaft gemacht, sondern diese ergibt sich aus subjektiver Erkenntnis und Einsicht in das Gottesgesetz, Damit aber ist - wenn freilich auch hier in­ folge der Ausstoßung durch die Kirche - der Weg zur Sekte betreten, und so sind die Dinge ja auch wirklich gelaufen. 182) Das ist sehr richtig von Gottschick in seinem Vergleich des hussitischen mit dem lutherischen Kirchenbegriff erwiesen. 26*

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städtischen Unterschicht. Damit gewinnt die Bewegung ein neues Gesicht: »Nur das göttliche Gesetz, nichts anderes, soll gelten und jeder Laie hat das Recht zu urteilen und zu verkünden, was die­ ses Gesetz sei, was ihm widerspreche. Demgemäß wird nicht nur die Transsubstantiation und Verehrung der Hostie verwor­ fen, sondern auch die Heiligenverehrung, der Bilderdienst, die ganze Masse der kirchlichen Feiertage, Segnungen und Weihen, der Eid, das Fegefeuer und die Suffragien für alle Toten, die priesterliche Beichte und die Ablässe, die Sakramente der letzten Oelung und Firmung, teilweise auch der spezifische Unterschied von Priestern und Laien, jedenfalls die Stufen des Klerus. Ihre Priester werden nicht durch Bischöfe geweiht, sondern durch die Gemeinden eingesetzt; sie spenden Taufe und Abendmahl in den einfachsten Formen und überall ohne Kirchen und Altäre, ohne priesterliche Gewänder und Liturgie , alles in tschechischer Sprache« 183). Damit treten die Wirkungen des evangelischen Gottesgesetzes, d. h. des evangelischen Individualismus , durch keinen Anstaltsbegriff mehr gebändigt und das ganze katholische Kirchendogma mit allen Konsequenzen vernichtend, schroff zu Tage. Aber damit zugleich wird auch das Gottesgesetz im Sinne des absoluten Naturrechts und des radikalen Christusgesetzes auf das ganze soziale Leben übertragen und nicht mehr durch Fürsten und Herrn , sondern durch die Gemeinde der christ­ lichen Gotteskämpfer gewaltsam der Gesellschaft auferlegt. Dieser Zug zur Gewalt ist etwas Neues. Es ließ sich auch aus dem Neuen Testament und dem Christusgesetz nicht begründen; nun griff man auf das alte Testament, seine Gotteskriege und die ge­ waltsamen Reinigungen Israels durch fromme Könige , zurück. Vor allem aber : es ist nicht mehr das Wiklifitische Gesetz der Entsprechung von Recht und Macht mit der christlich-sittlichen Gerechtigkeit und des Liebesdienstes der Herrenstände für das Ganze , sondern das christliche Naturrecht der demokratischen Freiheit und Gleichheit. Der Prädestinationsgedanke hört auf zu wirken und die rationalistisch-stois-ch-christliche Gleichheitslehre wird als im Evangelium erneuert aus dem Urstand auf die Ge­ genwart übertragen: »die, die mit der Sünde und Welt ganz brechen, haben die Aufgabe, ihr eine neue Ordnung zur Seite zu stellen, die nicht auf Familie und Staat, Eigentum und Herrschaft, 183)

Ich gebe hier und weiter unten die vortrefflich knappen Formulierungen K. Müllers, K.-G. II 44.

Taboriten.

sondern auf die christlichen Gedanken der allgemeinen Gleichheit an Besitz und sozialem Verhältnis gebaut wäre . . . So versucht man jetzt, das Sondereigentum samt den Klassenunterschieden, Steuern und Abgaben abzuschaffen. An die Stelle des luxemburgischen tritt das Königtum Gottes d. h. in Wirklichkeit das des souveränen Volkes, das sich in allem als Gottes Werkzeug fühlt. Die Ver­ suche sind freilich kläglich mißlungen und die Revolution hat schließlich nur die Herrschaft des Adels befestigt und die ande­ ren Klassen zurückgedrängt. Aber die propagandistische Kraft jener Ideale blieb im Volk bestehen« 184). In beiden Richtungen, in der Herausarbeitung des Sektentypus wie in der des indivi­ dualistisch-kommunistischen christlichen Sozialismus, vor allem in der Proklamation der Gewalt, und des heiligen Krieges, sind die Grundgedanken Wiklifs und Huß' weit überschritten; K. Müller verweist mit Recht auf den Gegensatz der Independenten gegen die Puritaner 185 ); es ist in der Tat ein ganz ähnlicher Fall: über die kirchlich-anstaltlich gefaßte Idee einer christlichen Gesellschaft schreitet die sektenhaft und radikal-sozial entwickelte Konsequenz hinaus, nachdem sie in dem kirchlichen System durch dessen Objektivitäten und Relativierungen zurückgehalten gewesen war. Es liegt daher nahe genug, nach den Einflüssen zu fragen, die diese Abbiegungen und Fortentwickelungen konkret veran­ laßt haben. Hier sind nun die einen der Meinung, daß alles sich als Konsequenz der radikalen Fortbildung der Ideen Wiklifs be­ greifen lasse. Andere greifen für die Erklärung der Fortbildung zum Sektentypus auf waldensische Gruppen zurück, die in Böh­ men unzweifelhaft vorhande n waren, aber deren Einwirkung auf die Taboriten sich allerdings nicht belegen läßt. Noch schwie­ riger und wichtiger ist die Frage nach dem Ursprung des egali­ tären Sozialismus und des revolutionären Gewaltrechtes. Auch das könnte aus der freilich ganz andersartig prädestinatianisch­ aristokratischen Idee Wiklifs sich erklären lassen, die bei der Entfaltung ihrer revolutionären Konsequenz aus der Herstel­ lung der wahren Aristokratie und ihres Liebesdienstes für das Ganze leicht auch in radikale Demokratie umgeschlagen sein könnte. Immerhin ist der Unterschied grundlegend. So denken andre an Einflüsse der joachimitischen Eschatologie mit ihrem Zeitalter der Gleichheit und Freiheit, wieder andere an alt18') 185)

K. Müller, K.-G. II 85. Ebd. II 86.

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slavische kommunistische Ideen oder an die Umwandlung der Wiklifitischen Idee in bäuerlich und städtisch-handwerkerlichen Kreisen zur Demokratie oder an die Wirkungen, die der natur­ gemäße Kommunismus eines langen Heer- und Wanderlebens mit sich brachte 186). Ich kann über die Frage der Herkunft nichts sagen und möchte nur den sachlichen Unterschied fest­ stellen, der zwischen der hier auftauchenden egalitären Idee des christlichen Naturrechts und evangelischen Gottesgesetzes gegenüber dem aristokratisch-prädestinatianisch gedachten Liebeskommunis­ mus des Wiklifitischen Gesellschaftsideals ebenso wie gegenüber der die Naturdifferenzen aufnehmenden und organisch-patriarchalisch bewältigenden realistischen Sozialphilosophie des Thomas besteht. In Wahrheit kommt hier - durch welche Vermittelungen immer - die stoisch-rationalistische, egalitäre kommunistische Fassung des Urstandes und des evangelischen Gesetzes zum Durchbruch, wie sie die großen Kirchenväter des 4 ten Jahrhunderts gelehrt hatten, und an einer irgendwie bestehenden Kontinuität mit dem altchristlichen Radikalismus ist nicht zu zweifeln, wenn auch sicher­ lich die Gründe dieser christlichen Revolution nicht theoretische 1so) Den Sektentypus führen Preger, »Ueber das Verhältnis der Taboriten zu den Waldesiern des 14. Jahrh.« (Abhh. der bist. Klasse des Münchener Akad. d. Wiss. 1887) und H aupt, Die Sekten in Franken vor der Reformation 1882, auf waldensische Einflüsse zurück, die unzweifelhaft möglich sind. Ihnen schließt sich Volpe, September, S. 297 f. an. Dagegen behauptet Loserth in lehrreichen, für die Ideen Wiklifs bedeutsamen Rezensionen, Gött. Gel. Anzz. 1889, S. 475 und Ebd. 1891 S. 140 ff. die Unmöglichkeit, diese Einflüsse bis jetzt nachzuweisen, und macht wahrscheinlich, daß es sich um reine Konsequenzen der Wiklifschen Lehre vom Prüfungsrecht der Prädestinierten handelt. Das ist möglich. Unmöglich scheint die Herleitung von Wiklif dagegen bei den individualistisch-kommunistischen Lehren. In ihrer Wiedergabe folge ich K. Müller, der seinerseits dem mir nicht zugäng­ lichen F. v. Bezold, Zur Geschichte des Hussitentums, folgt. Sind diese Angaben richtig, so ist eine Herleitung von der Wiklifie schwer denkbar. Hier kann Wik­ lifs Lehre von der Bestimmung des Gottesgesetzes, auch für die weltliche Ordnung maßgebend zu sein (Loserth G. G. A. 1889, S. 483-492), nicht ausreichen; denn die Auffassung des Gottesgesetzes selbst ist eine andere. Wober diese kommt, vermag ich nicht zu sagen. Ich halte bei der starken Einwirkung chiliastischer Ideen (s. Loserths übrigens sehr dürftige Skizze, G. d. spät, Mittelalters, S. 480 f.) j oachimitische Einflüsse für möglich. Müller nennt altslavischen Kommunismus, was mir Max Weber als unmöglich bezeichnet, da dieser als Hauskommunion die Groß­ familie bedeute und ganz anders konstruiert sei. Weber selbst denkt an Folgen des gemeinsamen Kriegs- und Wanderlebens. Die auf Palacky beruhende verhält-

Mährische Brüder,

Ideen, sondern in letzter Linie praktische Verhältnisse und soziale Strömungen gewesen sind 187). Die dritte Gruppe zweigte sich allmählich von den Taboriten ab und kam in den »m ä h r i s c h e n Br ü d e r n« zu ihrem Abschluß. Sie bekennen mit jenen das wiklifitisch - franziskanische Ideal , verwerfen aber die Mittel der Gewalt als unchristlich. So ent­ steht hier der religiöse Verein oder Konventikel mit dem Streben, nach innen im eigenen Kreise möglichst das Liebes- und Heilig­ keitsideal zu verwirklichen, nach außen von Staat und Gewalt und weltlicher Macht sich zurückzuziehen und in freiwilliger Zu­ sammengehörigkeit das evangelische Gottesgesetz soweit zu ver­ wirklichen, als es die Fortdauer der Welt und ihrer Ordnungen er­ möglicht; damit ist auch der egalitäre Sozialismus wieder aufgegeben und durch den das Privateigentum und die weltliche Berufsarbeit voraussetzenden Liebeskommunismus der Gesinnung und prakti­ schen Liebestätigkeit ersetzt. Es ist »der erste große Versuch der Laienwelt, eine Religiosität zu verwirklichen, die nicht auf Kom­ promissen mit der Welt beruhte und mit sakralen Weihen und einer halben Sittlichkeit zufrieden wäre, sondern das ganze Leben in ihren Dienst nähme, der Rückzug der ernsten Christen aus der gefährlichen Welt zu enger brüderlicher Gemeinschaft, ausschließ­ lichem Streben nach persönlicher Heiligung im Dulden und Ent­ sagen, in unbedingter Friedfertigkeit und Selbstlosigkeit« 188). Ihr Stifter ist ein Laie, Peter von Chelzic, der von jeder durch Gewalt erfolgenden Propaganda der Wiklifie sich zurückzog , von allen nismäßig ausführliche Skizze bei Kautsky, Gesch. d. Sozialismus, 1 1 S. 195-239, rät auf »Begharden«, die auf Höfler, Geschichtsschreiber der hussitischen Bewe­ gung 1856-66 wesentlich beruhende Darstellung von R. Zöllner, Zur Vorge­ schichte des Bauernkrieges, 1872, rät auf Begharden, Dolcinisten, italienische Chi­ liasten und altslavische kommunistische Gewohnheiten und Kriegskommunismus. Bezüglich der mit allen christlichen Ideen unverträglichen Gewaltsamkeit ist zu be­ achten, daß hier das alte Testament zu Hilfe genommen wird neben dem neu­ testamentlichen Gottesgesetz, wie denn d�s alte Testament für die biblische Be­ gründung einer weltlichen Ethik und sozialer Ideen oft aushelfen muß. Diese Ergänzungsrolle des A. T. neben dem N. T. gerade in der Ethik und den Sozial­ lehren verdiente eine Darstellung für sich. Sie wird uns besonders noch beim Kalvinismus beschäftigen. 187) Das letztere mit Recht von K. Müller hervorgehoben, II 85 und 1 207; nur hebt hier Müller den Unterschied vom späteren offiziellen kirchlichen Naturrecht nicht hervor, das gerade mit jenen patristischen Lehren gar nicht identisch ist. 188) K. Müller II 86.

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Christen, nicht bloß vom Klerus, die Zurückhaltung vom sündigen Treiben der Welt, insbesondere vom Handel und öffentlichen Leben mit seiner Herrschaft und Zwangsgewalt, verlangte. Ackerbau und Handwerk sollten die Beschäftigungen der Christen sein, und ge­ gen die Gewalt sollten sie nur Unrecht leiden, nicht tun. An diesem Punkte hatten Wiklif und Huß der gemeinkirchlichen Lehre von den Ständen der Kirche noch näher gestanden, den Eingriff der weltlichen Gewalt zur Reform der Kirche gefordert und die christliche Gesellschaft als eine Staat und Kirche gemeinsam um­ fassende und zur Wechselwirkung verbindende betrachtet; die Brüder lösten die religiöse Gemeinschaft vom Staate und schufen eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Von der unmöglich er­ scheinenden Reform der Gesamtgesellschaft zog sich die christ­ liche Idee auf sich selbst zurück, steigerte in ihrem Kreise den Individualismus der bloß religiösen Gleichheit und erfüllte ihn mit dem caritativen Gesellschaftsideal. Es ist die volle Rückkehr zum altchristlichen Sozialideal, nachdem die christliche Kultur der Kirche sich als eine Verweltlichung und Brechung der christlichen Mo­ ral und die gewaltsame Durchsetzung des absoluten Natur- und Gottesgesetzes als eine blutige Utopie erwiesen hatte. »Die Kirche sollte arm, ohne Prunk und ohne Zeremonien, ohne Rechtsver­ fassung und frei von jeder Verbindung mit irdischer Gewalt, die Zugehörigkeit zu ihr durchaus freiwillig sein, ihr Priesterstand ohne Pfründen und ungelehrt, nur durch Wort, Gebet und Brot­ brechen dem Volk dienen und seinen Unterhalt durch seiner Hände Arbeit gewinnen« 189). So lange man Priester hatte, die aus der katholischen Kirche zu der Gemeinde übergetreten waren, war das Priestertum kein Problem; als die guten Priester aus­ starben, mußte man von den nahverwandten Waldensern sich einen Bischof weihen lassen. In dieser Wahrung der Sukzession liegt der letzte, allein noch beibehaltene Rest der Anstaltskirche. Die Zucht und Erziehung der Einzelnen übt aber nicht der Prie­ ster, sondern die Gemeinde selbst aus, ein deutliches Zeichen für das Ueberwiegen des Sektengedankens. Zugleich ist zu beachten, daß diese Sekte den bäuerlichen sowie handwerkerlichen Schieb189) Ebd, II 151. Wenn Müller hinzufügt: »Es sind die Heiligkeitsideale der mittelalterlichen Kirche, aber als Aufgabe der ganzen Gemeinde«, S. 152, so wäre noch beizusetzen: >und ohne die Vor- und Unterstufe der relativ naturrechtlichen Weltmoral«. An anderem Ort (Kultur d. Gegenwart I, Bd, IV S. 2II u. K.-G, II 30) hat der Verfasser das selbst betont.

Typische Bedeutung der hussitischen Entwickelungen,

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ten angehört und so auch ihrerseits den Zusammenhang und die Wahlverwandtschaft des sektenhaften und radikalen Christentums mit den Stimmungen und Bedürfnissen, mit den Lebensbedingungen und Weltfremdheiten der Unterschicht dartut; nur in dem Ge­ sichtskreis der Unterschichten ist eine solche Fassung des Gesell­ schaftsideals möglich, und zugleich nur durch solche religiöse Ge­ meinschaften läßt sich ihr Bedürfnis nach Persönlichkeit befrie­ digen, wenn es aus irgend welchen Gründen bereits geweckt ist. Um 1500 erhob sich gegen diese Verengung eine junge Partei, die, aus den höheren Schichten stammend, wieder ein positiveres Verhältnis zur Welt verlangte, den Eid und die Bekleidung öffent­ licher Aemter freigeben wollte, ganz ähnlich wie die alte Christen­ heit in die weltlichen Berufe hineinwuchs. Der Entwickelungs­ prozeß von damals beginnt damit von neuem, führt aber bei der Enge und Kleinheit der Sekte nicht zu den Ergebnissen einer die urchristliche Moral relativierenden kirchlichen Kultur, wie das das Ergebnis in der großen als Kirche sich gestaltenden Christen­ heit des Altertums war. Es bleibt bei einem nur etwas mehr der Welt angepaßten Konventikelwesen. Der Hussitismus - dessen Kenntnis übrigens in der deutschen Forschung noch sehr zu wünschen übrig läßt, und die tschechi­ sche ist für uns unzugänglich - ist freilich zunächst eine lokale Angelegenheit, aber von stärkster historischer Fernwirkung und vor allem überaus bedeutsam und typisch für den ganzen hier besprochenen Zweig der christlichen Soziallehren. Er zeigt die Herauslösung des Sektentypus aus einer Entwickelung der kirch­ lichen Gedanken, die unter dem Einfluß der Bibel und der sozialen Verhältnisse bereits stark die individualistischen und die radikal­ ethischen, die Welt auf ein Mindestmaß der Berechtigung herab­ drückenden Forderungen betont hatte; von einer Askese im eigent­ lich mönchischen Sinne der Mortifikation ist nicht die Rede, son­ dern nur von einer Zurückhaltung gegen Staat, Macht, Recht, Eid, Krieg, Reichtum ; das sollten sich diejenigen merken, welche in solchen Zügen nur die »katholische Verderbung des Christentums zur Askese«, und nicht die urchristliche Lebensstellung fortwirken sehen. Weiter ist es bedeutsam, wie in diesem christlichen Radi­ kalismus die eigentlich-christlichen Liebesideen und der rein reli­ giöse, die weltliche Ungleichheit einschließende Individualismus sich teils vermischen, teils entzweien mit dem egalitären Indivi­ dualismus und dessen kommunistisch-demokratischer Konsequenz,

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das letztere ganz offenkundig nicht eine eigentlich-christliche, son­ dern eine stoisch - rationalistische Idee, die von demokratischen, aus der sozialen Entwickelung sich ergebenden Strömungen er­ griffen und getragen wird und sich bei der allgemeinen Christ­ lichkeit der Atmosphäre eine christlich-biblische Legitimation gibt. Schließlich ist charakteristisch die trotz alledem sich ergebende Schwierigkeit für den christlichen Universalismus. Er läßt sich behaupten nur in der chiliastischen Form, daß die in der Welt Gedrückten dann bei der großen Endentscheidung zu ihrem Rechte kommen werden. Soferne aber der universalistische Drang bereits in der Gegenwart sich betätigen will, entsteht neben jener leidenden, duldenden und hoffenden Christlichkeit die aggres­ sive, die das Ende gekommen glaubt und damit sich zur Gewalt berechtigt meint, die den Gotteskrieg der Endzeit mit der in der Endzeit auch von der biblischen Apokalypse in Aussicht ge­ nommenen Gewalt kämpft, oder man rechtfertigt die Revolution durch die Anleihe bei den Gotteskriegen und den Sozialidealen des alten Testamentes. Alle diese Dinge haben sich dann in dem Täufertum der Reformationszeit und in dem englischen Inde­ pendentismus wiederholt. Aus diesem Knäuel verschiedenster Wirkungen heben wir zunächst die Fortwirkung der e g a 1 i t ä r e n u n d d a r u m r e v o l u t i o n ä r e n F a s s u n g d e s c h r i s t l i c h e n G o t­ t e s - u n d N a t u r g e s e t z e s heraus. Sie ist jene ratio­ nalistische Umdeutung der rein religiösen Gleichheit des Evan­ geliums, die unter dem Einflusse des stoischen Rationalismus be­ reits die großen Kirchenväter des vierten Jahrhunderts wenigstens für den Urstand vollzogen hatten, und die dann hinter der prä­ destinatianischen Lehre Augustins und hinter der an Aristoteles angelehnten Lehre von der naturgesetzlichen Ungleichheit zurück­ getreten war. Durch welche Zusammenhänge dieses Wieder­ hervortreten bedingt ist, kann bei der jetzigen Kenntnis dieser Dinge schwer gesagt werden. Wir sahen diese Ideen bereits im Joachimitismus und bei Dolcino sich äußern, beim letzteren im Zusammenhang mit der Bauernerhebung des Val Sesia. Genährt sind diese Gedanken ja immer von der fortdauernden patristi­ schen Tradition, von den demokratisch-republikanischen Elementen des Corpus juris und der religiösen Gleichheitsidee, die sich im Mönchtum auch ihre äußere soziale Form stets von neuem schuf. Im einzelnen freilich sind es jedesmal besondere Zusammenhänge

Revolutionäre Wendung des Naturgesetzes: Bauernaufstände,

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und äußere Anlässe, vor allem demokratische Strömungen der bäuerlichen und unteren städtischen Bevölkerung, die diese Ideen hervorbrechen lassen und sich zu Nutze machen. Sie finden dann literarische Advokaten oder rhetorische Agitatoren, die ihnen ju­ ristische und theologische Lehren oder auch alte Sektentraditio­ nen zur Verfügung stellen und ihre Rolle in den Bewegungen mitspielen. Daß solche Ideen weit verbreitet sind und auf all­ gemeines Verständnis rechnen, zeigt der Radikalismus, mit dem der allerdings sehr berüchtigte, aus dem Beginn des 14. Jahr­ hunderts stammende Roman de la Rose diese egalitär-demokra­ tischen Ideale als solche des Urstandes verkündigt; daß ihm die besonderen christlichen Beziehungen hierbei fehlen macht nicht viel aus, denn das Urstandsgesetz ist eben zugleich das christ­ liche Gottesgesetz 190). Praktisch äußern sich diese Ideen in den großen Bauernaufständen des Spätmittelalters, die meistens zu­ gleich mit der radikalen demokratisch-egalitären Naturrechtsidee arbeiten und sie mit der christlichen Freiheit und Gleichheit so­ wie mit dem Urstandsgesetz in Verbindung bringen. Der nächste Anlaß dieser Bauernaufstände liegt selbstverständlich auf ökono­ mischem und sozialem Gebiet, bald in der Besserung der Lage der abhängigen Bauern, die in England die Grundherren zu einem Versuche, zwangsweise die Hörigkeit wieder herbeizuführen und der Leutenot abzuhelfen, veranlaßte, bald in der Aussaugung der Bauern durch Kriegslasten wie in Frankreich, bald, wie be­ sonders in Deutschland, in anderen komplizierten Verhältnissen, die hier nicht weiter zu erörtern sind. Aber sie bemächtigen sich dabei großenteils der egalitären und kommunistischen Fassung des christlichen Naturrechts, wobei die Wege, auf denen dies ge­ schehen sein mag, gleichfalls hier nicht weiter erörtert werden können. Genug , daß die egalitär - sozialistisch- demokratischen Fassungen des natürlichen und göttlichen Rechtes sowie der darauf beruhenden christlichen Freiheit nirgends aus der Dialektik der reinen christlichen Idee hervorgehen, sondern überall erst durch politische und soziale Revolutionen herbeigeführt sind und auch in der Tradition ihren Anhalt nur an denjenigen Elementen der patristischen Ethik finden, die nicht der christlichen Ideeentwicke­ lung selbst entstammen. Sofern diese Ideen mit Gewalt durch­ gesetzt und die Revolution christlich begründet werden soll, muß auch hier immer das Alte Testament aushelfen 191). 190) 191)

S. v. Bezold, Lehre von der Volkssouveränität, S. 340 f. Die Aeußerungen dieser demokratisch - kommunistischen Ideen sind ge-

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Weit entfernt von diesem revolutionären Geiste sind dagegen diejenigen Gruppen, die aus dem I n d iyi d ual i s m u s d e s Se k­ t e n t y p u s und aus dem Ideal der Un t e rwe rfu n g d e r G e ­ s e l l s c h aft u n t e r d e n we l t i n d iffe r e n t e n Ra d i kal i s­ m u s der Jenseitsethik und des Armutsideals hervorgehen. Das ist eine zweite von dem Sektentypus ausgehende Strömung, die freilich mit der ersteren sich mannigfach vermischt. Doch sind beide stets zu unterscheiden ; sie verhalten sich wie das Tabo­ ritentum zu den mährischen Brüdern, nur daß in beiden Fällen der den Böhmen eignende Gegensatz gegen die Kirche als solche fehlt. So sind lediglich in diesem zweiten Sinne die­ jenigen Experimente des Kommunismus zu verstehen , die in den kleineren geschlossenen Kreisen der Begarden und Be­ ginen, der Brüder vom gemeinsamen Leben und ähnlichen Orsammelt von Kautsky in seiner ,Geschichte des Sozialismus« I 1, leider mit sehr geringer Genauigkeit und ohne jedes Verständnis für die religiösen Motive und die Unterschiede der verschiedenen Gruppen. Der christliche Kommunismus des Mittel­ alters ist ihm eine kümmerliche, wesentlich durch literarische Ueberlieferungen de r Ideen des alten christlichen Lumpenproletariats entstandene Frühgeburt des Kom­ munismus, die, weil sie mit der noch herrschenden Produktionsstufe und mit der Tendenz der »Entwickelung« noch nicht übereinstimmt, zugleich mystisch, asketisch, politisch unfähig und wissenschaftsfeindlich ist, während der reife, mit der Produk­ tionsstufe der Gegenwart übereinstimmende Sozialismus von heute um deswillen in allen Stücken das Gegenteil ist l Reichliches Material, vor allem über die süd­ deutschen Bauernbewegungen und die Taboriten, gibt R. Zöllner, Die Vorstufen des Bauernkrieges. Ueber den englischen Bauernaufstand 1381 und sein christlich­ kommunistisches Programm Kautsky I I S. 183-195. Die französische Jacquer ie hat nach Luce, Histoire de la Jacquerie 2, 1894, keine derartigen ideellen Ele­ mente. Die Ideen der deutschen Bewegungen werden beleuchtet durch die Refor­ matio Sigismundi (ed. Böhm 1876), die neben einem relativ konservativen kirch­ lichen Programm doch im Interesse der Sklaven und Hörigen das Naturrecht und die christliche Freiheit, d, h. die Gedanken der Gleichheit und des natürlichen Gemein­ besitzes geltend macht. Böhm S. 48. Einen Abriß der deutschen bäuerlich-revo­ lutionären Bewegungen gibt Brieger, Ref. (Ullsteinsche W. G.) S. 294-306, Hier zeigt sich überall die Gleichung der revolutionären Forderung mit dem Gottesge­ setz und Naturgesetz des Urstandes, wo Adam grub und Eva spann, ebenso die Motivierung der Gewalt mit dem A. T. - Wie unsicher aber auch sonst kundige Theologen hier tasten, zeigt Seeberg, D. S. I 166 ff. In all den ver­ schiedenen Aeußerungen Seebergs über das mittelalterliche Naturrecht sind nirgends dessen verschiedene Elemente und dessen Unterscheidung in absolutes und relatives Naturrecht erkannt, und ist insbesondere die tiefe innere Notwendigkeit der Rezep­ tion dieses Begriffes überhaupt nicht verstanden.

Einflüsse auf staatsrechtliche und kirchliche Reformideen.

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ganisationen gemacht worden sind. Es sind Versorgungsanstalten für Hilflose und Alleinstehende , für beschauliche Gemüter und Ausgestoßene. Sie werden im einzelnen technisch zu Produk­ tiv-Assoziationen, bedeuten aber in ihrer Idee nicht ein die Ge­ sellschaft reformierendes Naturrecht, sondern einen von ihr zu­ rückgezogenen Kreis des asketischen Liebeskommunismus. Sie beleben an ihrem Teil die Laienreligion und damit den religiösen Individualismus, wie das ähnlich auch die Mystiker und die sog. vorreformatorischen Verfasser religiöser Traktate getan haben, aber ihnen fehlt jedes Programm der Gesellschaftsreform. Sie entsprechen dem sozialpolitisch harmlosen Typus des urchrist­ lichen Liebeskommunismus. Es ist nun aber schließlich nicht zu verwundern, wenn dieser religiöse Individualismus und der Radikalismus des evangelischen Gottesgesetzes noch weiter greift , wenn er auch in das öffent­ liche Leben von Staat und Kirche und damit in die Ideenwelt der ihm gegenüberstehenden offiziellen Ordnungen selbst hinein­ wirkt. Vor allem so, wie er sich in der Forderung der armen und rein spiritualen Kirche kundgab und damit zugleich auch dem Verhältnis von Staat und Kirche neue Grundlagen schuf, mußte er auch der k i r c h l i c h e n u n d j u r i s t i s c h e n L i t e­ r a t u r Reformgedanken zuführen, seit die Reaktion gegen das überall eingreifende päpstliche Universalreich sich allenthalben zu regen begonnen hatte. Die Weltherrschaft und universale Gesell­ schaftsleitung der Kirche hatte, wie wir gesehen haben, auf der Abwesenheit eines eigentlichen Staates, auf dem Ersatz des Staats­ gedankens durch den der kirchlichen Einheit und Leitung und schließlich auf der all das ermöglichenden Einfachheit der so­ zialen und wirtschaftlichen Verhältnisse beruht. Indem nun die nationalen Staaten und ein von der Ethik der Kirche nicht mehr so einfach zu bewältigendes Gesellschaftsleben sich geltend mach­ ten, entstanden die Krisen des mittelalterlichen Kirchentums und die Versuche einer Neuordnung. Die Staaten mußten nach Ein­ fluß auf das Kirchentum ihres Gebietes streben und dazu Macht und Recht des Laientums in der Kirche proklamieren, wozu sich die Sektengedanken wenigstens teilweise als geeignet erwiesen, bis man lieber den Weg der Verhandlungen und Konkordate be­ schritt und die Fürsten mit dem Papste sich in die kirchliche Macht teilten. Andrerseits wurde damit auch der Bau der Kirche, die mit einer übergroßen Aufgabe sich übernommen hatte und

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an deren Konsequenzen zu leiden anfing, von außen und innen her erschüttert, und mußten die Vertreter des kirchlichen Interesses nach Reformen streben, die teils die Hilfe der Laien heran­ zogen, teils den Ausweg im Ideal der armen entweltlichten Kirche fanden und damit auch ihrerseits sich einzelnen Forderungen des Sektentums näherten, bis eine verstärkte Zentralisation der Kirche im Papsttum und die Konkordate mit den Landesfürsten solchen Reformen praktisch für immer ein Ende machten. In ersterer Hinsicht sind es die Juristen und Theologen des französischen Königtums und auf ihnen fußend die literarischen Helfer Ludwigs des Bayern , und unter ihnen wiederum vor allem M a r s i 1 i u s v o n P a d u a in seinem berühmten Defen­ sor pacis , der den Frieden und die Reform der christlichen Gesellschaft durch die Sicherstellung der Staatsgewalt und die Zurückführung der Kirche auf ihren biblischen, vorkonstantini­ schen Zustand erreichen will. Die Analogie mit dem anfäng­ lichen Gedankengange Wiklifs ist hier unverkennbar 1�2). Doch bildet für die Sicherstellung des Staates hier nicht die prä­ destinatianische Gewaltbegabung, sondern die allgemeine offizielle Naturrechtslehre den Ausgangspunkt. In Bezug auf den Staat werden daher die mit der thomistischen Theorie gemeinsamen naturrechtlichen und aristotelischen Elemente nur stärker ange­ spannt. Das positive Gesetz und die Institutionen der Regierung ent­ springen aus dem Willen des eigentlichen Gesetzgebers, des Volkes, oder seiner Stellvertreter, sind in ihrer Ausübung an die Kontrolle durch jenen Gesetzgeber gebunden , im übrigen vernunftgemäß monarchisch wie Gottes Weltregierung. Diese nur sehr relativ demokratischen Sätze gehen über die thomistische Lehre nur durch eine noch stärkere Betonung des Naturrechts und eine demokra­ tischere Fassung desselben hinaus. Sie bekommen aber freilich ein völlig anderes Gesicht durch die ganz andersartige Stellung, die nun der Kirche dem Staate gegenüber gegeben wird. Diese ist näm­ lich hier nach dem mit dem Naturrecht an sich identischen Gottes­ gesetz, ganz wie der Staat zunächst aus dem Konsensus der Be­ teiligten hervorgeht , so auch ihrerseits in erster Linie iden­ tisch mit der Gemeinde der Gläubigen und nach der besonderen 192)

Die Analogie ist auch später von Papst Gregor XI. ausdrücklich ausge­ sprochen worden; s. das Schreiben bei Riezler S. 297; als »waldensisch« bezeichnet seine Sätze Johann von Paris, s. Haller, Papsttum und Kirchenreform I, 1903, S. 74. Keller S. 102-113 reklamiert ihn für waldensische Einflüsse.

Marsilius v. Padua und Wilhelm v. Occam.

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Offenbarung des Gottesgesetzes in der Bibel auf ein rein spm­ tuales Regiment durch das von der Gemeinde einzusetzende d. h. zur Weihe zu präsentierende Priestertum beschränkt. Die Ge­ meinde bestellt, kontrolliert, richtet dementsprechend ihre Priester. Die letzteren sind unter sich alle gleich, und die Bischöfe haben nur akzidentelle Vorrechte d. h. vor allem die Priesterweihe, in der die Sukzessi_on von Christus her behauptet wird. Das Papst­ tum und die Hierarchie ist eine unheilvolle Stiftung Konstantins und lediglich menschlichen Rechtes , allenfalls für eine geist­ liche Leitung und Beratung unter Kontrolle der weltlichen Ge­ walt zu brauchen. Die Priester sollen Sakramente spenden und Buße verkünden , wobei aber das Bußsakrament nur deklara­ torischen und nicht effektiven Charakter hat und die Gemeinde über den Fall entscheidet. Die Normen sind ausschließlich das Gottesgesetz der Bibel und im Zweifelsfalle das von der weltlichen Gewalt als dem Vertreter der Gemeinde zu berufende Generalkonzil aller Gläubigen oder ihrer Repräsentanten. In allen weltlichen Dingen, in Gerichtsbarkeit und Besitzrecht, sind die Priester von der weltlichen Gewalt abhängig, ihre Zahl ist von ihr zu bestimmen. Sie sind zum armen Leben in der Nachfolge Christi verpflichtet. Ihr Strafrecht, auch gegen Ketzer, beschränkt sich auf Ermahnung und Drohung ; gemeinschädliche Ketzer beseitigt die weltliche Gewalt. Die äußere Durchführung des Gottesgesetzes unter Lohn und Strafe bringt erst das Jenseits; im Diesseits herrscht im Staat das politische Naturrecht und in der Kirche das Gottesgesetz in Gestalt der spiri­ tualen Seelenleitung, die aber nie in Rechte des Staates eingreifert darf. Es ist deutlich, daß in alledem wesentlich die Interessen der weltlichen Gewalt bestimmend sind und daß das demokratische Gemeindeprinzip vom politischen Naturrecht auf das geistliche übertragen ist. Aber es ist doch bei aller Belassung des Priester­ tums und der Sakramente eine außerordentliehe Schmälerung des Anstaltscharakters, indem ;ms der objektiven priesterlichen An­ stalt eine sich selbst nach dem Gottesgesetz regierende Gemeinde wird, die nun freilich dadurch, daß überall in ihrem Namen die sie vertretende politische Gewalt handelt, zu einer Dependenz der Staats­ gewalt wird. Wenn auch an der religiösen Selbständigkeit der Ge­ meinde hier kein Interesse stattfindet, so ist doch unverkennbar, daß diese ganze Theorie aus der Atmosphäre des Individualismus und des reinen Christus-Gesetzes hervorgeht, den das franziskanische Pro­ gramm der armen Kirche und der Laienreligion um sich ver-

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breitete 192a). Von stärkerem religiösen Akzent un·d kirchlich konservativer ist die Lehre des zweiten großen literarischen Anwalts in diesen Kämpfen , W i l h e l m von Occ a m s. Er betrachtet geistliche und weltliche Gewalt als die beiden koordinierten und auf Zu­ sammenwirken angewiesenen Häupter der christlichen Gesellschaft, wo nur i n etwaigem Notstand ein Eingriff des Papsttums in das korrumpierte weltliche Regiment oder umgekehrt ein solcher der Laiengewalt in ein verweltlichtes Kirchenregiment als Notrecht zu behaupten ist. Die Bedrohung der franziskanischen Armutslehre durch Johann XXII. und die Veräußerlichung der politisierten Kirche scheint ihm nun einen Notstand der letzteren Art zu be­ deuten, und er ruft Staatsgewalt und Laien in dieser Not zur Hilfe auf, da schließlich die Mitgliedschaft an der Kirche nur durch den Glauben und nicht durch das Priestertum bedingt ist. Auch hier ist es die sektenhafte Konsequenz der franziskanischen Laien­ religion, die freilich nur als vorübergehendes Notrecht prokla­ miert wird, die aber dauernde Wirkungen zurückläßt: »Der Papst und sogar ein von ihm berufenes Konzil können irren ; dann bleibt nur eine Kirchenversammlung, die auf dem Gemeindeprin­ zip und auf indirekten Wahlen beruhen und auch das weltliche Element nicht ausschließen soll«; »ja am Ende sind auch die Weiber nicht auszuschließen; denn in Glaubenssachen ist kein Unterschied zwischen geistlich und weltlich noch zwischen Mann und Weib.« Das Notrecht selbst, das zu diesen radikalen Konse­ quenzen führt, wird mit dem im Naturrecht gelegenen Billigkeits­ recht begründet, das ja auch schon bei Thomas gegen das po­ sitive Recht die eigentlichen Intentionen des Naturrechtes und des Gottesrechtes im Notfalle sicherstellen durfte und mußte. So geht auch hier die Individualisierung der Religion in die Nähe des Sektentypus und erhebt sich auch hier mit diesem zusammen das radikale christliche Natur- und Gottesgesetz, bald mehr be­ tont von der Seite der Armuts- und Liebesidee, bald mehr von der der Gleichheit der Individuen 192b). 1920) Ueber Marsilius und seine Vorgänger s. Riezler, Die literarischen Wider­ sacher der Päpste zur Zeit Ludwigs d. Bayern 1874, der aber Marsilius m, E. viel zu sehr modernisiert und die entscheidenden Gesichtspunkte der mittelalterlichen Gesellschaftslehre nicht beherrscht. Ueher die ganze Lage sehr lehrreich Haller, Papsttum und Kirchenreform I; auch K. Köhler, Staatslehre der Vorreformatoren (Jahrbb. f. deutsche Theol. XIX u. XX). 192b) Ueber Occam s. Riezler 249 ff., bes. 260-262. Ueber den Einfluß Mar-

Die konziliare Reformtheorie.

Von kirchlicher Seite her ist es die Rechtslehre und Theologie der k o n z i l i a r e n B e w e g u ng, die aus der kirchlichen Ueberliefe­ rung selbst ein neues Prinzip des Kirchenbegriffes zu schaffen unter­ nahm, seit die große soziale Utopie der päpstlichen Universalkultur und Universalherrschaft an den Folgen ihrer eigenen annähernden Verwirklichung zu Grunde zu gehen begann 193). Sie hat zu­ nächst bei dem Rückgang von dem Papsttum auf Bischöfe und Priester den Anstaltsbegriff nicht verlassen ; aber in dem Maße, als sie das Laientum zu Trägern des Christentums und Richtern über die Kirche machte, hat sie sich auch ihrerseits teils dem Sektentypus, teils bei der Entwickelung demokratischer Grund­ lagen den individualistisch-rationalistischen Elementen des kirch­ lichen Naturrechts genähert. Indem man gegen das relative Na­ turrecht des Sündenstandes und die Verfestigung der politisch­ kirchlichen Gliederungen sich wandte, bedurfte man des abso­ luten Naturrechtes, und konnte es hier nun mehr mit Wiklif in der rein christlichen Gestalt des absoluten Liebeskommunismus und der Aufopferung der prädestinatianisch begabten Rechts- und Macht­ inhaber für das Ganze oder mehr in der rationalistisch-individua­ listisch-egalitären Gestalt aufsuchen, wie es von den stoischen und römisch-juristischen Elementen des kirchlichen Gedanken­ schatzes her sich darbot. Die Wiklifitische Lehre wurde von der ganzen Bewegung schroff verworfen ; so blieb wesentlich das letztere übrig, verbunden mit dem Ideal der reinen und armen lediglich spiritualen Priesterschaft, das überall zugleich ein Recht der Prüfung und Ingerenz der Laien zum Zweck der Reinigung der Kirche in sich schließt, sobald die offizielle Kirche versagt. Laienreligion, Gemeindekirche, arme und spirituale Kirche, Nasilius' und Occams ebd. 297 f. Der Occams ist begreiflicher Weise viel größer. Der Defensor pacis wurde erst I 522 gedruckt. Die Parallele der occamistischen Theorie mit den Sektenlehren und ihr Zusammenhang mit dem radikalen Minoriten­ turn ist auch betont von Haller, Papsttum und Kirchenreform I 8 r. 193) Daß gerade das avignonensische Papsttum die Zentralisation der Kirche vollendet und sie vor allem im kirchlichen Finanzwesen zum Ausdruck bringt, be­ tonen mit Recht K. Müller, ,Kultur der Gegenwart«, I 4, S. 2rr und Haller, »Papsttum und Kirchenreform«. Der letztere fügt hinzu, daß dieser Fiskalismus die notwendige Begleiter&cheinung der Zentralisation war, indem eine solche Welt­ regierung wie jede Regierung vor allem Geld kostet. Und es ist bekannt, daß seit der Aufhebung oder Beschränkung jenes älteren Fiskalismus durch das Triden­ tinum das Finanzwesen immer ein schwieriger Punkt im kurialen System ge­ blieben ist. T r o e 1 t s c h, Gesammelte Schriften

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turrecht gehören auch hier zusammen. Alles das ist dann frei­ lich, weil es die eigentliche Wurzel des Anstaltsbegriffs in Priester­ tum, Sakrament und Hierarchie prinzipiell aufzuheben gar nicht denken konnte, schließlich nur zum Sieg der den Anstaltsbegriff konsequent verkörpernden und zentralisierenden Hierarchie ausge­ schlagen ; sie schlug durch Konzessionen kirchlicher Rechte an die Landesherren im Bunde mit ihnen die ganze Bewegung nieder. Aber die einmal entfesselten Gedanken blieben in Wirksamkeit und haben das ihrige zur Unterhöhlung des katholischen Kirchen­ begriffes beigetragen 194). Zum Schlusse ist nicht zu vergessen, daß das ganze Spät­ mittelalter mit dem Wachstum einer seibständigen s t ä d t i s c h e n La i e n k u l t u r überhaupt eine mächtige Konkurrenz gegen die bis­ herige, kirchlich und priesterlich geleitete Ideenwelt schuf. Ihre S. 352: 194) F. v. Bezold, ,Lehre von der Volkssuveränität«, S. 351-358. Die Uebertragung der naturrechtlichen Konstruktion des Staates auch auf die Kirche. S. 353: ,Von den Thesen Langensteins (1381) bis in die Zeit der Kon­ zilien von Pisa und Kostnitz, welche sich uns in Gerson verkörpert, durchlief die Theorie von dem Verhältnis zwischen Papst und Kirche mehrere Stufen, bis sie den Boden der bestehenden Einrichtungen und der kirchlichen Tradition völlig verlassen und sich ganz dem (absoluten, das auch v. Bezold von dem relativen, mit der bestehenden Kirche und Gesellschaft wohl verträglichen Naturrecht der klassischen Theologie und Kirchen-Jurisprudenz nicht unterscheidet) Naturrecht in die Arme geworfen hatte«. »Das Uebergewicht des göttlichen und natürlichen Rechts findet bei Gerson, wie schon bei Marsilius, seinen Ausdruck in der Er­ hebung der Epikie zur obersten und unanfechtbaren Rechtsinstanz. Die Epikie ent­ scheidet, ohne sich auf juristische Spitzfindigkeiten einzulassen, nach ihrem eigenen Maßstab, nach dem einfachen Rechtsgefühl darüber, ob und wie dieses oder jenes Gesetz anzuwenden, umzudeuten oder abzuschaffen sei. Nach diesem höchsten Gesetz soll nun das allgemeine Konzil verfahren, welchem Gerson eine schranken­ lose Macht beilegt.« Diese »Epikie« ist in Wahrheit nur das Recht, gegen etwaige Mißbildungen des relativen Naturrechts und des darauf beruhenden positiver. Rechtes das absolute geltend zu machen. Gerson argumentiert S. 354 f. : > Wenn die kirchlichen Gewalten ihre Pflicht versäumen, so rückt diese heilige Pflicht immer weiter herunter bis zu den Bauern, ja bis zum geringsten alten Weibe. »Für die Sammlung, Beruhigung und Erneuerung der Kirche« , ruft er aus, »müssen nicht nur die weltlichen Fürsten, sondern auch die Bauern und Arbeiter und jeder Gläu­ bige bis auf den allergeringsten eintreten, und wenn es Not tut, ihr Leben daran setzen für die Errettung der ganzen Herde nach dem Beispiel der Alten.«« Und er führt C i c e r o und Valerius Maximus als Zeugen für die antike Bürgertugend an, welche er in den Herzen seiner christlichen Zeitgenossen zu Gunsten einer geistlichen Republik entzünden möchte. S. 356: »Die Konzilsväter ... erwogen

Die städtische Kultur und der Individualismus.

Wirkung war naturgemäß zunächst eine Einschränkung der kirch­ lichen Kultur, dann aber eine zunehmende Auflösung der Objek­ tivierung der Religion im Kirchen- und Anstaltsbegriffe überhaupt. Sie wirkte so, auch wo sie es gar nicht wollte und wußte. Aehnselbst die Möglichkeit, von den Kräften der Massen zum Heil der Kirche Gebrauch zu machen«. Sodann verweist v. Bezold besonders auf Nikolaus von Kues. S. 357: ,Im Naturrecht, welches der menschlichen Vernunft innewohnt, muß jede bindende Bestimmung des positiven Rechtes ihren Ursprung haben. Dadurch steht das einzelne Gesetz mit dem innersten Wesen des Menschen im Zusammenhang. Da aber die M e n s c h e n v o n N a t u r gleich mächtig und g l e i c h f r e i s i n d, besitzt nur die Gesamtheit die konstituierende , Recht und Gewalt schaffende Befugnis.« »Jede Regierung besteht allein durch Uebereinstimmung und freiwillige Unterwerfung aller«. Nicht nur das Königtum, auch das Priestertum sucht er auf diesem Wege zu erklären. »Im Volke sind ... alle Gewalten, die christliche so gut wie die weltliche in der Potenz enthalten.«« Die a 11 e r d i n g s h i n z u t r e t e n d e g ö t t 1 i c h e E i n w i r k u n g , der r a d i u s f o r m a t i v u s , wird dabei ziemlich in den Hintergrund gestellt. « Vergleicht man solche Sätze mit den thomistischen, so springt der Unterschied in die Augen. Nicht das Naturrecht an sich macht den Unterschied, sondern Fassung und Verwendung des Naturrechts. Das radikale , absolute Naturrecht des Urstandes tritt gegen das relative, alle Institutionen rechtfertigende Naturrecht des Sündenstandes auf; und sein Gegen­ satz gegen das letztere ist um so schärfer, als es nicht aristotelisch-thomistisch im Sinne der natürlichen Ungleichheit, sondern stoisch - rationalistisch im Sinne der Gleichheit verstanden ist. Und diesem Naturrecht vermag der Kirchenbegriff keinen rechten Gegenpart mehr zu halten, da er durch das Ideal der reinen spiritualen Kirche und das Recht der Laienkritik nach dem Maßstab der Bibel der festesten Stützen des Anstaltsbegriffes inzwischen beraubt ist. Auch ist durch die Entwicke­ lung des Papsttums in den letzten Jahrhunderten dieses so sehr zum Ausdruck und Inbegriff der einheitlichen Heilsanstalt geworden, daß die Herabdrückung des Papst­ tums im Episkopalismus und im erneuerten Landeskirchentum die Grundbegriffe von der Kirche überhaupt erschüttert. Immerhin sind diese theoretisch den Kir­ chenbegriff auflösenden Bestrebungen nur sekundäre Elemente in dem großen Kampf der Kirchenreform, dessen politischen Kern das interessante Buch von Haller zeigt. ,Sind also diese Ereignisse zum Teil nur Kapitel aus der christ­ lichen Dogmengeschichte, so sind sie zugleich nicht weniger, ja wohl noch mehr eine Phase in dem jahrhundertealten Kampfe zwischen Kirche und Staat, oder sagen wir genauer, zwischen katholischer Kirche und nationalem Staat«; Haller I 479. Doch erkennt neben dem kirchenpolitischen, vom englischen Staatskirchentum aus­ gehenden Impuls Haller die sekundären Elemente der Auflösung des Kirchenbe­ griffes an, indem er auf den ,Pietismus« der Forderung der armen Kirche S. 89, auf den Einfluß des Defensor pacis 340 f. und vor allem Occams, S. 342 f. hinweist. Diese sekundären Elemente haben aber fortgearbeitet, nachdem die Konzilien im erneuerten Papsttum, den Konkordaten und dem Landeskirchentum 27 *

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lieh wie die städtische Entwickelung Italiens dort die Sekten her­ vorgebracht hatte, so hat auch die später folgende des Nordens auf ihre Weise das Laienchristentum begünstigt. Die Denkmale davon liegen in der spätmittelalterlichen Literatur vor, deren be­ rühmtestes Beispiel die auch für Luther und den Protestantismus so anziehende deutsche Theologie ist. Auch die religiösen Volks­ bewegungen des Spätmittelalters setzen die Lockerung des ob­ jektiven Kirchentums voraus 195). In alledem erwächst nun aber freilich ein soziologischer Typus der christlichen Idee, der auch mit dem Sektentum nicht mehr identisch ist, sondern einen neuen Typus bedeutet, der radikale religiöse Individualismus der Mystik. Er sucht überhaupt keine organisierte Gemeinschaft mehr, sondern nur den freien geistigen Gedankenaustausch; und die r e i n g e d a n k 1 i c h e G e m e i n s c h a f t , wozu nun auch die Drucker­ presse erst die Möglichkeit gibt. Daher verschwindet hier auch die Lex Christi und das Naturrecht aus der beherrschenden Stellung. Das Einzelindividuum und die psychologische Versenkung und Ana­ lyse wird alles. Von der Lex Christi bleibt nur das Vorbild Christi. Dieser Typus gewinnt aber seine selbständige universal­ historische Bedeutung erst in den späteren protestantischen Dis­ sentern und in ihren Verwachsungen mit dem Humanismus. Es wird daher von ihm näher erst zu reden sein bei der Darstel­ lung des reinen Individualismus der protestantischen Dissenter. Alle diese Theorien folgen nicht bloß der theoretischen Kon­ sequenz des Gedankens, sondern sind Konsequenzen, die erst durch die den Trieb zur Umbildung und Neubildung weckenden Verhältnisse hervorgeholt sind. Ihre Unterlage ist ein tatsäch­ licher Wandel der allgemeinen Verhältnisse, durch den erst die mittelalterliche Welt wirklich erschüttert worden ist. Diese oft dargestellten Dinge seien hier nur angedeutet. Es emanzipieren sich die politischen und wirtschaftlichen Interessen von dem internatio­ nalen Reich der Kirche und von der einschnürenden Wirtschaftszu einem Ergebnis gelangt waren, das die politischen Forderungen, aber nicht die religiöse Kritik und die Ideale des religiösen Individualismus befriedigte, - Ueber den Einschlag occamistischer und naturrechtlich-demokratischer Ideen in die kon­ ziliare Reformbewegung s. auch K. Müller, K.-G. II 65, 67 f, und K. Köhler a. a. 0. Ueber die ganze Lage, in der die von S. 413 oben geschilderten Theorien sich be­ wegen, und die klare Darstellung bei v. Bezold in •Kultur d, Gegenwart« II, V, l, 190) Vgl. Karl Müller, K,-G. II 154-167, Gothein, Politische und religiöse Volksbewegungen vor der Reformation, 1878,

Auflösung des Mittelalters überhaupt.

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ethik der Kirche. Der Staat, den die christliche Einheitskultur überhaupt nicht in seinem eigentlichen Sinne gekannt hatte, erhebt sich aus den republikanischen Organisationen der Städte, dem Nationalgefühl der Völker, den militärisch-dynastischen Länder­ verbindungen. Der mit Monopolen, Kreditverkehr, Handelsgesell­ schaften und Hausindustrie einsetzende Kapitalismus sprengt die mäßigen Anerkennungen der natürlichen Bedürfnisse , die die einfache kirchliche Ethik allein gekannt hatte. Die mit dem Be­ sitz und der politischen Verselbständigung verbundene Umfor­ mung der Lebensverhältnisse schafft eine Sinnlichkeitskultur, die die kirchliche Einschränkung frommer Weltliebe auf die Seite schiebt. Der von der Kirche und den in ihr enthaltenen stoisch­ neuplatonischen Ueberlieferungen erzogene Individualismus greift nach den künstlerischen Mitteln der Differenzierung und Ausbildung der Persönlichkeit neben den rein religiösen und zieht so Stück für Stück die Antike wieder an das Licht als das Mittel einer Ergänzung und Fortbildung des Individualismus in andern als bloß religiösen Richtungen. Mit alledem tritt die kirchliche Leitung zurück. Literatur, Kunst und Wissenschaft gehen aus der Hand der Kirche in die der Laien über. Unter diesen Umständen erhebt sich neben den andauernden Neubelebungen des kirchlichen Gedankens, neben den subjektivistisch gestimmten Kreisen und Genossenschaf­ ten und neben der kirchlichen und religiösen Indifferenz vor allem jener dritte soziologische Typus der christlichen Idee, der nicht wie die Kirche an der Anstalt und nicht wie die Sekte an der wörtlichen Deutung des Bibelgesetzes hängt, sondern vielmehr ein die christ­ lichen Gedanken frei mit allerhand anderen Elementen verknüp­ fender organisationsloser oder neben der Kirche stehender und sie für die Massen voraussetzender Individualismus ist. Er tritt nunmehr auch mehrfach mit den humanistischen Kreisen in Verbindung und entbehrt, wie er ohne alle eigene soziologische Organisation ist, jeder meßbaren und bestimmten sozialen Wirkung und Idee überhaupt oder schafft soziale Utopien, die aus christlichen und humanistischen Elementen frei gemischt sind, literarische Gedankenspiele, aber keine praktischen Reform- und Gestaltungsversuche. Hier eröffnet der Sozialroman des Thomas Morus die Reihe der freien Idealbildungen. Es ist der Typus, der von der neuen Weile kirchlichen Lebens im 16. und 17. Jahrhundert hinweggespült wird, der aber dann mit der modernen Welt wiederkehrt 196). 196)

Vgl. Dietzel, Beiträge zur Geschichte des Sozialismus (Z. f. Gesch. und

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9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

All das zusammen macht erst die Auflösung der kirchlichen Kultur erklärlich. Aber was auch die letztgenannten vielfach ge­ schilderten Erscheinungen dafür bedeutet haben mögen, die begriff­ liche und gedankliche Erschütterung - und ohne eine solche werden gedanklich begründete Systeme nie wirklich überwunden - geht doch von der Zersetzung des wesentlichen kirchlichen Grundgedankens, von den Wirkungen des Sektentypus, aus, in dem sich der radikale Individualismus und die radikale Liebesethik verbinden gegen den Kirchentypus mit seiner relativen Kultur­ freundlichkeit und seiner Objektivierung und Verdinglichung der religiösen Kräfte. Dabei ist für unsern Zusammenhang entscheidend die Be­ deutung, die dieser Gegensatz nicht bloß für die Auflösung der mittelalterlichen christlichen Einheitskultur hatte, sondern die er überhaupt hat für das V e r s t ä n d n i s d e r c h r i s t 1 i c h e n S o z i a 11 e h r e n a n u n d f ü r s i c h. Dieser zu Beginn dieses Abschnitts ausgesprochene Grundgedanke hat nun seine Beleuch­ tung und Veranschaulichung erfahren, und damit ist seine außer­ ordentliche Bedeutung für das Verständnis dieser Dinge klar ge­ worden. Die Dinge sind im Grund überaus einfach, wenn man sie sehen will, wie sie sind. Das Evangelium selbst bringt wesentlich ein ethisch-religiöses Menschheitsideal, freilich von den einschneidendsten sozialen Fol­ gen. Aber diese Folgen zu ziehen überläßt es der Wunderkraft Gottes, die beim Kommen des Gottesreiches alles ordnen wird. Die aus dem Evangelium entspringende Kult- und Religionsgemein­ schaft ordnet das Leben der Gemeinde im Hinblick auf diese Zu­ kunft, aber doch in Auseinandersetzung mit der provisorisch zu ertragenden Gegenwart und nimmt hier gegenüber den bestehenden Verhältnissen und Ordnungen eine duldende, aber konservative Stellung ein, bloß im eigenen Kreise diejenigen Folgen der Ver­ hältnisse nach Möglichkeit aufhebend, die mit dem neuen ethi­ schen Ideal nicht verträglich sind. Die hieraus erwachsende prieLit. der Staatswissenschaften II). Hier über Th. Morus. Ueber den neuen Typus einer individualistischen Bildungschristlichkeit s. vor allem die wichtigen Arbeiten von Dilthey im ,Archiv f. Gesch. d. Philos.« V u. VI. Wie sehr das Ideal des Morus ein neuer soziologischer Typus der Religiösen ist, lehrt besonders die Untersuchung von Dietzel: Gemeinsamkeit in einem allgemeinen, dem Christentum und der Stoa entstammenden Theismus, und völlige Freigabe der religiösen Sonder­ meinungen im übrigen, zugleich starke Reduktion des Kultus.

Prinzipielle Bedeutung der bisherigen Ergebnisse.

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sterlich-sakramentale Kirche rettet die Absolutheit der Ideale und Kräfte in die hierarchische Kern-Organisation und relativiert ihre praktischen Maßstäbe bis zur Anerkennung der Ordnungen in Staat und Gesellschaft als der durch die Sünde notwendig ge­ wordenen Trübungen und Modifikationen des urständlichen christ­ lich-natürlichen Rechtes. Von dem Dulden und Anerkennen schreitet bei der Zerbrechung der antiken Welt die Kirche auf dem Boden der einfacheren mittelalterlichen Lebensverhältnisse zu einer eigenen selbständigen Gestaltung und Begrenzung der von ihr anzuerkennenden relativ-naturrechtlichen Ordnungen fort und richtet in der päpstlichen Theokratie die christliche Einheitskul­ tur auf, in der das ethische Ideal des Evangeliums mit allen un­ umgänglichen Konzessionen an die Welt versöhnt ist und eine Stufenleiter ethischer Eµtwickelungen vom Weltleben zur mysti­ schen Heiligung und armen Bruderliebe emporfährt. Gegen diese Verdinglichung und gegen diese Relativierung aber reagiert das Evangelium mit seinem radikalen religiösen In­ dividualismus und mit seinen absoluten Forderungen, die schon ganz am Anfang sich nicht überall der kirchlich-konservativen Entwickelung gefügt hatten. In der Sekte kommt die Gemein­ schaft in persönlicher Religiosität und ethischer Leistung zum Ausdruck, setzt sich der Radikalismus des ethischen Gesetzes des Evangeliums durch unter Verwerfung der Konzessionen an das rela­ tive Naturrecht des Sündenstandes. Daraus ergeben sich . dann auch unmittelbar die einschneidenden sozialen Konsequenzen des Evangeliums als praktische Reform der Gesellschaft, in der alles dem Ideal der selbständigen religiösen Persönlichkeit und der vor­ behaltlosen Bruderliebe dienen soll. Zunächst hofft man, dieses Ideal werde von selbst sich durchsetzen, wenn nur erst die ver­ derbte, relativistische Kirche reformiert ist; dann hofft man auf den Wundereingriff Gottes und den chiliastischen Traum; dann greift man unter Berufung auf das alte Testament zur Gewalt und führt einen christlichen Kommunismus durch. Schließlich zieht man sich wieder zurück auf die von der Welt geschiedene Gemeinde, die in der eigenen Mitte das christliche Gesetz aufrichtet und die Ordnungen der Welt als Folgen der Sünde und fremde Um­ gebung duldet, bis deren Stunde einst geschlagen haben wird. In diesen Gegensätzen verläuft die Entwickelung der christ­ lichen Soziallehren. Die Kirche ist das Prinzip des Universalismus und der christlichen Kultur, der geistigen Freiheit, Beweglichkeit

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II. Mittelalter!. Katholizismus,

9. Das absolute Gesetz und die Sekten.

und Anpassungsfähigkeit, aber sie bindet sich an die Inkarnation ihres göttlichen Gehaltes in Dogma und Priestertum, schränkt ihre Relativierungen auf ein eng- gebundenes Maß ein, und fordert die äußere und ausschließliche Herrschaft über Staat und Gesellschaft, um für ihre innerlichen Gnadenwirkungen den Spielraum zu sichern. Damit ist sie gebunden an die allgemeinen Verhältnisse, die eine solche Theokratie und eine solche das Weltleben doch immerhin stark eingrenzende Ethik möglich machen. Indem sie das freiere Prinzip ist, ist sie es nur, weil sie zugleich das dog­ matisch - objektiv und kultisch - institutionell strenger gebundene ist. Die Sekte ist das Pri�zip der subjektiv-persönlichen Wahr­ heit und Verbundenheit und der kompromißlosen evangelischen Maßstäbe. Damit verzichtet sie auf den Universalismus oder kann ihn nur durch die allen evangelischen Maßstäben widersprechende Gewalt herstellen oder muß zur Eschatologie flüchten. Dafür aber betätigt hier der Einzelne das Evangelium auch in seinen so­ zialen Konsequenzen des radikalen Individualismus und der vor keinem Kulturgut Halt machenden Bruderliebe. Sie ist das be­ weglichere und subjektivere, wahrhaftigere und innerlichere Prin­ zip nur, indem sie zugleich das engere und gewaltsamere, an das wörtliche Verständnis des Evangeliums gebundene ist. Ein dritter Typus, der organisationslose religiöse Individualis­ mus mit der Freigebung sehr verschiedener Stellungnahme zu dem Wahrheitskerne des Christentums ragt nur erst als Weis­ sagung kommender Entwickelungen in dieses Widerspiel von Kirchentum und Sektentum herein. Es ist _die unendlich schwierige Lage der christlichen Sozial­ lehren in der modernen Welt, daß einerseits das Christentum nicht mehr ungebrochen kirchlich ist und doch die freie Geistigkeit und Anpassungsfähigkeit der Kirche sucht, ohne die bindenden Garantien des Kirchentums, daß es andrerseits bei seiner Stellung auf subjek­ tive Ueberzeugung und Freiwilligkeit und ethisch-lebendige Bewäh­ rung doch die radikale Kulturlosigkeit, die konventikelhafte Enge, und die an das wörtliche Verständnis des Evangeliums angeschlos­ sene Sozialreform der Sekte nicht ertragen kann. Nicht Kirche und nicht Sekte, hat es weder die dingliche Heiligkeit der Anstalt, noch den radikalen Anschluß an die Bibel. Die christlichen Ideen verbindend mit einem reichen Kreise moderner Anschauungen, die Gesellschaftsordnungen nicht aus dem Sündenfall, sondern aus natürlichen Entwickelungen ableitend, hat es nicht die feste

Abschluß und Vorausblick.

Grenze aller Konzessionen und die soziale Macht, die das Kirchen­ turn hat, aber auch nicht den Radikalismus und den geschlossenen Zusammenhang, mit dem die Sekte Staat und Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft bei Seite setzen kann. In dem vollen Gefühl, die höchsten ethischen Ideale der Menschheit noch heute zu ver­ treten, kann es doch das im Evangelium enthaltene ungeschrie­ bene soziale Programm weder so leicht rein für sich formulieren noch klar auf die widerstrebenden Verhältnisse anwenden. Es ist das Uebergewicht des dritten Typus, das sich allmählich für die gebildete Welt herausgestellt hat. Da gibt es dann nur mehr freie Vereinigungen der Gesinnung, die von Kirche und Sekte gleich weit entfernt sind 197). Daneben arbeiten dann die Kirchen mit den Idealen vergangener Zeiten, wo sie als geistige oder 197) Das lehrt deutlich der an sich so gedankenreiche und ideal gesinnte »Evangelisch-soziale Kongreß«. Er sucht jedesmal eine theologisch-ethische Formu­ lierung der christlich-sozialen Ideen, die nicht sektenmäßig an das wörtliche Ver­ ständnis der Bibel gebunden ist, sondern den ,Geist des Evangeliums« wieder­ gibt, die aber zugleich doch auch nicht den eigentlich religiösen Besitz in die objektiven Anstaltsgüter der Kirche verlegt, sondern mit dem Radikalismus gerade der ethischen Forderungen des Evangeliums Ernst macht. Damit aber hat er dann weder die Sektengemeinschaft noch die Kirchen hinter sich, sondern nur die freie christlich bestimmte und mit den modernen Lebenselementen ausgeglichene ,Ge­ sinnung«. Eine organisierte Gemeinschaft aber, die diese Gesinnung trüge, ist nicht vorhanden; sie wird in Wahrheit von Kirchen oder Sekten zunächst erzogen und ist nur der von beiden losgelöste und zu einem freien Gesinnungsprinzip gewordene »Geist« des Christentums, der ohne eigene soziologische Grundlage nur schwer sozial zu wirken im Stande ist. Dabei treten dann aber auch für diesen »Geist des Christen­ tums« die Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit der Naturbasis der mensch­ lichen Gesellschaft stets von neuem hervor. Man will das geistige, anpassungsfähige Verständnis des Evangeliums und den Universalismus des Volkschristentums, ohne die Relativierungen, wie sie die Kirche vornimmt, und ohne die Bergung des rein göttlichen Elementes in dem Anstaltscharakter der Kirche. Man will den ethischen Radikalis­ mus einer auf die evangelischen Ideale gebauten Gesellschaft, ohne die Enge und Kleinheit der Sekte. Dabei kann man aber doch auch seinerseits den »Geist des Evangeliums« nicht durchsetzen ohne opportunistische Beschränkung auf das er­ reichbar Mögliche und ohne die Entschlossenheit, das Bessere nicht den Feind des Guten sein zu lassen. Wie diese Sachlage nur aus der geschichtlichen Entwicke­ lung verständlich ist, so beleuchtet sie umgekehrt rückwärts wieder die letztere, wo staatsbeherrschende Zwangskirchen oder revolutionäre, auf dem Freiwilligkeits­ prinzip beruhende Sekten die Aufgabe in die Hand genommen und auch ihrerseits beide mit der Naturbasis des sozialen Lebens sich mühsam genug auseinanderzu­ setzen hatten.

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II. Mittelalter!. Katholizismus. 9, Das absolute Gesetz und die Sekten.

faktische Herrscher über Staat und Gesellschaft beide in ihrem Sinne einer christlichen Universalgesellschaft leiten und konstruieren konnten. Neben den Kirchen aber stehen die Sekten und bauen die christliche Gesellschaft als enge Lebenskreise pietistisch­ strenger Observanz in einer fremden Welt. Aus der Geschichte der christlichen Soziallehren erst versteht man diese schwierige, von jedem Aufrichtigen empfundene Lage. Auch hier ist der folgenden Untersuchung vorgegriffen wor­ den. Aber dieser Vorblick erläutert erst den Zusammenhang des Ganzen. Und auch für die nächsten historischen Fragen macht er die Lage klar. Es wird die Auflösung des Spätmittelalters verständlich, da in ihm jener Zwiespalt auseinander zu klaffen beginnt. Es wird aber auch klar, daß die aus dieser großen Gärung sich erhebende religiöse Neubildung, die Reformation, sofort vor der Schicksalsfrage stand : Kirche oder Sekte? Sie hat mit vollem Bewußtsein den Kirchentypus festgehalten und mit ihm den Gedanken einer christlichen Einheitskultur und -gesellschaft. Indem sie dies tat, setzte sie einen wesentlichen Grundzug des Katholizismus fort und tat sie das großenteils mit eben den Mit­ teln, die der Katholizismus hierfür ausgebildet hatte. Aber auch der Sektentypus ist nicht ohne Einwirkung auf den reformatori­ schen Gedanken geblieben, indem mit dem Biblizismus der R e f o r m a t o r e n auch die in der Bibel enthaltenen Keime des Sektengedankens sich regten und Geltung verschafften. Er be­ dingte sowohl die inneren Spannungen seines Kirchenbegriffes und seiner Ethik als die Absplitterung rein sektenhafter und mystisch­ individualistischer Gruppen. Nur als Herausbildung aus den im Laufe des Mittelalters entwickelten christlichen Soziallehren ver­ steht man die neuen Soziallehren des Protestantismus.

Die beiden bisherigen Haupttypen.

III. Der Protestantismus. I. D a s s o z i o l o g i s c h e Pr o b l e m d e s Pr o t e s t a n ­ t i s m u s. Es sind zwei große klassische Typen von Soziallehren, die das mittelalterliche Christentum hervorgebracht hat: erstlich der Typus der ergänzten und relativierten christlichen Gesellschafts­ idee, die im Thomismus sich darstellt, und zweitens der Typus der unergänzten, radikalen christlichen Gesellschaftsidee, wie die Sek­ ten ihn ausgeprägt haben. Das Wesen des ersten ist, daß die Kirche als universale, mit absoluter autoritativer Wahrheit und sakramentaler Wunderkraft ausgestattete Gnaden- und Erlösungs­ anstalt die aus dem relativen Naturgesetz stammenden, den Be­ dingungen des Sündenstandes angepaßten weltlichen Ordnungen, Gruppen und Werte in sich aufnimmt als natürliche Unterstufe und Vorstufe der Gnaden- und Wundersittlichkeit, der geistlich­ hierarchischen Weltorganisation. Das Wesen des zweiten ist, daß die religiöse Gemeinschaft das Gesellschaftsideal rein aus dem Evangelium und dem Gesetz Christi erzeugt, seine Christlichkeit und Heiligkeit in der Verbundenheit und in der Praxis der Indi­ viduen, nicht in den objektiven Garantien der Institution erkennt, daher die außerchristlichen Ordnungen, Gruppen und Werte über­ haupt nicht anerkennt , sondern sie entweder . in stillem weit­ entsagenden Dulden meidet und von sich ausschließt oder in enthusiastisch-eschatologischem Anlauf bekämpft und durch eine rein christliche Ordnung ersetzt. In beiden Fällen ist das Wesen der christlichen Gemeinschaft selbst verschieden gedacht; im er­ sten Falle als Anstalt mit einem von den Individuen unabhängi­ gen Depositum absoluter Wahrheiten und wunderbar versittlichen­ der Sakramentalkräfte, im zweiten als eine aus persönlichem Ent­ schluß und persönlicher Arbeit immer neu hervorgehende Ge­ nossenschaft. Daher im ersten Falle die Möglichkeit, auf die strenge christliche Vollkommenheit zu verzichten oder sie doch auf einen besonderen Stand, den Mönchsstand einzuschränken und daher im zweiten Falle die prinzipielle Forderung solcher Voll­ kommenheit an alle. In beiden Fällen ferner haben die christlichen Grundideen von Sünde und Gnade eine verschiedene Bedeutung. Im ersten dient die Sündenlehre der Akzeptierung der gegebenen

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

weltlich-sozialen Ordnungen, deren bloß relative Unchristlichkeit die Folge der Sünde und mit dieser und um dieser willen er­ tragen werden muß. Zugleich ist die Gnade die diese Ordnun­ gen entsühnende, überbauende und unter eine universale Zen­ tralinstanz beugende Wunderkraft, die selber ihrem Wesen nach als wunderbare Oberinstanz über der Natur, auch der reinen und noch unverdorbenen Natur, empfunden wird und als Uebernatur der Natur im Stufenbau der Entelechien des Weltalls überge­ ordnet ist. Im zweiten Fall erklärt gleichfalls die Sünde die bestehen­ den Ordnungen, Gruppen und Werte des Weltlebens, macht sie aber dadurch nicht unumgänglich, sondern begründet umgekehrt damit die Notwendigkeit ihrer radikalen Verwerfung durch den Christen und der Erzeugung einer sozialen Lebensordnung rein aus den evangelischen Anweisungen heraus. Die Gnade ist dementsprechend dann die Berufung und Erwählung aus der Welt heraus, die Er­ füllung mit Erkenntnis und Kraft der rein evangelischen Sittlich­ keit, die an ihrer subjektiven Wirkung, nicht an ihren institu­ tionellen Trägern erkannt wird, und die Hoffnung auf die Recht­ fertigung der christlichen Gemeinde bei der großen Umwertung aller Weltwerte im Endgericht. Sie ist kein Ueberbau über der zu akzeptierenden sündigen und nichtsündigen Natur, sondern identisch mit der vollen, reinen, idealen Natur des Urstandes und gegenüber der gefallenen Natur nicht eine Entsühnung und Em­ porleitung, sondern ein reiner und radikaler, im wahrhaft christ­ lichen Geiste und seinem Sittengesetz sich aussprechender Gegensatz. Daran knüpft sich eine Reihe weiterer Unterschiede, die der feineren religiösen Psychologie und dem theologischen Denken angehören. Insbesondere steht die Christologie in einem leicht erkennbaren Zusammenhang mit der ihr jeweils korrelaten Idee der Gemein­ schaft, insofern die »Kirche« in Christus den Kirchenstifter und den Begründer des objektiven Gnaden- und Heilsschatzes sieht, wäh­ rend die »Sekte« in ihm den Gesetzgeber, das göttliche Vorbild, die anspornende Kraft, die in unmittelbare Tat sich umsetzende Gegenwart des übergeschichtlichen erhöhten Christus, das unmit­ telbarer Gegenwart und Wirkung fähige Aktivitätsprinzip erkennt. Doch gehört das mehr der Dogmengeschichte an. Das für un­ sern Zusammenhang Entscheidende liegt auf dem Gebiete des soziologischen Grundunterschiedes als Anstalt und Genossenschaft und des damit zusammenhängenden Unterschiedes der Ethik, wo­ nach die einen die christliche Ethik durch die natürliche ergän-

Ein neuer Typus christlicher Soziallehren im Protestantismus.

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zen und dadurch zur Massenbeherrschung fähig werden, während die anderen die Ergänzung verwerfen und dadurch auf kleine duldende oder revolutionäre Kreise beschränkt sind. Die einen akzeptieren eine von den Maßstäben der christlichen verschiedene natürliche Ethik, die anderen verwerfen sie. Die einen betrachten die »Natur« als etwas von der Gnade Verschiedenes, aber von ihr Organisierbares, die anderen betrachten die »wahre Natur« als etwas mit der Gnade Identisches, während sie die gefallene Natur als mit ihr völlig unvereinbar verwerfen. Die Gegensätze reichen bis in das Urchristentum und die alte Kirche zurück. Der erste Keim liegt schon in dem Gegen­ satz des Liebeskommunismus der jerusalemischen Urgemeinde und der konservativen Anpassung an die Gesellschaftsordnung, die Paulus proklamiert hat. Aber ihren vollen Charakter hat die Kirche erst durch die Verstaatlichung im Zeitalter Konstantins erhalten, die ihr die Durchführung ihrer universalen und absoluten Einheit und Herrschaft erst ermöglichte und sie dann befähigte im ger­ manisch-romanischen Mittelalter der mit Hilfe des Staats erwor­ benen Einheit auch den Staat selbst und mit ihm zugleich die ganze nichtreligiöse Kultur zu unterwerfen. Indem aber das Mittelalter erst eine christliche Einheitskultur auf diese Weise schuf, hat es auch erst die Komplementärbewegung, die Sekte, scharf und klar herausgesetzt. Damit ist die Auswirkung der Soziallehren des lateinischen Christentums erschöpft. Neue Aeste an dem Baume der christlichen Soziallehren konnte nur eine gründliche Wandelung der Säfte hervorbringen. Nur eine innere Wandelung und Fortentwickelung der christlichen Idee selbst konnte zu neuen Idealen einer christlichen Gesellschaftslehre führen. Eine solche Neubildung erfolgte bekanntlich in der Krise des Spätmittelalters und brach mit der R e f o r m a t i o n u n d d e m P r o t e s t a n t i s m u s erfolgreich an das Licht. Dabei ist die Refor­ mation durch die in dieser Krisis bereits entwickelten Kräfte positiv und negativ mannigfach bedingt. Zwischen ihr und dem den mittel­ alterlichen Geist klassisch ausdrückenden Thomismus liegen mehr als zwei Jahrhunderte, damit eine Fülle von Gegensätzen gegen diesen und Vermittelungen mit ihm. Teils ist es der Sektentypus mit seinen immer stärker hervortretenden Wirkungen, teils der radi­ kale religiöse Individualismus einer von ihren scholastischen und kirchlichen Voraussetzungen sich befreienden Mystik, teils die

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III. Der Protestantismus.

I, Das soziologische Problem,

kritische Selbstauflösung des thomistischen Systems in der spät­ mittelalterlichen theologischen Schule, dem Nominalismus oder ge­ nauer Occamismus. Für die Reformation war insbesondere der letztere wichtig. Er hatte die Vermittelungen zwischen Vernunft und Offenbarung, den Stufengang von der Natur zur Uebernatur, die Uebereinanderschichtung des konnaturalen und des supranatu­ ralen Zieles der Menschen aufgelöst ; er hatte die psychologische Selbstanalyse durch die empiristische Lehre von der inneren Erfahrung vertieft, den rein positiven Willenscharakter der gött­ lichen Setzungen betont und die Sakramente aus Eingießungen der Uebernatur in Eingießungen der an sich der menschlichen Natur zukommenden, aber durch die Sünde verlorenen Gerech­ tigkeit verwandelt. Im übrigen aber war er doch bei den eigen­ tümlich katholischen Grundgedanken der universalen Kirchenherr­ schaft geblieben, hierin Occams und der konziliaren Theologen Be­ sonderheiten abstreifend, und bei dem Gedanken der christlichen Einheitskultur ; hierbei fuhr neben der jetzt viel stärker betonten positiven göttlichen Anordnung das sittliche Naturgesetz immer noch zu spielen seine Rolle fort. Durch Verträge der Staaten und der Kirche war das alte Kirchenwesen juristisch und dogmatisch wieder gesichert, aber Dogma und Ethos blieben in Bewegung und eine kirchenfeindliche Stimmung blieb im Grund der Be­ völkerungen. Es war im ganzen eine Wiederauflösung der vom Thomismus geschaffenen Einheit von Dogma und Philosophie, von natürlicher und übernatürlicher Moral, von Naturgesetz und positiver göttlicher Willenssetzung , in der sich die allgemeine Entzweiung des kirchlichen und des weltlichen Lebens spiegelte, die aber durch verstärkte Betonung der göttlichen Autorität den alten kirchlichen Einheitsgedanken festhielt und im übrigen der Vernunft und den natürlichen Kräften ein Ventil in den Selbstdispositionen für die Gnade, in der Mitwirkung des freien Willens, öffnete. Aus dieser Schule ging auch Luther hervor; der Thomismus lag hinter ihm bereits in weiter Ferne. Gegen sie richtete sich zunächst seine Polemik; aber ihre Fragestellungen, ihre dualistische und autoritative Denkweise, ihr Irrationalismus gegenüber der Philosophie und ihr Psychologismus in der Analyse der inneren Erfahrungen waren zugleich seine nächsten und eigent­ lichsten positiven Voraussetzungen. Doch gehören diese erst in der Aufhellung begriffenen Voraussetzungen nicht weiter in den Rahmen dieser Untersuchungen. Uns interessiert hier nur das

Das Zentrum des Neuen liegt in Luthers Persönlichkeit.

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Ergebnis und die neue religiöse Idee der Reformation 19 7a). Unsere Frage ist daher: worin bestand jener Wandel der christlichen Idee, welches sind die neuen religiösen Ideen und welches sind deren soziologische Folgen ? So mannigfach die in der Reformation und dem Protestan­ tismus zusammenströmenden Kräfte waren, so reich und vielseitig die aus ihr hervorgehenden Gruppen und Persönlichkeiten sich entwickelten, in den wesentlichen Grundgedanken lebten sie alle von den Ideen L u t h e r s , der für die dogmatischen Hauptideen aller Gruppen schlechthin entscheidend war, so weit sie nachher auch auseinandergehen mochten. Nur die humanistischen Gruppen waren unabhängig von ihm, haben dafür aber auch rasch ihre Bedeutung neben ihm verloren, wenigstens für die nächsten Jahr­ hunderte; nur wissenschaftlich und schulmäßig haben sie dem Protestantismus ihre Kräfte zugeführt, ebenso wie dem erneuerten Katholizismus. Es handelt sich also grundlegend um die religiösen Ideen Luthers und um die soziologischen Folgerungen aus ihnen. 191 8) Hiefür ist besonders Denifles bekannte Lutherbiographie hervorzuheben, die mit Recht betont, daß Luther nicht am Thomismus orientiert ist, ja ihn über­ haupt nur sehr eingeschränkt kennt. Wenn er darauf den Vorwurf begründet, Luther habe die eigentliche große katholische Wissenschaft überhaupt nicht ge­ kannt und in seiner Unwissenheit sich in eine minderwertige katholische Wissen­ schaft verbissen und damit überhaupt das Ziel seiner Polemik völlig verfehlt, so gehört das zur modernen katholischen Apologetik. In Wahrheit ist der Occamis­ mus die Auflösung der unhaltbar gewordenen Einheit der katholischen Kultur und Theologie und insofeme der naturgemäße Boden für eine neue Zusammenfassung und Ausgestaltung der christlichen Idee. Vgl. hierzu W, Köhler, Ein Wort zu Denifles Luther, 1904, Die Begründung von Luthers Ideenbildung auf den Occa­ mismus ist stark und mit Recht hervorgehoben in dem höchst interessanten ,Buche Hermelinks, >Die theologische Fakultät in Tübingen 1477-1534«, 1906, in der zum erstenmal das Verhältnis von Thomismus und Occamismus in dieser wichtigen Wendezeit klargestellt ist (vgl. hierzu meine Anzeige in G.G.A. 1909), Die oben vollzogene Hervorhebung der für die lutherische Idee positiv bedeutsamen Punkte folgt Linsenmann, Gabriel Biel und der Nominalismus, Theol. Quartal­ schrift 1865, Immerhin setzt aber auch dieser Nominalismus die Grundzüge der mittelalterlichen Christlichkeit fort, insofeme auch ihm die universale Kirche und die Christlichkeit der ganzen Gesellschaft selbstverständliche Voraussetzungen bleiben; es wird nur die Mitwirkung der Laien, der weltlichen Gewalten, der Konzilien an diesem Ideal stärker betont und der rationell-metaphysische Untergrund der Theo­ logie beseitigt, ihr Autoritäts- und Offenbarungscharakter gesteigert.

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

Hier ist nun hervorzuheben, daß bei aller Begründung in einem Jahrhunderte umfassenden inneren Wandel der Gesamtlage Luthers religiöse Idee doch eine hohe persönliche Originalität hat und vor allem, daß sie rein aus d e r i n n e r e n B e w e g u n g d e s r e l i ­ g i ö s e n G e d a n k e n s s e 1 b s t h e r v o r g e h t. Sie ist nicht als Reflex sozialer oder gar wirtschaftlicher Umwandelungen ent­ standen, sondern hat ihren wesentlich selbständigen Grund in der Initiative des religiösen Gedankens, aus dem die sozialen, wirt­ schaftlichen und politischen Konsequenzen erst hervorgehen. Für die Durchsetzung und den Sieg, die praktische Organisation und Gestaltung kommen dann freilich diese letztgenannten Kausalitäten ganz außerordentlich stark in Betracht. Aber bei der grund­ legenden Entstehung selbst haben sie nichts zu suchen. Hier herrscht die Kausalität des rein religiösen Denkens. Höchstens indirekt sind allerdings auch hier gewisse Einflüsse von jenen Elementen her zu erkennen. Die von Luther verarbeiteten Ge­ dankenmassen der nominalistischen Spätscholastik, der Mystik, der Oppositionsparteien sind nämlich ihrerseits zweifellos nicht ohne Zusammenhang mit den sozialen Wandelungen des Spät­ mittelalters. Die ganze darin ausgedrückte Individualisierung der Frömmigkeit und die Ablösung des religiösen Interesses von dem weltlich-politischen ist eine Folge der allgemeinen Verhältnisse, der städtischen Kultur, der Verselbständigung der Staaten und der wirtschaftlichen Interessen. Aber diese indirekte Wirkung ist eben nur eine indirekte. Sie machte nur den Boden frei für neue Konzeptionen, die aus den ganz persönlichen Kämpfen und Ar­ beiten des Erfurter und Wittenberger Mönches hervorgingen, und hält sie unter dem Einfluß einer Atmosphäre, in der eine starke religiöse Innerlichkeit mit Tätigkeits- und Ordnungstrieb verbun­ den ist. Das aber ist die Atmosphäre der damaligen deutschen städtischen Kultur. Wie überall an den großen Knotenpunkten der Geschichte ist es ein Zusammenwirken verschiedener, von einander unabhängiger Kausalitäten, die nur der doktrinäre Fana­ tismus auf eine einzige zurückführen wollen kann. Unter diesen verschiedenen Kausalitäten ist aber zunächst in diesem Falle die des religiösen Gedankens die schlechthin beherrschende und Anstoß gebende. Ebendeshalb kann man auch die reformatori­ sche Ideenwelt mit keiner bestimmten sozialen Klasse in Ver­ bindung bringen. Sie hat Bauern und demokratische Hand­ werker, städtisches Patriziat und Literatenwelt, den niederen im

Frage der Klassenbedingtheit der reformatorischen Idee.

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Kampf um seine Existenz begriffenen Adel , den hohen Adel der territorialfürstlichen Lan.dherren, die städtischen Magistrate, die Zünfte und die städtischen Proletarier , ergriffen. Sie ist zunächst überhaupt von keiner sozialen Gruppe bedingt. Wenn man trotzdem ihr im ganzen einen bürgerlichen Charakter zuer­ kennen will und in gewissem Sinne auch kann, wenn man sie gegen die seigneurale frühmittelalterliche Kirche und gegen die demokratisch und proletarisch infizierten Sekten kontrastiert, so hat dies seinen Grund nur in jenem indirekten Zusammenhang. Dieser aber wieder beruht auf der psychologisch leicht verständ­ lichen Tatsache, daß alle breite Massen ergreifende Individuali­ sierung des geistigen Lebens überhaupt mit der Städtebildung zusal?menhängt; innerhalb der städtischen Elemente aber ging die aus rein religiösen Gründen stark konservativ gesinnte Re­ formation mit den bürgerlichen Elementen zusammen, während das Proletariat dem radikaleren protestantischen Sektentypus größtenteils folgte. Erst der weitere praktische Gang der Dinge hat dann die Reformation zum Anschluß an die die Ordnung verbürgenden Gewalten, d. h. an die Landesherren genötigt, was somit ihrem grundlegend bürgerlichen Charakter keinen Eintrag tut. Das ist aber ein sehr verwickelter und nichts weniger als geradliniger und unmittelbar bestimmender Zusammenhang. Die Richtung selbst, die der individualisierte religiöse Gedanke hier genommen hat, geht vielmehr rein aus seinen eigenen inneren Kämpfen und Spannungen hervor 198). 198) Die Ableitung der Reformation aus Klassenbewegungen ist selbstverständ­ lich die Position Kautskys: ,Sozialismus in Einzeldarstellungen« I. 1, S. 239-251. Ihm ist Luther der Agitator, der der kommunistisch-demokratischen Opposition, und der charakterlose Höfling, der dem aufsteigenden Absolutismus die religiöse Legitimation verschafft ; auf dieser Doppelstellung beruhe seine große Wirkung. Der eigentliche Heros der Reformation ist Thomas Münzer, der das zweite häß­ liche Interesse Luthers nicht hatte. Begründungen sind in der ganz oberfläch­ lichen und verständnislosen Skizze nicht gegeben. Aehnlich faßt von dem Dogma der >kollektivistischen« Geschichtserklärung aus Kalthoff >Das Zeitalter der Refor­ mation«, hg. von Steudel 1907, die Sache auf. Der Herausgeber sagt: ,In den wirtschaftlichen und Klassenkämpfen läßt uns K. die innersten treibenden Faktoren jener ganzen gewaltigen kulturellen Umwälzung erkennen und die darin hervor­ tretenden Persönlichkeiten aus dem Kampf zwischen absterbenden und neu sich durchsetzenden Interessengruppen verstehen«, S. VIII. Allein dieses Programm wird überhaupt nicht einmal versucht durchzuführen. K. begnügt sich, ganz allgemein auf den bürgerlichen Charakter der Reformation hinzuweisen, und veranschaulicht T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

Welches ist nun die r e l i g i ö s e I d e e L u t h e r s , wie sie der soziologischen Gestaltung des Protestantismus zugrunde liegt? Man pflegt den Protestantismus als die Wiedererhebung der das vor allem an Dürer und Hans Sachs. Darin liegt unzweifelhaft etwas Berech­ tigtes, aber es ist keine Ableitung aus Klasseninteressen. - Die indirekte Bedeu­ tung der städtischen Entwickelung, der Laizisierung der Religion und der bürgerlich­ weltlichen Lebenstüchtigkeit ist stark betont von Dilthey: >Die Glaubenslehre der Reformatoren« (Preuß. Jahrbb. 7 5, 1894), und von Arnold Berger: »Die Kultur­ aufgaben der Reformation« 1895 und Lutherbiographie 1 2, 1908. Hier ist mit vollem Recht die reformatorische Bewegung in den unentbehrlichen breiten kultur­ geschichtlichen Rahmen gestellt. Aber, wie es bei solcher Zusammenschau leicht geschieht, verschwimmen hierbei die in Luther zusammenmündenden Linien in großer Unbestimmtheit und leidet auch die bestimmt - konkrete Auffassung von Luthers eigener Entwickelung, Luther ist doch eben ganz wesentlich Mönch, der zunächst den großen mittelalterlichen Weg der Verwirklichung und Konzentration des religiösen Lebens, den Weg des Mönchtums, geht, und der Theologe, der aus eigenem inneren Erleben und theologischen Studium der Spätscholastik, der Mystik, Augustins, Bernhards und des Neuen Testaments seine Positionen gewinnt und erst von hier aus in die Beziehungen zu den Strömungen der Zeit eintritt. Auch ist hierbei übersehen, daß Luther aus dem Kirchenbegriff heraus arbeitet und diesen umgestaltet, aber nicht durch eine kirchenfreie Mystik und Laienreligion ihn er­ setzt. Dadurch sind ihm von vorneherein die Ziele vorgezeichnet, die ihm die kirchliche Objektivität von Wort und Sakrament und die weiteren Folgen des Kir­ chenbegriffes vorschreiben, von denen sofort näher zu handeln ist, Deshalb ist er auch in erster Linie kirchlicher Theologe und sowohl von den Sektenhäuptern als von den ganz individualistisch denkenden Vertretern einer reinen Laienreligion scharf zu unterscheiden. Deshalb irren alle Darstellungen, die ihn nicht als Re­ formator der Kirche, sondern als Vertreter der rein individualistischen, von den heutigen Modemen bevorzugten Laienreligion auffassen und um deswillen in eine allzustarke historische Kontinuität mit der spätmittelalterlichen Laienreligion und dem bürgerlichen Denken statt mit der eigentlichen theologischen Ueberlieferung stellen. Die Einwirkungen des ersteren Elementes in seiner vormönchischen Zeit und durch das Medium der jedenfalls neue soziologische Positionen enthaltenden Spätscholastik, der Mystik und des Humanismus sind überhaupt noch erst genauer festzustellen, soweit etwas Derartiges bei solchen Unmeßbarkeiten möglich ist, Das Verhältnis seiner bereits in den Grundzügen ausgebildeten Lehre und der lutherischen Propaganda zu den sozialen Strömungen der Zeit ist jetzt beleuchtet in dem wichtigen Werke von Barge: »Andreas Bodenstein von Karlstadt«, 2 Bd., 1905. Hiernach steht L u t h e r s e i g e n e L e h r e in ihrer fertig ausgebildeten Gestalt überall auf Seite der Regierungen und ihrer Ordnungsinteressen, die eine kirch­ liche Reform, die Brechung der Hierarchie, die Säkularisation und eine moralisch­ autoritative Bemeisterung der aufgeregten Bevölkerungen verlangen; Luther selbst

Religiöse Idee Luthers.

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paulinischen und augustinischen Gnadenreligion gegen die katho­ lische Gesetzesreligion zu bezeichnen. Das trifft auch in der Tat das Wesentliche der Sache, aber es bedarf einer sehr bestimmten Erläuterung. Denn in dieser Wiedererhebung liegt der Schwerist für soziale Reformen nur in diesem Rahmen interessiert, nachdem die ersten großen idealen Reformwünsche der Schrift an den Adel und der dann bei Ver­ sagung des Adels eintretenden Wendung auf kleine Gemeinden echter Christen mit einer christlichen Kastenordnung an den realen Verhältnissen gescheitert waren. Ihm liegt an einer Sozialreform immer nur in zweiter Linie und auch hier nur um deswillen, weil damit bessere Voraussetzuugen für das religiöse Leben gewonnen werden. Er ist eben rein religiös interessiert und im übrigen eine durchaus kon­ servative Natur. Daneben gab es die sozialrevolutionären Be s t r e b u n g e n d e r B a u e r n u n d d e s P r o I e t a r i a t s der großen Städte, deren religiöse Beimischungen aber mehr hussitisch - taboritischer Art sind und die von der lutherischen Bewegung zwar mit erregt, aber nicht geistig und theologisc? be­ stimmt sind. Schließlich gibt es eine dritte , von Barge besonders hervorge­ hobene Gruppe kleinhandwerkerlicher R e f o r m b e w e g u n g e n , denen die Pfarrer und Schulmeister nahestehen; sie wollen in einem lang genährten Kir­ chenhaß ein freies Laien- und Gemeindechristentum, das kultisch den Katholi­ zismus radikal beseitigt, theologisch die Amts- und Autoritätskirche aufhebt und sozialethisch allerhand Reformen unter Wahrung des Staates und der Rechts­ ordnung im Sinne strengerer Christlichkeit der Lebensführung und karitativer Für­ sorge, auch elementare christlich-soziale Reformen der Gesellschaft überhaupt, durch­ führt ; alles aber nicht durch die Landesfürsten, sondern durch die Ortsobrigkeiten und Gemeindevertretungen; die letzteren Kreise nehmen die radikal - antisakra­ mentale Theologie in sich anf und sind der Nährboden der Täufer, da überall die Landesherren oder stärkere Nachbargewalten derartige kommunale Selbständigkeit unterdrücken. Auch fehlt hier jeder klare Gedanke über eine umfassende und einheitliche Neugestaltung der Kirche, wie sie später der Calvinismus aus ähnlichen Ideen heraus entwickelte. Es sind lokale Provisorien mit der Erwartung, daß irgendwie die Ordnung der Gesamtkirche sich schon finden werde. Als diese, wie selbstverständlich, von hier aus sich nicht ergab, wurden diese Bestrebungen reif für die Bildung separierter Gemeinden oder der Täufer. So zeigt sich auch von dieser Seite her, daß von einer einheitlichen Klassenbedingtheit der reformatorischen Lehre und ihrer Entwickelung nicht die Rede sein kann. Eine sehr große Rolle spielt dagegen, wie Barge mehrfach hervorhebt, die im Spätmittelalter entstandene Abneigung gegen die katholische Kirche und die Laienselbständigkeit, welch letz­ tere selbstverständlich weitverzweigte Wurzeln in nicht bloß ideellen Gegensätzen, sondern in realen sozialen Tatsachen hat. Immerhin aber darf man in einer so stark von religiösen Ideen durchsetzten Zeit die selbständige Bedeutung des Bibel­ studiums durch die Masse nicht unterschätzen. Die ungeheure Streitliteratur mit ihrer für den modernen Menschen ganz unverständlichen Bemühung um Bibelaus28 *

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III. Der Protestantismus.

l. Das soziologische Problem.

punkt nicht sowohl in dem Radikalismus der Geltendmachung der Gnade gegen das Gesetz als in dem neuen Begriff dessen, was die Gnade ist. Die Betonung der reinen Gnade und der Aus­ schluß des freien Willens richtete sich doch unmittelbar nur gegen die herrschende spätscholastische Lehre, die Luther vorfand und aus der er herauswuchs. Nicht aber trifft er damit den Katho­ lizismus überhaupt 199). Ihm als Ganzem gegenüber liegt sein Gegensatz noch tiefer. Auch der Katholizismus war Gnaden­ religion. Aber er hatte die Gnade als sakramentale Gnade der Uebernatur angesehen, als ein durch die Hierarchie einzuflößen­ des, höheres und mystisches, der Kirche anvertrautes Wunder­ wesen mit der Doppelwirkung der Sündenvergebung und der mystischen Wesensüberhöhung der Menschen. Mit diesem Gnaden­ begriff hatte sich leicht der des Gesetzes verbunden. Denn diese Gnade mußte, sollte ihr ethischer Charakter gewahrt werden, vor­ bereitet sein durch ethische Prüfung und durch ernstes Heilig­ keitsstreben, die beide sich am Gesetz maßen; sie mußte aus demselben Grunde bewährt werden in guten Werken, die wiederum am Gesetz zu messen waren und die ohne Schaden im Schema des Gesetzesbegriffes gedacht werden konnten, wenn es doch die Wundermacht der eingegossenen Gnade war, die so unter Be­ freiung der natürlichen Kräfte des Menschen im Grunde allein die guten Werke und Verdienste hervorbrachte. Die neue Idee Luthers ist daher nicht bloß die radikale auf Kompromisse mit dem Gesetzesbegriff verzichtende Geltendmachung der Gnade überlegungen ist nur aus einem selbständigen religiösen Interesse an der Bibelgemäß­ heit von Lehre und Leben zu verstehen. Außerdem ist, wie überall bei solchen allgemeinen Erregungen, mit einem Bodensatz von Demagogie zu rechnen, die die buntesten und verworrensten, aber eben darum auch bedeutungslose und prinziplose Wildheiten emportreibt. - Indem ich den wichtigsten Inhalt des Bargeschen Buches so wiedergebe, drücke ich zugleich meine Abweichungen von ihm aus. Der >laien­ christliche Puritanismus«, als dessen Apostel er Karlstadt mit starker Parteinahme (s. Karl Müller, Luther und Karlstadt, 1907) schildert, ist weder die eigentliche Konsequenz der lutherischen Idee - darüber gleich mehr -, noch ist er ein für deutsche Verhältnisse irgendwie aussichtsreiches Programm; warum, wird sich bei Analyse des Calvinismus zeigen. 199) Das ist stark betont von Krogh-Tonningh, ,Der letzte Scholastiker«, 1904, womit der Thomist und holländische Karthäuser Dionysius gemeint ist. Der Gegen­ satz liegt aber eben auch nicht in der Polemik gegen den nominalistischen Semi­ pelagianismus, sondern in dem Gnadenbegriff, der auch dem prädestinatianischen Thomas entgegengesetzt ist.

Religiöse Idee Luthers,

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haupt, sondern noch mehr die eines n e u e n S i n n e s d e r G n a d e s e 1 b s t. Andererseits hat ja auch Luther und der Protestantis­ mus die Gesetzesidee keineswegs wirklich aus dem religiösen Zen­ trum beseitigt. Das Gesetz blieb als Erreger der Buße und als Voraussetzung des Glaubens und des Gnadenevangeliums.' Das Gesetz blieb als nächster und erster Ausdruck des göttlichen Willens und Wesens, das nur einen freudigen und willigen Ge­ horsam aus Liebe und Vertrauen, aber eben doch eine Erfüllung des voll und spiritual verstandenen Gesetzes forderte. Das Ge­ setz blieb als Voraussetzung des Erlösungswerkes Christi, der in seinem Tode das Gesetz vernichtete und erst die Gnadenord­ nung frei machte. Das Gesetz blieb schließlich, wenn auch in sehr unklarer Stellung, als Regel für das Handeln im Gnaden­ stande, nur jetzt ohne Verdienst und Heilsbegründung, weil die das Heil begründende Gnade nicht Verdienste und gute Werke, sondern eine neue als ganze und im Prinzip Gott bereits ver­ bundene Person hervorbringt. Es zeigt sich also auch von dieser Seite her, daß das Neue nicht in der Ueberwindung des Gesetzesbe­ griffes an sich, sondern in dem besonderen Inhalt des Gnaden­ begriffes liegt, der dem Gesetz eine andere Bedeutung und Stel­ lung zuweist als der katholische Gnadenbegriff getan hat. Das Wesentliche dieses neuen Gnadenbegriffes ist nun aber, daß die Gnade nicht mehr eine sakramental einzugießende, mystische Wundersubstanz, sondern eine v o n G 1 a u b e , U e b e r z e u ­ g u n g, G e s i n n u n g, E r ken n t n i s u n d V e r t r a u e n a n z u e i g n e n d e G o t t e s g e s i n n un g , d e r i m E v a n g e­ l i u m u n d i n Ch r i s ti Li e b e u n d G e s i n n u n g z u d e n Me n s c h e n e r k e n n b are s ü n d e n v e r geb e n d e Li e ­ b e s w i 11 e G o t t e s i s t 200). Die Religion tritt in die Sphäre 200) Gut formuliert bei Preuß, Die Entwickelung des Schriftprinzips bei Luther bis zur Leipziger Disputation, 1901, S, 34: Scholastisch e Lehre war, daß >die Sakramente des neuen Bundes opere operato die rein sachlich als ethische und religiöse Kraft gedachte Gnade wirken, Verlangt wird n ur, daß der betreffende keinen Riegel vorschiebe. Das entsprach durchaus der ganzen mittelalterlichen Grundanschauung, die das Verhältnis von Gott und Mensch als ein sozusagen dingliches, als einen Austausch von Handeln und Handeln, als ein Leistungs- und Lohnverhältnis auffaßte. Diese Anschauung, die auch Luther in seinen Anfängen teilte, die i h n a b e r s o w e n i g b e f r i e d i g e n k o n n t e , daß sie ihn viel­ mehr in Verzweiflung trieb, war für ihn seit jenem grundlegenden Erlebnis im Prinzip überwunden. An die Stelle des alten trat jetzt ein durch Gottes G n a d e,

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

des Gedanklichen, des Psychologischen, des Geistes, aus der des Dinglichen und Substanziellen, das von Gedanke und Gesinnung nur begleitet war. Sie soll darum nicht aufhören ein Wunder zu sein. Denn das Wunder besteht nun darin, daß der Mensch in seiner Schwäche, Trotzigkeit, Verzweiflung und Unreinheit einen solchen Gedanken aus dem Evangelium heraus fassen kann; er kann es so wenig aus eigenen natürlichen Kräften und der religiös er­ lösende Gedanke liegt so weit aus dem Gebiete der natürlichen Gedankenbewegung, daß er nur durch das Wunder der Prädesti­ nation zustande kommen kann. Es ist ein inneres Wunder des Glau­ bens an das Evangelium und Christus, nicht ein innerlich-äußerliches Wunder der hierarchisch-sakramentalen Gnadeneingießung mit der Folge der Kraft zu guten Werken und Verdiensten. Es ist auch nicht ein beliebig veränderlicher und beweglicher Gedanke, son­ dern eine mit absoluter Offenbarungsgewißheit dargebotene Er­ kenntnis, die von dem Bilde des menschgewordenen, leidenden und auferstandenen Gottessohnes ausgeht und in der Bibel eine absolut wunderbare und authentische Darstellung dieses Christus­ bildes besitzt, wenn auch die Bibel im einzelnen nicht frei ist von allerhand Menschlichkeiten. In der so durch das » Wort« gewirkten Glaubensgesinnung liegt daher für den Protestantismus der Kern der Religion, wie er für den Katholizismus in Priestertum und Sakrament, Gehorsam und Mystik, liegt. Es ist die Glaubensd i e n u r a l s p e r s ö n l i c h e Zu w end u n g G o t t e s z u m S ü n d e r v e r ­ s t a n d e n wurde, und des Menschen Glauben, d. i. sein persönliches Vertrauen zu Gott bestimmtes, rein persönliches Verhältnis«. Daß Luther im katholischen Sakra­ ment keinen Frieden und in der Selbstdisposition für das Sakrament nur Sünden­ angst, Gesetzesdruck und Eigengerechtigkeit empfinden konnte, das ist das Ent­ scheidende. Hieran zeigt sich die andersartige religiöse Empfindung und von hier geht die Berufung auf die paulinische Gnadengewißheit in Christo aus. Auch Böhmer (Luther im Licht der neueren Forschung, 1906) 1 der erst mein Mißverständ­ nis tadelt, daß eine allerdings wichtige Konsequenz, die Sakramentslehre, zum Aus­ gangspunkt von mir gemacht würde, sagt das Gleiche: »Die Gnade wird von ihm nicht mehr aufgefaßt als eine übernatürliche Kraft oder Medizin, die dem Menschen durch die Sakramente eingegossen wird und dann doch geistige und sittliche Wir­ kungen hervorbringen soll, sondern als eine Gesinnung Gottes, die in dem •Worte Gottes« verkündigt wird und durch das Mittel des Wortes wirkt, wie auch sonst die Kundgebung einer Gesinnung durch das Wort wirkt.« S. 17. Genau, das ist meine Meinung, und was Böhmer gegen mich sagt, ist Mißverständnis. Genau wie meine These ist Gottschicks Definition, Die Lehre der Ref. v. d. Taufe, 1906, s. 13.

Folgerungen aus der religiösen Idee.

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und Ueberzeugungsreligion an Stelle der hierarchisch-sakramen­ talen Religion ; die zwei verbleibenden protestantischen Sakra­ mente sind besondere Darstellungsarten des Evangeliums und ent­ halten inhaltlich nichts, was über die Wirkung des Bibelwortes hinausginge, sind daher keine Sakramente mehr im katholischen Sinne 201). In dieser Grundstellung liegen nun aber die weiteren Folge­ rungen teils unmittelbar teils mittelbar enthalten. Er s t 1 i c h ist es die Reduktion der ganzen Religion auf das201) Hierzu und zum Folgenden vgl. meine Darstellung in Kultur der Gegen­ wart I, IV, 1: •Protestantisches Christentum und Kirche«. Dort ist auch die meiner Auffassung zugrunde liegende Literatur verzeichnet. In der zweiten Auflage 1909 bin ich auf die erhobenen Widersprüche eingegangen. Sie haben im wesent­ lichen an der sachlichen Auffassung nichts geändert, sondern wenden sich nur gegen meine Kontrastierung der reformatorischen Ideenwelt gegen die moderne Ideenwelt. Das aber ist ein Gesichtspunkt, der für die Gesamtdarstellung des Protestantismus unumgänglich ist, weil seine gegenwärtige Krisis daraus allein zu verstehen ist. Für die vorliegende Darstellung fällt dieser Gesichtspunkt weg. Hier handelt es sich lediglich um das Besondere der konfessionell-protestantischen Soziallehren gegenüber den lateinisch-katholischen und den altchristlichen. Doch wird sich auch hier zeigen, daß hier Grundvoraussetzungen fortgeführt sind, die erst der lateinische Katholizismus erworben hat; ja von der soziologischen und ethi­ schen Seite her zeigt sich die Kontinuität noch viel deutlicher als von der rein dog­ matischen her, die die Theologen meist allein im Auge haben. Indem nämlich die geschlossene Herrschaft einer religiösen Autorität und die dementsprechende stabile Verfassung der profanen Gesellschaft wie des profanen Denkens dem Mittel­ alter und dem Altprotestantismus gemeinsam sind und eben auf dieser Geschlossen­ heit, Autorität und Stabilität in beiden Fällen das ganze System beruht, indem ferner diese Geschlossenheit und Stabilität einer nach ihrer geistlichen und weltlichen Seite festgelegten christlichen Kultur und Gesellschaft theoretisch wie faktisch erst das Werk des Mittelalters ist, bildet dieses die Voraussetzung des Protestantismus und wirkt seine Idee im Protestantismus weiter. Die tiefgreifenden Unterschiede sind dabei selbstverständlich nicht zu übersehen, aber sie bewegen sich innerhalb eines gemeinsamen Rahmens. Und eben dieser gemeinsame Rahmen ist es, den die moderne Welt zerbrochen hat; ja, das ist dasjenige, was an ihr allein ganz deutlich als ihr Charakter zu fixieren ist; s. meine Abhandlung ,Das Wesen des modernen Geistes«, Preuß. Jahrbb. 1907. Mit der Zerbrechung dieses Rahmens werden aber dann die der modernen Welt verwandten Motive des Protestantismus erst frei gesetzt und finden eine Entwickelung, die von dem Sinn und Geist der Reformatoren weit abführt, bei denen jener Rahmen mit dem Gegem.tande selbst aufs engste zusammenhing. S. meinen Aufsatz: ,Luther und die moderne Welt« in ,Das Christentum«, Leipzig 1907.

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

jenige, was allein Gegenstand von Glaube, Vertrauen und Gesinnung sein kann, d. h. auf den aus dem apostolischen Christusbilde zu schöpfenden Gedanken von Gott als dem heiligen, Sünden ver­ gebenden und dadurch in ein höheres Leben emporhebenden Gnadenwillen. Weiter gehört zu diesem Gedanken nur, was ihn für den Sünder gewiß machen kann, nämlich die Erkenntnis von Gottes Offenbarung und Herablassung in dem menschgewordenen Gottes­ sohne oder Logos. Und auch an diesem Christusbilde sind nicht seine dunklen und geheimnisvollen Wesensgründe, sondern die in seiner Herablassung zu Menschwerdung, Leiden und Güte liegende Vergewisserung über Gottes sündenvergebende Liebe das Wichtige. Das ist eine ungeheuere Reduktion des Dogmas und eine neue Begründung des Dogmas auf die gefühlte, Glaube und Vertrauen weckende Kraft. Die unbedingte Autorität des all das verbür­ genden apostolische Christusbildes versteht sich zusammen mit dem Wundercharakter der Bibel von selbst. Das Problem ist nicht, wie man dies beweisen, sondern wie man dessen persönlich sich getrösten könne, was nur durch die prädestinatianische Wun­ derwirkung des den Glauben wirkenden Gottes selber möglich ist. In jeder Regung des Vertrauens darf der Gläubige die errettende Wundermacht Gottes spüren. Zw e i t e n s liegt hierin der religiöse Individualismus, die durch Menschen und Priester nicht vermittelte Innerlichkeit der Gottesgemeinschaft. Damit entfällt jede Vermittelung durch Hierarchie und Sakramentseingießung, die sich ja gegenseitig be­ dingen. Die Konsequenz ist das allgemeine Priestertum und die Laienreligion, die Neubelebung der urchristlichen Selbständigkeit und Autonomie der vom »Geiste« gewirkten Gotteserkenntnis. Darin begegnet sich Luther mit den entsprechenden, gleichfalls aus der Bibel entspringenden Tendenzen des Sektentums. Al­ lein, was entfällt , ist doch nur die priesterlich - sakramentale Vermittelung. Um so stärker bleibt die durch das Wort , d. h. durch die Bibel und, da sie wesentlich Zeugnis von Christo ist, durch das biblische Christusbild. Nur aus ihm will Gott er­ kannt werden. Nur in ihm zeigt er sich als Gott der Gnade, während er überall sonst außer Christus als Gott der grausigen metaphysischen Rätsel und der Gesetzesangst erscheint. Nur das Vertrauen zu Christus ist wirkliches Gottvertrauen. Nur durch seine Vergegenwärtigung findet ein Verkehr der Seele mit Gott statt. Und sofern nun dieses Christusbild in der gottgewirkten Bibel in-

Folgerungen aus der religiösen Idee.

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kamiert ist, ist diese oder das »Wort« die eigentliche und alleinige und alles andere, auch jede unmittelbare Mystik ausschließende Ver­ mittelung des Verhältnisses zu Gott. Diese Bibel aber bildet mit ihrer Christusbotschaft den Kern der Kirche, die Gott durch Christus als die aus der Predigt hervorgehensollende Gemeinschaft der Gläubigen gestiftet hat. Für diese Gemeinschaft hat er auch das Amt des Wortes oder der Predigt von Christo eingesetzt als die dauernde objektive Grundlage und Vermittelung alles Heils. Gleich­ gültig und menschlichem Belieben anheimgestellt sind nur die Art der Berufung zu diesem Amt des Wortes und die technisch-juri­ stischen Einzelheiten der Organisation. Hier bedarf es nur regel­ mäßiger Ordnung und berufsmäßiger Vorbildung überhaupt zum Ausschluß von Willkür und Unkenntnis 202). Das d r i t t e , was hierin liegt, ist das Prinzip der reinen Gesinnungsethik. Macht Glaube, Gesinnung, Vertrauen zu Gott im Wort den Wert des Menschen überhaupt, so ist die Gesinnung auch Wurzel und Maßstab des daraus folgenden Ethischen. Es gibt kein kirchliches, autoritatives Sittengesetz und keine Abnahme der Verantwortung durch die Kirche, sondern nur den Trieb des eigenen Gewissens. Es gibt keine einzelnen guten Werke, sondern nur eine entscheidende Ganzheit der Gesinnung. Es gibt keine Verdienste und Mißverdienste , sondern nur Auswirkung oder Hemmung des prinzipiellen neuen Gesinnungslebens. Es gibt keine Rechnung mit Lohn und Strafe des Jenseits, sondern nur die Seligkeit der neuen Gesinnung, aus der alles Gute von selbst folgt. Dabei ist aber doch selbstverständlich, daß Norm und Maß dieses Gesinnungsguten das Ges_etz des Dekalogs und des Neuen Testa­ mentes bleibt, da ja beide, wie bisher, zusammenfallen mit dem natürlichen Sitterigesetz und dadurch sich als Formel für den natür­ lichen sittlichen Trieb bekunden; der letztere hat in jenen biblischen Kundgebungen nur seine offenbarte Formulierung gefunden. Diese im Dekalog fixierten, an sich auch im natürlichen Bewußtsein liegenden Forderungen sind nur mit der aus dem Glauben quellen­ den religiösen Gesinnung zu erfüllen, um das Christlich-Gute zu bedeuten. Dabei ist offenkundig, daß die als selbstverständlich 202) Hiezu vgl. Herrmann: »Der Verkehr des Christen mit Gott« 5, 1908. Hier ist nur die lutherische Christuslehre stark modernisiert und die Bedeutung der Sakramente, vor allem der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi, sehr zu­ rückgedrängt. Das richtige Bild entsteht erst, wenn man die Inkarnations-Christo­ logie und die objektive Sakramentslehre wieder in diesen Zusammenhang einsetzt.

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III. Der Protestantismus,

I, Das soziologische Problem,

fortgeführte Gleichung von Dekalog und Naturgesetz und christ­ lichem Gesetz die Einbeziehung der innerweltlichen Ethik in die christliche bedeutet, wie sie das bisher für die ganze patristische und mittelalterliche Ethik bedeutet hatte 20 s). Aus dieser Gesinnungsethik folgt v i e r t e n s die Welt­ bejahung dieser Ethik, die Beseitigung der mönchischen Askese, die Neugestaltung des Berufsbegriffes. Der religiöse Individualis­ mus der Glaubensreligion, der keine quantitativ verschiedenen Aneignungen autoritativer Kirchendogmen, sondern nur die Ganz­ heit der Ueberzeugung kennt, überträgt sich auch auf die ethische Gesinnung. Sie ist überall ein Ganzes und darum überall prin­ zipiell gleich trotz aller Verschiedenheit der Betätigungen. Das bedeutet die individuelle Gleichheit des Vollkommenheitsideals für alle und beseitigt die harmlose Selbstverständlichkeit, mit der der Katholizismus die verschiedenen Grade, Stufen und Stände der Vollkommenheit ertrug. Es beseitigt zugleich die überver­ dienstlichen Werke, die gegenseitigen Stellvertretungen und Er­ gänzungen durch solche. Das bedeutet vor allem die radikale Be­ seitigung des Mönchstandes als eines Wahnes besonderer höherer Vollkommenheit. Aber die für alle gleiche Vollkommenheit ist dann doch nicht der Rigorismus des Christusgesetzes wie in der Sekte , sondern die prinzipielle Gesinnungsgleichheit der Ver­ gebungsseligkeit, aus der das Tun der »neuen Person« frei her­ vorfließt. In der gleichen Richtung wirkt auch die mit der Glau­ bensreligion gegebene Beseitigung der sakramentalen Gnade der Uebernatur. Es gibt keine Uebernatur mehr und keinen Stufen­ bau von der Natur zur Uebernatur , von der säkularen Moral zur geistlich - überweltlichen. Das Halb- und Ganzmönchtum erscheint nur als besondere selbstgemachte Bedingung des sitt­ lichen Handelns , die den natürlichen von Gott gegebenen Be­ dingungen entflieht und durch künstliche Verhältnisse scheinbar sich schwerere Aufgaben stellt , in Wahrheit aber die christliche Weltüberwindung erleichtert. Es gilt die Welt zu überwinden, wo man sie findet, mitten in der Welt das Herz von der Welt befreien und sich von ihr unabhängig machen. Jeder besondere selbst­ erwählte Spielraum des Handelns, jede neben der weltlichen Ar203) Hiezu vgl. Gottschick , Ethik , I 907. Hier sind Motive und Sinn der lutherischen Ethik vortrefflich erörtert ; man vermißt nur hier, wie freilich auch sonst, eine Auskunft über Luthers Begriff vom Inhalte des christlichen Sitten­ gesetzes, worüber unten mehr.

Folgerungen aus der religiösen Idee.

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beit hergehende und über sie sich hinausstellende Liebesgemein­ schaft hört auf; gerade in den gegenseitigen Diensten des Welt­ lebens erweist man sich die christliche Liebe. Damit tritt dann auch das System der Berufsgliederungen, die der Protestantismus im ganzen genau ebenso aus dem Naturgesetz hervorgehen läßt, in eine neue Beleuchtung. Es ist nicht die naturgesetzliche Ord­ nung der niederen Sphäre, über der der Bau der Kirche und der mystischen Liebesgemeinschaft sich erhebt, sondern es ist die gottgewollte Sphäre alles und des ganzen christlichen Handelns, in der jeder den ihm aus dem geordneten System zufallen­ den Beruf als die ihm von Gott verordnete Lebensaufgabe und den von ihm verlangten Beitrag zu der christlichen Liebes­ verbindung zu erkennen hat. Die Berufe werden daher in ihren Hauptformen, wie der hausväterliche Beruf oder der Ehestand, der landesväterliche Beruf und das Regierungsamt, auf besondere göttliche Anordnungen und Stiftungen zurückgeführt. Das wider­ spricht nicht ihrer gleichzeitigen Ableitung aus dem Naturgesetz, sondern ist nur eine besondere göttliche Bestätigung und Ein­ setzung der wichtigsten von ihm geforderten Berufe 204). So tritt an Stelle der bisherigen Bezeichnung als ministerium und officium 204) Diese Verschiedenheit direkt göttlicher Einsetzung und indirekter natur­ gesetzlicher Herbeiführung ist charakteristisch für die stark religiös - positivisti­ sche Haltung des Lutherschen Denkens. Doch vereinigt sich beides in dem Gedanken, daß so oder so Gott der Alleinwirkende ist und daß die besonde­ ren Einsetzungen nur direkte Bekundungen des sonst indirekt und vermittelt den göttlichen Willen auswirkenden Naturgesetzes sind: siehe Luthardt, Luthers Ethik, 1867, S, 94 f,: Die natürlichen Ordnungen und Stände , , , gehören nur diesem zeitlichen und natürlichen Leben an. Aber obgleich sie nur weltliche Stände sind und der V e r n u n f t unterstehen , sind sie damit doch nicht eigentlich profan, sondern Gottes Stiftung, Ordnung und Wille, und Gott ist in denselben gegenwärtig. Denn Gott gebraucht seine Kreaturen wie ,Larven«, hinter denen er selbst verborgen ist und unter deren > Vorhang und Deckel« er alles tut • , Die Anschauung an der wirksamen Gegenwärtigkeit Gottes in allen seinen Krea­ turen und Ordnungen hat er stets festgehalten. Sind nun aber diese weltlichen Stände Gottes Wille und Ordnung und ist er in ihnen gegenwärtig, so wird auch zwischen ihnen und dem Evangelium Gottes eine Beziehung stattfinden. Denn sie sind beide Gottes , wenn auch verschieden - dort die Ordnung Gottes des Schöpfers, hier des Erlösers«, Es ist schon hier darauf hinzuweisen, daß von hier aus die konservative Fassung des Naturgesetzes und Naturrechts im Luthertum ent­ steht, vgl. Engen Ehrhardt, La notion du droit nature! chez Luther (Festschrift von Paris für Montauban, 1901, S. 287-320).

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die als vocatio, worin angedeutet ist, daß die Berufsgliederung nicht aus der niederen , erst zu überbauenden Natursphäre stammt, sondern wie diese selbst eine direkte und unmittelbare Anordnung Gottes ist 204&). Sie geht direkt aus seinem eigensten Wesen hervor, nicht erst mittelbar aus der gegen sein eigent­ lichstes Wesen differenzierten Natur. Das ist dann freilich ein neuer Naturbegriff, eine innerliche und wesenhafte Verbindung Gottes und der Natur, welche letztere die unmittelbare Setzung seines Willenswesens und nicht eine tiefere Stufe seiner Selbst­ entäußerungen ist. Freilich aber ist das Ganze dann doch so zu verstehen, daß dieses System der Berufsgliederungen ein fest­ stehendes , durch göttliche Stiftung im alten Testament und durch Naturgesetz fixiertes System ständisch - patriarchalischer Ordnung ist , innerhalb dessen jeder in bleibende Kategorien gehört und für seine Zugehörigkeit meist durch die Geburt schon die sichere Anweisung erhält. Weiter ist nicht zu ver­ gessen, daß diese unmittelbare Göttlichkeit der Natur eine ein­ fache positive Willenssetzung ist, die der christliche Gehorsam hinnimmt und nicht mit eigenem Witz überbietet; ein wirklicher innerer Wesenszusammenhang dieser Natur mit Gott ist damit nicht behauptet und nicht empfunden. Ueberdies ist die Natur im Sündenfall derart verdorben worden, daß die gegenwärtige Natur der Menschen nicht bloß, sondern die Natur überhaupt nur ausnahmsweise Gott offenbart; im ganzen offenbart sie vielmehr die Bosheit und Verführungskunst des Teufels und das Elend der Sündenstrafe. So ist die innerweltliche Berufssittlichkeit aller­ dings eine Weltbejahung, aber eine Weltbejahung aus Gehorsam und Ergebung, nicht aus der Freude an Gottes Welt; das letz­ tere Motiv wagt sich nur gelegentlich hervor. Die Weltbejahung hört im Grunde nicht auf, Askese, d. h. Weltverleugnung zu sein, nur ist es eine andere Askese als die heroische Mortifikations­ Askese der Kirche und als die gesetzliche Weltenthaltung der Sekten. Es ist die innerweltliche Askese der Ueberwindung der Welt in der Welt, der Selbstverleugnung im Beruf und im be­ ruflichen Dienst für das Ganze, der Gehorsam, der in gegebenen 200) Zum Verständnis des Unterschiedes beider Terminologien dient die Tat­ sache, daß ,officiumc die offizielle lateinische Bezeichnung für »Zunft war, siehe Oncken, Gesch, d. Naturalökonomie, I II 2. »Officium« ist die natürliche Gliede­ rung, vokatio die gleichzeitig darin liegende göttliche Veranstaltung, die letztere aber ist bei S. viel stärker betont.

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Bedingungen stehen bleibt und innerhalb ihrer den natürlichen Menschen und den Teufel überwindet 205). Von den Spannungen und Schwierigkeiten, die in dieser den Katholizismus weit über­ bietenden Weltbejahung liegen und die für die Sozialphilosophie des Protestantismus von großer Bedeutung sind, wird noch viel­ fach die Rede sein müssen. Alledem liegen natürlich in 1 e t z t e r L i n i e mehr oder minder bewußt neue Konzeptionen der religiösen Grundbegriffe, der Begriffe von Gott, Welt und Mensch, zugrunde. Das kann hier nicht weiter auseinandergesetzt werden 206); es seien nur einige für unseren Zusammenhang bedeutsame Punkte herausgegriffen. Beim Begriff des M e n s c h e n zeigt sich der neue Gedanke am deutlichsten in der Urstandslehre. Hier fällt die Staffelung von der natürlichen Vollkommenheit zu der übernatürlichen Vollkommen­ heit weg; die Vollkommenheit des Urstandes war das volle reli­ giöse Gesinnungs- und Vertrauensverhältnis inmitten der natür­ lichen Wesensbeschaffenheit des Menschen als zu dieser gehörig. Daher ist die Sünde eine Auf hebung des menschlichen Wesens und die Erlösung die Wiederherstellung des Wesens zum vollen Gottvertrauen innerhalb der natürlichen Lebensarbeit. Hier ist das neue Verhältnis von Gott und Mensch mit Händen zu greifen. Für den Begriff von der W e 1 t ist die natürliche Konsequenz der Fortfall des Stufengedankens. Er fällt nicht nur in der Ethik und in der Erlösungslehre, sondern in der ganzen Auffassung von der Welt selbst fort. Die Materialität und Natur ist nicht eine entferntere Stufe der göttlichen Weltschöpfung nach der reinen Geisterwelt, sondern der von der Schöpfung gesetzte Boden aller idealen Werte. Diese waren voll verwirklicht mit der Vollkommen­ heit der menschlichen Natur im Urstand und werden wieder her­ gestellt in der Erlösung. Sie bewegen sich innerhalb der ge­ gebenen Welt und überhöhen diese nicht durch eine höhere Stufe mystisch-sakramentaler Wunderkräfte. Das Wunder dient bloß der Heilung des Sündenelends und der Wiederherstellung der Natur, aber nicht der Bewirkung der Uebernatur. Das ist ein 205) Hierzu vgl. Karl Eger, Die Anschauungen Luthers vom Beruf, 1900, und Max Weber, Der Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik, Archiv f, Sozialwiss. XX und XXI. 206) Hierzu vgl. Schlußkapitel von Harnacks Dogmengeschichte und F. Ch. Baur, Der Gegensatz des Kath, u. Prot. nach den Prinzipien und Hauptdogmen 2 1836.

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anderer Wunderbegriff. Er geht aus dem die Sünde wieder auf­ hebenden Heilswillen Gottes, nicht aus der den innersten Kern der göttlichen Wesenssubstanz bildenden Uebernatur selbst her­ vor. Damit fällt dann freilich auch der Gedanke der Entwickelung weg, wie ihn der Katholizismus auf seine Weise in dem System des Aufstiegs von der Natur zur Gnade ausgebildet und mit der aristote­ lischen Lehre vom Stufengang der Entelechien verbunden hatte. Der Mensch staffelt sich nicht schon im Urstand auf zur übernatürlichen, von der Natur vorbereiteten Vollkommenheit; der Weltenbau und die Erde bilden sich nicht aus der Natur empor zum Reich der Gnade ; die Gesellschaft knüpft nicht an Naturgrundlagen an, um an sie die Gnadengemeinschaft kontinuierlich anzuschließen. Vielmehr alles ist fertig mit einem Schlage und die aristotelische Ent­ wickelungslehre verschwindet ebenso wie die neuplatonische Ema­ nationslehre. Der Sündenfall ist nicht der Rückfall der Natur zu sich selbst und die Erlösung nicht die Emporbildung aus der Natur zur Gnade , sondern der erste ist die Aufhebung und das zweite die Wiederherstellung des Wesens. Uebergänge, Vermittelungen und Werdeprozesse gibt es hier nicht wie in der katholischen Dogmatik, sondern nur Fall und Wiederher­ stellung. Eben deshalb wird auch die christliche Ethik nicht angeknüpft und herausentwickelt aus Naturgrundlagen, sondern hergestellt durch das Wunder der Gnade und lediglich äußerlich versetzt in den Betätigungsspielraum der natürlichen Verhältnisse, die der Gehorsam zu akzeptieren hat. Hier geht das ganze katholische Vermittelungswerk in Metaphysik, Ethik und Gesell­ schaftslehre in Trümmer, entsteht aber freilich auch ein sehr hartes und gezwungenes Bild der Dinge, in dem die irdischen Relativitäten und Werdeprozesse keinen rechten Platz haben, wie sich in den Schwierigkeiten und Widersprüchen der lutherischen Ethik deutlich zeigen wird 207). In letzter Linie kommt dieser ganze Sachverhalt zum Ausdruck im G o t t e s b e g r iff. Er ist nicht mehr gemischt aus dem naturhaften Begriffe der absoluten un­ endlichen, in verschiedenen Stufen sich entäußernden Substanz und dem personalistischen Begriffe des göttlichen Gesetzes, das in Natur und in Geisteswelt alles regelt und durch die Gnade das höchste mystische Offenbarungsgesetz erfüllbar macht mit Verdiensten und entsprechenden himmlischen Seligkeiten. Der Gottesbegriff stößt alle wissenschaftliche, das Endliche und Un201) Den Stufenbegriff hatten auch schon die Sekten beseitigt, wie oben ge-

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endliche vermittelnde Metaphysik ab und wird mit entschlossenem Anthropomorphismus als göttlicher Wille gefaßt, indem nicht mehr Natur und Uebernatur, sondern Gesetz und Evangelium, sittliche Forderung und sündenvergebender Liebeswille, Vergel­ tungsordnung und Gnadenordnung zusammenzudenken sind. Das Mittel, beide zusammenzudenken, ist der Genugtuungstod des Gott­ menschen, der daher das protestantische Zentraldogma wird und den sonst überall ausgestoßenen Stellvertretungsgedanken beim Gottmenschen zur höchsten Bedeutung bringt. In einem solchen Gottesbegriff sind andere Motive und Ziele der religiösen Ge­ meinschaft und andere Rechtfertigungen der natürlich sozialen Lebensformen gesetzt als in dem katholischen Gottesbegriff der absoluten Substanz und der Weltentwickelung von der Natur zum Wunder der Uebernatur. Das wird die folgende Untersuchung überall als letzten Grund erkennen lassen. Das ist das Wesentliche der reformatorischen religiösen Idee. Es ist dabei unverkennbar, daß sie nicht eine einfache Wieder­ herstellung der biblischen, synoptischen oder paulinisch-johanne­ ischen, Christlichkeit ist, sondern eine Reduktion des mittelalter­ lichen Dogmas, der mittelalterlichen Kirche und der mittelalter­ lichen Ethik auf die aus dem Paulus geschöpfte Glaubens- und zeigt. Aber auch die occamistische Spätscholastik hatte mit ihrer Wiederherstel­ lung eines absoluten Gegensatzes von Natur und Gnade den Stufen-, Vermittelungs­ und Entwickelungsbegriff beseitigt, s. Hermelink, Die theologische Fakultät in Tübingen, 1906, S. 1II und 122, Auch für den Urstand ist hier schon dieser Unterschied beseitigt , indem dort nicht eine Staffelung von konnaturaler Voll­ kommenheit zu übernatürlicher stattfindet, sondern die Vollkommenheit an sich ein debitum naturae ist und bloß wegen der Schwäche des Menschen durch über­ natürliche Gnade eingegossen werden muß , s. Linsenmann a. a, 0. S. 648-651. Doch ist Luthers Beseitigung jener Begriffe jedenfalls insoferne originell, als ihr Motiv nicht der Radikalismus des Gegensatzes, sondern der Gedanke der wesen­ haften Zusammengehörigkeit von Natur und Gnade im Willen Gottes ist, Daher entsteht hier die eigentümliche Verschränkung gegenüber dem Katholizismus, daß das lutherische Verhältnis von Natur und Gnade einerseits eine innerlichere Ver­ bindung, eine Immanenz der Gnade in der Natur ermöglicht, daß aber andrerseits bei der bloß willensmäßigen Setzung der Natur als des Betätigungsspielraums der Gnade wiederum jede innere Verbindung und Vermittelung wegfällt und der genuine Protestantismus viel schwerer eine innere Anknüpfung an die ,Natur« findet. Darauf beruht das relative Recht der katholischen Behauptung, daß der Prote­ stantismus weniger inneren Zusammenhang mit Natur und Kultur habe, ein Um­ stand, der von den protestantischen Polemikern in der Regel nicht beachtet wird.

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Gesinnungsreligion, auf die paulinische Gnaden- und Christusreligion. Insbesondere ist dies deutlich an der Wertung des natürlichen Lebens, das erst das Mittelalter voll in das christliche einbezogen hat und dessen Einbeziehung jetzt nur anders motiviert und durch­ geführt wird. Die mittelalterliche Ausweitung des Christentums zu einer christlichen Einheitskultur liegt als Voraussetzung zugrunde, wird aber von neuen religiösen Gedanken aus neu begründet und gestaltet. Damit ist nun aber im wesentlichen auch schon die einfache Antwort gegeben auf die zweite Hauptfrage, die Frage nach den s o z i o 1 o g i s c h e n K o n s e q u e n z e n u n d A u s g e s t a l­ t u n g e n dieser religiösen Umbildung des Christentums. In der Einzeluntersuchung werden dann freilich viele in der Komplika­ tion dieser Gedanken begründete Schwierigkeiten hervortreten. Das Entscheidende ist hier nicht die besondere rechtliche Ge­ staltung des lutherischen Kirchenbegriffes, von der erst im näch­ sten Abschnitt die Rede sein soll, sondern in erster Linie die Grund­ tatsache, daß d i e s e g a n z e D e n k w e i s e v o n H a u s e a u s w e s e n t 1 i c h d e m K i r c h e n t y p u s a n g e h ö r t und da­ mit allen protestantischen Gruppen die soziologische Grundbe­ stimmtheit und die besonderen Schwierigkeiten des neuen Kirchen­ begriffes mitteilt. Trotz ihrer mannigfachen Berührungen mit dem Sektentypus, trotz ihres Individualismus, ihrer Laienreligion, ihrer Berufung auf die Bibel, ihrer Betonung der subjektiven Verwirklichung des Heils in persönlicher und innerlicher Christlichkeit und der Beschränkung der wahren Kirche auf das wirkliche, wiedergeborene Volk Christi, trotz alledem zeigt sie grundwesentlich keinerlei Neigung zum Sekten­ typus, sondern sieht den Kirchentypus als das selbstverständlich und allein Christliche an. Reform der kirchlichen Gnaden- und Rettungsanstalt auf ihre wahren Gnadengrundlagen im Wort, in der Erkenntnis Christi und in der darauf begründeten Gewißheit der Sündenvergebung; Reform des kirchlichen Priestertums zu dem von Christus eingesetzten Amt der Wortverkündigung oder der Christuspredigt; Reform der Sakramente zu den wahren von Christus eingesetzten und keine Gnadensubstanz eingießenden, sondern das Evangelium der Sündenvergebung vergewissernden Riten und Gnadenzeichen: das ist von Anfang an Luthers Wille. Die Bei­ behaltung der groben äußerlichen Christen d. h. aller Getauften, die Taufe aller und die Unabhängigkeit der Gnadenmittel von

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der Subjektivität der Spendenden wie der Empfangenden ver­ stehen sich für ihn von selbst. Auch nicht eine neue Kirche will er, sondern eine instauratio catholica d. h. die Zurückführung der einen allgemeinen apostolischen, von Christus gestifteten und mit Amt, Wort und Sakrament ausgerüsteten Kirche auf ihre ledig­ lich Glauben schaffende geistige Wirksamkeit durch das Wort. Das Wort selbst aber, seine Grundlage in der Bibel, seine Ver­ anschaulichung im Sakrament und seine Verkündigung in der Predigt, ist ihm ein allen Individuen vorgeordneter objektiver Stif­ tungsschatz, der der Anstalt eignet und auf geordnete Weise durch dazu bestimmte Beamte ausgespendet werden muß. Wo solche Beamte fehlen, kann es auch der Laie tun; aber er hat dann eben in dem Maße teil an der Objektivität des Gnadenschatzes. In dieser Hinsicht, in der Bedeutung eines der von Christus ge­ stifteten Gnadenanstalt eignenden Depositums und in der völligen Unabhängigkeit der Gnadenanstalt von dem Maße ihrer subjek­ tiven Verwirklichung, ist Luthers Gnadenbegriff mit dem katho­ lischen völlig einig. Die Unterschiede liegen überall erst in der Fas­ sung des Inhaltes der Gnade. Von da aus wird Wesen und Wirkungs­ art der Kirchenanstalt freilich eine erheblich andere. An Stelle der hierarchischen Sakramentskirche tritt die Schrift- und Predigerkirche, aber auch sie eine Anstalt, den Gliedern vorgeordnet als ihr su­ pranaturaler von Gott gestifteter und geleiteter Produzent, völlig unabhängig von dem Eintreten oder Nicht-Eintreten der subjek­ tiven Bekehrungswirkungen bei den einzelnen Individuen, heilig und göttlich an sich durch die dem »Wort« einwohnende Bekeh­ rungskraft, herrschend als göttliche Institution, auch wenn nur ganz wenige sich bekehren lassen, und als einheitliche Institution sich erstreckend durch alle Sonderbildungen nationalkirchlicher oder sonstiger Art. Denn, wo Wort und Sakrament ist, da ist die Kirchenanstalt und der supranaturale Produzent aller Heils­ erfahrungen; und der Glaube ist gewiß, daß »das Wort Gottes nie leer zurückkommt«, d. h. daß schließlich die ihm einwohnende Wunderkraft doch über alle Widerstände siegen und die Mensch­ heit auch innerlich zu Christo bekehren muß. Eine allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Bekehrung wird das freilich nie sein. Dazu ist der Teufel und die Sünde zu stark, und die Wirren der gegenwärtigen Kirche deuten auf das Weitende, wo der große Kampf zwischen Christ und Antichrist sich entscheidet. Das ist ein höchst spiritualistischer, ein sehr verinnerlichter, T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften, I.

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auf Wort, Sakrament und Predigtamt die Institution zusammen­ ziehender und sie auf rein geistige Wirkung einschränkender Kir­ chenbegriff, aber immerhin und vor allem es ist ein Kirchenbe­ griff. Es ist eine Reform des katholischen Kirchenbegriffes aus dem Neuen Testament kann man gerade diese Gedanken am wenigsten belegen -, eine Zurückverwandlung des schlechthin universalen, alles umfassenden, eine absolute Wahrheitsinstanz und ein fortlaufendes Amt besitzenden Kirchenbegriffes in die reine Gnaden-, Glaubens- und Christusreligion, die keine andere objek­ tive Stütze hat als das biblische Wort von Christus. Auf diese Stütze zieht sich der ganze Supranaturalismus, die ganze Objek­ tivität und Heiligkeit, die ganze Unabhängigkeit der Anstalt vom Subjekt zusammen, aber sie ist dafür dann auch von der höchsten Wichtigkeit, von der alles entscheidenden Bedeutung. Sie ist der aller Subjektivität entrückte, schlechthin gesicherte und mit supra­ naturaler Wirkungskraft ausgestattete soziologische Beziehungs­ punkt, von dem aus es gilt, die Kirche zu rekonstruieren. Sie leistet dem Protestantismus das, was der Begriff des Episkopats und seine schließliche Zusammenfassung im Papsttum dem Katholizis­ mus geleistet hatte. Freilich fehlt es nun nicht an der Betonung, daß die Kirche nicht bloß im Wort, sondern zugleich in der innerlich­ persönlichen Wirkung des Wortes und damit in der wiedergeborenen und heiligen Gemeinde besteht. Darin kommt Luthers Persönlich­ keits- und Innerlichkeitsprinzip zum Durchbruch, und an diese Forde­ rung haben dann die Wiedertäufer und Sektierer, wie später zu zeigen, in der Tat angeknüpft. Allein für Luther ist diese inner­ lich erneuerte Gemeinschaft wahrhafter Christen immer nur das Korrelat des sie erzeugenden Gnadenwortes und des Predigtamtes, gleichviel ob dies letztere von ordnungsmäßig Berufenen oder im Notfall von jedem beliebigen christlichen Bruder ausgeübt wird. Da man äußerlich und empirisch die wahrhaft Frommen von den Unfrommen nicht unterscheiden kann, so hat aber diese Beschrän­ kung der Kirche keine praktische Bedeutung. Sie ist in Wahr­ heit überall, wo das Wort ist. Und wäre auch nur. ein Gläubiger da, so wäre die Kirche als Anstalt da, denn sie ist im Wort als dem immer wundertätigen, nie dauernd leer zurückkommenden Produzenten der Gemeinschaft immer virtudl enthalten. Die Kirche wäre da, auch wenn es nichts gäbe als das Wort. Aus ihm würde sie jederzeit von neuem entstehen. Da aber ist es Pflicht aller Christen und besonders aller Obrigkeiten, in denen

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ja zunächst immer allein die Christenheit rechtmäßig repräsentiert ist, das Wort jedem zugänglich zu machen, für seine geordnete Verkündigung zu sorgen und damit in der Aufrichtung der Herr­ schaft des Wortes wenigstens äußerlich das Nötige zu tun, daß die Kirche aus ihm überall innerlich wahrhaft entstehen kann. Die Art und Weise, in der ein zukünftiges Konzil oder bei dessen Versagen die nächstverordneten Orts- und Landesobrigkeiten und ihre naturgemäßen Berater, die berufsmäßigen Theologen, das ord­ nen, ist dann eine Sache der Zweckmäßigkeit, der Anknüpfung an das bestehende positive Recht; nur soll dabei aller Aufruhr nach Möglichkeit vermieden werden und sind bis zur Schaffung allge­ mein geordneter Verhältnisse recht bunte Maßnahmen möglich, über die Luther je nach Gelegenheit sehr verschieden und widerspruchs­ voll sich aussprechen kann. Besonders gegenüber unevangelisch gesinnten Obrigkeiten muß er zu Neuordnungen greifen, die vom Staat ganz unabhängig sind, und betont er die Unfähigkeit der weltlichen Gewalt, in geistliche Dinge hineinzuwirken. Als Konse­ quenz aber liegt auf der Hand, daß, wenn eine allgemeine Ordnung durch Reich und Konzil nicht eintritt und wenn die in diesem Wirr­ warr sich nahelegende Erwartung des Weltendes gleichfalls sich nicht erfüllt, dann die Pflicht der Laien und vor allem der Obrigkeit eintritt, dem Wort Gottes zur reinen Wirksamkeit zu helfen, wie das schon Occam und die konziliaren Theologen gefordert hatten und wie es dem ganzen Geiste der bisherigen christlichen Ge­ sellschaft entspricht. Die allgemeine Weltkirche ist damit nicht aufgehoben, der Katholizismus gewahrt. Denn sofern das Wort in irgend einer Kirche nur überhaupt vorhanden ist, ist auch in ihr die eine allgemeine Kirche und ist die betreffende Partikular­ kirche nur eine Abteilung oder etwa eine Verderbung der einen allgemeinen Kirche. Nicht die >Unsichtbare Kirche« ist das richtige Kennwort für Luthers Kirchenbegriff, obwohl er selbst gelegentlich diesen verwirrenden Ausdruck gebraucht hat, son­ dern die an Wort und Sakrament sichtbare, in ihren rein geistigen Wirkungen dagegen unsichtbare und unmeßbare Kirche, oder et­ was anders ausgedrückt : die rein geistliche , in ihrer Wieder­ geburtswirkung äußerlich nicht feststellbare, aber überall zugleich mit Wort und Sakrament vorhandene und mit der Möglichkeit universaler Wirkung von Staat und Gesellschaft auszustattende Wortkirche, die eben darum eine äußerliche christliche Ordnung de� Staates und eine ihr Herankommen an alle ermöglichende, 29*

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im übrigen sehr freie Organisation verlangt. Luther und die Reformatoren fassen die christliche Idee wie der Katholizismus im Schema des Kirchenbegriffs. Das ist nun aber nicht etwa lediglich eine Nachwirkung des mittelalterlichen Denkens, eine ablösbare Schranke, sondern das liegt im Wesen ihres reli­ giösen Gedankens selbst, der in dieser Hinsicht eben auch einig ist mit dem mittelalterlichen und altkirchlichen bis herab auf die paulinischen Ansätze des Kirchengedankens. Es liegt ganz einfach daran, daß das Christentum wesentlich von Luther verstanden und gedacht wird als Gnade, als Grundlage der Heilsgewißheit. Eine Seele, die darauf gestimmt ist, ist prädestiniert für den Kirchen­ typus. Unabhängig vom eigenen Ich, von eigenen Anstrengungen und subjektiven Leistungen, rein als Gottesgabe, als Gewißheit und Sicherheit soll das Heil bereit liegen, und letliglich der an­ eignende Glaube soll es aufnehmen, damit er das große Prinzip einer objektiv göttlichen, lebenschaffenden Kraft in sich hineinnehme, die alles wirkt im Subjekt und durch das Subjekt, die aber selber unabhängig ist von ihm. Es ist der tiefe Gedanke einer alle In­ dividuen erst hervorbringenden und in sich einigenden historischen Substanz des Lebens, verbunden mit dem religiösen Gedanken der Gnade, wonach der religiöse Besitz Geschenk und nicht Lei­ stung ist und gerade in jener beseligenden Gabe die subjektiven Kräfte erst zur höchsten und reichsten Leistung entbindet ; beides aber, historische Substanz und das in ihr liegende Gnadenmoment als supranaturale, von allem Weltlichen streng abgrenzbare Stif­ tung gedacht, deren supranaturale Grundelemente, Wort und Sakra­ ment, frei und innerlich, ohne Zwang und ohne Recht durch die ihnen einwohnende Gotteskraft den Glauben hervorbringen 208). 20s) Rudolf Sohm hat seine bekannte These, daß Kirche und Recht absolute Widersprüche seien, besonders an Luther veranschaulicht, dem er die völlige Be­ seitigung jedes Rechtselementes aus dem Kirchenbegriff zuschreibt: >Luther hat j e d e m Kirchenrecht, jederlei göttlichem Kirchenrecht und im Grundsatz e b e n s o dem als bloß menschliche, geschichtliche und darum veränderliche Satzung sich geben­ den Kirchenrecht als solchem, welcher Art immer es sei, den Krieg erklärte, Kirchen­ recht I, 1892, S. 46r. Ich kann den Satz in dieser Form nicht für richtig halten. Luther hat allerdings den Kirchen- und Religionsbegriff aufs höchste verinnerlicht und kennt weder einen quantitativen Dogmenglauben, sondern nur eine auf das Ganze des Evangeliums gerichtete Gesinnung , noch einen Rechtgläubigkeitszwang auf die Seelen, sondern nur religiöse Belehrung neben Unterdrückung häretischer Aeuße­ rungen als zerstörender Rebellion gegen die christliche Gesellschaftsordnung. Aber

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Solche Gotteswirkung konnte für Luther nicht in individuellen Er­ leuchtungen und mystischen Erkenntnissen liegen, die ununter­ scheidbar sind von der eigenen Phantasie und dem subjektiven Leben. Es mußte ihm als etwas für alle Objektives, Gleiches und Gegebenes, als etwas schlechthin Autoritatives, Wunderbares und bestimmt Umgrenztes, von allem Menschlichen Verschiedenes sich kundgeben. Das aber war nur die göttliche Stiftung der Kirche und der überall auch äußerlich erkennbare und sichtbare produ­ zierende Kern der Kirche, das göttliche Wort. Eben darum indem sein verinnerlichter Kirchenbegriff doch im reinen und rein zu haltenden Wort sowie im richtig zu lehrenden und zu verwaltenden Sakrament seine ä u ß e r e F a ß b a r k e i t d u r c h s u p r a n a t u r a l e k o n kre t e M e r k m a l e h a t , entsteht von ihnen aus die Notwendigkeit, ihnen einen Apparat des rechtlichen Schutzes und der rechtlich geregelten Verwaltung zu verschaffen, Das unterläßt Luther nur, so lange er auf die Wunderkraft des Wortes selbst vertraut, das alles allein von selbst machen wird, und so lange die alte kirchliche Ordnung fortdauert, Aber nachher ist dieser Ueberidealismus ernüchtert worden. In der Zeit der Gä­ rung und der bunten lokalen Reformversuche hat Luther die Gemeinden geradezu versuchen lassen, neue eigene Rechtsordnungen zu schaffen und dazu seinen Segen gegeben. Als daraus nichts wurde und der Bauernkrieg gefährlichen Mißbrauch dieser Reformen mit sich brachte, verlangte er eine generelle Neuordnung von Landes wegen, und da hat Luther in der neuen Landeskirche für das Wort die Nachhilfe eines menschlichen Rechtsapparates dulden und gelegentlich befördern müssen, für den die Ansätze in der Reinheit der Lehre und der Sakramente und der Notwendigkeit einer geordneten Predigerbestellung vorlagen. Aus diesen Resten der Sichtbarkeit und Konkretheit der Kirche entsteht wieder, wie einst aus der Sichtbarkeit im Bischofsamt, mit Notwendigkeit ein Recht. Auch hier ist es nicht ein Abfall Luthers von seinen Anfangspositionen, sondern das Wieder­ hervorbrechen der zuerst völlig zurückgeschnittenen Konsequenzen des Kirchen­ begriffs, das heißt einer supranaturalen und darum universalen, an bestimmten Momenten auch äußerlich faßbaren und äußerlich aufrecht zu erhaltenden Anstalt. Versteht man unter Kirche wirklich eine in Offenbarung und Sakrament faßbare übernatürliche Anstalt, so erzeugt sie auch aus diesen supranaturalen Elementen ein supranatural begründetes Recht, sei es nun, daß man dessen Begründung und Schaffung den Gemeinden selbst oder daß man es der weltlichen Obrigkeit zuweist; immer werden Konsequenzen aus einem zur Rechtsbildung auffordern­ den Stamm supranaturaler Gemeinschaftsfundamente gezogen. Mag auch die Aus­ führung selbst den Umständen anheimgegeben und als rein menschlich betrachtet werden und beliebig veränderlich sein, dann wechselt das Recht, aber die Auf­ forderung zu seiner Bildung selbst bleibt, Nur ein der Faßbarkeit in reiner Lehre und Sakrament entkleideter, in reinen religiösen Gemeingeist und rein innerliche Gemeinschaft aufgelöster Kirchenbegriff kann des Rechts entbehren, Aber das

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wandte sich Luther mit solcher Schärfe gegen alle Sektierer, die in der Verwirklichung des göttlichen Gesetzes und damit in subjek­ tiven Leistungen das Gemeinschaftsband und die Heilsgrundlage sahen. Alle soziologischen Objektivierungen der Gemeinschaft im Gesetzesbegriff waren ihm trotz der Offenbartheit des Gesetzes keine wahren Heils- und Gemeinschaftsgrundlagen,-weil das Gesetz nichts ist ohne subjektive Leistung und so doch wieder die subjektive Leistung das Entscheidende wird. Ebenso verwarf er alle My­ stiker, Enthusiasten und Schwärmer, da sie in ihren Erleuchtungen nichts Objektives, keinen vorgeordneten, klar göttlichen Produzen­ ten ihrer Gemeinschaft haben, vielmehr ihre Erleuchtungen aus dem Subjekt hervorholen und ihre Göttlichkeit dann hinterher ist dann auch kein Kirchenbegriff mehr , und ist auch nicht Luthers Kirchen­ begriff gewesen. Das ist dann rein der Begriff des religiösen unfaßbaren Lebens­ zusammenhanges, und sein Gegensatz gegen das Recht ist dann nicht mehr der Gegensatz von Kirche und Recht, sondern von Religion und Recht, welcher aller­ dings ein fundamentaler und wirklicher ist, Das deutet dann aber auf eine Span­ nung zwischen Religion und Kirche selber hin, die eben in der Tat nicht identisch sind, Aus diesen Spannungen entsteht stets die Emanzipation der Religion von der Objektivität der Anstalt und von der supranaturalen Autorität und die Zuwendung zu einer unmeßbaren Innerlichkeit der Mystik und des Spiritualismus, wie das in der Tat die ,Mystiker und Spiritualisten« der Reformationszeit getan haben und damit die Konsequenzen der Reformatoren zu ziehen meinten. S. meine Abhandlung : ,Religion und Kirche«, Preuß. Jahrbb,, 1895. Der Kirchenbegriff von Sohm schwebt zwischen dem einer universalen und supernaturalen Anstalt und dem eines rein innerlichen Geistes- und Gedankenzusammenhangs, der lediglich in der Fülle seiner subjektiv-persönlichen Wirkungen besteht. Das ist aber ein modernen Be­ dürfnissen angepaßter Kirchenbegriff, Hier muß ich der von Sohm abgelehnten (S. 467) Auffassung Höflings und Ritschls zustimmen, Die von Sohm dagegen angeführten Lutherstellen scheinen mir seine These nicht zu beweisen, sondern nur, daß es Luther sehr schwer geworden ist, die Spiritualität, Freiwilligkeit und Innerlichkeit seiner religiösen Gemeinschaft .mit dem aus der Forderung reiner Predigt und geordneter Bestellung des Predigtamtes folgenden Notwendigkeit eines Rechtes zu vereinigen, das als Recht für Luther immer etwas Menschliches und lediglich zu Duldendes bleibt, aber in seinem notwendigen Hervorgang aus Wort und Sakrament selber doch immer wenigstens im Ausgangspunkt ein jus divinum ist. Daher denn auch die Entwickelung des Amtsbegriffes im Luthertum und der Aeltestenverfassung im Calvinismus. Freilich liegen hier Widersprüche vor , aber diese liegen in einem Kirchenbegriff, der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Frei­ willigkeit und Universalität zugleich behauptet. Sie liegen schon im Kirchenbegriffe selbst, nicht erst in der Verbindung des Rechtes mit dem Kirchenbegriff. Darüber im nächsten Abschnitt mehr.

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in praktischen Leistungen, und dies heißt wieder in subjektiven Gesetzeserfüllungen, bewähren müssen. Deshalb kannte er in der Bibel auch nur den paulinisch-johanneischen Lehrtypus, in welchem die Gnade und deren objektive Vergewisserung im Christusleibe und im Christusbilde alles ist. Dagegen hatte er für den synop­ tischen, franziskanischen und waldensischen Christus und das Ge­ setz Christi, soweit es als allgemeine Lebensregel und als Grund­ lage der Gemeinschaft hätte in Betracht kommen können, über­ haupt kein Auge. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß es zwischen beiden einen Unterschied anders als in der Meinung gesetzgläubiger Sektierer geben könne. Er interpre­ tiert alles völlig selbstverständlich aus dem Paulus und zwar aus einem Paulus, dessen enthusiastische und mystische Züge ihm völlig zurücktreten hinter den kirchlichen. Ihm ist daher schließlich die Kindertaufe das Schibboleth wie allen Männern des Kirchentypus. Sie dokumentiert die Objektivität und Uni­ versalität, die alle Individuen beanspruchende Weltweite der Kirche zugleich mit ihrem reinen Gnadencharakter , mit ihrer Unab­ hängigkeit vom Subjekt und von seiner Leistung, mit ihrer Ein­ befassung von Christen der verschiedensten Reifestufen. Die Spät- und Wiedertaufe dagegen ist das Symbol der Gesetzlich­ keit und der Sekte, die Gemeinschaft und Heil auf die persön­ liche subjektive Leistung begründet. Die dogmatische Fassung des Taufbegriffes selbst ist dabei noch gleichgültig, aber sie nähert sich konsequent auch immer mehr dem Gedanken eines realen Heiligungswunders, das allen Getauften in der Möglichkeit der Berufung auf ihre Taufe einen character indelebilis gibt. Alle Buße und Bekehrung, alle Arbeit des religiösen und sittlichen Lebens ist ein Rekurs auf die Taufgnade, in welcher die Gnade jedem Kirchengliede grundlegend zugesichert worden ist, wie ein Fideikommiß allen in ihn Hineingeborenen gehört. Im Interesse dieser kirchlichen Anstalts-Objektivität hat er dann später die Sakra­ mente, in denen sich das heilschaffende Wort von seiner objektiv­ sten Seite zeigt und von denen insbesondere das Abendmahl in der Realpräsenz von Fleisch und Blut Christi die Objektivität auf den Gipfel bringt, immer stärker betont und damit den Sondercha­ rakter der lutherischen Theologie begründet, während die Calvi­ nisten bei der bloßen Vergewisserung der Gnade und dem geistigen Wortcharakter der Sakramente sich festlegten. So hat er auch die Beichte wieder hergestellt als Mittel der objektiven Zusiehe-

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rung der Sündenvergebung durch das Amt des Wortes und als Siche­ rung einer gründlichen Vorbereitung in Glaubens- und Gewissens­ prüfung für den Empfang des im Absolutions-Wort sich verkör­ pernden Gotteswortes 209). All das entsprang ganz wesentlich aus Luthers eigentlichster religiöser Position, aus seiner ganzen schola­ stisch-theologischen Herkunft und seiner ursprünglichen Auffassung der Bibel. Wie weit Eigentümlichkeiten seiner persönlichen Ver­ anlagung und eine etwaige Beeinflussung durch die umgebende, von Autoritätsgedanken erfüllte Atmosphäre daran beteiligt waren, eptzieht sich der genaueren Kenntnis. Luther war unzweifelhaft stark autoritativ veranlagt bei allem Sinn für die innere Freiheit und ebenso unzweifelhaft wesentlich konservativ gerichtet bei aller Furchtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit in den Fällen, wo ihn sein Gewissen drängte. Allein alles das hat wohl mehr die be­ sondere spätere Gestaltung seines Kirchenbegriffes und vor allem, wie wir sehen werden, seine Auffassung des Naturrechtes bedingt, aber nicht die Hauptsache, die Fortführung des Kirchenbegriffes selbst. Dieser war ihm wesentlich verbunden mit seiner Idee von der Gnade und dem Wort, seiner Beschränkung auf feste gött­ liche Kundgebungen im Gegensatz gegen angebliche Erleuchtungen und neue Offenbarungen, seiner Abneigung gegen jede andere Regelung des Lebens als durch die Gnadenoffenbarung , die an Wort und Kirche ihr festes objektives Maß hatte und auf Grund deren man sich übrigens in die Welt schicken konnte. Jede an­ dere Normierung schien ihm Subjektivismus und Schwärmerei oder Festlegung auf gute Werke und damit Gesetzestreiberei 210). 2°9) S. E. Fischer, Zur Gesch. der evangelischen Beichte, 1903. 210) Ueber die von Anfang in engster Verbindung mit dem neuen Gedanken vom Heil stehende Idee Luthers von der Kirche, ihre Unabhängigkeit gegen Huß und ihren inneren Unterschied gegen die hussitische Lehre s. die vortreffliche Ab­ handlung Gottschicks, »Huß', Luthers und Zwinglis Lehre von der Kirche«, Z. f. Kirchengesch. VIII, 1886. Im Unterschied von Hussens Idee einer Gemeinschaft der Prädestinierten, die sich durch die Kirchenanstalt auswirkt, die Göttlichkeit der kirchlichen Institutionen und der Priester aber von der Uebereinstimmung mit dem ethischen Gesetz Christi abhängig macht und so trotz Behauptung des katholischen Charakters der Sakramente doch dem donatistischen Sektenbegriff sich nähert, ist es mit völligem Ausschluß aller sektenhaften Abhängigmachung der Kirche von der Verwirklichung des Christusgesetzes die Anstalt der Gnade oder des Wortes, die von der Taufe her alle umfaßt, aber alle nur regiert durch das Wort von der Gnade. Daher auch hier der andere Sinn des Biblizismus S. 377 : ,Huß' Schrift-

Luther als Reformator der Volks- und Massenkirche,

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Somit beherrscht der Kirchentypus das ganze reformatorische Denken und seine letzten Wurzeln liegen in der religiösen Eigen­ art der Reformation selbst. Nur als Reformator der Kirche war Luther zu seiner großen welthistorischen Wirkung befähigt. Nur prmz1p ist von dem reformatorischen darin unterschieden, daß für die Reforma­ toren der maßgebende Gedankenkreis, der den leitenden Inhalt der Schrift bildet und den sie durch die Autorität derselben gegen die Autoritätsansprüche der (katholisch) - kirchlichen Rechtsanstalt aufrechterhalten, das Evangelium von der freien, von Verdiensten unabhängigen vergebenden Gnade Gottes in Christo ist, für Huß aber das evangelische Gesetz«. - Die Voraussetzung von alledem ist die Kindertaufe und deren allgemeine Erteilung. Die letztere war für Luther wie für die an die Einheit der christlichen Gesellschaft glaubende Bevölkerung selbstver­ ständlich: wo er bei Visitationen noch nicht Getaufte fand, mußte die Taufe nachgeholt werden , ohne daß darin irgend ein unerlaubter religiöser Zwang gesehen worden wäre, Vgl. Barge, Karlstadt II, S. 142. An dem Recht der Kindertaufe und das heißt vor allem an der Notwendigkeit ihrer allgemeinen Erteilung ist Luther nie irre geworden, wie Karl Müller mit Recht gegen Barge ausführt; er mußte nur das Wesen des Taufvorgangs mit seiner allgemeinen Idee vom Heilsvorgang in Einklang setzen, was er durch die Theorie von einem in den Kindern gewirkten schlummernden Glauben tat. Vgl. K. Müller , Luther und Karlstadt, S. 2 I 7-22 l. So ist Luthers Kirchenbegriff nie bloß aus seinem Gegensatz gegen den katholischen, sondern immer auch aus seinem Gegensatz gegen die Sekten zu verstehen, und hier ist die Kindertaufe und die Universalität der Kindertaufe das Entscheidende. Dann treten neben dem Gegensatz gegen den katholischen Kirchenbegriff, der Beseitigung des jus divinum der Hierarchie, der Auf­ lösung des dinglichen Sakraments- und Gnadenbegriffes, der Reduktion aller Kirchen­ und Erlösungswirkung auf rein geistige Wortwirkung, doch auch die bedeutsamen Züge hervor, die ihm mit dem katholischen Kirchenbegriff gemeinsam sind: der Anstaltscharakter , die Objektivität , die Vorordnung vor dem Individuum und seiner Leistung, die Universalität , die jetzt freilich lediglich geistige Herrschaft über das Ganze der Gesellschaft. - Ueber den engen Zusammenhang von Luthers Kirchenbegriff mit dem Begriff der Kindertaufe, in welcher die Einkörperung in den Heilszusammenhang der glaubenstiftenden Wort-Anstalt vollzogen und so jedem ein von seiner eigenen Leistung unabhängiges Fundament gegeben ist, vgl. Gott­ schick, Die Lehre der Reformation von der Taufe, 1906. Die Kindertaufe ist ge­ boten, und mir ist keine Stelle bekannt, die auch in den Zeiten der rückhaltlose­ sten Freigebung des Geisteskampfes auch das Taufen oder Nicht-Taufen der Kinder freigäbe. Damit aber ist die Hauptsache entschieden, ein in der allgemeinen Uebung der Kindertaufe primär sich kundgebender Anstaltszusammenhang. - Mit ihm ist dann auch der von Rieker, Die rechtliche Stellung der ev. Kirchen Deutsch­ lands, 1903, und J. N. Figgis ,From Gerson to Grotius« so energisch betonte Ge­ danke des Corpus Christianum gegeben, innerhalb dessen weltliche und geistliche

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

der supranaturale Universalitätsgedanke führte ihn auchzu univer­ salen und institutionellen Wirkungen; ohne das wäre Luther nur ein Sekten- oder Ordensstifter geworden oder ein einsamer Mann wie Sebastian Frank. Mit d e m Ki r c he n typ u s a b e r s t e llt e n s ich a uch a l l e i hm w e s e n t l iche n s ozio logi s c he n Wi r k u n ­ g e n ein. Aus ihm ergab sich erstens die Uniformität, EinGewalt nur verschiedene Seiten des Einen ungeschiedenen Ganzen sind. Das aber ist der mittelalterliche Gedanke der christlichen Kultur- und Gesellschaftseinheit. Aus diesem Gedanken ergeben sich alle Grundzüge der protestantischen Sozial­ lehren. Böhmer glaubt gegen diese These bemerken zu sollen: ,Indes in e i n e m prinzipiellen Punkte ist auch Luther, wie e s scheint, i m Bannkreis des mittelalter­ lichen Denkens geblieben, in seiner Anschauung von der Kirche. Die Kirche gilt ihm wie dem Katholizismus, nicht als ein freier von Menschen ins Leben gerufener Verein, sondern als eine von Gott gestiftete Anstalt, deren Bestimmung es ist, das Wort Gottes zu verkündigen, die Gewissen zu trösten, die Gewissen zu beraten. Also handelt es sich hier wohl wirklich nur um eine Umformung der mittelalter­ lichen Idee l Mit nichten. Es handelt sich nur um eine neue Formulierung der gemeinchristlichen Anschauung von der Kirche, bei der wiederum das S p e z i ­ f i s c h - K a t h o I i s c h e , nämlich die Meinung, daß eine bestimmte äußere Rechts­ ordnung für die Kirche wesentlich sei, völlig beseitigt wird. Denn der Glaube an die Kirche als eine Stiftung Gottes, durch die und in der der Geist Gottes in der Welt wirksam ist, ist so alt wie das Christentum«, S. 120, Gewiß, aber das Entscheidende ist, daß neben dem Kirchentypus gleichalt der Sektentypus ist und wie jener Wurzeln im N. T. hat, weiter, daß der Kirchentypus erst im lateinischen Ka­ tholizismus zu einer inneren Durchdringung von Kirche und Welt im Corpus Chri­ stianum oder in der christlichen Gesellschaft geworden ist mit der Pflicht der Obrig­ keit für diese Einheit durch Garantierung und Schützung der Anstalt zu sorgen und daß diese Idee vom Protestantismus fortgesetzt wird, daß also das Wesent­ lich - Katholische nicht bloß in der Bindung der Kirche an eine äußere Rechts­ ordnung liegt. In seinem sich beständig steigernden Gegensatz gegen den Sekten­ typus folgt der Protestantismus dem Kirchentypus und zwar dem mittelalterlichen Kirchentypus mit seinem Ideal einer einheitlichen christlichen Gesellschaft ; und daher sind auch seine Soziallehren denen des Katholizismus in so vieler Hinsicht nahe verwandt. Ob man darin eine Schranke oder eine ewige Wahrheit sehen will, ist Sache der dogmatischen Anschauung. Tatsache ist nur, daß in der mo­ dernen Welt die religiösen Wurzeln des Kirchenbegriffes und damit dieser selbst sehr schwach geworden ist und daher auch ihre Soziallehren einen ganz anderen Typus tragen. - Ueber den lutherischen Kirchenbegriff in seiner begriff lichen Ge­ staltung s. Kolde, Luthers Stellung zu Konzil und Kirche bis zum Wormser Reichs­ tag, 1876; J. Köstlin, Luthers Lehre von der Kirche, 1853; R. Seeberg, Der Be­ griff der christlichen Kirche, 1, r885.

Doppelte Konsequenzen di:s Kirchenbegriffes.

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heit und allgemeine Herrschaft der Kirche , die bei der Un­ möglichkeit einer europäischen oder deutschen Gesamtreform schließlich in die Aufrichtung einheitlicher Landeskirchen aus­ mündeten. Aus dieser Universalität wiederum ergab sich zweitens die Ausweitung der kirchlichen Ethik auf die Gebiete der weltlichen Kultur und Gesellschaftsordnung, die Akzeptierung der dem christlich­ sittlichen Ideal nicht unmittelbar entsprechenden, aber unumgäng­ lichen Lebensordnungen, die Fortführung des die rein christliche Ethik ergänzenden Grundbegriffs der Lex naturae 211). Wie sehr das 211)

Dieses Wesen der Kirche, daß sie die Gesellschaft möglichst total be­ herrschen und zugleich die Kultur rezipieren müsse, ist sehr charakteristisch for­ muliert von dem verstorbenen Präsidenten des preußischen Oberkirchenrates, H. von der Go!tz, in >Grundlagen der christlichen Sozialpolitik«, 1908, S. 203: >Die Kirche (die ihm mit der >religiösen Gemeinschaft« selbstverständlich identisch ist) >erscheint in allen drei Formen des sozialen Lebens (nämlich Familie, Staat, Ge­ sellschaft), aber sie geht in keiner einzelnen auf und vermag auch von keiner ein­ zelnen allein getragen zu werden. Sie behauptet als Kirche (und zwar als univer­ sale Einheitskirche, die nur in der geschichtlichen Wirklichkeit durch die katho­ lische Verderbung durchbrochen ist) ein Recht eigentümlicher Existenz und Wirk­ samkeit gegenüber allen sozialen Kreisen des natürlichen und irdischen Lebens. Diese h e r r s c h e n d e Stellung der Kirche in der sozialen Welt beruht in dem Zusammenwirken von vier Faktoren: 1) dem christlichen Offenbarungsbegriff, welcher in der geschichtlichen Person Christi nicht nur das Werkzeug, sondern auch den Inhalt der Offenbarung des unsichtbaren Gottes anerkennt und die Kirche als das Organ des vollkommen abschließenden Wortes Gottes an die Menschen, als die T r ä g e r i n d e r a b s o l u t e n religiös-sittlichen Wahrheit hinstellt (das ist der objektivistische und absolute Wahrheitsbegriff); 2) der Verlegung des eigent­ lichen Zieles des Menschen in das Jenseits, so daß alles Irdische nur als Schule für die Ewigkeit und die Kirche als Vermittlerin des himmlischen Gutes erscheint (das ist die allein selig machende Kraft der Kirche); 3) der Verbindung der ge­ trennten Kreisen und Schichten der Menschenwelt zu einem internationalen, a 11 e soz i a l e n G e g e n s ä t z e e t h i s c h ü b e r w i n d e n d e n G e m e i n w e s e n (das ist die aus den beiden ersten Faktoren folgende Universalität); 4) der sitt­ lichen Belebung und harmonischen Gestaltung des gesamten Kulturlebens von den religiösen Motiven aus als Mittel der V e r b i n d u n g a l l e r s i t t 1 i c h e n Au f­ g a b e n z u r E i n h e i t (das ist die aus der Universalität folgende Rezeption des Weltlebens, deren Spannung gegen das N. T. v. d. Golz wie alle Kirchenmänner gar nicht empfindet). Durch Kombination dieser vier Momente gelang es der Kirche, dem Seelenleben der Religion einen eigenen geschichtlichen Leib anzubilden, welcher sich als d i e h ö c h s t e u n d v o l l k o m m e n st e F o r m s o z i a l e n Lebens geltend machte. Ihre eigentümlichste Grundlage hat die Kirche in der Offenbarung, ihren Hauptzweck in der E r z i e h u n g und Verbindung der Menschen für die Ewigkeit, ihr

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem,

aus dem Kirchentypus folgt, zeigt sich vor allem daran, daß Luther persönlich diese Konsequenzen gar nicht ohne weiteres bequem lagen, sondern aus der Logik des kirchlichen Gedankens heraus sich ihm allmählich immer stärker aufdrängten. Er hat sie in der ersten Mittel in der internationalen Organisation und in der Pflege der Humanität im Kultur­ leben«. Diese Charakteristik gilt ausdrücklich für die Kirche überhaupt, für Ka­ tholizismus und Protestantismus gleichermaßen, S. 24-30. Erst innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens ergeben sich die Differenzen von Kath. und Prot., S. 284: ,Diese Auffassung von der Stellung der Kirche im menschlichen Gemeinleben ist aber noch einer verschiedenen Deutung fähig. Die katholische Kirche macht ihren Organismus zum Selbstzweck und setzt überall die äußere Form mit dem geistigen Gehalt gleich (l); der Protestantismus weiß, daß alles Kirchliche nur Wert hat, sofern es auf ein innerlich freies, aber auch absolut festes und gewisses (hier liegt die Schwierigkeit des prot, Kirchenbegriffes) B a n d des persönlichen Lebens­ g r u n d e s (!) mit Gott hinarbeitet«. Diese logisch und stilistisch gleich undurch­ sichtige Formulierung zeigt die Komplikation des protestantischen Kirchenbegriffei. Er wird nicht klarer durch folgende Näherbestimmung: ,Sie darf nicht ihre wandel­ bare korporative Form und Lehre, Kultus und Verfassung als Zweck behandeln, sondern diese muß ihr das dem Wechsel der Zeiten angepaßte Mittel werden, um die Gemeinschaft mit Gott in den Herzen zu pflegen und reinigend und heiligend auf innerlichem Wege auf die Kulturwelt einzuwirken. Und wenn dabei ihr b e r e c h t i g t e r E i n f I u ß bedroht ist, darf sie nicht in altjüngferlichem Tone sich an äußerliche Stützen hängen, sondern muß ihre Dienste begehrenswert machen und die Gerechtigkeit Gottes als überwindende Macht in die Gewissen hinein­ strahlen. Nur bei einer so hohen, auf d i e G e s i n n u n g g e g r ü n d e t e n F a s s u n g ihrer ethischen Aufgaben kann die Kirche auch ihre gesunde (d, h. nicht zwangsmäßig bewirkte und darum freudig ertragene) Stellung zu den Kultur­ aufgaben und zu den verschiedenen Kreisen natürlich - sittlicher Gemeinschaft be­ haupten«, In diesen Aeußerungen hat man alle Eigentümlichkeiten des Kirchen­ begriffes und alle Schwierigkeiten des besonderen protestantischen Kirchenbegriffes beisammen ; die letzteren bestehen in der Vereinigung von innerer Freiheit und absoluter Festigkeit, von universaler Herrschaft und von geistig-innerlicher Selbst­ durchsetzung unter Verzicht auf jede Zwangsgewalt, von jenseitiger Abzweckung und harmonischer Kulturdurchdringung, von objektiver Anstalt und persönlicher Gesinnungsreligion, Auch die Beziehung dieser Kirche auf die ,natürliche« Gesell­ schaft, die v. d, Goltz konstruiert, ist nur eine Modernisierung der lutherischen Lex naturae und des aus ihr abgeleiteten Gesellschaftssystems. Ganz ähnlich be­ zeichnet einer der tätigsten kirchlichen Geschäftsführer der Konservativen, R. See­ berg, ,Die kirchlich - soziale Idee und die Aufgaben der Theologie der Gegen­ wart« (Zur syst. Theo!. II, 1909) S. 327, die •g e s u n d e Frömmigkeit« als zu­ gleich kirchlich und kulturfreundlich, d. h. ,in das Weltgetriebe vordringend und es heiligend«. Das fordert ,die N a t u r der Menschen wie die Geschichte der Kultur und der Religion gleichermaßen«, S. 328, ,Alle Gestaltungen des n a t ü r-

Erste Konsequenz: der absolute Wahrheitsbegriff.

Richtung nur mühsam und widerspruchsvoll entwickelt, weil seine Verinnerlichung und Spiritualisierung des Kirchenbegriffes der Zwangsherrschaft eines universalen Kirchentums widersprach und weil sein Laienpriestertum ihn gelegentlich an die Grenze der vom Individuum her die Gemeinschaft konstruierenden Sekte führte. Aber auch in der zweiten Richtung ging es nicht ohne starke Schwankungen ab, weil sein Biblizismus ihn tief in die weltindifferente, dem weltlichen Wesen des Kampfes ums Dasein, der Macht, des Rechts, des Besitzstrebens entgegengesetzte Liebes­ ethik des Evangeliums hineinführte und ihn auch hier zu Berüh­ rungen mit der Sektenethik führte. Wenden wir uns zunächst zu der ersten Entwickelung. Mit dem supranaturalen Kirchengedanken, der die Kirche als von Gott gestiftet und mit einer schlechthin autoritativen, gegen alle menschliche Meinung gesicherten Wahrheit ausgestattet betrachtet, war der entscheidende v,.r a h r h e i t s b e g r i f f gesetzt, der Einheit, Unveränderlichkeit, Universalität und Infallibilität der Kirche in dem sie begründenden Organisationskerne bedeutete. Für den KatholiI i ch e n Lebens im Staat und in der Politik, im Handel und in der Industrie, in der Wissenschaft und in der Kunst, aber auch alle Großtaten der Gewaltigen und alle Werke der Alltagsmenschen stellen sich dem Christen dar als Wirkungen Gottes, in denen sich das Kommen seiner Herrschaft anbahnt und verwirklicht. Die Unterschei­ dung von Staat und Kirche, s o w i c h t i g s i e s o n s t i s t , darf n i e d e n S i n n h a b e n, als sei Gott nur in der Kirche wirksam oder als seien Gottes Diener frei von der Pflicht, ihm auch in den Formen der Familie, des Volkslebens, der Gesellschaft und des Staates zu dienen«, S. 334. Das heißt Herrschaft der Kirche über die Kultur ohne die hierarchischen Machtmittel und Herrschaftsweisen des Katholizismus. Auch für Seeberg ist das selbstverständlich der Sinn Jesu und des Neuen Testaments: »Die (durch die Kirche und das Amt) erlösende Herrschaft Gottes ist das schöpfe­ rische und leitende Prinzip der menschlichen Geschichte und s i e o r g a n i s i e r t d i e s e G e s c h i c h t e auf dem Wege der durch Wechselwirkung sich vollziehen­ den Entwickelung zu dem Ziele des Reiches Gottes. Diese beiden urchristlichen (!) Gedanken bedingen die eigentümliche Weltanschauung des Christentums«, S. 333. Darum ist die Kirche für Seeberg genau so wie für die Katholiken Mausbach, v. Nostitz-Rieneck u. a. das »Prinzip des Fortschrittes«. Bei ihrem Beruhen auf absoluten göttlichen Wahrheiten ist die Kirche natürlich in der Hauptsache absolut konservativ, aber »auch der Hemmschuh ist ein Mittel des Fortschritts, wenn ohne ihn der Wagen in den ersten besten Abgrund hinabrollte und zerschellte«. Das alles sind in der Tat auch die Motive des lutherischen Kirchengedankens, nur in die Sprache moderner Mattigkeit und Geistreichigkeit übersetzt und ohne Gefühl für die schweren Probleme, die Luther in diesen Gedanken empfand.

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

zismus leisteten das Dogma und Tradition, Hierarchie und Sakra­ ment, und von diesem Grundtriebe aus hat er sich zu dem welt­ beherrschenden System entwickelt, das entgegen seinen ursprüng­ lichen Prinzipien schließlich auch die Zwangsdurchsetzung auf seine Fahne schreiben mußte. Für den Protestantismus war dieser Kern das Bibelwort und das das Evangelium versiegelnde Sakra­ ment mit der selbstverständlichen Folge eines geordneten, aber in der Art der Ordnung von den Umständen abhängigen Predigt­ amtes. Damit handelte es sich für ihn um Fixierung des reinen Wortes und um Organisation eines den reinen Glauben einhaltenden Predigtamtes. In beiden Hinsichten hatte nun aber der neue Kirchen­ begriff erhebliche Schwierigkeiten. Das ihm zu Grunde liegende » Wort« sollte ja in Luthers großer und freier Denkweise nur das sein, was Christus treibt, das in der Bibel enthaltene paulinisch­ johanneische Christusbild in nizänisch-chalcedonensischer Deutung durch das Trinitätsdogma. Aber wie war dieses » Wort« inner­ halb der Bibel abzugrenzen? Seine freie Herausgestaltung aus der Bibel und seine Begründung auf persönliche Erfahrung öffnete den buntesten Deutungen und der Mystik neuer, die Bibel über­ steigender Erleuchtungen das Tor. Es blieb nichts übrig als das Tor zu schließen, als das freie Wort der Verkündigung und dessen geschriebene Grundlage in der Bibel scharf zu scheiden, jenes an diese streng zu binden und die Bibel als Ganzes zu kanonisieren, sie in ihrer Uebereinstimrnung mit dem Dogma der alten konzi­ liaren Legislatur zu kanonisieren, ihre Auslegung durch feste, aus ihr selbst d. h. aus dem Paulinismus gewonnene Maßstäbe zu regulieren und so das protestantische Bibeldogma zu schaffen, nach welchem die Bibel der Kern der Kirche, die schlechthin inspirierte Autorität und die durch die ihr einwohnende Bekehrungskraft wirksame Heilspotenz ist. Die Bibel beweist und bewirkt durch den ihr einwohnenden heiligen Geist ihre eigene Infallibilität ; sie ist klar genug um alle Auslegungsdifferenzen selbst zu überwinden. Das war eine unumgängliche Konsequenz, wenn der Kirchenbe­ griff wirklich auf sie begründet werden und ernsthafte Festigkeit gewinnen sollte. Die Ansätze zu einer freien historisch-mensch­ lichen Bibelbetrachtung verschwanden daher schon bei Luther, noch mehr bei der folgenden Orthodoxie. Der Kirchenbegriff als Begriff einer gottgestifteten Heilsanstalt forderte nun einmal eine fest begründete, genau umrissene, für alle gleiche und verbind­ liche Wahrheit, und dieser Wahrheitsbegriff forderte die unbedingte

Das kirchliche Amt,

Autorität der Bibel, die wiederum ohne die Annahme einer Art literarischer Inkarnation Gottes nicht möglich ist. Der katholischen Fortdauer der Menschwerdung im Priestertum entspricht die pro­ testantische Fortdauer in der Bibel. In der historisch-mensch­ lichen Bibelkritik und in der Begründung der Bibelgeltung auf persönliche Heilserfahrung bleibt der wunde Punkt des ganzen Kirchenbegriffes 212). Der andere Punkt, d a s P r o b 1 e m d e r O r g a n i s a t i o n e i n e s A m t e s d e r W o r t v e r k ü n d i g u n g , war nicht min­ der schwierig. Der Träger der Kirche ist das Wort und nicht eine in der Sukzession stehende Hierarchie. Das Wort aber hat wiederum sein Wesen in der Kraft zur persönlichen Ueberzeugung 212) Die Herausarbeitung der Autorität und alleinigen Infallibilität der Bibel zugleich mit der Begründung dieser Infallibilität auf die praktische, allein erlösende Heilserfahrung von der Bibel s. bei Preuß, Entwickelung des Schriftprinzips bei Luther, 1901. Hier S. 6, 14, 60 sehr richtig die Unterscheidung von dem huma­ nistischen Schriftprinzip, das nach historischer Methode die Ursprünge heraus­ arbeitet und daher wohl zu einer Messung an ursprünglichen Zuständen, aber zu keiner religiös begründeten Infallibilität gelangt. Treff end auch das Verhältnis zur Mystik, die im unmittelbaren Verkehr mit Gott die kirchliche und die Schriftver­ mittelung ignoriert: Luther modifiziert den Gedanken der Vereinigung der Seele mit Gott zur Vereinigung der Seele mit dem Wort und bezieht das allgemeine Offenbarungs- und Erlösungsprinzip des Logos stets auf Christus und das Wort von Christus, so sehr, daß auch alle, die Herrlichkeit der Logosschöpfung em­ pfindende, christliche Naturbetrachtung durch die Betrachtung Christi und des Wortes vermittelt ist. Ueber das Verhältnis der kritisch-freien Schriftbehandlung Luthers und der gleichzeitig festgehaltenen Infallibilität der Schrift s. Scheel, Luthers Stellung zur h. Schrift, 1902. Luther und vor allem seine Kirche hat auf die Dauer beides nicht vereinigen können und das erstere zugunsten des letzteren aufgegeben. Das ist aber nur die Konsequenz des kirchlichen Autoritäts- und Organisationsbedürfnisses. Es ging nicht anders und konnte nicht anders gehen. Die Versuche heutiger Theologen, auf Luthers reicheres, Kritik und Autorität ver­ einigendes, nur im praktisch - religiösen Kern maßgebendes, anfängliches Schrift­ prinzip zurückzugehen, setzen einmal die Festigkeit gegebener Kirchen, die nur durch das orthodoxe Schriftprinzip erworben werden konnte, schon voraus, und vermögen zweitens doch nirgends Einheit zu schaffen, insofern dann überhaupt nirgends mehr eine autoritative Grenze zu ziehen ist. . Mit dem Kirchen- und dem absoluten Wahrheitsbegriff einheitlich - normativer Erkenntnis verbunden muß das Schriftprinzip in die orthodoxe Lehre ausmünden wie die Institution des Papst­ tums in das unfehlbare monarchische Lehramt, und die die Bibelkritik akzeptierende moderne Rechtgläubigkeit befindet sich in derselben Lage wie der das Papsttum in eine pädagogische Aufsichtsbehörde zurückverwandelnde katholische Modernismus.

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III. Der Protestantismus,

I, Das soziologische Problem,

und Wiedergeburt. So sind die eigentlichen Träger der Kirche, die vom Worte wiedergeborenen Christen, die wahrhaft frommen und lebendigen Christenleute, und ihnen kommt die Leitung wie die Organisation der Kirche zu. So scheint in der Tat die Kirche vom Zusammenschluß und der strengen persönlichen Christlichkeit der Gemeindeglieder her sich zu ergeben. Aber es scheint nur so. In den Wirren des Uebergangs, wo Altgläubige und Neu­ gläubige noch durcheinander saßen, die alte Kirchenordnung noch nicht beseitigt und eine neue noch nicht aufgerichtet war, wo man noch auf ein Konzil oder eine Ordnung von Reichs wegen hoffen konnte, wo das Scheitern solcher Hoffnungen Luther den Gedan­ ken an das Weltende nahe legte und alle Gemeindebildung ihm als Sammlung der Gläubigen für das Wiederkommen Christi er­ scheinen ließ, da hat Luther mehrfach Anweisungen gegeben, engere Kreise von wahrhaft Gläubigen mit eigener christlicher Lebensordnung, abgegrenztem Beicht- und Kommuniongebrauch selbständiger finanzieller Fundamentierung und eigenem Recht der Predigerberufung zu bilden. Es ist die Gärungsperiode der rein lokalen Reformversuche, wo Luther die Gemeinden auf Grund­ lage des allgemeinen Priestertums experimentieren ließ. Das ist oft als eine völlige Durchbrechung des katholischen Kirchenbegriffes gefeiert oder umgekehrt als vorübergehende Abirrung zum Sekten­ typus entschuldigt worden. Aber in Wahrheit ist weder das eine noch das andere der Fall. Der Kirchen- und Anstaltsbegriff an sich ist mit diesem »Gemeindeideal« in keiner Weise aufgegeben. Denn einmal sind auch diese engeren eigentlichen Christengemeinden vom Wort hervorgebracht und urteilen sie über die Lehre immer ver­ möge eines vom Wort und seiner wunderbaren Kraft selbst hervor­ gebrachten Konsens; die Gemeinde ist nur das Produkt des Anstalts­ kernes, des Wortes, und nie der Produzent der christlichen Ge­ meinschaft. Weiterhin aber sind diese Gemeinden nur als Kern der Christenheit, als vorläufige Erziehungsmittel gedacht, die die Men­ schen durch ihr Vorbild und ihren Einfluß erziehen sollen und von denen aus das Wort wieder in die Allgemeinheit wirken soll und wird. Aber nicht nur der kirchliche Anstaltsbegriff ist dabei gewahrt; auch die Tendenz auf Universalität und auf schließlichen Zusammenfall der Gebietseinheit und der Religionseinheit ist dabei mit geringfügigen Schwankungen festgehalten. Ein irgendwann einmal· eintretendes Definitivum ist dabei vorausgesetzt, und dieses Definitivum ist entweder das Weltende oder, wenn die Vv'elt dauern

Das kirchliche Amt.

soll, eine universalkirchliche Reform. Luther wendet sich zu diesen Gemeindebildungen überhaupt erst, nachdem der Aufruf an den Adel, d. h. an die Landesherren, sich vergeblich und die Hoff­ nung auf ein Konzil sich ins Unbegrenzte hinausgeschoben hatte. Er betrachtet sie als Sammlungen der Frommen in der Auflösung der Kirche vor dem Kommen des Antichrist; so selbstverständlich ist ihm die kirchliche Lebenseinheit, daß er deren Auflösung nur als Zeichen der beginnenden Endkämpfe sich erklären kann. Sie sind Provisorien und nichts Endgültiges und Wesentliches; und über­ dies ist es ihm selbstverständlich, daß neben dem die christliche Obrigkeit die äußere Christenheit, d. h. die christliche Ordnung des Lebens, gegen Aufruhr und offene Blasphemie aufrecht er­ hält. Ja, er empfiehlt die neuen Gemeindebildungen überhaupt nur da, wo bestehende Patronats- und positive Rechtsverhältnisse die Reform der gesamten Ortsgemeinde im evangelischen Sinne ausschließen. Hier sollen sich die wahren evangelischen Christen zusammentun und, wenn sie die Predigt einem Bruder über­ tragen, so ist es ein evangelisch gewordener Priester, womit ja auch die kirchliche Kontinuität gewahrt ist. Ueberdies sollen dabei die Gemeinden möglichst durch ihre natürlichen Ver­ treter, die Ortsobrigkeiten , handeln , damit alles in tunlichster Uebereinstimmung von gegebener Ordnung und kirchlichem In­ teresse geschehe und nicht aus der Willkür der Subjekte her­ vorgehe. Der Gottesdienst soll dabei allen geöffnet sein, nur der engere Kommunionsverband soll sich besonders konstituieren : die Kindertaufe versteht sich nach wie vor von selbst, und die Jugend muß zur religösen Unterweisung gebracht werden. Alle diese Versuche aber hören von dem Moment ab auf, wo die Un­ möglichkeit einer Gesamtreform entschieden ist, wo man nicht mehr von den ganz verschieden gesinnten einzelnen Ortsgemein­ den her zu operieren braucht, vielmehr die evangelischen Länder sich zu einer selbständigen Gesamtordnung ihrer kirchlichen Verhältnisse wenden. Da wird es dann selbstverständlich, daß die Landesherren und Obrigkeiten als zum Dienst am Gottes­ wort verpflichtete Gemeindeglieder und als die verordneten Re­ präsentanten der Gemeinde die kirchliche Ordnung durch Visita­ tionen in die Hand nehmen und die Herrschaft des reinen Wortes aufrichten, das wenigstens in seiner Reinheit überall auf den Leuchter gestellt werden und allen zugänglich gemacht werden muß. Das immer nur sehr relativ verstandene Gemeindeideal T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus,

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verschwindet, und das Landeskirchentum löst die universale Welt­ kirche ab, ohne sie dadurch aufzuheben, da ja überall, wo Wort und Sakrament ist , bei den verschiedensten Formen die allge­ meine Kirche ist. Den Abfall der römischen Kirche aber kann Luther von seinem Ideal- der allgemeinen Einheitskirche aus sich nur so erklären, daß der Papst der in der Apokalypse geweis­ sagte Antichrist ist; so verschwindet der Anstoß, den der Abfall einer so großen und dauernden Gruppe von der ursprünglichen reinen Wortkirche bereiten muß, so lange man das Ideal einer all­ gemeinen, von Gott geleiteten und alleinseligmachenden Kirche fest­ hält. Was Gott selbst geweissagt hat, das kann kein Argument gegen das von Gott aufgerichtete Institut der reinen Kirche sein. So kommt in dem L a n d e s k i r c h e n t u m die Univer­ salität und der Herrschaftsanspruch der Kirche mit der Siche­ rung der reinen Lehre und der geordneten rechtgläubigen Schrift­ verkündigung schließlich zur Geltung Luther wollte selbstver­ ständlich nicht die Herrschaft der Landesherren in der Kirche; diese lag vielmehr in der Konsequenz der spätmittelalterlichen Entwicklung und war überhaupt nicht zu umgehen, wenn ein­ mal die ganze Ordnung den Landesherren anvertraut war. Luther wollte nur den Liebesdienst der Landesregierungen für die Kirche, bei völliger Selbständigkeit der inneren Wirkung des in diesen Kirchen aufgerichteten Gotteswortes. Es ist eine Trennung der Kompetenzen innerhalb eines gemeinsamen Lebens­ zusammenhanges , die von Hause aus praktisch sehr schwie­ rig ist und die sich in ihrem reinen lutherischen Verstand nur durch den überidealistischen Glauben begründen läßt, daß das Wort von selbst in der Kirche einhellige Erkenntnis und Predigt wirken werde und daß es gleichzeitig in den außerkirchlichen Beziehungen die frei sich ihm unterstellenden Obrigkeiten und Laien den richtigen Weg führen werde, soweit sie diesen nicht von selbst durch das Naturgesetz geführt werden. Indem auf eine Regelung durch die rechtliche Uebermacht der Hierarchie verzichtet wird, wird alles auf den Glauben an die nie versagende, einheit­ liche und vereinheitlichende Wirkung des Wortes abgestellt, das ohne gewaltsames Zutun der Menschen die Einheit des Corpus Christianum hervorbringen soll und das , wo es das nicht zu Stande bringt, eben dem Teufel und der Sünde unterliegt, wie es in der bösen Welt zu geschehen pflegt. Von hier aus legen sich Luther dann immer wieder eschatologisch-apokalyptische

Das Landeskirchentum.

Stimmungen nahe, wo es dann nur darauf ankommt, daß in dieser Verderbnis der Endzeit die Einzelnen ihre Seele retten durch Glauben und Dulden. Der enge Zusammenhang zwischen dem Verzicht auf einheitlich - christliche Lebensordnung und eschatologischer Stimmung wie umgekehrt zwischen der Einrichtung auf dauernde Weltverhältnisse und der Reform des gesamten christlichen Le­ bens zeigt deutlicher noch als alles andere, daß sein Kirchenbe­ griff den Gedanken der Universalität und das Ideal einer geistlichen Allbeherrschung des Lebens nicht aufgegeben hat, was beides denn ja auch in der Tat von der Voraussetzung einer absolut-offen­ barten und alleinseligmachenden Wahrheit her gar nicht aufge­ geben werden kann. Aber allerdings zeigt sich in diesen Schwan­ kungen und in den anfänglichen Aeußerungen des » Gemeinde­ ideals« die besondere Art des lutherischen Kirchenbegriffes, die die uniforme und allumfassende Herrschaft des Wortcs rein auf die innere persönliche Ueberzeugung und die Gemeinschaft rein auf den in der Liebe wirkenden Glauben an dieses Wort bei Gleich­ gültigkeit der äußeren technischen Ordnung begründen will. Er will die Objektivität der Anstalt und die Subjektivität der per­ sönlichen Christlichkeit in seinem Begriff von »Wort« und »Glaube« als den bildenden Grundkräften der Kirche vereinigen. Bei der Schwierigkeit, diese Gegensätze zu vereinigen, ist es nicht ver­ wunderlich, daß dieser Kirchenbegriff bald nach der einen, bald nach der anderen Seite über sein eigentliches Ideal hinausgeht 218). 218) Rieker, der die Bedeutung des mittelalterlichen Gedankens des Corpus christianum auch für Luther durchaus siegreich klar gemacht hat, hat allerdings in diesem Gemeindeideal Schwierigkeiten gefunden, die er zu leicht aufgelöst hat, wenn er im Anschluß an die dürftigen Bemerkungen von Achelis dieses ,Gemeinde­ ideal« als Abirrung zum täuferischen Sektentypus bezeichnet, die gegen die vor­ herigen und nachherigen Aeußerungen Luthers gehalten als ein Tribut an ihm innerlich fremde Zeitneigungen erscheint, Rieker S. 74-86, Achelis, System der prakt. Theo!. I, 35 f. Gegen diese Deutung hat Walther Köhler a ls gegen eine Verkennung und Unterschätzung des Gemeindeideals sich gewendet in einer höchst lehrreichen Untersuchung: »Die Entstehung der reformatio ecclesiarum Hassiae« von 1526, Deutsche Z. f. Kirchenrecht, 1906, S. 199-232 und in einem Aufsatz: ,zu Luthers Kirchenbegriff«, Christi. Welt 1907, S. 371-377. Dem folgte dann die eingehende Untersuchung von Drews, »Entsprach das Staatskirchentum dem Ideal Luthers?«, 1908, die diese Frage verneint und das Gemeindeideal als mit

dem kirchlichen Grundgedanken wohl vereinbar, aber durch die besondere Ueber­ gangslage bedingt zeigt; es kommt nur auf Aufrichtung des Wortes an, wie l ist gleichgültig; da es schließlich nur mit Hilfe der Landesherrn ging, so hat Luther 30*

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

Indem aber so die Universalität der Kirche nicht bloß durch die Kraft des Wortes, sondern durch die politisch-polizei­ liche Aufrechterhaltung einer äußeren Christenheit und durch die Schaffung einer landeskirchlichen Organisation hergestellt deren Hilfe als Liebesdienst, aber nicht als Herrschaft akzeptiert. Noch weiter auf Begründung des Gemeindeideals durch tatsächliche örtliche Verhältnisse ging Karl Müller, ,Luther und Karlstadt« S. 217-223, 123 ein, der die Notwendigkeit der Ein­ richtung neben den alten Patronatsverhältnissen betont, und Hermelink, ,Zu Luthers Gedanken über Idealgemeinden und von weltlicher Obrigkeit«, Z. f. Kirchengesch., 1908, S. 267-322, wo der Zusammenhang dieses Gemeindegedankens mit apokalyptischen Stimmungen und zugleich die antidemokratische Auffassung der Gemeinden als jedes­ mal durch die Ortsobrigkeit möglichst vertreten gezeigt wird. Für unseren Zusammen­ hang kommt es darauf an, daß in alledem jedenfalls der kirchliche Gedanke selbst gewahrt ist trotz scheinbarer Annäherung an den Sektentypus, s. auch Troeltsch, »Trennung von Staat und Kirche« S. 9-23. Der Zusammenfall von Gebietsein­ heit und Religionseinheit ist bei alledem auch für Luther etwas Selbstverständ­ liches, Drews S. 99, und aller anfängliche Verzicht auf Gewissenszwang bedeutete doch immer nur ein im Vertrauen auf das Wort begründetes provisorisches Gehen­ lassen, bei dem überdies die Obrigkeit jede offene Blasphemie und jeden Aufruhr, d. h. jede Störung der Einheit der christlichen Gesellschaft zu unterdrücken hatte. Darüber gleich mehr. Immerhin liegt in diesen Aeußerungen uber das Gemeinde­ ideal von 1522-1525 ein eigentümliches, nicht bloß örtliches und nicht bloß mo­ mentanes Problem, das gerade für die soziologische Bedeutung des lutherischen Kirchenbegriffes höchst interessant ist. Es ist ein Versuch, innerhalb der all­ gemeinen christlichen Gesellschaft und der getauften Anstaltschristenheit engere Kreise zu stiften, in denen die radikale Christlichkeit verwirklicht wird, ohne durch diese engeren Kreise doch den allgemeinen Kirchencharakter aufheben zu wollen. Köhler nennt es ein ,Nebeneinander einer obrigkeitlich regierten und organisierten christlichen Gesellschaft und der kleineren Kreise von Kult- und Liebesgemeinschaften«. ,Als Luther auf die Ausführung seiner Gedanken ver­ zichtete, nahmen die Wiedertäufer sie auf, von dort übernimmt sie Butzer, von dort Calvin«, Christl. Welt S. 470. Das Entscheidende ist aber, daß dabei die Wieder­ täufer auf den weiteren Kreis der christlich regierten Gesellschaft verzichten, die Taufe nur als Spättaufe der gereiften Christen gelten lassen und die Gemein­ schaft der so getauften der weltförmigen Moral der angeblichen Christenheit und Kirche schroff gegenüberstellen. Umgekehrt verwandelt der Calvinismus ,die engeren Kreise« in die Gesamtkirche und gibt ihnen eine universalkirchliche Struktur, innerhalb deren er für die persönliche Christlichkeit aller Gebiets- und Kirchen­ glieder sorgt. Die Täufer streifen den Kirchengedanken ab, der Calvinismus ver­ wandelt die engeren Kreise zurück in die mit der Gebietseinheit zusammenfallende Anstaltskirche. Luther sucht in jenen Aeußerungen der ersten Hälfte der zwan­ ziger Jahre unverkennbar einen Mittelweg. Da dabei von Hause aus der Kirchen­ gedanke absolut vorherrscht, so ist es nicht verwunderlich, daß er bei der defini-

Die Zwangsherrschaft der Kirche,

war, mußte Luthers Kirchenbegriff einen weiteren Zug in sich aufnehmen, der ihm innerlich fern lag und der doch aus der festgehaltenen Einheit und Universalität der Kirche notwendig folgte , die Z w a n g s h e r r s c h a f t d i e s e s u n i f o r m i e r t e n K i r c h e n t u m s. Das Prinzip der reinen Glaubens- und Ueberzeugungsreligion mußte die Freiwilligkeit , die innerliche Ueberzeugungszugehörigkeit zur Folge haben. In der Tat ver­ tritt Luther anfänglich nichts schärfer als die Freiheit und Inner­ lichkeit der Wirkung des Wortes. Er will keine Zwangsunter­ werfung und Zwangsbekehrung der Altgläubigen und auch keine solche gegenüber den Neuerern. Das Wort soll frei zu Felde liegen und alle innerlich überwinden. Aber der Ton liegt auf dieser letzteren Erwartung. Dem reinen Wort allein wohnt die Wunderwirkung der Bekehrung inne, der menschliche und priester­ liche Wahn wird in sich selbst vergehen. So ist Luther kein Vorkämpfer der Toleranz, aber wohl ein Vorkämpfer rein geisti­ ger Wirkungen des Wortes ohne Nachhilfe äußeren Zwanges. Nicht Duldung verschiedener Ueberzeugungen als subjektiv berech­ tigter, weil man ja über religiöse Dinge objektiv und zwingend doch nichts ausmachen kann, sondern absolute Selbstgewißheit von der alleinigen Wahrheit der eigenen Position oder vielmehr von der Göttlichkeit des Wortes und seiner Fähigkeit rein geistiger Selbstdurchsetzung, das ist die Toleranz, die von dem lutherischen Kirchenbegriff aus möglich war. Auch hier aber sollte die Frei­ gebung des Kampfes nur ein Provisorium in der Zeit des gä­ rungsreichen Uebergangs sein, an der endlichen Durchsetzung des Wortes hat Luther nicht gezweifelt, sobald er nicht in diesen Kämpfen die Vorboten des Endes, sondern den Durchgang zu neuen dauernden Verhältnissen erblickte. Aber er mußte erleb.eo, was jeder solcher Glaube erlebt und was auch schon die alte Kirche erlebt hatte, daß nämlich die Idee und der Glaube allein nie zu einer unbedingt allgemeinen Herrschaft mit rein geistigen Mitteln kommen kann, daß die Beschränkung auf diese Mittel die tiven Ordnung die vollen Konsequenzen des Kirchengedankens zieht und sowohl auf die Bildung engerer Kreise als auf die Uebertragung der Kirchenordnung nur an die Gemeinden verzichtet. Ihn im Sinne des Calvinismus auszubilden hinderte ihn außer den Verhältnissen sein jeder Gesetzlichkeit abgeneigter kirchlicher Gna­ dengedanke, während der Calvinismus in der Tat den Kirchengedanken mit einem sektenhaften Zwangselement versetzt. Das wird uns noch näher beschäftigen bei der Darstellung des Calvinismus.

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III. Der Protestantismus.

I.

Das soziologische Problem.

Universalität und Einheit in Frage stellt. So mußte auch er zu Zwangsmitteln greifen, die er wie die katholische Kirche nicht durch die Kirche, sondern durch den Staat au!iüben ließ. Die Kirche selbst ist auf Freiheit, Liebe und Ermahnung gestellt. Aber dafür, daß alle getauft und ihr unterstellt werden, sorgt die Sitte, die gesellschaftliche Bindung aller Rechte an die Christlich­ keit, und gegen dauernde Häresie schreitet der Staat ein, indem er in ihr die Störung auch der gesellschaftlichen Ordnung ahndet. Beide Ordnungen, die gesellschaftlich-staatliche und die kirchlich­ geistliche Einheit fallen ihm eben, wie dem Mittelalter ganz selbst­ verständlich zusammen; und, wenn dieses Zusammenfallen sich nicht rein automatisch von selbst durchsetzt, dann wird es Pflicht des Staates, wenigstens äußerlich jede Bezeigung eines dauernden Ge­ gensatzes unmöglich zu machen 214). In Anbetracht der Erzie214) Der Gedanke einer von einer einheitlichen Weltanschauung beseelten Ge­ sellschaft ist unzweifelhaft mittelalterlich, aber um deswillen nichts weniger als erledigt bis heute. Einen wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhang gibt es ohne Einheit der Weltanschauung überhaupt nicht, und man tut gut, sich daran zu er­ innern, daß im Gegensatz gegen die moderne, gesellschaftsauflösende Anarchie der Weltanschauung und des religiösen Denkens zwei so grundverschiedene Denker wie der Romantiker Novalis und der nüchterne Empirist Aug. Comte mit vollem Be­ wußtsein auf das Mittelalter als auf die klassische Epoche einer auf die Einheit der Ideen begründeten Gesellschaftseinheit zurückgegriffen haben. Heute hat man das gleiche Beispiel an der Sozialdemokratie vor sich. Auch die konservativen Par­ teien und die Kirchenmänner von heute arbeiten noch mit dem gleichen, wenn auch abgeschwächten Prinzip: s. Loofs, Luthers Stellung zu M.A. und Neuzeit, 1907, S. 19: •Andrerseits ist zwischen Luther und der Neuzeit nicht die Kluft befestigt, mit der Troeltsch hier rechnet: Hatten nicht selbst wir bis 1874 im wesentlichen noch den Taufzwang? Ist nicht die Gotteslästerung bei uns heute noch strafbar? Und haben wir nicht noch heute eine christlich gefärbte Autoritätskultur mit im großen und ganzen obligatorischen Religionsunterricht . . . Materiell wird der Be­ griff der Gotteslästerung jetzt freilich sehr viel anders gefaßt, als L. es tat. Aber in formaler Hinsicht ist der Unterschied gar nicht so groß.« Das trifft, insbeson­ dere für Preußen, zweifellos zu, ist aber auch nur ein Beweis dafür, daß hierin die gleichen Motive wie in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung fortwirken und daß die protestantische Zwangskultur genau so zu verstehen ist wie die mittel­ alterliche. Luthers Festhalten an der Einheit der religiösen Idee hat allerdings nicht bloß die Bedeutung einer mittelalterlichen Befangenheit, sondern einer aus dem Wesen einheitlicher Gesellschaftsverfassung und absoluter offenbarter Wahr­ heitserkenntnis notwendig sich ergebenden Folgerung. Mit dem Ziel mußten aber schließlich auch die Mittel gewollt werden und werden sie immer von neuem wieder gewollt werden.

Die Zwangsherrschaft der Kirche.

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hungsbedürftigkeit und Unreife der Massen mochte überdies ein Zwang zur Wahrheit und zum Heil völlig gerechtfertigt erscheinen, wie heute noch der Staat in der Zwangsschule und in tausend Mitteln zwangsmäßiger Gesinnungsbildung die Menschen zu ihrem Heile zwingt, wie jede Partei, jede Gruppe, ja sogar künstlerische und wissenschaftliche Richtungen ihre geistige Einheit nur durch Zwangsmittel gröberer oder feinerer, direkterer oder indirekterer Art aufrecht erhalten. Kein soziologischer Zusammenhang kann dauernd ohne Zwangsmittel existieren. Das ist eine Tatsache des Lebens, und aller Glaube an eine ausschließliche Macht der reinen Idee gehört nur unter die spiritualistischen Illusionen, nicht in das Reich der Wirklichkeit. Vor allem aber kann ein Zusammenhang, der auf absolute und alleinseligmachende Wahrheit begründet ist und mindestens die Zugänglichmachung dieser Wahrheit für alle samt ihrem Schutz gegen hartnäckige Untergrabung fordern muß, auf solche Zwangsmittel nicht verzichten. Hier hat Luther seinen anfänglichen Idealismus gründlich korrigiert, indem er außer der Zugänglichmachung dieser Wahrheit für alle auch die Beseitigung aller überhaupt die Ordnung des christlichen Gemeinwesens stö­ renden Häresien mit Gewalt durch die Obrigkeit forderte. Das traf vor allem die Täufer mit ihrem andersartigen Ideal von Staat und Kirche. Schließlich aber fielen auch ganz konsequent rein dogmatische Häresien unter den Begriff einer Störung der christlichen Gesellschaft, die der Staat im Interesse des Corpus Christianum zu unterdrücken hat. Und auch in der Art der Be­ strafung verschärfte sich die Stellung der Wittenberger immer mehr. Von der bloßen Landesverweisung ging man zum ewigen Gefäng­ nis und von hier sogar zur Todesstrafe weiter, alles eine Strafe im Namen des Staates nach vorausgegangener christlicher Ermah­ nung. Aber so dürstete ja auch die katholische Kirche nicht nach Blut, sondern ließ die Häretiker durch den Staat als hart­ näckige Störer der christlichen Gesellschaftseinheit bestrafen. Und wie sehr es sich in alledem um die Behauptung der christlichen Gesellschaftseinheit handelt, zeigt die Hilfskonstruktion Melanch­ thons, der die Bestrafung der Häretiker aus dem Naturgesetz, dem das christliche Gesetz ergänzenden Grundgesetz der einheitlichen Gesellschaft, ableitet, indem schon das Naturgesetz den Schutz der Religion verlange. Der scharfe Gegensatz gegen die ursprüng­ liche Stellung Luthers liegt hier auf der Hand. Und doch ist es kein reiner Gegensatz. Denn aus dem Ideal der Einheitskirche

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III. Der Protestantismus.

I, Das soziologische Problem.

mußte diese Konsequenz entspringen, sobald man nicht mehr an die rein spirituelle Durchsetzung des Wortes glaubte und doch dauernde Verhältnisse begründen wollte. Es bedurfte dazu gar nicht des gleichzeitigen Zwanges durch das Reichsrecht und durch die po­ litische Lage. Es folgte aus dem Gedanken der allein selig­ machenden Kirche, die die schwachen und groben Sünder vor Versuchung bewahren muß. Und es läßt sich nicht leugnen, daß Luther und die Wittenberger Juristen nicht nur unter dem Zwang der an der Kircheneinheit interessierten und die Täufer mit großer Nervosität fürchtenden Landesherren, sondern aus eigenem klaren Willen schließlich eine furchtbar grausame Zwangsherrschaft gegen :.Zwinglianer, Sakramentierer, Schwärmer und Wiedertäufer« auf­ gerichtet haben, ohne damit den Gedanken aufzugeben, daß die Kirche rein geistlich zu wirken habe. Es war eine Selbsttäuschung, die da möglich ist, wo man die Wahrheit absolut kennt und da­ her Toleranz für die Wahrheit, aber Intoleranz für die Unwahr­ heit von den politischen Gewalten fordern zu dürfen ehrlich über­ zeugt ist. Was den Rebellen bestraft und gewaltsam beseitigt, ist nicht die Kirche als solche, sondern das aus ihr folgende Ideal einer universalen Herrschaft der absoluten und alleinselig­ machenden Wahrheit über die Gesellschaft , der absolutistisch­ objektive Wahrheitsbegriff und die von ihm getragene allgemeine christliche Gesellschaftsidee 215). 215) Auch hier sind Luthers Aeußerungen nach Zeit und Umständen wider­ spruchsvoll, und die Sammlung und Erklärung dieser Aeußerungen ist je nach apologetischer oder polemischer, historischer oder dogmatischer Tendenz sehr ver­ schieden. Aus den Zwickauer Akten hat Wappler eine Reihe von Religionsprozeß­ akten, Regierungsverfügungen und Gutachten der Wittenbergischen Theologen und Juristen veröffentlicht, die von der Visitation ab den furchtbarsten und kleinlich­ sten Gewissenszwang zeigen, s. Wappler, Inquisition und Ketzerprozesse in Zwickau zur Reformationszeit, 1908. Er hat damit eine Darstellung der Aeußerungen Luthers und Melanchthons verbunden, die den Gegensatz der anfänglichen Duldung und Nichteinmischung der Obrigkeit in den freien Geisterkampf gegen die spätere An­ weisung, alles Aufrührerische und Ordnungstörende mit Landesverweisung zu be­ strafen aus Gründen äußerlich-weltlicher und zugleich christlicher Gesellschafts­ ordnung, bis zur schließlichen Betrachtung jeder dogmatischen Häresie als Frieden und Einheit störend und bis zur Todesstrafe scharf hervorgehoben. Wenn er aber dabei die Reformatoren an dem modernen Toleranzbegriff einer das Dogma hinter die Ethik zurückstellenden Religion mißt und ihre Abweichungen hiervon wegen ihrer Berufungen auf das Alte Testament für Früchte des finsteren alttesta­ mentlichen Rachegeistes erklärt, so vergißt er in erster Hinsicht den den Reforma-

Zweite Konsequenz : Die weltbejahende Ethik.

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Parallel mit der Entwickelung dieser ersten Konsequenz des Kirchentypus geht die der z w e i t e n, die zunehmende Heraus­ bildung der weltbejahenden E t h i k. Luthers Ethik hat zunächst einen Zug zur radikalen welttoren mit dem Mittelalter gemeinsamen absoluten Wahrheitsbegriff, von dem aus der moderne Toleranzbegriff mit seiner Möglichkeit verschiedener subjektiv be­ rechtigter Wahrheiten nebeneinander als frevelhafte Skepsis und Blasphemie er­ schienen wäre, und übersieht er, daß die Heranziehung des A. T. hier wie sonst nur dazu dient , biblische Begründungen zu finden für Dinge , die aus dem N. T. nicht begründet werden konnten und doch eine Begründung bei ihrer prak­ tischen Unumgänglichkeit verlangten. Weitere Be ispiele in erschreckender Fülle zeigt Barges Karlstadt trotz der von Karl Müller gemachten Einschränkungen. Vom katholischen Standpunkt aus sammelt N. Paulus, Luther und die Gewissens­ freiheit, 1905, die Stellen. Er deutet die anfängliche Toleranzforderung als Mi­ noritätentoleranz, d. h. als Forderung an die papistischen Fürsten, sich in die geist­ lichen Dinge nicht einzumischen und das Evangelium nicht zu hindern, und zeigt, wie gleichzeitig mit diesen Forderungen Luther von der evangelisch gesinnten Obrigkeit die Abstellung der Messe als Pflicht christlicher Obrigkeit bezeichnet. Auch die den '.['äufern und Schwärmern bewilligte freie geistige Auseinandersetzung daure nur so lange, als er glaubte leicht damit ferti g zu werden, habe aber bei der Entwickelung wirklicher Opposition sofort aufgehört und dem härtesten Ge­ waltdruck Platz gemacht. Das ist sicher im allgemeinen nach beiden Seiten hin nicht unrichtig ; aber es ist dabei der innere Trieb nicht beachtet, der doch Luther nicht bloß aus Oppor tunismus, sondern aus der Notwendigkeit seines Kirchenbe­ griffes heraus zunächst zu dem rein innerlich-geistlichen Aufbau der Gemeinden und rein geistlicher Ueberwindung der Gegner im Vertrauen auf die Unwiderstehlich­ keit des reinen Wortes nötigte. Interessant ist die S. 27 angeführte Stelle, wo Luther auf den Einwurf, daß ja doch auch Kaiser Ka rl sich im Gewissen an seine Lehre gebunden fühlte und daher ihm die Zwangsübung nicht zu verübeln sei, er­ widert : • W i r w i s s e n , d a ß e r d e ß n i c h t g e w i ß i s t u n d n i c h t g e wi ß s e i n k a n n , w e i l w i r w i s s e n , d a ß e r i r r e t u n d w i d e r d a s E v a n g e l i u m s tr e i t e t, d e r K a i s e r i s t s c h u l d i g , d a ß e r Go t te s W o r t e r k e n n e und d a s s e l b i g e g l e i c h w i e w i r m i t a l l en K r ä f­ t en f ö r d e r erelativ beurteilt« werden müßten; Theo! Litztg. 1908, S. 153. Das neue Ketzer­ recht, die Zensurforderung und die Konfessionseinheit geht letztlich aus dem Wahr­ heits- und Kirchenbegriff der Reformatoren selbst hervor, und die Widersprüche sind in den Widersprüchen eben dieses Kirchenbegriffes begründet, der eine all­ gemein christliche Kirche und Gesellschaft und doch eine rein innerlich-geistliche Wirkung will. Das ist undurchführbar : so hat man zum Zwang gegriffen, indem man diesen auf die Obrigkeit als Pflicht aus christlicher Liebe und auf Grund des Naturrechts abschob und den rein geistlichen Charakter der kirchlichen Selbst­ durchsetzung auf eine der obrigkeitlichen Verurteilung vorausgehende theologische Ermahnung und auf die Duldung eines jeder Aeußerung sich enthaltenden ver­ borgenen Mißglaubens beschränkte, Das ist in der Tat das alte katholische Ketzer­ recht, wie Paulus sagt, nur »mit dem wesentlichen Unterschiede, daß Melanchthon der weltlichen Obrigkeit, als dem vornehmsten Gliede der Kirche, die eigentliche Entscheidung in Glaubenssachen zugesteht, während man katholischerseils der un­ fehlbaren Kirche die Entscheidung über religiöse Lehren vorbehält. Wohl begehrte auch Melanchthon, daß in zweifelhaften Fällen die Fürsten sich nach dem Rat der Theologen richten sollen ; allein in letzter Instanz entschied doch die weltliche Obrigkeit«, S. 43. Darin kommt die Festhaltung an der geistlichen Wirkungsweise und die Charakterisierung der Häresie als Aufruhr und Störung der christlichen Gesellschaft zum Ausdruck, aber eben damit auch die Fortdauer der katho­ lischen Idee von der einheitlichen christlichen Gesellschaft, die ihrerseits aus der Universalität der Kirche folgt. Innerhalb des gemeinsamen Ganzen sind die Ak­ zente verschoben, und in dieser Verschiebung ist die Spiritualität des neuen Kirchen­ begriffes behauptet. Das wird auch sehr richtig als der entscheidende Punkt her­ vorgehoben von W. Köhler, Reformation und Ketzerprozeß, 1901, bes. S. 21-26, der auch zeigt, wie schwer den Reformatoren der Verzicht auf ihren ursprünglichen Glauben an die Allmacht der Idee oder des Wortes geworden ist, und wie schließlich die Abschiebung des Ketzerprozesses an die weltliche Gewalt als Hüterin der christlichen Gesellschaftseinheit doch auch die Vorbereitung eines rein kirch­ lichen Ketzerprozesses fordert, auf Grund dessen die weltliche Obrigkeit dann das Ihre tun kann. Der Abschiebung an die weltliche Gewalt entspricht die Begrün­ dung des Ketzerrechts auf das Naturrecht bei Melanchthon S. 29, das im Dekalog zusammengefaßt den Schutz der ersten Tafel, d. h. namentlich des hier sanktio­ nierten Predigtamtes, durch die weltliche Obrigkeit vorschreibt. Es bleibt aber immer das Neue, daß die Unterdrückung nicht im Namen der Kirche und durch die Kirche, sondern im Namen der christlichen Gesellschaftsordnung und durch den

Entwickelungen in Luthers Ethik.

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ist es daher nicht ohne starke Widersprüche abgegangen, und, wie die Widersprüche auf dem Gebiete des Kirchenbegriffes die Kompli­ ziertheit des protestantischen Verhältnisses von Staat und Kirche begründen, so bedingen die in der Ethik enthaltenen Wider­ sprüche und Spannungen die Schwierigkeiten der protestantischen Sozialphilosophie 21a). Staat erfolgt, während der rein kirchliche Ketzerprozeß nur die Reinhaltung der Lehre bezweckt. Es führt nicht das brachium saeculare eine Sentenz der kirchlichen Ober­ gewalt aus, sondern der Staat schützt die christliche Gesellschaft und sich selbst im eigenen Namen. Der Effekt ist freilich derselbe. - Unbegreiflich ist es, wie Herme­ link ,Der Toleranzgedanke im Ref.-Zeitalter«, 1908, all dem gegenüber Luther wie­ der zum Herold der modernen Gewissensfreiheit machen kann. Schon im m.a.lichen System sei nicht das Christentum, sondern der beigemischte Neuplatonismus der Vater der Intoleranz 11 Luther habe die Kirche auf eine rein geistige und inner­ liche Wirkung zurückgeführt, und, wenn die Reformatoren dem Staat das Recht der Ketzerbestrafung und der Durchführung einer gewaltsamen Glaubenseinheit zusprechen, so sei das ein von den neuen Erkenntnissen aus noch nicht gereinigter Staats­ begriff, der Staatsbegriff der Renaissance, Macchiavellis Allgewalt des Staates ! 1 Die Täufer dagegen haben mit der Toleranz nichts zu tun. ,Sie waren gegen den Staat und das nichttäuferische Christentum in gefährlicher Weise intolerant«, wozu man bei Wappler die Aussagen der ganz passiven Täufer vergleichen möge 1 1 Luthers Wahrheitsbegriff, dem das ,Geistliche und Unsichtbare« eine fertige Wahr­ heit ist, die Gott in die Herzen der Glliubigen senkt, und wo »alles was dagegen streitet, ... >ein Stück von Teufelswerk« ist, sei ein in einzelnenAeußerungen übrig ge­ bliebenes Stück mittelalterlichen Neuplatonismus! ! u. s. w. Toller und ungenierter kann man die Dinge nicht verdrehen, und solche Art von Apologetik ist es, die so viele theologische Schriften für Nicht-Theologen unerträglich macht. 216) Ueber Luthers Ethik ist immer noch das Beste Luthardt, »Die Ethik Luthers in ihren Grundzügen«, 1867. Freilich sind hier alle Spannungen und Schwierigkeiten gegllittet und entsteht der Anschein einer völlig einheitlichen syste­ matischen Deduktion. Das ist ihm dadurch erleichtert, daß er die ganze Sozial­ philosophie so gut wie gar nicht beleuchtet. Eine historische und die Spannungen richtig hervorhebende Darstellung ist die treffliche Arbeit von Eger, Die Anschau­ ungen L.s vom Beruf, 1900; nur irrt er, wenn er die Spannung auf die Nachwirkung des Mönchtums statt auf den urchristlichen Radikalismus oder auf die dialek­ tische Unfähigkeit Luthers, eine systematische Ableitung der Kultur- und Humani­ tlitsethik begrifflich zu gewinnen, auf die innere Schwierigkeit der Sache selbst zurückführt. Wertvoll für die Anfänge ist auch Braun, »Concupiscenz«. Vor­ trefflich und auch für Luther selbst wertvoll ist Hupfeld, »Die Ethik Joh. Ger­ hards. Ein Beitrag zu m Verständnis der lutherischen Ethik«, 1908; aber auch hier ist gerade auf die Darstellung der Sozialphilosophie und die Analyse der Span­ nungen und Widersprüche verzichtet. Auf diese geht umgekehrt mit voller Energie, aber ohne Erkenntnis der den Zusammenhang erleuchtenden Grundbegriffe ein

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem,

An sich ist Luthers Christlichkeit ein R ü c k g a n g auf den rein religiösen Charakter der christlichen Ethik, wozu ihn gleicher­ weise, wenn auch mit verschiedener Färbung , die mystische Lehre von dem alleinigen Wert der Gottesliebe, die augusti­ nische Grundformel der christlichen Ethik von der Liebe aller Dinge nur in Gott und um Gottes Willen und die evangelische Jesuspredigt von der Selbstheiligung für Gott und von der Bru­ derliebe um Gottes Willen anleiteten. Das Sittengesetz ver­ schwindet in jeder Form als Gesetz, und es erhebt sich ihm wieder der freie Zweckcharakter der Ethik, die nur einen abso­ luten Zweck, die Selbsthingabe an Gott im Glauben kennt; aus diesem einzigen wirklich gesollten Zweck ergibt sich ihm dann mit sehr verschiedenen Motivierungen das ganze christliche Ethos von selbst. Die Schwankungen dieser Motivierungen zeigen nur, daß ihm die Erringung der religiösen Grundstellung der einzige wahrhaft sittliche Imperativ und daß ihm alles übrige verhältnis­ mäßig gleichgültig und selbstverständlich war, sobald die Haupt­ sache feststand. Es ist die Rückkehr zur Ethik des Evangeliums, nur daß ihr imperativischer Charakter durch die apostolische Gnadenlehre umgebildet ist, die das, was Forderung ist, doch nur als Folge und Geschenk der Glaubenshingabe an die in Christus offenbare und verbürgte Gnade versteht. Der Glaube ist die höchste und eigentliche sittliche Forderung und zugleich ein Geschenk der Gnade : das ist die hohe Paradoxie und der Grundgedanke der Ethik Luthers. Das Handeln aber quillt von selbst aus ihm. Von hier aus stößt Luther allen gesetzlichen Moralismus aus bis zu der Gefahr antinomistischer Konsequenzen. Vor allem beseitigt er alle Vermittelungen und Uebergänge der katholischen Ethik, die die natürliche Moral mit der Oberstufe der mystisch-überweltlich-aske­ tischen kasuistisch verzahnten. Er bezeichnet als Sinn und Kern der christlichen Moral lediglich die reine Gesinnungsinnerlichkeit des Gottvertrauens in Leid und Kreuz up.d die auf das eigene Selbst, alles weltliche Recht, auf den Gebrauch von Gewalt und Macht, ja auf den Eigenbesitz völlig verzichtende Bruder­ liebe. Die Färbung dieser eigentlich christlichen Moral ist bei Luther von allem Anfang an eine stark mystisch-spiritualistische Lommatzsch, Luthers Lehre vom ethisch-religiösen Standpunkt aus, mit besonderer Berücksichtigung seiner Theorie vom Gesetz, 1879, Treffliche Einzeluntersuchungen bietet Gottschick, ,Ethik« 1908, Für meine Gesamtauffassung muß ich auch hier verweisen auf meine Abhandlung: ,Grundprobleme der· Ethik«, Z. f. Theol. und Kirche, XII, 1902.

L,s ursprüngliche Ethik und der christliche Radikalismus.

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gewesen und vielfach auch später geblieben im Unterschied von der rein praktischen Moralität des Evangeliums, die das Sittliche als Mittel der Gottvereinigung behandelt und es nach der Kraft, diesem Zweck zu dienen, abstuft 217). Der weltindifferente, nur am 217) Hierüber vorzüglich Kapp, »Religion und Moral im Christentum Luthers«, 1902; Herrmann, • Verkehr des Christen mit Gott« 5, 1908; Thieme, ,Die sittliche Triebkraft des Glaubens«, 1895. Das Wesen der religiös bestimmten Ethik ist, daß hier als absolut verpflichtender und alleiniger Wert das religiöse Verhältnis selbst erscheint und daher alle sittlichen Werte - sei es der Selbstbearbeitung, sei es der Gestaltung der Beziehung zu den Mitmenschen - in den Dienst dieses höchsten Zweckes gestellt werden. So ist die Sache bei Jesus verstanden, wie früher gezeigt. So ist sie jetzt auch bei Luther verstanden; die Wiederholung bei Luther ist eine Bestätigung der oben S. 37 entwickelten Auffassung (gegen diese und zustimmend zu Hamacks Einwänden inzwis�hen Thieme, Christ!. Welt 1909, S. 771 ff.: Bedeutung der Nächstenliebe bei Jesus). Von hier aus wird die erste Selbstpflicht die der Selbstheiligung und Selbsthingabe an Gott, und die Nächstenpflicht wird die Liebe des Nächsten um Gottes willen und mit der Ab­ sicht, mit dem Nächsten zusammen in Gott sich zu vereinigen. Daß beides auch der Sinn der lutherischen Gottesliebe und Nächstenliebe ist, darüber siehe die treffenden Nachweise bei W. Walther, Die christliche Sittlichkeit nach Luther 1909 S. 35 und bei Thieme, Triebkraft, S. 17-53. Von Luther seien hier nur einige Stellen nach Thieme zitiert: ,Ingressus in Christum est fides, egressus autem est caritas, quae nos justitia Dei indutos distnbuit in obsequia proximi et exercitium proprii corporis ad succurendum alienae paupertati, ut et ipsi per nos attracti nobiscum ingrediantur in Christum« S. 289; oder die berühmte Hauptstelle: ,Aus dem allen folgt der Beschluß, daß ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten: in Christo durch den Glauben, im Näch­ sten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe u n d b I e i b t d o c h i m m e r i n G o t t u n d g ö t t l i c h e r Li e b e , S. 284; oder: ,Wenn ein Christ anfängt, Christum ,m kennen als seinen Herrn und Heiland, durch welchen er ist erlöst aus dem Tod und in seine Herrschaft und Ehre gebracht, so wird sein Herz gar durch­ gottet, daß er jedermann wollt gerne auch dazu helfen. Denn er hat keine höhere Freude denn an diesem Schatz, daß er Christum erkennt, (Das ist die eigentliche ethische Selbstvollendung.) Darum fährt er heraus, lehrt und vermahnt die anderen, rühmt und bekennt dasselbige vor jedermann, bittet und seufzt, daß sie auch möchten zu solcher Gnade kommen. Das ist ein unruhiger Geist in der höchsten Ruhe, das ist in Gottes Gnade und Friede, daß er nicht kann still noch müßig sein, sondern immerdar darnach strebt und ringt mit allen Kräften, als der allein darum lebt, daß er Gottes Ehre und Lob wieder unter die Leute bringt, daß andere solchen Geist der Gnade auch empfangen« S. 297. Das ist die Ethik des Evangeliums in etwas anderer Sprache, wie sie auch von Augustin und Bernhard in ihrer Sprache als Liebe zu Gott und Liebe zu den Kreaturen in Gott ausge0

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

eigenen Seelenheil und an der Vereinigung der Brüder in Gott in­ teressierte Charakter der so begründeten Ethik ist von Luther an unzähligen Stellen aufs schärfste ausgesprochen worden; ebenso der Gegensatz dieser Heils- und Liebesethik gegen die aus dem Kampf ums Dasein entspringende Ethik des Rechtes, der Ehre, des Krieges, des Staates, der Vergeltung. An sich hängt der Christ mit den Weltaufgaben nur zusammen durch seinen Leib und durch die vorübergehende Verflochtenheit in das irdische Wesen. Die Regeln der Bergpredigt vom Nichtwiderstehen­ dem - Uebel, vom Nichtvergelten , von der Ueberwindung des Feindes und des Bösen rein durch Liebe sind auch ihm die eigentlichen Regeln des christlichen Handelns. Wahre Christen bedürfen des Staates nicht und auch nicht des Rechtsschutzes für das Privateigentum. Für die Betätigung dieses Glaubens, der, um der Seligkeit in Gott willen auf alles verzichtet und sich frei in der Liebe ausgießt, sind freilich die natürlichen Anlässe abzu­ warten und zu benützen wie im Evangelium, und nicht besondere Verhältnisse zu schaffen und außerordentliche Opfer künstlich herbeizuführen wie im Mönchtum. Aber diese radikale religiöse Liebesethik steht doch, namentlich in den anfänglichen Aeuße­ rungen Luthers, völlig fremd dem ganzen Bereich der Vernunft, der Macht, des Rechtes, der Gewalt gegenüber, in den der Christ sich nur ergibt, weil das alles mit dieser sündigen Welt gegeben ist und weil der Liebesdienst am Nächsten bei der Lage der Dinge in der Welt nicht möglich ist ohne Benützung dieser Ord­ nungen der Welt 218). drückt worden war. Etwas scholastisch wirft Thieme die Frage auf, ob es hierbei keine Liebe zum Nächsten um seiner selbst willen gäbe, und beantwortet sie richtig dahin, daß ja gerade des Nächsten eigentlichstes Wohl bewirkt wird, wenn durch die Erweisung der Gottesliebe an ihn zugleich in ihm selbst die Gottesliebe und ihre Seligkeit entzündet wird. Dieses Motiv liege virtuell und unbewußt auch den Stellen zugrunde, wo nur von der Hilfe und Förderung gegenüber dem Nächsten überhaupt die Rede ist. Das ist gewiß richtig und erklärt es, warum in Luthers Ethik wie in der Jesu die weltlich-sozialen Verhältnisse keine ethischen Werte in sich selbst tragen, sondern nur Mittel und Anlässe sind, solche aus der religiösen Gesinnung zu entwickeln. 218) Die Konsequenzen gegen die Ethik der Ehre und des Rechtes: ,Nun siehe, diese Leute bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist, rechte Gläubige wären , so wäre kein Fürst, kein König, Herr, Schwert noch Recht not oder nütz.< Lommatzsch 207. Verzicht auf eigene Ehre Lommatzsch 240, zugleich mit dem Eingeständnis, daß >nur wenige

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Die Motivierung des ethischen Handelns aus dem religiösen Element heraus ist hierbei vielfach unsicher, aber doch unzweifelhaft beabsichtigt. Denn Luthers Glaube ist »ein lebendig, tätig und ge­ schäftig Ding«. Schwieriger ist die Frage, wie von dieser religiös bestimmten, allgemeinen Gesinnungsethik aus sich die w i r k I i c h e und ganz hochgeistliche Menschen« zu solchem Lob fähig sind. Eine Darstellung von Luthers Verhältnis zur Bergpredigt wäre sehr wünschenswert. Der weltindiffe­ rente Charakter, der im Evangelium eschatologisch, bei Luther aber zunächst my­ stisch begründet ist, kommt klassisch zum Ausdruck in der berühmten Schrift von der »Freiheit eines Christenmenschen«. Die Hauptstellen des deutschen Textes (Berliner Ausgabe I 1): »Hier wollen wir antworten denen, die sich ärgern aus den vorigen Reden und zu sprechen pflegen: ,,Ei, so denn der Glaube alle Dinge ist und gilt allein genugsam fromm zu machen, warum sind denn die guten Werke geboten? So wollen wir guter Dinge sein und nichts tun." Nein, lieber Mensch, nicht also. Es wäre also, wenn du allein ein innerlicher Mensch wärest und ganz geistlich und innerlich geworden, welches nicht geschieht bis zum jüngsten Tage... Obwohl der Mensch inwendig nach der Seele durch den Glauben genugsam ge­ rechtfertigt ist und alles hat, was er haben soll, außer daß derselbe Glaube und Genüge immer zunehmen muß bis in jenes Leben, so b 1 e i b t e r d o c h n o c h i n d i e s e m l e i b l i c h e n L e b e n a u f E r d e n u n d m u ß s e i n e n e i g e­ n e n L e i b r e g i e r e n u n d m i t L e u t e n u m g e h e n. Da heben nun die Werke an: Hier muß er nicht müßig gehen; da muß fürwahr der Leib mit Fasten, Beten, Mühen, Arbeiten und aller mäßigen Zucht getrieben und geübt sein, daß er dem innerlichen Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, nicht hindern noch widerstreben, wie seine Art ist, wo er nicht gezwungen wird. S. 306 ... Daraus denn ein jeglicher selbst die Maaße und Bescheidenheit nehmen kann, den Leib zu kasteien; denn er fastet, wacht, arbeitet, soviel er sieht, daß dem Leib not sei seinen Mutwillen zu dämpfen« S. 307 ... Wie Adam im Para­ dies, n u r u m n i c ht m ü ß i g z u s e i n , Arbeit erhielt, »also auch bedarf eines gläubigen Menschen Werk, welcher durch den Glauben wiederum ins Paradies ge­ setzt und von neuem geschaffen ist, keiner Werke um fromm zu werden; sondern daß er nicht müßig gehe und seinen Leib bereite und bewahre, sind ihm solche fromme Werke zu tun allein Gott zu Gefallen befohlen.« S. 308 . .• Das sei von den Werken insgemein gesagt und von denen, die ein Christenmensch gegen seinen eigenen Leib üben soll. Nur wollen wir von mehr Werken sagen, die er gegen a n d e r e M e n s c h e n tut. Denn der Mensch lebt nicht allein in seinem Leibe, sondern unter anderen Menschen auf Erden. Darum kann er nicht ohne Werke sein gegen dieselben; er muß ja mit ihnen zu reden und zu schaffen haben, wie­ wohl ihm derselbigen Werke keines not ist zur Seligkeit. Darum soll seine Mei­ nung in allen Werken frei und dahin gerichtet sein, daß er anderen Leuten damit diene und nütze sei, nichts anderes sich vornehme denn was anderen nütze sei « S.312 .•• Wie­ viel nun das Werk Christo not war und gedient hat zur Frömmigkeit oder Selig­ keit, so viel sind alle seine anderen und seiner Christen Werke ihnen not z u r

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III. Der Protestantismus. I. Das soziologische Problem.

in h a l t lic h e No r m i e r u n g d e s c h r i s t l i c h e n L e b e n s gestaltet, wie sie insbesondere zu den mit der radikalen Liebes­ ethik in so schwerer Spannung befindlichen innerweltlichen Werten und Ordnungen sich verhält. Die Theqlogen pflegen jene allge­ meine erste Frage nach der Begründung des Ethischen im Reli­ giosen eingehend zu verhandeln , vernachlässigen aber dieses zweite Problem , weil sie schon beim Evangelium nicht die Schwierigkeit zu empfinden pflegen, wie es von einer Moral des absoluten religiösen Lebenswertes in Gottesliebe und religiöser Bruderliebe zu einer innerweltlichen Moralität überhaupt kommen S e l i g k e i t , da sie alles freie Dienste sind zu Willen und B e s s e r u n g d e r a n d e r e n ... Auf diese Weise geheut auch St. Paulus Röm. 13 u. Tit. 3, daß sie sollen weltlicher Gewalt untertan und bereit sein, nicht daß sie dadurch fromm werden sollen, sondern daß sie den anderen und der Obrigkeit damit frei dienten und ihren Willen täten aus Li ebe und Freiheit.« So könne man sich aus Liebe auch an sich unchristlichen Ordnungen und Gesetzen unterwerfen S. 314. Daß das letztere von solcher Liebesmo ral aus seine Schwierigkeiten hat und Handlungen fordert, die zu diesem Ideal an sich im Widerspruch stehen, das hat Luther sehr wohl empfunden, Lommatzsch S. 287 ; jedenfalls bedeutet aber diese Motivierung eine völlige Indifferenz gegen die innerweltlichen politischen, rechtlichen , wirt­ schaftlichen Werte selbst. - Die Herkunft dieser Gedanken aus Augustin (s. Hun­ zinger, Lutherstudien I 1906) und aus der bernhardinischen und germanischen My­ stik (Braun, Bedeutung der Concupiszenz) ist unverkennbar. Allein das Entschei­ dende ist hierbei, sich klar zu machen, daß das nur die seitAugustin herrschend gewordene Umdeutung des Radikalismus der Bergpredigt, die mystisch begründete und inter­ pretierte Auslegung der Gebote von der absoluten Selbstheiligung für Gott und der absoluten Bruderliebe mit der völligen Auslöschung der weltlichen Kampf- und Rechtstugenden, ist. Das Gebot des Verzichtes auf Recht und weltliche Ehre und der völligen Gesinnungshingebung allein an Gott ist zum Gebot der Demut und der Selbstliebe nur in Gott, und das Gebot der Bruderliebe als Bekundung der Gottesgesinnung ist zur mystischen Liebe der Brüder in Gott mit Mortifikation aller Selbstsucht geworden. Die Cet ordre d'idees conduit Luther a affirmer qu'ill existe un ordre social d i v i n, n a t u r e 1 i n d e p e n d a n t de la revelation speciale de Dieu telle quelle est renfermee dans la Bible, ordre eternel et, dans ses principes tout au moins, immuable« S, 295. Es ist die bekannte Idee von der Lex naturae, die in die Herzen geschrieben ist und die jetzt einen dem Sündenzustand angepaßten Charakter des frenum et reme­ dium peccati hat, aber neben dem doch auch die naturrechthch notwendige vernünf­ tige Ordnung der natürlich-sozialen Dinge ist. Ueber das relative Naturrecht s. die Stelle aus dem Genesiskommentar bei Lommatzsch S. 286: ,Politia ante pecca­ tum nulla fuit, neque enim ea opus fuit; est enim politia remedium necessarium na­ turae corruptae. Oportet enim cupiditatem restringi vinculis legum et poenis, ne libere vagetur. Ideo politiam recte dixeris regnum peccati. . . Hoc enim unum et praecipuum agit politia, ut peccatum arceat. . . Si enim homines non essent per peccatu1:1 mali facti, politia nihil fuisset opus." So akzeptiert er auch die betreffen­ den naturrechtlichen Stellen des römischen wie des sonst so streng verurteilten kanonischen Rechtes, Der letzte Grund für die Vereinbarkeit der natürlichen Rechtsmoral mit der christlichen Liebesmoral ist ihm aber schließlich die Identi­ fikation des Dekalogs mit dem Naturgesetz einerseits und mit dem Sittengesetz Christi andererseits, indem er entgegen der ursprünglichen Verwerfung des Deka­ logs diesen in scharfer Unterscheidung vom zeremonialen und politischen Gesetz des Moses für den Inbegriff der sittlichen Forderungen des Urstandes, des Naturge­ setzes und des christlichen Gesetzes erklärt und die Bibel in weitestem Umfang als Zeugnis und Quelle des Naturgesetzes neben der Antike verwendet. Damit sind die alten katholischen Gedanken völlig wieder aufgenommen, wie deutlicher als Ehrhard S. 303 Lommatzsch S. 60-90 zeigt. So sagt L. in der Schrift gegen die himmlischen Propheten »Mosis Gesetz und Naturgesetz sind ein Ding« Lommatzsch 63 und im Großen Katechismus: ,Die zehen Gebote sind auch sonst in aller Men­ schen Herzen geschrieben, Symbolische Bücher« (Müller) S. 460. Die doppelte Moral ist in den Dekalog und in das christliche Gesetz selbst hineinverlegt, wobei der dem Liebesgebot widersprechende Rechtscharakter die Folge der Anpassung des Naturrechts an die Bedingungen des Sündenstandes, also das uns bekannte relative Naturrecht, darstellt. Der Unterschied von der katholischen Ausgestaltung des Gedankens besteht dann aber darin, daß die doppelte Moral nicht stufenförmig als Aufstieg von der naturgesetzlichen Moral zu den besonderen Leistungen der christ­ lichen Moral dargestellt wird und die letztere in ihrem vollen Radikalismus einem besonderen Stande zugewiesen wird, sondern daß jedes Individuum gleicherweise unter beide Gebote gestellt wird. Wir werden diesen Widersprüchen bei der Dar-

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III. Der Protestantismus.

l, Das soziologische Problem.

Pädagogik; mit seiner aus dieser Universalität folgenden Rezep­ tion der weltlichen, politischen und sozialen Ordnungen als der Stiftungen der natürlichen Gottesvernunft, wie sie unter dem Sündenstand sich gestalten mußten und wie sie um deswillen einen relativen Gegensatz gegen die radikale Ethik der Berg­ predigt darstellen dürfen und müssen, mit ihr aber durch Ver­ mittlung des Dekalogs doch wieder zur Einheit zusammengehen. Freilich ist alles entsprechend den neuen Voraussetzungen an­ ders verstanden als die analogen Sätze des katholischen Kirchen­ tums. Die o b j e k t i v e H e i 1 i g k e i t , die den Christenstand konstituiert und die das Einzelindividuum von der ihm ja doch unmöglichen Vollverwirklichung des christlichen Ideals entlastet, ist nicht die dingliche Heiligkeit der Anstalt, des Priestertums, der Sakramente, an der ein rein kultisches Tun beteiligen kann. Es ist vielmehr allein das Wort von der Sündenvergebung, das über aller Sünde und Unvollkommenheit als tröstende und beseli­ gende Kraft schwebt; an ihm gibt es Anteil nur durch den vollen persönlichen, aus der Buße geborenen Glauben, der allein die Gemeinde der Glaubenden heilig und bei Gott angenehm . macht trotz ihrer Sünden und dauernden Unvollkommenheiten; es ist ein rein objektiver und als solcher entscheidender Schatz, auch stellung der Soziallehren des Luthertums auf Schritt und Tritt begegnen. Etwas naiv meint Ehrhardt: >Mais cette distinction entre l'homme exterieur et l'homme interieur n'est elle pas abstraite et artificielle et quel est le rapport entre Jajustice selon la loi na­ turelle, justice accesible meme auxNon-Chretiens, et lajustice de Dien?« S. 318. Tiefer und prinzipieller erkannt ist der Widerspruch und das darin liegende Problem bei Lommatzsch S. 606. Im allgemeinen aber sind die Darsteller, weil sie den hierin wirksamen alten patristisch-scholastischen Gedankenkreis vom Naturrecht und dessen organische Funktion für die Ermöglichung einer die Welt akzeptierenden kirchlichen Etkik nicht oder nur ganz dunkel kennen, geradezu hilflos gegenüber diesen Sätzen. Sie sind ihnen bald prinzipwidrige katholische Rückfälle, bald persönliche Beson­ derheiten und Unsicherheiten Luthers; ein Mann wie Ehrhardt kann die Identifika­ tion des Naturgesetzes und des Dekalogs leugnen S. 319 und in all diesen Sätzen nur einen Versuch sehen das vom Humanismus neubelebte historische Vorurteil des Naturrechts dem Evangelium unbewußt zu akkommodieren I Lommatzsch kann schrei­ ben: >Kaum jemals aber zeigt sich aber deutlicher eine prinzipielle Unklarheit bei Luther als in diesen Bestimmungen. Sie betrifft nichts geringeres als seine An­ sicht vom Uebernatürlichen zum Natürlichen oder der Offenbarung Gottes im weiteren Sinne zu einer solchen im engeren« S. 71 ! G, Müller, L. Stellung zum Recht, meint S. 26, die Sache klinge ähnlich wie bei Augustin, sei aber innerlich von ihm losgesagt 1

Sondercharakter dieser protestantisch-kirchlichen Ethik,

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wenn er nur in voller Gesinnungshingabe angeeignet werden kann. Das Wort von der Sündenvergebung aber ist der supra­ naturale Produzent der Kirche, der ihr Wesen ausmachende und von ihr zu verwaltende Schatz göttlicher Stiftung, der Kern der An­ stalt, der über alle ihr gläubig sich ergebenden trotz aller Ungleich­ heiten der Leistung ein völlig gleiches versöhnendes und Gott ge­ nehm machendes Licht ausstrahlt. Dementsprechend ist dann auch die Un i v e r s a l i t ä t dieser kirchlichen Ethik bei Luther anders gedacht. Sie bedeutet nicht die U ebereinanderschichtung verschiedener Vollkommenheitsgrade und die Zulassung einer auf verschiedene Gruppen verteilten doppelten Moral. Sie bedeutet vielmehr die gleiche Forderung an alle, verbunden mit dem Ver­ zicht auf die aktive Vollkommenheit bei allen. Von allen for­ dert sie den Glauben und allen muß sie ihn wenigstens zugäng­ lich machen durch Taufe und Predigt. Aber bei allen verbindet sie mit der Forderung des Glaubens auch die Toleranz der ver­ schiedenen Auswirkungen des Glaubens, da bei der Unüberwind­ lichkeit der Sünde und der alleinigen Bedeutung des Sündenver­ gebungsglaubens schließlich die immer nur schwer erkennbaren Differenzen der Betätigung im wesentlichen nichts ausmachen. Nicht Relativierungen und Herabminderungen des christlichen Ideals bedeutet die lutherische Kirchenethik, sondern die Ersetzung der entscheidenden Bedeutung der praktischen Leistung überhaupt durch die alleinige Entscheidungskraft des persönlichen Herzensglaubens an die Sündenvergebung. Es ist nicht mehr ängstlicher oder raffi­ nierter Werkdienst, nicht Verteilung der Leistungen auf verschie­ dene Stände, nicht Kompensation der dinglichen Anstaltsheiligkeit durch Anstrengungen guter Werke und umgekehrt, nicht quanti­ tative Abstufung der Vollkommenheit, nicht die Behauptung des Ideals zugleich mit dem Verzieht auf seine volle Durchführung. Es ist jetzt vielmehr die Toleranz der verschiedensten Grade und Stufen christlicher Reife um dessen willen, weil an ihnen über­ haupt nichts liegt, sondern alles liegt an der Gnade der Sün­ denvergebung und der Seligkeit der Gerechtfertigten. Die kirch­ liche Universalität bedeutet jetzt eine alle umfassende Päda­ gogik der Predigt des Wortes und einen passiven Quietismus gegenüber den Resten der Sünde, verbunden mit dem Ver­ trauen, daß die von der Gnade ausgehende Kraft sie von selbst immer neu in irgend einem Maße überwinden werde und daß auf den irdischen Kampf der himmlische Sieg folge. So ist auch

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III. Der Protestantismus.

I. Das soziologische Problem.

das dritte Merkmal der kirchlichen Ethik, die mit der Universa­ lität und der Toleranz gegenüber der Nicht-Verwirklichung des christlichen Ideals verbundene R e z e p t i o n d e r w e l t l i eh e n V e r n u n f t o r d n u n g e n in Recht, Macht, Gewalt und Besitz auf eine neue Wei�e verstanden, obwohl hier die Fortführung des katholisch-kirchlichen Gedankens von einer christlichen Einheits­ kultur am meisten als etwas Selbstverständliches von Luther ein­ fach übernommen worden ist. Diese Rezeption ist nicht mehr verstanden als die Uebereinanderschichtung zweier Stufen, einer natürlich-weltlich-vernünftigen Stufe , die jene Werte unter die Leitung der Kirche und des höchsten Lebenszweckes der Ueber­ natur stellt. Die weltlichen Lebensordnungen werden zu reinen Formen und Voraussetzungen ohne jeden eigenen Inhalt und Zweck, zu Ordnungen, die Gott direkt eingesetzt oder indirekt durch die Vernunft angeordnet hat , die mit der Schöpfungsord­ nung der Vernunft und Gottes Gebot gegeben sind und in die der Christ sich zu fügen hat, wie in Sonne und Regen oder in Wetter und Wind. Es sind die nun einmal positiv geordnete Verhältnisse, innerhalb deren die christliche Liebe sich zu betätigen hat und die nicht zu Gunsten selbsterwählter Lebensbedingungen verlassen werden dürfen. Das Verhalten ihnen gegenüber ist nicht die Bejahung einer natürlichen Unterstufe und die Regulierung dieser von dem übergeordneten kirchlichen Zweck und Gemein­ wesen aus, sondern der Gehorsam, der sich in gottgewollte Le­ bensbedingungen schickt und von ihnen sich die natürlichen An­ lässe zur Betätigung der christlichen Liebesgesinnung darbieten läßt. Die innerweltliche politische und soziale Ethik wird aus einer Lehre von den relativen, dem höchsten Zweck der Ueber­ natur unterzuordnenden ethischen Werten zu einer Lehre von den gottgesetzten Formen und Voraussetzungen des christlichen Liebes­ handelns, die in dem staatlich und rechtlich geordneten, zünftig und ständisch gegliederten Lebens fertig vorliegen. Man kann diese Formen aus dem natürlichen Sittengesetz begreifen und ihren scheinbaren Widerspruch gegen das christliche Ideal aus ihrer Angemessenheit zu den Bedingungen des Sündenstandes erklären, aber das Wesentliche ist ihnen gegenüber nicht die Er­ klärung und ethische Bejahung, sondern der religiöse Gehorsam und die demütige Fügung 224). 22�) Die deutliche Erkenntnis, daß die radikale Ethik nur kleine Gruppen stiften würde, die christliche Ethik daher für eine Massengemeinschaft der Er-

Erhebung des Dekalogs zum Ausdruck dieser Ethik.

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Die radikal christliche Ethik der Gottesliebe und der die Gottesliebe ausströmenden Bruderliebe sollte zugleich die Ethik einer Volkskirche und einer ausschließlich christlichen Gesellschaft sein. Dann aber konnte es nicht genügen, bloß bei der allge­ meinen Notwendigkeit stehen zu bleiben, daß der Glaube sein Leben ausströme. Es mußte eine bestimmte inhaltliche Regel, ein christliches Sittengesetz aufgestellt werden, das den Massen vorgehalten werden konnte und das vor allem auch die Einbe­ ziehung der weltlichen Moral sicher stellte. Hier griff Luther gänzung durch die weltliche Moral. bedarf, in der Schrift von weltlicher Obrigkeit B. A. IV, I S. 236: Eine streng und eigentlich christliche Gemeinschaft sei nicht möglich. ,Gib die Welt zuvor voll ernster Christen, ehe du sie christlich und evangelisch regierst. Das wirst du aber nimmermehr tun; denn die Welt und die Menge ist und bleibt Unchristen, ob sie gleich alle getauft und Christen heißen. Aber die Christen wohnen, wie man spricht, fern von einander. Darum leidet sichs in der Welt nicht, daß ein christlich Regiment (im Sinne der Bergpredigt) gemein werde über alle Welt, ja, noch über ein Land oder große Menge. Denn der Bösen sind immer mehr als der Frommen. Darum ein ganzes Land oder dieWelt mit dem Evangelio zu regieren sich unterwinden, das ist eben, als wenn ein Hirt in einen Stall zusammentäte Wölfe, Löwen, Adler, Schafe und ließe jegliches frei unter den anderen gehen. . . Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich also lassen weiden und regieren, aber sie würden nicht lange leben, noch ein Tier vor dem andern bleiben. Darum muß man die beiden Regimente m i t F I e i ß s c h e i d e n und b e i d e s b I e i b e n I a s s e n , eines das fromm macht, das andere das äußerlich Frieden schaffe und bösenWerken wehrt; keines ist ohne das andere genug in der Welt.« Das alles hat nur Sinn unter der Vor­ aussetzung der Notwendigkeit einer umfassenden Volkskirche. - Von einer andern Seite her sagt das Gleiche die Aeußerung in der berühmten Vorrede zum Psalter, daß das Psalter alle Höhen- und Tiefestufen der religiösen und sittlichen Zustände ausdrücke und daher besser sei für die christliche Gemeinde als die bloßen Er­ zählungen der heroischen Werke der Heiligen. »Zuletzt ist im Psalter (durch diese Darlegung verschiedener Reifestufen) die Sicherheit und ein wohlverwahrtes Geleit, daß man allen Heiligen (d. h. den in den Psalmen sich aussprechenden Frommen) ohne Gefahr darin nachfolgen kann. Denn andere Exempel und Legenden von den stummen Heiligen (d. h. lediglich die Berichte ihrer Taten ohne Aeußerung ihres schwankenden Innenlebens) bringen manche Werke hervor, die man nicht nachtun kann:vielmehrW e r k e a b e r b r i n g e n s i e , d i e g e f ä h r l i c h s i n d n a ch­ z u t u n u n d g e m e i n i g 1 i c h S e k t e n u n d R o t t e n anrichten und von der Gemeinschaft der Heiligen (d. h. der Kirche) führen und reißen. Aber der Psal­ ter hält dich von den Rotten zu der heiligen Gemeinschaft; denn er lehrt dich in Freude, Furcht, Hoffnung, Traurigkeit gleichgesinnt sein und reden, wie a 11 e Hei­ ligen (d. h. die Durchschnittsfrommen) gesinnt sind und geredet haben«. IV I S. 8.

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

naturgemäß zur Bibel, von der es ja selbstverständlich war, daß sie auch ihrerseits jenem christlichen Grundtrieb einen Ausdruck gab. Dabei ist es nun aber charakteristisch, daß ihm als die den inneren Trieb objektiv darstellende Offenbarung des Sittengesetzes nicht die Bergpredigt erschien, sondern der Dekalog, der ihm wiederum identisch war mit dem natürlichen sittlichen Bewußtsein oder dem Naturgesetz, und der von Jesus und den Aposteln einfach be­ stätigt und gedeutet worden ist. So erwuchs der D e k a l o g zu seiner für den Protestantismus charakteristischen absoluten Be­ deutung als Ausdruck und Inbegriff der vollen Lex naturae und der mit dieser identischen evangelischen Ethik 225). Er empfahl 225) Der in der alten Kirche und im Frühmittelalter fast gar nicht für die kirchliche Lehre verwendete Dekalog war im Spätmittelalter zu starker Verwendung in den Beichtspiegeln gekommen (Kawerau im vorher angeführten Bande S. 43). Zur christlichen Zentrallehre, an der das Gesetz und sein Gegensatz, die Gnade, ferner das Genugtuungsdogma und die christliche Ethik gemessen wird, wurde er über­ haupt erst im Protestantismus , und zwar im Calvinismus entsprechend seiner strengeren ethischen Gemeindeorganisation noch mehr als im Luthertum; doch ist die Grundlage bei beiden dieselbe. Ueber seine hier erlangte absolute Stellung s. Lommatzsch S. 60-90, Die genauere Ausführung des Lehrstückes mit seiner grund­ legenden Theorie von den zwei Tafeln (bei der ich nicht zu sagen weiß, wie weit sie erst Luther eigentümlich ist; jedenfalls ist sie in dieser Ausführung und Wertung der Spiegel der reformatorischen Gedanken) und mit seiner Identifikation von Naturgesetz, christlichem Gesetz und Dekalog (wodurch es zugleich das einzige dieser ganz anti­ philosophischen Theologie verbleibende Band zwischen Vernunft und Offenbarung, Natur und Gnade ist) ist dargestellt bei Eger 99-u8, Hupfeld S. 75-104 und Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Job. Gerb. und Melanchthon 1891 S. 137 bis 173; bei der Abfassung dieser Schrift habe ich die Bedeutung des dekalo­ gisch-naturgesetzlichen Gedankenkreises in der ganzen theologischen Tradition und mit ihr auch bei Luther noch nicht genügend gekannt und die Lehre allzusehr auf Melanchthon zurückgeführt. Luthers große Neuerung ist hierbei die Unter­ scheidung der justitia spiritualis und der justitia civilis, der motus spirituales und der allgemeinen natürlich - sittlichen Verpflichtungen ; die letzteren werden christ­ lich gut, wenn sie, wie die erste Tafel fordert, ,im Glauben gehen«. Ueber dies »im Glauben gehen« der an sich auch naturgesetzlich geforderten Werke s. die eingehende Darstellung bei Thieme S. 19-102. Hier das alles erleuchtende Wort: »In diesem Werke (dem Glauben in Christum) müssen alle Werke gehen, und ihrer Gutheit Einfluß gleichwie ein Lehen von ihm empfangene S. 76. Freilich sind nun aber die Schwierigkeiten durch diese Zusammenfassung im Dekalog nicht verschwunden. In seiner Urstandsfassung waren Dekalog und Naturgesetz, das »Gesetz der Natur und der Liebe« allerdings ganz identisch. Im Sündenfall aber hat das Naturge­ setz in der weltlichen Rechtsordnung eine Anpassung an die sündigen Zustände erhalten,

Der Dekalog als Norm protestantisch-kirchlicher Ethik.

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sich als solche teils durch die ganze bisherige Ueberlieferung, die ja bereits diese Gleichung vollzogen hatte, teils durch seine kate­ chetische Verwertbarkeit, ferner durch seine Geoffenbartheit und seine Zentralstellung im alten und neuen Testament; vor allem und nun ist die Frage, wie weit beide jetzt im Sündenstande sich wieder einigen können. So ist das Problem sehr treffend auch bei Eger 92 f, formuliert. - An diesem Punkt liegen die wichtigsten Entwickelungen von Luthers Ethik. Die beiden Pole dieser Entwickelung bezeichnen die Schriften > Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei« 1523 und die »Auslegung der Bergpredigt« 1532. In der ersteren Schrift sagt Luther ausdrücklich, die Katholiken hätten die Bergpredigt und die Erfordernisse des praktischen Lebens so vereinigt, daß sie beides auf ver­ schiedene Stände und auf den Unterschied von consilia und praecepta reduziert hätten, während er die Forderung der Bergpredigt und Pauli von der absoluten, auf Recht und Gewalt verzichtenden Liebesmoral als für alle Christen insgemein geltend betrachte. Für dieselben Christen aber hält er auch seinerseits die For­ derung des praktischen Lebens, die Anerkennung von Recht und Gewalt, fest, aber in der Form, daß er darin die seit dem Sündenfall eingetretene, um der Sünde willen als frenum et remedium peccati gestaltete Rechtsordnung sieht, die aus der Vernunft stamme und außerdem von Gott (im A, T.) ausdrücklich eingesetzt und im N. T, von Christus durch Dulden und Ertragen ausdrücklich anerkannt worden sei, Der Christ gehört nun beiden getrennten und gegensätzlichen Ordnungen an ; er unterwirft sich, da die ungeheure Majorität keine rechten Christen im Sinne der Bergpredigt sind und also des relativen Naturrechtes d, h, der Rechts- und Ge­ waltordnung bedürfen für Wohl und Ordnung des irdischen Lebens, und, da auch die Christen zum Schutz gegen Mißbrauch ihrer Leidensbereitschaft dieser Ordnung bedürfen, aus Liebe zur Masse der Unbekehrten und aus Gehorsam gegen Gottes Ordnung diesem Gesetz. Beide Ordnungen sind streng auseinanderzuhalten; ins­ besondere darf die weltliche Obrigkeit, als lediglich weltliche zur Repression der Sünde gestiftet und daher auf die äußere Sphäre des Weltlichen beschränkte Macht, sich in die geistlich-christlichen Dinge nicht einmischen, Am allerwenigsten dürfen das papistisch und ungläubig gebliebene Regierungen, denen aber im üb­ rigen ihr Existenzrecht nicht zu bestreiten ist. Umgekehrt darf aber auch die geistliche Liebesethik nicht in die staatliche Rechtsordnung eingreifen und ihre radikale Liebeschristlichkeit zu einem Gesetz und einer Sozialreform für den Haufen machen, Denn die letztere bedarf des Rechtes ; die Grundsätze der Bergpre­ digt, auf die unchristliche Masse angewendet, würden lauter Gräuel ergeben, Viel­ mehr stehen die Christen in doppeltem Stand und müssen wie Paulus die un­ christliche Weltordnung ertragen und bestehen lassen. Man sieht, diese ,Schrift, in der man die Prinzipien der Gewissensfreiheit und des modernen Staates un­ begreiflicherweise hat finden wollen, steht noch auf einem schroff dualistischen Standpunkt: die Bergpredigt ,lehrt wohl, wie da die Christen untereinander kein weltliches Schwert noch Recht haben sollen; sie verbietet aber nicht, daß man denen dienen und untertan sein solle, die weltliches Schwert und Recht haben,

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III. Der Protestantismus.

1, Das soziologische Problem.

aber doch wohl instinktiv durch die in ihm gegebene Möglichkeit einer Einbeziehung der innerweltlichen Moral und der innerwelt­ lichen Ordnungen. Die Ethik einer universalen Kirche und einer aus der Sündenvergebung quellenden Ergebung in die Unübersondern vielmehr, weil du seiner nicht bedarfst noch haben sollst, sollt du d e n e n d i e n e n , d i e n i c h t s o h o c h g e k o m m e n s i n d w i e d u u n d d e s­ s e I b e n n o c h b e d ü r f e n« B. A. IV I S. 239. Es ist das relative Naturrecht, in das jeder Christ um der noch bestehenden Massenhaftigkeit der Unchristen willen sich zu fügen hat, wenn er schon daneben für sich selbst als Person die Grundsätze der Bergpredigt anerkennt; und zwar darf sich dieser Verpflichtung niemand entziehen und damit etwa Sonderkreise Vollkommener stiften: der rechte Verstand der Bergpredigt ist, »daß ein Christ soll also geschickt sein, daß er alles Uebel und Unrecht leide, nicht sich selbst räche, auch nicht vor Gericht sich schütze, sondern daß er allerdings nicht bedürfe der weltlichen Gewalt und des Rechtes für sich selbst. Aber f ü r a n d e r e mag er und soll er (als Richter, Henker oder Soldat) Rache, Recht, Schutz und Hilfe suchen und dazu tun, womit er mag. Also soll a u c h i h m die Gewalt, entweder von ihr selbst oder durch anderer Anregen, o h n e s e i n e e i g e n e K 1 a g e , Suchen und Anregen, helfen und schützen, Wo sie das nicht tut, s o l l e r s i c h s c h i n d e n u n d s c h ä n­ d e n 1 a s s e n u n d k e i n e m Uebel widerstehen, wie Christi Worte lauten. Und sei du gewiß, daß diese Lehre Christi nicht ein Rat für die Vollkommenen sei, wie die Sophisten lästern und lügen, sondern ein g e m e i n e s s t r e n g e s G e­ h o t f ü r a 11 e C h r i s t e n. , , Und kehre dich nicht an die Menge und gemeinen Brauch; denn es sind wenig Christen auf Erden . , , Dazu ist Gottes Wort etwas anderes denn gemeiner Brauch« S, 245, Hier ist die Annäherung an den Sekten­ typus wieder mit Händen zu greifen, aber auch der Unterschied, nämlich die Aner­ kennung der relativen Lex naturae und der natürlich-gegebenen Verhältnisse um der Einheit der Volkskirche willen, Fast verschwunden ist nun aber dieser Dualismus in der Auslegung der Bergpredigt. Hier ist Amt und Stand, wie er von Gott ge­ ordnet ist, die Voraussetzung des Tuns, ein Mittel der Bruderliebe im ganzen und ein Befehl Gottes, dem man gehorchen soll, Die Rechtsordnung kommt in Be­ tracht als System von Gott geordneter Stände, die um dieser Anordnung willen heilig sind. Das sind jetzt einfach ,göttliche Stände« S. 292. Das Leben im Be­ ruf und die Betrachtung des Berufes und des gesellschaftlichen Systems als eines von der Vorsehung herbeigeführten und aufrecht erhaltenen Systems zum Besten der Christenheit, das wird nun der Inbegriff der Ethik. Aus der Liebe, die das an sich christlich nicht Notwendige, die Unterwerfung unter die Rechtsordnung zum Besten des Nächsten übt, wird der Gehorsam und der Vorsehungsglaube, der Staat, Gesellschaftsordnung und Recht als göttliche Ordnungen ehrt, in denen zu bleiben und dem Nächsten zu dienen einfach Gehorsamspflicht ist. Das ist von Eger sehr treffend im einzelnen ausgeführt, der mit Recht zugleich zeigt, daß damit ein eigener ethischer Wert der Weltordnung immer noch nicht anerkannt ist. Man dient Gott in vocatione nicht per vocationem. Aber im übrigen ist das Bild ganz verändert.

Gründe für diese Erhebung des Dekalogs.

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windlichkeit der Sünde konnte nicht an der Bergpredigt, sondern nur am Dekalog ihr Schibboleth haben. Die religiöse Volksethik Alt-Israels eignete sich hierzu besser als der rein auf die persön­ liche Innerlichkeit gerichtete Radikalismus der Jesuspredigt, und die spätere Ethik Luthers zog überhaupt in immer weiterem Um­ fang das alte Testament und die jüdische Moralweisheit heran 226). Wie der Staat nicht mehr von aller Einwirkung auf die Religion im Gefühl seiner niederen Natur sich zurückhalten muß, sondern als christliche Obrigkeit jetzt zum Dienst an der Kirche und für die Wahrheit verpflichtet ist, so sollen auch die Christen sich nicht mehr bloß duldend und zuwartend der Rechtsordnung gegen­ über verhalten. Von der Rechtsordnung selbst heißt es jetzt: > Was ist der Wel t G e r e c h t i g k e i t anderes, denn daß jedermann tue in seinem Stande, was er schuldig ist? Welches heißt desselbigen Standes R e c h t als Mannesrecht und Frauenrecht, Kindesrecht, Knechts- und Magdsrecht im Hause, Bürgerrecht oder Stadtrecht im Lande; welches alles steht darin, daß die so anderen Leuten vor­ stehen und regieren sollen, solches Amt mit Fleiß, Sorgen und Treuen ausrichten, die anderen auch desgleichen schuldigen Dienst und Gehorsam treulich und willig leisten« S. 300. ,Solches alles hat Gott geboten, das muß nicht unrein sein, ja es ist eben die Reinigkeit, damit man Gott sucht. Also, wenn ein Richter sein Amt treibt und einen Uebeltäter zum Tod verurteilt, das ist nicht sein, sondern Gottes Amt und Werk. Darum ist es ein gutes, reines und heiliges Werk (wo anders er auch ein Christ ist), welches er nicht könnte tun, wo nicht zuvor ein reines Herz da wäre« S. 306. Im ausdrücklichen Gegensatz gegen den oben geforderten Ver­ zicht auf eigenes Rechtsuchen heißt es jetzt, man solle zunächst nach Frieden und Verträglichkeit trachten; »will aber solches nicht sein und kannst du es nicht lei­ den, so hast du Recht und Obrigkeit im Land, d a b e i d u e s i n o r d e n t l i c h e r We i s e m a g s t s u c h e n« S. 316. Das sind ebenso scharfe Selbst­ korrekturen wie die früher geschilderten in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche, Freiheit und Zwang, und beide Korrekturen hängen untereinander selbst zusammen. Denn die anfängliche Forderung der Freiheit und Scheidung beruhte auf der Geringschätzung von Staat und Rechtsordnung. In der späteren Gestalt aber ist Luthers Ethik dauernd geblieben, und die Dekalog -Erklärung der Kate­ chismen hat ihr die dauernde klassische Gestalt gegeben bis heute. 226) S. Eger, Anschauungen Luthers vom Beruf , S. 124: »Es scheint nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, wie stark auf diese sich stetig steigernde Weltoffen­ heit der lutherischen Anschauungen die Beschäftigung mit den alttestamentlichen Schriften eingewirkt hat. Die oben angeführten Stellen über den Wert der irdi­ schen Gaben und Güter sind fast sämtlich Auslegungen verschiedener Schriften des A. T. entnommen.< »Dem A. T. fehlt eben jede Spur von Weltflucht, von Gleich­ gültigkeit gegen irdische Dinge und Verhältnisse; es ist daher unter allen Umstän­ den ein sichereres Mittel für Gewinnung eines gesunden Verständnisses dessen, was die Erde bietet, als das mancherlei Mißverständnissen(!) ausgesetzten N. T. Der T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

Aber, indem so der Dekalog zum Inbegriff des christlichen Sitten­ gesetzes wurde, empfing er zugleich eine neue theologische Deutung. Es ist auch hier nicht mehr die Uebereinanderschichtung der Lex na­ turae und ihres von Christus beglaubigten Ausdruckes im Dekalog einerseits und der höheren theologischen Tugenden sowie der evan­ gelischen Räte andererseits. Der Dekalog und mit ihm die Lex naturae, wie sie in ihrem ursprünglichen Vollsinn war, wird ganz eingetaucht in die christlichen Gedanken und für völlig identisch erklärt mit dem evangelischen Grundgesetz der Gottes- und Bruder­ liebe, so daß es nichts mehr neben und über ihm gibt, sondern in ihm, sobald er voll verstanden wird, alles enthalten ist. Zu diesem Zweck wird der Unterschied der ersten und zweiten Tafel aufs stärkste betont. Die erste Tafel mit ihren das Verhältnis zu Gott betreffenden Geboten enthält die grundlegende Forderung von Ehrfurcht, Liebe und Vertrauen, die nur auf Grund der gläubigen Gnadengewißheit erfüllbar sind. Sie fordert die richtige religiöse Grundverfassung, die motus spirituales, und ist die spi­ rituale oder, wie wir sagen würden, die rein religiöse Forderung. Aus dieser Forderung oder ihrer Erfüllung ergibt sich dann aber auch die zweite Hälfte, die Forderung des Verhaltens gegen den Nächsten im Sinne einer die natürlichen gottgesetzten Lebensord­ nungen zum Anlaß und zur Voraussetzung nehmenden Liebes­ übung. Hierin ist die ganze Berufs- und Ständelehre, die ganze Fügung in die gegebenen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft enthalten, die ganze Liebesbetätigung nicht oberhalb, sondern innerhalb der natürlichen Lebensformen. Aber wahrhaft ethischen Wert hat die Erfüllung dieser zweiten Tafel nur, wenn sie aus der spiritualen Gesinnung des Glaubens hervorgeht und auf das Ziel einer Betätigung und Bekundung des Herzensglaubens an den Nächsten, auf einen Zusammenschluß aller in diesem eigent­ lichen und alleinigen Lebenswert hinarbeitet. Daher ist der Deka­ log und das Naturgesetz voll verstanden das rein christlich-spiri­ tuale Ideal. Wo Dekalog und Naturgesetz ohne diese MotivieBoden, auf dem der Christ im Gottvertrauen lebt und wirkt, ist j e t z t nach Luthers Ansicht die W e 1 t G o t tes.« So ist in der That Luthers Familien- und Wirtschaftsethik großenteils der jüdischen Spruchweisheit entnommen. Nur ist das schwerlich eine ungewollte Wirkung des A. T., sondern umgekehrt ein Deckung­ Suchen beim A. T. für die Dinge, die aus dem N. T. nicht zu belegen waren. Wir werden sehen, wie der Calvinismus in dieser Richtung noch viel weiter gehen mußte, um sich als biblisch zu behaupten.

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Neue Deutung des Dekalogs zu diesem Zweck.

rung und Abzweckung verstanden werden - und das haben die Heiden getan und tut bis heute die unerlöste Vernunft - da sind beide nicht voll begriffen. So haben die Heiden und die Lehrer der verbliebenen Reste der Lex naturae im Grunde nur die zweite Tafel gekannt und die erste vergessen. Sie haben dabei im positiven Recht, besonders im römischen Recht und in der philosophischen Moral, diese zweite Tafel sehr gut ausgelegt. Aber all das ist erst zu brauchen, wenn es mit der rechten christ­ lichen oder spiritualen Gesinnung, mit dem Geist der ersten Tafel, der im Urstand zugleich der Geist der voll verstandenen Lex naturae war, beseelt und belebt wird. Ohne das ist alles kalte Selbstgerechtigkeit und heidnische Selbstliebe. So kann die wis­ senschaftliche Ethik des Protestantismus die Lex naturae nach dem Dekalog und nach Cicero und Aristoteles auslegen, aber die entscheidende Christlichkeit gibt erst die diese Formen beseelende und durchglühende, in Kreuz und Leid und Anfechtung bewährte Gesinnung der auf den Gnadentrost begründeten Dankbarkeit und Hingebung gegen Gott. So wurde es für die Ethik des Protestantismus beider Konfes­ sionen die Grundaufgabe, den r i chti g e n B e g r i f f d e s D e k a l o g s z u entwickeln, i n welchem der innere Glaubenstrieb und die posi­ tive Offenbarung des Ideals zusammentreffen, in welchem die Unter­ scheidung und Aufeinanderbeziehung der ersten und der zweiten Tafel die eigentliche theologische Meisteraufgabe ist, und bei dem zwischen dem absoluten Dekalog und Naturrecht, wie beides im Ur­ stand war und von Christus erneuert worden ist, und dem rela­ tiven Dekalogs- und Naturrechtsverständnis, wie es mit Verkennung der ersten Tafel die heidnisch-philosophische Ethik, die Juris­ prudenz und das natürliche Gewissen hat, scharf zu distinguieren ist. In der absoluten Gestalt des Urstandes aber ist das Wesen dieses Sittengesetzes einfach eine religiöse Beseelung der natür­ lich gegebenen Verhältnisse und Pflichten, eine Durchgeistigung der Natur mit den motus spirituales gewesen, wie die ganze Urstandslehre ja nicht mehr Natur- und Uebernatur übereinander­ schichtet, sondern die Vollkommenheit des Menschen in seinem natürlichen Wesen bestehen läßt. Das ist bei aller Beibehaltung der Formeln und Theorien doch eine neue Deutung der patristisch­ mittelalterlichen Gleichung von Dekalog und Naturgesetz, eine neue Fassung des Naturgesetzes selbst. Dieses ist nicht mehr der Radikalismus der Persönlichkeitsidee , der Gleichhdt, des 32*

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III. Der Protestantismus.

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Gemeinbesitzes, des Lebens ohne Gewalt und Recht, sondern die Glaubensbeseelung aller natürlichen Handlungen und Notwendig­ keiten, da alles, was die gottgesetzte Natur fordert, vereinbar ist mit der Glaubensgesinnung der Gottesliebe und Bruderliebe. Aus einem solchen Naturgesetz können daher auch keine egalitären und keine kommunistischen Folgerungen mehr abgeleitet werden, nicht bloß weil es in seiner gegenwärtigen relativen Gestalt durch die Verhältnisse des Sündenstandes modifiziert ist, sondern weil es an sich keine solche Konsequenzen aus sich hervortreiben kann. Es ist lediglich die Erfüllung der durch die natürlichen Verhältnisse und göttliche Ordnung geforderten Betätigungen mit dem religiösen Gesinnungsinhalt des Gottvertrauens und der Gotteshingebung sowie die Motivierung des sozialen Handelns aus der Liebe, indem die soziale Nützlichkeit um der Liebe willen und nicht bloß um der Nützlichkeit willen betont wird. Freilich ist dabei die Frage, welches die aus der Natur folgenden Ver­ hältnisse sind. Darüber ist bei den unbestimmten aber schmerzen­ losen und harmonischen Verhältnissen des Paradieses nicht viel zu sagen. Es versteht sich von selbst, daß damals beides sich vertragen hat und bedarf keiner genaueren Untersuchung. Jeden­ falls herrschte unbegrenzte Liebe und Freiheit von Zwang und Schmerz. Aber das dort und damals Vereinbare ist nun im Weltlauf auseinandergetreten: das mit Staat, Recht und Gewalt arbeitende relative Naturgesetz des Sündenstandes entzweit sich mit der auf Recht, Gewalt und Selbstdurchsetzung verzichtenden religiösen Liebesmoral. Bei der Erneuerung und Auslegung des Dekalogs und Naturgesetzes durch Christus tritt daher der rein religiös be­ stimmte Lebenszweck und die rein religiös bestimmte Liebesge­ meinschaft als das die innere Person betreffende eigentlich christ­ liche Ideal neben die weltliche Berufs-, Staats- und Gesellschafts­ moral, der der Mensch durch »Amt« oder durch Einordnung in die staatlich- gesellschaftliche Ordnung mit ihren Rechts- und Zwangsmerkmalen angehört. Das ist der schwierige Punkt in der lutherischen Ethik. Die patristisch-thomistische Lehre hatte ihre doppelte Moral erklären können, indem sie das Naturrecht zu einer die Sünde zugleich strafenden und heilenden Ordnung modifizieren ließ und dann im Sündenstand über diesen Ordnungen die eigentlich - christ­ lichen Ordnungen als höhere Lebensgemeinschaft auf baute. Wenn aber Luther jene katholische Theorie sich aneignete, so paßte sie

Die doppelte Moral : Amtsmoral und Personmoral.

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nicht recht zu seiner Grundanschauung, da aus dieser sich wohl eine Entleerung der natürlichen Ordnung von ihrem ursprüng­ lichen geistlichen Inhalt durch den Sündenfall, aber kein materieller Gegensatz beider ergeben kann. Entweder ist für eine Ver­ wandelung des paradiesischen Naturrechts in ein vielfach ent­ gegengesetztes Naturrecht des Sündenstandes , also für den wesentlichen Gegensatz des paradiesischen und des gegenwärtigen Naturrechts kein Raum, und dann muß das gegenwärtige Natur­ recht und die ihm entsprechende politisch - soziale Ordnung in einer dem christlichen Gedanken wirklich konformen und mit ihm vereinbaren Gestaltung vorliegen oder in ihn übergeführt werden. Oder es hat sich in der Tat das paradiesische Natur­ recht in ein ihm stark entgegengesetztes empirisches Naturrecht verwandelt, dann sind dessen Ordnungen nicht einfach Formen und Voraussetzungen, die mit christlicher Gesinnung und spiri­ tualer Gottesliebe ausgefüllt werden können. Im letzteren Falle besteht ein materieller und direkter Gegensatz. Indem Luther den letzteren Fall annimmt, besteht zwischen seinem Ideal von Natur­ gesetz und Dekalog oder seinem Grundbegriff des christlichen Sittengesetzes und der wirklichen zwiespältigen Anweisung der Christen zu einer inneren Moral der Person und einer äußeren Moral des Amtes ein überaus peinlicher Gegensatz. Hier bricht in Luthers Lehre die jeder christlichen Ethik wesentliche Span­ nung gegen die Welt und Natur wieder hervor, die er in seinem Ideal des Gesetzes aufgehoben hatte. Der Gegensatz, der im Katholizismus als Stufengegensatz der relativ-naturgesetzlichen Unterstufen und der eigentlich-christlichen Oberstufe sich ausgebildet hatte, wird hier in jede Persönlichkeit hineingetragen als Gegen­ satz zwischen »Person« und »Amt«. Indem Luther mit dem Ka­ tholizismus den kirchlichen Gnaden- und Universalitätsgedanken behauptete und ihm die Weltverwerfung der Sekte unmöglich war, mußte seine Ethik den Gegensatz von Weltmoral und Gnaden­ moral auch ihrerseits in sich aufnehmen. Sie hat ihn nicht auf Stände und Gruppen zu gegenseitiger Ergänzung und Stellver­ tretung verteilt, sondern jedes Individuum einfach in die Dupli­ zität der Moral hineingestellt und diese Duplizität teils aus Gottes Anordnung und Verfügung, teils aus der Sünde, teils aus den Bedingungen des körperlichen Lebens erklärt. Immerhin hat Luther den Gegensatz im Laufe der Zeit zu­ sehends gemildert. Wie im Kirchenbegriff über den anfäng-

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III. Der Protestantismus,

I. Das soziologische Problem.

liehen Subjektivismus immer mehr die Objektivität der Anstalt herrschend wurde, so wurde in der Ethik gleichzeitig und in engem Zusammenhang damit immer mehr der Gegensatz von Amt und Person, von Bergpredigt und relativem Naturrecht ge­ mildert. Die weltlichen Ordnungen und Verhältnisse wurden immer mehr bloße Formen und Lebensbedingungen, die nicht sowohl auf die Relativierung der Ve�nunft durch die Sünde, als auf positive Ordnung und Einsetzung Gottes und dem Naturgesetz entspringende allgemeine Voraussetzungen zurückgeführt wer­ den 227). So kann schließlich die aristotelische, ciceronianische 227) Diese Herabsetzung der staatlich-gesellschaftlichen Werte zu bloßen For­ men und Voraussetzungen der Liebesbetätigung des Glaubens, indem die Nächsten­ liebe am besten durch Benützung der dem Wohl der Gesellschaft dienenden Ord­ nungen betätigt wird, charakterisiert auch noch die Ethik des modernen Luther­ tums. Dabei wird dann die Wissenschaft als Mittel der für den Beruf und die Gesellschaft unentbehrliche »Naturbeherrschung« und die Kunst als für die Frische der Berufsarbeit unentbehrliche »Erholung« gewertet, S. Gottschick, Ethik S, 127: »Die weltlich-sittlichen Gemeinschaften in ihrer beruflichen Gliederung sind die u n e n t b e h r 1 i c h e n M i t t e 1 zur Erhaltung des natürlichen Lebens der Mensch­ heit, die die unerläßliche Voraussetzung für die Umgestaltung der Menschheit zum Reiche Gottes ist, An die Stelle von Luthers objektiver Begründung auf die lex divina naturalis ist also das Zeugnis derGeschichte zu setzen, welches beweist, daß nach Gottes Willen die verschiedenen Klassen der weltlichen Berufe auf das Reich Gottes abzwecken. Gilt dies alles schon von dem bürgerlichen, dem Erwerbs­ beruf, so erst recht, wenn in dem christlichen Beruf ebenso, wie es schon beim sitt­ lichen geschehen muß, die über jenen weit hinausgehende Summe der Aufgaben eingerechnet werden muß, die als r e g e 1 m ä ß i g e , s i c h d e m E i n z e 1 n e n a u s s e i n e n k o n s t a n t e n V e r h ä 1 t n i s s e n in Familie, Gesellschaft, Staat und Kirche ergeben«. Herrmann, Ethik 8 1904 S. 158: » Wir erweisen uns nur dann als Christen in der Welt, wenn es uns selbstverständlich wird, i n d e r u n e r­ s c h ö p f l i c h e n G e s t a 1 t u n g s k r a f t d e r N a t u r ( d. i. die Lex naturae Luthers ohne seine Festlegung auf bestimmte dauernde Ordnungen) das Wirken Gottes zu sehen, also die n a t ü r 1 i c h b e gr ü n d e t e n m e n s c h 1 i c h e nG e­ m e i n s c h a f t e n , die wir in der Welt vorfinden, als_vonGott uns ge g e b e n e n G r u n d l a ge n u n s e r e r L e b e n s o r d n u n g u n d F o r m e n u n s e r e r T ä t i g k e i t zu verwerten«. Wie Luther die ständisch-zünftige, absolutistische und agrarische Lebensverfassung als dauernd vom Naturrecht geforderte und mit dem Christentum verträgliche Form des äußeren Lebens betrachtete, so wird hier eine unbegrenzt bewegliche Gestaltung dieser Dinge mit Einschluß der modernen mili­ tärisch-kapitalistischen und wissenschaftlich-künstlerischen Kultur als vom Glauben zu beseelende »Form« des natürlichen Lebens betrachtet, Ebenso bei v. d,Goltz, »Grundlagen der christlichen Sozialethik«, der in seinem »soziologischen« Teil die

Milderungen des Gegensatzes und zunehmende Verkirchlichung,

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und stoische Ethik und die antike humanistische Politik, Oeko­ nomik und Soziallehre wieder angeeignet werden. Sie bedeutet Materialien, Formen und Stoffe, die, der religiösen Motivierung entbehrend, an sich noch keine Moral sind, die aber als Ausflüsse des Naturgesetzes nur wieder mit dem ursprünglich im Naturge­ setz enthaltenen religiösen Prinzip durchdrungen zu werden brau­ chen und dann christliche Moral werden. Der Gegensatz zwischen dem Gesinnungschristentum und der weltlichen Amtsmoral ver­ schwindet immer mehr als materieller und direkter Gegensatz und wird immer mehr aus einem Gegensatz zu einer gegenseitigen Ergänzung und Erfüllung des Zusammengehörigen. Die gegebenen und bei ihrer Vernunftgrundlage oder göttlichen Einsetzung immer dauernden Verhältnisse werden immer mehr zum Normalen, und die christliche Moral wird, wie die modernen Lutheraner sagen, immer mehr »zur Wahrheit der natürlichen«, das Werk der Er­ lösung besteht immer mehr in der »Verklärung des gottgeschaffe­ nen Natürlichen, nicht in einer Art Ausrottung gottgeschaffener Natur« 228}, auch, darf man hinzusetzen, nicht bloß im geduldigen lutherische Naturrechtslehre durch eine moderne Lehre von den »n a t ü r 1 i c h e n Grun d f o r m e n i n Fa m i l i e , S t a a t u n dG e s e l l s c h a f t« entwickelt und diese »Formen« dann unter die Wirkung des christlichen Geistes stellt; S. 282: »Im Christentum übernimmt die Religion die Führung im menschlichen Gemein­ schaftsleben. , Die Herrschaft des Geistes über die Natur wird hier zur allmäh­ lichen Vollendung geführt und sowohl alle individuellen und sozialen Gegensätze ausgeglichen als auch die eigentümlichen Kräfte der verschiedenen sozialen Kreise zur Harmonie gebrachte, Ebenso auch Luthardt, Kompendium der Ethik, 1896: ,Da der Geist erst die Wahrheit des Menschen und das Christentum die Wahr­ heit des irdischen Lebens ist, so besteht die Wahrheit der Sittlichkeit des natür­ lichen Lebens darin, daß diese mit dem Sinn und Geist und dem sittlichen Ver­ mögen geleistet wird, welches das Christentum darreicht. . . Gratia non tollit, sed sanat naturam«. Hier ist überall jede Möglichkeit eines inneren Gegensatzes zwi­ schen den natürlichen Formen der Kulturethik und dem sie erfüllen sollenden radi­ kalen und jenseitigen Liebesgeist total vergessen und sind Luthers Kämpfe um dieses Problem »katholische Reste«. Das Wort Luthardts erinnert unmittelbar an das katholische Prinzip: ,Gratia praesupponit ac perficit naturam« und zeigt zugleich schlagend den Unterschied. Im Katholizismus bildet Natur undGnade einen Stufen­ unterschied, im Protestantismus fallen schließlich beide zusammen wie Form und Inhalt. 228) Vgl. Luthardt, Compendium 10, Thieme IV; am unbedenklichsten bei Uhlhorn, Kath. u. Prot., S. 29 : »Damit ist der Dualismus von Diesseits und Jen­ seits, von Natürlich und Uebernatürlich, von Christlich und Weltlich, von voll­ kommenen Christen und gewöhnlichen Christen überwunden. Wissenschaft, Handel

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III, Der Protestantismus,

1, Das soziologische Problem,

Erleiden der Natur, sondern in der demütigen und gehorsamen Bejahung. Dabei ist die »Natur«, d. h. die vom Naturgesetz bewirkte politisch-soziale Ordnung als eine stabile, eindeutig von der Vernunft im Sinne des Territorialstaates geforderte Gesell­ schaftsordnung, und das religiöse Gefühl sieht in ihr immer weniger den Gegensatz gegen die radikale Liebesmoral, statt dessen vielmehr Stiftungen und Verfügungen Gottes, die Gehor­ sam verlangen. An Stelle des anfänglichen Spiritualismus, der freien Zwecksetzung aus dem absoluten religiösen Zweck. und des damit gegebenen Weltgegensatzes tritt immer mehr der Gehorsam gegen die positive Autorität. Wie an Stelle des Glaubens das Dogma, so tritt an Stelle der dem relativen Naturgesetz des Amts entgegenstehenden justitia spiritualis der Person der Gehorsam gegen Gottes Ordnungen und gegen die von ihm gesetzten Welt­ verhältnisse. Die relative, sündig verderbte Vernunftordnung wird zur autoritativen, rein positiven Tatsachenordnung, in die man sich ohne viel Gedanken fügt. So ist das Problem und der Wider­ spruch der lutherischen Ethik überwunden 228). Die radikale Liebesund Gewerbe erhalten ihre freie Bewegung wieder.« Daher meint U., der Prote­ stantismus werde die »soziale Frage« lösen, wozu der Katholizismus innerlich un­ fähig und nur äußerlich geschäftig sei. 229) Vgl. Eger S. 124 f.: > Was oben über die Umbiegung des Glaubensbegriffes und den des Gehorsams gegen das offenbarte Wort Gottes gesagt und über die Nebeneinanderstellung des Gehorsams gegen die Verheißungen und desjenigen gegen die Gebote Gottes gesagt ist, findet seinen klarsten Ausdruck in der Stelle aus den Enarr. in Genesin: Haec sunt verae laudes o b e d i e n t i a e, quae tantum est vel promissionum vel praeceptorum divinorum. In derselben Linie liegt, daß statt des in der „Freiheit eines Christenmenschen" geprägten Schemas zur Kennzeichnung des christlichen Lebens: ,,Glaube und Liebe" jetzt das andere „Glaube und Ge­ horsam gegen Gott" in den Vordergrund tritt, ,,Nachdem wir unsere Gerechtig­ keit allein auf den verheißenen Samen gesetzt haben, daß wir auch Gott gehorsam sein und in diesem zeitlichen Leben das tun und halten, was er geboten hat , , Darum muß beides zusammensein, Glaube und Gehorsam gegen Gott". Das macht die Werke des Christen im Unterschied von denen der Heiden heilig, daß sie im Glauben an Christus und im Gehorsam Gottes geschehen. Ebenso in der Kirchen­ postille: ,,Gott will, daß wir nach der Vergebung der Sünden in seinen G.:boten leben". Das, was uns Gehorsam abnötigt, ist je länger je mehr nicht die uns das Herz abgewinnende, in Christus offenbare Gnade Gottes, sondern die formale Au­ torität des göttlichen Wortes« S. 125. Der Parallelismus der Glaubenserkenntnis und des Sittengesetzes ist charakteristisch, beide haben aus gleichem Grund die iden­ tische Entwickelung genommen, nämlich um des Kirchenbegriffes willen. Merkwür-

Neue Art des Kompromisses und neue Spannungen.

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moral verschwindet hinter der Moral des Gehorsams gegen die Autorität. Auf die Gnade begründetes Gottvertrauen, in den Formen gesellschaftlicher Berufspflichten sich bewegende Nächsten­ liebe und gehorsame Ergebung in die vom Naturgesetz geschaffenen Ordnungen: das wird immer mehr der Inbegriff lutherischer Ethik. So sind die tiefen innern Spannungen der christlichen Ethik, die bei jedem Unternehmen, das Leben der dauernden \Velt christ­ lich zu gestalten, bisher hervorgetreten sind, auch in der reforma­ torische!} Ethik erhalten geblieben. Auch sie ist ein Kompromiß und eine doppelte Moral, vor allem in der grundlegenden Fassung bei Luther. Nur sind die Gegensätze nicht auf Stufen verteilt, sondern ineinandergeschoben zu einer Duplizität der Lebensstel­ lung jedes Individuums. Der Kompromiß ist tiefer in das Innere hineinverlegt und hierbei zunehmend gemildert , indem die Welt nicht sowohl als Stiftung der Sünde oder der unter Bedingung der Sünde stehenden getrübten Vernunft , sondern als direkte und positive Anordnung Gottes hingenommen wird. Die er­ gebungsselige Demut , die die Gnade der Sündenvergebung hin­ nimmt, gleicht sich immer mehr der Demut an , die die gottge­ ordneten Verhältnisse hinnimmt, und umgekehrt, sodaß der reli­ giöse Stimmungsgehalt nach beiden Seiten ein gleichartiger wird. Allein die Naht bricht immer wieder auf. Sobald an dem Ideal der Bergpredigt der tiefe Gegensatz der gegebenen Verhältnisse gegen das wahrhaftige christliche Ideal zu Bewußtsein kommt und sobald die gegebene gesellschaftlich-politische Ordnung der Kirche und dem Worte Gottes sich nicht fügt , bricht der tiefe Groll gegen die Welt der Sünde und des Teufels los, richtet sich die Hoffnung auf den jüngsten Tag und erscheint das Christendigerweise haben die Theologen die erste Entwickelung viel beklagt, die zweite viel gepriesen, da sie ihnen das heute notwendige weltbejahende Humanitäts­ christentum darbietet. Daher überhaupt die Verschränkungen des modernen Urteils über Luther, das den anfänglichen, dem Sektentypus sich nähernden Individualis­ mus preist und die gleichzeitige Befangenheit in katholischer Weltnegation beklagt, während es den Dogmatismus des alternden Luther wieder als Rückfall in den Katholizismus und seine gleichzeitige Weltbejahung als modernen Fortschritt.'rühmt. In Wahrheit gehören die beiden letzteren untrennbar zum Kirchentypus, wie die beiden ersteren ebenso untrennbar zu den Annäherungen an den Sektentypus ge­ hören. Hierin zeigt sich, wie fruchtbar die Unterscheidung des Sektentypus und des Kirchentypus, die in II 9 gemacht worden ist, für die ganze Betrachtung ist. Sie wird sich ebenso furchtbar für Calvinismus und Täufertum zeigen.

III. Der Protestantismus.

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I. Das soziologische Problem.

leben wesentlich als Leben unter dem Kreuz und als Hoffnung des seligen Jenseits. Die freudige Weltbejahung wird zur dul­ denden Weltergebung, und zwischen beiden geht insbesondere die Stimmung des Luthertums beständig hin und her. Die Naht bricht aber auch von einer andern Seite her auf. Wird die Spiritualisierung des Dekalogs ernst genommen, wird wirklich alle irdisch-weltliche Leistung rein aus Gottesliebe und Selbstaufgabe abgeleitet und gerade in dieser Motivierung die Christlichkeit der Moral gesehen, dann sinken die weltlichen Ordnungen zu rein faktisch_en Umständen , zu in sich völlig wertlosen Formen zusammen , innerhalb deren es gilt , die Welt zu haben, als hätte man sie nicht. Die Herabsetzung der Welt zu bloßen Formen und Voraussetzungen ist ebenso eine Akzeptie­ rung der Welt als sie auf der anderen Seite eine Entwertung derselben ist. Dann aber ist ihre Auffassung eine asketische 230) im Sinne jeder Leugnung eines Selbstzweckes und einer inneren Göttlichkeit weltlicher Ordnungen und Werte. Sie werden zu rein positiven Satzungen und Tatsachen , die nur aus dem Willen Gottes und aus keiner inneren Notwendigkeit stammen. Sie werden völlig formalisiert und ausgehöhlt, und das Ausharren in ihnen zum reinen Gehorsam und zum bloßen Dulden. Innerhalb ihrer wird die Welt nicht bejaht, sondern vergleichgültigt und überwunden, sodaß die Askese als Entwertung der Welt hier nicht mehr bloß Vgl. hierüber meine Darstellung in der »Kultur der Gegenwart«. Charak­ teristische Stellen bei Herrmann, Verkehr S. 208: »Das heißt auch nicht die Welt verlassen und fliehen, wie sie (die Papisten) ihnen träumen; sondern du seiest in welchem Stand, Leben und Wesen du wollest - denn du mußt ja etwas sein, weil du auf Erden lebst -, so hat dich Gott n i c h t v o n d e n L e u t e n , s o n d e r n u n t e r d i e L e u t e gewiesen; denn es ist ein jeder Mensch um des andern willen geschaffen und geboren. W o d u n u n , s a g e i c h , u n d i n w e l c h e n S t a n d d u e r f u n d e n wi r s t , d a s o 11 t d u d i e W e I t f 1 i e h e n«. »Also bin ich von der Welt abgeschieden und bin doch in der Welt«. So sagt auch Luthardt richtig: »Demzufolge ist im Bereich des äußeren Tuns nicht ein besonderes Ge­ biet des asketischen Tuns abzusondern, sondern es zieht sich nur das asketische Moment in a 11 e s Tun hinein• Ethik L.s. S. 63; Braun, Concupiszenz: »So liegt Wahrheit in der Paradoxie: dadurch, daß Luther das Mönchsideal auf die Spitze trieb, hat er es in seiner Wurzel zerbrochen« S. 57. Das ist es, was Max Weber und ich meinen, wenn wir von einer »innerweltlichen Askese« des Protestantismus im Unterschied von der überweltlichen oder, wenn man so sagen darf, nebenwelt­ lichen Askese des Katholizismus sprechen. 230)

Rückblick auf die bisherige Entwickelung.

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wie im Katholizismus an einzelnen Leistungen haftet, sondern die ganze Lebensleistung bis ins Innerste durchdringt und nichts übrig läßt als die Hoffnung auf den lieben jüngsten Tag, der von diesen dem christlichen Ideal niemals ganz angemessenen und meist durch die Sünde noch völlig verkehrten Lebensbedingungen erlöst. Nur die eigenmächtige Selbstbefreiung von diesen Be­ dingungen, wie sie das Mönchtum vollzieht, ist verboten. Statt dessen ist die Gesinnung der Weltverleugnung hineingetragen in den täglichen natürlichen Vv'eltgebrauch selbst. Daneben fehlt es dann nicht an Aeußerungen einer wirklichen Liebe zu Welt und Natur, die ja an sich gut und nur durch die Sünde verderbt sind, und die ganze Ethik kann gelegentlich wie eine religiöse Verherr­ lichung und Durchdringung der Natur erscheinen. Aber das ist eben der tiefe innere Widerspruch, die tiefe innere Spannung, die im Ganzen liegt und die uns zeigt, daß der vom Katholizismus unternommene Kompromiß hier nur an eine andere Stelle verlegt, mehr in die innere Tiefe hineingeführt ist, daß er aber ein Kom­ promiß bleibt. Es ist der vom praktischen Leben geforderte, mit der Universalität der christlichen Gemeinschaft unumgängliche, von der Verlegung der Heiligkeit aus der Aktivität der Subjekte in den objektiven kirchlichen Gnadenbesitz ermöglichte Kompro­ miß der rein religiösen Moral mit den Forderungen des Weltlebens. Faßt man alles das zusammen und blicken wir auf die Darstel­ lung des Mittelalters und der alten Kirche zurück, so kann man sagen: der Protestantismus führt die im späten Altertum schüchtern angebahnte, vom Mittelalter aber erst wirklich vollzogene Re­ zeption des Weltlebens in die Ethik einer christlichen Universal­ gesellschaft fort und steigert sie bis zum letzten möglichen Grade. Indem er eine Erneuerung des urchristlich religiösen Geistes ist, em­ pfindet er zunächst gerade darin die höchsten Schwierigkeiten und nähert sich einerseits in der Bildung kleiner Gemeinden innerhalb der äußeren Christenheit und in der Scheidung der Gesinnungsmoral von der weltlichen Amtsmoral dem Sektentypus, der auch in der Tat aus ihm heraus an diesem Punkte entspringt. Indem er aber andrer­ seits zugleich das Ideal einer die ganze Gesellschaft umfassenden reinen Gnadenanstalt und die Einheit der christlichen Gesellschaft fest­ hält, verwirft er den Sektentypus als Neigung zur Gesetzlichkeit und als lieblose Rottierung und Spaltung. Von dieser Verwerfung aus gelangt er zu einer immer steigenden Anerkennung des Weltlebens und der Weltmoral. Ganz analog wie im Thomismus der Gegensatz

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

der relativen Lex naturae gegen die Gnadenethik immer mehr verschwand und zu einer Unterstufe der Gnadenethik wurde, so wird hier die Lex naturae immer mehr zu einer bloßen Form, die die christliche Gesinnung mit der religiösen Liebe und Kraft durchglüht und die sie zur Voraussetzung ihrer Betätigung macht. In engem Zusammenhang mit der Ausprägung der kirchlichen Gnadenanstalt zu einer Staat und Gesellschaft beherrschenden Lebenseinheit wird auch die Ethik ausgeprägt zu einer christlichen Beseelung des Lebens in den gottverordneten und darum heiligen ,Ständen und Berufen«, die mit dem Naturgesetz gegeben sind und außerdem großenteils im Alten Testament von Gott unmittelbar eingesetzt oder bestätigt, vom Neuen Testament nicht widerrufen worden sind. Ist katholisch die Gnade die Perfektion und Ueber­ bauung der Natur, so ist sie protestantisch die Erfüllung der natur­ gegebenen Lebensformen mit der Glaubens- und Liebesgesinnung. Verteilt der Katholizismus beides auf verschiedene Stände, so fordert der Protestantismus von allen die gleiche Moral. Behauptet der Katholizismus die Möglichkeit der vollen Heiligkeit und be­ hält er damit Sonderkreise höherer Christlichkeit, so verhaftet der Protestantismus alle unter die Unüberwindlichkeit der Sünde und gibt allen als gleiche Quelle der Moral die Glaubensgesinnung, deren Bewährung bei der Unmöglichkeit einer volleµ Heiligkeit dann auch gegen die äußeren Lebensverhältnisse indifferent ist. Es ist die übliche Auffassung des Protestantismus, daß er gegen­ über derjenigen Lösung des Problems ,Christentum und Kultur«, die den Katholizismus und die Sekten gemeinsam beherrschte als Askese und Gesetzlichkeit, - dort als das Weltleben aner­ kennende und daher verweltlichte, hier als die Welt verwerfende und daher schroff einseitige Askese und beide Male als Gesetz seinerseits die gesetzesfreie Innerlichkeit des Christentums und damit dann auch die freie Durchdringbarkeit des Weltlebens mit der christlichen Gesinnung behauptet habe. Allein das ist beiden gegenüber nur bedingt eine wirklich neue Lösung. Das von ihm allerdings wieder hergestellte Prinzip der reinen Gesinnungsfreiheit ist doch ein inhaltlich streng an die Bibel gebundenes Prinzip und steht dadurch der Ethik des Sektentypus mit ihrer gene­ rellen Verwerfung von Recht, Macht, Staat, Gewalt, Eigennutz sehr nahe, und die Ausdehnung dieses Geistes vermöge einer kirchlichen Erlösungsanstalt über eine einheitliche christliche Ge­ sellschaft steht andererseits wiederum der Ethik des katholischen

Neue Formulierung des christlich-ethischen Grundproblems.

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Kirchentypus sehr nahe. Die protestantische Lösung der Span­ nung in der doppelten Moral von Person und Amt ist nicht eine Ueberwindung, sondern eine neue Formulierung des Problems, und auch bei dem Protestantismus ist die Verflachung des Pro­ blems zu einer weltliche und christliche Moral einfach aus der Bibelautorität ableitenden Gesetzlichkeit nicht ausgeblieben. Sie ist nicht nur im Calvinismus, sondern auch im Luthertum einge­ treten und in dem ersteren nur in dem Maße stärker betont als er überhaupt die sittliche Organisation der Gemeinde stärker durchführt 280•). 230 •) Dieser Satz von der richtigen Mittelstellung des Luthertums zwischen einem System gemäßigter Askese und kirchlicher Gesellschaftsleitung einerseits und einem sektenhaft enthusiastischem Radikalismus anderseits wird namentlich für das christlich-soziale Problem der Gegenwart gerne angeführt. Die echte christlich-soziale Idee wäre es darnach, der freien ungesetzlichen Liebesmoral die Gesinnung vorzu­ behalten und die Sozialreform selbst lediglich den politischen und sozialen Tech­ nikern zuzuweisen, die aus dieser Gesinnung die geistigen Kräfte für ihre Aufgabe beziehen können. •Gewiß, äußert sich R. Sohm brieflich, ist das Evangelium als ein soziales Programm enthaltend verstanden worden. Dadurch wurde das Evan­ gelium ein neues ,Gesetz«, welches bald »relativiert«, bald .radikal« durchgesetzt wurde. Die Entwickelung bestand aber, glaube ich, darin, daß dieser Standpunkt überwunden wird, und den ersten großen Fortschritt in dieser Richtung muß ich in Luthers Reformation erblicken. Den zweiten Schritt, der zur Gegenwart führte, vermittelte dann die Auf klärung . . . Die ethischen Konsequenzen der durch die Gottesliebe gegebenen Bruderliebe lassen sich in kein für alle Zeit gültiges >Ge­ setze oder »Programm« zusammenfassen und sind darum kein Bestandteil des Evangeliums, das für alle Zeit gültige Heilsbotschaft ist, das lediglich religiösen Inhalts ist, soziale Kräfte, aber kein soziales Programm hervorbringt«. Das ist nun aber jedenfalls nicht der Sinn des lutherischen Gedankens in seiner Anwen­ dung auf soziale Dinge. Denn nach Luthers Idee sind die letzteren nicht frei be­ weglich, sondern durch Naturgesetz an eine völlig antikapitalistische Tendenz ge­ bunden; die moderne Sozialgestaltung hat Luther im Namen der Natur wie in dem des Evangeliums verworfen, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. Andrerseits ist aber auch das Evangelium für Luther nicht die persönliche Liebesgesinnung, die die Kräfte zu einer Verchristlichung der an sich aus dem Lauf der Dinge not­ wendig werdenden Sozialordnungen darbietet, sondern eine Personmoral der unbe­ dingten Liebe und Leidensbereitschaft, die die Amtsmoral des Rechtes und Besitzes nicht durchdringt und formt, sondern duldet und leidet als einen unüberwindlichen mit der Sünde gesetzten Gegensatz. Eher fiele der Calvinismus unter diese Auf­ fassung, der mit der christlichen Gesinnung in der Tat die gegebene Gesellschaft durchdringt und keinen unüberwindlichen Gegensatz der Amts- und Personenmoral kennt. Aber jede solche Gesinnung muß bei der Anwendung zum Programm und

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III. Der Protestantismus.

1. Das soziologische Problem.

Aus diesen Aehnlichkeiten und Unterschieden gegenüber dem mittelalterlichen Katholizismus ergibt sich auch Aehnlichkeit und Unterschied der beiderseitigen Sozialphilosophie. Die protestanti­ sche Sozialphilosophie führt das naturrechtliche Gedankenkapital der Patristik und des Katholizismus in seiner engen Verschlingung mit dem christlichen Ideal fort, gibt aber der Beziehung und Zu­ sammenfassung beider einen neuen Sinn. Da aber die Span­ nungen zwischen diesen beiden Elementen nur an einen anderen Ort verlegt sind, so kehren sie in veränderter Weise auch in der protestantischen Sozialphilosophie wieder. Andererseits ergibt zum Gesetz werden und ist das daher im Calvinismus auch geworden, wobei sein Gesetz ja auch kein unwandelbares war , sondern den verschiedenen Lebens­ bedingungen der calvinistischen Völker mit großer Elastizität folgte ; das wird der dritte Abschnitt zeigen. Die von Sohm klassisch formulierte Theorie ist vielmehr eine sehr moderne Theorie, wie er selbst anzudeuten scheint. Sie hat zur Voraus­ setzung die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Festlegung der sozialen Ordnungen und die Beurteilung dieser Dinge nach ihrer immanenten rein weltlichen Not­ wendigkeit, eben damit der Rückzug der Religion auf das rein Gesinnungsmäßige und Religiöse. Sie enthält aber gleichzeitig die ebenfalls moderne Forderung, daß die christliche Gesinnung die soziale Welt durchdringen müsse, d. h. die Forde­ rung einer einheitlichen Moral, die im Unterschied von Luthers Dualismus die immer bewegliche soziale Welt akzeptieren und zugleich doch auch mit ihrem eigenen Geist durchdringen und gestalten soll. Da ist nur eben die Frage, ob und wie das gegenüber dem modernen sozialen Leben überhaupt möglich ist, und ob das nicht eine innerlichste Umbildung der christlichen Moral zur Einbeziehung der weltlichen Lebenswerte nötig macht, auch wenn bloß eine Gesinnungsdurchdringung der gegebenen Notwendigkeiten gefordert und auch wenn diese ernstlich unter das Ideal gebeugt werden sollen. Damit ist man aber bei den Problemen der mo­ dernen christlichen Ethik, die mehr Aehnlichkeit mit denen des Calvinismus als mit denen des Luthertums haben, freilich auch vom ersteren in einer heute nicht mehr möglichen biblizistischen, d. h. stark alttestamentlichen Weise gelöst worden sind. Nicht aus der Bibel, sondern aus der 'christlichen Gesinnung, d. h. aus dem ent­ wickelungsfähigen christlichen Prinzip müssen heute diese Fragen beantwortet wer­ den, wenn sie überhaupt beantwortet werden können. Das ist aber etwas anderes als die alte lutherische Position, Das ist ein modern entwickelungsgeschichtliches Denken, wie ja das die Worte Sohms selbst indirekt mir zu besagen scheinen. Die neue Position ist ein Ergebnis eines Fortschrittes, der vom Mittelalter zum Protestantismus und von diesem zu einer aus dem letzteren entsprungenen, aber mit ihm nicht identischen modernen Christlichkeit führt. Dieser überall erkenn­ bare Grundsachverhalt zeigt sich auch bei dem Problem der Soziallehren des Christentums, vgl. meine Darstellung des Protestantismus in ,Kultur der Gegen­ wart< I, IV, I S. 634-649.

Die drei Hauptgruppen protestantischer Sozialphilosophie.

5I I

sich von hier aus auch Aehnlichkeit und Unterschied gegenüber dem Sektentypus. Mit diesem teilt der Protestantismus die Gleich­ heit und Strenge der christlichen Forderung gegen alle und da­ mit den religiösen Individualismus. Allein er leitet dieses Indi­ viduum überall erst ab aus der Wirkung der erlösenden Gnaden­ anstalt und stellt es vermittelst dieser in den Zusammenhang der von ihr umspannten Kulturgemeinschaft. Darum stehen trotz alles Individualismus die protestantischen Soziallehren den katho­ lischen sehr viel näher als denen des Sektentypus. Damit haben wir nun endlich die V o r a u s s e t z u n g e n f ü r d a s V e r s t ä n d n i s d e r p r o t e s t a n t i s c h e n So z i a l­ p h i l o s o p h i e in der Hand. Von hier aus erhellt ihr wesent­ licher Unterschied gegen die katholische Sozialphilosophie und auch ihr Verhalten zu dem christlichen Radikalismus, der aus dem Protestantismus ebenso als Komplementärbewegung hervorgegan­ gen ist wie aus dem Katholizismus. Es wird sich im folgenden darum handeln, die aus diesen Grundlagen emporwachsende Sozialphilosophie des Luthertum s darzustellen, das ziemlich konsequent aus den angegebenen Grund­ lagen sich herausbildet ,· und sodann die des C a l v i n i s m u s, die sehr erhebliche Modifikationen an dem gemeinsamen Gedanken­ kapital vorgenommen hat. Beiden Konfessionen gegenüber wird die Frage sein nach ihrem Kirchenbegriff und der Art der Sicherstellung der Universalität und Herrschaft der Kirche. So­ dann wird es sich um die kirchliche Ethik handeln und die Art der Einverleibung der weltlichen Kultur und der profan­ sozialen Werte in diese kirchliche Ethik. Da in dieser Zusammen­ fassung des Gesamtlebens unter die kirchliche Idee bewußt oder unbewußt das Ideal eines alle diese Bildungen umfassenden soziologischen Grundschemas enthalten ist, so wird es sich weiter um das hierbei jeweils vorschwebende soziologische Grundschema handeln. Erst auf diesen Grundlagen wird dann die letzte Frage nach der besonderen Gestaltung der sozialen Hauptphänomene in Familie, Staat und Gesellschaft beantwortet werden können. Aber das konfessionelle Luthertum und der Calvinismus sind nicht die einzigen Erzeugnisse der lutherischen Bewegung. Neben diesen dem Kirchentypus folgenden Neubildungen sind aus ihr auch solche entspn;mgen, die den Kirchentypus gesprengt und mehr oder minder konsequent den Sektentypus entfaltet haben. Hier zieht sich von den Täufern und den Spiritualisten bis

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

zu den Independenten, dem Pietismus und den modernen Sekten eine ununterbrochene Kette von Komplementärbewegungen, die, wie bereits mehrfach gezeigt, aus Luthers Ideenwelt hervorgehen mußten, sobald dessen Voraussetzung, der Kirchengedanke, durch­ brochen wurde und denen er selbst sich in seinem Gemeindeideal und in seiner radikalen mystischen Ethik bei aller inneren Fremdheit doch auf Haaresbreite genähert hatte. Sie bringen erst durch ihren Kontrast den konfessionellen kirchenbildenden Protestantismus zum vollen Verständnis. Ueberdies aber haben sie seit ihrer Los­ lösung von der Reformation diese aufs stärkste rückwirkend be­ einflußt, das Luthertum, indem sie es über die Gefahr des Sub­ jektivismus aufklärten und in den strengsten Objektivismus hinein­ trieben, den Calvinismus, indem sie ihn zu weitgehender Aufnahme ihres Heiligungsgedankens veranlaßten und damit schließlich seine volks-und staatskirchliche Struktur brüchig machten. Und abgesehen von diesen Wirkungen auf die Konfessionen haben sie eine all­ gemeine weltgeschichtliche Bedeutung, indem sie mit ihren Konse­ quenzen und Ausläufern den religiösen Subjektivismus überhaupt, die Trennung von Staat und Kirche, die Independenz der Ge­ meinden und schließlich des Individuums bedeuteten und damit dem Subjektivismus der Aufklärung einen vollen Strom religiöser Motivierungen zuführten. So hat ein letztes Kapitel noch von dem S e k t e n t y p u s a u f p r o t e s t a n t i s c h e m B o d e n zu handeln. 2. D a s L u t h e r t u m. Auf dem Grunde der späteren, entschlossen landeskirchlichen Ideen Luthers erhob sich das gesamte Sozialwesen des Luthertums d. h. derjenigen kirchlichen und kulturellen Bildungen, die konse­ quent und ohne wesentliche Neuerung aus den lutherischen Ideen entwickelt worden sind. Dieses Luthertum ist über seine Stamm­ lande hinaus freilich nur in die deutschen Territorialstaaten, die skandinavischen und baltischen Länder vorgedrungen und hat auch an der deutschen Westgrenze starke Verluste an den Cal­ vinismus erlitten. In Frankreich, England, den Niederlanden und Schottland erlag es überall andersartigen , aktiver vordrin­ genden kirchlichen Bildungen. Im Süden und Osten ist es durch die katholische Gegenreformation zurückgedrängt wor­ den, die den Thomismus und die Renaissance zu einer neuen Verbindung sammenschmolz und dadurch dem Luthertum sozial und

Kirchenbegriff des Luthertums,

kulturell in vieler Hinsicht auf einige Zeit wieder überlegen wurde. Sein Fundament ist überall der Gedanke einer kirchlichen, von religiösen Ideen zwangsmäßig beherrschten Kultur, so sehr auch in ihm theoretisch weltliche und geistliche Gewalt von ein­ ander unabhängig gemacht sind und die katholische rechtliche und mit direkten kirchlichen Mitteln zwingende Oberherrschaft einer internationalen, hierarchischen Kirche beseitigt ist. So bleibt das Zentrum seiner Soziallehren doch überall der Begriff der Staatskirche, und alle außerreligiösen Sozialbildungen erscheinen in dem Lichte, wie es sich aus ihrer Eingliederung unter den Ge­ danken einer von der Kirche mit religiösen Endzwecken durchwirkten einzelstaatlichen Gesellschaft ergibt. Das gehört beim Luthertum nicht bloß zum religiös-ethischen Ideal, es gehört zur Möglichkeit seiner Existenz, die ohne Halt ist, wenn nicht ein christlicher Staat oder eine christliche Gesellschaft dieser zarten organlosen Pflanze das Spalier darbietet, an dem sie emporwachsen und die Früchte ihrer reinen Innerlichkeit reifen lassen kann. Der Kern des Ganzen ist daher der spezifisch lutherische B e g r i f f d e r K i r c h e , und für diesen ist wiederum die prin­ zipielle religiöse und dogmatische Anschauung der Kirche von sich selbst grundlegend 231). Hier ist nun das Entscheidende erstlich die von Luther vor­ genommene und von den lutherischen Theologen im wesent­ lichen während der klassischen Zeit des korrekten Luthertums 231) S. hierzu Möller - Kawerau , Lehrbuch der Kirchengeschichte III 3, 1907, Riecker , Die rechtliche Stellung , und vor allem Sohm, Kirchenrecht I. Die Darstellung von Sohm ist nicht nur überaus geistvoll, sondern hat auch einen sehr unbefangenen, durch moderne kirchenrechtliche Konstruktionen nicht getrübten Blick für das Geschichtlich-Tatsächliche. Hier ist die lutherische Lehre in ihrem innerlichsten und eigentlichsten Ziele verstanden. Die Paradoxie der Sohmschen Darstellung entsteht nur dadurch, daß sie den überidealistischen Wunder- und Glaubensbegriff des Luthertums von der Kirche, den dieses selbst durch ein sehr realistisches weltliches Kirchenrecht ergänzt hat, wie etwas auch ohne diese Er­ gänzung existieren Könnendes und Sollendes behandelt; und das historisch An­ fechtbare ist die Gleichsetzung jenes idealistischen lutherischen Kirchenbegriffes mit dem urchristlichen, der noch überhaupt keine rechtliche Tradition hatte und nicht mit rechtslosen, aber rechtlich völlig unpräzisierten Vorstellungen arbeitet und vor allem das Amt unter den enthusiastischen Begriff des Charisma stellt, Darüber sogleich mehr; außerdem vgl. oben S. 452 f. Der Punkt , an dem ich von Sohms Darstellung des Faktischen abweichen zu müssen glaube, kommt später zur Besprechung, vgl. Anm. 236. T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I. 33

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

immer festgehaltene ungeheure Spiritualisierung der Kirche. Der zweite entscheidende Grundzug ist dann aber, daß diese völlig spiritualisierte Kirche, die kein menschliches Zwangsorgan für die Feststellung der reinen Lehre mehr besitzen und die auch ihre Kirchenzucht durch kein äußerliches, rechtlich formulierbares Ge­ waltmittel durchsetzen kann und will, trotzdem ganz und gar auf den Gedanken einer einhelligen und unwandelbaren dogmatischen Lehre erbaut ist, die nur in ihrer Reinheit und Geschlossenheit die Erlösung von Sünde und Verdammnis zu bewirken imstande ist; dazu kommt, daß sie trotz ihrer Spiritualität und ihres Verzichtes auf ein ihr als solcher zustehendes Rechts- und Zwangsmittel doch zugleich das äußere Leben des von ihr beherrschten politischen Gebietes unbedingt sich unterwerfen muß. Das sind Gegensätze, die an und für sich zu jedem bisherigen christlichen Kirchenbe­ griff enthalten sind, deren Spannung aber nirgends so weit ge­ trieben ist als im Luthertum und deren Feindseligkeit auch seine ganze Entwickelung gelähmt hat. So versteht sich die i d e a l i s t i s c h e S e i t e d i e s e s K i r c h e n b e g r i f f e s, von der her er etwas völlig Neues in der Geschichte des christlichen Kirchenbegriffes ist. Die Schrift als Trägerin der reinen Lehre von der sündenvergebenden und er­ neuernden Gnade bewirkt alles rein durch sich selbst , durch ihre dem Glauben gewisse innere Wunderkraft. Sie beweist durch das Zeugnis der inneren Erfahrung ihre eigene göttliche Inspiriert­ heit, die sich in steigendem Maße auf den gesamten Schrift­ inhalt bis auf Interpunktion ,und Textform erstreckt. Sie ist dadurch die absolute und alleinige, die die Kirche selbst leitende Norm, die Autorität, in der Christus selbst wirksam ist und neben der es keiner menschlichen Tradition, keines unfehlbaren Lehr­ amtes, keines Priestertums und keiner Hierarchie bedarf. Sie legt sich selber aus, indem sie aus den klaren Stellen die dunklen normiert und durch die Kraft des ihr einwohnenden heiligen Geistes ein völlig einhelliges, objektives Bekenntnis bewirkt; diese von der Schrift selber hervorgebrachten Normen ihrer eigenen Aus­ legung sind niedergelegt in den Symbolen. Die Schrift oder der in und durch die Schrift wirksame Christus vollzieht das Werk der Predigt und der Sakramente, wobei der ordnungsmäßig berufene Geistliche nur ihr Organ ist und vermöge der reinen Lehre Christus selbst in ihm redet, predigt und urteilt. Die Schrift, oder Christus durch sie, flößt den Glauben, die Liebe und

Kirchenbegriff des Luthertums.

den Gehorsam ein, vermöge dessen alle sich der Schriftwahrheit unterwerfen, den durch Charisma und Berufsbildung zur Verkündi­ gung geeigneten Prediger willig anhören und die geistlichen Strafen gerne leiden. So regiert Christus durch die Schrift die Kirche, ist er selbst der Inbegriff der obersten Lösegewalt, der Bewirker der sakramentalen Vorgänge, der Träger der Jurisdik­ tionsgewalt, die formende, leitende, urteilende Macht in der Ge­ meinde, die alles durch rein spirituelle Wirkung leistet, was Papsttum, Priestertum, Hierarchie, römisches Recht und römische Zwangsgewalt durch äußerliche menschliche Mittel geleistet haben. Das Regiment, die oberste Lehrinstanz und die richter­ liche Hoheit sind nicht bei der Gemeinde, die vielmehr nur das Produkt der Schrift und reinen Lehre ist; sie sind nicht bei den Geistlichen, die nur: die geordneten Durchgangsstellen für die Selbstauswirkung der Schrift sind; sie sind nicht beim Landesherrn, der nur ein zum Dienst am Heiligtum verbundener Diener ist und der Selbstauswirkung des Wortes nur seine Dienste zur Verfügung stellt. Es ist vielmehr lediglich die auf das Wunder der Schrift erbaute Schriftkirche selbst, deren Wunderkräften man nur den Lauf lassen muß, um von ihr und Christus selbst schließ­ lich alles hervorbringen zu lassen. Wenn katholisch der Papst die fortdauernde Inkarnation Christi , die lebendige Lehr- und Jurisdiktionsgewalt ist, so ist das für das Luthertum die Schrift, durch die wie in einem lebendigen, aktionsfähigen Wesen Christus alles unmittelbar selber wirkt 232). 282)

Hierüber vor allem Sohm : der Ausgangspunkt von der produktiven Wunderkraft des Wortes und nicht von der Gemeinde, S. 5u-513; der auf freier Liebe und Unterwerfung beruhende seelsorgerliche Charakter der Jurisdiktion S. 522, 529; der charismatische Charakter des auf die freie Liebe und ,Gestat­ tung« der Gemeinde rechnenden, nur übrigens ordnungsmäßig einzusetzenden Amtes S, 500-505, 518; das Urteilen über die Lehre Sache der Pastoren, aber nur als der berufsmäßigen Organe für die Selbstinterpretation der Schrift oder als Mund Christi S. 521, 492 f.; die Liebesordnung in der Gemeinde im Gegensatz zur Rechts­ ordnung S. 494-496. Das Entscheidende fur das Luthertum ist der Glaube an die wunderbare, automatisch kirchenbildende Kraft des Wortes Gottes, s. die Stelle bei Sohm S. 492. Aehnliche Stellen S. 616; auch in der späteren Orthodoxie ist es der Grundgedanke, s. Schmidt, Die Dogmatik der ev.-luth, Kirche 6 1876 S. 432. Dieser supranaturale und objektivistische Spiritualismus verbunden mit der Idee, daß der auf weltliche Wohlfahrtszwecke gerichtete rechtliche Staat an diese Sphäre nicht heranreicht, wohl aber ihr dienen darf, ist die Quelle der charakteristischen 33*

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III. Der Protestantismus.

2, Das Luthertum.

Dieser extreme Spiritualismus und alles auf die Kraft der Schrift stellende Wunderglaube war praktisch natürlich nicht durchzuführen. In Wahrheit bedurfte diese einhellige , alles überwindende und ordnende Wirkung der Schrift sehr stark der menschlichen Nach­ hilfe. Die einhellige Schriftdeutung ergab sich nicht von selbst, sondern mußte zwangsweise durchgeführt werden. Die geord­ nete Aufstellung der Prediger vollzog sich nicht von selbst, weder durch eine Selbstdurchsetzung der charismatischen Bega­ bung, noch durch freiwillige Liebe und Unterwerfung unter das charismatische Amt; es mußte eine bestimmte Rechtsordnung für die Berufung von Geistlichen und für die Anerkennung ihrer Autorität geschaffen werden. Die Jurisdiktion des Bannes setzte sich nicht durch freiwillige Unterwerfung durch, sondern nur unter Mithilfe staatlicher Einwirkung und unter Anheftung auch bürgerlicher Strafen an geistliche Vergehen. Außerdem bedurfte es der ganzen finanziellen und technischen Ordnung des kirch­ lichen Betriebes, wofür mit dem rein spiritualen Regiment der Schrift gleichfalls nicht gesorgt war, von der Verflechtung der Kirche mit der Bekundung des Personenstandes und dem Eherecht gar nicht zu reden. Für die Erledigung all dieser Dinge besaß die rein spirituale Kirche der alles bewirkenden Schrift kein Or­ gan und vor allem keine innerlich notwendige, göttlich autorisierte Regelung. So mußte sie diese Dinge als rein äußerlich und technisch, als rein menschliche Zweckmäßigkeiten andern Instan­ zen übergeben, die vom göttlichen Geiste geleitet auf menschlich beliebige Weise das Zweckmäßige hervorbringen würden. So blieb nur der L a n d e s h e r r u n d d i e p o 1 i t i s c h e G e­ w a 1 t, die so wie so von arntswegen mit technisch - rechtlichen Dingen beschäftigt ist und die als wichtigstes Kirchenmitglied, als membrum praecipuum, der Kirche diesen Liebesdienst zu leisten verpflichtet ist. Dafür fanden sich dann auch noch naturrecht­ liche Begründungen. Die Obrigkeit schützt das mit dem Dekalog identische natürliche Recht und hat als christliche Obrigkeit dieses natürliche Recht in seinem Vollsinn zu behaupten, wie es auch die erste, den wahren Kultus und reine Gottesfurcht for­ dernde Tafel einschließt. So ist sie als custos utriusque tabulae auch naturrechtlich zur Unterstützung des Kultus, der reinen Lehre und Aeußerungen Luthers über das Verhältnis von Geistlichem und Weltlichem, auch der am meisten modern klingenden,

Funktionen der weltlichen Obrigkeit für die Kirche.

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der kirchlichen Jurisdiktion verbunden 253). Derart kommt es - zu­ nächst noch möglichst in Luthers Sinn - zu einer Ergänzung der rein geistlichen Kirchenordnung durch eine rein weltliche Macht­ und Rechtsordnung, welche mit den weltlichen Zwangsmitteln des brachium saeculare das ausübt, was die Kirche als rein spirituale Liebes- und Freiheitsordnung nicht gewaitsam erzwingen kann und will. Ein rechtliches Zwangskirchentum ist aufgerichtet. Allein das Zwangselement wird nicht von der Kirche ausgeübt, sondern seinem niedrigeren Wesen entsprechend vom Staate. Daß das unter der Firma weltlicher Zwangsordnung und unter dem Titel bürgerlicher V ergehen geschieht, rettet formell die geistliche Liebesnatur der Kirchenordnung, sichert ihr aber ma­ teriell die gleiche Wirkung, als ob sie das unmittelbar selbst bewirkte; denn es wird hierbei größtenteils von der weltlichen Gewalt auf Anzeige der geistlichen Seelsorgestellen hin vorge­ gangen 234). Das Verfahren ist nur sehr umständlich. So war es dann zwar eine Preisgebung der ächt lutherischen Theorie, aber eine einfachere Sicherstellung der Wirkung, wenn schließlich in den Konsistorien kirchliche, vom Landesherrn bestellte Regierungs­ organe geschaffen wurden, die im Zusammenwirken von Geist­ lichen und Juristen gleich direkt zwangsmäßig in die Kirche hineinregieren und unmittelbar Geld- und Gefängnis- und Leibes­ strafen verhängen und exequieren konnten, die also in der Kirche und für die Kirche ein die reine Lehre und christliche Sitte auf­ rechterhaltendes Straf- und Zwangsregiment führten 236). 288)

Ueber die Theorie vom membrum praecipuum vorzüglich klar Sohm 558 bis 573, über die custodia utriusque tabulae Sohm 549-558. 231) Vgl. Sohm 622 u. 627: »und wäre not, daß weltliche Obrigkeit nach Ge­ legenheit der Sachen die Verächter des ( zunächst rein geistlichen, von Pfarrer und Gemeinde bewirkten) Bannes in ihre Straf auch nähme«, in dem von Luther unter­ schriebenen Wittenberger Gutachten von 1545 über die zukünftige Art der Kirchen­ regierung. Sie wird von Sohm mit Recht als spezifisch lutherische Ansicht be­ zeichnet entgegen der Melanchthons und der meisten übrigen, die der Kirchen­ regierung die u n m i t t e 1 b a r e M a c h t geben wollen, >nach der heiligen Schrift und a u c h den gemeinen in unseren Landen gebräuchlichen und üblichen Rechten zu sprechen, . . arctiora mandata mit Bedrohung ernstlicher Poen als Geldstrafen, Gefängnis u. dgl. zu dezernieren«, und die weltlichen Behörden verpflichten wollen, die rechtskräftig gewordenen Urteile der Kirchenbehörde >Straks ohne Verlänge­ rung und Verzug zu exequieren« S. 628. �35) Zum Ganzen die lichtvolle Darstellung bei Sohm, 542-633. Hier aud1 die richtige Erklärung für diese Entwickelung aus dem Verzicht auf den supra-

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III. Der Protestantismus.

2, Das Luthertum.

Das, was so für Theorie und Glaube nur ein nebensächliches menschliches Beiwerk an dem auf supranaturale Kräfte wesent­ lich erbauten kirchlichen Gebilde war , das wurde praktisch begreiflicherweise die Hauptsache. Die Landesherrn schufen die Einigung der Theologie zu einem einhelligen Dogma und gaben den symbolischen Büchern die Zwangsgeltung. Sie schu­ fen kirchlich-staatliche Behörden, welche Verwaltung und kirch­ liches Gericht in ihre Hand nahmen unter Beteiligung der Theo­ logien. Sie übernahmen die christliche Glaubens- und Sittenord­ nung auf das weltliche Recht und gaben den geistlichen Strafen und Maßnahmen bürgerliche Rechtsfolgen. In der Theorie re­ gierte Christus und die Schrift in der Gemeinde, praktisch re­ gierten die Landesherrn und die Theologen. Diese ganze Re c h t s­ o r d n u n g war zunächst freilich etwas Menschliches, Veränderliches und Zufälliges. Aber bei ihrer entscheidenden Bedeutung für die Kirche gewann doch auch sie indirekt wenigstens einen dogmati­ schen und göttlichen Charakter. Indem nämlich die Wortverkündung ein geordnetes Amt forderte und dieses Amt von Gott in Christus selbst eingesetzt war, war dogmatisch die Notwendigkeit eines ge­ ordneten Amtes gegeben. Wenn auch der charismatisch Begabte zu diesem Amte jedesmal an sich bestimmt ist, so hängt doch seine Einsetzung in das Amt an der Gottesordnung, daß ein Amt überhaupt sei und daß es auf geordnete Weise übertragen naturalen Idealismus, in Sohms persönlicher Anschauung eiue Wirkung des Klein­ glaubens, wofür er insbesondere Melanchthon verantwortlich macht,. vgl. S, 612, Luther hat, wie Sohm zeigt, gegen diese Entwickelung stets protestiert; aber die von Sohm angeführten Stellen zeigen doch mehr einen Protest theologisch-biblisch begründeter Entscheidungen gegen juristisch - kanonistisch begründete als den Kampf der Freiwilligkeits- und Liebesordnung gegen die Rechts- und Zwangsord­ nung; denn L, ist bereit, die Sünder in Lehre und Leben dem weltlichen Gericht anzuzeigen zu weiterer weltlicher Bestrafung. Damit ist doch nur mehr formell die beiderseitige Ordnung unterschieden, materiell kommt es auf ein Zwangs- und Rechtsverfahren auch in christlichen Lehr- und Zuchtsachen hinaus. Man bedurfte eben des letzteren, und die formellen Scheidungen Luthers waren praktisch bedeu­ tungslos. Es ging eben nicht anders, S. 619: ,Das Begehren nach Rechtsordnung war auch hier stärker als der Glaube an Christi Regiment und die Macht des Wortes. Man wollte das Kirchenrecht als Hilfe für das Wort. Gut, es kam, aber es kam, um den Landesherrn zum Herrn auch der Kirche einzusetzen«. - Ueber die Art wie es kam, s. K. Müller, Anfänge der Konsistorialverfassung, Rist. Z. 302, S, 1-30,

Das lutherische Kirchenrecht.

werden müsse. So bleibt also ein jus divinum auch im Pro­ testantismus, freilich nur ein kümmerlicher Stumpf: die Notwen­ digkeit, daß überhaupt ein Amt sei und daß der Träger auf ge­ ordnete Weise berufen werde. Daraus folgt notwendig ein Kirchenrecht jure divino, soweit es sich um das Dasein des Amtes überhaupt und um seine geordnete Besetzung handelt. Wie das gemacht wird, ist freie Sache rein menschlicher Zweckmäßig­ keit. Es ist de jure divino, daß ein wenigstens diesen Punkt regelndes Kirchenrecht überhaupt sei. Das daraus entsprin­ gende materielle Recht selbst ist rein menschlich. Nur das »Daß«, nicht das »Wie?« ist göttlich. Ueberdies erstreckt sich auch so die Göttlichkeit des Kirchenrechts nur auf die Einset­ zung des Schriftamtes, nicht aber auf die weiteren technischen Aufgaben des Kirchenrechtes. Immerhin aber genügt diese in­ direkte Göttlichkeit des Grundelementes des Kirchenrechtes, des geistlichen Amtes, um dem übrigens ganz weltlichen Träger des Rechts der Amtsbestellung, der Obrigkeit, eine göttliche Mis­ sion und Autorität zu erteilen, die nicht verfehlen konnte, dann auch in den übrigen Beziehungen dem vom Staat ausgeübten Kirchenrecht den Schimmer einer gewissen Göttlichkeit mitzu­ teilen und ihm damit die unentbehrliche innere Festigkeit zu geben. Aus dem übriggelassenen Stumpf eines supranaturalen Kirchenrechtes schlugen so wieder die Zweige eines wenigstens mittelbar göttlichen Rechtes aus, das die Leitung der Kirche oder vielmehr die amtliche Vertretung der reinen Schriftwahrheit den Geistlichen und den Landesherrn gibt. Was der Katholizismus durch ein unmittelbar göttliches Recht vollbringt, das vollzieht das jedes hierarchisch-priesterlichen Organs beraubte und rein spiritualisierte Luthertum durch die Obrigkeit und das weltliche Recht, dem aber eben darum auch eine gewisse Halbgöttlichkeit zuwächst. Die Scheidung des weltlichen und geistlichen Ele­ mentes ist nicht eine Trennung, sondern nur eine neue Nuancie­ rung ihres Verhältnisses : jetzt dient der Staat der rein geist­ lichen Kirche in freier Liebesgesinnung und beherrscht durch diesen Dienst die jedes selbständigen rechtlichen Organs ent­ behrende Kirche. Die Rivalität beider Gewalten ist theoretisch ausgeschlossen durch die Voraussetzung der in beiden sich durch­ setzenden und beide im Glauben einigenden Schriftwahrheit und praktisch durch die Schwäche der ganz vom Staat abhängigen Kirche sowie durch die Aufnahme der religiösen Aufgaben in

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III. Der Protestantismus.

2, Das Luthertum.

den eigenen Lebenszweck des Staates 236). Daß diese neue Rege­ lung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der zweiten Seite hin ihre Vorbilder an dem spätmittelalterlichen Landes­ kirchentum hat, sei als bekannte Tatsache nur nebenbei erwähnt. 288) Damit habe ich in der hier allein möglichen Kürze Stellung genommen zu der berühmten These Sohms, Sie enthält die wichtige soziologische Einsicht, daß jedes Kirchenrecht, das Recht der Kirche ist, als zum Schutz supranaturaler Größen bestimmt selber in diese Supranaturalität hineingezogen wird und dadurch Eigen­

&chaften erhält, die es für den präzisen und eigentlichen Juristen ganz inkommen­ surabel machen, Es liegt überdies der Widerspruch in diesem Recht, daß es das schließlich ganz individuell persönliche religiöse Leben durch formalistische und rein objektive Maßstäbe bindet und hindert. Allein das ist ein Widerspruch, der nicht in dem Dasein eines Rechtes in der Kirche, sondern im Begriff der Kirche als einer objektive Offenbarungsschätze durch fest erzwingbare Regeln schützenden Anstalt liegt, Der Idealbegriff der Kirche als einer lediglich durch das Wort sich selbst frei bildenden und regierenden Anstalt ist eine Utopie des Glaubens. Historisch ist nun die Frage, ob wirklich Luther rein und aussschließlich dieser Utopie des Glaubens gehuldigt habe, wie Sohm will, und die Einführung eines göttlichen Rechtes in der Tat erst auf Rechnung Melanchthons, der Politiker und der Konsistorien komme oder mit anderen Worten, ob Luther, der so viele mittelalterlich-katholische Mo­ mente des Kirchenbegriffes, besonders den der alleinseligmachenden objektiven Lehre und der einheitlichen christlichen Gesellschaft, beibehalten hat, an diesem Punkte wirklich zur vollen Ausscheidung jedes göttlichen Rechtes aus der Kirche, jeder göttlich begründeten Sicherungsmaßregel für reine Lehre und Sittenordnung vorgeschritten sei. Die Antwort hängt an der Interpretation von L.s Lehre über das geistliche Amt. Sohm interpretiert den lutherischen Amtsbegriff ganz (S. 473) einfach aus dem urchristlichen charismatischen Gedanken und überschätzt die eigenen Ausführungen Luthers über den charismatischen Charakter des Amtes, S. 474: •Der Kern der Lehre Luthers . , . , daß der Träger des Lehramtes „nur von wegen der Gemeinde", nur im Auftrage der „Kirche" seines Amtes walte. Sein A m t kann er, geistlich angesehen, nur von G o t t haben kraft der G a b e, welche ihm Gott gegeben hat, aber die Au s ü b u n g des Am_tes ist ihm nicht kraft Rechtsbefugnis, son­ dern lediglich kraft G e s t a t t u n g s e i t e n s d e r V e r s a m m 1 u n g (!) mög­ lich«. Nun hat aber Luther neben dieser supranatural-charismatischen Auffassung des Amtes auch unzweifelhaft die supranatural-rechtliche, daß das Amt der reinen Predigt als die Schriftwahrheit repräsentierend und den amtlichen Mund der Ge­ meinde bildend von Gott gestiftet und an die Voraussetzung einer ordnungsmäßigen, jede Rottiererei ausschließenden Berufung gebunden sei. Das letztere wird von der herrschenden Auffassung mit Recht als Kern eines geistlichen Rechts betrachtet, indem Dasein und ordentliche Berufung de jure dafür gefordert und die Ausübung des Schriftverständnisses der Gemeinde an diesen offiziellen Interpreten des Wortes gebunden ist; nur die Art der Berufung ist menschlicher Sitte frei gelassen. Auf dieser letzteren Auffassung beruht die obige Darstellung,

Die staatlich-kirchliche Lebenseinheit der christlichen Gesellschaft.

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Aber auch dann ist hervorzuheben, daß das lutherische Kirchen­ turn damit nicht lediglich einer ihm wesensfremden Ueberlieferung erliegt, sondern daß ihm auch von sich aus bei der Spiritualität seines Kirchenbegriffes und bei seiner Ablehnung eines göttlichen Gemeindekirchenrechtes, wie es später der Calvinismus durch­ bildete, gar nichts anderes übrig geblieben wäre. Dieser komplizierte staatskirchliche Lebenskreis ist nun aber trotz aller künstlichen Konstruktion ein soziales Ganzes. Für unseren Zusammenhang ist das Entscheidende die mit diesem Sachverhalt gegebene Deckung von Kirchengebiet und Staatsgebiet, die Ver­ filzung von Kirchengewalt und Staatsgewalt, der Z u s a m m e n­ f a 11 d e s K i r c h l i c h e n u n d Po l i t i s c h e n i n d e m B e­ g r i f f e i n e r c h r i s t l i c h e n G e s e11 s c h a f t. Gewiß gehört inner­ halb dieser Gesellschaft zur eigentlichen Kirche, d. h. zur Gemein­ schaft der durch das Wort wahrhaft Wiedergeborenen, nur der reli­ giös lebendige Teil der Bevölkerung. Das ist die Ecclesia stricte dicta, von der die Dogmatiker reden. Aber davon ist nur unterschieden, jedoch nicht getrennt, die Ecclesia late dicta, d. h. die Summe der der Gebietskirche angehörenden und durch das Zwangschristentum des Staates in der Taufe der Kirche Zugeeignetet;J., die wenigstens äußerlich zum Hören des reinen Wortes, zur Einhaltung der christ­ lichen Lebensordnung und zur Respektierung des christlichen Dog­ mas angehalten werden müssen 237). Noch klarer kommt dieser Ueher diese externa disciplina, die die Obrigkeit als custos utriusque ta · bulae staatlich und als membrum praecipuum ecclesiae kirchlich verpflichtet aus­ übt, s. die Worte Melanchthons bei Sohm: »Magistratus est custos primae et se­ cundae tubulae legis, quod ad externam disciplinam attinet, hoc est prohibere externa scelera et punire sontes Du sollst diesen Zu­ sammenhang (mit der geschichtlich gewordenen Gewalt) nicht grundlos unterbrechen, du sollst Pietät haben vor dem, was durch Gottes Fügung oder Zulassung geworden ist; du sollst nicht bloß der Obrigkeit gehorchen, wo solche besteht, sondern du

Das lutherische Naturrecht der positiven Gewalt.

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die Einhaltung des Vernunftrechts und in der christlichen Ge­ sellschaft an den freien Gehorsam gegen das Evangelium bindet. Bis zum heutigen Tage vertragen sich die Darwini­ sten, Gewaltpolitiker und Herrenmenschen mit den lutherischen Konservativen leichter als mit den Vertretern des liberalen ethischen Individualismus. Die Grundzüge der konservativen Staats­ und Gesellschaftslehre sind darin bis zum heutigen Tage vorge­ gebildet, und die »christliche Weltanschauung« unserer Konser­ vativen beruht in den politisch und sozial wichtigsten Teilen auf diesem positivistischen und realistischen Naturrecht Luthers 247). sollst der in der Geschichte wurzelnden Dynastie Treue und Anhänglichkeit zollen«. Im übrigen ist das Nebeneinander eines alle Härten der Gewaltpolitik in sich schließenden, rechtlich zu befestigenden Machtwesens und einer vorsehungs­ gläubigen Liebesmoral Folge der Sünde, wobei dann immer nur ein das positive Recht und die Gewalt möglichst schonender und den abstrakten Doctrinarismus der Liebesmoral zurückstellender Kompromiß übrig bleibt. - Auch bei Bismarck ist das so auffallende Nebeneinander seiner Gewaltpolitik und seiner Christlichkeit nur aus dem Gedankenkreis jenes Stahlsehen und lutherischen Prinzips des »Naturrechts des Irrationalismus« neben einer durch es gar nicht innerlich berührten Gesinnungs­ christlichkeit zu verstehen ; bei dem calvinistisch und sektenhaft bestimmten Crom­ well, auch bei Gladstone und Lincoln, ist ein derartiges Außer- und Neben­ einander ganz unmöglich gewesen. Bismarck hat sich für diese Trennung der äußeren Gewaltpolitik und der inneren Gesinnungschristlichkeit auch gerne auf Luther berufen, s. Lenz, Bismarcks Religion (Ausgew. Vorträge u. Aufsätze, deutsche Bücherei Nr. 18) Art. Bismarck in ,Religion, in Geschichte und Gegenwart«; Mei­ necke, B.s Eintritt in den christlich-germanischen Kreis H. Z. l 902 ; 0. Baumgarten, B.s Stellung zu Religion und Kirche 1900; jetzt vor allem E. Marcks, Bismarck I 1910. Der Eindruck des Bismarckschen politischen Denkens ist auch auf die heutige deutsche Christlichkeit ein außerordentlicher gewesen; aber die Verherr­ lichung der durch die Sünde notwendig gewordenen Gewalt unter der Zurückzie­ hung der christlichen Ethik mehr auf die privaten Verhältnisse ist nicht erst eine Eigentümlichkeit der heutigen preußischen Religion, wenn freilich auch der Ge­ danke erst hier eine begeisterte Selbstverständlichkeit gewonnen hat, die Luther ganz ferne lag und - aus anderen Gründen - auch Bismarck. 2 n) Vgl. die Aeußerung der >Kreuzzeitung« zu den aristokratischen Auslese­ theorien des bekannten darwinistischen Soziologen Otto Ammon: ,Schlagender als in diesem Buche kann die Hinfälligkeit der Lehre der blauen und roten Demo­ kratie nicht dargetan werden«; es sind Ergebnisse, »gegen die auch vom streng konservativen Standpunkt nichts einzuwenden ist«; s. Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland I, Die Konservativen S. 32 ; Berufung der Kreuzzeitung auf Ma­ chiavellis Machttheorie S. 58. Oder auch den Satz aus dem Wahlprogramm der Konservativen 1849: »Der konservative Kandidat soll ein politischer Mann sein.

III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

Allerdings hat Luther unter dem Einfluß der zum schmal­ kaldischen Bund führenden Verhandlungen diese Lehre durch­ brochen und das Widerstandsrecht nicht bloß auf Grund positiven Reichsrechtes , sondern auch auf Grund des Natur­ rechtes behauptet. Allein das ist deutlich fremder Einfluß, vor allem hessischer und Straßburger Einfluß, und von einem großen Teil seiner Anhänger mit seinen eigenen Worten zurück­ gewiesen worden. In der Publizistik aus Anlaß der Magdeburger Kämpfe lebten die Resistenztheorien wieder auf, um dann aber zu verschwinden. Sie sind gegen Luthers eigentliche Meinung und Konsequenz. Seine eigentliche Ansicht über das Naturrecht tritt zutage, wenn er erklärt, daß Griechen und Römer das wahre Naturrecht nicht gekannt hätten, dagegen bei Persern, Tataren und derselbigen Völker mehr das Recht besser gehalten werde 247 a). Liegt an diesem Punkte eine starke Abweichung vom katho­ lischen Naturrecht, so folgt ihm freilich Luther doch in anderen wichti­ gen Zügen, in der Vermischung der Moral und des Rechtes, in der Angleichung des Naturrechts an die christliche Moralität und an die daraus entspringende Betonung der Epikie oder Aequität, die das formelle Recht zu Gunsten des ethischen Urteils modifi­ ziert. Natürlich gilt das nicht auf dem Gebiete des Staatsrechtes wie sich nach dem Bisherigen von selbst versteht. Auch nicht auf dem des Strafrechts. Hier ist vielmehr sein strenger Erbsünden­ begriff und seine Forderung strenger Zucht, seine Verachtung der Masse, seine Auffassung der Obrigkeit als Stellvertreterin der gött­ lichen Strafe und Vergeltung geneigt zur äußersten Strenge und hat er das Rädern, Köpfen und Quälen mit äußerster Härte empfohlen 248). Er soll wissen, daß die Gewalt ein im Staatsleben ewig wirkender Faktor ist und daß sie, die an sich unvernünftige, stets alsdann berechtigt angewandt wird, wenn sie dasjenige Vernünftige bewirkt, das sich als eine Grundbedingung des Staats­ lebens erweist•, Stillich S. 218. H7") Vgl. Cardauns, S. 8-19. Die Stelle über die Perser in »Ob Kriegs­ leute etc.« BA. IV. 1 S. 398-402. Leider ist auch die Darstellung bei Cardauns nicht erschöpfend. Wie schwankend die Meinungen waren , zeigt v. Schubert, Beitr. Z. f. K.-G. XXX, S. 271-316, Das Naturrecht der rationellen Notwehr, das Naturrecht der reinen Gewalt, wie es gegen die Bauern ausgeprägt worden war, das positive Reichsrecht einer nur bedingten Oberhoheit des Kaisers und das göttliche Recht des bloßen Leidens und Duldens gehen hier durcheinander; siehe Melanchthons Gutachten S. 313. HB) Vgl. die Begründung der ersten großen und selbständigen Ausarbeitung des Strafrechtes auf diese lutherischen Gedanken durch Ben. Carpzov bei Stintzing,

Die Aequität im Zivilrecht,

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Aber auf dem Gebiete des Zivilrechtes kommt ihm der Sinn des Naturrechtes überall auf Milde, auf Berücksichtigung der Motive, der Lage und der Bedürfnisse hinaus. Der Grundsatz des Naturrechts sei, daß man alles den Leuten tue, was wir von ihnen verlangen, daß sie uns tun. In dieser Hinsicht ist die Liebe der Sinn auch des Naturrechts und ist dieses der christlichen Moral konformiert. So kommt es zu seiner Forderung an das positive Recht, daß es überall dem Naturrecht und dem im Grunde damit identischen christlichen Ideal sich zu nähern habe 249). Ist in allen Fragen der Gewalt und Leitung, der Ueber- und Unterordnung sein Natur­ recht eine naturalistische Anerkennung herrschender Mächte und Differenzen, sowie eine aristokratische Betonung der Distanzen, so ist in allen Fragen des persönlichen Verhaltens und der bloß zivilen Streitigkeiten sein Naturrecht ein solches der Billigkeit, des Gegensatzes gegen den strengen rechtlichen Formalismus, eine möglichste Reduktion des Rechtes auf die Grundsätze menschlicher Nachsicht mit dem Leidenden und Gedrückten und zweckmäßiger Beseitigung der Konflikte. Auch hier folgt ihm bis heute die konservative Gesellschaftstheorie, die in allen das Problem der Gewalt und Herrschaft nicht berührenden mensch­ lichen Beziehungen für Wohlwollen und Billigkeit, für Ungebunden­ heit durch den starren Rechtsformalismus eintritt. Sie scheut die Umgebung des Individuums mit abstrakten Rechtsgarantien, weil darin das individualistisch-rationelle Prinzip überhaupt liegt, aber sie ersetzt das Recht gerne durch christlich-patriarchalische Rück­ sicht und persönliche Billigkeit. Auf dem Gebiet der ·Gewalt ist das Naturrecht dem christlichen Autoritätsgedanken angeglichen, auf dem Gebiet des Privatrechts dem christlichen Liebesgedanken. Die schroffe Härte der Gewaltlehre wird kompensiert durch eine christliche Milderung des Rechtsstandpunktes in den privaten Be­ ziehungen. Das ist alte lutherische Lehre und heute noch konGesch. d. deutschen Rechtswissenschaft II, 1884 S. 70-80, Die große Rolle, die i:r. diesem Strafrecht der Hexenprozeß spielt, geht gleichfalls auf Luthers Dämonen­ glaube zurück, der die Bosheit der Welt und ihren Widerstand gegen das Evan­ gelium sich nur aus teuflischen Wirkungen erklären konnte, Immerhin hat Luther die phantastischen Ausartungen des Hexenglaubens bekämpft, s. Kawerau in W. W., Berliner Ausgabe IV 1, S. 44 f. 949) Hiezu Köhler in dem Abschnitt »Das Verhältnis zum kanonischen Recht« S. III-132. Hier ist mit Recht die Identität mit der mittelalterlichen Anschau­ ung betont. Die >Epikie« oder »Aequität« S. 46 u. 98.

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III. Der Protestantismus. 2. Das Luthertum.

servative Rechtsauffassung 250), und in der Tat kommt hierin die Christlichkeit der Moral mehr zum Ausdruck als in dem öffent­ lichen Gewaltrecht; doch ist es auch hier eine stark patriarcha­ lisch gefärbte Christlichkeit, die von dem mannhaften Individua­ lismus und dem entsprechenden Rechtsbewußtsein der Calvinisten sich stark unterscheidet. Indem nun aber das Naturgesetz für Luther überall Gottes Wirken in der Vernunft ist, liebt er es, Gott als Begründer dieser Ordnungen zu betonen und sucht er, wo es irgend möglich ist, un­ mittelbare göttliche Einsetzungen und Bestätigungen. Damit verschwindet dann aber der naturrechtliche Charakter seiner Aufstel­ lungen ganz hinter dem mythischen. Die Familie ist eine Ord­ nung des Naturgesetzes, jedoch ausdrücklich zugleich von Gott ein­ gesetzt. Der Staat ist indirekt mit der Familie eingesetzt, im übrigen jedoch im Alten Testament vielfach bestätigt. Die ökono­ mische Gliederung und die Arbeit geht auf Gottes Befehl bei der Paradiesesaustreibung zurück. Aber auch in Einzelheiten greift er gerne auf alttestamentliche Beispiele, sodaß es oft den Anschein gewinnt, als hätte er seine radikale Ablehnung jeder Bedeutung des jüdischen Gesetzes für den Christen vergessen und als behandle er das Alte Testament geradezu als Gesetzbuch. Für Ehefragen und für das Problem der Leibeigenschaft greift er gerne auf das mosaische Gesetz zurück, und bekannt ist seine verhäng­ nisvolle Berufung auf die Bigamie des Alten Testamentes in dem Falle des hessischen Landgrafen. Aber hierbei kommt das mo­ saische Gesetz doch nur in seiner Identität mit der Vernunft, als göttliche Bestätigung oder Proklamation vernünftiger Regeln in Betracht, nicht als geoffenbartes Gottesgesetz. Freilich wird auf diese Weise eine bunte Mischung biblischer und naturgesetz250)

Vgl. den Abschnitt bei Stillich »Die Rechtsauffassung der Konservativen« S. 161-178. Die standesgemäß differenzierte Rechtsungleichheit und die die je­ weiligen Umstände berücksichtigende Billigkeit im Gegensatz gegen die abstrakte Rechtsgleichheit S. 166. Ein tolles Beispiel solcher Kadi-Justiz ist das Urteil des Herzogs Karl von Burgund in • Von weit!. Obrigkeit« IV. 1 S. 272, auf das Luther sich beruft: ein Ritter, der die Frau seines Feindes zum Beischlaf bewegt und ihr dafür das Leben ihres Mannes verspricht, dann aber doch den Feind tötet, wird verurteilt, die Frau zum Weibe zu nehmen, dann nach der Brautnacht unversehens geköpft und seine Güter werden der Frau geschenkt. •Siehe ein solches Urteil ist aus freier Vernunft über aller Bücher Recht gesprungen, so fein, daß es jeder bil­ ligen muß und bei sich selbst findet im Herzen geschrieben, daß es also recht sei«.

Die mythische Wendung des Naturrechts der Gewalt.

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lieber Argumentationen erzeugt; aber diese Mischung beweist nur das, was für unsern Zusammenhang von grundlegender Be­ deutung ist, die überall obwaltende Voraussetzung einer inneren Einheit und Konformität des Naturgesetzes mit dem christlichen Geiste, worauf allein die relative Einheitlichkeit der Kultur des alten Luthertums und heute noch die Christlichkeit des sehr unchrist­ liche Elemente einschließenden konservativen Programms be­ ruht 251), Hat so Luther seine naturrechtliche Idee oft in positiv-bib­ lische Satzungen verhüllt und überdies im Falle der Opposition der Juristen, die naturgemäß mehr bei der Kontinuität des tech­ nischen Rechtes bleiben mußten, unter heftigem Wettern sich wieder auf den Gegensatz von Recht und christlicher Freiheit zurückgezogen, so haben diese Ideen eine rationelle Glättung und Reduktion erfahren durch Melanchton 252). Er war der Naturrechts251) Ueber die Begründung der Institutionen auf Gott und den Sinn dieser Begründung s. Ehrhardt S. 303. Es ist immer mediate gemeint. Wie das verstanden ist, zeigt Luthers Zurückführung des deutsch-römischen Reiches auf Einsetzung durch Gott, obwohl L. die translatio imperii durch den Papst für einen bösen Streich hält; W. Köhler, L.s Schrift an den Adel, 1895, S. 242, ,Aus­ gebend von der Absolutheit und unumschränkten Willkür Gottes . , , erkennt L. in dem bösen Spiel des Papstes göttliche Absicht, stellt er die Handlung des Papstes unter göttliche Direktive, läßt er den Papst das mechanische Werkzeug des göttlichen Allmachtswillens sein. < So erklärt Prof, Suchsland die konservativen Theorien über die Autorität in Staat, Moral, Recht, Ehe als gerade vom Stand­ punkt strengster Wissenschaft, d, h. von der Voraussetzung der Auslese aus dik­ tiert ; die göttliche Einsetzung dabei sei dann das transzendente, dogmatische Glaubenselement, das nur hinzukomme, Stillich S. 33, 252) Vgl. hiezu Corpus Reff, XXI u. XVI; außerdem Köhler, Luther und die Juristen, 100-105; Troeltsch, Gerhard und Melanchthon; Ellinger, Melanchthon 1902, S. 585-589; hier seine Neigung zu den städtischen Aristokratien wie bei Erasmus; sehr gute Wiedergabe bei Hänel, Mel., der Jurist (Z, f, Rechtsgeschichte, hg. v, Rudorff VIII, 1869). Hier das treffende Urteil: •Sein Standpunkt ist trotz aller Abneigung gegen dieselbe der der Scholastik, und, was ihn in allen seinen Schriften von ihr unterscheidet, ist weder eine größere Präzision der Begriffsbe­ stimmungen, noch eine selbständigere freie Methode, weder neue befruchtende Ge­ danken noch auch nur eine vertieftere Benützung des Aristoteles, sondern ledig­ lich die Popularisierung der Darstellung, der Versuch, die philosophische Betrach­ tung dem Leben näher zu bringen, und selbstverständlich vor allem die veränderte Anschauung über das Verhältnis von Staat und Kirche« 269. Nur ist die Lehre von der Nichtresistenz noch zu betonen, wie H. an anderem Ort selbst sagt : »Es liegen der Politik selbständige und eigentümliche Begriffe und Prinzipien, wie

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

lehrer des Protestantismus, dessen Entwurf von der gesamten Ju­ risprudenz weiterhin befolgt wurde, bei dem der philosophische Charakter des Naturrechts stärker hervortrat und bei dem die luthe­ rischen Spannungen zwischen Recht und Christentum, zwischen Ver­ nunft und Offenbarung in einer freundlichen gottgeordneten Har­ monie beider schließlich verschwanden. Der Glaube an diese Har­ monie und das Ideal einer Konkordanz von natürlichen Voraussetz­ ungen und spiritualer Beselung ist von da ab dem Luthertum eigen­ tümlich geblieben. Melanchthon entwickelte in seinen ethischen Schriften und juristischen Reden den uns bekannten naturgesetz­ lichen Gedankenkreis in den klassischen Formeln Ciceros und in der Anlehnung an Aristoteles, dessen Politik er auch kommentierte. Das ciceronianische Naturgesetz wird aus dem mit ihm identi­ schen Dekalog erklärt, vermöge dieser Identität werden ihm auch die religiösen Elemente eingefügt, die es bei den Heiden ver­ loren hatte. Damit ergibt sich eine Fassung des Staates und seines rechtlichen Strafamtes, das auf der Idee von der Vernunft als der insbesondere, daß der Mensch zur Gesellschaft bestimmt sei und daß in ihr Ueber­ und Unterordnung herrsche, zugrunde, welche sie zu erkennen und in ihren Konse­ quenzen zu entwickeln hat. Aber es sind Begriffe und Prinzipien, die Gott dem Menschen einpflanzte, Dies ist es, was den Staat zur göttlichen Ordnung macht ... Der b e s t e h e n d e Staat und das b e s t e h e n d e Gesetz sind göttlich, auch wenn sie drückend sind und die Freiheit begraben ; auch ein göttlicher und un­ gläubiger Herrscher ist als Zuchtrute Gottes in seinem Rechte zu achten, Jede eigenwillige und leichtsinnige Veränderung in Verfassung und Gesetz ist verwerf­ lich; selbst Abweichungen von der Vernunft sind zu dulden, wenn sie nur nicht gänzlich der Natur widerstreben und dann dieselbe verderben« 260, Wie dann unter dem Einfluß der Problemstellungen des Schmalkaldischen Bundes Melanch­ thon und Luther das Resistenzrecht anerkennen und gelegentlich sich wieder zum rationalistisch-individualistischen Naturrecht verirren, zeigt Cardauns S. 14-19; hier gelegentlich Vorstufen von Calvins Lehren. Leider zeigt Cardauns nicht das Verschwinden dieser Lehren aus dem Luthertum; es hängt vermutlich mit der allgemeinen gnesiolutherischen Reaktion und der kursächsischen Sättigungspolitik zusammen, wodurch dann die Reformen und Fortschritte erstrebenden Mächte zum Calvinismus gedrängt wurden, Im späteren Luthertum dreht sich das Problem der Resistenz nur mehr um das reichsrechtliche Problem des Verhältnisses von Terri­ torialherren und kaiserlicher Gewalt, wo eine streng kaiserlich - konservative und eine calvinistisch beeinflußte, in Jena konzentrierte freiere Richtung einander gegenüberstanden, s, Stintzing, Gesch. d. deutschen Rechtswissenschaft II, 1884, S. 40-54, - Das allmähliche Versickern der liberaleren Fassung des Naturrechts in der Schule Melanchthons s. bei v. Kaltenborn, Vorläufer des Hugo Grotius 1848,

Melanchthon und seine naturrechtliche Schule.

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Trägerin der Disziplin und der Erziehung gegen die Sünde sowie des Schutzes für Ordnung und Wohlfahrt beruht ; ebenso eine Auffassung des Zivilrechtes, die im römischen Recht die mit Na­ turgesetz und Dekalog identische positiv-rechtliche Ausformung des Naturgesetzes erkennt und für die kommenden Juristen das römische Recht genau so zur Norm und zum gegebenen Stoff macht, wie die Bibel es ist für die Theologen. Nicht als Juden­ gesetz, sondern als Auszug des Naturgesetzes gilt der Dekalog, und darum ist auch für die Christen das vernünftige römische Recht ihr Gesetz und nicht, wie die Sektierer wollen, das mosa­ ische Gesetz. Auf dieses geschriebene Recht bezieht er auch die aristotelische Lehre von der Herrschaft des Gesetzes im Staate. Auch hier ist das Evangelium im Bunde mit der Vernunft. Zugleich ergibt sich aus dem Naturgesetz die Gliede­ rung in Stände und Berufe samt dem Privateigentum, das freilich erst dem relativen Naturrecht des Sündenstandes angehört, nun aber auch umso stärker als göttliche Stiftung zu behaupten ist. In alledem ist bei Melanchthon ein stärkerer rationalistischer Zug als bei Luther. Von dieser seiner Rationalisierung her ergeben sich dann auch wieder die alten rationalistischen Gedanken von der Zustimmung der Beherrschten zu der herrschenden Gewalt. Aber gleichzeitig führt er den Staat doch auf ein Mandatum Dei zurück, das schon in der paradiesischen Stiftung der Familien-Autorität enthalten gewesen ist, und damit mündet er dann ganz ein in das lutherische autoritative Naturrecht der Gewalt und Ordnung. Ja, er steigert nun seinerseits diesen Gedanken, indem er die formelle Stringenz der gegebenen Rechtsordnung viel stärker gel­ tend und von der Aequität einen viel geringeren Gebrauch macht als Luther. Das Widerstandsrecht hat er umgekehrt in weiterem Umfange behauptet als Luther, aber doch auch das nur unter Berufung auf das positive römische Recht, wo der Impera­ tor erklärt, unter Zustimmung seiner Untertanen die Gewalt ausüben zu wollen, und unter Berufung auf das deutsche Reichsrecht, wo die ständische Libertät gegen einen vertragsbrü­ chigen Kaiser zum Widerstand berechtigt ist. Schließlich hat er gegen die schlimmsten Ungerechtigkeiten die Resistenz auch als de jure naturae berechtigt anerkannt, und Luther hat sich dem un­ willig genug gefügt, die Frage den Juristen und der Vernunft be­ fehlend. Aber die Wirkung davon im lutherischen Naturrecht ist gering. Im Ganzen hat hier Luthers Geist die Oberhand be-

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III. Der Protestantismus. 2. Das Luthertum.

halten. Die Melanchthonschen Besonderheiten verschwanden, wie im Dogma, so auch im Naturrecht. Wenn der humanistische Verehrer des Aristoteles die aristokratischen Stadtrepubliken be­ vorzugte vor dem zur • Tyrannis« neigenden Absolutismus, so ver­ schwand auch das mit dem Rückgang der Städte von selbst aus der politischen Theorie des Luthertums. Zu Luthers Auffassung von der Gewalt paßte in der Tat der Absolutismus besser, und die Abneigung gegen die Sakramentierer war zugleich eine Ab­ neigung gegen die oberdeutschen Republiken 252 a). In dem von Melanchthon geschaffenen Rahmen bewegte sich die ganze weitere Jurisprudenz, in staatsrechtlichen Dingen nur immer stärker den konservativ-autoritären Charakter betonend, wenn auch die Formeln von einer stillschweigenden Zustimmung der Bürger zur herrschenden Gewalt fortgeschleppt wur­ den 253). Ein eigentliches Staatsrecht und eine ausgeführte 252•) Vgl. Cardauns S. 13: Mel. folgt anfangs den lutherischen Meinungen, zeigt dann aber »im Gegensatz zu Luther von vorneherein nicht erst unter dem Einfluß äußerer Begebenheiten< seine Vorliebe für ständische Kontrollen der herr­ schenden Gewalt. Cardauns hebt seine Vorliebe für Ph. de Commynes hervor (über diesen ibid. S. 30 u. Baudrillart, Bodin 1853, S. 10-13), auch Anklänge an die erasmische Staatslehre Cardauns S. 31 f. - Ueber den Zusammenhang des Hasses gegen die Sakramentier mit der Abneigung gegen die Republik siehe v. Schubert, Bündnis und Bekenntnis 1529/30, 1908, S. 9. - M.s Schule s. Hinrichs I. 253) Vgl. Stintzing, Gesch. d. deutschen Rechtswissenschaft I, 1880. Sehr charakteristisch hier die Deduktion bei dem Juristen Konrad Lagus S. 302 f.: Unter­ scheidung von jus naturale primaevum und jus naturale secundarium, das letztere ,durch Gottes Gnade dem Menschen verliehen gegen seine verdorbene Nature, »Das daraus fließende Recht nei;men die Römer jus gentium, weil es bei allen Völkern beobachtet wird. Es wird auch jus divinum genannt. Mit Unrecht be­ schränken die Calvinisten diesen Namen auf die im Evangelium vorgeschriebenen Normen. Denn es gibt viele leges vere divinae, welche weder im Evangelium noch im mosaischen Gesetz ausgesprochen sind. Jus divinum ist alles, was Christi Willen entspricht und die reine menschliche Vernunft zum Schutze des Daseins der menschlichen Gesellschaft fordert. Dieses jus naturale hat mehrere gradus, welche im Dekalog (durch Unterscheidung der ersten und zweiten Tafel) angegeben sind. Seine Gebote, und zwar sowohl die der ersten als die der zweiten Tafel, lassen sich aus der menschlichen Natur und Vernunft herleiten. Allein da die Triebe der (sündigen) Natur des Menschen so mächtig sind, daß er oft gegen das judicium naturale handelt, so genügt es nicht, den Gehorsam seinem guten Willen zu überlassen. Daher ist es notwendig gewesen, andere legum carceres zu erfinden, um die Menschen durch öffentliche Autorität zum Gehorsam zu zwingen. Diese Betrachtung führt auf das positive Recht, jus civile, quod publica necessitate exi-

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Das Naturrecht des orthodoxen Zeitalters,

politische Theorie bildeten sich überhaupt erst im 17. Jahr­ hundert, bis dahin blieb der Stoff auf Dogmatik, philosophi­ sche Ethik, Erklärung der aristotelischen Politik und Auslegung der hierzu geeigneten Stellen des römischen Rechtes verteilt und reproduzierte nur die bekannten Gedanken mit steigender Betonung der göttlichen Einsetzung der Obrigkeit, wie das dem zunehmen­ den Absolutismus entsprach und auch in den Staatstheorien des ka­ tholischen und anglikanischen Absolutismus geschah. Das geschlos­ senere Staatsrecht des I 7. Jahrhunderts wandte sich dann dem empiri­ schen Rechtsstoff zu. Die prinzipielle Auffassung blieb jedoch dabei die lutherisch-melanchthonische von der Zurückführung des Staates auf die Vernunft und auf göttliche Einsetzung zugleich, und innerhalb des Territorialstaates selbst verband sich die neue Souveränetäts­ theorie Bodins mit der alten Lehre von der demütigen und vertrauens­ vollen Ergebung in die von Gott gesetzte Obrigkeit. Die natur­ rechtlichen Elemente der Theorie traten dabei immer mehr zu­ rück und reduzierten sich schließlich auf den kahlen Satz von der göttlichen Leitung der Vernunft in der Hervorbringung der politi­ schen Gewalten. Je mehr dann von der Grotianischen Schule ein rein rationales Naturrecht ausgebildet und von der Theologie emanzi­ piert wurde, um so mehr hielten sich die Lutheraner an diese göttlichen Einsetzungen, die zwar mediate geschehen aber doch göttliche Einset­ zungen sind. Nun heißt es einfach: die Obrigkeiten stammen so, wie sie sind, von Gott, Für die philosophische Begründung eines irratio­ nalen Naturrechts im Unterschiede vom rationalen Naturrecht, wie das später Stahl getan und damit die moderne konservative Theorie wissenschaftlich unterbaut hat, fehlten in dem herrschenden System aristotelisch-scholastischer Metaphysik alle Mittel und war inner­ halb der gläubigen Atmosphäre auch kein Bedürfnis. Pufendorf, der in seiner Gesamtstellung ein guter Lutheraner war und nur den positiven Wert des Staates kulturfreudiger und optimistischer gente civium suffragio (!) in aliqua re publica constituitur«, Dieselbe Deduktion und die Behandlung der Begriffe jus naturale primaevum und jus naturale secun­ darium als technische Begriffe bei Kling I 307. Es ist dasselbe, wie wenn ich in der bisherigen Darstellung stets ,absolutes« und >relatives« Naturrecht unter­ schieden habe. Ebenso bei dem maßgebendsten Juristen Joh. Oldendorp I 371 : Das jus naturale secundarium sei in dem Dekalog zusammengefaßt als Mittel gegen die Sünde, von da in die römischen 12 Tafeln übergegangen, die die Römer von den Griechen, diese aber von den Hebräern gelernt hätten, Erst mit diesen An­ gaben sieht man in den ganzen Aufriß des altlutherischen Denkens hinein, T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus. 2. Das Luthertum.

einschätzte als Luther, suchte von dem Grotianischen individua­ listisch-rationalistischen Naturrecht den Uebergang zu dem luthe­ rischen Realismus und Positivismus des Rechts- und Machtge­ dankens, aber teils drängte die erstere Tendenz über ihn hinaus, teils fühlte sich der orthodoxe Sündenpessimismus und die spät­ lutherische Lehre von der göttlichen Einsetzung der Obrigkeit von ihm abgestoßen. So blieb er ohne Wirkung auf das kirch­ liche Naturrecht, und man begnügte sich in diesen Kreisen mit einer höchst aphoristischen Theorie und einer theologisch-absolu­ tistischen Praxis. Als Christian Thomasius auf Pufendorfs Seite trat, schrieb der dänische Hofprediger Masius gegen ihn eine Schrift über »das Interesse der·Fürsten an der wahren Religion«, worin er die lutherische Konfession als sicherste Stütze des ge­ meinen Wesens pries und die Fürsten darauf aufmerksam machte, wie vorteilhaft für sie das Dogma sei, daß alle fürstliche Gewalt unmittelbar von Gott komme. Zugleich verdächtigte er die re­ formierte und katholische Konfession, daß sie die Rebellion und den Aufruhr begünstigen, indem sie jenem Dogma widersprechen. Das ist nicht mehr ächt lutherisch, sondern die Aufpfropfung des Absolutismus auf die lutherische Lehre. Aber die letztere bot dafür in der Tat hinreichende Möglichkeiten 254). 254) Die Einzelheiten s. bei Stintzing II; die Lehren der Theologen des 17. Jahrh. bei Schmidt, Ev.-luth. Dogmatik, 459 f.: Hollaz: ,Causa efficiens principalis magistratus est Deus triunus, qui certis personis officium magistratus committit vel immediate (Ex 3, 10. Num 27, 18. I Sam 9, 15) vel mediate (Joh. 19, II) .. Hodie ad officium magistratus personae habiles m o d e r a n t e D eo l e g i t i m e perveniunt vel per electionem vel per successionem vel per justam occupationemc. J. Gerhard: »Magistratum potestate aliqua instructum esse patet ex Rom 13, 1 •• Potestas illa magis­ tratus non est absoluta, illimitata et indeterminata, sed ad leges et normam supe­ rioris alicujus potestatis restricta. Cum enim potestatem suam a Deo magistratus acceperit, ideo Deum superiorem recognoscere et illius voluntati ac legibus in usu hujus potestatis sese conformare tenetur ... Quando ergo politici absolutam potes­ tatem (das ist die Lehre Bodins) summe magistratui tribuunt, id non est accipiendum simpliciter nec respectu superioris sc. Dei, sed dumtaxat respectu i n f e r i o r u m m a g i s t r a t u u m (das ist der runde Gegensatz gegen die calvinistische Haupt­ lehre). . .. Propter peccatum protoplastorum non solum spiritualibus et aeternis futurae vitae bonis, sed etiam corporalibus et externis hujus vitae commodis genus humanum excidit. Sed Deus ex miranda et nunquam satis praedicanda benig­ nitate propter filii intercessionem non illa solum sed etiam haec restituit ac repa­ ravit ac media illis conservandis ordinavit . . Per magistratum politicum Deus con­ servat pacem et tranquillitatem externam, administrat justitiam civilem, defendit

Das Naturrecht des orthodoxen Zeitalters,

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Aehnlich ging es mit der Entwickelung der •natürlichen« Wirtschafts- und Gesellschaftslehre. Zunächst bedurfte es hierfür überhaupt keiner eigentlichen Wissenschaft von diesen Dingen, da die gegebenen Verhältnisse als Ausdruck des Naturgesetzes und der Vorsehungsleitung selbstverständlich waren. Es bedurfte nur der prinzipiellen theologisch-ethischen Gesamtanschauung und daneben einer praktischen Regierungstechnik, die im Zusammen­ hang mit der gegebenen Lage und den positiv-rechtlichen Verhältnissen die Ueberführung der noch stark patrimonalen Staatsfacultates, famam et corpora«. Alles das geschieht vermittelst der naturgesetzlichen Vernunft, allein die spätere Lehre betont vor allem die göttliche Einsetzung des Gege­ benen, worauf dann eine den empirischen"Rechtsstoff bearbeitende Jurisprudenz sich begründet ohne viel Sorge um die - theoretisch behauptete - Ableitung aus dem Natur­ gesetz undder Vernunft. - Die Lehre der Juristen zusammengefaßt bei Reinking: >Das Fundament seiner politischen Ueberzeugung ist die (vermittelte) göttliche Einsetzung aller Obrigkeit. Wer sich an ihr vergreift, Treubruch und Ungehorsam übt, hat Gottes Strafe zu erwarten, wenn auch im äußersten Notfall der Widerstand entschuldigt werden kann, wenn er einem Fürsten entgegengesetzt wird, der durch die Verach­ tung der Grundgesetze und rechtliche Gewalttat zum • Tyrannen« geworden ist (das ist auch hier ein Rest des naturrechtlich-rationalistischen Individualismus !). Als die beste aller Regierungsformen erscheint ihm die Monarchie, weil sie die älteste und n a t ü r I i c h s t e Ordnung, die den Frieden am ehesten wahrt, und der göttlichen Weltregierung am ähnlichsten ist«, Stintzing II 197. In reichsrechtlichen Dingen hat R. den kaiserlichen Standpunkt; das Reich ist die vierte Danielische Weltmonarchie mit ewiger Dauer. Autoritäten sind das römische und das Lehens­ recht und die mittelalterlichen Juristen, »R.s Werk ist mit jeder Faser in die Ueber­ lieferungen des M.A. verwoben, soweit nicht sein entschiedener Protestantismus ihn befreit hatc 199. Die entgegengesetzte, moderne, niederländisch und calvinistisch beeinflußte Schule des Arumäus und Limäus scheint nach Stintzings Angaben auch nur in Bezug auf das Reichsrecht moderne Ideen gehabt zu haben, Die analoge Entwickelung im katholischen Absolutismus (nicht aber bei den juristischen Staats­ philosophen) s. bei Kaufmann S. 16 f. und in Bossuets Politique tiree de l'Ecri­ ture 1709; im englischen Absolutismus analoge Ausführungen bei Filmers Patriarcha 1680. Das Naturrecht wird den orthodoxen Lutheranern erst verdächtig, seit das Grotianische Naturrecht dasselbe von der Theologie emanzipiert hatte, s. Stintzing II 129; dem gegenüber schreibt Reinking eine »Biblische Polizei, d. i. ge­ wisse aus heiliger göttlicher Schrift zusammengebrachte, auf die drei Hauptstände, als geistlichen, weltlichen, häuslichen, gerichtete Axiomata, Frankfurt 1653 ; >die wiederholten Auflagen beweisen, daß das Buch den verdienten Beifall gefunden hatc. Stintzing II 207 f. Gleichen Geistes ist Seckendorffs Deutscher Fürstenstaat 1655 und Christenstaat 1685. - Ueber das Verhältnis von Grotius u. Pufendorf zu diesen kirchlichen Gedankenkreisen s. Bluntschli u. Hinrichs, über Masius s. Bluntschli S. 184. 35*

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

verwaltung in eine bureaukratisch rationalisierte und finanziell gesicherte Staatshoheit ermöglichte. Diese patriarchalische Wirt­ schaftslehre bediente sich dabei der konservativ-naturrechtlichen und theologisch-ethischen Theorien, genau so wie die Staatslehre. So bewegte sich die Theorie im engsten Zusammenhang mit der gleich­ falls sehr aphoristischen Staatsphilosophie und der Erklärung des Aristoteles, in alter scholastischer Weise Staat, Gesellschaft und Wirt­ schaft lediglich unter ethisch-theologischen Gesichtspunkten und Interessen behandelnd; und auch die praktischen Anweisungen blie­ ben erfüllt mit biblischen und humanistisch-antiken Belegen, in denen sie die prinzipielle theologisch-juristische Grundanschauung zum Ausdruck brachten. Es ist unter der Voraussetzung der sündigen und verderbten Natur und der vorsehungsmäßigen Re­ aktion der Natur gegen diese Verderbung eine religiös bestimmte, relative Physiokratie, eine auf die Bedingungen des Sündenstandes eingerichtete »natürliche« Wirtschaftslehre, in allem Wesentlichen lediglich die Fortführung der scholastischen Theorie, die nur den Aristoteles neubelebt und durch eine gewisse Wirklich­ keitsbeobachtung der modernen Humanisten praktischer ge­ macht ist. Vor allem aber ist auch von dieser lutherischen Gesellschafts- und Wirtschaftslehre her dem lutherischen Naturrecht die Wendung zum Konservativen und Autoritativen gegeben in engem Zusammenhang mit der ganzen Auffassung des Wesens der Gewalt und der Ueberordnung 255). 255) Hiezu vgl. Rescher, Gesch. d. Nationalökonomik in Deutschland, 1874. Trotz der Meinung, daß die Reformation eigentlich eine Erneuerung auch des wirtschaftlichen Denkens sei, erkennt R. doch den rein scholastischen Charakter bei der Charakteristik der beiden Hauptvertreter lutherischer Gesellschaftslehre ; Melchior v. Ossa (t 1557) und L. v. Seckendorff (t 1692): ,Unser Ossa steht gleichsam mit einem Fuß in der theologischen Periode der Nationalökonomik, mit dem anderen in der juristischen. Außer der Bibel, den >lieben« Kirchenvätern, dem Aristoteles zitiert er hauptsächlich nur die Corpora juris« S. II5, Daß das letztere kein Gegensatz gegen das christliche Naturrecht ist, ist bereits gezeigt und beweist auch der Titel des Hauptabschnittes des Ossaschen Gutachtens >Von gott­ seliger, weißlichen, vernünftigen und rechtmäßigen Regierung und Institution«, Hier ist die Identifikation von Bibel, Vernunft und Recht deutlich ausgesprochen. Eine ähnliche Charakteristik aus Anlaß v. Seckendorff: •Jene theologische oder doch wenigstens religiöse Färbung der Staatswissenschaft und Nationalökonomik, welche die Reformation aus der scholastischen Periode n i c h t n u r b e i b e h a 1 t e n , s o n d e r n n o c h w e s e n t 1 i c h e r w ä r m t u n d v e r t i e f t hatte, war unter S.s Zeitgenossen in raschem Verbleichen«, S. 240, Ueber die Entwickelung vom

Das soziologische Grundschema des Luthertums.

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So haben wir also im klassischen Luthertum die freiwillige Liebeskonkordanz des weltlichen und geistlichen Regiments zur Verwirklichung des religiösen Lebenszweckes der christlichen Ge­ sellschaft. Wir haben die Verschmelzung der natürlich-philoso­ phisch-weltlichen und der biblisch-übernatürlich-spiritualen Ethik zum Ganzen einer die natürlichen Lebensformen mit religiöser Liebesgesinnung durchdringenden Lebensführung. Es ist ein ein­ heitliches Lebenssystem christlicher Kultur wie im Katholizismus des Mittelalters. So hat dieses Gesellschaftssystem auch, wie dieser, das Ideal eines einheitlichen s o z i o I o g i s c h e n G r u n d­ s c h e m a s; nur, wie Grundlagen und Sinn des einheitlichen ersten zum zweiten s. S. 252: Der Fürst wird aus dem Patrimonialherren zum neueren Staatsoberhaupt; bei aller Frömmigkeit werden Staatswissenschaft und Volkswirtschaftslehre •von der gänzlichen Vermengung mit Theologie und Jurispru­ denz sehr emanzipiert« ; das staatswissenschaftliche und kameralistische Gebiet kommt über Aphorismen hinaus jetzt erst zur Systematik. Ueber die kirchliche Gebunden­ heit und die Benützung biblischer Beispiele für Vernunftlehren auch bei moderner ge­ sinnten Autoren s. die Bemerkungen über Obrecht S. 152. Das Hauptinteresse galt der Erhaltung des Systems der Ständeteilung, dem auch die Kleiderordnungen und teilweise die Luxusgesetze dienten, S. 119, 121, 127 f., 247; es ist von Gott ge­ setzt, wie der Staat selbst, mit dessen Begriff es gegeben ist. Das zweite Haupt­ interesse ist die Steigerung der Macht des Landesfürsten, der aber patriarchalisch an natürliches und göttliches Recht gebunden bleibt und nicht machiavellistisch regieren darf, S. 106, 129 f., 204. - Für die Theologen ist das Ganze eine Ange­ legenheit der Obrigkeiten, die dabei nach Naturgesetz und göttlichem Gesetz als das berufene Organ zur Auswirkung des Zweckmäßigen zu handeln haben; so Hutter: ,Praecipua officia magistratus politici sunt: 1) curam gerere utriusque tabulae deca­ logi, quod ad externam disciplinam attinet, 2) f e r r e I e g e s d e n e g o t i i s c i­ v i l i b u s e t o e c o n o m i c i s c o n s e n t a n e a s ju r i d i v i n o e t n a t u ­ r a 1 i; 3) sedulo providere, ut leges promulgatae veniant in executionem; 4) delin­ quentibus pro qualitate delicti poenas irrogare, obedientes fovere et praemiis affi­ cere« oder Hollaz: >Magistratus civilis est ordinatus ad bonum publicum idque quadruplex 1) ecclesiasticum, cum reges nutritii ecclesiae et episcopi extra temp­ lum; 2) civile, dum civium commoda tuetur et hostes externes finibus patriae pro­ pulsat; 3) morale, quatenus honestas praescribit leges, quibus subditi in officio continentur, ut vitam tranquillam agant in pietate et honestate I Tim 2, 2 ; 4) natu­ rale, quo imperantes prospiciant subditis de commeatu et aliis necessariis instar Pharaoms Gen 41, 34. Schmidt, Dogmatik 460. - Ueber das besondere inhaltliche Wesen des wirtschaftlichen Naturgesetzes s. weiter unten. Ueber das Verhältnis der werdenden modernen Wirtschaftslehre und ihres individualistisch-rationalistisch­ hedonistischen Charakters zu der des kirchlichen Naturrechts s. Onken , Gesch. d. Nationalökonomie I 1902.

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

Lebenssystems hier verändert sind, so hat auch das soziologische Grundschema des Luthertums einen veränderten Charakter. Der Unterschied liegt auf der Hand: das Grundschema des Luther­ tums ist nicht auf den Begriff des Organismus aufgebaut. Hatte das Mittelalter den christlichen Individualismus in seiner Gesell­ schaftsidee dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es in allen Abstufungen der Gesellschaft doch dem Individuum einen recht­ lichen Anspruch auf Befriedigung seiner Interessen innerhalb des Kosmos der Stände je nach dem Maße seiner Standeszu­ gehörigkeit zusprach und der kirchlichen Oberleitung in letz­ ter Linie die Regulierung des Organismus nach diesen Forde­ rungen in die Hand legte, so ist der christliche Individualismus des Luthertums rein in die Tiefen der Gesinnung versenkt, ohne rechtlichen Anspruch an die Gesellschaft und an die Kirche, ohne Fähigkeit der äußeren Geltendmachung und im Grunde wesentlich und begrifflich ohne Gemeinschaftsbedürfnis überhaupt, indem er nur aus Liebe sich unter die Bedingungen des Gemeinschaftslebens beugt. Er ist hinter die Schlachtlinien alles äußeren Geschehens und Handelns zurückgegangen, rein bei sich selbst in der Burg­ freiheit einer durch äußere Umstände und Rechte, durch Leid und Freud, durch Welt und Gesellschaft nicht zu brechenden und nicht zu beeinflussenden Innerlichkeit, die nichts als das kirchlich ga­ rantierte Wort voraussetzt und daher auch in der Kirche nur die Predigtanstalt des Wortes mit rein innerlich-wunderbarer Bekeh­ rungswirkung, aber nicht eine ethische Gesamtorganisation der Christenheit kennt. Hier in dieser Innerlichkeit ist der luther­ ische Individualismus unbegrenzt und lediglich an Glaube und Sakrament gebunden, erhebt er den Christen zum König und Herrn über alle Dinge, gibt ihm einen unüberwind­ lichen Vorsehungsglauben und felsenfestes Gottvertrauen, eine völlige Freiheit der Charakterbildung aus dem aufgenommenen christ­ lichen Geiste. Sobald er aber aus dieser Innerlichkeit heraustritt in die Formen und Verbindungen des realen Lebens, äußert er sich nur in der Unterwerfung unter die geltenden Ordnungen als Mittel, die christliche Liebe zum Bruder und zum Ganzen der Gesellschaft zu bekunden, oder im Leiden und Dulden der Bosheiten der Welt, ausgenommen den Zwang der Glaubensverleugnung selbst. Unbe­ grenzt in sich selbst, ist er ohne Organ und ohne Sicherung und darum auch ohne Wirkung nach außen. Sofern die christliche Gesinnung dennoch eingeht in die natürlich-weltlichen Ordnungen,

Das soziologische Grundschema des Luthertums.

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äußert sie sich nicht als Stiftung einer Gemeinschaft von religiös begründeten Individualwerten, sondern als Aufsaugung aller weltlich­ sozialen Verhältnisse in die Gesinnung einer Liebe, die sich zum Wohl des Ganzen bedingungslos den von Gott und der Vernunft gestifteten Ordnungen unterwirft und Familie, Staat, Arbeit und Gesellschaft bloß zu Verwirklichungsmitteln und Betätigungsformen christlicher Liebes- und Gehorsamsgesinnung macht. Von den zwei Elementen des katholischen Grundschemas fällt das organische völlig weg und wird dessen Gehalt an Individualismus zurückverlegt hinter das reale Gemeinschaftsleben, wobei er zugleich unermeßlich gesteigert wird. Für das reale Leben dagegen bleibt nur das andere Prinzip, der P a t r i a r c h a 1 i s m u s , übrig, der nun auch seinerseits, ohne jeden Kompromiß mit dem organischen Prinzip zum äußersten Extrem gesteigert und zugleich viel prinzipieller in die religiöse Liebes­ und Gehorsamsgesinnung aufgelöst wird. Der thomistische Patriar­ chalismus war doch immer mehr eine Ergebung in die zur Strafe und Heilung der Sünde geschaffenen Gewalt-, Macht-, Standes- und Besitz­ unterschiede, während das organische Prinzip in seiner Betonung des Individualismus die Rechte der urständlichen Freiheit, Gleichheit und Liebeskommunion festhielt und überdies das Ordenswesen diese eigentlich christliche Ordnung wenigstens partiell verwirklichte. Der lutherische Patriarchalismus dagegen sieht in demjus naturale secun­ darium immer mehr lediglich die Ordnung und Stiftung Gottes, in die Demut und Ergebungsseligkeit des Gerechtfertigten ohne eigenmäch­ tiges Deuteln sich fügt, und die weise Vernunftordnung, in deren Befolgung auch das natürliche Wohl am besten gesi­ chert wird und die daher zu befolgen auch der christlichen Liebe eine fröhliche Pflicht ist. Dem entspricht im Luthertum, daß die Mes­ sung der gegebenen Verhältnisse an einem andersartigen idealen Ur­ stande immer mehr zurücktritt und daß die Entfaltung der dem patri­ archalischen Verhältnis eignenden Tugenden der Fürsorge und Verantwortung wie des Vertrauens und der Pietät immer mehr zum Inbegriff aller Ethik wird, soweit sie auf das äußere Han­ deln in der Gemeinschaft sich bezieht. Wie das Verhältnis Got­ tes zu den Menschen selbst ein patriarchalisches ist, so wird auch das der Menschen zu einander ein solches. Und wie dieses Grundschema am reinsten betätigt werden kann innerhalb der Fa­ milie mit ihrer Angewiesenheit auf Autorität und Pietät, so wird die Terminologie wie die Gesinnung des Grundschemas von der Familie aus auf den Gesamtumfang des übrigen Lebens ausgebreitet.

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

Der Fürst wird zum Landesvater und die Untertanen zu Landes­ kindern, der Gutsherr zum fürsorgenden, Gehorsam heischenden und Gott im Patrimonialgericht vertretenden Gutsvater und die ab­ hängige Bauernschaft zu pietätvoll gehorchenden und gerne dienen­ den Gutskindern, der Arbeitgeber zum fürsorgenden, Dienstboten und Gesellen in der häuslichen Gemeinschaft und Zucht haltenden Hausvater und die Dienstboten und Lohnarbeiter zu willigen und dankbaren Hausgenossen, die in dem Hausherrn Gott dienen. In unübertrefflicher, klarer, herzlicher und kräftiger Weise hat Luther dieses Grundschema in seinen Katechismen beschrieben, und mit diesem Grundbuche lutherischer Ethik wurde es in un­ endlicher Wiederholung in die Seelen der lutherischen Gläubigen hineingehämmert. In der Katechismus-Praxis wurde die Erklä­ rung des vierten Gebotes, das Zentrum aller Sozialethik und, was hier gelehrt worden war, verdeutlichte noch einmal die dem Katechismus beigegebene »Haustafel etlicher Sprüche für allerlei heilige Orden, dadurch dieselbigen als durch eigene Lektion ihres Amtes und Dienstes zu vermahnen«. Bis zum heutigen Tage lernen so die lutherischen Kinder mit dem Katechismus, die Grundzüge einer patriarchalischen, agrarisch-kleinbürgerlichen Ethik, wo sie »Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, sie lieb und wert haben«, und wo sie Gott danken, daß er »mich geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuhe, Haus und Hof, Weib und Kinder, Aecker, Vieh und alle Güter; mit aller Nah­ rung und Notdurft des Leibes und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Uebel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, gött­ licher Güte und Barmherzigkeit; ohne all meine Verdienste und Würdigkeit; das alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin 256). Das lernen 256) Klassisch ist dieses Grundschema entwickelt im ,Großen Katechismus• : Man hat sich in die gegebenen Ordnungen zu fügen als in die ,media per crea­ turas bona percipiendi«. Denn >creaturae tantum manus sunt, canales, media et organa, quorum opera et adminiculo Deus omnia largitur hominibus . . . Quam ob rem et haec media (nämlich Eltern, Obrigkeiten und die allgemeinen Beziehungen des Nächsten zum Nächsten) , . non sunt respuenda neque temeraria praesumtione aliae rationes et viae investigandae, quam Deus praecepit«. So haben Eltern,

Das soziologische Grundschema des Luthertums.

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alle Kinder aus allen Ständen, in der Großstadt und in der Klein­ stadt, im Fürstenschloß und in der Fabrikantenvilla, im Gutshof Obrigkeiten und christliche Mitmenschen von Gott den Auftrag in ihrer durch die Natur bewirkten Stellung empfangen, >Ut omnis generis officia nobis ostendant et exhibeant adeo, ut haec non ab illis, sed per illos a Deo peculiariter accipiamus (Symb. Bd. ed. Müller S. 390). Das wichtigste unter den so das Verhältnis zum Nächsten ordnenden Geboten der zweiten Tafel ist das vierte: du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, S. 405. Zunächst wird dieser Stand der Familie in seiner unmittelbaren Bedeutung geschildert, aber als höchstes Ideal soziologi­ scher Beziehungen: »Hunc parentum statum et ordinem Deus praecipue hoc ornavit elogio ante omnes, qui sub ipso sunt, status et ordines, ut non simpliciter praeci­ piat parentes esse amandos, sed h o n o r a n d os,,, Est enim h o n o r res a m o r e m u l t is m o d i s s u b l i m i o r, u t p o t e q u a e n o n t a n t u m a m o r e m i n s e c o m p l e c t a t u r , v e r u m e t i a m s i n g u l a r e m q u a n d a m m o d es t i a m, h u m i l i t a t e m e t r e v e r e n t i a m , q u a e c u i q u a m q u a s i m a j e s t a t i h i c o c c u 1 t a e h a b e n d a s i t« S. 406. Aber dieses Grundschema erstreckt sich über alle Autoritätsverhältnisse und, da Autoritätsunterschiede bei der Ungleichheit der Menschen überall vorhanden sind, schließlich über alle Beziehungen überhaupt: >In hujus praecepti explanatione neque illud praetereundum est, quod ad multiplicem obedientiam superiorum attinet, nempe eorum, qui versantur in imperio et rei publicae procurationem sustinent, Si quidem e p a r e n t u m p o t e s t a t e o m n e s a 1 i a e p r o p a g a n t u r e t m a n a n t«. So folgen die Verhältnisse zu den Obrigkeiten, wozu natürlich auch die Ortsobrigkeiten und die Gutsherrschaften gehören; dann die Lehrer aller Art und die Geist­ lichen, dann die Nachbarn, schließlich die Arbeitgeber und Dienstherr­ schaften »ita, ut omnes, quotquot domini appellatione censentur, vice paren­ tum sint ab iisdemque potestatem ac vim regnandi accipiant, Unde quoque secundum Scripturam omnes dicuntur patres, utpote qui in sua gubernatione officium patris obire ergaque subditos patris animum inducere debeant. Quemadmodum et olim apud Romanos et alios plerosque populos heros herasque patres et matresfamilias nominabant. Ita quoque suos magistratus et principes dixerunt patres patriae, nobis Christianis in dedecus et ignominiamc S. 412 f, Das enthält dann umgekehrt für die Eltern und Herren die Pflicht der Fürsorge: »Ne­ que enim Dei voluntas est, ut aut perditi nebulones aut enormes tyranni hujus of­ ficii procurationem obeant , . , , sed cogitent potius, quod et ipsi Deo obedientiam debeant, ut officium suae fidei delegatum ipsis curae sit ac sollicitudini utque libe­ ros, familiam et subditos suos non tantum nutriant et corporalibus alimentis pro­ videant, sed omnium maxime ad laudem et gloriam Dei propagandam educantc 417. Allerdings gilt im allgemeinen: »erga fratres, sorores et proximum in genere nihil amplius (Deus) praecipit quam amore prosequendos esse« S. 106; aber darauf folgt dann der Satz, daß es e i n v i e 1 h ö h e r D i n g i s t , e h r e n d e n n 1 i e b e n , und bei der allgemeinen Abgestuftheit aller Verhältnisse (coram Deo omnes quidem pares sumus, sed nos inter nos hoc dispari et ordinato discrimine

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III. Der Protestantismus. 2. Das Luthertum.

und im Bauernhof, im Taglöhnerkaten und in der Arbeiterkaserne. Es ist die Summe lutherischer Sozialethik. Von hier aus ergibt sich nun auch das Verständnis der e i n­ z e 1 n e n S o z i a 11 e h r e n ü b e r F a m i 1 i e ,

S t a a t , W i r t­

s c h a f t u n d G e s e 11 s c h a f t. Die in den letzteren enthaltenen, aus dem Naturgesetz stammenden Lebens- und Gemeinschaftsformen sind lediglich Formen und Durchgangsstellen für die Erweisung der relgiösen Liebesgesinnung, sind die Betätigung des in der Gnadenge­ wißheit gewonnenen Gottesverhältnisses. Sie werden zu Teilstrecken einer von der Gottesliebe durchströmten Lebenskurve. begründet,

Darin ist

daß sie keinen eigenen Zweck in sich selber tragen,

daß ihre Akzeptierung

nur Folge der Gottesergebung und des

Gehorsams, auf keine Weise Zweck in sich selber ist. Auch als Mittel der Betätigung der Liebe dienen sie doch nicht dem Liebeszweck, das menschliche Leben in seinen innerweltlichen Zwecken zu steigern, sondern nur als Mittel, die Liebesgesinnung in der von Gott nun ein­ mal so geordneten Weise auszuströmen. Aber diese Grundidee geht nicht glatt auf.

Die naturgesetzlichen Lebensformen tragen doch

immer natürliche Lebenszwecke in sich, deren Selbständigkeit bei non possumus non discrepare 406) ist die Liebe überall mit Elementen der Ueber- und Unterordnung gemischt und überall mit dankbarer Demut oder fürsorgender Ueber­ ordnung versetzt. - Ebenso klassisch formuliert ist dieses Grundschema samt seiner religiösenBegründung innerhalb der modernen luther. Ethik bei v.Hofmann: »U n s e r e F ö r d e r u n g d e r W e l t i s t e i n e k o n s e r v a t i v e. D i e D e m u t u n s e r e r L i e b e z u i h r s c h 1 i e ß t a 11 e W i 11 k ü r a u s« S. 156 f. S. auch Stillich S. 89: > Vorbildung für die von den Konservativen erstrebte soziale Gliede­ rung der Gesellschaft aber ist die Familie. ,,Letztere", sagt der langjährige Führer der sächsischen Konservativen Freiherr v. Friesen, ,,bezweckt das harmonische Zu­ sammenwirken aller einzelnen Glieder in dem geschlossenen Ganzen, während der bureaukratische (d. h. der moderne) Staat in dem Prinzip der Gleichmacherei selbst das ursprünglich Gleiche für seine speziellen Zwecke auseinanderreißt und die hierdurch gewonnenen einzelnen Atome gewaltsam in sein Schablonenwesen hineinpreßt"«. Das sind bis heute die soziologischen Grundzüge der Weltanschauung bei den Konservativen, soweit ihre Politik eine Politik der Weltanschauung ist. Es ist aber auch klar, daß diese Anschauung eng mit einer antiindividualistischen, immobilisierten Gesamtlage von Politik und Wirtschaft zusammenhängt, und daß einer städtisch­ mobilisierten individualistischen und kapitalistischen Kultur andere ethische und religiöse Ueberzeugungen entsprechen müssen. Daß die Schwierigkeiten des luthe­ rischen Katechismus mehr noch als im Dogma in der Ethik liegen, weiß jeder Pfarrer in Großstädten und Arbeiterdörfern. Er vertritt ein soziologisches Grund­ schema, das in der modernen städtischen Kultur nicht durchführbar ist. Vgl. hiezu Traub, Ethik und Kapitalismus 2 1907.

Die einzelnen Soziallehren und die Grundidee.

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jedem näheren Eingehen auf sie in der Praxis sich zeigen muß. Da stellt sich dann die Unmöglichkeit heraus, die innerweltlichen Zwecke rein in den religiösen Lebenszweck aufzulösen. Weiterhin haben die natürlichen Lebenszwecke und ihre Gemeinschaftsformen im Sündenstande einen Charakter des Rechtes, des Zwanges, des wirtschaftlichen Eigeninteresses und des Kampfes erhalten, der der eigentlichen Liebesmoral überall im Wesen widerspricht. Daraus ergeben sich dann eigentümliche Schwankungen und Widersprüche in den Soziallehren, welche der Katholizismus in seinem Stufensystem weniger drückend empfunden hatte und welche das Luthertum bei seiner Auflösung des Weltlichen und Religiösen ineinander stärker empfinden mußte. Luther selbst gab ihnen noch starken Ausdruck. Aber im Zeitalter der Orthodoxie verschwinden sie hinter der Lehre von den göttlichen Einsetzungen und hinter der Ergebung in das Bestehende als göttliche Ordnung. Das Ergebnis ist so schließlich eine furchtbare Armut an Geist und Gedanken, die gegen die katholischen und calvinistischen Sozial­ lehren sehr stark absticht 257), und es ist nicht zu verwundern, wenn sie im 18. Jahrhundert gegenüber der ganz neuen west­ lichen Gedankenwelt theoretisch zusammenbrachen, wobei freilich praktisch an den Verhältnissen selbst so gut wie nichts geändert wurde. Das Luthertum der Aufklärung hat die Volksschule, die Freiheit der Forschung und des Gewissens, die Innerlichkeit der ethischen Autonomie, die Gemütstiefe der philosophischen Speku­ lation hervorgebracht, aber an den Soziallehren hat es nichts ge­ ändert. Praktisch hat auch Kant mit seinem Respekt vor der Obrig­ keit in diesen lutherischen Kategorien gedacht 257a). Sie sind jetzt nur bureaukratisch und höfisch verweltlicht. Bei ihrer Wiederbele­ bung durch die preußisch-deutsche Restauration im 19. Jahrhundert haben sie dann als Kampfinstrument in der Hand einer Herren­ schicht jene Beimischung männlicher Härte und klassenkämpferischer Rücksichtslosigkeit erhalten, die das moderne Luthertum von dem alten unterscheidet. Der Ausgangspunkt aller Sozialbildungen ist für das Luther­ tum mit der katholischen Tradition die F a m i l i e. Sie ist es genetisch, insofern sie, bereits im Paradies oder Urstand gestiftet und H7) Hiezu siehe Figgis, From Gerson to Grotius, S. 62-107, wo Luther und Macchiavelli zusammengestellt sind. 257•) Vgl. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie 1904, S. 37-42; Kalweit, Kant und die Kirche 1904.

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum,

nach dem Sündenfall bestätigt und neugeordnet, den Anfang aller Sozialbildungen darstellt, aus dem die übrigen mittelbar oder unmittelbar hervorgegangen sind. Der Staat wird teils als mit ihr gestiftet betrachtet, teils als mit der Sprachen- und Völkertrennung von Gott besonders veranlaßt, wobei er aber auch nur die Zu­ sammenfassung der ausgebreiteten Geschlechter unter ein Haupt ist. Sie ist zugleich der Ausgangspunkt aller Wirtschaft und aller Dienstverhältnisse, insofern die möglichst geschlosseneHauswirtschaft als das Ideal erscheint und die ökonomische Theorie im Grunde immer nur an den Familienhaushalt und an den analog vorge­ stellten fürstlichen Staatshaushalt denkt. Sie ist der Keim und das Vorspiel der Kirche, insofern die religiöse Hausgemeinschaft der eigentliche Zusammenhalt der Familie ist und in der Haus­ andachtund in der Katechismusunterweisungdurch den Hausvater das kirchliche Leben zunächst gepflanzt wird. Sie ist schließlich der Ur­ typus aller sozialen Gliederungen, indem sie urbildlich die Autoritäts­ und Pietätsverhältnisse darstellt, die aus der natürlichen Gliederung fließen. So ist es selbstverständlich, daß die ganze Sozialphilo­ sophie mit dem Geiste der patriarchalisch verstandenen, monoga­ mischen Familie vollständig durchtränkt ist. Die Familie selbst ist ein Ausdruck der Regelung, mit der das Naturgesetz die aus der sexuellen Natur des Menschen folgenden soziologischen Probleme löst. Naturgesetzlich ist ihr Zweck die geord­ nete Geschlechtsverbindung, die geordnete Kinderproduktion, und die in gegenseitiger Ergänzung der Arbeitskräfte sich vollziehende Hauswirtschaft als Kern aller wirtschaftlichen Betätigung. Aber die derart naturgesetzlich gestifteten Beziehungen werden beim Chri­ sten unmittelbar auch zur Form der ersten und elementarsten reli­ giösen Liebesbetätigung, indem das Gatten- und Elternverhältnis die nächstliegende Gelegenheit zur Betätigung der Liebe darbietet und in diesem Verhältnis die gemeinsame Selbsthingabe an Gott und das göttliche Liebesgesetz betätigt werden soll. Damit ist allerdings die protestantische Sexualmoral von der katholischen sehr wesentlich verschieden, und, daß Luthers eigene Eheschließung die priesterliche Virginität weithin sichtbar aufhob, ist nicht nur eine Auf lösung des katholischen Priesterbegriffes; es liegt darin überdies die prinzipielle Bekundung einer Sexualmoral, die das Geschlechtsleben als etwas Normales ansieht und es zu einem Mittel der wesentlichsten ethischen und religiösen Funk­ tionen ethisiert für a 11 e Gläubigen. Auch wird der Zweck der

Die Familie.

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Ehe bei ihm nicht lediglich von der Aufgabe der Kinderzeugung und Aufzucht her konstruiert, wie das die häufige Erweichung und Anpassung einer asketischen Grundgesinnung ist und wie wir es beim Puritanismus kennen lernen werden. Der Zweck liegt ihm außerdem auch in einem eigenen selbständigen Gut der von den Ehegatten zu genießenden Liebe, wobei aber freilich das spezifisch erotische Element und das allgemein menschliche, durch die gemeinsame Hauswirtschaft gesteigerte Element der lediglich ethisch-religiösen Verbundenheit in eine innere und feste Verbindung nicht gebracht sind. So löst die monogamische Familie zunächst nach außen über­ haupt das Sexualproblem. Vor- und außereheliche Geschlechtsver­ bindung sind zu vermeiden und alle Geschle�htsgemeinschaft ist aut die Bahn der geordneten Ehe zu führen. Die selbstverständliche Fol­ gerung hieraus ist die Mahnung zu früher Eheschließung. Populationi­ stische und ökonomische Bedenken schlägt der entschlossene Vorse­ hungsglaube nieder, der das Kinderzeugen ohne jede künstliche Ein­ schränkung zu einer Pflicht und die Rechnung auf die Möglichkeit des Lebensunterhaites zur Gewißheit macht. Die Ehelosigkeit wird im Gegensatz zum katholischen Keuschheitsideal für nur ausnahmsweise durch besondere Anlagen und Verhältnisse geboten angesehen, im ganzen aber energisch bekämpft. Die eigentliche Ethisierung der Ehe nach innen, in der gegenseitigen Beziehung der Gatten und der Eltern und Kinder, leistet dagegen erst die christliche Be­ seelung mit der religiösen Liebesgesinnung, die bei Vorhanden­ sein persönlicher, religiös vertiefter Neigung die sexuellen Bezie­ hungen durch gegenseitige Rücksicht regeln wird, die das Eltern­ verhältnis zur Schule fürsorgender und erziehender Opferwillig­ keit und das Kindesverhältnis zu einer solchen der vertrauenden Pietät und demütiger Gehorsamsgesinnung gegenüber allem Uebergeordne­ ten macht. Daraus folgt dann auch natürlich die Unauf löslichkeit der Ehe, aber nur als ethische und rechtliche Folgerung; der sakramentale Charakter der Ehe fällt weg. Daher ist in den - über den Ehebruch nur sehr vorsichtig hinausgehenden - Fällen der Scheidung dem schuldlosen Teil die Wiederverehelichung gestat­ tet. Daß innerhalb der Ehe moralisch und rechtlich eine weitgehende patriarchalische Mannesherrschaft als selbstverständlich erscheint, ist nicht bloß mit den ökonomischen Verhältnissen, der katho­ lischen Ueberlieferung, sondern mit dem eigentlichsten Grundge­ Lust« aus der Erbsünde nicht aufgegeben, aber doch jene Be­ denken immer weniger empfunden. Es hat, wie in allen Dingen, so auch hier einfach die göttliche Einsetzung betont und damit alle Schwierigkeiten niedergeschlagen, sodaß die naturgesetzlich­ christliche Ehe lediglich als Gehorsam gegen Gottes positives Gebot erscheint und nun ähnlich wie im Katholizismus als Vor­ bild der Gemeinschaft Christi mit der Kirche allegorisch verherr­ licht wird. Seine Probleme bezüglich der Ehe liegen daher ledig­ lich auf dem Gebiete des Eherechts und der Teilung staatlicher und kirchlicher Kompetenzen im Eherecht. Während Luther es lediglich dem Staat hatte zuweisen wollen, kam es nun in die Hände der geistlich-weltlichen Behörden der Konsistorien, ein deut­ liches Zeichen für die hier obwaltende Verschmelzung geistlicher

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und weltlicher Funktionen der christlichen Gesellschaft. In diesem Familienbegriff sind also die verschiedenen ihn bestimmenden Elemente keineswegs vollständig zu einer Einheit verbunden. Auch ist sich Luther durchaus bewußt, damit ein äußerst hochgespanntes Ideal zu vertreten, dem die Wirklichkeit mit ihrer »wüsten Rotterei und Buberei« durchaus nicht entspricht. Aber daß die Wirklichkeit dieser Lösung des sexuell-soziologischen Problems so wenig nahekommt, erklärt er sich lediglich aus der sündigen Verderbtheit und den besonders bösen letzten Zeiten. An ihrer Möglichkeit an sich zweifelt er nicht im mindesten. Es ist nur der Widerstand des Teufels und der Fleischeslust, an dem das Ideal scheitert, auch die Ungenügsamkeit und der Luxus, dessen gesetzliche Einschränkung auch nach dieser Seite hin zur Behauptung der Standesgrenzen und Festlegung der Lebensan­ sprüche zu wünschen ist 258). 258) Vgl. hierzu J. Köstlin, Luthers Theologie 2, 1883, S. 48a: »L. definiert die Ehe als „conjunctio unius maris et unius feminae inseparabilis, non tantum juris naturae, wie die Kanonisten aussprechen: sed etiam voluntatis et voluptatis, ut ita dicam, divinae". Ihren Zweck oder ihre causa finalis sieht er im Kinderzeugen, in der procreatio sobolis. Sie ist vor dem Sündenfall schon eingesetzt als Mittel, Staat und Kirche mit brauchbaren Gliedern zu versehen. ,,So ist die Ehe und der Hausstand nicht bloß fons et origo generis humani, sondern sie soll eben da­ mit zugleich zur paratio ecclesiae dienen und fons rei publicae werden". Seit dem Sündenfall hat sie auch noch den Zweck, als Heilmittel gegen die Lust und als Damm gegen ihre sündhaften Ausbrüche zu dienen. Ja er bezeichnet dies jetzt als primus finis, während ihm übrigens der ursprüngliche Zweck finis magis princi­ palis bleibt. Sündhafter Charakter behält ihm auch so jene Lust, aber approbatio et beneplacitum Dei tegit miseram turpitudinem libidinis et removet iram Dei imminentem illi concupiscentiae«, - Das innere Wesen der Ehe selbst erläutert L. am schönsten im großen Katechismus in der Auslegung des sechsten Gebotes, be­ sonders am Schluß über die innereheliche »Keuschheit« : Ubi enim volumus con­ jugali castitati locum esse, ibi necessum est ante omnia, ut vir et mulier in amore concordes conversentur, ut alter alterum ex animo mutua quadam benevolentia et fide complectatur, Quod si praesto fuerit, ipsa quoque castitas sua sponte sine mandato consequetur (Müller 426). Außerdem vgl. Wald, Kawerau, Die Ref, und die Ehe, 1892 (V. f. Ref,-Gesch. Nr, 39); Marianne Weber, Ehefrau und Mutter S. 282-285; hier ist mit Recht darauf hingewiesen, daß das »neue Frauenideal, das auf die sittlichen Eigenschaften der Hausfrau und Hausmutter, auf Liebe und Treue, auf Gottesfurcht und Gottvertrauen, auf Tüchtigkeit und Ehrbarkeit das Hauptgewicht legte (Kawerau 71), stark an Jesus Sirach angelehnt ist; weiter vgl. Rade, Stellung des Christentums zum Geschlechtsleben (Rel. Volksbb. V 7/8) 1910; Sammlung der wichtigsten Stelle bei W. Walter , Für Luther wider Rom, 1906

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

Ganz ähnlich geht es mit den inneren Spannungen im S t a a t s­ b e griff des Luthertums 259). Durch die Kreaturen als die »HandUeber die populationistische und ökonomische Anschauung von der Sache s. Rascher, Gesch. d. Nationalökonomik S. 57-59. Ueber die Konkupiszenz s. Braun, L.s Lehre von der Konkupiszenz. Es ist das doch nicht ein so leicht fehlen könnender Rest des katholisch-mönchischen Wesens; der Gedanke liegt vielmehr im System, wie wir das Analoge bei Staat und Arbeit wieder sehen werden. In den trockenen Definitionen der späteren lutherischen Scholastiker (Schmidt, Dogmatik 461-465) verschwindet dieser Zug, aber nur hinter der Positivität des Gebotes. L.s »katholi­ sche Reste« hängen überall mit dem altchristlichen Gegensatz von Welt und Heil zusammen und betreffen wesenhafte Probleme des christlichen Denkens, wie denn das Problem der sexuellen Sinnlichkeit unzweifelhaft ein solches ist. Luthers Pessimismus gegenüber den wirklichen Verhältnissen im G. Kat. : •Quoniam vero apud nos adeo foeda et nefanda omnium vitiorum et scortationum lema cernitur, hoc praeceptum quoque adversus omnia impudicitiae genera et species constitutum est . . . Tantum ergo hoc praeceptuma nobis exigit, ut quisque turn pro se vitam castam agat, turn proximo quoque in hoc obinenda et tuenda sit auxilio (Müller 423). - Rade S. 51 sagt: ,Die Verlegung dessen, worauf es an­ kommt, in das Innerste der Person und die daraus entspringende Proklamation der christlichen Freiheit m u ßt e eine völlige Umwälzung des Urteils über die ä u ße r e n Vorgänge des Geschlechtslebens zur Folge haben. Und es ist nur als ein Mit­ schleppen augustinisch-katholischer Traditionen einzuschätzen, wenn nun doch, nicht ohne Luthers Vorgang, in der evangelischen Kirche die Allgemeinheit mensch­ licher Sünde an die geschlechtliche Herkunft eines jeden geknüpft wurde«. Diese logisch allerdings mögliche Folgerung aus dem Prinzip der christlichen Freiheit ist nun aber eben doch von Luther n i c h t gezogen worden. Das Geschlechtsleben und die erotische Liebe sind eben nicht frei verwertbare und zu gestaltende Gaben Gottes von eigener Schönheit, sondern hier wird immer nur ein Tribut an die Natur entrichtet, den der Christ zu einem Mittel der Ausübung der Nächstenliebe machen kann und soll. Bei L. fehlen die Voraussetzungen unserer Beurteilung, die biologische Auffassung der »Lust« und die poetische Verklärung der Erotik, vielmehr herrscht bei ihm das Dogma von der Lust als Folge des Sündenfalls. 209) Hierzu vgl. Köstlin, Theologie Luthers II 485-490, 553-564; J. Köstlin, Staat, Recht und Kirche und die ev. Ethik, Stud. u. Kritt. 1877; Brandenburg, L.s Anschauungen von Staat und Gesellschaft; Lenz, Luthers Lehre von der Obrig­ keit (Preuß. Jahrbb. 75, 1894); Jäger, Politische Ideen L.s und ihr Einfluß auf die innere Entwickelung Deutschlands (Preuß. Jahrbb. 1903); K. Köhler, Luther und die Juristen. Lenz beachtet den Zusammenhang mit der mittelalterlichen Ideen­ welt zu wenig und knüpft den modernen Staat zu direkt an L.s Ideen an, Branden­ burg betont mit Recht das erstere, unterschätzt aber doch den positiven Vernunft­ wert und die göttliche Gebotenheit des Staates, die allerdings erst später bei L. hervortreten. Eine Darstellung von Luthers Politik unter Betonung der weltabge­ wandten Züge gibt Gottfried Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie 1700

Der Staat.

röhren und Mittel der göttlichen Vernunft« ist der Staat in jedem einzelnen Falle auf sehr verschiedene Weise zustande gekommen und vom Evangelium, vor allem im 13. Kapitel des Römerbriefes, bestätigt und anerkannt. Er ist ein Werk der Vernunft und darum an sich auf die Zwecke der bloßen Vernunft eingeschränkt, auf Bewahrung der äußeren Disziplin und Ordnung und auf die Be­ wirkung der menschlichen Wohlfahrt. Es ist derselbe polizeiliche und utilitaristische Staatsbegriff wie im Katholizismus, nur jetzt den Verhältnissen entsprechend mit stärkerer Betonung der Ein­ heit der Gewalt. Das Mittel, das der Staat zu diesem Zwecke zur Verfügung hat, ist die Gewalt, die daher sein eigentlichstes Attribut ausmacht, von ihm stets gewahrt und von keinem Unter­ tanen aufgelöst werden darf. Doch soll er diese Gewalt dem göttlichen Naturgesetz gemäß und zu Vernunftzwecken brauchen und wird die Obrigkeit, wie in der Scholastik, zum verwerflichen > Tyrannen«, wenn sie sich nicht selber daran bindet. Freilich ist nach der eigentlichen und allein konsequenten Lehre Luthers ein Widerstand gegen diesen Tyrannen nicht erlaubt, außer dem passiven Widerstand des Duldens und der Auswanderung im Falle der Glaubensbedrückung. Naturgesetzlich und damit gött­ lich berechtigt ist der Staat in diesem Sinne überall, auch bei Türken und Heiden; ja er kann in seinem Natursinn dort sogar besonders verzüglich sein, und antike Staatslehre und Beispiele sind auch noch heute für den Staat von Nutzen. Insofern ist der Staat etwas wirklich Göttliches. Nun aber ist doch seine Aufgabe, durch Macht und Gewalt · sowie durch Recht und Gericht die Ordnung zu bewirken, etwas der eigent­ lich christlichen Liebesgesinnung völlig Entgegengesetztes. Der Christ soll Feindesliebe üben und Recht und Gericht möglichst wenig gebrauchen, nach Luthers anfänglicher Meinung gar nicht, dann zum Schutz gegen böse Buben, mit denen man sich christ­ lich nicht verständigen kann. Von einer ethischen Anerkennung des Rechtes, des Rechtsgesetzes und Rechtssinns ist nicht die Rede. Vielmehr soll die Obrigkeit durch strenge Initiative in Recht und Polizei den Christen davor behüten, von sich aus das Recht allzusehr in Anspruch nehmen zu müssen. Ebensowenig gibt es einen ethischen Wert patriotischer und vaterländischer Gefühle. Im Falle der Unchristlichkeit der Obrigkeit verzichtet der II II und l 2, l 8-28; das neueste ist Karl Müller, Kirche, Gemeinde und weltliche Obrigkeit nach Luther, Christi. Welt 1910, doch ist hier der Staat nur gestreift. T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

Christ auf Widerstand, oder wechselt die Obrigkeit. Das eigent­ liche Ideal des Christen ist der rechts- und staatslose Zustand der reinen Liebesgemeinschaft. Das weist darauf hin, daß der Staat bei aller Göttlichkeit und Vernünftigkeit doch nur eine Institution infolge der Sünde und gegen die Sünde, ein Erzeugnis des bloß relativen, gegen die Sünde unter den Bedingungen des Sün­ denstandes reagierenden Naturgesetzes ist. Da kommen dann auch hier all die augustinischen Anschauungen über den Staat als Erzeugnis der Sünde, die freilich erst dann richtig verstanden werden, wenn man ihn als ein gegen die Sünde selbst gerichtetes Erzeugnis der nur mehr unter Konzessionen an die sündige Roheit und Bosheit arbeitenden Vernunft ansieht. So betrachtet erscheint doch nun wieder der Staat als etwas Un­ christliches, der wahrhaft christlichen Moral geradezu Widerspre­ chendes, und es ist nur zu begründet, wenn die Gewissen sich scheuen, nicht bloß staatliche Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen und Kriegsdienste zu leisten, zu schwören u. s. w., sondern auch an obrigkeitlichen Aemtern und der Gerichtsexekution sich zu betei­ ligen. Solchen Bedenken gegenüber greift nun aber Luther, genau wie bei der Familie, mit allem Nachdruck auf die göttliche Einsetzung und Bestätigung der Obrigkeit zurück. Ihre Funktionen ausüben, ihr gehorchen, sie für Rechtszwecke benutzen ist eine Pflicht des Gehorsams gegen Gott, der für seine Institutionen selbst die Verantwortung trägt und kein menschliches Klügeln über sie haben will. Die Ausübung der Herrschaft und des Rechtes ist Amt und Befehl, und Luther schildert mit Nachdruck den Kontrast der vom Landesherrn bis zum Büttel und Henker herunter sich vollziehen­ den Rechtsordnung, in der Regieren, Verordnen, Strafen, Hängen, Rädern und Köpfen ein Gottesdienst ist, gegen die außeramtliche rein persönliche Moralität, in der umgekehrt Feindesliebe, Opfern, Ver­ zicht und Dulden, Fürsorge und Hingabe des einen an den anderen der wahre Gottesdienst ist. Die Paradoxie des Gegensatzes beider Got­ tesdienste macht ihm sichtlich Freude, und er rühmt sich mit Genugtuung, daß noch niemand so klärlich das göttliche Recht der unabhängigen, von keiner Kirche beherrschten und von keinem Gewissensbedenken verwirrten Obrigkeit aus der Schrift bewiesen habe. Hier greift der charakteristischeste und merkwürdigste Satz seiner Ethik, die Unterscheidung der Amtsethik und der Personethik, ein, in welchem er das große Problem der bisheri­ gen Christenheit auf seine Weise gelöst hatte. In dieser Forde-

Der Staat,

rung des Gehorsams gegen das positive Gebot verschwinden dann alle die augustinischen Auffassungen des Staates und erscheint der Staat lediglich als die gottgeordnete Vernunftmacht, die alle Ord­ nungs- und Wohlfahrtsaufgaben zu vollziehen hat und gerade da­ durch von der Kirche sich unterscheidet, die lediglich auf spiri­ tuale Wirkung und auf persönliche Lebensgemeinschaft gestellt ist. Von hier aus ist dann auch der Krieg berechtigt. Er darf nur von der weltlichen Obrigkeit im weltlichen Interesse als Ausfluß ihres Amtes geführt werden, wenn sie Frieden und Wohlfahrt ihrer Bürger gegen Angriffe zu schützen hat. Nur als Notwehr hat der Krieg die Verheißung des Sieges; überdies muß er auch dann noch in der demütigen Gesinnung geführt werden, nichts der eigenen Kraft, sondern alles Gottes Gnade verdanken zu wollen. So ist jeder Glaubenskrieg und Kreuzzugsgedanke ausgeschlossen; für religiöse Interessen darf nur mit geistlichen Waffen gekämpft werden, und auch der Krieg gegen die Türken ist nur vom Kaiser als dem dazu Berufenen und nur im weltlichen Interesse des Schutzes seiner Völker zu führen. Aber freilich ist damit überhaupt jedes spe­ zifisch - politische Denken und Wirken ausgeschlossen. Auch der weltliche Krieg muß gerechte Ursache haben, und die Unter­ tanen sollen im Falle eines ungerechten Angriffskrieges ihres Fürsten die Teilnahme verweigern, indem sie dafür die Strafe in christ­ licher Geduld leiden. Auch der gerechte Krieg fordert zunächst die richtige moralische und christliche Gesinnung der Kriegführen­ den und Vorbereitung durch Predigt, da Gott dem Hoffärtigen keinen Sieg gewährt. Von Bündnissystemen und politischen Kombina­ tionen ist hierbei erst recht nicht die Rede. Jedes Land steht für sich und wehrt sich im Vertrauen auf Gottes Vorsehung im Falle der Bedrohung. Es ist eine im einzelnen überall von der prophetischen moralisierenden Politik abhängige, im übrigen äußerst kindliche Politik. Luther ist überzeugt, daß die Vorsehung alle nicht in diesem Sinn unternommene Kriege mißlingen läßt und die Niederlagen als Zuchtrute und religiöses Erziehungsmittel gebraucht. So haben ihm auch die Römer, das mächtige Kaiser­ tum, am meisten damit gewonnen, daß sie haben kriegen müssen; ein jeder wollte sich an sie hängen und Ritter an ihnen werden, sodaß sie sich wehren mußten; auch Hannibal, der Fürst aus Afrika unterlag, weil er angefangen hatte, »denn es ist Gott, der es tut, er will Frieden haben, und ist fremd denen so Krieg anfangen und Frieden brechen«. Es ist verständlich, daß eine derartige Ge36 *

III. Der Protestantismus,

2, Das Luthertum.

sinnung der Politik der Lutheraner so ungünstig wie möglich war; und wenn auch die lutherischen Fürsten, Diplomaten und Juristen, später auch Luther selbst, an sie sich nicht gebunden haben, so war sie doch überall der gefährliche Hemmschuh der lutherischen Politik und hat sie Ausbreitung und Schicksal des Luthertums be­ stimmt, das seine Stammlande nicht mehr zu überschreiten ver­ mochte. Wie ganz anders steht dem die calvinistische Politik mit ihren Bündnissystemen und Glaubenskriegen dem gegenüber 1 260). Fragen wir nun aber nach dem Verhältnis des Staates zu der Kirche und dem christlichen Gemeinschaftsleben, so entsteht wieder ein neues Bild der Sache. Ist nämlich der Staat von einer christ­ lichen Obrigkeit beherrscht, dann ist er nicht mehr bloß eine göttliche und naturgesetzliche Institution der Schöpfungsordnung, dann ist er vielmehr eine der Formen, deren die Verwirklichung der christlichen Liebes- und Erlösungsgemeinschaft sich bedient. Dann ist die Unter­ werfung unter seine Ordnungen und Gemeinsamkeiten ein christlicher Liebesdienst am Ganzen der Gesellschaft und zwar einer der notwen­ digsten und ·nächstliegenden, indem gerade die Benützung der staat­ lichen Lebensformen die Mitmenschen mehr fördert als die selbstge­ machte Heiligkeit mönchischer Absonderungen. Dann wird insbe­ sondere die Aufgabe der Obrigkeit der Liebesdienst der Erziehung und Bewahrung der Gesellschaft in christlicher Glaubenseinigkeit, Zucht und Ordnung und die Fürsorge für das Wort Gottes, die Reinheit und das Gedeihen der Kirche. Aus freier Liebe dient sie der Kirche, schafft sie ihr ein Kirchenrecht und eine finan­ zielle Fundierung, übt sie die Zensur und die Glaubenspolizei und schließt sie von ihrem Gebiet öffentliche Aeußerungen des Irrglaubens aus, wozu die nichtchristliche Obrigkeit nicht ver­ pflichtet ist. Die Türken können mehrere Religionen nebeneinander 260) Vgl. die Traktate >Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können< 1526 und > VGm Krieg wider die Türken• 1529. Wieder muß hier das Alte Testa­ ment für den Nachweis der Berechtigung eines nicht eigentlich christlichen Gedankens herhalten. Freilich hat Luther über diese Dinge später weniger schroff aber auch weniger konsequent gedacht; s. Cardauns 1-17. Aber im ganzen ist der Partiku­ larismus und die Ablehnung der Interventionspolitik doch ein Grundzug des echten Lutherthums, wie die erwähnten Arbeiten von Schuberts zeigen. Ueber Kriegs- und Bündnisprobleme vgl. vor allem Hortleder, Handlungen und Ausschreiben von Recht­ mäßigkeit des deutschen Krieges, Gotha 1617 u. 1618, wo das Material gesammelt ist, bes. Bd. II.; s. hier die Abhandlung Ratzenbergers, daß Melanchthon, Jonas, Bugen­ hagen, Menius etc, von Luthers reiner Widerstandslehre abgefallen seien, S. 39, auch Theolog, Jahresbericht XXVIII 460 über Schweizer, Der Donaufeldzug von 1546.

Der Staat.

dulden, aber die christliche Obrigkeit muß sich in den Liebes­ dienst der Wahrheit stellen. So wird sie zwar alle weltlichen Dinge, auch Schulwesen und Armenwesen auf sich übernehmen, aber sie im christlichen Sinne und mit Rücksicht auf Förderung des christlichen Glaubenslebens behandeln. Ueber dem naturgesetz­ lichen erhebt sich der religiöse Lebenszweck der Gesellschaft, aber nicht wie im Katholizismus im Sinne einer Stufenordnung, die von der Oberleitung der Kirche im Bedarfsfall reguliert wird, sondern im Sinne eines Zusammenfallens der staatlichen Betäti­ gung und der christlichen Liebesübung 261). So sind wir wieder 281) Lenz meint: >In diesem doppelten Verhältnis der christlichen Obrigkeit, in ihrer n e g a t i v e n Funktion, den Frieden zu sichern, das Recht ?;U erhalten, das irdische Leben zu fördern, und in ihrer p o s i t i v e n Pflicht, den Frieden zu sichern, glaube ich die Lösung des vielumstrittenen Problems zu sehen und den so oft vermißten Gleichklang in Leben und Lehre des Reformators, ...Zwei Reiche, beide von Gott gestiftet, sind durch die Welt hin ausgebreitet, Kreatur und Evan­ gelium, ununterscheidbar in jedem Christen beisammen und doch prinzipiell ganz auseinanderzuhalten, wie S e e l e u n d K ö r p e r , I d e e u n d E r s c h e i n u n g ; aber der Glaube bleibt an ein von aller Erdenschwere dereinst befreites Ideal, an das Reich Gottes«, S. 435 f. Das ist eine sehr modernisierte Auflösung des Problems; in Wahrheit hält L. die alte Lösung der scholastischen Lehre fest, die Lösung mit Hilfe der Begriffe von Naturgesetz und Evangelium, nur auf den neuen Boden des Ineinander, statt auf den des Stufenverhältnisses, versetzt. Aber das Ineinander ist schwer herzu­ stellen, daher stammen die Widersprüche. - Uebrigens beruft sich Luther selbst auf Augustin: >Ich habe von der weltlichen Obrigkeit also herrlich und nützlich ge­ schrieben, als nie kein Lehrer getan seit der Apostel Zeit, es w ä r e d e n n S.A u g u ­ s t i n« (Krieg wider die Türken B. A. IV, 1 S. 441), In den Schriften über den Bauernaufstand und den Krieg ist die doppelte Moral des Rechts-, Gewalt- und Machtgebrauches einerseits, der leidenden und alles opfernden, die Bergpredigt befolgenden Liebesmoral andrerseits in einer oft geradezu erstaunlich schroffen Un­ terscheidung gelehrt, z. B, S. 322 f,: Was meint ihr, daß Christus dazu sagen würde, daß ihr seinen Namen führt und nennt euch eine christliche Sammlung, so ihr doch so fern davon seid, ja so greulich wider sein Recht tut und lehrt, daß ihr auch nicht Heiden oder Türken zu heißen würdig seid, sondern viel ärger, als die da wider g ö t t 1 i c h e s u n d n a t ü r l i c h e s R e c h t , bei allen Heiden ge­ mein gehalten, (durch Rebellion und Forderung eines christlichen Kommunismus) tobt und strebt , , , Weiter wollen wir nun auch von dem c h r i s t I i c h e n u n d e v a n g e 1 i s c h e n R e c h t sagen, welches die Heiden nicht bindet wie das vorige. Denn so ihr euch rühmet und gern höret, daß man euch Christen nenne und da­ für wollt gehalten sein, so werdet ihr ja auch leiden, daß ich euch euer Recht vorhalte. Hört nun zu, liebe Christen, euer christliches Recht. So spricht Christus Mt. 5, 39: Ihr sollt dem Uebel nicht widerstehen, sondern wer dich zwingt eine

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III. Der Protestantismus. 2. Das Luthertum.

bei einem augustinischen Gedanken, bei dem Gedanken der Theo­ kratie. Nur ist diese Theokratie keine Hierokratie, keine Ober­ herrschaft der internationalen Hierarchie und kein rechtlich for­ mulierbares Verhältnis, sondern es ist die freie Liebeskonkordanz der rein spiritualen, auf das Wort erbauten Kirche und der aus eigener Gläubigkeit freiwillig dienenden, von den Theologen nur frei belehrten weltlichen Obrigkeit, die beide gemeinsam beherrscht und getrieben sind vom Worte Gottes und seiner klar sich selbst auslegenden und durchsetzenden Wunderkraft. Auch hier war sich Luther völlig bewußt, daß er trotz aller Konzessionen an den Rechts-und Wohlfahrtsstaat des Sündenstandes eine höchst idealistische, wirklichkeitsferne Lehre vertrat. Man braucht nur die Schilderungen des Ideals im großen Katechismus zu lesen, wie hier die christliche Obrigkeit nichts will als in Macht und Recht mit aller Strenge als Stellvertreter Gottes dem Glauben und der Liebe dienen durch das Amt und wie andererseits die Meile Weges, mit dem gehe zwei Meilen. Und wer dir den Mantel nimmt, dem laß auch den Rock. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem halte auch die andere dar . . . Ja, Christus spricht Mt. 5, 44, wir sollen Gutes wünschen denen, die uns beleidigen, und bitten für unsere Verfolger und lieben unsere Feinde und wohltun unseren Uebeltätern. Dies sind unsere christlichen Rechte liebe Freunde ... An diesen Sprüchen greifet wohl ein Kind, daß christliches Recht sei, nicht sich sträuben wider Unrecht, nicht zum Schwert greifen, nicht sich wehren, nicht sich rächen, sondern dahingeben Leib und Gut, daß es raube, wer da raubt. Wir ha­ ben doch genug an unserem Herrn, der uns nicht lassen wird, wie er verheißen hat. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht und kein anderes«. Oder S. 365: •Es sind zweierlei Reiche: eines ist Gottes Reich, das andere ist der Welt (d. h. in diesem Falle nicht des Bösen, sondern der natürlichen Schöpfungs­ vernunft) Reich . . . Gottes Reich ist ein Reich der Gnade und Barmherzigkeit und nicht ein Reich des Zornes oder der Strafe. Denn daselbst ist eitel Vergeben, Schonen, Lieben, Dienen, Wohltun, Friede und Freude haben etc. Aber das welt­ liche Reich ist ein Reich des Zornes und Ernstes. Denn daselbst ist eitel Strafen, Wehren, Richten und Urteilen, zu zwingen die Bösen und zu schützen die From­ men. Darum hat es auch und führt das Schwert. . . Die Sprüche, die von der Barmherzigkeit sagen, gehören in Gottes Reich und unter die Christen, nicht unter das weltliche Recht. Denn ein Christ soll nicht allein barmherzig sein, sondern auch allerlei leiden etc. Aber das weltliche Reich, welches nichts ist denn gött­ lichen Zorns Diener über die Bösen und rechter Vorlauf der Hölle und des ewigen Todes, soll nicht barmherzig, sondern streng sein etc. . .., auf die Bösen sieht es, daß es sie strafe und in Zaum und Frieden halte zum Schutz und Errettung der Frommen«. Das ist doch etwas anderes als das Verhältnis von Idee und Er­ scheinung!

Der Staat,

Christen in schrankenloser Liebe und Hilfsbereitschaft, ohne Rechts­ bändel und Uebervorteilungen, ohne Verfolgung ihres formellen Rechtes und in möglichstem Dulden des Unrechts ein friedliches und demütiges Leben führen sollen. Man erkennt hier ohne wei­ teres den überidealistischen, um nicht zu sagen christlich-uto­ pischen Sinn dieses Staatsideals. Andererseits braucht man nur seine grollenden und heftigen Klagen über Fürsten und Juristen, über Feudalherren und Magistrate, sowie vor allem über den un­ verbesserlichen rohen und groben Pöbel zu lesen, um zu erkennen, daß Luther weit von der Meinung entfernt war, als entspreche die bestehende staatliche Wirklichkeit seinem Ideal. Was er auch immer sich für Mühe gegeben hatte, es im Unterschiede von den Täufern den Bedingungen der Wirklichkeit anzupassen, es war in dieser rohen und rauhen Welt so wenig zu Hause wie sein spiritualistisches, aller Organe zur Selbstdurchsetzung entbehrendes Kirchenideal. Das liegt nicht, wie oft gesagt wird, am Mangel politischer Begabung, der dann etwa irgendwie ergänzt werden könnte. Es liegt an dem religiösen Grundgedanken selbst, der mit politischem Sinne unvereinbar ist. Wo ein solcher vorhanden ist, wird auch die Religiosität selbst eine andere, wie der Calvinis­ mus zeigt. Bei den modernen Konservativen, die des politischen Sinnes gewiß nicht entbehren, geht eben darum das Religiöse und das Politische, die auf das Wesen der Macht begründete Gewaltpolitik und die in ihrer Innerlichkeit verharrende Gottselig­ keit, bis zum vollen Widerspruch auseinander 262). 262) Der Pessimismus scharf betont bei Brandenburg: »So schwebte auch ihm Anfangs wenigstens als Ideal eine christliche Gesellschaft vor, deren Haupt eine vom christlichen Geiste beseelte Obrigkeit sein sollte. Diese durfte freilich nicht mehr der geistlichen Gewalt untergeordnet sein und von ihr geleitet werden; sonst wäre ihr Tun erzwungen und wertlos gewesen; aber sie sollte bei äußerer Gleich­ berechtigung verbunden sein mit jener in gleicher christlicher Gesinnung . . . Dieser Gedanke durchzieht L.s Schrift an den Adel. Aber der Traum entfloh schnell, und beim Erwachen fand sich L. allein mit wenig Gleichgesinnten unter den Heiden, und gewann die Ueberzeugung, daß es so bleiben werde. Von nun an hat es keinen Sinn mehr für ihn, sich auszumalen, wie eine christliche Gesellschaft be­ schaffen sein könne und müsse. Denn sie wird ja niemals kommen; die wenigen in der Welt zerstreuten Christen werden nie eine geschlossene Körperschaft bilden können. Die Welt, wie sie ist, aber läßt sich nicht mit christlicher Liebe nach dem Evangelium regieren S. 9 . . • Darum sagt Luther: ,,So dir Gewalt und Unrecht geschieht, sprich: das ist der Welt Regiment. Willst du in der Welt leben, so mußt du das gewarten, Daß du es dahin bringen willst, daß es anders gehe, denn

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

Bei dem späteren Luthertum verschwand die Spannung zwi­ schen der amtlichen und der persönlichen Moral immer mehr und entstand jener Typus, den man gemeinhin als den lutherischen bezeichnet: Unbedingter Gehorsam gegen die Gott vertretende es Christo gegangen ist, das wirst du nicht erlangen, Willst du bei den Wölfen sein, so mußt du mit ihnen heulen. Wir dienen hier in einem Wirtshause, da der Teufel Herr ist und die Welt Hausfrau und allerlei böse Lüste sind das Hausge­ sinde; und diese allesamt sind des Evangelii Feinde und Widersacher. So man dir dein Geld stiehlt, dich schändet an deinen Ehren, in diesem Hause gehts also zu". Nirgends finde ich das Wesentliche von Luthers Weltanschauung so klar aus­ gesprochen, wie in diesem Bilde. Der Mönch will dem Dienst des teuflischen Wirtes sich entziehen durch die Flucht; die streitende Kirche will mit äußeren Machtmitteln dem Wirt das Regiment entreißen und das Gesinde sich unterwerfen; Luther hat zuerst gehofft, die Bewohner bekehren und mit christlichem Geiste er­ füllen zu können; jetzt hat er diese Hoffnung aufgegeben, will aber trotzdem in dem schrecklichen Hause bleiben, Denn er ist nicht aus eigenem Willen darin, sondern von seinem Gott hineingesetzt. Darum will er hier seine Pflicht tun, sich schlagen und peinigen Jassen, wenn es dem bösen Herrn und seinem Gesinde ge­ fällt, aber nicht vom Platze weichen, bis sein Herr ihn abruft, und jede gute Stunde, die er hat, als besondere Gnade preisen«, S. 5 f. Brandenburg überschätzt nun aber meines Erachtens diese Stellen; wenigstens stehen neben ihnen solche, wo die christliche Lebensordnung in Amts- und Liebesmoral als etwas Mögliches und Wünschenswertes erscheint, wie ja darauf sein ethisches Grundbuch, der Große Ka­ techismus, aufgebaut ist, Das eigentlich Charakteristische ist m, E, vielmehr das Alternieren zwischen jenem verzichtenden Pessimismus und dem Triumph, daß die wahrhaft evangelische Ordnung mit dem klärlich erwiesenen Recht des weltlichen Amtes und der ebenso klärlichen Innerlichkeit der Liebesgesinnung und der kirch­ lichen Gemeinschaft in evangelischen Lar.den endlich Wirklichkeit geworden sei. Die Grundsätze dagegen, in denen Lenz S. 440 das Fortwirken der lutherischen Gedanken als ,Lebensmark unseres Volkes« schildert (•In ihnen wurzelt das Recht unseres Schwertes, seine Macht und unser Gehorsam, Mit zwingender Gewalt fes­ seln sie jedermann an den öffentlichen Willen, und in freiem Eifer dienen ihnen ohne Unterschied des Bekenntnisses die Millionen, Sie sind verwachsen mit jedem öffentlichen Amt, mit unserer Ehe und Familie, mit der Idee unseres Krieges (1) und aller (!) Arbeit des Friedens, Auf ihrem Grund erwuchs unsere ganze klas­ sische Literatur (1) und noch immer beherrschen sie weite Gebiete unserer Kunst (1). Nur von ihnen aus ist echte Toleranz und die freie Forschung (1) möglich gewor­ den«), sind nur sehr bedingt und teilweise lutherischen Ursprungs. Ein Fortleben der lutherischen Staats- und Gesellschaftsidee findet in Wahrheit nur statt in der >Weltanschauung c der konservativen Partei und vor allem in deren Bannerträger Stahl, der aber doch den calvinistischen und independentistischen Individualismus in die nengeformte lutherische Staatsidee aufzunehmen für unumgänglich fand, vgl. Stahl, Der christliche Staat,

Der Staat,

und nur durch Gottes Zulassung in ihr Amt gelangte Obrigkeit und feudale » Unterobrigkeit« ; Bindung dieser Obrigkeiten an natürliches und göttliches Recht, die immer mehr als die ohne Schwierigkeit zusammenwirkenden Grundgesetze der wahren christ­ lichen Gesellschaft erscheinen; Fürsorge der Obrigkeit für alle welt­ lich-natürlichen und, soviel es ihr mit ihren weltlichen Mitteln und in ihrem Zusammenfall mit der Kirchenregierung möglich ist, auch für die christlichen Tugenden; Erhaltung des Friedens nach außen um jeden erträglichen Preis und des Friedens nach innen durch gründ­ liche Bevormundung des beschränkten Untertanenverstandes. Der sündige Ursprung und Charakter des Rechtes und der Gewalt ver­ schwand in der Harmonie des natürlichen und göttlichen Rechts, und diese Harmonie ermöglichte ein von der Sünde immer getrüb­ tes, aber an sich sehr wohl durchsetzbares Ideal der christlichen Gesellschaft, in dem alle natürlich-vernünftigen Wissenschaften und die Offenbarung sich vereinigen zu dem großen Ideal der mensch­ lichen Gesellschaft. Den klassischen Ausdruck hat diesem Ideal L. v. Seckendorff in der Dedikation seines Teutschen Fürsten­ staates gegeben: » Die Weißheit, durch welche Königreiche, Fürstentümer und Lande glückselig regiert werden, ist ihrem Ursprunge nach göttlich, an sich selbst herrlich und unver­ gleichlich und begreifet in ihrer Weite und Allgemeinheit alles dasjenige, was in anderen Wissenschaften stückweise sich befin­ det. Sie ist in dem Bezirk eines jeden Landes die unentbehr­ liche Sonne, durch welche alles erleuchtet, erwärmet und ernähret wird. Sie vergleichet sich einem unerschöpflichen Meer, darein alle anderen Weisheiten und Künste einfließen und durch hohe und verborgene Art zu der gemeinen Wohlfahrt durch das ganze Land wiederum ausgetrieben und verteilet werden. Sie ist ein immergrünendes Paradies von allen schönsten und nützlichsten Pflanzen der Tugenden und guten Ordnungen, deren jede zu seiner Zeit und an ihrem Orte erfreuliche Früchte bringet. Diese Weisheit hat von dem Alleinweisen der König Salomo zu seinem Regie­ rungsstande erbeten, bei welcher er die allergrößesten Schätze und Reichtümer der Welt zu einer Zugabe erlanget« 268). Der Pessimismis 268) V. L, v, Seckendorff, Teutscher Fürstenstaat 5 1687 (zuerst 1656) 1 bes. s. c. 1 1 5 und 8 des dritten Teils. Doch gesteht der Verfasser in der Vorrede: >Oft habe ich die Regula anstatt dessen, was ich in der Tat finden sollte aber nir­ gends oder wenig angetroffen, setzen müssen«. - Besonders charakteristisch für den Geist des Ganzen S. 194 f.: >Der Hauptzweck dessen allen ist die heilsame Erhal-

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

und Idealismus des ursprünglichen Luthertums ist verschwunden, und die Gesellschaftslehre trägt die Züge einer herzlichen und tung der Polizei oder des ganzen Regiments in seiner hehren Kraft und Hoheit und das letzte Ziel ist die Ehre Gottesc, In christlichen Staaten sei aber nicht bloß die Behauptung der Gewalt, Verhinderung der Verbrechen und Erhaltung des Friedens, sondern auch die sittliche Förderung der Untertanen die Aufgabe, »eine stete Annäherung und Uebung, welche bei den heidnischen alten Völkern der Griechen und Lateiner durch mancherlei Unterrichtung der gelehrten Philosophen und Poeten gesucht worden. Aber in einer christlichen Polizei kann und muß die Obrigkeit hierinnen noch weiter gehen«. Sie muß Gesinnungen pflegen, und, weil diese rechtlich nicht erzwungen werden können, so ist hierfür die Kirchen­ disziplin, das Haus und die Schule mit zu verwenden, »Gleichwohl sind aber auch etliche Stücke, die fürnehmlich eines jeden Gemüt und Person betreffen, nachfol­ gig aber auch seinen Mituntertanen zu Schaden und Aergernis gereichen können, in den Landesordnungen bedacht, als da ist eine gebührliche äußerliche Feier der Sonn- und Festtage, Vermeidung des schändlichen Vollsaufens und wo zu dem Ende von gewisser Zeit des Tages, da man mit Zechen und Schenken aufhören muß, geordnet. Ferner ein r e c htm ä ß i g e r Beruf und Handlung und Vermei­ dung des Müßiggangs , ,, zu welchem Zweck auch die Anordnung eines Zucht­ hauses für dergleichen unartige Personen zur Besserung ihres Lebens und zur Be­ ruhigung anderer Leute ein vortreffliches Mittel ist. Die Erhaltung einer gebühr­ lichen Ordnung und Vorzugs zwischen den Sfänden und Untertanen nach ihren Ehren, Stand und Amt bei allen Begebenheiten und Zusammenkünften, sowohl auch in Kleidung und anderen äußerlichen Dingen . . ., damit Zerrüttung, Mißverstand und Aergernis verhütet werde«, Doch soll dieser Konservatismus nur dem Frie­ den dienen, nicht jeden Fortschritt ausschließen S. 215: ,Die Obrigkeit ist dahin bedacht, daß sie in dem Lande je mehr und mehr, was nützlich und austräglich sein kann , ,, durch allerhand gütliche Mittel und B e f r e i u n g e n anleite und also nicht in Gedanken stehe, daß es eben im alten Wesen bleiben müsse und nichts verbessert werden könne«. - In breitester Ausführung entwickelt die na­ turrechtlichen und christlichen Gedanken über den Staat Joh. Gerhard in seinem Loci (ed, Cotta 1775) Bd. XIII und XIV, jedoch in der Abstumpfung, die das Ideal einer christlichen Gesellschaft bei christlicher Gesinnung der Obrigkeit, reiner Kirchenlehre und demütigem Gehorsam der Untertanen sehr wohl für realisierbar hält: ,Utraque potestas ad ecclesiae collectionem conservationem ac propagationem item­ que ad Dei gloriam ordinata est. Mutuas enim sibi tradunt operas , . , Sine ecclesiastico ministerio commode quidem, at non pie; sine politica potestate pie qmdem, sed non commode vivi potest. XIII 22 5 ! Die Magistratus sunt Dii terrestres XIV 305 ! Diese Abstumpfung spiegelt sich in dem Ideal des Urstandes, der bei Entwicklung ohne Sündenfall trotzdem eine subjectio, nur eine subjectio filialis statt einer sub­ jectio servilis gewesen wäre S. 240, Ueber Bündnisse: Foedera ipsa urgente rei publicae necessitate cum infidelibus et diversae religionis hominibus instituta non possunt absolute et simpliciter improbari; cavendum interim, ne adhaereat fiducia

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innig kräftigen, aber hausbackenen und spießbürgerlichen Landes­ väterlichkeit. Ging die Staatslehre des Luthertums - vom modernen Stand­ punkt aus angesehen - hinter die thomistische Staatslehre vielfach noch zurück, so blieb seine W i r t s c h a f t s e t h i k 264) bedeutend in humanum auxilium ac diffidentia erga Deum neve defensio ecclesiae, quae est solius dei opus, foederibus illis transscribatur XlV 14. Unterstützung bedrängter Religionsgenossen in fremden Ländern nur als diplomatische erlaubt XIV 72. Von der Bergpredigt heißt es nur, es seien nicht ganz buchstäblich zu nehmende Pa­ rabeln, und vom Rechte heißt es einfach: »Observa etiam quod magistratus dicatur constitutus subditis i n b o n u m , nimirum ut bonum publicum promoveat justitiam administrando, justos defendendo, sontes puniendo. Quare cum hoc bono et dono divinitus concesso utimur, hoc est cum officium magistratus imploramus, r e c t e o m n i n o facimus« XIV 135. Wie in der Kirche das Kirchenrecht als göttliches Recht eingezogen ist und überhaupt kein Problem mehr ist, so hat auch für Staat und Gesellschaft Macht und Recht aufgehört ein Problem zu sein, es ist ein bo­ num divinitus concessum S. 137. Die alles durchdringende Polemik gegen die Täufer ist eine immer neu einsetzende, gründlichste Umdeutung der Bergpredigt aus anderen Stellen der Schrift, der Geist des Ganzen höchst philisterhafte Theo1 ogenpolitik. 264) Vgl. hierzu außer Roscher, Gesch. d. Nationalökonomik, und Aug. Oncken, Gesch, d. Nationalökonomie I 1902, die bekannten Abhandlungen von Schmolle r, Zur Gesch. der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Re­ formationsperiode, Z. f. d. gesamte Staatswissenschaft 1860 S. 461-716; Wiske­ mann, Darstellung der in Deutschland z. Z. der Reform. herrschenden nationalök. Ansichten (Jablonowskische Preisschrift 1861); ferner Uhlhorn, Gesch. d. christl, Liebestätigkeit III 1890; Uhlhorn, Katholizismus und Prot. gegenüber der sozialen Frage2 1887; S. Eck in der ausführlichen Einleitung zu Luthers • Von Kaufhand­ lung und Wucher« BA. IV I S. 494-513; K. Köhler, Luther und die Juristen S. 111-124 ; H. Böhmer, L. im Licht der neueren Forschung S. 130-139; Bran­ denburg, L.s Stellung zu Staat und Gesellschaft; Frank G. Ward, Darstellung und Würdigung von L.s Ansichten vom Staat und seinen wirtschaftlichen Aufgaben, Conrads Abhh. XXI, 1898; schließlich meine Darstellung in Kultur der Gegen­ wart S. 544-552. - Ueber den allgemeinen wirtschaftlichen Rahmen, in dem sich die Stellungnahme der Reff. bewegt s. Lamprecht, Deutsche Gesch. V und VI, Schmoller, Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung (Umrisse und Un­ tersuchungen 1890 S. 1-60), die zahlreichen Untersuchungen von G. v, Below, bes. der >Untergang der mittelalterlichen Stadtwirtschaft« (Jahrb. f. Nationalök. und Statistik 1901) und »Territorium und Stadt« 1900; Beispiele städtischer Wirtschaftslage bei Bothe, Frankfurter Patriziervermögen im 16, Jahrh., Archiv f, Kulturgesch., Beiheft 2, 1908; für ländliche u. territoriale Verhältnisse s. Schauen­ burg, 100 Jahre Oldenburgischer Kirchengesch. V 1908. Für das 17. Jahrhundert

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mehr im Geleise der durchschnittlichen katholischen Theorie. Frei­ lich blieb auch sie nicht ohne große Veränderungen. Sie lagen in dem Wegfall des Mönchtums und der Beseitigung des mit diesem eng zusammenhängenden, auf die klösterliche Caritas angewiese­ nen Bettels. Damit wurde weiter die Ehelosigkeit bedeutend eingeschränkt , der Arbeitsfleiß allen eingeschärft , der Besitz der toten Hand säkularisiert, wurden die Meßpfründen aufge­ hoben und vor allem die wirtschaftliche Oberleitung der Kirche beseitigt, die die Fragen der Preisbildung und des Wuchers vor das Forum des Beichtstuhls gezogen hatte; alles das wurde nun rein der weltlichen Gewalt und dem natürlichen Recht übergeben. Allein die Auffassung des natürlichen Rechtes selbst, dessen Grund­ züge schon vom Mittelalter und dem kanonischen Recht als mit dem christlichen Gesetz übereinstimmend betrachtet worden waren, blieb ihrem sachlichen Inhalte nach bestehen. Es wurde nur das, was bisher bloß dem Weltmenschen kraft natürlichen Rechts anbefohlen war, auf alle ohne Ausnahme, ohne Duldung von Bettlern und Klöstern, ausgedehnt; und es wurde das, was die Kirche unter ihre Obhut genommen hatte, ganz der weltlichen Vernunft und Gesetzgebung anheimgestellt, aber als einer an das natürliche, mit dem christlichen Recht übereinstimmende Recht gebundenen. So kann es uns nicht wundern, wenn alle charakteristischen Züge der mittelalterlichen Wirtschaftsethik hier wieder erscheinen, bloß mit den durch die neuen Grundlagen der Gesellschaft not­ wendig werdenden Modifikationen 265). Die Arbeit mit ihren Mühen und Sorgen ist an sich natur­ widrig. Gott hat seinen Segen in der Fruchtbarkeit der Natur und in den Metallen der Berge hingelegt zum dankbaren und s. Kompilationen bei Händtke, Deutsche Kultur im Zeitalter des 30 j. Krieges 1906, v. Below, Die Frage des Rückgangs der wirtsch. Verhältnisse vor dem 3oj. Krieg (Vierteljahrsschrift f. Soz.- u. Wirtschaftsgeschichte 1909 S. 160-167). Es darf heute als selbstverständlich gelten, daß die großen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts unabhängig eintraten von der religiösen Be­ wegung und daß in ihnen das Luthertum zunächst eine wesentlich reaktionäre Stellung einnahm, während die kasuistische Ethik des Katholizismus mit ihr Kom­ promisse abzuschließen im Stande war. 265) Auch hier ist Aristoteles der Meister s. Schmoller 470, auch Melanchthon CR XVI 427. Es ist >natürliche WirtschaftslehreSie streifen, obwohl von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend, oft sehr nahe an die physiokratischen Lehren«. Schmoller 471.

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demütigen Empfang ; an die Bedingungen der Arbeit und Technik für das Zustandekommen der Güter ist wenig gedacht. Wenn Gott mit der Gewinnung dieser Güter trotzdem jetzt die Arbeit verbunden hat, so geschah es aus pädagogischen Gründen gegen­ über dem sündig gewordenen Menschen. Die Arbeit ist reme­ dium peccati wie der Staat und die Ehe, gehört erst dem re­ lativen Naturrecht des Sündenstandes an und dient hier als Strafe und Zucht, hat also wesentlich asketische Bedeutung 266). Nur ist sie eben um deswillen auch allen zuzumuten, die arbeiten können. Arbeitsfähige Bettler, untätige Mönche und müßige Rentenver­ zehrer sind schlechterdings schon gegen dieses Recht der Natur. Mit der Arbeit ist dann auch das Privateigentum, das aus ihr her­ vorgeht, von Gott geordnet, aber auch dieses erst infolge des Sünden­ falls als Mittel der Zucht und Ordnung 267). Unter besonderen Umständen, z.B. bei Hungersnöten oder gegenüber arbeitsunfähigen Witwen ist es ein Gebot der Aequität, auf die ursprüngliche Ord­ nung des Liebeskommunismus zurückzugreifen und den Raub beim Bäcker oder ein »Notwücherleinc zu gestatten 268). Das Maß des Eigentums soll das des standesgemäßen Bedürfnisses nicht über­ schreiten, doch ist die Freude am Besitz, auch an Gold und Silber, in den Grenzen dankbarer Genügsamkeit erlaubt ohne pedantische Abmessung des Bedürfnisses. Da es nun das Wesen der Arbeit und des Eigentums ist, dem Menschen das standes­ gemäße Einkommen zu verschaffen, aber darüber auch nicht hinauszugehen, so versteht sich die traditionalistische Haltung der Wirtschaftsethik von selbst. In seinem Stande sich nach dem Herkommen nähren und darin als in einem gerechten An­ spruch von der Obrigkeit geschützt werden, das ist das Wesen der Wirtschaftsordnung. Emporsteigen wollen, durch freie Initiative die gegebenen Ordnungen durchbrechen, die Gesellschaft durch das Bestreben des Individuums, seine Lebenshaltung und seine gesellschaftliche Stellung zu steigern, beunruhigen und zersetzen: das ist gegen natürliches und göttliches Gesetz 269). Unter der 288)

S. besonders Brandenburg 6; Schmoller, 474 und 478; Eck 499. 'Stellen aus Luther und Melanchthon bei Schmoller 705-708; 597; Uhlhorn 22. 288) Eck, BA. IV I S. 504; das ist ganz die scholastische Lehre, s. oben XXVIII 63. Freilich stimmt es nicht ganz mit der sonstigen Urstandslehre des Luthertums. 289) Ueber den »traditionalistischen< Charakter der lutherischen Eigentums287)

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so zu behauptenden Nahrungs- und Gesellschaftsgliederung sind es wieder die naturgemäßen Stände, die vor allem Anspruch auf Schutz und moralische Anerkennung haben: der im unmittelbaren Verkehr mit der Natur die Güter ohne Zwischenglieder zwischen Produktion und Konsumtion erzeugende Hauptstand feudaler und bäuerlicher Agrarier; der durch die natürliche Wohlfahrts­ aufgabe geforderte Stand der Beamten und Soldaten, wozu die gestellungspflichtigen Feudalen gehören; der die von der bäuer­ lichen Wirtschaft nicht herstellbaren Güter erzeugende städtische Handwerkerstand ; die zu Genügsamkeit und Gehorsam zu er­ mahnenden Taglöhner, Dienstboten und sonstigen Angestellten; schließlich auch der dem unentbehrlichen Tausch dienende Kauf­ mann, der zu den Selbstkosten einen seine Existenz sichernden Aufschlag hinzuerheben darf. Mit dem letzteren ist dann auch die scholastische Lehre vom pretium justum, die Empfehlung von Preistaxen, die scholastische Lehre von der Unfruchtbarkeit des Geldes und der Unmöglichkeit des Zeitverkaufs verbunden. Die Fortführung des patristischen und mittelalterlichen Zinsverbotes versteht sich dabei von selbst, ja wird gegen die in der Spät­ scholastik eingeführten Umgehungen mit verstärkter Heftigkeit gefordert; nur solle es auch hier ohne Revolution abgehen, indem bereits eingegangene Zinsverpflichtungen bestehen bleiben sollen bis zur Ablösung oder Rückzahlung des Kapitals. Das Bürg­ schaftswesen und damit das Kreditwesen wird nicht minder heftig bekämpft als ein Eingriff in Gottes Vorsehung und freventliche Vermessenheit. Es ist überall möglichst der reine Konsumtions­ standpunkt, der eine möglichst direkte Beziehung zwischen den Naturgaben, der Arbeit und der Konsumtion herstellen will und alle unübersehbaren Komplikationen verabscheut. Es ist zugleich lehre s. Max Weber, Geist des Kapitalismus, Archiv XX S. 44-50; über die mo­ ralische Abneigung gegen die Konkurrenz, die vor allem in Luthers Preislehre zu­ tage tritt, Schmoller 491 f. Luther selbst sagt (Kaufhandlung BA S. 527): >man soll sich an mäßiger Nahrung genügen lassen •. , nicht Tag und Nacht in die Höhe trachten«. Oncken nennt es die >asketische« Auffassung vom Erwerb im Gegen­ satz zu der mit Adam Smith einsetzenden >hedonistischen« S. 152, 149. In der Wucherfrage ist übrigens Melanchthon zu Kompromissen geneigter als Luther und ist auch von den späteren konfessionellen Lutheranern Luthers schroffe Hal­ tung nicht fortgesetzt worden, Neumann, Gesch. d. Wuchers ; doch bedeutet das kein neues Prinzip, sondern nur die überall zu beobachtende Abstumpfung von L.s ethischem Radikalismus.

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der Friedens- und Ordnungsstandpunkt, der alle Arbeitsgliede­ rungen und alle Besitztitel als Mittel der Erhaltung konkurrenz­ loser Zustände betrachtet. Das fordert die Natur der Dinge, es ist aber zugleich die Forderung der Moral 970), in der natürliches und göttliches Gesetz übereinstimmen, indem so jeder zu seiner Nahrung kommt, Ordnung und Friede gewahrt, die Liebe be­ tätigt, die natürlichen Unterschiede eingehalten, die Abhängigkeit von Gott und der Natur gläubig anerkannt und die Wohlfahrt des Ganzen gefördert wird. Die christliche Beseelung dieser natürlichen Wirtschaftsethik besteht dann darin, daß der gehorsame Dienst in den so vorge­ zeichneten Berufen zu dem eigentlichsten und nächsten Spiel­ raum der Nächstenliebe wird. Indem jeder arbeiten und mit seinen Haushaltgenossen von dem Arbeitsertrag leben soll, fördert er Ruhe und Harmonie des Ganzen und leistet er den wichtigsten Beitrag zur Beförderung des Einzel- wie des Gesamtwohles. Pflichtmäßige Arbeit ist der beste Gottesdienst, und die in der Ausübung des Berufs betätigte Nächstenliebe ist besser als die Carität, die den Bettel großzieht, das Almosen zum Verdienst bei Gott macht, gleich­ gültig ist gegen den praktischen Effekt des Almosens, dem einen zu viel, dem andern zu wenig gibt und alle durch Werkheiligkeit korrumpiert 271). Das ist eine außerordentliche Steigerung der Arbeitspflicht und der Arbeitsintensität. Es ist weiterhin trotz aller Be­ vorzugung der agrarischen Arbeit ein bürgerlicher und kein feu­ daler Gedanke, indem dem aus mancherlei Gründen von der Re­ formation sehr gefestigten Feudaladel doch die Arbeitspflicht, die Selbstbewirtschaftung oder der fürstliche Amtsdienst, damit zur Aufgabe gemacht wird; beides hat der Gang der Dinge von sich aus erzwungen, es ist aber doch auch eine Forderung der refor­ matorischen Wirtschaftsethik 2 72). In all diesen Hinsichten ist das 270) Ueber die »moralische• Tendenz dieses agrarisch gefärbten Konservatismus s. Schmoller 476, über die »Natürlichkeit« möglichsten Festhaltens an der Urpro­ duktion und der geschlossenen Hauswirtschaft s. S. 479, 564, Oncken 131. 271) Ueber diese christliche Beseelung: Schmoller 488 1 707; Uhlhorn 19 f. 272) Auch dieser unfeudale Charakter charakterisiert schon die mittelalterliche Wirtschaftsethik; über das Verhältnis beider Elemente in der mittelalterlichen Stadt und im kanonischen Recht s. vortrefflich Oncken I 125; Oncken bezeichnet es als das System der »gebundenen Geldwirtschaft«, dem die spätere ungebundene städtisch­ kapitalistische Wirtschaft gegenübertritt. Nur die letztere bekämpfen die Reforma­ toren. Nur so waren sie auch imstande, das römische Recht zu bevorzugen, das

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neue System trotz der beibehaltenen mittelalterlichen Grundan­ schauung über das Wesen und Ideal des wirtschaftlichen Lebens selbst immerhin eine gründliche Veränderung. Die allgemeine Ar­ beitspflicht, die Beseitigung der toten Hand, die Ersetzung der alle sozialen Schäden aufnehmenden Carität durch staatliche Wohlfahrtspolitik und kirchlich-staatliche, nur die wirklich Arbeits­ unfähigen versorgende Liebestätigkeit : das gibt ein neues Bild der Dinge, und auf diese neuen Züge konnten sich dann aller­ dings später die Tendenzen der modernen Wirtschaftsethik be­ rufen. An sich selbst aber ist die Wirtschaftsethik des Luther­ tums durchaus reaktionär gemeint als eine Verbindung des natür­ lichen und göttlichen Gesetzes der strengen Eingrenzung auf ge­ gebene und einfachste Verhältnisse und der Begnügung mit dem standesgemäßen Existenzminimum, immer zugleich begleitet von der Bereitschaft, auf das nur durch die Sünde herbeigeführte Eigentumsrecht nötigenfalls radikal zu verzichten. Aber so sehr in diesem Bilde natürliche und christliche Ethik zusammenzustimmen scheinen, so fehlt es doch auch hier nicht an Konflikten. Die beständige Bekämpfung des Eigen­ nutzes und des Vertrauens auf eigene Kraft und Leistung, die Forderung der Ergebung in Verluste, Teuerungen und Nöte als in göttliche Strafen und Zuchtruten, die Betonung der von selbst ohne Mühsal und Klügeln alles schenkenden Vorsehung, die auf jeden Besitz verzichtende Bruderliebe, alles das geht weit über die Grundsätze jener natürlichen Wirtschaftsethik hinaus und nähert sich dem evangelischen Radikalismus der leidenden und duldenden Sekte. Dem Einwand, daß die Befolgung solcher Grundsätze alles Wirtschaftsleben zerstöre, begegnete Luther nur mit der Antwort, daß das die Obrigkeit verhindern müsse und, wo das nicht geschieht, als der Welt Wesen und des Christen Recht erduldet werden müsse. Luther führt nicht nur den Kampf der feudalen Verfassung ganz entgegengesetzt ist, und sowohl die Geldwirtschaft als den Prinzipat des Landesherrn begünstigt. Die moderne Wendung der Refor­ matoren besteht überhaupt wesentlich in der Anheimstellung der Wirtschaft an die Landesherrn, die zum Besten des Ganzen Besitz und Erwerb zu steigern berechtigt und verpflichtet sind; vgl, Schauenburg s. Theol. Jahresbericht 496. So beschritten sie unter dem Segen des Luthertums und ohne kirchliche Kontrolle die Wege des Merkantilismus wie der absolutistischen Wohlfahrtspolitik, Uebrigens hatte die Landesherrn zur Sammlung von Schätzen und damit zur Exemption von der bür­ gerlichen Moral bereits die Scholastik ermächtigt, Oncken I 128.

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gegen die ihm vorliegenden Erscheinungen des Frühkapitalismus und seine sozialen Konsequenzen, etwa gegen besondere Ausar­ tungen der neuen Wirtschaftsordnungen, sondern er führt im Grunde den Kampf der christlichen Genügsamkeits- und Liebes­ ethik, des Vorsehungs- und Ergebungsglaubens gegen den nie völlig zu zügelnden Egoismus und das weltliche Selbstvertrauen alles Besitzstrebens überhaupt 273). Er kämpft gegen das neue Prinzip selbst. Erst wenn er dabei bis hart an die Grenze der Sektenethik kommt, dann betont er wieder Recht und Funktion des Besitzes, die Güte der göttlichen Gaben und die göttliche Einsetzung der Obrigkeit und damit der organisierten Gesellschaft. Es ist dasselbe Alternieren der Gesichtspunkte wie bei der Ehe und bei dem Staate. Die Doppelheit der Ethik Luthers bricht überall durch m). 278) Vgl. die höchst charakteristischen Stellen in >Kaufhandlunge BA. IV 1 S. 523-527 über die vier Weisen, christlich mit anderen im Erwerbsgeschäft zu handeln: erstlich, daß man sich willig berauben lasse, wenn die Obrigkeit es zu hindern versäumt; zweitens, daß man den Bedürftigen umsonst gebe; drittens, daß man leihe ohne Wiedererstattung. Dann erst kommt die vierte Weise, daß man kaufe und verkaufe Ware gegen Ware oder Ware gegen Geld als Wertmesser und Wertaufbewahrungsmittel; zu dem letzteren Zweck ist dann aber die Fixierung des pretium justum durch die Obrigkeit nötig. Noch deutlicher ist der viel zitierte Brief an die Danziger vom Jahre 1525 1 wo er das Zinsnehmen als vom Evangelium verboten bezeichnet, aber fortfährt: »Aber das Evangelium ist ein geistlich Ge­ setz, darnach man nicht regieren kann, sondern dasselbige jeglichen für sich selbst stelle, ob er es tun oder lassen werde. Und man kann und soll auch niemand dazu zwingen, gleich als zum Glauben; denn hie nicht das Schwert, sondern der Geist Gottes lehren und regieren muß. Darum soll man das geistliche Regiment des Evangelii ferner scheiden vom äußerlich weltlichen Regiment und ja nicht durch­ einandermischen . . . Das Evangelium lehret wohl frei alle Güter fah ren lassen aber wer mich dazu zwinget und dringet, der nimmt mir das meinena­ türlichen Witschaftsethikc, 277) S. Oncken I 147, der auf K. L. von Haller und Adam Müller verweist. 278) S. Schmoller 513. 079) S. Schmoller 515. 37*

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freilich dabei im Unterschiede von den heutigen Konservativen wesentlich nur die ethisch-religiösen Maßstäbe im Auge und keiner­ lei Klasseninteresse und setzte dafür einen leidenschaftlichen Willen ein, der sich um die etwa möglichen wissenschaftlichen Erklärungen des feindlichen Typus und um die allgemeinen Gründe und Notwen­ digkeiten derihm vorliegenden Veränderungen gar nicht bekümmerte. Diese waren seiner kindlichen Auffassung vielmehr lediglich ein Werk des Teufels und der Bosheit, eine Zuchtrute Gottes über die tollen und ungebärdigen Deutschen oder ein Vorbote des Endes der Dinge 280). Er kann den Gedanken gar nicht fassen, daß es mit den wech­ selnden allgemeinen Lagen auch verschiedene wirtschaftsethische Folgerungen geben könnte, und ruft daher die Welt zurück zum natürlichen und göttlichen Recht. Die neue Wirtschaft ist gegen die Demut, gegen das Gottvertrauen, gegen die Bruderliebe, gegen die Natur und gegen Gott. Gegen sie muß daher die Obrigkeit im Bündnis mit der Gesinnungsbildung durch Kirche und Schule ein­ schreiten. Aus den politischen und wirtschaftsethischen Ideen erklärt sich dann schließlich das ganze S o z i a l i d e a l , d i e G e s e 11s c h a f t s g l i e d e r u n g u n d -v e r f a s s u n g ü b e r h a u p t. Es ist das Ideal ständisch gegliederter Berufe, der Kosmos der Berufe, wie im mittelalterlichen Katholizismus, nur mit der Aus­ dehnung der Berufspflicht auf alle und mit unmittelbarer Einver­ leibung des Berufsgedankens in den Kern der christlichen Ethik. Die Berufe sind teils die aus der wirtschaftlichen Arbeitsgliederung hervorgehenden, bei denen eine strenge zünftige Teilung wünschens­ wert ist. Teils sind es die kirchlichen und Schulberufe, denen die begabten Kinder zuzuführen als eine christliche Pflicht stetig eingeschärft wird. Weiter kommen dazu die fürstlichen, adeligen, amtlichen und militärischen Berufe, schließlich der Ueberschuß, der in den festen Gliederungen nicht verbraucht werden kann, aber den wechselnden Dienstbedürfnissen genügt 281). Die LeibEin Beispiel von der Naivetät seiner Argumentationen bei Schmoll er 566: daß 7, 8, 9 und 10% unchristlich seien, das sehe man schon daraus, >daß die Räuber 280)

und Wucherer, die das nehmen, häufig eines jähen Todes sterben, oder sonst schrecklich umkommen«. 281) Ueber die soziale Gliederung in der Anschauung Luthers, die ganz der mittelalterlichen entspricht, s. Brandenburg S. II, Schmoller S. 475, 485-487, 688. Wie selbstverständlich für Luther die zünftige Gliederung ist, zeigt die Anekdote aus den Tischreden, wonach L. unter den Schneidern noch besondere Gruppie­ rungen für die Anfertigung bloß von Hosen, Wämsern oder Röcken fordert, damit

Gesellschaftsgliederung und Berufe.

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eigenschaft, die nicht aufgehört hat und mit dem endenden 16. Jahrhundert wieder stark zunimmt, wird von diesen Voraussetzungen aus genau beurteilt wie das Sklavenwesen in der alten Kirche, als ein Stand,

in dem man die innerliche religiöse Freiheit der Er­

lösung genießen darf, aber nicht die äußerliche rechtliche Befreiung suchen soll 282). An Antisklavereibewegungen denkt das Luther­ die Arbeit besser würde, Schmoller 487. Reiches Material zur Sozialgeschichte des Luthertums bei Drews: ,Einfluß der gesellschaftlichen Zustände auf das kirchliche Leben« (Z. f, Theo!. und Kirche 1906) und ,Der ev. Geistliche in der deutschen Vergangenheit« 1905. Die Theorie führt vielfach die kahle scholastische Dreiteilung fort; der dritte Stand wird nie in seinen Bestandteilen, den städtischen und agra­ rischen, und dann weiter in deren beiderseitiger Gliederung konstruiert; vor allem der vierte Stand der Dienstboten, Tagelöhner, Hörigen und Leibeigenen erscheint nie als besondere Kategorie. Die Theologen handeln beim status oeconomicus in der Regel nur von der Hauswirtschaft, zu der sie das Gesinde rechnen und die sie möglichst als geschlossene Hauswirtschaft denken; vgl. die dürftigen Sätze bei Schmidt, Ev.-Luth. Dogmatik 462; hier wird nur die societas paterna, d. h. die engere Familie und die societas herilis, d. h. legitima dominorum et servorum con­ junctio divinitus instituta ob mutuam utilitatem, unterschieden und für deren nähere Ausführung auf die Auslegung des Dekalogs verwiesen, Die eigentliche Sozial­ und Wohlfahrtstheorie und -Politik bleibt den Obrigkeiten, der fürstlichen Polizei und der Kameralistik überlassen; die theologische Ethik betont nur das allgemeine Prinzip des Patriarchalismus. - Eine von Gottfried Arnold zitierte und ausgenutzte Schrift, Joh. Cuno, Spiegel aller Stände, war mit nicht zugänglich. 282) Hiezu Luther gegen die Forderung der Bauern, die Leibeigenschaft auf­ zuheben BA. IV 1, S. 334 f.: ,Es soll kein Leibeigener sein, weil uns Christus alle befreit hat. Was ist das? Das heißt christliche Freiheit ganz fleischlich machen. Hat nicht Abraham und andere Patriarchen und Propheten auch Leibeigene ge­ habt? Lest S, Paulus, was er von den Knechten, welche zu der Zeit alle leibeigen waren, lehrt I Darum ist dieser Artikel s t r a c k s w i d e r d a s E v a n g e 1 i u m u n d r ä u b e r i s c h , damit ein jeglicher seinen Leib, so eigen geworden ist, seinem Herrn nimmt. Denn ein Leibeigener kann wohl Christ sein und christliche Freiheit haben, gleichwie ein Gefangener oder Kranker Christ ist und doch nicht frei ist. Es will dieser Artikel alle Menschen gleich machen und aus dem geist­ lichen Reich Christi ein weltliches, äußerliches Reich machen, welches unmöglich ist. Denn weltliches R e i c h k a n n n i c h t b e s t e h e n , w o n i c h t U n­ g 1 e i c h h e i t i s t i n P e r s o n e n , d a ß e t l i c h e f r e i s i n d , e t l i c h e g e­ f a n g e n, e t l i c h e H e r r e n, e t l i c h e U n t e r t a n e n«. An anderer Stelle er­ mahnt er gar die von den Türken versklavten christlichen Kriegsgefangenen zum Aus­ harren in ihrem Sklavenstande: ,Du mußt denken, daß du deine Freiheit verloren hast und eigen geworden bist, daraus du dich selbst ohne Wille und Wissen deines Herrn nicht ohne Sünde und Ungehorsam wirken kannst. Denn du raubst und stiehlst damit deinem Herrn deinen Leib, welchen er gekauft oder sonst zu sich

582

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

thum nicht von ferne, und bis heute macht ihm weder die agra­ rische noch die industrielle Hörigkeit irgendwelche ethische Be­ denken.

Der Grund von alledem ist völlig klar.

Die ständische

Gliederung beseitigt die Konkurrenz, soweit es im Sündenstande möglich ist, und entspricht damit dem Liebesideal wie dem auf Friede und Ordnung gestellten naturrechtlichen Ideal.

In diesem

Sinne hat Stahl das ständische Prinzip von neuem als das christliche

naturrechtliche Prinzip vertreten 283). Daß die gesamte Bevölkerung von einem solchen Prinzip aus immer versorgt werden könne, das sichert der unbedenkliche Vorsehungsglaube.

Nur sonderliche Un­

fälle und Strafen Gottes stören es, und dann sind die dadurch Deklas­ sierten und Atomisierten der Fürsorge der christlichen Liebes­ tätigkeit und der staatlichen Polizei befohlen, von der man nicht zweifelt, es werde ihr gelingen, alle etwaigen sozialen Schäden zu hei­ len. Soweit aber das Gefüge der Ständegliederung überhaupt der mehr oder minder gewaltsamen Erhaltung,

des polizeilichen Schutzes,

der wirtschaftspolitischen Regelung und Unterstützung bedarf, ist das Sache der Obrigkeit 28,1.). An der Fähigkeit der Obrigkeit, gebracht, d a ß e r f o r t h in n i c h t d e i n , s o n d e r n s e i n G u t i s t w i e e i n V i e h o d e r a n d e r e s e i n e H a b e«!! BA. IV l S. 479. So hat die Wiederausbreitung der Hörigkeit in den ostelbischen Gutsbezirken seit dem 16. Jahrhundert (s. Gothein, ,Agrargeschichte« in ,Religion in Geschichte und Ge­ genwart« I 2807) im Luthertum durchaus kein Hindernis gefunden. Eine auch rechtliche Fixierung der Menschenrechte ist wenigstens in Deutschland erst das Werk der Aufklärung und ist es bis heute geblieben. 288) F. J. Stahl, der christliche Staat, S. 8: das patriarchalische Grundschema ; S. 17: der Gegensatz des modernen Prinzips. Die Fortdauer oder vielmehr die von der Restauration bewirkte Wiederbelebung dieser Tendenzen im modernen Konservatismus ist höchst interessant mit vielfachen Exzerpten aus der konser­ vativen Presse geschildert von Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland I. Freilich sieht Stillich hierin nur einen Ausdruck des konservativen Klassenkampfes und übersieht den Zusammenhang dieses Klassenkampfes mit der Wiederbelebung der rein ideologischen Motive des Luthertums, durch die allein er im Namen und mit den Kräften einer populären Weltanschauung geführt werden kann; s. S. 55 über die ständische oder, wie man jetzt zur Unterscheidung vom ,mecha­ nisch-individualistischen« Prinzip sagt, ,organische« Gesellschaftsauffassung der Kon­ servativen; ebenso S. 87 und 219; S. 143 über den damit verbundenen wirtschaft­ lichen Traditionalismus. 2M) Vgl. v. Seckendorff, Fürstenstaat S. 193: Allhier ist nun besonderlich an­ zuführen, wohin doch solche Ordnungen in weltlichen Sachen gerichtet zu werden pflegen . • • Insgemein ist gedacht, daß dadurch G e r e c h t i g k e i t , F r i e d e und A u f n e h m e n oder Wohlfahrt des Landes oder der Leute

Gesellschaftsgliederung und Berufe.

all das bei gewissenhafter Befolgung des natürlichen und gött­ lichen Gesetzes zu leisten, zweifelt - und das ist der charakter­ istische Unterschied gegenüber der Gegenwart - im Grunde niemand. Teils sind die Verhältnisse in der Tat ganz außer­ ordentlich viel einfacher als heute; teils fehlt mit der Sta­ tistik noch jede wissenschaftliche Erkenntnis der verwickelten sozialen Bedingtheiten und Abhängigkeiten ; die Freizügigkeit existiert noch nicht, und das Bevölkerungsproblem steht in den ersten Anfängen der Diskussion. Da ist eine derartig kindliche Auffassung möglich. Die spätere theologische Ethik bekümmert sich daher in ihren sozialen Theorien um das Berufsystem nur gesucht werde . . . Der Friede oder die innerliche Ruhe des Landes und die Sicherheit vor den Feinden fleußet her aus der Gerechtigkeit und die wird hin­ wiederum durch Friede und Ruhe befördert . . . So sorgt der Landesherr (S. 205), >daß keinem Untertanen die Notdurft zu seinen Lebensmitteln außer sonderbarer Strafe und Verhängnis Gottes und sein selbst Verschulden ermangele, sondern er seine Nahrung in guter Ordnung und ohne ungebührliche Hinderung durch fleißige Arbeit und rechten Brauch des Seinigen haben möge « , S. 206: >Zu diesem Ende ist in etlichen Landesordnungen die gemeine Satzung , daß ein jeder Stand bei seiner hergebrachten Nahrung bleibe, der Adel z. E. seiner Güter sich nähren, der Bürger, der Kaufmannschaft und Handwerks auch Brauens und Schenkens sich gebrauchen und der Bauersmann dem Ackerbau obliegen soll; doch alles nach Maße des Herkommens und jedes Ortes Gelegenheit. Hiernächst haben auch die meisten Handwerker ihre sonderbare Zunft- und Handwerksreguln oder Gilden- und lnnungsbriefe, welche ihnen die Obrigkeit aufrichtet oder be­ stätigt; und wird darin nächst dem, was zur Erlernung und rechtmäßigen Uebung eines jedweden Handwerks absonderlich fürfällt, insgemein dieses in Acht genommen, daß eine jede Handtierungszunft bei dem, was zu derselben eigentlich gehöret, gelassen und von anderen ihnen kein Eintrag geschehe, eine gute Absicht unter ihnen ge­ stiftet, auch Rottung, Selbsttätigkeit und Anmaßung sonderbarerer Gerichtsbarkeit verhütet werden, sie aber hingegen ehrlich und fleißig lernen, billigen Preis halten und niemand durch vorteilhafte Griffe übersetzen usw. « . Niedrighaltung des Lohnes im vierten Stande S. 210. »Insonderheit muß zumal zu den Zeiten, da wegen vorgehender Kriege und Sterbensläufte die Leute nicht viel zu bekommen sind, auf die Taglöhner und Dienstboten genaues Aufsehen geführt werden, daß sie bei billigem Lohn und fleißiger Arbeit bleiben; denn ohne dieselben werden alle an­ deren Hantierungen und Haushaltungen gestopft und gehindert « , Selbstverständ­ lich ist die Leibeigenschaft etc. S. 199: »Denn eben um deswillen, daß man für den bösen und schädlichen Leuten seinen Leib, Ehre und Gut sicher hätte, haben sich anfänglich durch göttliche Schickung so viele tausend Leute unter den Schutz einer oder wenig Personen begeben und denenselben so viel Macht, Vorzug und Gewalt eingeräumetc.

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

im ganzen, im einzelnen nur um die Hauswirtschaft, in der vor allem die christlich-ethischen Tugenden zu entwickeln sind. Die Regelung des Ganzen überläßt sie der Obrigkeit, die, vom Luthertum selbst stark gefördert, die Zentralleitung in die Hand nimmt und nach christlichem und natürlichem Recht für Konservierung der Stände in ihrer Nahrung, für Heilung der Schäden und für den etwa notwendigen Fortschritt zu sorgen hat. Diese Dinge fallen der Kameralistik und Polizeiwissenschaft anheim, und damit geht die lutherische Theorie in die Bahnen des Merkantilismus über, indem der Obrigkeit zum Besten des Ganzen erlaubt ist, was dem Einzelnen für sich nicht erlaubt sein kai;m, die Besitz- und Gewinnsteigerung, die Initiative neuer industrieller Unternehmungen, Monopole und Regale, Befreiungen und Veränderungen des ständischen Gefüges und seines Zwanges. Hier hat Seckendorff das Ideal der christ­ lichen »Polizei« klassisch geschildert 285): 285) Vgl. die Darstellungen dieser Kameralistik bei Roscher und bes. Oncken I 226-236: >Die Kameralwissenschaft als spezifische Form der merkantilistischen Literatur Deutschlands trägt einen populationistischen Charakter einerseits und einen staatsfinanzwissenschaftlichen andrerseits. In einer »nahrhaften« städtischen und ländlichen Bevölkerung und in einem blühenden ,Aerarium« besteht der Reichtum des Landes. Man muß es den Kameralisten zum Ruhme nachsagen, daß sie mit redlichem Eifer bemüht gewesen sind, den ihnen gestellten Aufgaben gerecht zu werden, wobei freilich nicht geleugnet werden soll, daß, wenn damals der Reich­ tum eines Landesfürsten nach der Zahl seiner Untertanen gemessen wurde, dies meist in dem Sinne geschah, wie man in unseren Tagen einen Grundbesitzer nach der Zahl seiner Viehstücke einschätzt«. Bemerkenswert ist die Aehnlichkeit des katholischen und des protestantischen Zweiges dieser Kameralistik in theologisch­ ethischen Voraussetzungen und praktisch-politischen Konsequenzen. Die protestan­ tische Richtung ist nur reicher und mannigfaltiger vertreten S. 232. Oncken hebt mit Recht den •halbsozialistischen Charakter« und die Neigung zum »Mittelstande hervor S. 229, betont aber nicht genügend den Zusammenhang mit der religiösen Moral. Es ist überall mit Händen zu greifen, daß die Betonung von Friede, Ruhe, Ordnung, die Ausscheidung der Konkurrenz, die Befestigung oder Neuregelung der ständischen Gliederung vom Standpunkt der dem freien Kampf ums Dasein entgegengesetzten Liebesmoral ausgehen. Der ,freie Lauf der Kommerzienc ist ,Bosheit und Albernheit« S. 231. Die ganze Gebundenheit und der Mangel an individueller Initiative ist ebenso religiös motiviert, wie in den Umständen begrün­ det, ohne daß man die religiöse Theorie einfach als Spiegelbild der tatsächlichen Verhältnisse bezeichnen dürfte. Es ist ein Rückschritt hinter die städtische Laien­ kultur des Spätmittel alters, der einerseits in der realen politischen und sozialen Ent­ wickelung der Machtverhältnisse und der Wirtschaft, andrerseits aber' auch in der davon ganz unabhängigen reaktionären religiösen Theorie Luthers über wirtschaft-

Sozi alpolitik, Sozialreform und Karität,

In der Zusammenfassung aller dieser Einzelheiten läßt sich nun auch die Frage beantworten, inwieweit das Luthertum eine christliche S o z i a l g e s t a l t u n g u n d S o z i a l r e f o r m erstrebt hat. Die Antwort ist einfacher, als man bei der Ver­ flechtung des Luthertums in eine außerordentlich wechselnde Sozialgeschichte, in den noch andauernden Hochstand deutscher Kultur des 16. Jahrhunderts, in die Verwüstungen des großen Krieges, in den Neubau der deutschen Staaten, schließlich in die Auf klärungs- und Restaurationspolitik und heute in die großen modernen sozialen Probleme annehmen sollte. Die Einfachheit kommt davon her, daß seine Stellungnahme wesentlich auf der religiösen Theorie der reinen Spiritualität und Innerlichkeit der Kirche und der Zuweisung aller äußerlichen weltlichen Dinge an die Vernunft, die Fürsten, die Obrigkeit beruht bis zum heutigen Tage. Dabei war allerdings zu Anfang die Voraussetzung, daß natürliches und göttliches Recht, aus gleicher Quelle stammend, sich immerdar von selbst ergänzen werden, und daß eine christ­ liche Obrigkeit die weltlichen Dinge nach natürlichem und gött­ lichem Gesetz im Sinne des religiös-ethischen Ideals zu re­ gieren und formen gewillt und imstande sein werde. Die christliche Sozialgestaltung fehlte nicht, aber sie war lediglich Sache der Obrigkeit und verfuhr nach der mit dem Evangelium über­ einstimmenden, dem Sündenstand angepaßten natürlichen Vernunft. Als dann das moderne Naturrecht entstand in seinem Unterschied von dem christlichen Naturrecht des Sündenstandes und der rela­ tiven Vernünftigkeit, da war allerdings eine neue Lage geschaffen. Man half sich, indem man sich in das neue Naturrecht ergab wie einst in das alte und die Reformtätigkeit des Staates mit einem etwas verweltlichten religiösen Enthusiasmus begleitete. Als dann aber vollends die politische und soziale Entwickelung, auch hiervon emanzipiert, in die modernen Verhältnisse des reinen Macht- und Konkurrenzkampfes überging, da war die Sozialtheorie des Luther­ tums in größter Verlegenheit und konnte ihre ursprüngliche Lehre nur mehr predigen, aber kaum mehr realisiert hoffen, da ihr nicht wie dem Katholizismus und Calvinismus die Organe zu einer liehe und soziale Dinge begründet ist. Daß die hiemit erfolgende Bildung größerer und einheitlich verwalteter Staatseinheiten unter anderem Gesichtspunkt ein Fort­ schritt oder die Voraussetzung des Fortschrittes ist, versteht sich von selbst; nur lag derartiges nicht in der bewußten Absicht des Luthertums, weder des theolo­ gischen noch des juristisch-politischen.

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

staatsunabhängigen Durchführung gegeben sind und der moderne Staat seinerseits sich nicht mehr wie im alten Luthertum als welt­ liche Seite des Organismus der christlichen Gesellschaft empfindet. Von da ab beginnt nun die soziale Hilflosigkeit des Luthertums, soweit es nicht calvinistische und moderne Ideen aufgenommen hat. In seinem eigentlichen, alten Sinne findet es Rückhalt nur mehr an der konservativen Partei, und es verbindet daher seine dogmatische Restauration mit der politisch-sozialen der Konservativen. Es ist nicht mehr der christliche Staat, auf den es seine Erwartung einer dem natürlichen und göttlichen Recht entsprechenden Sozialgestaltung abstellt, sondern die christliche Partei. Begreif­ licher Weise berührt es sich dabei mit der anderen einst so heiß bekämpften, christlichen Partei, dem Katholizismus, in der Gemeinsamkeit der »christlichen Weltanschauung« und des Ge­ gensatzes gegen den konfessionell und religiös indifferenten mo­ dernen militärisch-bureaukratischen Macht- und Riesenstaat. Luther hatte freilich nicht von Anfang diese Wege der sozialen Passivität für die Kirche gewiesen. In der Zeit, wo die chao­ tische Gärung des deutschen Lebens mit der religiösen Reform zusammentraf und noch eine durch die andere zu dem Ziel eines politisch, sozial und kirchlich erneuerten christlichen Ge­ meinwesens kommen zu sollen schien, da hat Luther in der Schrift an den Adel ein Programm kirchlicher und sozialpolitischer Wiedergeburt für das ganze Reich entworfen, in der er alle An­ regungen der Oppositions- und Reformparteien mit seinem neuen kirchlichen Ideal einer auf das allgemeine Priestertum begrün­ deten Kirche verwoben hatte. Allein einmal ist hier Luther von der allgemeinen Bewegung über sich selbst hinausgehoben und, dann ist sein Prinzip doch auch hier insoferne schon vorgebildet, als nicht die geistliche Gewalt die Reformen herbeiführen und damit ein neues christliches Gesetz auferlegen, sondern die fürstlichen Obrigkeiten kraft der Vernunft und kraft der Liebe zum reinen Evangelium die außerkirchlichen Reformen rein aus sich bewir­ ken sollten. » Vernünftige Regenten neben der Heiligen Schrift« sind die getrennten, aber jede auf ihrem Gebiet zur Reform »des christlichen Körpers« zusammenwirkenden Kräfte. Aber ein en­ thusiastischer Optimismus faßte noch beide Aufgaben als wesent­ lich zusammengehörig und zum gemeinsamen Sieg bestimmt auf 286). Derart vorbereitet sollte dann ein Konzil die Gesamt285) Vgl. Brandenburg, S. 9 f.; über die Herkunft der Reformgedanken bei

Sozialpolitik, Sozialreform und Karität,

reform der Christenheit endgiltig in die Hand nehmen. Aus der Gesamtreform wurde nichts, und so wandte sich in den Zeiten der Gärung die Reform zu den einzelnen lokalen und kommunalen Obrigkeiten, die jede auf ihre Weise die Besserung unternahmen und dabei in dieser Zeit des Experimen­ tierens durch Luthers »Gemeindeideal« unterstützt waren. Die Bürgerschaften und Magistrate, die bereits erhebliche kirchliche Rechte und die Tradition moralisch-polizeilicher Ordnungen be­ saßen, erließen nun neue Ordnungen, die das Kultuswesen und zugleich mit ihm das Armen- und Polizeiwesen in dem neuen evangelischen Sinne ordneten. Die Wittenberger Kastenordnung vom Januar 1522 und die Leisniger Kastenordnung von 1523 sind die viel nachgeahmten Versuche einer christlich-sozialen Ord­ nung, die die frei werdenden Stiftungs- und Pfründenvermögen für Kirche, Schule, Armenwesen, Unterstützungswesen, Teuerungs­ politik verwenden und die Handhabung dieses Vermögens durch gewählte Kastenvorsteher besorgen lass_en wollten. Der Charakter dieser Ordnungen ist eine Evangelisierung und Verkirchlichung der bereits bisher in ähnlichem Sinne geübten städtischen Polizei­ ordnungen, und das ist infolge dieser Verkirchlichung allerdings als lokaler und kommunaler christlicher Sozialismus zu bezeichnen. Al­ lein die Ordnungen waren utopisch und �nthusiastisch und kamen nirgends zur Durchführung 287). Vielmehr wandte sich Luther un­ ter den Enttäuschungen des Bauernkrieges und bei der nun end­ lich entstehenden Möglichkeit einer nicht mehr lokalen, sondern terri­ torialen Neuordnung von dem bedenklichen Gemeindeprinzip in jeder Weise ab und übergab, seinem we�entlichen Grundgedanken entsprechend, von nun ab alle politischen und sozialen Dinge als äußerliche weltliche Dinge ganz der Obrigkeit, der Vernunft und dem bisher ganz einseitig theologisch beschäftigten Manne s, W. Köhler, L,s Schrift an den Adel im Spiegel der Kultur- und Zeitgeschichte, 1895. 287) Vgl. Uhlhorn III 33-51; Barge, Karlstadt I 352, 382-386; vor allem L. Feuchtwanger, Gesch, d, sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation, Berliner Diss. 1908 und die Fortsetzung davon im »Jahrbuch für Ge­ setzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft« 1909 XXXIII. Ich folge im wesent­ lichen der Auffassung Feuchtwangers, der Barge sehr bedeutsam ergänzt und kor­ rigiert; vgl. die Analysen der Wittenberger »Beutelordnung«, der »Ordnung der Stadt Wittenberg« und der Leipziger »Kastenordnung«, Diss. S. 9-16, Ueber das zeitliche Verhältnis der Beutelordnung zur Stadtordnung s, K. Müller, Luther und Karlstadt 1907, Anhang, u. Barge , Die älteste evangelische Armenordnung, Hist, Vierteljahrsschrift XI 1908 S. 193-225 u. Theolog, Jahresbericht XXVIII 530,

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

den Juristen, jener Trias, die er ebenso oft lobte als schalt. Er behielt der Kirche mit voller Klarheit lediglich die rein geistliche Erbauungs- und Unterrichtssphäre vor. Eine christliche Obrig­ keit sollte dann unter der Wirkung des Evangeliums alle sozialen Aufgaben, soweit sie überhaupt in den damaligen Horizont fielen - und das war wesentlich die Unterstützung der Deklassierten und Atomisierten, aus irgend einem Grunde in dem System der Berufe ihre Nahrung nicht mehr Findenden-, von sich aus erledigen. Das wäre das Ende aller direkt kirchlichen sozialen Tätigkeit und der Beginn einer rein weltlichen Wohlfahrtspflege und Armenpolitik gewesen. Allein die noch sehr wenig zentralisierten Landesherr­ schaften und die mit schweren Aufgaben belasteten Kommunen nahmen sich dieses Berufes nur sehr unvollkommen an. Da grif­ fen nun Luthers Helfer, vor allem der organisationskundige Bu­ genhagen, ein und übernahmen die der Kirche doch so nahe­ liegende Aufgabe wenigstens der Armen- und Krankenpflege. Es geschah nun freilich nicht mehr in dem utopischen christlich­ sozialen Sinne der Wittenberger und Leisniger Kastenordnung, sondern - es handelte sich dabei wesentlich um die Städte in einer sehr nüchternen Zusammenfassung kommunal-polizeilicher und kirchlich-seelsorgerlich-karitativer Tätigkeit. Nach dem Vor­ bild der älteren städtischen Armenpolizei und unter Anregung der von den belgischen Verhältnissen ausgehenden Reform des Armenwesens durch Ludwig Vives wurden die Mittel aus Stif­ tungen , städtischen Zuschüssen und Klingelbeutelerträgen ge­ schaffen, im Zusammenwirken geistlicher und weltlicher Behörden die Armen kontrolliert, die Vagabundage eingeschränkt, Hospi­ täler geschaffen und eine sichere Technik des Rechnungswesens eingeführt, insbesondere die alles verwirrende Vermischung mit den Kirchen- und Schulfonds vermieden. Allein auch diese neuen Kastenordnungen setzten sich nicht auf die Dauer durch. Teils waren die Probleme des Armenwesens unterschätzt, teils gelang es nicht, die verfügbaren Stiftungsfonds zu zentralisieren, teils fehlte es an der Ausbildung der ehrenamtlichen und wechselnden Beam­ ten; vor allem aber ,war die neue Frömmigkeit selbst zu sehr auf das persönliche Innenleben gerichtet, auf die allgemeine Arbeits­ pflicht eingestellt und dem alten Karitätsgedanken abgewandt, als daß es hätte gelingen können, die nötigen Mittel zu beschaffen. So wurden die lutherischen >Kasten« meistenteils zu dürftigen

Sozialpolitik, Sozialreform und Karität.

Armenstiftungen neben anderen 288). Aus dem kirchlichen Sozialismus wurde auch in dieser Form nichts, und die Aufgabe der Wohlfahrtspolitik wurde den sich immer mehr zentralisierenden und alles bevormundenden Regierungen an­ heimgestellt, die nun freilich gerade in Hinsicht auf das Unter­ stützungswesen sich durch die kirchlichen Einrichtungen wiederum entlastet fühlten und so auch ihrerseits nichts taten. Aber das dauernde Prinzip war damit jedenfalls endgültig ausgesprochen, daß alle welt­ lich-politischen Dinge und damit auch die soziale Fürsorge Sache der Obrigkeit ist, während die Kirche lediglich das Seelenheil und das innere persönliche Leben betrifft. So ging das lutherische Sozialpro­ gramm in die Sozialpolitik des patriarchalischen Merkantilismus über. Als dann der Staat in die moderne Ideenbewegung einge­ treten und vom patriarchalischen zum aufgeklärten Absolutismus fortgeschritten war, da glitt die ganze christliche Sozialgestaltung hinüber in die moderne Wohlfahrtspolitik, und das Luthertum ver­ lor jede innere Beziehung wie jeden Einfluß auf die nur mehr sehr uneigentlich »christliche« Obrigkeit. Je mehrnun aber hierbei die Wohlfahrtspolitik rein weltlich wurde und je deutlicher sich zeigte, daß das System der bloßen Berufe und Stände nicht alle zu ihrer Nahrung kommen ließ, sondern stets von einer Menge der Deklassierten und Hilfsbedürftigen umlagert war, je mehr insbesondere die unruhigere soziale Bewegung des moder­ nen Lebens die Existenzen durcheinanderwarf, umsomehr mußte das Luthertum aus seinem bloßen Vertrauen auf die Vorsehung und das System der Berufe heraustreten und das auch bei ihm vorhandene christliche Liebesstreben nun wieder in der Form der freien Karität betätigen, in Anstalten, Genossenschaften, Vereinen und Stiftungen. Es kehrte mit dem Pietismus zur religiösen So­ zialpolitik der Karität zurück, ohne Verherrlichung des Bettels und zunächst ohne kirchliche Gebundenheit der Karität, im üb­ rigen aber eine Wiederaufnahme der katholischen und altchrist­ lichen Karität 289). Das ist so geblieben bis heute und hat unter 288) Vgl. Uhlhorn III 102-140 und Feuchtwanger, der sowohl die humani­ stisch-stadtpolizeilichen Quellen dieser zweiten Generation von »Kasten(?rdnungenc als die Ursache ihres Scheiterns eingehend untersucht. 289) Vgl. Uhlhorn III. 315-414. Es ist aber ein Hauptmangel dieser an sich vor­ trefflichen Darstellung, daß sie die Rückkehr zum Karitätsprinzip nicht als solche er­ kennt und hervorhebt und daher auch die richtigen Gründe dieser R ückkehr nicht ein­ sieht. Sie liegen in dem Versagen des altlutherischen Patriarchalismus, der im System

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III, Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

englischen Anregungen im 19. Jahrhundert als innere Mission eine ganz außerordentliche Blüte erreicht. Das strenge Kirchentum ist dar­ auf nur zögernd eingegangen, aber schließlich hat es sich heute in eine mehr oder minder enge Verbindung zu dieser protestantischen Karität gesetzt.

Weitere sozialreformerische Ideen hat das strenge,

in der Restaurationszeit erneuerte und seitdem herrschend gewor­ dene Luthertum abgelehnt.

Es blieb hier bei den Gedanken

Stahls, der die Sozialordnung in die Hand einer christlichen Ob­ rigkeit legte und ihr die ständische Ordnung der Berufe mit Ein­ schränkung der modernen Lebensbewegung zur Aufgabe machte. Der Versuch Wicherns über die bloße Karität hinaus eine christ­ liche Sozialreform von seite der Kirche einzuleiten und eine kirch­ lich-religiöse Fürsorge mit der staatlichen Sozialpolitik in großem Stile organisch zu verbinden, ist gescheitert an der inneren Un­ geeignetheit des Luthertums zu einer derartigen Aktion und an der Beschlagnahme seiner Ideen durch die konservative Reak­ Die Umbildung des Wichernschen Programms durch tion 290). der Berufe alle versorgt glaubte und nur für Ausnahmefälle den >Kasten« bereit hielt. Es ist das Wesen der neuen Periode protestantischer Liebestätigkeit seit dem Pie­ tismus, daß sie sich nicht mehr auf die Staats- und Ständeordnung und auf die vom kirchlichen Amt ausstrahlenden Wirkungen verläßt, sondern von den Laien und Gemeinden her die freie Karität organisiert. Statt dessen greift Uhlhorn zur Er­ klärung dieser neuen Periode auf den Einfluß der Philanthropie der Aufklärung zurück, was sicherlich den geringsten Anteil hat. Außerdem ist der reformierte und der katholische Einfluß hierbei von Uhlhorn mehrfach mit Recht betont, auch der Gegensatz des lutherischen Amtskirchentums kennzeichnet diese Rückfälle in reformierte und katholische Laienbetriebsamkeit als etwas Neues und Fremdes, Daß man damit in der Tat dem katholischen Karitätsprinzip sich wieder näherte, zeigen die Berufungen Fliedners und Wicherns u, a, auf altkirchliche Einrichtungen, auch einzelne unwillkürliche Aeußerungen Uhlhorns: >Es ist Gefahr, wieder in ein massenhaftes Almosen zu geraten, umsomehr als die Vereine untereinander wenig oder gar keinen Zusammenhang haben und der Bittende dem Verein sehr äußerlich gegenübersteht . . Doch am bedenklichsten würde es sein, wenn die­ jenigen Recht hätten , welche in der Menge der Vereine ein Symptom darin sehen, daß die historischen Gemeinschaften, Staat und Kirche, in der Auflösung begriffen sind, wie in der römischen Kaiserzeit und gegen Ende des Mittelaltersc S. 412. J:?ie Aehnlichkeit dieser Vereine mit den katholischen Orden ist oft be­ obachtet und umständlich geleugnet worden. 290) Vgl. außer Uhlhorn III 347 f.-364 bes. Wernle, J. H. Wiehern, 1908. W. faßt den Inhalt von Wicherns im Auftrag des Zentralausschusses für innere Mission 1849 verfaßter Denkschrift dahin zusammen: >Auf dem staatlichen Gebiet soll die innere Mission den Revolutionsgeist bekämpfen und sich der Gefangenen

Sozialpolitik, Sozialreform und Karität,

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Stöcker führte nur zur Forderung einer größeren Selbständigkeit und Herrschaft der Kirche, damit zu einer Nachahmung der moder­ nen katholischen Sozialreform und mußte im übrigen sich betreffs des allgemeinen Sozialideals an konservative und mittelständische Prinzipien in echt lutherischem Sinne anschließen ; es wurde durch die Ablehnung von Seite der Konservativen schließlich auf sehr enge Gruppen eingeengt 291). So ist es bis zum und entlassenen Sträflinge annehmen. Auf kirchlichem Gebiet ist ihre Hauptauf­ gabe, daß jedem einmal getauften Christen reichliche Gelegenheit gegeben wird, das lautere Wort Gottes zu hören, also Bibelgesellschaften, Bibelstunden, Mis­ sion usw. Auf allgemein sittlichem Gebiet soll sie der Prostitution, der Entartung der Leselust und der Trunksucht energisch entgegentreten, endlich auf sozialem Gebiet in jeder Weise zur Erhaltung und Rettung der Familie alles aufbieten, sich der Armen- und Krankenflege annehme n, den komm unistischen Organisationen der Arbeiter christliche gegenüberstellen, spez. für die be sonders ·gefährdeten Hand­ werksgesellen und Lehrburschen, auch es mit innerer Kolonisation versuchen« S. 38. Ueber die Gründe des Scheiterns richtig: >Die Rettungsmittel gehen fast alle von einem starken Unverstllndnis der wahren intellektuellen, politischen und sozialen Nöte der Neuzeit aus; sie nehmen d a s a I t e A u t o r i t ä t s c h r i s t e n t u m u n d d i e a 1 t e m i t d e m S c h e i n g ö t t I i c h e r A u t o r i t ä t b e k I e i d e t e p o l i­ t i s c h e u n d s o z i a I e O r d n u n g a I s s c h I e c h t h i n gegeben und selbst­ verständlich hin . . . Sie vermögen vor allem der modernen Emanzipationsbewe­ gung kein großes, positives Ziel gegenüberzustellen, in dem das tiefere Sehnen der neueren Zeit sich selbst zu finden vermöchte« S. 39. Ueberdies geht aber auch das kirchliche Luthertum gar nicht auf diese ihm schon revolutionär dünken­ den Vorschläge ein. >Es ist die Tragik von Wicherns Leben, daß seine ganze Be­ geisterung und Liebeskraft sich an dieser festen lutherischen Tradition gebrochen haben. Neben der lutherischen Kirchlichkeit war das größte Hindernis . . die po­ litische Reaktion und gerade dadurch, daß sie die innere Mission begünstigte«. S, 48. Wiehern hat sich dieser politischen Ausschlachtung vergebens zu erwehren versucht S. 49. 291) Vgl. Göhre, Evangelisch-soziale Bewegung 1896. Hier ist besonders inter­ essant der Nachweis, wie in Rud. Todt und seinem Zentralverein das Luthertum, von der Erkenntnis der neuen Lage völlig überwältigt , ganz irre an sich selber wird, der neuen Zeit eine prinzipiell neue Sozialtheorie gegenüberstellen zu müssen glaubt und diese vom Sozialismus und der Bergpredigt sich diktieren läßt. Doch behielt auch Todts Staatssozialismus stark patriarchalische und konservative Züge. Stöckers Arbeit hat diese letztere Doppeltendenz noch stärker herausgearbeitet und schließ­ lich die sozialreformerischen Tendenzen den mittelständisch-patriarchalisch-hochkirch­ lichen geopfert; Göhre 107, In dieser Richtung bewegt sich Stöckers Erbin die >Kirchlich-Soziale Konferenz« weiter. Das gleiche Doppelgesicht tragen die evan­ gelischen Arbeitervereine, Göhre S. 116 und 125. Die Ursache davon sind aber

59 2

III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

heutigen Tage über die erneuerte Karität hinaus zu keiner So­ zialgestaltung von seiten der lutherischen Kirche gekommen.

Die

meisten wiederholen die alte Lehre von der Innerlichkeit der Kirche und der dem Staat zu befehlenden Aeußerlichkeit aller Rechts- und Wohlfahrtsfragen 292); andere, wie die Christlich-So­ zialen Naumannscher Art, verlassen überhaupt die Grundsätze des Luthertums und sehen sich genötigt,

auf die allgemeinen poli­

tischen,

wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der heutigen Gesellschaft zurückzugehen 298); wieder andere, wie die Männer des nicht bloß politische Machtverhältnisse, sondern auch die nachwirkende Macht der alten Tradition lutherischer Ethik. 292) So z. B. der frühere hannöversche Kirchenleiter Uhlhorn, Kath, und Prot . Er will in Berufung auf die Tradition des Luthertums und in scharfem Gegensatz gegen die Stöckerschen Veränderungen des lutherischen Geistes die Kirche ledig­ lich mit der Predigt des Wortes beschäftigt wissen und bezeichnet als soziale Lei­ stungen der Kirche: 1, die Wiederbetonung der Ehre der Arbeit, wo die moderne Fabrikarbeit ebenso wie in der alten Kirche die Sklaverei christlich geadelt werden könne; 2. die Predigt eines den unendlichen Wert jeder Christenseele würdigenden Patriarchalismus an die Herren; 3. Sonntagsheiligung, Kirchenbauten, neue Pfarr­ stellen; 4. Schaffung kleinerer und lebendigerer Gemeinden; 5. Verkirchlichung der wild wuchernden, pietistisch und katholisch gefärbten Karität zu einer Aufgabe der Ge. meindearmenpflege. Im übrigen soll aber die Kirche Gottes Wort lediglich auf den Leuchter stellen, sodaß »christliche« Staatsmänner, Juristen, Nationalökonomen, Par­ lamentarier, Fabrikanten, Bankiers und Arbeiterc dann frei nach ihrer sachkundigen Einsicht die Sozialreform bewirken können. Der Kirche ist derartiges nicht be­ fohlen: >Ihr ist nur befohlen, was die inneren Güter, Gerechtigkeit, Friede und heiligen Geist angeht, und diese Güter sind zu gewinnen, wie auch immer die äußere Lage der Menschen istc S. 44, Dabei ist dann vorausgesetzt, daß jene christ­ lichen Staatsmänner etc, auch eine dem christlichen Ideal des Luthertums entspre­ chende Sozialgestaltung finden werden und daß die von ihnen gefundene keinerlei auflösende oder verändernde Rückwirkung auf das lutherische Dogma und seine Ethik haben könne 1 _- Weniger unbesorgt in dieser Hinsicht ist Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage 3, 1904; er verlangt daher eine hochkirchliche Steigerung der Selbständigkeit und Macht der Kirche und gibt den ,christlichen« Staatsmännern usw. einige Winke, auf welche Voraussetzungen sie ihr Denken und Handeln zu begründen haben, 293) Vgl. Wenck, Gesch, d. Nationalsozialen 1905. Naumann vollzog den Weg von der Karität zur christlichen Sozialreform und von dieser zur allgemein politisch und wirtschaftlich begründeten Sozialgestaltung, die von religiösen Ideen aus nicht direkt bewirkt werden kann, und gab damit das religiöse Element seiner beschränkteren Sphäre wieder zurück. Damit kommt er wieder zur Tradition des Luthertums, aber mit der wichtigen Veränderung, daß er eine der ethischen Grundidee des Luther­ tums stark widersprechende allgemeine Sozialgestaltung fordert, von der aus dann

Sozialpolitik, Sozialreform und Karität.

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evangelisch- sozialen Kongresses debattieren in der Erkenntnis der gründlich veränderten Lage von verschiedenen Standpunk­ ten aus über die Möglichkeit neuer Wege 294). Da, wo das alte Luthertum noch wirklich eine Macht ist, bei den Konser­ vativen, besteht alle Sozialreform in der Brechung des ratio­ nalistisch - individualistischen Wesens der modernen Gesellschaft und in der Wiederbelebung einer ständisch gebundenen, aristo­ kratisch gegliederten Gesellschaft , d. h. im Kampf gegen die liberale Weltanschauung und gegen die liberalen Schöpfungen auf dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gebiete, wo­ neben dann an Armen und Kranken die »innere Mission« das Werk der Karität verrichten kann, jedoch vor jeder Erschütte­ rung des Autoritätsgedankens sich hüten muß 295). In diesen auch naturgemäß eine kritische und auflösende Rückwirkung auf das lutherische Dogma und seine Ethik ausgehen mußte, wie seine ,Briefe über Religion« be­ zeugen. Im übrigen betont er nun wieder zunehmend die indirekte Bedeutung des religiösen Elementes für Freiheit und Wert der Persönlichkeit gegenüber dem zu erwartenden Druck eines bureaukratisierten Kapitalismus. 29') Vgl. die Protokolle des Ev.-soz. Kongresses seit 1890, bes. den Vortrag von P. Drews auf dem letzten Kongresse 1909; im übrigen Göhre 135-162. Der Kongreß ist mit dem Ausscheiden Stöckers und mit dem Abrücken von den Kon­ servativen immer mehr zu einer Aufrollung aller theoretisch und praktisch bedeut­ samen Grundfragen der Ethik des Luthertums geworden, was sich auch dann kund­ gibt, daß seine Leitung in die Hand des Führers der fortschrittlichen protestanti­ schen Theologie, Adolf Harnacks, übergegangen ist. Die aus den Protokollen zu verfolgende Gedankenentwickelung des freien, allmählich der Ethik mehr als der Dogmatik zugewandten Protestantismus ist überaus lehrreich und anziehend. Nur handelt es sich hier erst um die ersten Anfänge einer Neustellung der Probleme, hinter der die wissenschaftliche Ethik des modernen Protestantismus sehr zögernd einhergeht und die mit ihrem Ernst nur sehr kleine Kreise wirklich bewegt. Allein wo hat man heute überhaupt eine wirklich tiefgreifende Sozialethik ? 295) Vgl. hierzu Elisabeth v. Richthafen, Ueber die historischen Wandlungen in der Stellung der autoritären Parteien zur Arbeiterschutzgesetzgebung und die Mo­ tive dieser Wandlungen, Heidelberger Diss. 1901; hier S. 72: ,Der Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft, der zuerst (d. h. bei den Anhängern der christlich-sozialen Partei) zu einer Begünstigung des Arbeiterstandes gegenüber seinen ,kapitalistischen Ausbeutern« zu führen schien, hat schließlich unter der Wirkung der ,Leutenotc geradezu eine Abneigung gegen Maßnahmen zur Verbes­ serung der Lage der Industriearbeiter gezeitigt . . . Die Konservativen haben in der Sozialpolitik auf jegliche Initiative verzichtet und sich auf den Standpunkt einer rein agrarischen Interessenvertretung zurückgezogen. Traditionelle Anschauungen und gesellschaftliche Beziehungen verbanden sie mit denjenigen Industriellen, die T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Der Protestantismus,

2. Das Luthertum.

Grenzen hat die innere Mission dann allerdings sehr großartiges geleistet, doch überwiegt in ihr das Propaganda- und Bekehrungs­ interesse entschieden über das christlich-soziale 295 a). Damit ist das Bild des Luthertums vollendet. Es läßt sich nun auch die Schlußfrage beantworten, w i e w e i t d i e s e S o­ z i a 11 e h r e n d a s S p i e g e 1 b i 1 d g e g e b e n e r p o 1 i t i­ s c h e r u n d s o z i a 1 e r Z u s t ä n d e s i n d. Man wird dies für das eigentliche ihnen vorschwebende Ideal rundweg verneinen müssen. Die Soziallehren des Luthertums sind, wie die ganze lutheri­ sche Religiosität, ein echter Schößling der ganzen, Welt, Recht, Besitz, Macht und Gewalt ablehnenden oder indifferenten christlichen Liebesreligion und Liebesmoral, des Monotheismus, der die reli­ giösen Lebenszwecke der gottgeeinigten Persönlichkeit für die einzigen wahren und bleibenden Lebenswerte erklärt und daraus die Liebesverbindung der Menschen in gemeinsamer Betätigung dieser Werte ableitet. Der Protestantismus hat allerdings noch weit mehr als der Katholizismus das innerweltliche Leben rezipiert und ist insoferne ähnlich wie dieser bestimmt durch die allgemeine soziale Entwickelung, die eine solche Berücksichtigung gebieterisch erzwang und noch in einer Verfassung sich befand, bei der sie ohne besondere Schwierigkeiten möglich war. Allein er hat dabei sorg­ fältig die Doppelseitigkeit des christlichen Ideals auseinandergehal­ ten, die durch diese Konzeption entsteht und bei ihm gegenüber dem eine patriarchalisch-herrschaftliche Arbeitsverfassung soweit wie irgend möglich auf­ recht erhalten wollen, eine solche allein entspricht dem von ihnen vertretenen au­ toritären Prinzip.« Vgl. auch Stillich, das Kapitel >Die Gesellschaftsauffassung der Konservativen«. Immerhin steckt dahinter eine Würdigung der ethischen Prinzipien des Gehorsams und der Autorität auf Grund des prinzipiellen Satzes von der we­ senhaften Ungleichheit der Menschen, die nicht bloß durch Klasseninteressen dik­ tiert ist, sondern die mit allen christlichen und lutherischen Fundamentalsätzen zu­ sammenhängt; s. die Stellen bei Stillich S. 164-167. Es ist hier überall die Eigentümlichkeit des lutherischen Naturrechts, an der Natur die Ungleichheiten und die einer idealen Ordnung entgegenstehenden Hemmungen zu betonen, daraus ethische Werte des Gehorsams und der Fürsorge abzuleiten, statt sie direkt und re­ formierend durch ethischen Idealismus überwinden und aufheben zu wollen, sicher eine ernste ethische Frage, an deren Würdigung man sich nicht durch klassen­ kämpferische Ausnützungen des Prinzips verhindern lassen darf. Das Gleichheits­ problem bildet in der Tat einen der dunkelsten und schwierigsten Punkte in den modernen Soziallehren liberaler und sozialistischer Art. 296a) Vgl. Schäfer, Leitfaden der inneren Mission8 1893 und Uhlhorn, Liebes­ tätigkeit.

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Einfluß der politisch-sozialen Zeitlage auf das Luthertum,

Katholizismus sowohl verinnerlicht als verschärft worden ist. Indem er entgegen der Zeitstimmung gerade die korporativ-ständischen, antikapitalistisch-agrarischen und mittelständischen Lebensformen samt einem auf Autorität und Pietät begründeten Patriarchalismus als die richtige Vermittelung beider Seiten festhielt, zog er seine Folgerungen aus dem ethisch-religiösen Ideal, nicht aus den herr­ schenden Zuständen. Ueberlegt man Luthers ideale Entwürfe und seine bitteren Klagen über die Unchristlichkeit auch der neuen evangelischen Welt, so hat man sehr viel mehr den Eindruck einer christlichen Utopie als den einer Rechtfertigung und Verklärung gegebener Zustände, und nicht ohne Grund hat einer der feinsten und originellsten Köpfe des Luthertums, J. V. Andreä, dessen Sozialideal in Nachahmung des Thomas Morus und Campanella in einer Utopie, genannt Christianopolis, beschrieben 296). Wo die Soziallehren des Luthertums lediglich als religiöse Bestätigung der gegebenen Verhältnisse behandelt werden, wie dies bei der Orthodoxie oft der Fall ist, da ist es eine Abstumpfung und Ver­ flachung des lutherischen Gedankens, gegen welchen der Grund­ trieb der eigentlich lutherischen Ethik in den Mystikern und Spiri­ tualisten, in den ethischen Reformatoren und schließlich in den Pieti­ sten lebhaft reagiert; dabei verlor freilich diese Opposition ihrerseits dann oft die Orientierung an den echten lutherischen Grundgedanken und geriet in das andere asketische Extrem. Das gleiche gilt von den in modernen Darlegungen beliebten Verherrlichungen von Lu­ thers Berufslehre, in der man eine religiöse Weihe und Anerkennung der modernen Kultur zu sehen pflegt. Das ist nur dann keine Gedan­ kenlosigkeit, wenn man die moderne Kultur wesentlich als anti­ katholische Freiheit von Hierarchie und Mönchtum und im üb­ rigen als konservativ-mittelständische Fesselung oder Milderung der modernen Lebensbewegung ansieht 297). 296) Vgl. Job. Val. Andreae, Reipublicae Christianopolitanae descriptio, Straß­ burg 1619. Der Geist des Ganzen ist entschieden lutherisch. Der Kommunismus bei sorgfältig aufrechterhaltener Privatwirtschaft und die aristokratische Verfassung sind aus den humanistischen Utopien übernommen, aber mit den Prinzipien des Luthertums ausgeglichen ; vgl. dazu E. Ehrhardt, Un roman social protestant au 17eme siecle, Paris, Fischbacher 1908. 297) Eine solche Verherrlichung der protestantischen Berufsidee in den einfluß­ reichen Werken von A, Ritschl, Gesch. d, Pietismus, und Uhlhorn, Gesch. d. christ­ lichen Liebestätigkeit, und Ders., Prot. und Kath. Hier erscheinen die kritischen, das Luthertum zum Weltgegensatz zurückrufenden Stimmen des 16, und 17. Jahr­ hunderts als katholisch-asketische und - was bei beiden identisch ist - als sek-

38 *

III, Der Protestantismus,

2, Das Luthertum.

Die religiös-ethischen Ideen des Luthertums sind keine Ver­ göttlichung und Verfestigung bestimmter Klassen- und Machtin­ teressen durch eine ihnen substruierte Weltanschauung. Vielleicht aber könnte das gelten von dem eigentümlichen irrationalistischen Naturrecht, mit dem das Luthertum die gegebenen Machtverhält­ nisse anerkannte und als von Gott mit der Sünde und Ungleich­ heit zusammen geordnete unabänderliche Lebensbedingungen kon­ struierte, in welche der innerlich dadurch ungebundene Geist äußerlich sich arbeitend und duldend ergibt. Aber auch hier liegen die Gründe, wenigstens im Ursprung und bei Luther selbst, nicht in irgend einem Klasseninteresse, sondern in der autoritativ­ konservativen Beanlagung Luthers selbst und in seiner eigentüm­ lich scharfsichtigen Auffassung des Wesens der Gewalt und der Macht, sowie der wesenhaften Ungleichheit als der alle mensch­ lichen Sozialbildungen bestimmenden Grundelemente. Er führt darin nur die patriarchalische Seite des scholastischen Natur­ rechts 298) unter Abstoßung der individualistisch-rationalistischen Elemente fort. Er hat sie um dessenwillen aber auch als direkt unchristlich und aus der Sünde entspringend bezeichnet und sie nur unter dem Eindruck ihrer Unabänderlichkeit und Unentbehr­ lichkeit als göttliche Stiftung innerhalb der sündigen Vernunft anerkannt. Mit seiner eigentlich christlichen Idee hat er dieses Naturrecht nur durch die Stimmung der Demut, des Gottvertenhafte Rückfälle, die dann im Pietismus vollendet worden seien, Das ist aber eine Verkennung der dualistischen Elemente in Luthers eigenster Lehre. - Daß beide ,die Kulturdurchdringung« wesentlich in konservativ-antimodernem Sinne denken, zeigt Uhlhorn, Prot. und Kath., wo er die Arbeiterfrage zu behandeln rät, wie Paulus das Sklavereiproblem S. 46, und Ritschl, der in seiner Göttinger Jubi­ läumsrede (Drei akademische Reden 1887) Liberalismus, Sozialdemokratie und ka­ tholische Gesellschaftslehre auf die gemeinsame Wurzel des individualistischen Ra­ tionalismus zurückführte, während er für das Luthertum eine historistisck-antiratio­ nalistische Begründung der Gesellschaft auf Macht und Gewalt reklamierte etwa im Sinne Heinrich von Treitschkes und die Ausfüllung der so geschaffenen Lebens­ verhältnisse mit Gottvertrauen und Berufstreue für die anti-mittelalterliche moderne Kultur erklärte; das führt dann zur Einsicht in die »konservative Aufgabe des geschichtlich verstandenen Staates« S. 61. Aehnlich ist es gemeint, wenn bei Loofs, L.s Stellung, Luther als Ueberwinder des Mittelalters und Begründer der modernen Welt erscheint; die »moderne Welt« von Loofs ist etwa preußisch­ freikonservativ oder rechts-nationalliberal. 298) Vgl. oben S. 297-300,

Einfluß der politisch-sozialen Zeitlage auf das Luthertum.

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trauens, der Leidensbereitschaft und der Strafwürdigkeit des erb­ sündigen Menschen verbunden. Wenn dann später dieses Natur­ recht einfach zur Rechtfertigung des Gegebenen benutzt wurde und wenn die heutigen Haupterben lutherischen Geistes, die Kon­ servativen, dieses Naturrecht zu einem mit Darwins Selektions­ lehre und Nietzsches Herrenmoral sich berührenden aristokratischen Naturalismus ausgebaut haben, so sind das freilich Anwendungen des Gedankens im politischen und sozialen Machtinteresse, bei denen ihr Gegensatz gegen die eigentlich christlichen Ideen und ihr Klassenzusammenhang flagrant sind. Immerhin kommt auch hier dieser Gegensatz den meisten nicht zum Bewußtsein, indem sie die Un­ christlichkeit jener Prinzipien mit der durch die Sünde geschaffenen Lage begründen und sie daher nicht bloß trotz ihrer Unchristlichkeit festhalten, sondern als gottgewollte Folgen der Ungleichheit und Re­ pressionsmittel gegen das individualistisch-atomistische Böse gebrau­ chen zu müssen überzeugt sind 29 9). Ueberdies liegen in dieser Theorie unzweifelhaft richtige Betrachtungen der >Natur« des Menschen und enthält sie nicht minder unbestreitbare ethische Werte in dem Gehorsams- und Autoritätsgedanken wie in dem Patriarchalismus selbst 299•). Die letzte Ursache ist also auch hier die alte ideologische Grundlage, die erst heute den Interessen so kenntlich dienstbar gemacht und mit ihnen nun freilich zu recht unreinen Mischungen verbunden wird. Schwieriger zu beantworten ist die umgekehrte Frage nach dem E i n f 1 u ß, d e n s e i n e r s e i t s d a s L u t h e r t u m a u f d i e S o z i a 1 g e s c h i c h t e g e h a b t h a t. Hier ist von vorne­ herein zu unterscheiden zwischen den Wirkungen seines verinner­ lichten Individualismus, der sich in der geistigen und ethischen 299) Vgl. die zahlreichen Belege aus der modernen konservativen Literatur bei Stillich S. 30-50. 299") Für diese Sonderart des lutherischen Naturrechtes gegenüber dem katho­ lischen (und calvinistischen) hat Ritschls Jubiläumsrede ein richtiges Gefühl. Rich­ tig wird auch dort die katholische, liberale, sozialistische (und calvinistische) Idee mit dem griechischen Rationalismus in Verbindung gebracht, wenn auch sonst die Vorstellungen von der Geschichte der christlichen Soziallehren sehr unklare sind. Zu bemerken ist aber, daß schon die griechische Spekulation jenen Unterschied vorgebildet hatte und neben dem rationalistisch-individualistischen das antiratio­ nalistisch-positivistische Naturrecht lehrte, vgl. Hirzel, N6p.O\; dypoc(j)o, Abhh. d. Sächs. Ak. 1900; auch Kärst, Entstehung der Vertragstheorie, Z. f. wiss. Politik 1909, s. 524-528,

III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

Entwickelung der deutschen Kultur bis auf Kant und Goethe un­ zweifelhaft kundgibt, und der sich vor allem in der Auffassung und Gestaltung der Familie auch organisatorisch niedergeschlagen hat, und zwischen den Wirkungen auf dem Gebiet der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen 300). Hier kommen we­ sentlich die letzteren in Betracht. 300) Ueber die allgemeinen Kulturwirkungen s. Arnold Berger, Die Kulturauf­ gaben der Reformation, und desselben Luther. Ueber die Doppelrichtung der Wirkung s. die Aeußerung des gut protestantischen Historikers H. Baumgarten in seiner be­ rühmten Selbstkritik des Liberalismus (Preuß. Jahrbb. 1866): ,Die ganz auf den inneren Menschen gerichtete Art Luthers gab dieser Einseitigkeit unseres Wesens auf Jahrhunderte die unbedingte Herrschaft . . . Auch unsere lutherischen Fürsten hatten eine Politik und zwar eine ganz neue bis dahin nie gesehene Politik . • . : die Politik der moralischen Bedenken, der hausväterlichen Gewissenhaftigkeit, der Tüchtigkeit im Kleinen und der Ohnmacht im Großen, des emsigen Fleißes im engeren Kreise und der bornierten Trägheit, wo Großes auf dem Spiele stand. Diese Politik hat das solide Bürgertum unserer Städte, das behäbige Gedeihen un­ serer Dörfer, die Blüte unserer Schulen und Universitäten, den gewissenhaften Fleiß unserer Amtsstuben, den Ernst unserer Wissenschaft, die Reinheit unseres Familienlebens begründet und gefördert, sie hat geschaffen oder doch ausgebildet Alles, worauf wir stolz sein können, was unser häusliches, privates, ökonomisches, Glück ausmacht. Sie hat aber auch geschaffen jene erbärmliche Kleinstaaterei, welche nur Raum gewährt für den Familienvater, aber den Mann, den Bürger tötet, jenes armselige Philistertum, das die Kraft unseres Volkes in Banden schlägt jene traurige Gewöhnung unseres Geistes, in den kühnsten Phantasien den Himmel zu stürmen und vor den kleinsten Hindernissen der Erde die Arme mutlos sinken zu lassen. Sie hat dem Staat das männerbildende Mark ausgesogen und ihn so­ zusagen in einen Kleinkindergarten verwandelt, der uns vor allen Fährlichkeiten, aber auch aller Größe der bösen Welt bewahrt hat« S. 456. Mit diesem Ueber­ maß lutherischer Innerlichkeit bringt Baumgarten dann auch die Staatslosigkeit und den Kosmopolitismus unserer klassischen Literatur und Philosophie in Verbindung. Und in der Tat hängt das mit der einen, der spezifisch christlichen, Seite Luthers zusammen. Die Sache hat aber doch auch ihre andere Seite. Auch der von Baumgarten in seiner realistischen Größe bewunderte und dem entgegengesetzte Bismarck berief sich auf das Luthertum. Das ist dann aber allerdings nicht das eigentlich Christliche in Luther , sondern sein irrationalistisches Naturrecht der Macht und Gewalt, das in den ersten beiden Jahrhunderten freilich nur der Legi­ timierung der Gewalt diente, aber bei der Emporraffung Preußens gegen den Libera­ lismus und die Revolution von Stahl hervorgeholt und glänzend entwickelt wurde; es dient seitdem in seiner Verbindung mit dem christlichen Gedanken der Sünde und der Ungleichheit (auf nichtreligiösem Gebiet) einer höchst realistischen Macht­ und Gewaltpolitik, die dem Christen als amtlichem Glied der durch die Sünde be-

Einfluß des Luthertums auf Staat und Gesellschaft.

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Man wird hier folgendes sagen können. An sich ist die spät­ mittelalterliche Tendenz der Entwickelung des Staates und die all­ gemeine soziale Schichtung durch es nicht verändert worden. Hier hat nur der Wegfall des Priesterstandes und seine Ersetzung durch den evangelischen Pfarrstand sowie die Beseitigung der kirchlichen Oberleitung und die an deren Stelle tretende rein staatliche Leitung das Bild verändert ; auch die Säkularisationen und die Beseitigung des Mönchtums sind tief einschneidende Aen­ derungen, aber keine Eröffnungen neuer sozialer Entwickelungen. Einen weiteren Eingriff in die soziale Schichtung bedeutet das Aufkommen einer lateinisch-humanistischen Bildungsschicht, die durch den lehrhaften Charakter der neuen Religion und ihre enge Verbindung mit dem Schulwesen begünstigt ist; doch ist dies mehr eine Wirkung des mit der Reform verbundenen Humanis­ mus als des religiösen Geistes selbst 801). Mehr aus dem Zentrum gehen die politischen Wirkungen hervor. Nicht als ob das Luthertum eine neue Staatsidee entfaltet oder gar einen neuen Staat geschaffen hätte; aber es stellte dem in der Entwickelung begriffenen zentralisierten Territorialstaat in seiner Beseitigung jeder kirchlichen Selbständigkeit, in seiner Vergöttlichung der Obrig­ keit und in seiner loyalen Leidsamkeit die allergünstigsten Be­ dingungen. Es hat dem territorialen Absolutismus den Weg ge­ ebnet; den feudalen Gutsherrschaften die Entwickelung des Ritter­ gutes mit seinen Privilegien und seiner zunehmenden neuen Hö­ rigkeit erleichtert 802), die patriarchalische Bevormundung und die dingten Ordnungen die Entfaltung aller Konsequenzen des naturalistischen Macht­ gedankens verstattet. So hat namentlich H. v. Treitschke das Luthertum darge­ stellt. Dabei ist dann ähnlich wie bei Bismarck und anderen modernen Konser­ vativen freilich der Machtgedanke oft Selbstzweck geworden, die Verpflichtung der staatlichen Macht, für die Christlichkeit der Gesellschaft zu sorgen in den Hinter­ grund gestellt und die Zusammenwirkung der realistischen Machtpolitik mit dem religiösen Lebensziel mehr ganz im allgemeinen der Vorsehung überlassen worden, die nun einmal die Menschen so eingerichtet hat ; vgl. Lenz, Bismarcks Religion. Die deutsche Sozialgesetzgebung ist daher auch nicht mehr der Ausfluß einer prin­ zipiell christlichen Auffassung vom Staate, sondern eine gelegentliche Benützung christlicher Ideen für an sich politische Zwecke, wo einmal das an sich Getrennte glücklicherweise zusammenstimmt. 801) Vgl. Wittich, Deutsche und französische Kultur im Elsaß 1900, eine weit über ihr engeres Thema hinausreichende Arbeit. 802) Hierüber s. die eingehenden Nachweise bei Drews, Der Einfluß der ge­ sellschaftlichen Zustände. Durch die Forderung kirchlicher Sonderbedienung des Adels

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III. Der Protestantismus.

2. Das Luthertum.

ständisch-korporative Gesinnung befördert. Nach außen freilich hat es durch denselben Geist die Aktionsfähigkeit der Territorien gehemmt und den Stillstand in der Ausbreitung, schließlich die fürchterlichen Niederlagen herbeigeführt. Mit dem eigentlich mo­ dernen Staate hat es nur durch Vermittelung des Absolutismus zu tun, der, einmal in den Sattel gehoben, schließlich stark ge­ nug war, sich seine eigenen modernen Wege zu bahnen und da­ bei die naturrechtliche Friedens-, Schutz- und Strafgewalt, sowie die christliche Liebespflicht der Obrigkeit weit hinter sich ge­ lassen hat. Nicht minder indirekt sind die Wirkungen auf dem wirt­ schaftlichen Gebiet. Hier ist sein eigentlichster Sinn der Traditionalismus und die agrarisch-mittelständische Produktion, die durch korporative Gebundenheit die Konkurrenz ausschließt, die Einfachheit der Bedürfnisse mit der Einfachheit des Verhält­ nisses von Produktion und Konsumtion möglichst verbindet. Indem es gleichzeitig den Bettel beseitigte, die Massen zur Arbeit nö­ tigte, mit seinem Individualismus die Einzelnen doch auch nach der nicht-religiösen Seite anregte und mit seiner - zunächst' frei­ lich nur den Mittelstand erfassenden - Schulbildung eine gewisse Beweglichkeit des Geistes schuf, hat es trotzdem auch einer leb­ hafteren Entfaltung des wirtschaftlichen Lebens gedient. Die Hauptsache aber hat auch hier die Verselbständigung der Obrigkeit getan, die, mit der Wohlfahrtspflege betraut und zur herrschenden Macht emporgehoben, die westlichen Produktionsmethoden ein­ führte und dabei höchstens von einer günstigeren Disposition der lutherischen Bevölkerungen für die Arbeit profitierte. Im übrigen haben nicht umsonst merkantilistische Herrscher überall refor­ mierte oder pietistische Emigranten eingeführt, wo sie Manufaktur und Handel heben wollten. Die moderne Wirtschaft - auch in dem bescheidenen Umfang, den sie in Deutschland bis zum 19. Jahrhundert hatte - ist das Werk des Staates und keine Folge des Luthertums 303). Dieses hat nur geringere Hemmnisse entgegengesetzt als der Katholizismus. wurde geradezu auch die kirchliche Sitte zersetzt unter ohnmächtigem Widerspruch der Kirche. 808) Hierüber Haendtke, Deutsche Kultur im Zeitalter des 30 j. Krieges S. 70 : »Zweifelsohne war damals Deutschland in dieser (wirtschaftlichen) Hinsicht noch stark in mittelalterliche Anschauungen verstrickt; denn in welchem anderen Lande wäre es damals (1684-85) möglich gewesen, daß z. B. die so wichtige Bandmühle

Einfluß des Luthertums auf Staat und Gesellschaft,

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In Bezug auf die sozialen Grundempfindungen und die prinzipielle Auffassung der Gesellschaft schließlich ist das Luthertum immerdar ein Prinzip des Patriarchalismus und des Konservatismus gewesen, teils weil die religiöse Grundstim­ mung des Gottvertrauens und des Mißtrauens gegen menschliches Machen und Treiben, die Sündenempfindung des Leidens und Duldens gegebener Verhältnisse schon an sich zu konservativer Gesinnung geneigt machen, teils weil die Grundlagen der älteren Sozialverfassung mit ihrer ständischen Gliederung und ihrer grös­ seren Einfachheit des Verhältnisses zu den Gottesgaben der Natur von ihm als Voraussetzung seiner ethischen Ideale festgehalten werden. So ist es geneigt, das Gegebene demütig zu dulden, auch wenn es schlecht ist, und das Gegebene zu verherrlichen, wenn es mit jenen älteren Idealen übereinstimmt. Wenn heute im allgemeinen die protestantischen Länder die führenden sind, so ist nicht zu vergessen, daß gerade im konfessionellen Zeitalter die Mutterländer der modernen Zivilisation Italien, Frankreich, auch Spanien, katholisch sind, und daß deren Erschöpfung keines­ wegs nur auf Rechnung ihres Katholizismus kommt, daß also um­ gekehrt auch die protestantischen Länder und insbesondere die lutherischen ihre heutige Stellung jedenfalls nicht in erster Linie ihren religiösen Grundlagen verdanken können, so wichtig diese im einzelnen auch sind 804). Die Leidsamkeit des Luthertums bringt es mit sich, daß es der jeweils herrschenden Macht anheimfällt. Luther antwortete verboten wurde, wie es zu Nürnberg auf Bitten der Posamentierer geschah, oder daß (1666) zu Frankfurt a, M. die Erlaubnis verweigert wurde, einen Webstuhl aufzustellen, wie er 1665 auf der Messe zu Frankfurt zu sehen gewesen war .. , Auch war es wohl sonst unerhört, daß aus der Maschinenfrage ein premier con• fesseur et predicateur de L'Electeur de Saxe fit unc affaire de conscience.« Da­ neben halte man den vielzitierten Satz Uhlhorns, die Maschine habe etwas Pro­ testantisches an sich 1 - Laveleye, Prot. u. Kath. u. deren Beziehungen zur Frei­ heit und Wohlfahrt der Völker, deutsch 1875, handelt zwar vom Protestantismus im allgemeinen, bezieht sich aber in Wahrheit immer nur auf den Calvinismus, Für das Luthertum stimmt unter den von ihm angeführten Gründen nur die ge­ steigerte Intellektualität der Lehr- und Buchreligion. Auf diesem Gebiet bedarf es noch sehr der genaueren Untersuchungen. 804) Vgl. zum Ganzen Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Ent­ stehung der modernen Welt 1906 (s. auch Hist. Zeitschrift 1905). Die Ablösung der allgemeinen Kultur von den spezifisch lutherischen Voraussetzungen bei Beibe­ haltung ihrer Formeln zeigt Haendtke,

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III. Protestantismus.

2. Das Luthertum.

auf die Frage, ob diese Gesinnung den Christen nicht zur Beute jedes Schurken und Gewaltmenschen machen müsse, lediglich, daß es Aufgabe der Obrigkeit sei., dies zu verhindern, und daß man im Falle ihres Versagens allerdings leiden müsse. So hat das Luthertum den Einfluß der herrschenden Mächte überall er­ litten. Die Weichheit seiner ganz innerlichen Spiritualität schmiegte sich den jeweils herrschenden Gewalten an. Das heißt aber, daß es nach deren Verschiedenheit auch seinerseits sich sehr verschie­ den gestaltete. Von einer prinzipiell monarchischen oder absolu­ tistischen Tendenz ist bei ihm nicht die Rede 305). Das ist erst die Erfindung der modernen Konservativen. Nur weil in Mittel­ und Norddeutschland der Absolutismus und das Rittergut auf­ stand, hat es dort den loyalen Charakter entwickelt, der das »Ostelbiertum« charakterisiert. In den Reichsstädten hat es ari­ stokratisch-republikanische Herrschaft vergöttlicht. In Württem­ berg, wo es keinen entsprechenden Adel gab, hat es bei aller Hoch­ stellung des Landesherrn bürgerlich und bäuerlich demokratische Ideen nicht verhindert, sondern sogar mit sich verschmolzen. In dem militärischen Nationalstaat Schweden hat es die großzügige Angriffspolitik Gustav Adolfs und in den ständischen Gegensätzen der österreichischen Lande hat es die Erhebung des lutherischen Adels zu rechtfertigen gewußt 306), in Dänemark und Norwegen ist eine wurzelfeste bäuerliche Demokratie heute aufs engste mit strammem, allerdings pietistisch gefärbtem Luthertum verbunden, und in Amerika blüht das denkbar orthodoxeste Luthertum unter dem Schutz der Demokratie. Das aber wird man allerdings nicht verkennen dürfen, daß es seinem ganzen Wesen nach sich am leichtesten verbindet mit politischen Verhältnissen von monarchisch-aristokratischer Art und 305) Vgl. Brandenburg S. 18, Auf die Frage, warum Gott so verschiedenartige Obrigkeiten geschaffen habe, ant wortete Luther: »Ist Gott schuldig, daß er solchen unnützen Mäulern Ursach und Rechenschaft gebe, warum ers so haben will?« Ein so radikales monarchisches Gottesgnadentum, wie es die von Gierke (Atthusius 2 S. 70 ff.) analysierte Schrift des Schlesiers Horn, »Politicorum pars architectonica de civitate, Traj. a, Rh. 1664 lehrt, ist nicht genuin lutherisch, sondern aus dem Gegensatz gegen die reformierte Vertragslehre erwachsen und von der Gedanken­ welt des fürstlichen Absolutismus erfüllt. 808) So hat z. B. Bernhard v, Weimar seine Condottierenwesen als »fürstlichen Berufe religiös zu rechtfertigen gewußt, Händtke S. 19. Gustav Adolf war poli­ tisch ein Verehrer des ganz unlutherischen Hugo Grotius, dessen Hauptwerk er beständig bei sich führte; H. G., Recht des Krieges und Friedens, Phil. Bibl. 15, S. 8.

Soziale und politische Bedeutung des Luthertums für die Gegenwart,

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mit einer wirtschaftlich-sozialen Gesamtlage von agrarisch-mittel­ ständischer Beschaffenheit. Daher hat es sich den stärksten Aus­ druck geschaffen in Politik und Weltanschauung der preußischen und deutschen Konservativen, in denen es heute noch die Ge­ schicke des deutschen Volkes mitbestimmt. In der großen Angriffs­ stellueg, welche nach der Auswirkung des 18. Jahrhunderts in der französischenRevolution die älteren Geistesmächte gegen die moderne Welt wieder einnahmen und in der sie unter Vereinigung ideo­ logischer und praktischer politisch-sozialer Mächte siegreich gegen die neue Welt vorrückten, ist die Restauration des preußisch­ deutschen Luthertums eines der sozialgeschichtlich wichtigsten Ereignisse 807). Es verband sich mit der Reaktion des monar807)

In Bezug auf die ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge der großen europäischen Restauration fehlt es noch an jeder in die eigentliche Tiefe eindringenden und den Gegensatz gegen die moderne Welt herausarbeitenden Dar­ stellung. Die Kirchengeschichten insbesondere, die hier viel zu sagen hätten, las­ sen völlig im Stich. Sie verherrlichen entweder die Wiedererstehung des neuen Glaubens, die ihnen etwas Selbstverständliches ist gegenüber der sündigen Bosheit der modernen Welt, oder sie beklagen die Zerstörung aller Reformansätze, die ihnen das Werk reaktionärer Politik und Selbstsucht ist. Tiefere Auffassung fin­ det man in dem an sich einem anderen Thema gewidmeten glänzenden Buch von Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat 1908, das neben dem meist allein ge­ würdigten liberalen Zweige vor allem die Linien zeichnet, >die von Stein zu Friedrich Wilhelm IV. gehen, also den romantisch-konservativen Zweig der nationalstaatlichen Gedanken« S. 19. Hier auch das Wiederemporsteigen des irrationalistischen po­ sitivistischen Naturrechts bei Burke 126 ff., bei Adam Müller 128, bei K. L, v. Haller 212 f. und die religiöse Deutung des Naturrechts als von Gott im Ent­ wicklungsprozeß geleiteter natürlicher Vernunft 2II, das Festhalten dieser Ent­ wicklung bei den mit den christlich-patriarchalisch-aristokratischen Lebensformen gegebenen und moralisch zu fordernden anti-revolutionären Zuständen 217, die Berührung mit dem darwinistischen Naturalismus ohne lrrewerden an der religiösen Deutung 212 , die Zusammenfassung dieser christlich-realistischen Politik gegen die revolutionär-doktrinäre in einer christlichen Universalpolitik, einem neuen Katholizismus 221, der Uebergang dieser Ideen in die pietistisch­ lutherischen Kreise und die Wiedererweckung der alten lutherischen Soziologie un­ ter Kompromiß mit der modernen Nationalitätsidee und unter Zuspitzung auf den monarchistischen Legitimismus 226-232, die komplizierte Mischung dieser Ge­ danken 245-291, die Herausentwicklung Bismarcks aus diesen Theorien 300-315. Nur ist das alles zu sehr unter die Firma >Romantik« gestellt, während in Wahr­ heit die Romantik bloß die Zuleitung zu den alten kirchlich-soziologischen Ideen bedeutet und von da ab neben der nationalistischen und der philosophisch-weltbür­ gerlichen auch die christlich-kirchliche Soziologie ihre Rolle spielt und nach dem

III. Protestantismus.

2. Das Luthertum,

chischen Gedankens, des agrarischen Patriarchalismus, der mili­ tärischen Machtinstinkte, gab der Restauration den ideellen und ethischen Rückhalt, wurde darum wieder von den sozial und po­ litisch reaktionären Mächten mit allen Gewaltmitteln gestützt, heiligte den realistischen Machtsinn und die dem preußischen Militarismus unentbehrlichen ethischen Tugenden des Gehorsams, der Pietät und des Autoritätsgefühls. So wurde Christentum und konservative Staatsgesinnung identisch, verschwisterten sich Gläu­ bigkeit und realistischer Machtsinn , reine Lehre und Verherr­ lichung des Krieges und des Herrenstandpunktes. So wurden die kirchlichen Reformbestrebungen gleichzeitig mit der liberalen Ideenwelt unterdrückt, die Anhänger der modernen sozialen und geistigen Tendenzen in eine schroffe Kirchenfeindschaft hinein­ getrieben und dem gegenüber dann alle christlich und religiös Fühlenden für den Konservatismus in Beschlag genommen. Als wesentliches Element in den Kräften der Restauration hat es seinen wichtigen Anteil an der aus den restaurativen Kräften hervorgegangenen politisch - militärischen Entwicklung Preußen.­ Deutschlands und findet es sich in schroffstem Gegensatz zu den andern Elementen, die an der Entstehung des neuen Deutschland gearbeitet haben, den demokratisch-unitarischen und modern­ sozialen und wirtschaftlichen Bewegungen. In dieser letzteren Hinsicht steht es - mit der verwandten und doch wieder sehr andersartigen internationalen katholischen Restaurationspolitik sich bald freundlich bald feindlich berührend - in dem Schlüssel­ punkt der schwierigsten und verhängnisvollsten Lebensfragen Deutschlands und trägt das Seinige bei zu der Aufreißung der Kluft zwischen restaurativ - patriarchalischen und fortschrittlich­ demokratischen Kräften, in welcher alle gemäßigten Vermitte­ lungsversuche versinken und die mit einem christlich-sozialem Programm überbrücken zu wollen in Deutschland ein idealistischer und ehrenwerter, aber flüchtiger und rasch widerlegter Traum war. Siege des Bismarckschen Nationalismus heute wieder in völlig unromantischer Weise und in Verbindung mit bestimmten Interessen die Lage zu beherrschen sucht. Wenn diese Romantik sich zunächst dem Katholizismus zuwandte, so ge­ schah es übrigens deshalb, weil er zunächst allein die Autorität und Interna­ tionalität darbot, die zur Gegenwirkung gegen die Aufklärung nötig schien, während die lutherischen Kirchen in ihrer aufgeklärten Theologie und ihrer Staatsabhängig­ keit dazu zunächst untauglich waren. Seitdem sie in dieser Hinsicht sich verselb­ stäl\digt und organisiert haben, sind sie und nicht der starke liberale Elemente einschließende Katholizismus der eigentliche Hort des Konservatismus,

Vorläufige Charakteristik des Calvinismus.

6o5

Die Traditionen und die geistige Verfassung des Luthertums boten bei den Hauptmassen der gläubigen Welt in Deutschland hierfür keinen Boden, und umgekehrt machte der in jener Kon­ stellation erzeugte grenzenlose Haß aller fortschrittlich-demokrati­ schen Elemente gegen die Kirche auch bei diesen jede An­ knüpfung unmöglich. So sind die Leistungen des Luthertums für einen ethisch - sozialen Neubau der Gesellschaft naturgemäß sehr beschränkt. Sie erschöpfen sich in der Hauptsache in der Karität der inneren Mission und wirken im übrigen restaurativ, nicht neubildend. Wo die christliche Sozialethik und Sozialpolitik andere Wege geht, da ist es auch ein anderer Geist als der des echten Luthertums. Es ist in der Regel ein calvinistisch beein­ flußter Geist, und damit öffnet sich der Blick auf die zweite große konfessionelle Formation des Protestantismus, den Calvinismus. 3. D e r C a l v i n i s m u s. Das Luthertum blieb nach seinen Anfangserfolgen stehen. Sein spiritualistisches Sich-Fügen und Dulden, die Begnügung mit der Objektivität der Gnadenmittel, sein Mangel an Kraft zu kirchlicher Organisation und sein unpolitischer Sinn werden die Hauptursache davon sein. Die Ausbreitung der Kirchenreform über den Westen und von ihm aus über die neue Welt fiel dem Calvinismus zu , der heute als die eigentliche Hauptmacht des Protestantismus betrachtet werden muß. Der Grund für diese Ausbreitung des Calvinismus liegt zu­ nächst darin, daß er bei den in der großen politischen Entwicke­ lung befindlichen westlichen Völkern Fuß faßte. Aber er liegt doch tiefer noch in dem Wesen des Calvinismus selbst, der die auch auf diesen Gebieten vorhandenen Ansätze des Luthertums und Täufertums ganz oder beinahe verdrängte. Er liegt in dem aktiven Charakter, in der kirchenbildenden Kraft , in dem inter­ nationalen Zusammenhang und bewußten Ausbreitungstrieb des Calvinismus und nicht zuletzt in seiner Fähigkeit , auf die politi­ schen und wirtschaftlichen Entwickelungen der westlichen Völker mit seiner religiösen Idee eingehen zu können , einer Fähigkeit, welche dem Luthertum von Hause aus fehlte 308). So sind denn 808) Daß der Unterschied des Calvinismus wesentlich auf diesem Gebiet zu suchen ist, hat zum ersten Male Hundeshagen gezeigt in seinen »Beiträgen zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik 1864, wo er den Mitarbeitern im

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

auch Kirchenbegriff und Soziallehren des Calvinismus von denen des Luthertums sehr erheblich verschieden. Auch hat diese Ver­ schiedenheit im Lauf� der Zeit sich immer stärker herausgebildet, sodaß der Calvinismus heute sich als die mit der modernen deFach der Kirchengeschichte den Rat gibt, statt dogmatisch-spekulativer Untersuchungen des Kirchenbegriffes ihrer Forschung >die sichtbare empirische Kirchensozietät und deren freilich noch wenig genug erforschte Existenz- und Lebensgesetze< zugrunde zu legen (S. IX), also die Forderung einer soziologischen Behandlung der Kirchen­ geschichte, ,Nicht bloß in Genf, sondern auf allen Gebieten, nach welchen er vor­ dringt, sind es große soziale Krisen, welche der Calvinismus vorfindet und in welche er als erregendes, aber zugleich als reinigendes und ordnungsstiftendes Ferment eingreift. Das Kampfgebiet ist für ihn nirgends ein bloß religiöses oder ein kirch­ liches im rein religiösen Sinn ; nirgends tritt ihm der römisch-katholische Glaube lediglich als ein solcher entgegen, sondern überall in einer bestimmten Solidarität mit dynastischen Interessen und Regierungsprinzipien, So liegt es in der Natur der Umstände, daß Calvin und seine Mitarbeiter, wie Zwingli, nicht bloß Indivi­ duen, sondern kleinere und größere Nationalitäten ins Auge zu fassen haben. So ist auch für Calvin das Evangelium nicht bloß eine Kraft, selig zu machen alle Einzelnen, welche daran glauben, nicht bloß ein Trost für bekümmerte Einzelge­ wissen, nicht bloß die Ueberwindung seelengefährlicher Irrtümer, sondern zugleich das Heilmittel für öffentliche und allgemeine Schäden, das Element der Reinigung und Erneuerung für größere gesellschaftliche Verbände und der Grundstein, solche auf demselben aufzurichten >S, 294 f. Damit ist in der Tat treffend der Unter­ schied gegenüber dem Luthertum ausgesprochen, - Die Erkenntnis, daß in dieser Sondergestaltung zugleich erhebliche Annäherungen an die moderne Welt enthalten sind - wiederum im Gegensatz zum Luthertum -, knüpft sich an modernere Untersu­ chungen an: an Gierkes ,Althusius«, an die durch Jellinek, Die Erklärung der Menschen­ und Bürgerrechte 2 1904 angeregte Kontroverse und an die Abhandlungen Max Webers ,Ueber den >Geist des Kapitalismus« und die prot, Ethik« Archiv XX u. XXI. die übrigens ausdrücklich nur eine der geistig-ethischen Voraussetzungen für den bürgerlichen Kapitalismus, nicht alle und am wenigsten den Kapitalismus selbst auf den Calvinismus rnrückführt, Aehnlich bewegen sich in dieser Richtung Rieker, Grundsätze ref. Kirchenverfassung, und Figgis, From Gerson to Grotius 1907, v, Schulze-Gävernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel, 1906 und meine Darstellung in Kultur der Gegenwart IV 2, Protestantisches Christentum und Kirche. Doch ist auch hierin schon Hundeshagen vorausgegangen: >Ueber den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen von Staat und staatsbürgerlicher Freiheit«, 1840, auch Baudrillart, Bodin et son temps, 1853, - Als erster Grund der Durch­ setzung des Calvinismus in Frankreich und den Niederlanden erscheint außer der territorialen Nachbarschaft die Ueberleg1:nheit des Calvinismus in der selbständigen kirchlichen Gemeindebildung und die schärfere Gegenstellung gegen den Katho­ lizismus s. K. Müller, Preuß, Jahrb, 1903 und Rachfahl, Wilh. v. Oranien und der niederländische Aufstand I, 1906 S. 415.

Vorläufige Charakteristik des Calvinismus.

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mokratischen und kapitalistischen Entwickelung allein übereinstim­ mende und ihr allein gewachsene Gestaltung des christlichen Kir­ chenwesens empfindet 809). Ohne seine Orthodoxie aufzugeben, ist er im Laufe der Zeit - trotz ursprünglich engster Berührung mit dem Luthertum - zum Gegenteil des lutherischen Konservatis­ mus, Staatskirchentums und Anstaltswesens geworden. Die mo­ derne kulturgeschichtliche Bedeutung des Luthertums liegt poli­ tisch und sozial in seinem Zusammengehen mit den reaktionären Parteien , religiös und wissenschaftlich in der Entfaltung einer mit frommer Mystik und Innerlichkeit verschmolzenen philosophi­ schen Theologie, die als Ethik freilich gleichfalls den Problemen des modernen politisch-sozialen Lebens sehr ferne steht. Der Cal­ vinismus dagegen hat im ganzen -- in neuerer Zeit unter Einwirkung des mit seinem Wesen eng zusammenhängenden Pietismus und Me­ thodismus - seine unphilosophische Theologie behauptet oder nach den Störungen der Aufklärung wieder gefunden, jedoch in seiner engen Verbindung mit englischen und amerikanischen Volkseigentüm­ lichkeiten und Institutionen politisch und sozial den modernen Le­ bensstil, den man als Amerikanismus bezeichnen kann, mit sich ver­ schmolzen und teilweise aus sich erzeugt; dabei versteht sich von selbst, daß dieser heute vielfach eine von jeder religiösen Grund­ lage gelöste Existenz besitzt 310). Aber auch auf den Kontinent hat er zurück gewirkt. Nicht bloß in der Kirchenverfassung und dem Kirchenbegriff, dem kirchlichen Vereinswesen, der inneren Mission, der pietistischen Heiligkeit beeinflußt er das Luthertum, sondern als eine allgemeine geistige Macht erstreckt sich der von ihm gezüchtete Typus des Menschentums über die europäische Kul­ tur, die dabei von dem ursprünglich vorhandenen Zusammenhang dieses Typus mit der Religiosität des Calvinismus meistens nichts 809) Vgl. A. Kuyper, Reformation wider Revolution, deutsch von Jäger, 1904, Das Buch ist nicht nur Kuypers Regierungsprogramm, sondern, aus Vorlesungen an der streng calvinistischen Princeton-University bestehend, eine Art Gesamt­ bekenntnis des modernen orthodoxen Calvinismus. Uebrigens ist hier der Neu­ calvinismus in einer geradezu unerhörten Weise in den primitiven Genfer Cal­ vinismus hineingedeutet, Es ist das Buch eines Dogmatikers und Politikers und als solches höchst lehrreich, als historische Leistung dagegen sehr irreführend. 810) Vgl. hiezu Rauschenbusch, Christianity and the social crisis, New-York 1908, Hundeshagen erzählt von dem Erstaunen eines amerikanischen Studenten, der meinte, in Deutschland sei das Christentum eine Wissenschaft, in Amerika sei es eine Praxis.

III. Protestantismus.

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3. Der Calvinismus.

mehr ahnt. In dieser Entwickelung hat er mit den Sekten sich zusam­ mengefunden, die ihrerseits wieder, wie später zu zeigen, sich ihm vermöge ihrer eigenen Bewegungsrichtung annäherten. Mit ihnen zusammen hat er unter Mitwirkung politischer und sozialer Lebens­ bedingungen jenen Typus hervorgebracht. Das wird in vollem Um­ fang erst übersichtlich werden , wenn wir auch den Sektentypus auf protestantischem Boden kennen gelernt haben werden. Doch ist das schon jetzt hervorzuheben, damit bei dem Calvinismus auf denjenigen Punkt geachtet werden könne , wo er schon in seinen Grundideen mit dem Sektentypus sich dauernder und innerlicher berührt, als das bei Luther - und hier kommt über­ dies nur seine Frühzeit in Betracht - der Fall gewesen ist. Der Calvinismus hat eine überaus weit ausgebreitete und zugleich eine beträchtlich über die Genfer Anfänge hinausstre­ bende Entwickelung erlebt. Für sein Verständnis ist daher vor allem der primitive Genfer Calvinismus von den späteren Ent­ wickelungen zu sondern. Dabei ist dann aber doch von vornherein zu fragen, wie weit diese schon in jenem wurzeln, wie weit sie über ihn hinausgehen und durch welche Gründe sie über ihn hin­ ausgeführt wurden. Es ist in solchen großen kulturhistorischen Zusammenhängen von vornherein selbstverständlich, daß derartige Entwickelungen nicht bloß durch die logisch-dialektische Trieb­ kraft des religiösen Gedankens bedingt sind, sondern zugleich durch die Zufälligkeit der besonderen historischen Lagen und Verhältnisse. Andererseits aber ist der Calvinismus ein so großartig strenger Ge­ dankenkomplex, daß doch überall nach dem inneren gedanklichen Zusammenhang, der sich durch all diese Wandelungen hindurch­ zieht oder in ihnen herstellt, zu suchen ist 311 ). So ist die erste Aufgabe die A n a l y s e d e s r e l i g i ö s e n S o n d e r g e h a l t e s d e s p r i m i t i v e n C a l v i n i s m u s , aus 811)

Vgl. v. Bezold, Staat und Gesellschaft des Ref.-Zeitalters, (Kultur der Gegenwart II, V, 1) S. 8 I : ,In vielen Beziehungen trägt Calvins Werk einen rück­ schrittlichen Charakter; steht er doch namentlich im denkbar schärfsten Gegensatz zu den humanistischen, künstlerischen und naturwissenschaftlichen Tendenzen des Jahrhunderts. Wenn trotzdem der Calvinismus immer wieder hier als wesentliches Ferment für die Entstehung des modernen Europa in Anspruch genommen wird, so gilt dies überwiegend von seiner Propaganda und Entwickelung außerhalb Genfs.c Wie richtig das letztere ist, wird die folgende Untersuchung zeigen, nur daß hier­ für doch auch die Grundlagen schon im primitiven Calvinismus vorhanden sind. Das erstere ist übrigens nur sehr bedingt richtig, vgl. Arnold, Calvin 1909.

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Primitiver und Neu-Calvinismus zu unterscheiden.

dem sich seine Kirchenidee, seine Ethik, seine Sozialideale grund­ legend ergeben. Erst darauf kann dann nach der W e i t e r e n t­ w i c k e l u n g d e s Ca l v i n i s m u s u n d d e n p o l i t i s c h e n, ök o n o m i s c h e n, s o z i a l e n u n d k i r eh e n p o lit ischen Um­ w a nd l u n g e n d e s n e ue r e n Cal v i n i s m u s g e f r agt w e r d e n. Der primitive Calvinismus ist eine Tochterreligion des Luther­ tums. Er wollte ursprünglich dogmatisch und religiös nichts anderes sein als reines, den ganzen Protestantismus vereinigendes Luthertum mit der Fähigkeit, alle einseitigen Richtungen in sich aufzusaugen. Er nahm in zweiter Linie durch Butzers Vermittelung das Wahrheitsmo­ ment des Täufertums, die praktisch-soziale Gestaltung der Gemein­ de, in sich auf und berührte sich darin zugleich mit der Schweizer Reform. Er sicherte die lutherische Sakramentslehre gegen Zwingli durch gewisse Zugeständnisse an diesen und hielt doch deren ur­ sprünglichen Sinn aufrecht. Er vollzog schließlich niit den Ober­ deutschen die strenge Reinigung des Kultus von allen katholischen Zeremonien, worin er sich auch mit Zwingli begegnete, aber wollte damit doch nur Luthers Grundsatz der Schriftgemäßheit folge­ richtiger durchführen. In Genf selbst auf strengste Lehreinheit und Lehrzucht dringend , meinte Calvin doch die verschiedenen Länder und Kirchen durch Verständigung über peripherische Be­ sonderheiten in den großen Bund des Gesamtprotestantismus ver­ fassen zu können. Erst der Widerstand des deutschen Luther­ tums und die Verselbständigung des Anglikanismus machten den Calvinismus zu einer protestantischen Sonderkonfession 812). Vgl. im allgemeinen Kampschulte, J. C., seine Kirche und sein Staat 1869/99 Cornelius, Historische Arbeiten 1899; Doumergue, J. C., unvollendet, bisher 3 Bände, bunteste antiquarische Gelehrsamkeit und Apologetik; Marcks, Coligny I 1892 mit sehr feiner Charakteristik; Rieker, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung 1899 und Sohm, Kirchenrecht I; von den Kirchengeschichten vor allem Karl Müller. Besonders wichtig sind die beiden Arbeiten von Choisy, La Theocratie a Geneve o. J. und L'etat chretien a Geneve aux temps de Beze o. J.; die dogmen­ geschichtliche und ethische Analyse in den Meisterwerken von Schneckenburger und A. Ritschl, wozu Lobstein, Ethik Calvins, 1877 hinzukommt; ferner Rachfahl, Ora­ nien I 1 1906, I, 2 1997 II, 1908. Die Forschungsergebnisse des Jubiläumsjahres 1909 sind verzeichnet bei W. Köhler in Th. J. B. für 1910. Hervorzuheben sind die >Calvinredenc des Siebeckschen Verlages, die Calvin-Studien der Elberfelder Ge­ meinde hg. von Bohatek und >Calvin and the reformation«, vier Studien von Dou­ mergue, Lang, Bavinck und Warfield, schließlich C. F. Arnold, Calvinrede. - Die in der heutigen Forschung stark hervortretenden Beziehungen zu Butzer und Straßburg finden sich bei Lang, Der Evangelienkommentar Butzers 1900 und vor allem dazu 812)

T r o e I t s c h, Gesammelte Schriften, I.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus,

So ist denn auch das Stammkapital in Calvins Theologie und Religiosität lutherischer Herkunft. Calvin hat stets den größten Wert auf Uebereinstimmung und auf persönliche Beziehungen mit Luther gelegt. Er sah in ihm den grundlegenden und führenden Reformator, während er gegen Zwingli mehr Abneigung empfand und Zurückhaltung zeigte. Er hat seine Bekehrung wesentlich luthe­ rischen Einflüssen verdankt und weiterhin lutherische Schriften W, Köhler Gött, Gel. Anzeigen 1902; Anrieb, Die Straßburger Reformation, Ch. W. 1905, v, Schubert, Calvinreden S, 141. Von Calvin selbst kommt vor allem in Betracht die Institutio und die wundervolle, jetzt deutsch (in Auswahl) erschienene Briefsamm­ lung hg. von R. Schwarz 1909. - Von Dogmengeschichten seien Loofs und Seeberg genannt. - Sehr viel bietet vor allem Göbel, Gesch. des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen Kirche I l 849, II I 852 III 1860, der insbesondere den Analo­ gien des Calvinismus mit Pietismus und Sektentypus nachgegangen ist, wie sie sich ihm in der niederländischen und niederrheinischen Entwickelung des Calvinismus in Fülle ergaben. Erst durch dieses wertvolle, wenn auch etwas salbungsreiche Buch emp­ fängt man das richtige Licht für die Sache, während Ritschls Gesch. d. Pietis­ mus den Calvinismus Calvins als in Katholizismus rückfälliges Epigonentum Luthers behandelt, Das ist nur verständlich bei der wunderlichen Ritschlschen Schul­ doktrin, daß der Sektentypus katholisch und daher jede Annäherung an ihn Katholizismus und »Rückfall ins Mittelalter« sei. Mit dieser' Schuldoktrin ist das Verständnis der Sache unmöglich gemacht. Vielmehr ist mit den Täufern zusammen der Calvinismus eher als radikaler Protestantismus und Biblizismus zu bezeichnen, während im Verhältnis dazu des Luthertum näher an katholischem Konservatismus und Anstaltsgeist bleibt. Das ist im vorigen Abschnitt gezeigt worden und von hoher Wichtigkeit für das Verständnis der Eigenart der calvinisti­ schen Soziallehren, denen gegenüber Katholizismus und Luthertum unter sich relativ mehr verwandt sind und trotz aller Unterschiede innerhalb eines gemeinsamen Typus sich bewegen, Sehr richtig Schneckenburger I 6: ,Zunächst dem Katholizis­ mus als der geraden Fortbildung des lateinischen Christentums steht das Luther­ tum, eine vergeistigte Umbildung desselben, eine an seine historische Entwickelung anschließende eigentliche Reform desselben, In der reformierten Kirchenge­ staltung ist nicht sowohl eine bloße Reform des historisch gewordenen , eine geistige Fortbildung des lateinischen Christentums, als eine dem Prinzip nach neue und unmittelbar aus der Schrift geschöpfte Gestaltung des Christentums nach seiner urspünglichen, Norm gebenden Erscheinung bezweckt.« Das wird bestä­ tigt durch die unverkennbar größere Abneigung katholischer und altkatholischer Forscher - unter den letzteren Kampschulte und Moritz Ritter - gegen den Calvi­ nismus als gegen das Luthertum. Ganz ähnlich spricht sich übrigens auch Ranke an einer berühmten Stelle über die Augsburgische Konfession aus. - Eine Uebersicht über die neuere Literatur zum Calvinismus gibt auch Knodt, Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die prot, Welt im Lichte der neueren und neuesten Forschung 1910.

Der primitive Calvinismus eine Abzweigung des Luthertums.

61 I

benützt. Was auch sonst auf ihn gewirkt hat, die humanistische Reformtheologie, die Schweizer Kirchenreinigung und die Straß­ burger kirchlich-soziale Reform- und Unionspolitik , er selbst hat alles Wesentliche auf Luther zurückgeführt. Allerdings ist es ein Luthertum in oberdeutscher , vor allem in Straßburger Beleuch­ tung, das durch die Unionstendenzen Butzers , die städtischen Verhältnisse , die Konkurrenz der Täufer, die Einflüsse der be­ nachbarten Züricher gefärbt ist , aber es ist nichtsdestoweniger ein entschiedenes Luthertum. Die Grundlehren Luthers sind daher auch die Grundlehren Cal­ vins. Calvin steht fest auf der lutherischen Rechtfertigungs- und Hei­ ligungslehre, ja gibt ihr geradezu den systematisch reinsten Aus­ druck unter allen Reformatoren. Gegenüber der absoluten Sünden­ verderbnis und Unfähigkeit des natürlichen Menschen ist die von Gott in Christo geschenkte Gnaden- und Sündenvergebungsgewiß­ heit die Umwandlung der Seele zu freudiger Gottesgemeinschaft, zu sittlicher Kraft und tätiger Arbeit im Dienste Gottes. Weiter­ hin ist diese Rechtfertigungs- und Heiligungslehre genau wie bei Luther fest eingespannt in den Rahmen des Kirchenbe­ griffes. Sie vollzieht sich nur vermittelst der von Christus gestif­ teten , mit den objektiven Gnadenmitteln des Wortes und der Sakramente ausgestatteten kirchlichen Heilsanstalt, die alles sub­ jektive und persönliche religiöse Leben überall erst durch Ver­ mittelung der Schrift und des in der Schrift offenbaren Christus hervorbringt. Strengste Bindung an die kirchliche Heilsvermitte­ lung; schärfste Betonung auch der Sakramente als objektiver gött­ licher Vermittelungen; Hervorhebung der Kontinuität mit der christlichen Urkirche gegenüber dem Abfall des Papsttums; Be­ gründung der Kirche auf die Bibel als den Glauben schaffenden und damit sich selbst beglaubigenden supranaturalen Produzenten der Gemeinschaft; Katholizität der Kirche, soweit Wort und Sa­ krament irgendwo noch unter der Hülle von Wahn und falschen Zeremonien erhalten sind ; universale und uniforme Herrschaft der kirchlichen Wahrheit auf dem erreichbaren und beherrschbaren Gebiet; theokratische Verbindung von Staat und Kirche, Zwangs­ herrschaft der reinen Lehre wenigstens in der äußeren Anerken­ nung ; engste Verbindung von Staat und Kirche bei fundamentaler innerer Verschiedenheit; Rezeption der weltlichen Kultur und christliche Beseelung des naturgesetzlichen Berufssystems; Identi­ fikation von Dekalog und Naturrecht und Annäherung des posi39*

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

tiven Rechtes an beide : das alles sind mit dem Kirchenbegriff selbst auch die Grundzüge des calvinistischen Religionswesens. Er übernimmt sie als bereits fertige, ist daher frei von den Schwan­ kungen , unter denen Luther diese Begriffe erst herausgebildet hat, und gestaltet sie aus mit der doktrinären Folgerichtigkeit, die die Eigentümlichkeit der Männer der zweiten, bereits ein festes Erbe voraussetzenden Generation ist 818). 818) Vgl. den Beginn des IV. Buches der Institutio; hier die Kirche als Depot des vom Individuum unabhängigen Gnadenschatzes : Quia ruditas nostra et segnities externis subsidiis indigent, quibus fides in nobis et gignatur et augescat et suos faciat progressus usque ad metam, ea quoque (Deus) addidit, quo infirmitati nostra consuleret; atque ut augescat Evangelii praedicatio, t h e s a u r u m h u n c a d e c c l e­ s i a m d e p o s u i t. Pastores instituit ac doctores, quorum ore suos doceret Eph. 4, II. Eos a u t o r i t a t e i n s t r u x i t. Imprimis s a c r a m e n t a instituit, quae nos experimento sentimus plus quam utilia esse adjumenta ad fovendam et con­ firmandam fidem. Nam q u i a e r g a s t ulo c a r n i s n o s t r a e i n c l u s i a d g r a d u m e v a n g e li c u m n o n d u m p e r v e n i m u s , Deus se ad captum nostrum acomodans pro admirabili sua providentia modum praescripsit, q u o p r o­ c u l d i s j u n c t i a d e u m a c c e d e r e m u s. lust. IV 1,1. - •Quia nunc de ecclesia visibili disserere propositum est, discamus vel uno m a t r i s elogio, quam utilis sit nobis ejus cognitio, immo necessaria : quando non alius est in vitam ingressus, n i s i n o s i p s a c on c i p i a t i n u t e ro , n is i p a r i a t, n i s i n o s a l a t s u i s u b e r i b u s, d e n i q u e s u b c u s t o d i a e t g u b e r n a t i o n e n o s t u e a t u r , donec excuti carne mortali similes erimus angelis. N e q u e e n i m p a t i t u r n o s t r a i n f i r m i t a s a schola nos dimitti, donec toto vitae cursu discipuli fuerimus. Adde, quod e x t r a e j u s g r e m i u m n u 11 a e s t s p e r a n d a p e c c a t o r u m r e m i s s i o n e c u 11 a s a 1 u s, IV I, 4. In diese Kirche wird man hineingeboren wie in einen Fideikommiß; vgl. Contre les Anabaptistes, Corpus Reformatorum 35, S. 522: Ainsi l'homme qui n'a este receu en l'alliance de Dieu des son enfance, est comme estranger a l'Eglise, iusques a ce que par la doctrine de salut il soit amene a foy et repentance, Mais alors sa semence est aussi quant et quant faict dome­ stique de l'Eglise. Et pour ceste cause !es petitz enfants des fideles sont baptises en vertu de cette alliance, qui est faicte a vec leu�s peres, en leur noms et a leurs profits. Die Geistigkeit der Sakramente, die der Calvinismus lehrt, ändert also nichts am Kirchenbegriff. Die Kindertaufe soll vor der Gemeinde stattfinden, aber sie ist immer die Bezeugung der schon durch die Geburt vollzogenen Inkor­ poration in die Kirche vgl. Briefe II 34, 38, 245, 423. Beim Abendmahl vol­ lends hat C. gerade die objektive Wunderspeisung, wenn auch als geistige, im Interesse des Kirchenbegriffes festgehalten und um deswillen sich als Lutheraner angesehen. Von der Zuchtübung und der Forderung würdigen Abendmahlsgenusses, dem Zentrum seiner Idee einer heiligen Gemeinde, hält er alle separatistischen und sektenhaften Konsequenzen ausdrücklich fern. Wo Wort und Sakrament ist, da ist

Religiös-ethische Besonderheiten des Calvinismus.

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So sind alle Besonderheiten des Calvinismus erst aus diesem mit dem Luthertum gemeinsamen Grundstock herausgearbeitet. für ihn die Kirche, wie für Luther; und bei der Unerkennbarkeit des inneren Standes ist jede Trennung von Gläubigen und Ungläubigen unzulässig CR. 35, S. 68: Car Ja majeste de Ja parolle de Dieu et de ses sacrements nous doit estre en telle reputation, que partout ou nous Ja voyons nous soyons certains que Ja il y a Eglise, nonobstant !es macules et !es vices qui pourront estre en Ja vie commune des hom­ mes. Der von der Kirche zu handhabende Abendmahlsausschluß ist gut, aber er ist stets nur ein Straf- und Erziehungsmittel d er Kirche, niemals eine Separation der Reinen und Heiligen von der Kirche der reinen Lehre und des reinen Wortes, so viel Sünde sie enthalten mag: •Je laisse a dire q u ' e n c o r e p o s e l e c a s q u e n o u s n e d e u s s i o n s a v o i r a u c u n e c o n s i d e r a t i o n qu e d e s h o m m e s e t d e I e u r m e u r s (was eine falsche täufersche Voraussetzung sei), nous pourrions estre souvent abusez en reiettant une compagnie et ne Ja daignant estimer Eglise a cause des imperfections q ui y seraient. Car il se pourrait faire tout !es coups, que nous ferons iniure a beaucoups de sainczt personnages, dont le nombre est cache entre !es meschants comme Je bon grain dessoubs Ja pouille•. Das sind beinahe wörtlich alle Merkmale des Kirchenbegriffes im Unterschiede vom Sektenbegriff, die ich früher (II, 9) aufgezählt habe. Vgl. auch die völlig lutherischen Formeln für den Kirchenbegriff Briefe I 6, 57, 76, 271, II 158, 409: .Ich weiß Gott sei Dank recht wohl, daß die wahre Wirkung des Sakraments nicht von der Würdigkeit dessen abhängt, der es austeilt«. Ferner die stärkste Betonung des ordnungsmäßig berufenen Amtes, ohne welches es keine Gemeinde und keine Kirche gibt und dessen Träger das Gefäß für die von seiner Würdigkeit unab­ hängige Wunderkraft der Kirche ist ; Briefe I 266 II 18, 47, 52, vgl. 272, 357: Laien können niemand für ein Amt als tauglich erk lären ; auch die ,Aeltesten« sind keine reinen Laien, sondern klerikal geweiht, Choisy 356. - Daraus ergibt sich auch hier die Folge von selbst, daß, soweit der Einfluß der Staatsgewalt reicht, nur die wahre Religion herrschen darf: Briefe I 9, 311, 344, 445 f. II 117, 200. Die Umwege Luthers bis zu dieser Einsicht hatte Calvin nicht mehr nötig, nachdem die Tatsachen deutlich gesprochen hatten. Toleranz gibt es nur für die Wahrheit, und diese Toleranz muß Herrschaft werden. Für diese Selbstgewißheit der Alleinwahrheit ist am charakte­ ristischesten die Aeußerung über die ,falschen Märtyrer« der Täufer, wo doch Calvin selbst das Martyrium als Hauptzeugnis der Wahrheit bezeichnet; s. C. R. 35 : >Et mesme c'est ce qui discerne !es martyrs de Dieu de ceux du Diable que de mourir pour iuste cause. Pourtant tout ainsi que c'est une constance louable que de souffrir Ja mort, si mestier est, pour Je tesmoignage de Ja verite : aussi c'est obstination enragee que de souffrir pour mauvaise querelle. Tellement que celuy qui en soulfre Je plus, est d'autant plus a vituperer«. Das ist eine Selbstgewißheit, vor der dem modernen Menschen schwindelt, aber sie ist der Kern des Kirchenbegriffes und der Kirchen­ herrschaft, der Kern der Größe jener Männer. Siehe auch Calvins Selbstbeurteilung Briefe I 451 : > Was mich angeht, hohe Herrn, so bin ich in meinem Gewissen sicher, daß, was ich gelehrt und geschrieben habe, nicht in meinem Kopf ent-

III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

Sie sind aber um deswillen nicht etwa geringfügig, sondern trotz­ dem von der allerhöchsten und von originaler Bedeutung. Sie formen die religiöse Idee des Protestantismus zu einer neuen Grundrichtung, deren schließliche Ablehnung durch das ganz anders geartete Luthertum sehr wohl begreiflich ist. Die Unterschiede liegen im wesentlichen auf dem Gebiete des Gottesgedankens, der damit gegebenen religiös-ethischen Grundhaltung und der dastanden ist, sondern von Gott habe ich es, und ich muß es festhalten, wenn ich nicht zum Verräter an der Wahrheit werden willGeschichtl. Studien zur christlichen Lehre von Gott« Jbb. f. deutsche Theo!. 1865 und 1868; die hier behauptete Uebereinstimmung mit dem Scotismus ist m, E. nur analogisch, nicht genetisch zu verstehen, 310) Lobstein 82-86, Bei Luther ist das Leiden wesentlich erst Folg e der Sünde und durch sie gerechtfertigt. Die Wichtigkeit der Unterscheidung de r Gratia universalis von der Elektionsgnade, die die Erbsündenlehre mildert, die Vernunft und Bildung rezipiert, der Lex naturae Raum gibt und überhaupt die starr pessi­ mistischen und asketischen Züge abschwächt s. bei Bavinck in »Calvin and the re­ formation« und bei Kuyper S. 110-118. Diese meist übersehene Seite der Sache ist sehr wichtig für das Problem der Askese und des Verhältnisses zur Kultur.

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

dern ein Mittel und ein Sporn des Handelns. Es ist ein handeln­ der Wille , mit dem sie es zu tun hat , nicht eine lediglich Sünden vergebende Gnade. Er schafft und schenkt in der Er­ wählung die Gewißheit der Sündenvergebung , damit das in ihr befreite Gemüt Gott dienen und sich von Gott zum Organ seines Wesens machen lasse. Er macht sie durch die Rechtfertigung zu Gliedern des Christusleibes und durchdringt sie mit dem handeln­ den Christusgeiste, macht sie zu Kämpfern und Streitern Christi, zu Untertanen des Königreiches Christi. Nicht die Innigkeit und Tiefe des Gefühls ist die Probe der Rechtfertigung , sondern die Energie und zusammenhängende Konsequenz des Handelns. Im Luthertum ist die eigentliche Probe und Bewährung der Recht­ fertigung die weltüberlegene Seligkeit , die in engem Zusammen­ hang mit dem substantiell im Abendmahl sich dem Gläubigen vereinigenden Christus ihren Höhepunkt in der Unio mystica, in einer mystischen Gottesverbindung, hat. Für den Calvinismus ist bei der Transzendenz Gottes eine derartige Bewährung nicht denk­ bar, die Einigung mit Gott ist nur als Hingabe an den erwählen­ den und erneuernden Willen Gottes und als ein Handeln des immer »actuosen« Gottes im Gläubigen zu verstehen, wie ja auch im Abendmahl zwar eine wirkliche Vereinigung mit dem himmli­ schen Christus, aber nur eine solche im Geiste erfolgt, wie die Chri­ stusgemeinschaft überhaupt keine substanzielle, sondern eine Auf­ nahme in den handelnden und wirkenden Geist des Christus ist. >Finitum non est capax infiniti« heißt der reformierte Grundsatz, und der gibt dem Rechtfertigungs- wie dem Glaubensgedanken einen psychologisch anderen Sinn : statt des Charakters der Selig­ keit in Gottes sündenüberwindender Gnade den Charakter der Erwählungsgewißheit und der handelnden Kraft 816). Die von da ausgehende Umfärbung des ganzen mit dem Lu­ thertum gemeinsamen dogmatischen Besitzes ist hier nicht näher zu schildern 317). Wohl aber ist es bedeutsam, daß von hier aus das dogmatische Kapital als Ganzes, die >reine Lehre« selbst, eine bei aller Orthodoxie doch andersartige Stellung im Ganzen des Gedankens gewinnt. Für den Lutheraner objektiviert sich Seligkeit und Heil in dem einzigen sie beide hervorbringenden 316)

Diese Charakteristik ist vor allem von Schneckenburger sehr fein ent­ wickelt worden und von M. Weber fortgeführt Archiv XXI S. 21-25. 317) Das ist meisterhaft, aber vielleicht etwas überfein bei Schneckenburger geschehen.

Konsequenzen für die Auffassung der Lehre,

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Mittel, in der reinen Lehre, die zugleich der Kern der Kirchen­ anstalt und das einzig Objektive am Christentum ist. Für den Calvinismus steht neben der reinen Lehre als Ausdruck der Gnade das Sittengesetz und als Ausdruck des handelnden göttlichen Wil­ lenswesens die Disziplin. Der produzierende Kern der Heilsanstalt ist für ihn die reine Lehre nur mit der göttlich geoffenbarten Diszi­ plin zusammen. Der Gott Calvins kann sich nicht bloß in reiner Lehre offenbaren, sondern muß auch seine handelnde und schaf­ fende Willensnatur kundgeben. Die reine Lehre ist daher nicht wie im Luthertum das ausschließliche Anliegen der Kirche, weil die Reinheit der Lehre die Reinheit des Glaubens garantiere und mit diesem alles Weitere von selbst gegeben sei. Sie ist nicht Selbstzweck , sondern , wie der Glaube Voraussetzung des rich­ tigen Handelns ist, so ist auch die reine Lehre nur Voraussetzung und Mittel. Das bedeutet bei der systematischen Zielsetzung des Calvinismus allerdings auch einen theoretischen Ausbau der Lehre, der über die Bedürfnisse des Luthertums hinausgeht; aber die noch so allseitig und systematisch entwickelte Lehre bleibt Mittel zum Zweck, Voraussetzung des eigentlich Wertvollen, des christ­ lichen Handelns. So ist es zu verstehen, daß der Calvinismus bei seiner starken Logik und seiner Rezeption der Bildung des west­ lichen Europa eine dem Luthertum gegenüber sehr gesteigerte Intellektualität behauptet und doch Lehre und System viel we­ niger zum Zentrum macht. Gott ist ihm irrational auch in dem Sinne, daß er an Maßstäben menschlicher Vernunft und Logik nicht gemessen werden darf; aber er hat die Vernunft zum Zweck irdischer Arbeit und zur Verherrlichung Gottes gegeben. So bil­ det auch die kultivierteste und scharfsinnigste Vernunft und Dok­ trin nur ein Mittel für übervernünftige Zwecke und eine Voraus­ setzung des Handelns 818). 318) Vgl, Hundeshagen S. 396, 401, 447, 448: >Die Dogmatik ist bei den Re­ formirten nur ein Locus in der Kirche, bei den Lutheranern umgekehrt die Kirche nur ein Locus in der Dogmatik«. Ueber die Intellektualität des Calvinismus s. Choisy L'etat chretien S. 523 und Kuyper 103-331; der letztere mit Beimischung von höchst gewaltsamer, aber für die Ziele des modernen Calvinismus höchst charak­ teristischer Apologetik. Ueber die lntellektualität, Bewußtheit und Reflektiertheit des Calvinismus von hier aus vortrefflich Schneckenburger; über die dadurch ver­ mittelte Rezeption der westlichen Bildung und des Humanismus, die trotz des herrschenden Pessimismus und der Askese viel stärker ist als im Luthertum, s. Arnold, Calvinrede. Der höhere Stand der geistigen Kultur im Calvinismus kommt auch sehr fein zum Ausdruck in C. F. Meyers Novelle über die Bartholomäusnacht.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Schließlich findet noch eine letzte praktisch-ethisch bedeut­ same Wirkung dieses Gottesbegriffes statt, die anders gefärbte Auf­ fassung von der Quelle und Autorität der reinen Lehre oder von der Bibel. Der souveräne Gotteswille der Erwählung und der Be­ reitung einer erwählten Gemeinde gibt sich nicht bloß kund in der Liebesgesinnung und dem versöhnenden Liebesopfer Christi, das als Kern der Bibel aus ihr von dem erlebenden Glauben heraus­ geholt werden muß und neben dem die übrige Bibel verhältnis­ mäßig gleichgültig wäre oder nur als Weissagung auf Christus aufgefaßt würde. Die Offenbarung des souveränen Prädestina­ tions-Gottes ist vielmehr als Ganzes eine Willenskundgebung po­ sitiver Art , ein Gesetz des Glaubens und der Sitte. Wie nicht der Gedanke der Liebe , sondern der der Majestät , Heiligkeit, Souveränität und Gnade in dem Gottesgedanken vorherrscht , so ist auch die Bibel weniger ein Mittel der V ergewisserung von Gottes sündenvergebender Liebe als eine Manife station zur Schaf­ fung der Gottes Ehre verwirklichenden Gemeinde und zur Nieder­ schlagung der Bösen und Verworfenen. Lag es der zweiten Ge­ neration schon an sich nahe, die von Luther zur Grundlage aller Beweisführung gemachte Bibel abstrakt zu verselbständigen , so wurde die Bibel als Stiftung des antirationalen positiven Gottes­ willens vollends ein Gesetz von durchgängig gleichartiger Beschaf­ fenheit und Absicht, in welchem Altes und Neues Testament den gemeinsamen formellen Charakter der Offenbarung tragen und sich nur insoferne unterscheiden, als das Neue ausdrücklich gewisse Ele­ mente des Alten abgeschafft hat. So kommt im Calvinismus das Alte Testament zu einer höheren selbständigeren Geltung. Und wie nun schon der Gottesgedanke des Calvinismus dem Willens­ wesen Jahwes vielfach nahe kommt , so führen dann weiter die praktischen Bedürfnisse zu steigender Ausnützung des Alten Te­ stamentes , wie sich sofort zeigen wird. Dadurch aber wird die calvinistische Theokratie zu einem Bunde Gottes mit der Gemeinde auf der Grundlage der Offenbarung, zu einem Dienst des Staates für die Kirche nach dem Vorbild der israelitischen Könige, zur Kontrolle des öffentlichen Lebens durch die Geistlichen nach dem Muster der Propheten. Ein neues Israel, eine neue heilige Stadt, begründet auf das neutestamentlich vertiefte göttliche Gesetz, ge­ leitet von dem lohnenden und strafenden Gnadenwillen, erwählt zum Organ der Verherrlichung Christi, des Gottmenschen, in dem der verborgene erwählende Wille Fleisch und gemeindebildende

Konsequenzen für die Auffassung der Bibel.

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Kraft geworden ist : das ist das Evangelium Calvins. Hier wie an anderen Punkten tritt eine gewisse Verwandt­ schaft mit dem Täufertum zutage, die uns noch vielfach beschäf­ tigen wird. Freilich ist die Prädestinations- und Heilslehre von der täuferischen Freiheitslehre tief geschieden , aber die Auffas­ sung der die Prädestination auswirkenden Bibel berührt sich mit jenem. Die Bibel als Sittengesetz und die Verfassung der Urkirche als Verfassungsideal wurde bei den Täufern ähnlich betrachtet. Freilich ist die Begründung bei Calvin eine andere. Er will nicht, wie jene , überhaupt statt der Kirche eine neue und anders­ artige Gemeinschaft. Er will nur die Kirche radikal nach der Schrift reformieren und gibt der biblischen Autorität ihren Grund in einem Gottesbegriff, der zugleich auf die Hervorbringung der reinen, heiligen, schriftgebundenen Kirche gerichtet ist. Aber da­ mit geht er doch über den Gedanken einer rein auf sich selbst beruhenden Heilsanstalt hinaus und berührt sich mit dem Motiv des Täufertums. Er nähert sich ihrem biblischen Purismus. Das ist der tiefste Punkt , an dem sich die äußerlich oft so ähnliche Lehre der Lutheraner und der Calvinisten über die Bibel unter­ scheidet. Die Lutheraner haben an der Bibel ein Interesse nur, soweit sie die Gnadenanstalt, die Sündenvergebung und das alles dies begründende Werk Christi betrifft, und handhaben hier die Bibel lehrgesetzlich genug. Darüber hinaus haben sie kein Be­ dürfnis, sie zum Gesetz zu machen. Wohl aber hat der Calvinis­ mus ein solches. Er erstreckt die lehrgesetzliche Bibelautorität über ein weiteres Feld und verändert damit die Gesamt­ auffassung der Bibel im Sinne einer infallibeln Autorität für alle Fragen und Bedürfnisse der Kirche. Das Luthertum kontrolliert die ihm aus innerem Erleben erwachsene Lehre an der Bibel, der Calvinismus erneuert das ganze Christentum in Lehre und Kirche, Ethik und Dogma rein aus der Bibel. Hierauf und auf dem aktiven Charakter seiner in der Erwählung wurzelnden Re­ ligion beruht sein größerer reformatorischer Radikalismus 319). 319)

Ueber calvinistischen und lutherischen Biblizismus s, Schneckenburger I 16, 20, 27, Otto Ritschl, Dogmengeschichte des Prot. 1908 I 53-192. Göbel II n4, 154, 347 Folgen für Lyrik und Kult, 118 Analogie des puristischen, aus der Bibel abgeleiteten Kult erinnert an Waldenser und Brüdergemeinden, I 326 Laskis Bibli­ zismus eine > Vermittlung zwischen den verfassungslosen Lutheranern und den separatistischen Wiedertäufern•, 311 die gleiche Tendenz bei Calvin, der damit .auch wirklich den Wied ereintritt der abgesonderten Wiedertäufer erreichte, welche

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus,

Ist derart die lutherische Prädestinationslehre und mit ihr der Gottesgedanke zu einem neuen Sinne fortgebildet, so ist das gleiche auch bei dem z w e i t e n Hauptpunkte der Fall, bei dem religiösen In­ dividualismns. Bei Luther handelte es sich im Grunde stets nur um die Heilsgewißheit und Seligkeit des Individuums, die aus der Ge­ wißheit der Sündenvergebung sich ergibt, im Verhältnis zu der aber alles übrige nur der Ueberschwang der ausströmenden Gottverbun­ denheit, nur selbstverständliche Folge, nicht wesentlicher Zweck ist. Das ist anders im Calvinismus. Auch er betont die Innerlichkeit und Gesinnungsmäßigkeit, den rein persönlich individuellen Charakter aller Religiosität; auch er verwirft den bloßen Dogmen- und Au­ toritätsglauben sowie die Sakramentsmagie ; auch er leitet das neue Leben aus dem Glauben ab. Aber wie ihm nicht die Se­ ligkeit der Kreatur , sondern die Ehre Gottes im Zentrum steht, so ist auch die Verherrlichung Gottes im Handeln die eigentliche Probe der individuell-persönlichen Echtheit der Religion. Das Individuum ruht nicht aus in seiner Seligkeit , ergießt sich nicht nur etwa im persönlichen Liebesdienst und fügt sich nicht dann im übrigen bloß leidend und duldend den Weltordnungen ein, unter denen es steht, ohne sich völlig in sie auszugeben. Viel­ mehr es hat hier seinen ganzen Sinn darin , in diese Ordnungen einzugehen und, ihnen innerlich überlegen, sie zum Ausdruck des göttlichen Willens zu gestalten. In Kampf und Arbeit tritt es in die Aufgabe der Heiligung der Welt ein, stets gewiß, sich nicht an sie zu verlieren ; denn es wirkt ja in allem nur die Erwählung aus, die gerade in der Kräftigung zu einem solchen Handeln besteht. Das ist freilich dem Luthertum nicht möglich, weil es an die Ver­ lierbarkeit der Gnade glaubt. An diesem Punkte liegt der inner­ ste Unterschied der beiderseitigen Fassung des religiösen Individua­ lismus , der protestantischen Glaubens- und Gesinnungsreligion. Das Luthertum denkt die Prädestination nicht bis zur Konsequenz der Unverlierbarkeit des Gnadenstandes fort, weil es von Hause aus nur die Monergie der Gnade in allem Guten sichern will, das Böse aber dem menschlichen Willen zuschreibt. So wird die Auf­ gabe des Lutheraners, nur den Glauben und den Gnadenstand zu bewahren, die immer neue Sorge um Reinheit und Festigkeit des seitdem in Genf und in der ganzen calvinistischen Kirche kaum mehr vorkommen(?) und dann auch bald Duldung erlangten, die sie in den Zwinglischen (und Lutheri­ schen) Kirchen niemals fanden«. Sehr klar erkannt ist diese Analogie mit dem täuferischen Schriftprinzip bei A. Ritschl, Gesch. d. Pietismus I 72,

2, Der calvinistische Individualismus.

werk- und verdienstlosen Glaubens; alle Sorgfalt wird auf die Pflege des eigenen Gefühlslebens, die Erhaltung der Stimmung einer ver­ dienstlosen Seligkeit gerichtet und die Ethik geradezu bloß als Bewahrung des Gnadenstands konstruiert, der durch grobe Sünden wie durch Vertrauen auf eigene Kraft verloren geht. Von dieser Verlierbarkeit des Gnadenstandes und darum auch von dieser Furcht weiß der Calvinismus nichts. Er braucht sich daher auch nicht auf die Selbstbewahrung im Gnadenstande abzustimmen, bedarf über­ haupt nicht der stetigen Richtung auf das persönliche Gefühls- und Stimmungsieben. Er weiß, daß die Erwählung unverlierbar ist und wird darum die Arbeit nicht wesentlich auf seine Glaubenssicherheit, sondern auf die nach Gottes Willen zu bearbeitende Welt und Ge­ meinschaft richten. Er wird nicht Gott festhalten müssen, sondern umgekehrt selbst durch Gott gehalten sein. Er wird das neue, gott­ innige Selbst nicht bewa.hren, sondern offenbaren müssen. So erhält der reformierte Individualismus nach allen Seiten Antriebe zur Akti­ vität, zu einem vollen Einsatz der Person in die Welt- und Ge­ meinschaftsaufgaben , zu einer rastlosen , eindringenden und ge­ staltenden Arbeit. Sein Individualismus ist nicht bloß härter und spröder in der religiösen Metaphysik begründet; er leidet auch nicht unter den beständigen Abbrechungen und Rückfällen , wie der des Luthertums, das sich dann immer bloß an die Sündenver­ gebung hält. Er organisiert zusammenhängend und systematisch, geradlinig und zielbewußt die Arbeit der Bewährung. Vor allem aber hat dieser spezifisch calvinistische Individualismus in der Ab­ lehnung gefühlsmäßiger Expansion und in der Zurückstellung aller menschlichen Beziehungen hinter dem Gottvertrauen die Eigen­ tümlichkeit, beim Herausgehen aus sich selbst sich stets auf sach­ liche Zusammenhänge und Zwecke zu richten. Calvins Brief­ wechsel ist von einer erstaunlichen Objektivität und Zurückhal­ tung des eigenen Selbst, verbunden mit einer rastlosen Sammlung aller für die Zwecke der christlichen Gemeinde. Die Kreatur hat keinen Selbstwert für das erwählte Ich , aber einen ungeheuren Mittelwert für die Aufgaben des Gottesreiches. Es ist ein Individualismus , der verschieden ist von dem ka­ tholischen und von dem lutherischen , aber auch von dem opti­ mistisch-rationalistischen der Auf klärung. Auf der Grundlage ver­ nichtender Sündenerkenntnis und pessimistischer Weltbeurteilung, ohne jede Schönfärberei und Gefühlsseligkeit, ist es der Individua­ lismus der Erwählungsgewißheit , des Verantwortungsgefühls und

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

der Verpflichtung zum persönlichen Dienst unter die Herrschaft Christi. Er äußert sich in der reflektierenden und bewußten Art calvinistischer Frömmigkeit , in dem systematischen Geiste der Selbstkontrolle und der Unabhängigkeit von allem Kreatürlichen. Nur durch die erbarmende Gnade der Erwählung hat das Indi­ viduum Wert, und nur Gott allein darf es die Ehre geben. Das ergibt einen auf der Folie der strengsten Selbstverurteilung sich erhebenden Aristokratismus und eine kühle , nur die weltliche Zweckmäßigkeit in Betracht ziehende Behandlung alles Weltlichen und Kreatürlichen bis in die bloß weltlichen und natürlichen Per­ sönlichkeitsbeziehungen hinein. Indem dann bei den Nachfolgern Calvins die Dogmatik und die praktische Seelsorge immer dringen­ der die Frage nach der Art der Gewißwerdung von der Erwählung zu erheben und zu beantworten hatte, ergab sich seit Beza die Lehre von der V ergewisserung der Erwählung an den Werken als den Kennzeichen des Gnadenstandes. Dieser immer lauter entfaltete Gedanke zwingt nun vollends das Individuum , das im Luthertum sich an die objektiven Gnadenmittel halten kann, zur Beobachtung seiner selbst und zur systematischen Steigerung und Zusammenschließung seiner Leistung. Das erhöht die Konzentra­ tion auf das eigene Selbst, die methodische Selbstbeurteilung und die straffe Spannung auf das Ziel der möglichsten Vollkommen­ heit. Er nähert sich unter Umständen der Gesetzlichkeit und dem Perfektionismus; er macht, obwohl die Auswirkung der Erwählung aufs strengste an Kirche, Schrift und Sakrament gebunden ist, doch das Individuum im Grunde unabhängig von der Kirche und stellt die Vergewisserung wie die Erwählung selbst völlig auf das indi­ viduelle Gewißwerden und Gewißmachen. Hierin liegt aber eine ungewollte Verselbständigung des Individuums gegen die Kirche, die sich mit dem Individualismus des Sektentypus leise berührt, wie auch die Strenge der Selbstkontrolle durch die Bibel an ihn erinnert trotz der Eintauchung des ganzen Gedankens in die Atmosphäre des strengsten Kirchen- und Gnadenprinzips , die dann immer wieder durch die Zurückführung aller individuellen Persönlichkeit und ihrer Leistung auf die Auswirkung der Prä­ destination erreicht wird 820). 820)

Ueber diese Sonderart des r eformierten Individualismus Schneckenburger und bes. Max Weber, Archiv XXI S. 5-14, wobei Weber sehr mit Recht hinweist auf den sehr verschiedenen Sinn, den das Wort Individualismus decken könne. Es kann die mittelalterliche Bewegungsfreiheit und Buntheit abgestufter Beziehun-

3. Das Sozialideal der heiligen Gemeinde.

Damit steht scheinbar im Gegensatz der d r i t t e Hauptpunkt, die zentrale Bedeutung des Gemeindegedankens und die Aufgabe der Herstellung einer heiligen Gemeinde, einer Gott im geistlichen und weltlichen Handeln verherrlichenden Christokratie. Aber dieser Gemeindegedanke ist auch nicht von dem Kirchen- und Gnaden­ gedanken hergeleitet wie der lutherische, sondern von demselben Prinzip, das das Individuum zu verselbständigen scheint, nämlich von der ethischen Aufgabe der Bewährung und Auswirkung der Erwählung und von dem abstrakten Biblizismus. Die Kirche ist nämlich für ihn nicht bloß Heilsanstalt der Darbietung der objekti­ ven Heilsmittel , von denen alles übrige als Folge zu erwarten wäre und von der aus die Ungöttlichkeit der Welt in Demut und Ge­ duld ertragen werden müßte. Die Heilsanstalt soll vielmehr zugen bei relativer Gleichheit der geistigen Lebensinhalte, die moderne Bewußtheit und Differenziertheit bei möglichster Gleichheit der rechtlich-sozialen Lage, die katholische Mystik und den katholischen Liberalismus, die lutherische Glaubens­ seligkeit und die reformierte Selbstkonzentration und Selbstkontrolle bedeuten. Nicht ein gesteigerter Individualismus, sondern eine besondere Art des Individua­ lismus charakterisiert den Calvinismus, s, Weber S. 12, Vgl. auch Rieker S. 72 und Seeberg, Begriff der Kirche I 1885 S. 123, die jedoch die Bindung der Auswirkung der Prädestination an die kirchlichen Mittel unterschätzen, weil sie glauben die späteren Indepedenten und Sekten direkt aus dem reformierten Individualismus ab­ leiten zu müssen, Das ist aber gegenüber dem direkt an Luther angelehnten Kirchenbegriff unmöglich, Für Calvin sind Kirche und Prädestination keine Kon­ kurrenten und ist der Kirchenbegriff in die Prädestination eingerahmt. Immerhin hat dieser Individualismus aus ethischen Gründen mehr Berührung mit dem der Sekten. Aber er ist, wie alle Annäherung an Gesetzlichkeit, Selbstbejahung des Willens, Her­ leitung der Gemeinschaft aus dem Zusammentritt der Individuen, was alles den Sekten zukommt, durch den in die Prädestinationslehre investierten Gnadenbegriff wieder auf­ gehoben. Dieses Wiederspiel der beiden Tendenzen hat Sclmeckenburger glänzend aufgedeckt. Er bemerkte auch erst die Analogie zur Sekte I 26: »Die äußere Kirche hat fast nur necessitas praecepti und es liegt nahe, sie sektiererisch ganz zu verwerfen• ; 50: •die weit größere Bedeutung der kirchlichen Anstalt für den Lutheraner«; 157: »Die Kirche macht nicht die Gläubigen zu dem, was sie sind, sondern die Gläubigen machen die Kirche zu dem, was sie ist : das ist der von Vinet sehr bezeichnend ausgesprochene Grundsatz, direkt entgegengesetzt der lutherischen Auffassung von dem Mutterschoß der KircheII faut que les bons m a g i s t r a t s r e s p e c t e n t 1 a v o i x c o m m u n e et les lamentations des gens de bien p r i n c i p a 1 e m e n t a u x e t a t s 1 i b r e s, o u s a n s 1 e p e u p 1 e i 1 s n e s o n t r i e n.« Das Recht dieses Krieges ist •piece ratifiee par le desir et Je consentement de tout ce peuple fidele et instruit en Ja crainte de Dieu«. Der Rat antwortet, daß er das Gewicht dieser Vorstellung empfinde, und übergibt sie Beza zur Begutachtung. S. 298: Die Minister beschließen gegen einen Beschluß des Rats der Zweihundert in Appel­ lationssachen. Daran schließt sich ein langer Streit zwischen den Ministern und dem Rat, der darin Auflehnung sieht. S. 347: Die Minister erheben Vorstellungen gegen Unregelmäßigkeiten bei einer Wahl und unterstützen die Vorstellung durch Pre­ digten. Auf Gegenvorstellungen des Rats bezeugt die Compagnie ihr ,deplaisir de ce que Messieurs ne s' unissent avec Je peuple ni avec eux ainsy que naguere«. Sie erklären ,qu' etant informe par Je peuple des particularites, des defauts qui sont en Ja seigneurie, ils sont contraints de reprendre Je magistrat en chaire, laquelle est la chaire de veritec. Weitere Beispiele S. 356, 375, 395, 396, 399, 610. S. 413: Die dauernde Bedeutung dieses cri au peuple in Genf. S. 467 treffender Vergleich der Minister mit der heutigen Wirkung der Presse. S. 469 das Gesamtbild: »lls etaient admirablement informes des circonstances materielles, commerciales et mo­ rales de la population, gräce a Jeurs fonctions d'officiers de moralite publique. Leurs röle de surveillants des doctrines et des moeurs ]es mettaient tout au courant des details de la vie quotidienne des citoyens. Ce röle de defenseurs et de tribuns populaires ou plutöt de prophetes de la Joi de Dieu a grandement contribue a ]es faire aimer des classes pauvres, il faisait d'eux des hommes admirablement places pour servir de mediateurs impartiaux entre ]es differentes couches sociales«. Mit Recht hebt auch Choisy den konstitutionellen Charakter des ganzen Gemein­ wesens hervor; S. 498: ,Les edits politiques et !es ordonnances ecclesiastiques, redi­ ges sous l'influence et avec la participation de Calvin, sont une autorite superieure au magistrat et mettent une barriere a ses visees absolutistes; c'est le d r oit c o n­ s t i t u t i o n e l dont il ne lui est permis de s'ecarter et auquel il ne peut toucher, sans

Folgerung der Volkssouveränität bei Beza.

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um Interessen des Volkes , um gerechtes Gericht , Durchführung des Unterstützungswesens, um wirtschaftliche und politische Not­ stände und Unsitten und ähnliches handelte. Trotz aller Hoch­ schätzung der Autorität und aller Verpflichtung des Privatmanns zum Gehorsam ist das doch die Parole : Durch das Volk und für das Volk. Es ist daher gar nicht verwunderlich, wenn schließlich Cal­ vins treuester Jünger und Nachfolger , Beza , angesichts der Bar­ tholomäusnacht und der unverbesserlichen Gottlosigkeit der fran­ zösischen Staatsgewalten die Theorie vom Untertanc:ngehorsam überhaupt aufhob und für solche Notfälle unumwunden die Sou­ veränität des Volkes als letzte Instanz verkündigte. Das ist die Bedeutung seiner kleinen Schrift »de jure magistratuum«, die erst neuerdings sicher auf ihn als Urheber zurückgeführt ist. Seine Mei­ nung war dabei noch kein künstliches rationalistisches Staatsrecht mit Staatsvertrag und ähnlichem, sondern nur der einfache Grund­ gedanke, daß göttliches und natürliches Recht das Volk zur letzten Quelle des Rechtes machen , wenn alle anderen Instanzen ver­ sagen; daß auch die bewaffnete Revolution erlaubt sei, wenn keine andern Mittel übrig bleiben; daß die Obrigkeiten an die in irgend einer Weise das Naturgesetz enthaltenden positiven Gesetze und mangels derer an das stillschweigend vorausgesetzte Natur­ gesetz gebunden bleiben und im Falle tyrannischer Verletzung von den dazu berufenen Instanzen gemahnt und gezwungen werden dürfen, wenn ihr eigenes Gewissen versagt. Es ist die Volks­ souveränität, das Revolutionsrecht und die konstitutionelle Bindung. Aber all das ist freilich eingebettet in eine Menge von Vorbele consentement du peuple reuni en Conseil general • • • Le pouvoir du Magistrat se borne a un droit de contröle et de conservation. « In Konfliktsfällen kann er nur durch Berufung der Gutachten fremder Kirchen sich helfen. Comme le Magistrat, les fideles doivent veiller a ce que tout ce qui ce fait dans l' eglise, soit conforme aux Ordonnances de Ja parole de Dieu; ils peuvent s'opposer a l'election d'un ministre qu'ils ne jugeaient pas digne de sa charge et demander a l'autorite com­ petente la deposition de celui qui ne Ja remplirait fidelementc - das allein ist ein entschieden demokratischer Grundgedanke,abercharakteristisch bleibt, daß dabei immer das Volk als durch seine von Gott bestellten Vertreter handelnd gedacht wird. Diese Vertreter sind im höchsten Sinne die Minister, die sich daher mit Vorliebe mit den Propheten des AT. und deren Volksmission vergleichen S. 72 und 123. Ein direktes Handeln des Volks gibt es nur bei den Wahlen, aus denen aber die Machthaber erst durch ein sorgfältiges Filtriersystem hervorgehen; außerdem durch Beschwerden und Denunziationen bei den Geistlichen und Aeltesten.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

halten und Einschränkungen, die mit diesem demokratisch-indivi­ dualistischen Geiste die alte christliche Autoritäts- und Ergebungs­ lehre sowie die Lehre von dem göttlichen Recht und der gött­ lichen Einsetzung der historischen Gewalten verbinden. Alle diese Rechte und Pflichten nämlich gelten zunächst nicht vom Privatmann, sondern nur von den irgendwie gesetzlich Berufenen, von Ständen, niederen Magistraten, Wahlkörpern, die im Interesse des Volkes zu handeln beauftragt und verpflichtet sind; auch handelt es sich nicht abstrakt um vernunftgemäße Gestaltung der Gesellschaft, sondern um Besserung oder Ersetzung der schlechten Obrigkeit, wornach dann die alten historischen und darum göttlichen Rechte wieder in Kraft treten; schließlich ist all das erlaubt nur gegen die wirklich zum Tyrannen entartete Obrigkeit d. h. gegen eine Staatsgewalt, die natürliches und göttliches Recht dauernd auflöst und gegen die erste und zweite Tafel des Dekalogs sich grundsätzlich vergeht. Es ist immer noch ein Kompromiß der Lehren von der Göttlich­ keit der Obrigkeit , welche der geschichtliche Prozeß unter der Leitung Gottes emporträgt, und von der leidenden Gehorsams­ pflicht des Christen, die die Bibel vorschreibt , mit dem refor­ mierten Individualismus und seinem rationellen Gesellschafts­ ideal, dessen praktische Betätigung die eigentliche Pflicht gegen­ über der Ehre Gottes ist und unter den Satz fällt, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Es ist schon bei Calvin ein Kompromiß gewesen. Bei Beza ist in diesem Kom­ promiß nur der Ton noch viel stärker auf das individualistisch­ rationelle und demokratische Element gefallen. Was diese Ent­ wickelung der Theorie möglich machte, deutet er selbst an, indem er sich auf das Volkswohl als auf den Zweck des Staates und auf das Recht des Appells an das Volk gegen die Obrigkeit be­ ruft, dem dann auch das Recht eines praktischen und bewaffneten Widerstandes folgen müsse. Das rationelle, in der Ethik des Cal­ vinismus eingeschlossene und mit dem christlichen Individualismus verbundene Naturrecht des Calvinismus zeigt'hier seine Bedeutung und seine Konsequenzen 372). 872) Es ist die berühmte Schrift De jure magistratuum in subditos, die bisher unter den sogenannten monarchomachischen Schriften anonym figurierte (auch noch bei Gierke, Althusius 2 S. 4), die aber von Cartier (Bulletin de Ja Soc. d'histoire et d'archeologie de Geneve Bd. II 1898-1904 S. 187-206) als von Beza stam­ mend aus den Ratsprotokollen erwiesen ist. Mir liegt ein Druck von Basel 1580 vor als Beigabe zu Machiavellis Principe, zusammen mit den Vindiciae contra tyran-

Beza und die Genfer Staatslehre.

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Die Schrift Bezas, der diese Theorien in seinen Vorlesungen einer internationalen Studentenschaft vorzutragen pflegte, mußte auf nos. Der Rat verweigerte unter Billigung des Inhalts doch das Imprimatur aus Vorsicht gegenüber dem französischen Gesandten, und so erschien die Schrift mehr­ fach anonym. Ihr Inhalt wird von Cartier treffend mit folgenden Sätzen angegeben. S. 188: II n'y a d'autre volonte que celle d'un seul Dieu, qui soit perpetuelle et immuable regle de taute justice (es ist »jus illud naturae, a quo uno pendet totius humanae societatis conservatio« 266, gedacht in seiner Erstreckung auf beide Tafeln 207). - Les peuples auxquelles il a plu de se laisser gouverner ou par ·un prince ou par quelques seigneurs choisis, sont plus anciens que !es magistrats, et, par consequent, Je peuple n'est pas cree pour !es magistrats, mais au contraire !es magistrats pour !es peuples. - Taute resistence du sujet contre son superieur n'est pas illicite ni seditieux. - Juste resistence par les armes n'est point contraire a. la patience ni aux prieres des chretiens. - Tous se doivent opposer iJ. ceux qui vou­ lent usurper domination sur leurs concitoyens ou autres non sujets a. eux. - Les etats (Stände) sont pardessus les rois. - Les Etats ou autres ordonnes pour servir de frein aux souverains peuvent et doivent !es reprimer par toutes voies, quand ils sont devenus tyrans. - Le bien public et !es droits de Ja nation sont superieurs a. ceux de l'individu, meme a. ceux du souverain. - L'injuste usurpateur d' une do­ mination peut devenir magistrat legitime et inviolable, y entrevenant le volontaire et droit consentement par Jesquels les legitimes magistrats sont crees. - Etant persecute pour Ja religion, on se peut defendre par armes en banne conscience. Das klingt freilich alles sehr modern demokratisch, aber darüber sind nicht, wie meist geschieht, die echt calvinistischen Restriktionen zugunsten des historischen Rechtes und seiner Auffassung als durch Gottes Vorsehung mittelbar bewirkt und darum doch von Gott gesetzt zu übersehen. Ich habe sie oben im Text angegeben, sie durch­ ziehen immer wiederholt mit Betonung der christlichen Gehorsamsgesinnung das ganze Buch. Vor allem ist das wichtig für die Auffassung der Entstehung des Staates und des Staatsvertrages. Die Entstehung wird stets aristotelisch als organische ge­ dacht; der Staatsvertrag e.iner gegenseitigen Verpflichtung von Untertanen und Herrschern, einer Bindung des Herrschers an natürliches und göttliches Recht, liegt darin nur stillschweigend und selbstverständlich. Das historische Recht ist überall anzuerkennen, ist aber ein göttliches nur, wenn es im Inhalt mit dem natürlichen und göttlichen Recht sich deckt, sonst wäre jeder Räuber göttlichen Rechts S. 287. Die gegenseitige Obligation ist beim Bestehen bestimmter positiver Gesetze selbst­ verständlich, bei deren Mangel auf das stillschweigend vorausgesetzte Naturgesetz zu begründen S. 270 und 273. Von einer rationellen Staatsgestaltung durch einen Staats­ vertrag ist keine Rede, es ist nur im historischen Recht der göttlich-natürliche Kern im Falle seiner totalen Verneinung zu behaupten. Und zwar nur auf legitimem Wege durch die Untergewalten; Privatleute können nur als von ihnen Beauftragte handeln, was freilich auf eine indirekte Heranziehung auch der Privatleute hinaus­ kommt S. 279. Auf die Korrektur des Tyrannen folgt die Wiederherstellung des historischen Rechtes, sei es durch ihn selbst oder durch einen andern an seine T r o e lt s c h , Gesammelte Schriften. I. 44

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III.Protestantismus. 3. Der Calvinismus.

Befehl des Rates anonym bleiben. Aber sie stand in sachlichem und persönlichem Zusammenhang mit einer Reihe verwandter berühmter Publikationen von Theologen, Juristen und Politikern. Hotmann hat das Manuskript gelesen, und seine Franco-Gallia ist aller Wahrschein­ lichkeit nach gleichzeitig mit Bezas Schrift von beiden geplant worden. Die beiden, dazu Henri Estienne und Gentillet, bespraStelle Tretenden. S.293 : Si quidem cum non nisi certis conditionibus administra­ tio illi (d. h. dem Tyrannen) sit commissa: minime censendum est, novas pactiones cum ipso iniri, quoties interpellatur ut vel priores conditiones ratas habeat easque deinceps observet, vel alteri locum cedat, qui de illorum observatione magis sit futurus sollicitur •.. Ordines vero vel status regionis (d. h. die zur Revolution be­ rechtigten Untergewalten), quibus haec autoritas a legibus est collata, eatenus sese tyranno opponere atque adeo ipsi justas et promeritas poenas irrogare et possunt et debent, donec r e s i n p r i s t i n u m statum restitutae sint. Quodsi praestiterint, tantum abest, ut seditiosi aut perduelles habendi sint, ut contra officio suo et jura­ mento probe defuncti turn demum censeri debeant S. 266. - Der Verzicht Christi und der Apostel auf Widerstand gegen die Staatsgewalt, ihr ganzes Leidensprogramm, er­ klärt sich daraus, daß sie noch Privatleute waren und keine Unterobrigkeiten zum Schutz des Rechtes zur Verfügung hatten, und so sind sie bis heute die Norm der bloßen Privatleute: Dominus noster Jesus Christus, prophetae item ac apostoli, cum privati erant homines, sese intra metas suae vocationis continuerunt S. 309 1 Das ist doch überall die strengste Festhaltung des historischen Rechtes, und es ist be­ greiflich, daß der Genfer Rat die Schrift inhaltlich approbiert hat. Hat doch auch Luther, freilich erst unter dem Einfluß des Gutachtens der Juristen von 1530, sich solchen Anschauungen genähert bis auf den Satz vom Tyrannenmord und der mu­ tua obligatio zwischen Volk und Herrschern, hat doch auch schon Melanchthon die Unterscheidung zwischen Privatleuten und Magistratus inferiores; ebenso Osian­ der (?); auch die erasmische und die scholastische Staatslehre steht hier im Hin­ tergrunde, s. Cardauns, Widerstandsrecht S. 8-15, 31 f. - Die positiven Gründe für die Berechtigung seiner Theorie hat Beza klar ausgesprochen. Es ist r. der christliche und der Vernunftzweck des Staates S.216. Es ist 2.die Konsequenz des Rügerechtes S. 217. - Daß derartige Theorien unmittelbar aus Calvins Unterricht hervorgehen konnten, zeigt noch schlagender die Theorie von Knox, die in Genf konzipiert ist, und die das Widerstandsrecht fast ohne Kautelen lehrende Schrift des zweiten Pastors der englischen Gemeinde Goodman, How superior po­ wers ought to te obeyed of their subjects and wherein they may lawfully by Gods word be desobeyed and resisted, Genf 1558. Die Schrift hat Calvin vorgelegen, und der Verfasser berichtet, Calvin habe sie als hart und der Vorsicht bedürftig, aber als richtig anerkannt, Doumergue S. 28 f. Direkt aus der Institutio Calvins fließt der Traktat des englischen Bischofs Poynet: >A short treatise of politic power and of the true obedience which subjects owe to the Kings and other civile governors 1556, geschrieben in Straßburg, Cardauns 37-40.

Die Monarchomachen und die hugenottische Staatslehre.

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eben die Theorie und den literarischen Feldzugsplan 373). Es ist die Literatur der sog. calvinistischen Monarchomachen , zu der übrigens auch der Begründer der selbständigen calvinistischen Ethik, Lambert Danäus, und ein so energisch im Zentrum calvi­ nistischer Theologie, Diplomatie und Kirchenorganisation stehen­ der Mann , wie Duplessis-Mornay, der Verfasser der Vindiciae contra tyrannos, gehören. Auf Bezas Anregung ging auch der erste Bericht über die Bartholomäusnacht, die Schrift De furoribus Gallicis zurück, wenn wirklich der Prediger Ricant ihr Verfasser ist, und noch der orthodoxe Theologe Jurieu vertrat diese theo­ logisch-ethisch-politischen Theorien. In dieser ganzen Literatur kehren die von Beza entwickel­ ten Gedanken , die die Genfer Schuldoktrin darstellen, mit ver­ schiedenen Anpassungen und Ausweitungen wieder, unverkennbar praktisch bestimmt durch den unheilbaren Gegensatz gegen die französische Krone und durch die Tatsache der hugenot­ tischen und niederländischen Erhebung, aber doch nur eine be­ grifflich-theoretische Deduktion aus calvinistischen Grundprinzipien und darum charakteristisch für deren Tragweite und Möglichkeiten. Volkssouveränetät , Vertragslehre , Revolutionsrecht , gesetzliche Bindung der Herrschenden treten darin scharf hervor, aber ebenso scharf auch die echt calvinistischen Einschränkungen aller radi­ kal-naturrechtlichen Sätze durch den Gedanken des historischen und darum göttlichen Rechtes und die Voraussetzung der prinzi­ piellen Ungleichheit der Menschen. Insbesondere ist die hierbei eingeführte Vertragslehre weit entfernt von ihrer späteren rein rationalistischen Verwertung , die sie in dem von der Theologie emanzipierten klassischen modernen Naturrecht der Aufklärung erfuhr. Nirgends handelt es sich um das Zustandekommen der Gesellschaft selbst durch den grundlegenden Gesellschaftsvertrag. Die wird vielmehr immer im Lichte der aristotelisch-organischen Theorie gesehen; es ist die Bildung der Gesellschaft durch Natur und Vernunft mit der gemeinsamen Unterwerfung der verschieden gestellten Glieder durch das die Vernunft ausdrückende Gesetz. Im­ mer handelt e� sich erst um den »Herrschaftsvertrag«, der als in je­ der Herrschaft naturrechtlich enthalten vorausgesetzt wird und der positiv rechtlichen Formulierung gar nicht erst bedarf, obwohl eine solche meist in der Tat vorhanden ist und nur wieder aus den alten Volks- und ständischen Rechten hervorgeholt zu werden braucht. 378)

Cartier, S. 204 f.

44 *

III. Prote&tantismus.

3. Der Calvinismus,

Zugleich wird dieser naturrechtliche Vertrag wesentlich erläutert aus der Bibel des Alten Testaments, wo es ein Vertrag zwi­ schen Gott einerseits und Herrscher und Volk andererseits ist, also etwas ganz anderes als der Urvertrag des klassischen Naturrechts. Naturrecht und Vertragsidee sind durchaus theo­ logisch gewendet , indem sie ein in der Bibel urbildlich darge­ stelltes und in jedem Herrschaftsverhältnis enthaltenes Ingre­ dienz darstellen , das nicht sowohl eine rationelle Konstruktion des Staates als eine moralisch-religiöse Kontrolle der herrschen­ den historischen Gewalten ermöglichen soll. Von einem radikal­ rationalen Neubau des Staates, der gleichgültig wäre gegen das göttliche Recht des geschichtlich Gewordenen , ist nirgends die Rede. Daher wird auch keinerlei bestimmte Staatsform von hier aus abgeleitet, sondern das, wie bei Calvin, den Umständen anheimgegeben. Es wird nur der calvinistische Gedanke der mutua obligatio von Volk und Herrschergewalt und von der Be­ deutung der Kontrolinstanzen der unteren Behörden und Wahl­ körper weiter entwickelt, freilich in einem Sinne, der mehr dem thomistischen und humanistischen Naturrecht entspricht als dem stark lutherisch gefärbten Autoritarismus Calvins 874). 3H) Vgl. hierzu Cartier, S. 204-206; Figgis from Gerson to Grotius; Bau­ drillart, Bodin et son temps 1853; Cardauns, Widerstandsrecht, 1903; Treumann, Monarchomachen, 1895 (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen hsg, v. Jellinek Nr. 1); Elkan, Publizistik der Bartholomäusnacht und Mornays Vindiciae, 1905 (Heidelberger Abhh. zur mittleren und neueren Gesch. Nr. 9); Mealy, Les publi­ cistes de Ja reforme, 1903 (These der Pariser Faculte de theol. prot.); über Jurieu s. Doumergue S. 22 und Luran, Les doctrine politiques de J., 1904. Die theo­ logische Ethik des Calvinismus ist leider in dieser Hinsicht noch nicht durchsucht worden, jedenfalls geht sie seit Beza hier in wichtigen Vertretern einig mit den Publizisten und Juristen. So darf auch die Annäherung der ,Monarchomachen« an Rousseausche Prinzipien nicht überschätzt werden. Es handelt sich bei ihnen um biblisch-naturrechtlich-theologische Deduktionen, nicht um den entschlossenen Ra­ tionalismus einer verselbständigten Staatsphilosophie. Das hat Treumann durch Aufweis der mangelnden Unterscheidung des Gesellschafts- und des Herrschaftsvertrages (Seite 50, auch Elkan 159), sowie in der Nachweisung der »theokratischen« Einschränkungen {53 bis 57) erkannt, aber doch nicht genügend in seiner Bedeutung geschätzt. Es handelt sich nicht um »Beibehaltung der Vertragsideen, ohne daß man deshalb an der theokratischen Begründung des Herrscherrechtes sich vergriff« S. 56, sondern um Einführung dieser Idee als Ingredienz auch in alles historische Recht ; nicht um Beseitigung eines bisherigen absoluten theokratisch-monarchischen Staatsideals (S. 77) - das hat es im Calvinismus nie gegeben - sondern um Einführung

John Knox und die schottische Staatslehre.

Weiter noch als Beza und die Hugenotten entfernten sich John Knox und die schottische Schule von dem ursprünglich-ca!von Kontrollen in die wie immer geartete Verfassung. Die Vertragsidee ist daher weit entfernt von jeder Aehnlichkeit mit den Fassungen bei Hobbes, Grotius und Rousseau, bleibt auf dem Standpunkt des historischen und darum göttliclien Rechtes. - So fehlt bei ihnen auch die notwendige Voraussetzung der späteren Staatsphilosophie des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages, die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit. Zwar meint Elkan S. 30: ,Im letzten Grunde basierte doch das ganze Gebäude auf der als ganz selbstverständlich an­ genommenen Freiheit des Menschen. Diese Lehre zu begründen, nimmt sich nie­ mand die Mühe, es ist schwerlich jemand in den Sinn gehommen, sie zu bezwei­ feln. « Damit erweist er aber nur die Abwesenheit dieser Lehre. In Wahrheit be­ ruht gerade auf dieser Abwesenheit der calvinistische und unmoderne Charakter dieser ganzen Literatur. Der Gesellschaftsvertrag der Gleichen und Freien ist über­ flüssig, weil für die Entstehung der Gesellschaft die aristotelisch-organische Lehre gilt; mit dieser aber ist die Ungleichheit der Stände, die Unterscheidung des Pri­ vatmannes und des Amtsinhabers, die Herrschaft des objektiven Gesetzes, nicht der subjektiv gleichen Vernunftbeteiligung, gegeben. Ueberdies kommt dazu der Ausschluß des Gleichheitsgedankens durch die von der Prädestinationslehre aus­ gehende Stimmung. Die Jugendschrift des übrigens nicht calvinistischen La Boetie ,Discours de Ja servitude volontaire « , die von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit im stoisch-humanistischen Sinne ausging und die Knechtschaft aus frei­ williger Unterwerfung erklärte, ist von den Calvinisten abgelehnt worden (Baudril­ lart 68 - 73), Mealy 63, und wenn der Reveille-matin aus ihm Materialien entnimmt, so geschieht es mit charakteristischen Veränderungen: zu den Worten: ,C'est Je peuple qui prend le joug« macht er den Zusatz »et pouvant vivre sous de bonnes loix et sous Ja protection des Estats veut vivre sous l'iniquite, sous l'oppression et injustice au seul plaisir de ce tyran. « Das Normale ist nicht Freiheit und Gleich­ heit, sondern gute Gesetze und Schutz des Privatmannes durch Kontrollgewalten, die die Macht auf ihren vernünftigen Zweck und ihre göttliche Bestimmung ein­ schränken. - Zu beachten ist, daß Cardauns die reformierte Theorie von dem hessisch und straßburgisch beeinflußten Zweige der lutherischen Publizistik aus den Zeiten des Schmalkaldischen Bundes und der Magdeburger Kämpfe herleitet, wie denn Bezas Traktat sich in seiner ersten Ausgabe 1574 als ,publie de ceux de Magdebourg !'an 155 0« einführt (Cartier 187). Auch Ritter, Anfänge des niederländ. Aufstandes (Hist. Zeitschr. 5 8, 1887, S. 425), führt ein Schreiben von 15 66 an, in welchem ein die Frage des Widerstands und die Berechtigung der magistratus inferiores betreffender Traktat erwähnt wird, und führt diesen Traktat auf das Gut­ achten der Wittenberger Theologen und Juristen oder auf die > Vermahnung der Pfarrherrn von Magdeburg« 1549 zurück. S. auch Cardauns S. 71 Bezas Berufung auf die Magdeburger. In der Tat finden sich in der deutschen Publizistik, freilich ver­ worren und auf vielerlei Autoren verteilt, alle Gedanken und die wichtigsten Schulbei­ spiele der reformierten Theorie. Allein die calvinist. Lehren haben einen prinzipiell-

III. Protestantismus,

3. Der Calvinismus.

vinischen politischen Programm, aber auch sie ohne in das moderne, rein rationalistische Naturrecht überzugehen. John Knox war in seiner vorcalvinischen Zeit bestimmt durch John Major, der katholisch verbleibend - die uns bereits bekannte katholische Lehre von der Volkssouveränetät mit starkem demokratischen Ac­ cent vertrat. Von hier aus scheint Knox einen starken und dauern­ den Eindruck behalten zu haben. Schroffe Aeußerungen über den Tyrannenmord in dieser Zeit erklären sich wohl von da aus. In Genf unter dem Einfluß Calvins eignete er sich völlig die Genfer Grundsätze an und belehrte er den schottischen und englischen Adel als die zur religiösen Reform und zur Kon­ trolle der Staatsgewalt Berechtigten und Verpflichteten magistrats inferieurs über ihre Reformations- und Widerstandspflicht, die nur um des Evangeliums willen und in der Richtung auf die evange­ lischen Reformen bestehe, aber Gewalt ausschließe und in allen weltlichen Dingen strengen Gehorsam einschließe. Aber gegen­ über der Unmöglichkeit, hiermit sich die unentbehrlichen Macht­ mittel zu erhalten, und gegenüber der Gefahr, daß in England und Schottland die Königinnen durch Verheiratung mit auswärti­ gen katholischen Herrschern das Evangelium wieder völlig und planmäßig unterdrückten, wurde er zum entschlossenen Gegner der Erbmonarchie, deren Erbfolgerecht zu solchen Tollheiten führe und keinerlei Schutz gegen gottlose und ungerechte Tyrannen gewähre. So verlangte er die Wahl und Kontrolle der Monarchen wie die der Richter, erklärte er den bewaffneten Widerstand der magistrats inferieurs bis zum Todesurteil gegen den > Tyrannen« für Recht und Pflicht ; ja er rief schließlich auch die Privatleute auf, durch freie Bünde und eigene Initiative in die religiöse Re­ form und Gemeindebildung, damit dann aber auch in das poli­ tische Machtgetriebe, nötigenfalls gewaltsam einzugreifen. Es ist die Lehre von der Volkssouveränetät als der Forderung der Vernunft und der Bibel, von Recht und Pflicht des be­ waffneten Widerstandes bis zu der Hinrichtungsstrafe für gottlose Machthaber, von den Covenants und bewaffneten Erhebungen des Volkes für das Evangelium. Diese Lehre ist dann vielfach vertreten theoretischen Grundzug und eine Herleitung aus dem religiösen Grundgedanken des Calvinismus, der Ehre Gottes und der Gleichheit aller vor Gott, der sie von jenen lutherischen Theorien deutlich scheidet, wie denn diese Theorien im Luther­ tum selbst ein inkonsequenter und vergänglicher Seitenzweig gewesen sind, was Cardauns nicht genügend betont; s, oben S. 534 und 538.

John Knox und die schottische Staatslehre,

Cromwell.

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worden in der calvinistischen Ethik, in Schottland besonders von Buchanan, der zugleich einen sehr starken humanistischen Ein­ schlag zeigt. Es ist die Lehre der presbyterianischen Schotten und Engländer unter den Stuarts, die Lehre der Generale des Crom­ wellschen Heeres, die sich als die in der Verwirrung allein übrig bleibenden legitimen Gewalten ansahen. Es ist die Lehre, die Karl I den Kopf gekostet hat. Aber republikanisch und rationell­ naturrechtlich ist sie darum doch nicht. Auch sie ist noch christlich-naturrechtlich und biblisch-konservativ. Sie will nur eine Kontrolle der regierenden Gewalten nach den Grundsätzen des Volksrechts und des Wohles der christlichen Kirche ; sie ist legitimistisch, soweit es geht, hält sich stets an die möglichst legitimen Gewalten, die übrig bleiben, wenn die eigentlich legi­ time versagt. An einem rationellen Staatsaufbau vom Individuum her liegt ihr nichts. Sie will nur die Gewalt nach den Grund­ sätzen der selbstverständlichen Konstitution jedes Staates kontrol­ lieren, d. h. nach der Bibel und dem natürlichen Sittengesetz. Auch die englischen und schottischen Presbyterianier waren in die­ sem Sinne legitimistisch. Selbst Cromwell war kein Republikaner der Theorie, sondern ein Mann der legitimen Gewalten, der sich von den Ereignissen treiben ließ, bis sie ihm die Situation auf­ zwangen, in der sein politisches Herrschergenie sich entfalten und dann seinen eigenen Gesetzen gehorchen mußte. Der Sinn der ganzen Theorie ist immer der geblieben, den Knox in seiner be­ rühmten Unterredung mit Maria Stuart formulierte, als sie ihn einen Streber nach der Gewalt, einen Feind der Monarchen und Aufwiegler des Volkes nannte: » Gott bewahre mich davor, irgend eine Herrschergewalt auf mich zu nehmen oder Untertanen frei zu stellen, daß sie tun, was sie wollen. Mein Ziel ist allein, daß Fürsten und Untertanen beide Gott gehorchen 875). « ni) Vgl. Martin, De la genese des doctrines religieuses de John Knox, und De la genese des doctrines politiques de J. K. in Bulletin de Ja societe de l'hi­ stoire du prot. frangais 1906 S. 193-211 und 1907 S, 193-221. Außerdem Cardauns und Elkan, S. auch in dem gleich zu erwähnenden Buche von Bastide über Locke den Abschnitt theories politiques en Angleterre au 16 et 17 e siecles S. 137-176. Hier ist mit Recht - nach Gardiner - der konservativ-legitimistisch· calvinistische Charakter auch der presbyterianischen und der independentistischen Be­ wegung betont im Unterschied von den Levellem und verwandten Gruppen. Wir werden später sehen, daß die letzteren täuferischen und nicht calvinistischen Geistes sind. Die am sog, dndependentismusc beteiligten Kräfte sind eben grundverschie-

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Den Schritt zu einer rationellen Konstruktion des Staates und aller Gesellschaft von dem Gedanken der Volkssouveränität aus tat erst Althusius, dabei sich auf das Beispiel der Niederlande berufend, wie die Monarchomachen von dem Zusammenbruch ihrer Hoffnungen auf das französische Königtum ausgegangen waren. Er war strenger Calvinist, erst Lehrer an der calvinistischen Hoch­ schule in Herborn, dann Syndikus der städtischen Republik Emden, durch Berufungen nach Franeker und Leyden als eines der Häup­ ter calvinistischer Staatslehre anerkannt. Er wollte mit vollem Bewußtsein die Politik gegen Ethik, Theologie, Philosophie, Pu­ blizistik und Jurisprudenz verselbständigen, die zerstreuten Materia­ lien für den Neubau einer eigenen Disziplin sammeln, Natur­ recht und Dekalog nur als Voraussetzungen benützen, auf denen sich die eigentliche politische Theorie erst erheben sollte. Dabei hielt er den Gedanken der christlichen Gesellschaft und der Coin­ zidenz von Staats- und Kirchengebiet durchaus fest und befand sich insofern in der Tat noch im Geleise calvinistischen Denkens. Aber indem er die Voraussetzung der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aufstellte; indem er aus ihr die Gesellschaft in allen ihren Stufen, in der Familie, der freien Geselligkeit, der Korpo­ ration, der Gemeinde, der Provinz und dem Staat, mittelst eines ausdrücklichen oder stillschweigenden >Gesellschaftsvertrages« her­ vorgehen ließ, den er vom bisher allein beachteten Herrschaftsver­ trag unterschied; indem er schließlich die vom historischen Prozeß emporgetragenen Unter- und Obergewalten als vom Volkswillen ein­ gesetzte und kontrollierte Mandatare auffaßte : in alledem löste er den bisherigen Kompromiß zwischen dem historisch-göttlichen Recht und den Rechten der Individuen auf. Er schlug sich auf die Seite des humanistisch-stoischen, rein naturrechtlichen Gedankens. Das ist nicht mehr die Kontrolle der herrschenden Obergewalt nach den Grundsätzen des göttlichen und natürlichen Rechtes durch die zur Wahrnehmung des Volksrechts und der religiösen Interessen verpflichteten Mittelinstanzen, sondern das ist die Konstruktion der Gesellschaft von der Freiheit und Gleichheit der Individuen her, mit denjenigen Einschränkungen, die die Bedingungen einer geord­ neten und dem christlichen Lebenszweck dienenden Gesellschaft verlangten 376). ----

dene. - Auch Pareus in Heidelberg lehrte die Absetzbarkeit der Könige s. Bastide 144 ; das ist der englischen Revolution nicht eigentümlich. 376) Vgl. Gierkes Althusius 2, wo mit der bewunderungswürdigen Gelehrsam­ keit Gierkes die Herkunft aller Gedankenelemente geprüft ist. Gierke hebt auch

Althusius und Hugo Grotius.

So hat denn auch derjenige Denker, durch den das Naturrecht und die Vertragslehre erst zu ihrer welthistorischen Wirkung kamen, Hugo Grotius, den Zusammenhang mit dem Calvinismus ausdrück­ lich gelöst, das calvinistische Staatskirchentum zugunsten einer rationalistisch und politisch motivierten Toleranz bekämpft, die monarchomachische Lehre ausdrücklich abgelehnt als Ausgangs­ punkt seiner politischen Theorie und sich theologisch dem huma­ nistischen Rationalismus angeschlossen, der in den Niederlanden von Erasmus her seine Herrschaft nie ganz verloren hatte und in der arminianischen Theologie sich neu erhob. Von der ursprüng­ lichen Gleichheit und Freiheit her leitete er den Staat aus einem Vertrage ab, dessen Sinn der rein rationelle Wohlfahrtszweck ist und der sich einem Völkerrecht des Krieges und Friedens ein­ gliedert, das mit den konfessionellen Kriegen nichts mehr zu tun hat. Das ist trotz aller persönlichen Christlichkeit rein weltlich gedacht. Die weitere Geschichte dieser Lehre gehört daher nicht der Ge­ schichte des Calvinismus an, sondern der des rationellen natur­ rechtlichen Gedankens, dessen demokratische oder antidemokra­ tische Ausgestaltung von nun ab nur mehr in losem Verhältnis zu den christlichen Gedanken steht. Grotius selbst dachte stän­ disch und nicht demokratisch. Aber das hat bei ihm mit reli­ giösen Motiven nichts ·mehr zu tun, sondern entstammt rein ra­ tionell-politischen Erwägungen; er war bekanntlich mit Olden Bar­ neveld der Vertreter der städtischen Aristokratie. Der Gegensatz zwischen Calvins Wort » stat ( in Gottes Wesen) pro ratione volun­ tas « und Grotius' Lehre, daß das Vernunftge�etz auch gelte, wenn es - per impossibile - keinen Gott gäbe, beleuchtet die ganze Kluft, die beide Welten trennt. Grotius stand damit, wie übrigens mit Recht das der bisherigen religiösen Theorie gegenüber Neue scharf hervor, bes. die Voraussetzung der allgemeinen Freiheit und Gleichheit vor dem Staats­ vertrag S. 29, 79, 107; den Rückgang auf die souveräne Urversammlung S. 28, 30; den rationalistisch-apriorischen Charakter S. 59, 69; die Konstruktion des Ge­ sellschaftsvertrages neben und vor dem Herrschaftsvertrag S. 76; die Durchführung des Repräsentationsgedankens S. 217; die Aufsaugung der Majestät des Herrschers in die des Volkes S. 145. Die Reste der calvinistischen Schätzung des göttlich­ geschichtlichen Rechtes sind gering : Unterscheidung der Privatleute von den resi­ stenzberechtigten Mittelgewalten S. 34 und die Anerkennung der Mittelgewalten in ihren historisch bedingten Formen S. 35. So konnte der Lutheraner Peter Gartz die Lehre des Althusius als Produkt des »presbyterianischen Irrgeistes« bezeichnen S. 7, sie ist aber in Wahrheit ein Schritt über den echten Calvinismus hinaus und ein Mittelglied zwischen ihm und dem klassisch-rationalistischen Naturrecht.

III. Protestantismus,

3. Der Calvinismus.

auch Leibniz, der katholischen Naturrechtslehre immer noch näher als der calvinistischen oder gar der lutherischen. In Wahrheit ist es eine neue Welt. Wo die Gesellschaft rationell konstruiert und der Individualismus auf die Gleichheit und Freiheit der Vernunft der Individuen begründet wird, da ist nicht mehr calvinistischer Geist, sondern da liegt die Emanzipation der stoisch-rationalistischen Ideen von ihrer Verschmelzung mit den christlichen und eine darauf begründete spezifisch-moderne individualistische Gedankenbildung vor. Sie wahrt in der Ausnahme des religiösen Gewissens von den Pflichten des Staatsvertrages, soweit diese, wie in der angel­ sächsischen Welt, vorbehalten wurden, calvinistische Reste, ob­ wohl eine ähnliche Ausnahme auch von Spinoza aus rein philo­ sophischen Gründen gemacht wurde. Aber sie entfernt sich in dem Naturrecht der französischen Demokratie und vor allem Rousseaus weit von jeder Spur calvinistischen Geistes 377). 877) Das berühmte Hauptwerk des Grotius (von mir benützt in der Ueber­ setzung der Kirchmannschen Philos. Bibliothek 1869) zeigt überall den rein huma­ nistisch-philosophisch-juristischen Charakter und die grundlegende Berufung auf die Stoa, von deren kosmopolitischem Menschheitsgedanken die ganze Problemstellung des Kriegs- und Völkerrechts ausgeht; von hier aus soll geradezu die Zeit der kon­ fessionellen Kämpfe überwunden werden, Daher ist ihm das Naturrecht, die aprio­ risch-rationale Grundlage, völlig unabhängig von jeder Theologie und jedem Gottes­ glauben I 3 1, Für das Verhältnis zur bisherigen protestantischen Staatslehre ist charakteristisch die Erklärung bezüglich des AT,: ,Manche wollen das AT. zu einem Naturrecht erheben, allein mit Unrecht, Denn vieles darin stammt von dem freien Ratschluß Gottes ab, der allerdings mit der wahren Natur nicht im Wider­ streit steht« I 60, Das ist die Beseitigung der Identifikation des Naturrechts mit der alttestamentlichen politischen Ethik. Bezüglich des NT. heißt es: >Des NT. bediene ich mich, weil man das, was den Christen gestattet ist, nur aus ihm entnehmen kann. Ich habe aber diesen Inhalt g e g e n d e n V o r g a n g d e r M e i s t e n von dem Naturrecht selbst unterschieden ; indem ich überzeugt bin, daß i n d i e s e m h e i 1 i g s t e n a 1 1 e r G e s e t z e u n s e i n e h ö h e r e H e i l igk e i t g e l e h r t w i r d a l s d a s N a t u r r e c h t f ü r s i c h a l l e in v e r 1 a n g t. Doch habe ich immer angemerkt, ob einzelnes mehr angeraten als befohlen wird, da es unrecht und straf bar ist, von den Geboten (d, h. dem auch naturrechtlich Gebotenen) abzuweichen, während es das Zeichen eines edlen Sinnes ist, dem sein Lohn nicht entgehen wird, wenn man nach dem Höchsten (also den die Naturforderungen überbietenden evangelischen Forderungen) strebt« S, 61, Das ist die Preisgabe der protestantischen Identifikation von Naturgesetz und Bergpredigt und die endgültige Emanzipation des Naturrechts von den Geboten der Bergpredigt, wie die spätere lange Beweisführung zeigt. Dazu kommt die energische Begründung des Vertrags auf die Voraussetzung eines ursprünglichen Kommunismus und einer ur-

Locke und die englisch-liberale Staatstheorie.

Auch den zweiten großen Begründer des modernen Natur­ rechts, John Locke , darf man nur mit Vorsicht in Verbindung mit dem Calvinismus und seinem christlichen Naturrecht bringen. Zwar ist Locke von seinem puritanisch gesinnten Vater in calvi­ nistischem Sinne erzogen worden ; sein ganzes Wesen hat eine Richtung auf calvinistische Nüchternheit, Arbeitsamkeit und uti­ litarische Sachlichkeit behalten, seine Gesinnung war stets auf eine ebenso feine und klare als ernste und warme Frömmigkeit gerichtet. Aber den Puritanismus hat er doch schon früh in wesentlich independentem Sinne aufgefaßt, und seine spätere Kirchen- und Toleranztheorie entspricht dem Sektentypus, nicht dem Calvinismus. Andrerseits hat er nicht minder frühzeitig die Theologie in latitudinarischem Sinne aufgefaßt und später unter dem Einfluß von Arminianern und Socinianern ihr sein eigen­ tümliches, sehr originelles und geistvolles, aber ganz uncalvinisti­ sches Gepräge gegeben. Das zweite vereinigte sich dann mit dem ersten, sodaß seine Freigebung der Kulte zugleich die Frei­ gebung des philosophischen und theologischen Interesses und die Sicherstellung der Gedankenfreiheit neben den Kirchen bedeutete. Vollends seine Staatstheorie des liberalen Konstitutionalismus sprünglichen Freiheit und Gleichheit I 70, 74, 76, 80, 90, ferner die Ablehnung der monarchomachischen Theorien im Interesse einer einheitlichen und dem Glaubenszank entrückten Staatsgewalt I 195. Dementsprechend bestreitet Grotius auch die Prädesti­ nation und schließt sich dogmatisch den Arminianern und Sozinianern an. - Das Naturrecht der Zeit nach Grotius entfernt sich noch weiter von den calvinistischen Grundlagen. Rousseau vor allem, von dem Gierke treffend sagt, daß er den Herr­ schaftsvertrag in den Gesellschaftsvertrag zurückgeschlungen hat (Alth. 91 f.), hat eben damit jedes historische Recht vernichtet und das Ideal kleiner föderativer Repu­ bliken mit Wahrung der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit durch die Begrün­ dung aller Gesetzgebung auf di& Urversammlung aufgestellt, was den Schweizer Republiken entsprechen mag, aber mit dem Geiste des Calvinismus gar nichts zu tun hat, sondern sein reines Gegenteil ist. - Die Apologetik der französischen Pro­ testanten, die auch bei den Freidenkern auf den Haß gegen den Protestantismus als den Störer der französischen Nationaleinheit stößt, liebt begreiflicherweise die Ableitung Rousseaus vom Calvinismus s. die erwähnte Arbeit von Mealy und sehr viel zurückhaltender Doumergue S. 53 und 55-63. Aber das ist nichtsdestoweniger ein Irrtum. Grotius und Pufendorf als >representants de Ja politique calviniste« S. 2 5 zu bezeichnen, ist einfach falsch; der von D. mit besonderem Nachdruck ange­ führte Genfer Jurist Burlamaqui, t l 748, ist Vertreter des reinen individualistischen Rationalismus der Freiheit und Gleichheit, aber dem calvinistischen Denken ganz ferne. Auch Jurieu, t 1713, zeigt bereits diesen fremden Einfluß S. 22 f.

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus,

hängt zwar offensichtlich mit dem christlichen Naturrecht calvini­ stischer und scholastischer Fassung zusammen. So hat er sich denn auch gerne auf Hooker berufen, dessen Ecclesiastical Polity in ihrem ersten Teil ein Abriß des rationalen christlichen Naturrechts ist, im zweiten aber zu Ehren des Elisabethanischen Anglikanismus abbiegt zu einer Delegation des Volkswillens und der kirchlichen Advokatie und Konformität an die Krone, sehr im Gegensatz ge­ gen die Majorität der anglikanischen Staatslehrer, die vielmehr in Filmers patriarchalischem Absolutismus ihren schärfsten, mit der lutherischen Gewaltlehre verwandten Ausdruck fand. Aber so sehr Lockes Naturrecht durch die Theorie von der mutua obligatio, von dem stillschweigenden Enthaltensein des Herrschaftsvertrages in allen Staatseinrichtungen, von dem rein irdisch-utilitarischen Cha­ rakter des Staates und dem Recht des Volkes zur Kontrolle und Absetzung der herrschenden Gewalten an das calvinistische Naturrecht erinnert, sein Naturrecht selbst ist in seinen Grund­ lagen doch anders gedacht. Er mischt die Elemente des bisherigen Naturrechts überhaupt neu, indem er weder an den stoischen Ra­ tionalismus, noch an die biblische Offenbarung, sondern an einen utilitarischen Empirismus anknüpft, von diesem aus dann freilich oft zu den älteren Gedanken wieder hinüberstrebt. Sein Naturrecht ist ein psychologisch zu erklärendes Ergebnis aus dem Urzustand der Gleichheit und Freiheit aller ; die Menschen vereinigen sich zur Er­ haltung und Eingrenzung eben dieser Freiheit und Gleichheit zu­ nächst in naturgewachsenen Gesellschaften und gestalten die hierbei nötig werdende Herrschaftsgewalt nach ihrer Angemessenheit zu den Wohlfahrtszwecken der Individuen. Dies Naturgesetz des wohlver­ standenen Interesses steht nun zwar unter der göttlichen Leitung und ist im Dekalog göttlich wiederholt und dargestellt, befindet sich also in Uebereinstimmung mit der Offenbarung. Aber seine Schöpfungen dienen lediglich dem Woh! der Individuen und nicht der Ehre Gottes. Die kirchlichen Gemeinschaften stehen völlig daneben und sind freie Vereine, die in allen politischen und moralischen Dingen der staatlichen Ordnung sich fügen müssen und nur in Kult und Theologie frei sind. Nichts fürchtet Locke so sehr als die Priesterherrschaft, sie sei katholisch, anglika­ nisch oder presbyterianisch. In den nie ganz zu vermeidenden Konfliktsfällen zwischen kirchlichen und staatlichen Auffassun­ gen des Moralischen empfiehlt er dann freilich wieder in der Weise Calvins den leidenden Gehorsam; gegenüber einer dauernd

Hobbes und Pufendorf.

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ungerechten Staatsgewalt erlaubt er die Erhebung und den Wider­ stand der Nächstberechtigten bis schließlich zum Recht der Revolution, da man Gott - und das ist bei ihm die sittliche Ord­ nung - mehr gehorchen müsse als den Menschen. Weiterhin betrachtet auch er die im historischen Prozeß emporgetragenen Gewalten als - indirekt - von Gott eingesetzt und hält er sich an das jeweilige positive Recht, das ihm in England eine beson­ ders glückliche Verkörperung des konstitutionellen Naturrechts zu sein scheint, das aber auch sonst dieses Naturrecht stillschwei­ gend als seine eigene Voraussetzung und seinen Maßstab in sich trägt. Aber diese starken Anklänge an das calvinistisch-christliche Naturrecht übertönen doch nicht den ganz andersartigen Grund­ ton einer völligen Beseitigung des religiösen Zweckes des Staates für Gottes Ehre, des Gedankens der alleinigen Souveränität Gottes, -der prinzipiellen Ungleichheit und gehorsamen Fügung der Indi­ viduen in das Gegebene. Hier herrscht vielmehr der beweglichste individualistische Rationalismus einer rein utilitarischen Weltlich­ keit, die aus dem religiösen Zusammenhange der Lockeschen Theorie völlig herausgenommen werden kann und in der Folge auch oft genug herausgenommen worden ist. Jener Rationalismus ist so selbständig philosophisch und staatsrechtlich begründet und entspricht so sehr -der weltlichen Fortschrittsstimmung und den politischen Notwen­ digkeiten des Tages, daß die Einfügung in den religiösen Rahmen wenig innere Bedeutung mehr hat. Er steht neben diesem Rahmen, nicht in diesem Rahmen, wie ja auch die religiösen Vereine neben dem Staat stehen. Das aber ist auf klärerischer und nicht mehr cal­ vinistischer Geist. So war denn auch die Aufrichtung des konsti­ tutionellen Königtums Wilhelms III. in viel geringerem Grade ein Ausdruck der calvinistischen Idee von der mutua obligatio, als die Enthauptung Karls I ein solcher der calvinistischen Lehre von -der Strafpflicht der magistrats inferieurs gegenüber den Tyrannen gewesen war. Immerhin hat es an derartigen religiösen Recht­ fertigungen der zweiten Revolution nicht gefehlt. Aber der Vor­ gang _selbst war in seinem Wesen viel weltlicher als jener 378).

878) S. die Letters on toleration, der erste von 1685, und die Two treatises of government von 1690; außerdem Lezius, Der Toleranzbegriff etc., und die sehr lehrreiche, die ganze Zeit schildernde Arbeit von Bastide, J. L., Ses theories po­ litiques et leur influence en Angleterre, 1906; die Anschauungen von den kirch­ lichen Dingen und Theorien sind hier freilich oft sehr schief. Die Belege zum obigen finden sich in Kap. V und VI. - Eine Analyse Hookers bei Lang, Ref. u, Naturrecht S. 28-33, doch ist seine Originalität hier überschätzt.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Viel ferner als Hugo Grotius und Locke stand dem Calvinis­ mus der dritte Hauptbegründer des modernen Naturrechts, Thomas Hobbes. Auch er arbeitete freilich mit dem Begriffsmaterial des christlichen Naturrechts und behauptete sogar für den Idealfall das Zusammentreffen von göttlichem und natürlichem Recht und Gesetz, sicherlich nicht bloß zum Schein. Allein nicht bloß konstruierte auch er das Naturgesetz der Gesellschaft antiidealistisch rein aus dem Egoismus, sondern vor allem sah er das Wesen der aus diesem Egoismus hervorgehenden Vergesellschaftung in der Auf­ richtung einer Gewalt, die ihrem Begriff nach schlechthin souverän sein und daher auch die Gewalt über die Religion und Kirche ein­ schließen muß. Es ist die Ableitung eines reinen Positivismus der Gewalt aus rationalistischen Grundlagen, die in mancher Hin­ sicht an lutherische Sätze erinnert. So hat auch der Lutheraner Pufendorf die Lehre des Grotius mit der des Hobbes eigentüm­ lich kombiniert und auch die Kirchengewalt als an die Obrigkeit delegiert angesehen. In solcher Lehre ist kein Hauch calvinistischen Geistes. Nur Lutheraner und Anglikaner haben von den Dornen des Hobbismus Trauben zu pflücken verstanden, die Haupternte aber hatte die Auf klärung 879). Es wäre also ein Irrtum, die moderne Demokratie französischer oder auch nur amerikanischer Art ohne weiteres auf den Calvinismus zurückzuführen. Nicht einmal die Theorien ihres Naturrechts sind von ihm wesentlich ausgegangen. Sie stammte vielmehr im wesent­ lichen aus rein politischen und rein wirtschaftlichen Bewegungen, und ihre Theorien wuchsen aus dem gemeinsamen Grundstock her­ vor, aus dem das christliche und das humanistische Naturrecht sich nährten, aus der Antike. Allein das ist richtig, daß der Calvi­ nismus in hervorragendem Maße, mehr als der Katholizismus und viel mehr als das Luthertum, die allmähliche Emanzipation jener Theorien von der Verkoppelung mit den christlichen Ideen ange­ bahnt hat, wenn auch noch radikaler in dieser Richtung das Täufer­ turn wirkte, wie sich bei Gelegenheit der englischen Revolution zeigen wird. Beide zusammen haben die moderne Demokratie mehr vorbereitet und ihr ein geistiges Rückgrat dargeboten als sie S. Lezius und oben 545; zum Ganzen meinen Artikel »Moralisten Eng­ lische< in PRE 8 und meinen Aufsatz »Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrechte in HZ 1911, auch in •Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages« 1911, wo noch die lehrreichen Diskussionsreden zu fin­ den sind. 879)

Die moderne Demokratie und der Calvinismus.

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geschaffen. Und auch das erste ist gegen den eigentlichen Willen des Calvinismus geschehen. Aber wenn auch das scharf zu be­ tonen ist, so ist andrerseits doch klar, daß sich der Calvinismus vermöge des in seiner Genfer Lage aufgenommenen konstitutio­ nellen und kritisch-naturrechtlichen Prinzips sehr leicht der Demo­ kratie anbequemen konnte und in seinen religiösen Ideen schließ­ lich nicht nur kein Hindernis hatte, auf sie einzugehen, sondern sich als mit ihr wahlverwandt empfinden konnte. So wenig im Sinne Calvins die amerikanische Autoritäts- und Respektlosigkeit ist und so fern ihm vollends Rousseaus sozialer und politischer Rationalismus liegt, der Calvinismus kann sich mit beiden inner­ lich einigen, wenn die Majestät der religiösen Lebenssphäre vor­ behalten wird. So ist der Calvinismus diejenige Form des Chri­ stentums geworden, die heute mit der modernen Demokratisierung innerlich verwachsen ist und ohne jeden Schaden an seiner reli­ giösen Idee auf sie eingehen kann. Zugleich sind gerade durch seine religiös-metaphysische Begründung des Individuums, durch seine Festhaltung der wesentlichen Ungleichheit der Menschen und durch seinen konservativen Sinn für Ordnung und Gesetz die gefährlichsten Folgen der Demokratie, die Herrschaft der bloßen Zahl und die abstrakte Egalität, vermieden. Wieviel er selbst zu dieser Demokratisierung beigetragen haben mag, wird im Einzelnen sehr schwer zu sagen sein; besondere Entwickelungen, die ihn in dieser Richtung bestärkten, werden später noch zu besprechen sein. Daß er aber heute mit ihr innerlich verbunden ist und da­ rauf seine charakteristische Weltstellung beruht, ist unverkennbar. Er hat sich dabei zugleich überall mit den Sekten ausgeglichen, die, von vornherein ungleich mehr auf demokratisch-individua­ listischer Basis stehend, heute mit ihm zusammen die Idee eines inneren Wesenszusammenhangs von Demokratie und Christen­ tum vertreten. Auf das letztere wird im letzten Abschnitt noch näher einzugehen sein. Die eigentliche geistige Großmacht aber bleibt in alledem doch der Calvinismus 380). 380) Das alles ist glänzend ausgeführt in dem oft angeführten Manifest Kuypers. Die aus der religiösen Tradition stammenden retardierenden Elemente im englischen Liberalismus treten deutlich hervor bei Held, Zwei Bücher etc. - Ueber seinen Einfluß auf den Anglikanismus und seine Analogie mit den Sekten, die heute ,in seinem Lager Zuflucht suchen« S. Kuyper 8-ro; auch Karl Hartmann ist hier lehrreich, das Zusammenfließen mit den Sekten und Freikirchen S. 27-30, der calvinisch-demokratische Charakter der Initiative und Verantwortung S. 32 u. 13.

III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

Der z w e i t e w i c h t i g e P u n k t b e t r i f f t d i e W i r t s c h a f t s e t h i k d e s C a l v i n i s m u s , die sich aus gering­ fügigen Anfängen gleichfalls zu größter historischer Bedeutung sowohl für die Entwickelung des modernen Wirtschaftgeistes als auch für die des Calvinismus selbst entfaltet hat 881). 381) Vgl. Kampschulte I S. 385-480, bes. 429 f., II S, 342-387; Wiske­ mann, Nationalökonomische Ansichten zur Zeit der Reformation S. 80-87; Elster, Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom, Jahrbb. f. Nationalöko­ nomie und Statistik XXXI (auf Kampschulte und Wiskemann beruhend); Rachfahl, Calvinismus und Kapitalismus, Internationale Wochenschrift 1909 (in den Calvin betreffenden Notizen auf Kampschulte, Elster und Lang beruhend); Max Weber, Protestantische Ethik und der ,Geiste des Kapitalismus, Archiv XX und XXI; Laveleye, Protestantismus und Katholizismus in ihren Beziehungen zur Wohlfahrt der Völker, deutsch S. 127; Choisy, L'etat chretien; E. Knodt, Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt (Vorträge der Gießener Konfe­ renz) 1910 - Grundlegend ist heute Webers Abhandlung. Er hat zuerst das Problem in seinem großen kulturgeschichtlichen Zusammenhang und in der inneren Zusammenfassung des religiös-ethischen Elementes mit dem sozialen und wirtschaft­ lichen angefaßt, Ich habe meinerseits diese seine Erkenntnisse, die mir vor allem durch die Anschauung vom amerikanischen und niederrheinischen Leben bestätigt wurden, in meine allgemeiner gerichteten Arbeiten über Wesen und Kulturbedeu­ tung des Protestantismus übernommen, natürlich nicht ganz ohne eigenes Urteil, das aber besonders herauszuheben gänzlich überflüssig ist, - Gegen Weber und mich hat nun Rachfahl in dem eben erwähnten Aufsatz seinen Angriff eröffnet, wo er das Gericht des Fachhistorikers, der zugleich allgemeine Kenntnisse von ökonomischen und theo­ logischen Begriffen und Tatsachen zu besitzen meint, über die »Konstruktionen< in einem recht überlegen und höhnisch sich gebärdenden Stile hält. Nun bringt es meine Arbeitsrichtung ja freilich mit sich, indem sie aus dem Verständnis großer Kulturkom­ plexe die Unterlage für Werturteile gewinnen will, daß sie vielfach generalisiert, Und das ist unzweifelhaft: in generalibus latet error, Andererseits ist aber doch wieder, wie ich >Bedeutung des Protestantismus« S. 2 f. ausdrücklich hervorhob, neben der historischen Facharbeit eine solche Generalisation trotz aller Gefahren des Irrtums unentbehrlich, wenn man die Historie als Mittel zum Verständnis unserer Kultur betrachtet, Möglichst wertfrei gehaltene, die vorhandene historische Erkenntnis so gewissenhaft als möglich benützende Generalisation ist nötig, um eine Unterlag� für die hierbei einsetzenden kulturphilosophischeu Wertungen zu erhalten. Das ist auch der Sinn dieses ganzen Buches. Auch hier werden übertreibende oder verein­ seitigende Generalisationen nicht völlig vermieden sein, obwohl ich sie überall zu ver­ meiden strebte. Aber ich bin doch gewiß, daß gerade durch diese Generalisationen das historische Verständnis erheblich vorwärts gebracht ist. Ich messe das an den Generalisationen, die ich anderwärts finde (s, z. B. oben S. 565 die Auffassung von Lenz) und die ich großenteils als irrtümlich bezeichnen zu müssen glaube, Dagegen hat sich nun Rachfahl als >Historiker« und »Fachmann• gewendet. Ich

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2. Wirtschaftsethik des Calvinismus.

Auch sie war von Hause aus in den Grundzügen mit der des Luthertums verwandt. Sie teilte mit ihm die Schät­ zung der Arbeit als der gottverordneten Berufsbetätigung und damit als eines Gottesdienstes, aber auch als eines Mittels der Selbstzucht und Ablenkung von bösen Lüsten , die Forderung der allgemeinen Arbeitspflicht und die Beseitigung des Mönch­ tums wie des Bettels. Sie teilte auch den antimammonistischen Geist, das Dringen auf Selbstbescheidung und Mäßigung, auf Einhaltung der Standesgrenzen, den Kampf gegen den Luxus, der hier geradezu mit unerhörter Schärfe durch die Luxusgesetz­ gebung geführt und vom Sittengericht kirchlich unterstützt wurde. Auch Calvin war der Meinung, daß die Armut den christlichen Tugenden zuträglicher sei als der Reichtum, und erging sich in habe geantwortet in der Internat. Wochenschrift 1910 >Die Kulturbedeutung des Calvinismus«, Weber im Archiv XXX 1910 »Antikritisches zum Geist des Kapitalis­ mus«. Darauf hat Rachfahl in JW. 1910 >Nochmals Calvinismus und Kapitalismus« repliziert noch sehr viel höhnischer und selbstbewußter als das erste Mal. In eine sol­ che Polemik einzutreten habe ich keine Lust. Er spricht von »Zurechtweisungen«, die mir Weber erteilt hätte, ,die ich mit gebührendem Dank hingenommen hätte« und >durch die meine Anhänglichkeit und Begeisterung nicht erschüttert« worden sei; von >Gewissensriecherei«, weil ich angedeutet hatte, daß seine Auffassung von der Bedeutung religiöser Elemente für die Kulturgeschichte etwas seicht sei ; von einem > Widerruf«, den ich betreffs der Weberschen These geleistet hätte, der mich aber nicht hindere meine dauernde Zustimmung zu »beteuern« usw. Mit solchen Manieren hat die Diskussion keinen Zweck. Zudem, der Analyse größerer begriffiicher Zusammen­ hänge ist Rachfahl nicht gewachsen. Von theologischen Dingen versteht er, wie be­ reits bemerkt, wirklich nichts, und, wenn er sich auf Autoritäten beruft, so beruft er sich gerade auf deren trivialste und herkömmlichste, durch theologische Werturteile stark beeinflußte Sätze ; namentlich auf Lang täte er besser sich nicht zu berufen nach dessen Leistungen über das Naturrecht Calvins. Wie es mit seinem Verständnis ökono­ mischer und sozialgeschichtlicher Begriffe steht, hat Weber gezeigt. So kommt es, daß nicht bloß mit dem persönlichen Stil seiner Polemik, sondern auch mit seinen sachli­ chen Ausführungen nicht viel anzufangen ist. Weder die Bedeutung der Askese für das Christentum noch den Beg1iff des kapitalistischen Geistes und des bürgerlichen Lebensstils hat Rachfahl richtig aufgefaßt. Er hat nicht die Ruhe, die Zusammen­ hänge zunächst einmal auf sich wirken zu lassen und zu analysieren, sondern schlägt gleich bei der ersten Umrißerfassung los, weil ihm etliche damit wirklich oder scheinbar nicht übereinstimmenden Tatsachen einfallen. So bat er es vorgezogen seine Kritik nicht als Mitarbeit an der Erleuchtung eines doch auch von ibm selbst anerkannten Problems zu geben, sondern als literarisches Skandälchen, wie es den Redaktionen mancher Zeitschriften erwünscht ist, und manchen Autoren als geist­ reich erscheint. T r o e 1 t s c h, Gesammelte Schriften. I,

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus,

zürnender Scheltrede auf die großen Handelsstädte wie Venedig und Antwerpen 882). Aber gleichwohl gab er der reformierten Wirtschaftsethik schon in den Grundlagen eine Wendung, die dem Calvinismus auf dem Gebiet der Wirtschaftsethik genau so wie auf dem der Politik ohne ausdrückliche und bewußte Absicht doch einen völlig anderen Geist einflößte, als der des Luthertums war und in der Hauptsache heute noch ist. Und zwar geht auch hier seine Sonderrichtung von den Bedingungen aus, die ihm das Genfer praktische Leben stellte. Der entscheidende Wendepunkt nämlich war, daß Calvin über­ zeugt war, jener antimammonistische christliche Geist lasse sich auch auf dem Boden einer wesentlich geldwirtschaftlichen, kauf­ männischen und industriellen Gesellschaft behaupten und durch­ führen. Er lenkte nicht, wie das Luthertum unter seinen Verhält­ nissen es konnte, auf die agrarisch-patriarchalischen Lebensformen der möglichst geschlossenen und möglichst von der Urproduktion lebenden Hauswirtschaft zurück, sondern er erkannte die geldwirt­ schaftlich-industrielle Produktion als selbstverständliche Grundlage und Form der Berufsarbeit neben der agrarischen an und hatte überall wesentlich mit den ersteren praktisch zu tun. Er fand auch den größeren Nutzen des kaufmännischen Geschäftes im Verhältnis ------zum landwirtschaftlichen Bodeneinkommen ganz in der

382) Stellen bei Kampschulte I 430; dazu Briefe I 443 die Anerkennung der Armut, die Jesus gebot, im Unterschied von der mönchischen Armut, Zahlreiche Beispiele gleicher antimammonistischer Gesinnung seiner Nachfolger bei Choisy: S. 187 f, auf einen Vorschlag der Kaufleute zur Errichtung einer Wechselbank mit dem Zinsfuß von IO°lo erkennen sie die belle apparence des Projekts an, fürchten aber abus, desordres et dissolutions, verweisen auf die Gefahren des Wechselge­ schäftes in Paris, Venedig, Lyon, auf die Zerstörung Jerusalems und Roms durch den Reichtum »Si ce change est introduit, on dira, qu'a Geneve chacun est ban­ quier et qu'il n'a que des preteurs. Si d'aventure Messieurs jugent neanmoins que ce charge sera commode, ils prient de bien considerer s'il sera tolerable de preter a deux et demi par faire . . , lls pensaient que la cite serait plus forte en demeurant pauvre«. S. 346: Die V. Compagnie erklärt, dem Volk !'ordre, l'obeissance et la m o d e s t i e zu predigen. S. 229: sie fordern qu'on demeure en taute mo­ destie et mediocrite. Ganz in diesem Sinn schon Calvin, Elster 191 >Et en ge­ neral, que chacun ait a se vestir honestement et simplement s e I o n s o n e s t a t e t q u a I i t e et que tous, tant petits que grands, monstrent bon exemple de m o­ d e s t i e c h r e t i e n n e !es uns aux autres«. - Noch die niederländische Kirche hat allzu hohen Zinsfuß, Leihhäuser und Lombardirinstitute als Ausbeutung der Armen heftig bekämpft, s. Knappert, Geschiedenis der nederlandsche hervormde Kerk. 1911, s. 178-182.

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Einwirkung der Genfer wirtschaftlichen Verhältnisse.

Ordnung, da er nur der Lohn des Fleißes und der Sorgfalt sei. Auch drang er wohl auf Ausmerzung christlich-bedenklicher Ge­ schäftszweige, wie etwa der Kartenfabrikation, begünstigte aber im übrigen Bewegung und Fortschritt, wie denn auf seinen An­ trag zur Beschäftigung der Armen und Arbeitslosen mit Hilfe eines Staatskredits die Tuch- und Samtfabrikation als Heimindustrie eingeführt wurde. In dem gleichen Sinne hat man später, als diese Industrie gegenüber der Lyoner Konkurrenz nicht zu halten war, die Uhren-Fabrikation eingeführt. So zeigt sich bei ihm auch nicht das Drängen auf Einhaltung der Standes- und Erwerbsarten, auf die Immobilisierung der Gesellschaft. Die für eine derartige Wirtschaft selbstverständliche Beweglichkeit wird von ihm nir­ gends bekämpft. Das aber sind Wirkungen des Genfer Bodens und der Genfer Atmosphäre, die bis in seine Briefe hinein erfüllt ist von geldwirtschaftlichen, kaufmännischen und handwerkerlich­ industriellen Interessen 383). Er mag als Jurist und Städter von Hause aus in diesen Dingen anders empfunden haben als der Mönch Luther, aber klar ersichtlich ist aus den Quellen jeden­ faps, daß er in Genf gar nicht anders denken und empfinden konnte, wenn er praktisch wirken wollte, und daß er dieser Notwendigkeit sich ohne Bedenken und Schwierigkeiten hinge­ geben hat 384). Freilich daß ihm ein inneres Eingehen derart möglich war, das ist wohl in der Sonderart seiner praktisch 888) Vgl. aus dem Brief de Usuris CR XXXVIII S. 247: »Quid si igitur ex negociatione plus lucri percipi possit quam ex fundi cujusvis proventu ? - Unde vero mercatoris lucrum? Ex ipsius, inquies, diligentia et industria«. 884) Diese Rückwirkung Genfs hervorgehoben bei Kampschulte 429. Genf hatte bereits vor Calvin eine staatliche Zinsgesetzgebung, die er einfach übernahm, Sein als selbstverständlich sich gebendes Eingehen auf die kaufmännische Atmosphäre ist in den Briefen massenhaft bezeugt. Briefe I 33 kaufmännische Spekulationen in Hinsicht auf die Vertreibung Calvins; 81 und 306 Empfehlung von Gläubigen für Lehrlings­ stellen; 209 Calvins eigene Schwierigkeit Darlehen zu finden für sich selbst; 283 Schwierigkeiten , einen Neffen Virets beim Ladengeschäft oder als Reisenden oder Schuldeneintreiber anzustellen; 294 solche, für einen geistlichen Kollegen Hypo­ theken zu beschaffen; 33:i Anratung von Geldgeschäften an zwei Lausanner; II 109 Eintreten für Schuldhaft zur Sicherung des Genfer Kredits; 360 Aufnahme einer Anleihe zu Gunsten der vertriebenen Waldenser; 140 Beratung eines Hugenotten über Recht der Zinsforderung nach natürlichem und göttlichem Recht; 393 Rat an einen Pfarrer, Geld auszuleihen, da es besser ist, als Handel oder andere vom Be­ ruf abtreibende Geschäfte für den eigenen Unterhalt zu betreiben; 442 Schuldenmah­ nung an Jeanne d' Albret, für deren Gatten Calvin ein Darlehen von 10 ooo Franken 45 *

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

handelnden und das öffentliche Leben mitbeherrschenden Ethik, in der Zurückstellung des radikalen Liebes- und Leidensge­ botes hinter das Praktisch-Mögliche begründet; Luther würde auch in den Genfer Verhältnissen schwerlich anders gedacht und emp­ funden haben als in Wittenberg. Nicht als ob Genf eine beson­ ders große und tätige Handelsstadt gewesen wäre 385). In einer solchen würde vermutlich auch Calvin die Schwierigkeit, sich unter die Forderungen des Kapitalismus zu beugen, viel schwerer empfunden haben. Die Genfer Verhältnisse waren im Gegenteil bei der Umgebung mit feindlichen und konkurrierenden Nachbarn und bei der Kleinheit des Gebietes eng und kleinbürgerlich. Aber gerade in dieser �orm war der Kapitalismus für Calvin annehm­ bar als ein mit der Stadt gegebener und der Treue, des Ernstes, der Redlichkeit, Genügsamkeit und Nächstenrücksicht sehr wohl fähiger Beruf. Gerade durch die Kleinheit und Bürgerlichkeit der Genfer wirtschaftlichen Zustände konnte der Kapitalismus sich in die calvinistische Ethik hineinstehlen im Gegensatz zur Verwerfung desselben durch die katholische und lutherische Ethik. Das kommt in dem wichtigen Umstande zum sozusagen offi­ ziellen Ausdruck, daß Calvin und die calvinistische Ethik das kano­ nische Zinsverbot und die scholastische Geldtheorie verwarfen und umgekehrt eine der modern-wirtschaftlichen Auffassung näher kom­ mende Lehre vom Wesen des Geldes, des Kredits und des Zinses aus eigenen und Freundesmitteln besorgt hatte und über deren Rückzahlungsweise Calvin als ,Nicht-Finanzmann« Rat erbittet. Die gleiche Atmosphäre geht mit gleicher Selbstverständlichkeit durch die von Choisy mitgeteilten Protokollauszüge. S. 3 I die Kompagnie ist gegen die Aufhebung der Schuldhaft, weil sie die aus­ wärtigen Gläubiger und den Kredit schädigt, das gleiche 392 ; S, 34 Ablehnung einer Erhöhung des Zinsfußes wegen Erschwerung des Kredits und Teuerungsgefahr; S. 36 Zustimmung der Compagnie zur Verwertung der in Basel und Bern aufgenommenen Summen durch Anlage einer Staatsbank, ebenso S. 58; S. 47 Erledigung einer Beichte über kommerzielle Unkorrektheiten durch die Compagnie ; S. 57 Anerken­ nung des Wechselgeschäftes nach göttlichem, natürlichem und bürgerlichem Recht, verbunden mit Bedenken über die Genfer Praxis; S. 140 Streben nach Frieden mit den Lutheranern im Interesse des Genfer Handels nach Deutschland; S. 194 Verwahrung des Rates gegen zu strenge Wuchergesetze ,dans une ville ou la plu­ part sont debiteurs et ou beaucoup ne savent pas distinguer entre usure et usure, entre ce qui est abus et ce qui ne l'est pas«; S. 388 Anerbieten eines Darlehens von 1000 Ecus aus der Tasche der zehn Stadtgeistlichen für die Aufrechterhaltung der Akademie, 886) Vgl. hiezu Holl, Calvinreden S. 6I f.

Calvins Lehre von Geld, Credit und Zins.

vertraten, allerdings mit gleich noch zu besprechenden Einschrän­ kungen. Calvin verließ damit den reinen Konsumtionsstandpunkt der bisherigen christlichen Ethik und erkannte die Produktivkraft des Geldes und Kredites an. Er empfand einen inneren Zusam­ menhang zwischen ökonomischem Fortschritt und moralischer Hebung, wie seine Mitarbeit an der staatlichen wirtschaftlichen Gesetzgebung und seine Auffassung von der Bedeutung eines wirtschaftlich wohlgeordneten Gemeinwesens für die heilige Gemeinde bekunden. Auf dieser Bahn sind dann Calvins Genfer Nachfolger geblieben. Beza und die Venerable Compagnie bekümmerten sich beständig eingehend um die Fragen der wirtschaftlichen Prosperi­ tät und Zweckmäßigkeit zugleich mit der Rücksicht auf Gerechtig­ keit der Verteilung und auf Versorgung der Armen und Arbeits­ losen. Auch wurden sie von der Staatsregierung beständig um Rat und Urteil in diesen Dingen angegangen. Sie interessierten sich für Besteuerung und Staatsanleihen, für die Höhe des Zinsfußes, die stets mit ihrer Bewilligung festgesetzt wurde. Sie begutach­ teten die Errichtung einer Staatsbank, sowohl um dem Staat die Gewinne des Wechselgeschäftes zuzuführen als um den bedürf­ tigen Gewerben billigen Kredit zu verschaffen 886). Aus dieser Genfer Praxis ist dann eine vorsichtig eingegrenzte Rezeption des Kapitalismus in die calvinistische Ethik aller Länder überhaupt übergegangen. Die hugenottisch-französischen , niederländischen und englischen Verhältnisse haben das Ihrige weiter dazu bei­ getragen um überall mit besonderer Nuance das moderne Ge­ schäftsleben religiös zu rezipieren. Sehr wichtig war in dieser Hinsicht der Umstand, daß die Calvinisten in Frankreich und England, anfänglich auch in den. Niederlanden und vor allem in der Zeit ihres Exils am Niederrhein, als Minoritäten von dem öffentlichen Leben und den staatlichen Aemtern abgedrängt und damit zu einer überwiegend geschäftlichen Existenz geradezu ge­ nötigt wurden. Aber auch abgesehen davon haben die Calvini­ sten bei ihrer Arbeitsamkeit und Eingezogenheit, ihrem rationell­ utilitarischen Geiste auch bei an sich dem Geschäftsleben wenig günstigen Verhältnissen eine starke Neigung zu ihm gezeigt 387). 886) Beispiele allenthalben bei Choisy, L'etat chretien ; die Errichtung von Banken S. 36 f. und 187 ff. 887) Die Einzelheiten gehören in wirtschaftsgeschichtliche Darstellungen, sind aber überhaupt nicht so einfach statistisch darzustellen. Dazu kommt, daß in der Nachbarschaft des Calvinismus auch andere Gruppen, anglikanische, sektenhafte,

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III. Protestantismus. 3. Der Calvinismus.

Das trug dann aber Konsequenzen in sich, die weit über das von Calvin und den Genfern gewollte Maß hinausgingen. Einlutherische, eine gewisse Färbung von dem Calvinismus annahmen. Die Tatsache selbst ist bekannt und allgemein anerkannt. Außer der bereits oben erwähnten Literatur verweise ich auf die hübsche Zusammenstellung bei Arnold, Calvinrede S.28-33, hier S.31 : ,Auf calvinistischem Boden ist das Sprichwort entstanden: Der Glaube versetzt Berge, und arbeitet dabei mit Hacke und Spaten. Auch das Luthertum brachte die Arbeit zu Ehren; aber indem es diese auf den ,Berufe be­ zog, wurde die freie Initiative des einzelnen weniger bestimmt entfesselt .••• Calvin hat wie kein anderer unter den Reformatoren betont, was die Arbeit pro­ duktiv mache, seien nicht allein die physischen und die geistigen, sondern vor allem die moralischen Kräfte ... Der objektive Wert des in der Arbeit Geleisteten, der ökonomische Erfolg, besteht darnach nicht in dem augenblicklichen Gewinn, sondern einzig und allein darin, daß reell gearbeitet wird. Ein Gedanke von geradezu un­ geheurer Tragweite ! Man verkennt diese Tragweite deshalb so leicht, weil man es für ebenso selbstverständlich hält, wie es einfach ist«. Darauf folgt eine Skizze der Aus­ breitung und Wirkung des reformierten Industrialismus und Kapitalismus.- Ein charakteristisches Zeugnis für die Niederlande führt Weber aus der Schrift >Political Arithmetic« des berühmten Nationalökonomen W. Petty an : Antikritisches S.184: »Dissenters of this kind - gemeint sind die Träger des holländischen Freiheits­ kampfes, in erster Linie Calvinisten - are for the most part thinking, sober and patient men, and such as believe, that labour and industrie is there duty towards God«. Was nicht im Widerspruch steht, sondern sich ergänzt mit der anderen Stelle des gleichen Autors ebd. S.188: >These people - nämlich die puritanischen Dissenter - believing the justice of God and seeing the most licentious persons to enjoy most of the world and its best things, will never venture to be of the same religion and profession with voluptuaries and man of ext r e m e wealth and power, who they think have their portion in this world«.- Die Ausbreitung des bürgerlichen Kapitalismus über die einzelnen Gebiete und die dabei obwaltenden Modifikationen siehe bei Weber, Antikritisches, S. 186-188 1 192; Schlußwort S. 571 und 594 f. Hier ist auch gezeigt, wie auch auf an und für sich .dem Ka­ pitalismus ungünstigem Boden, wie in Ostfriesland, Neuengland, Ungarn, solche oder doch verwandte Wirkungen eingetreten sind. Die Sache hängt also nicht etwa bloß vom Milieu ab. - Zahlreiche Beispiele für die Niederländer und den niederrhein. Calvinismus gibt Gäbe! II 39: »Ihre Mitglieder (der Aachener reformierte Gemeinde) bestanden fast nur aus reichen und vornehmen Kaufleuten, indem alle Evangelischen nur als Beisassen geduldet und daher weder zu Aemtern noch zu Zünften, noch zum Kleinhandel zugelassen , sondern nur zum Großhandel berechtigt waren«. II 47: >Die Kredenzbriefe der Abgeordneten und Aeltesten zu den Synoden mußten, um jeden Verrat und Verdacht fern zu halten, in der Form kaufmännischer Kredit­ briefe ausgestellt werden«. II 106 : > Und (nach einer Schilderung der asketischen Lebensstrenge) da sie ohnehin in Jülich und Berg von allen öffentlichen Aemtern ausgeschlossen waren, so war es desto natürlicher, daß der ganze niederrheinische

Der Calvinismus als Förderer des Industrialismus u. Kapitalismus,

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mal überhaupt, wenn auch mit allen Kautelen, aufgenommen, wirkte der Kapitalismus überall, wo er mit dem Milieu geHandel und die hier so bedeutende Industrie vorzugsweise in ihre Hände kam und noch heute vorzugsweise sich in ihren Händen befindet, Dadurch wurden die von den Evangelischen bewohnten Landstriche, namentlich der Bergische, Märkische und Jülichsche, durch ihre außerordentliche Fabriktätigkeit und ihren Handel eine der reichsten und merkwürdigsten Gegenden in Deutschland, welche zugleich den Ruf großer Kirchlichkeit und Frömmigkeit erhalten hat«, II 205 aus einer Er­ klärung Labadies: >Die Aeltesten und Diakonen erfüllen gegen die Glieder und Armen ihrer Abteilungen ihre Pflichten, die Richter lieben die Gerechtigkeit und die Kaufleute handeln für den Himmel und die Meister arbeiten für die Ewig­ keit«. Ueber die ökonomische Bedeutung des Labadismus s. II 238 und 259, er ist nur gesteigerter Calvinismus in dieser Hinsicht. - Bezüglich der englisch-puri­ tanischen Wirtschaftsethik sagt Cunningham, der berühmte englische Wirtschafts­ historiker, in einer kleinen Schrift »The moral witness of the church on the investment of money and the use of wealth« Cambridge 1909, S. 23 ff. folgendes: Wie der Fehler der heutigen kirchlichen Ethik (in England) eine einseitige Neigung zum Sozialismus sei, so sei die umgekehrte Einseitigkeit und Vernachlässigung anderer mitspielender Faktoren die Eigentümlichkeit der puritanischen gewesen. Ihr Kampf gegen Faulheit und Genußsucht und ihre Empfehlung disziplinierter Arbeit habe sie geradezu kapitalistisch gemacht. • Unemployment and idleness were the charcateristic evils of 17th cent. in England and Scotland; the great need for introducing a godly, sober and righteous life into the community appeared to be that of getting the population to submit to the discipline of work. There were no half measures in the Scotch treatment of vagrants according to the act of 1663. Capitalists who set up manufactories were empowered to impress any vagrants and ,employ them for their service as they see fit' for eleven years, without wages except meat and clothing. Good subjects were recommended to take into their service poor and indigent children, who were to do any task assigned to them till they had attained the age of thirty, and to be ,subject to their master's correction and chatisement in all manner of punishment (life and torture excepted)', The I 7 th cent. Puritans took a stern view of the discipline which was good for children, to that they might be kept from forming habits of idleness and drifting into evil of every kind. While there was a s t r o n g s e n s e o f t h e r e I i g i o u s d u t y o f i n s i s t i n g o n h a r d a n d r e g u l a r w o r k f o r t h e w e l f a r e , t e m p o r a l o n d e t e r n a l, o f t h e p e o p I e t h e m s e 1 v e s , there was a complete indifference to the need of laying down or enforcing any restrictions as to the employment of money. Capital was much needed in England, and still more in Scotland, for developing the ressources of the country and for starting new enterprises ; f r e e d o m f o r t h e f o r m a t i o n a n d i n v e s t m e n t o f c a p i t a l seemed to t h e t h o u ght f u l c i t y m e n of the 17 th cent., who were mostly in sym­ pathy with puritanism, the best remedy for the existing social evils. They were eager to get rid of the restrictions imposed by the popes laws, which it was pos-

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

geben war, seine sich selbst steigernden Folgen aus, zog aus der spezifisch reformierten Frömmigkeit und Arbeitsamkeit Rechtsible to bring up in ecclesiastical courts, as well as to be free from the efforts of the Kings Council to bring home to the employing and mercantile classes their duty to the community. The agitation against the interfereme of the Bishops in civil affairs, and the triumph of Puritanism swept away all traces of any restrictions or guidance in the employment of money. In so far as a stricter ecclesiastical d i s ci p l i n e w a s ai m e d a t o r i n t r o d u c e d , i t h a d r e g a r d t o r e c r e a t i o n a n d t o i m m o r a l i t y of o t h e r k i n d s, b u t w a s a t no p a i n s to i n t e r f e r e to c h e c k t h e a c t i o n of t h e c a pi t al i s t or to protect the labourer, From the time when the rise of puritanisme para­ lysed the action of the church (d, h. die Staatskirche), and prevented her from main­ taining the influence, she had habitually exerted, it has been plausible to say that Christian teaching appeared to be brought to bear on the side of the rich and against the poor. The puritans were probably right as to the most serious evils of the day; and the economic means of overcoming them; they may well have felt that religious duty impelled them to the line they tookc, Die Schrift ist auch sonst charakteristisch, sie äußert sich zu einer Denkschrift der Geistlichkeit über christliche Wirtschaftsethik und entwickelt ihrerseits eine moderne Anpassung altchristlicher Ideen an das als selbstver­ ständlich zu akzeptierende modern-kapitalistisches Leben; das Maß des durch Kapi­ talismus und Zins zu stiftenden Nutzens soll zum Maß der christlichen Wirtschafts­ ethik gemacht werden. - Bezüglich des ganz überwiegend reformierten Bremen ist lehrreich das Tischgespräch eines Bremer Großkaufmanns mit einem Wiener Kauf­ mann über den verschiedenen Lebensstil der üppigen Wiener und der strengen und sparsamen Bremer Großkaufleute, das ich in dem Sonntagsblatte der ,Bremer Nach­ richten« Nr. 30 u. 31 von 1910 (>Von alter Bremer Art«) gefunden habe: >Weiß er wohl, Musje R, (der Wiener), warum wir das nicht so machen?., Weil wir freie Reichsbürger sind. - Aber doch, sagt der andere, ebenso große Kaufleute I Und eben deswegen, fährt der Bremer fort, viel Geld brauchen und also sparen müssen, Damit er mich aber recht verstehe, muß ich ihm erklären, was es mit einem großen Kaufmann in einer freien Reichsstadt eigentlich sagen will. Das ist ein Mann, d e r i mm e r m e h r a r b e i t e t , u m i m m e r m e h r zu v e r d i e n e n , u n d i m m e r m e h r v e r d i e n t , u m i m m e r m e h r z u a r b ei t e n , weil er auf diese Weise sein Geld nicht verzehrt, sondern es hingibt, um immer mehr Hände zu beschäftigen und immer mehr Hungrige satt zu machen. Der Wiener Kaufmann kann Landgüter kaufen und viel aufgehen lassen. Ich verdenk es ihm nicht. Entsteht Not im Lande, so greift sein Kaiser in die Tasche. Aber hier wendet sich der freie Staat an seine freien Bürger. Der reiche Bürger bewilligt gern und gibt gern. Auch nimmt der Bür­ ger in bedrängten Lagen, wie billig, seine Zuflucht zu dem Bürger in einer besseren Verfassung, Hat einer viel erworben, so hat er auch viele Ansprüche zu befriedi­ gen und befriedigt sie gern als M i t b ü r g e r u n d a l s C h r i s t, Jetzt wollte ich ihm noch das Rezept mitteilen von der Medizin, mit welcher ich sterben will I (Das bisherige war das Rezept für das Leben,) Es steht Matth, 24, 12 und 13: Wer in der Gerechtigkeit beharret und in der Liebe bis ans Ende, der wird selig.•

Calvinismus und kapitalistisches Wirtschaftssystem.

713

fertigungen und Verstärkungsmittel an sich, die ihm in den refor­ mierten Gemeinden einen besonderen Charakter und eine beson­ dere Intensität verliehen 888). Die Ermahnung zur beständigen fleißiDer Bremer motiviert zwar seinen Lebensstil mit dem repuplikanischen Charakter Bremeng, aber schon die religiösen Wendungen des Gesprächs zeigen, daß es sich um calvinistische Ethik handelt, wie der Aufsatz den Verfasser auch sonst als streng religiös zeigt, - In den hier mitgeteilten Stellen tritt vielfach der Zusammenhang­ dieser Entwickelung mit der Minoritätsstellung der Reformierten und der Abdrängung vom offiziellen Leben zutage, wie das auch Weber, Antikritisches S. 188, betont. Doch ist das nach dem Ausweis anderer Stellen nicht entscheidend. - Ein wichtiger Punkt bleibt in der kapitalistischen Entwickelung des Calvinismus die Verschie­ bung in die Mittelklassen und das Bürgertum. Hierher gehört in England der Gegensatz zwischen der ,Squirearchie und den bürgerlichen, immer wieder noch in der Cobdenschen Bewegung in charakteristischer Art an den Dissent ange­ lehnten Mittelklassen« Schlußwort 558; der bürgerliche Charakter s. Schlußwort 573: »Es ist nun aber eine der Leistungen des asketischen Protestantismus, daß er dieser Tendenz entgegenwirkt, daß er insbesondere den von ihm als ,Kreaturver­ götterung' abgelehnten Tendenzen, den splendor familiae durch Immobilisierung des Besitzes als r e n t e n bringenden Vermögens zu sichern, wie der ,seigneurialen' Freude am ,high life', dem schönheitstrunkenen Rausch im ästhetischen Genießen und ,Sichausleben' wie dem protzenhaften Bedürfnis nach ostensiblem Prunk gleichmäßig widerstrebt. « Diese Verbürgerlichung ist m, E. eines der Hauptprobleme in unserem Zusammenhang und noch keineswegs in ihren Ursachen geklärt, s. die Bemerkung von Weber, Antikritisches, S. 188: »Die interessante Erscheinung, welche in der Beziehung zwischen den K I a s s e n und dem religiösen Leben zu beobachten wäre - fast in allen Ländern - ist die allmähliche Wandelung der anfänglich - oft sogar mit Einschluß des Täufertums - v e r t i k a 1 durch die soziale Schichtung gehenden Risse (d. h. religiös bedingter Gruppenbildung) in h o r i z o n t a I e (d. h, die religiöse Stellung mit Klassenschichten zusammenfallen lassende): hier setzt dann das Recht der geschichtsmaterialistischen ,Deutung' ein « . Diese Deutung ist aber noch nicht geliefert. Auf dieses Problem bin ich auch im Verlauf meines ganzen Buches gestoßen, vermag es aber - insbesondere an diesem Punkt - nur sehr dürftig aufzuklären; es scheint mir bald die Minoritätenstellung und Ausschlie­ ßung, bald eine innere Konsequenz der calvinistischen Ethik und oft beides zu­ sammen wirksam zu sein. Jedenfalls spielt am Anfang die soziale Schichtung eine viel geringere Rolle und herrscht humanistische Weltbildung wie adlige Sitte stark vor. Es ist ein starker Gegensatz zwischen dem Calvinismus, den der »Co­ ligny« von Marcks zeichnet, und dem bei Dowden und Göbel gezeichneten. Auch wäre noch zu zeigen, wie weit diese Verschiebung etwas Generelles ist. 888) Daß der Kapitalismus aus dem Calvinismus stammt, hat niemand behauptet. Wohl aber, daß beide eine gewisse Wahlverwandtschaft für einander hatten, daß die calvinistische Berufs- und Arbeitsethik, die den Geldverdienst bei gewissen Kautelen für erlaubt erklärt, ihm ein geistiges und ethisches Rückgrat geben konnte

III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

gen Arbeit, verbunden mit der Einschränkung der Konsumtion und des Luxus, bewirkte eine Tendenz zu steigender Kapitalbildung, die ihrerseits - bei der Notwendigkeit ihrer weiteren Verwer­ tung in Arbeit und nicht in Genuß - wieder zu immer gestei­ gertem Umschlag nötigte. Arbeitsgebot und Luxusverbot wirk­ ten in ihrer Vereinigung »ökonomisch als Sparzwang«, und der Sparzwang wirkte Kapital bildend. Das erreichte Kapital aber wirkte zur Steigerung der Intensität und Extensität der Arbeits­ leistung. Wie weit diese Wirkungen überall eingetreten sind, ist eine Frage für sich. lm ganzen aber liegt diese Wirkung in der Natur der Sache und ist sie nach allgemeinem Urteil bei den wichund daß er wiederum so organisiert und innerlich gestützt sich hier stark, wenn auch in den Grenzen des Anti-Mammonismus, entwickelt hat. S. Weber, Antikritisches S. 200: »Kein Zweifel, daß wo ein (Wirtschafts-)System und ein ,Geist' von unter einander besonders hohem Adäquanzgrade auf einander stoßen, eine Entwickelung von auch innerlich ungebrochener Einheitlichkeit (d. h, wo Geist und Wirtschafts­ system zusammenstimmen, was nicht immer der Fall ist) einsetzt, von der Art, wie diejenige, die ich zu analysieren begonnen hatte« (d. h. wie die calvinistische Ent­ wickelung). Das Zusammentreffen selbst ist, wie ich das oben bei der ebenfalls relativ hoben Adäquanz zwischen dem mittelalterlichen System und der katholischen Ethik bereits sagte, ein historischer Zufall, Aber aus solchen Zufällen, d. b. aus der Verbindung voneinander unabhängiger, aber einander adäquater Tendenzen, (Weber, Schlußwort XXXI 580 »Das Menschentum, welches durch das Zusammen­ treffen religiös und ökonomisch bedingter Komponenten geschaffen wurde«; 583: »Die protestantische Askese schuf ihm (dem bürgerlichen Kapitalismus) die positive Ethik, die Seele, deren jenes Getriebe bedurfte, damit »Geiste und >Forme einig seien«. S. 588: Es vermählte sich ein Strom von psychischen Inhalten, der aus sehr spezifischen sittlich-religiösen Wurzeln entsprang, mit kapitalistischen Entwicke­ lungs m ö g l i c b k e i t e n), geben die großen historischen Entwickelungen hervor. Die christliche Ethik hat große faktisch bedeutsame Weltwirkung nur erlangt, wo sie von einem solchen Zufall unterstützt war. Für sieb allein, wo sie nicht von einem solchen Zufall unterstützt war, bleibt sie »Idee« oder manchmal auch »Phrase«, Freilich wirkt dann die Verbindung auf den religiös-ethischen Geist zurück, wie ich beidemale zeige. In der Geschichte des christlichen Ethos hat es nur zwei solcher >Zufälle« gegeben, das mittelalterliche System und das calvinistische, dessen Er­ weiterung durch die verbürgerlichte Sekte der nächste Abschnitt zeigen wird. Es gibt andere, oft gewiß feinere und tiefere Fassungen des christlichen Ethos, denen eine solche historische Wirkung versagt blieb und bleibt, weil sie die Gunst jenes Zufalls nicht fanden oder ihrem Wesen nach nie finden konnten. Wenn ich hier von Zufall rede, so ist das natürlich logisch gemeint, daß sich hier keine imma­ nente Entwickelung konstruieren lasse, nicht daß diese Dinge sine Deo geschehen seien.

Calvinismus u. kapitalistische Wirtschaftsgesinnung.

715

tigsten reformierten Völkern auch tatsächlich eingetreten 889). Aber das ist gar nicht das Entscheidende, worauf es hier ankommt. Nicht der Beitrag des Calvinismus zur Ausbildung des kapitalistischen Systems selber ist die Hauptsache. Diese wird vielmehr erst deutlich, wenn man mit Weber und Sombart nach dem ethischen und weltanschauungsmäßigen »Geiste« oder nach der > Wirtschaftsgesinnung« sucht, die dem System seinen festen Grund und Halt in den Gemütern gegeben hat und es trotz seines Gegensatzes gegen die natürlichen menschlichen In­ stinkte in den Seelen als ein Gesinnungsprinzip hat Wurzel schla­ gen lassen. Jenen Instinkten entspricht sehr viel mehr der öko­ nomische Traditionalismus mit Durchbrechungen durch einzelne rücksichtslose Erwerbsjäger, aber nicht die sachliche und abstrakte Herrschaft der Arbeit und des Erwerbs an sich, die immer neue Steigerung der Arbeit durch jeden Arbeitsertrag 889 a). Hier liegt nun - neben verwandten , aber andersartigen Wirkungen des Judentums - die Bedeutung, die der eigentümlich calvinistische Typus des inneren ethischen Verhaltens zu der geschäftlichen 389) S. Weber, Antikritisches XXX 191 f., Schlußwort XXXI 5 94 f. 889&) Die Entstehung und das Wesen des ,k a p i t a l i s t i s c h e n S y s t e m s« ist be­ kanntlich das Hauptproblem der gegenwärtigen wirtschaftsgeschichtlichen und -theo­ retischen Forschung. Analysen des Systems geben Weber, Prot. Ethik XX S. I 1-35, Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, 1911, S. 186-198 und in seinen bekannten früheren Werken Deutsches Wirtschaftsleben des 19. Jahrh. und vor allem Der Kapitalismus; s. auch den Artikel K. von Traub in RGG. Eine Darstellung des Werdens des ,Systems« in England gibt Held, Zur sozialen Geschichte Englands, wo sich überhaupt vortreffliche Bemerkungen zur Sozialgeschichte finden. Bei Held fällt der Nachdruck mehr auf die äußeren technischen usw. Gründe der Ausbildung des Systems. Den geistig-ethischen Grundlagen ist er nur in der Analyse der politischen und nationalökonomischen Theoretiker nachgegangen; aber er verfolgt sie nicht bis in das eigentlich populäre Ethos hinein. Diese Frage aber hat Weber als die Frage nach Entstehung und Wesen des ,k a p i t a l i s t i s c h e n G e i s t e s«, Sombart als Frage nach der • Wirtschaftsgesinnung• erhoben, und beide haben dabei in die Tiefen des popu­ lären religiösen Ethos gebohrt. Ueber den Unterschied von »kapitalistischem Geist< und >kapitalistischem System•, die nicht zusammenfallen brauchen und auch oft nicht zusammenfallen, s. Weber, Antikritisches S. 201-202. Erst aus dem >Zufall« des Zusammentreffens beider erwächst die geistige Herrschaft des Kapitalismus. Diese Unterscheidung ist Rachfahl unverständlich, er macht darüber nur Witze. Im übrigen betone ich, daß Weber und Sombart das Wesen des Kapitalismus aufdecken wollen und dazu die religiös-ethischen Elemente nur heranziehen. Ich will umgekehrt die Bedeutung des Kapitalismus für die calvinistische Entwickelung klar machen. Es sind also sehr verschiedene Gesichtspunkte, unter denen unsere Untersuchungen stehen.

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Arbeitsleistung und seine religiöse Würdigung des Gelderwerbs gewonnen hat. Die protestantische Berufsethik mit ihrer refor­ mierten Rezeption des kapitalistischen Erwerbes und ihrer refor­ mierten Strenge und Kontrolle der die Erwählungsgewißheit be­ stätigenden Arbeitsleistung machte den Dienst im Beruf, die syste­ matische Ausnutzung der Arbeitskraft, zu einer um ihrer selbst willen notwendigen und gottverordneten Leistung, im Verhältnis zu der der Gewinn die göttliche Bestätigung und Anerkennung ist 390). Diese Berufs- und Arbeitsauffassung mit ihrer Verpön­ ung jeder Untätigkeit, der Benützung jeder Erwerbschance und dem Vertrauen zum göttlichen Segen kam nun aber den geschäft­ lichen Berufen und dem Gelderwerb in hohem Maße entgegen. Sie unterbaute einer Welt der spezialisierten Arbeit, die die Ar­ beit um der Arbeit willen betreiben lehrte und damit unseren heutigen bürgerlichen Lebensstil hervorbrachte, die seelische Grund­ haltung, aus der sie hervorgehen konnte, an deren Fortdauer aber freilich sie nicht gebunden ist, nachdem sie einmal die Lebens­ verfassung der modernen Völker geworden ist. So entstand ein bestimmter, besonders mächtiger und einflußreicher Strom des bürgerlichen kapitalistischen Geistes, vor allem der Typus der bür­ gerlichen Lebensführung überhaupt. Es ist die Herrschaft der Arbeit und des Berufs, des Erwerbs an sich, über den Menschen, eine Objektivierung der Arbeit und des Arbeitsertrages, die nur 890)

Sehr scharf präzisiert bei Weber Schlußwort XXXI 582 f.: ,Lob und Emp­ fehlung gewissenhafter Arbeit für den in der Welt stehenden Laien findet sich selbstredend zu allen Zeiten (doch nur bedingt im Urchristentum, mehr bei den Kynikern) . . Die Aussprüche Luthers nach gleicher Richtung sind bekannt. An der Lehre vom Segen auch weltlicher Arbeit hat es außerhalb des Protestantismus gewiß nicht gefehlt Aber was hilft sie, wenn, wie im Luthertum keine - in diesem Fall: psychischen - Prämien darauf gesetzt sind, daß diesen theoretischen Lehren nachgelebt wird l Oder wenn, wie im Katholizismus, die weitaus größeren Prämien auf ganz andere Arten des Verhaltens gesetzt sind l und überdies in Gestalt der Beichte ein Mittel gegeben ist, welches dem einzelnen immer aufs neue ermöglicht, sich von schlecht­ hin allen Arten von Verfehlungen gegen die Postulate der Kirche an das Leben seelisch zu entlasten? Während umgekehrt der Calvinismus in seiner Entwicklung seit der letzten Zeit des 16. Jahrhunderts, und ähnlich das Täufertum, in dem Gedanken von der Notwendigkeit asketischer B e w ä h r u n g , im Leben überhaupt und speziell auch im Berufsleben, als subjektiver Verbürgung der certitudo salutis - also nicht als Real-, sondern als einer der wichtigsten Er k e n n t n i s g r ü n d e der eigenen Bestimmung zur Seligkeit - eine sehr spezifische und in ihrer Wirksam­ keit auf d i e s e m Gebiete nicht leicht zu überbietende psychische Prämie für die asketische Lebensmethodik, die er forderte, schufc.

Der Gegensatz modern-kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung,

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möglich war, wo die Arbeit durch eine derartige asketische Berufs­ ethik in die Sphäre des an sich Notwendigen durch die grund­ legende religiöse Auffassung erhoben worden war. Der anfänglich sozial indifferente, starke Adelsgruppen in sich befassende Cal­ vinismus ist durch die politische Entwicklung der verschiede­ nen Ländern verbürgerlicht , aber diese Verbürgerlichung ent­ sprach auch durchaus gewissen Elementen seines Geistes 891). Selbstverständlich glitt eine derartige Auffassung des Kapitalis­ mus bei der Ermattung der religiösen Triebfedern und der Ver­ dünnung der religiösen Atmosphäre leicht in die rein weltliche Auffassung hinüber. Die klassische ökonomische Theorie seit Adam Smith hat ja die Grundlagen der Wirtschaft in geradezu entgegengesetztem, rein hedonistischem Sinne konstruiert. Dabei lag der Gegensatz gegen die religiöse Ethik nicht in ihrem Uti­ litarismus an sich. Dieser war für die weltlichen Dinge, insbe­ sondere auch für die Wirtschaft, schon das ausschließliche Prin­ zip auch ihrer Auffassung. In dieser Hinsicht setzte die englische ökonomische Wissenschaft nur die religiösen Grundüberzeugungen fort. Das Moderne und Anticalvinistische liegt erst in dem ra­ dikalen Individualismus, liegt auch hier in der Einführung der Gleichheitsidee und in dem Wegfall der Rücksichten auf Auto­ ritäten, ständische Vorzugsstellungen, Wohlbefinden des Ganzen. Ganz ähnlich wie in der Ausbildung der politischen Theorien scheiden sich daher die Gruppen der Theoretiker in mehr kon­ servative und in radikal-individualistische. Adam Smith selbst war, ähnlich wie Locke, noch zwischen beiden Richtungen ge­ teilt. Erst bei Bentham und seiner Schule ist jeder Faden zer­ rissen, der die neue Wirtschaftsethik mit der alten verbindet 391 •). Das Manchestertum mit seinem doktrinären Optimismus, die brutale Verherrlichung der Konkurrenz als Emporzüchtung im Kampf ums Dasein, schließlich die Gedankenlosigkeit, mit der heute die kapita­ listische Kultur ihre Arbeitsbast, ihre Krisen, ihr Fach- und Be881) Hierüber und über das Verhältnis des m.a.lichen Kapitalismus zur katho­ lischen Ethik sowie über die anderen nicht asketisch und bürgerlich motivierten Arten des Kapitalismus s. Weber XXX. 193-197, 881 a) Vgl, Held S. 144-342; S. 249 über Bentham: »So wenig die Lehre an sich neu war, ihre einseitige Anwendung durch Bentham in England, war et­ was Neues: sie bedeutete den nackten Rationalismus und den völligen Bruch mit -den puritanischen Traditionen der englischen Demokratie«. Sie ist auch hier fran­ zösischen Ursprungs, wie Held hervorhebt. Ueber die konservativ-ethischen Ele­ mente bei Smith s, Held 154-175.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

rufsmenschentum wie ein Schicksal hingenommen wird: all dieses bedeutet dann eine völlig veränderte Welt. Aber das und alles Nähere gehört in die Wirtschaftsgeschichte, nicht in die des Calvi­ nismus. Von der ganzen Sache wird später bei Gelegenheit der Sekten noch weit zu sprechen sein. Für unser Thema ist das Bedeutende und bis heute Wichtige, daß bei diesen christlichen Gruppen und bei ihnen allein, der mo­ derne wirtschaftliche Betrieb mit dem christlichen Denken vereinbar wurde, daß er hier bis heute mit einem guten Gewissen möglich ist. Man braucht sich hier nur der Umschweife zu erinnern, mit denen der Katholizismus diese moderne Wirtschaftsform erträglich macht und im Grunde immer wieder zu hemmen versucht, oder der Ab­ neigung, mit der das alte Luthertum und der heutige deutsche Konservativismus den Kapitalismus offiziell betrachtet. Dann wird die Bedeutung dieser neuen calvinistischen Form des Christentums für die gesamte moderne Entwicklung und insbesondere für die Stellung des Protestantismus in ihr verständlich. Es ist die einzige Form christlicher Soziallehren, die die Grundlagen der modernen Wirtschaft allgemein akzeptiert und zwar nicht weil hier ,größere Einsicht« in das Wesen der wirtschaftlichen Vor­ gänge erreicht worden wäre, sondern weil hier die hyperideali­ stischen und spiritualistischen Hemmungen im ethischen Grund­ gedanken weggefallen sind , die sonst diese Entwicklung ver­ hindert oder zurückgehalten haben , weil vielmehr statt dessen geradezu fördernde Kräfte in der reformierten Ethik enthalten sind 392). Ob eine solche christliche Ethik gegenüber der katho392) Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie von Max Weber. Ihre volle Bedeutung wird erst später gewürdigt werden können, wenn wir nach der Analyse der protestantischen Sekten zu dem Gesamtbegriff des ,asketischen Pro­ testantismus• kommen werden. Dieses Ergebnis halte ich durchaus fest gegen Rachfahls Kritik, der die Tatsache selbst ja anerkennt, nur ihre Bedeutung für die wirtschaftsgeschichtliche Entwickelung viel geringer anschlägt und ihre Wurzeln im spezifisch-calvinistischen Geiste nicht sehen will. In der ersten Hinsicht hat er Webers Einschränkungen, die daneben selbstverständlich eine Fülle anderer Motive für die Entstehung des modernen Kapitalismus anerkennen und auch ganz andere Gruppen von Trägern dieser Entwickelung nennt, zwar angeführt aber nicht be­ achtet. In der zweiten Hinsicht hat er eine nur durch Kampschulte, Elster und Lang vermittelte Kenntnis der Lehre Calvins und des alten Genf und verkennt er daher sowohl im Politischen wie im Wirtschaftlichen die Konsequenzen der eigent­ lichsten Genfer religiösen Idee. Er hält Calvin für einen Traditionalisten im luthe­ rischen Sinn, der nur umsichtiger über die Zinsfrage denkt und im übrigen Redlich-

Ausgleich der reformierten Ethik mit dem modernen Kapitalismus.

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lischen und lutherischen ein reiner Vorzug ist, ob sie nicht viel­ mehr einen Hauch der nüchternen Geschäftigkeit und der trokkeit und Ernst der Arbeit, also allerhand ethische Elemente des wirtschaftlichen Lebens, betont. Im übrigen ist ihm, wie Kampschulte, der Calvinismus eine natur­ widrige Exaltation des religiösen Gefühls, die nur kurze Zeit dauern und auf welt­ lichem Gebiet nicht viel Großes stiften kann. Die wahre Beförderung der modernen Fortschritte liegt für Rachfahl bei den Rationalisten und Toleranzchristen erasmischer Schule und bei der verhältnismäßigen Emanzipation des protestantischen Staates von geistlichen Rücksichten. Das Ganze ist eine am unrechten Ort für die Toleranz einge­ legte Lanze. Aber die Toleranz an sich bedeutet nichts für die wirtschaftliche Entwickelung, es kommt auf die wirtschaftliche Art der zur Toleranz Zugelassenen an.Das ergibt sich sehr hübsch aus den bei Bastide S.214 zusammengestellten Empfeh­ lungen der Toleranz für England: ,L'exemple de Ja Hollande avait frappe !es Anglais; Sir William Temple .. .attribuait la prosperite de ce pays Ja liberte religieuse et I a p r e s e n c e d e n o m b r e u x r e f u g i e s.Enfin l'arrivee des huguenots (nach der Aufhebung des Edikts von Nantes), fuyant la persecution, et qui se fai­ saient remarquer par leurs qualites de travail, confirmait l'idee que le dissident est un auxiliaire de 1a richesse publique. Sir W. Petty disait, que ,le commerce est le plus vigoureusement pratique dans tous les etats et sous tous les gouverne­ ments par la partie heterodoxe de la nation et par ceux qui professent des opinions differentes de celles qui sont officiellement regues'. On se rapelle quelle impor­ tance Shaftesbury accordait dans son memoire sur la tolerance a l'argument eco­ nomique. Cet argument se retrouve un peu partout. Charles Wolseley ... dans un petit traite sur Ja liberte de conscience, signale le depart pour la Hollande des tisserands dissidents de Norwich. Un auteur anonyme .• sans insister ...sur le cöte theologique de la question .• repliquait au Dr.Dove ,que Ja liberte religieuse etait l'ecole des ll.mes nobles et gcnereuses'. Les artisans de Norwich qui emi­ grent, sont les meilleurs citoyens: ,Les hommes a principes religieuses ne sont ils pas des hommes senses et serieux, qui sont du bien a une nation I Ne sont ils pas generalement en tous commerces et metiers !es plus travailleurs et les plus prosperes?'« Es ist klar, daß es nicht die Toleranz an sich ist, die hier gemeint ist, sondern die Rezeption oder Beibehaltung einer bestimmten Klasse von Bürgern: das sind eben die Calvinisten mit ihren bekannten kommerziellen Eigenschaften. Auch ist klar, wie diese Autoren beobachten, daß die Schule der konfessionellen Bedrückung und Ausschließung jene geschäftlichen Eigenschaften befördert, schließlich daß diese Eigenschaften mit moralisch-religiösen Grundsätzen zusammenhängen. Aehnlich konnte zugunsten der täuferischen und pietistischen Sekten argumentiert werden, die in der glei­ chen Schule ähnliche Eigenschaften auf ähnlich religiös-ethischer Grundlage entwik­ kelten. Es ist nicht der Calvinismus an sich, der hier in Betracht kommt, sondern der in der Schule der Unterdrückung und der Minorität entwickelte Calvinismus. Aber dessen Entwickelung hängt doch wieder mit der grundlegenden calvinistischen Ethik im allgemeinen und seiner Wirtschaftsethik insbesondere zusammen. Katholische Minoritäten hat es gleichfalls in England gegeben, aber von ihnen hört man nichts

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

kenen Banausie trägt, ist eine andere Frage. Die Hauptsache ist, daß sie den führenden modernen Staaten, oder doch Hauptgrup­ pen ihrer Bevölkerungen, eigentümlich ist und daß sie hier einen Einklang mit der modernen Wirtschaftswelt bewirkt, der der Christlichkeit anderer Völker fehlt. Aber freilich würde nun die Christlichkeit in dieser calvini­ stischen Rechtfertigung des Kapitalismus sehr verkannt , wollte man nicht zugleich die Grenzen im Auge behalten, mit denen der eigentlich christliche Liebesgedanke auch hier die Erwerbsethik umgibt und die bis heute überall da wirksam geblieben sind, wo in aller kapitalistischen Arbeit doch die reformierten Grundge­ danken lebendig geblieben sind. Die Arbeit ist eine unentbehr­ liche Askese und der Gewinn eine Segnung Gottes für treue Be­ rufserfüllung. Aber niemals gilt Arbeit und Erwerb rein dem persönlichen Interesse. Immer ist der Kapitalbesitzer ein Ver­ walter der Gaben Gottes, der sie zum Besten des Ganzen der Ge­ sellschaft steigern und verwenden, für sich nur die dem eigenen Existenzbedürfnis dienende Quote verwenden soll. Aller Ueber­ schuß soll gemeinnützigen und vor allem den Zwecken der kirch­ lichen Liebestätigkeit dienen. So haben sich die Genfer für be­ sondere Notfälle und regelmäßig sowohl für die Ortsarmen als für die zahlreichen Refugianten bis an die Grenze des Möglichen besteuert. Die kirchliche Liebestätigkeit, die, vom Diakonenamt verwaltet, mit zu den Forderungen des göttlichen Kirchenrechtes gehörte und äußerst energisch organisiert war, hat mit freiwilligen Beiträgen von oft erstaunlicher Höhe stets ihre Aufgaben zu lei­ sten vermocht. Daher stammt noch heute , auch bei ganz indif­ ferent Gewordenen, die Sitte, für öffentliche und christliche Zwecke große Anteile des Gewinnes zu opfern , die uns von den ameri­ kanischen Millionären bekannt ist. Von diesem Liebesgeiste aus ist aber auch die eigentliche Geld- und Zinstheorie so gut wie die derartiges. Siehe auch Weber im ,Antikritischen Schlußwort« XXXI S. 565-569 und »Antikritisches« XXX 182-188. - Solche, denen diese Toleranz zugute ge­ kommen ist, sind auch die Juden, Ihre Bedeutung hat Sombart ähnlich analysiert wie Weber die des Calvinismus und der Sekten, Doch hat Sombart m. E. die Rolle der Juden stark überschätzt und verkannt, daß der jüdische Kapitalismus ein anderer ist, als der gewerblich-bürgerliche. Sicherlich falsch ist seine Gleichsetzung von Puritanismus und Judaismus wegen der Betonung des A.T.s bei den Calvinisten. Denn die calvinistische Wirtschaftsgesinnung ist eine andere als die jüdische und der Anschluß an das A.T. ist ein sehr verwickelter, s. oben S. 638-640. Immer­ hin sind daraus mancherlei Analogien hervorgegangen.

Christliche Einschränkungen des Kapitalismus,

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Praxis bestimmt worden. Erlaubt ist nur der Produktivkredit zu Geschäftszwecken, nicht der Wucherkredit, um lediglich von Zin­ sen zu leben. Armen oder sonst durch Unglück Bedrängten dür­ fen keine Zinsen abgenommen und auch nicht Darlehen wegen mangelnder Sicherheit verweigert werden. Alle derartigen Ge­ schäfte sind nur mit Rücksicht auf das öffentliche Wohl des Ge­ meinwesens abzuschließen. Der Schuldner soll mindestens eben­ soviel mit dem Geld gewinnen als der Gläubiger. Ueberall soll das Gesetz der Billigkeit obwalten nach dem Satz des Evange­ liums und des Naturrechts, daß wir den Leuten tun sollen, was wir wollen, daß sie uns tun. Schließlich sollen die Zinsen ein je nach der Lage gesetzlich festzustellendes Maximum nicht überschreiten. So die Theorie. Nach diesen Grundsätzen ist in Genf auch gehandelt worden. Der Kampf gegen den Wucher und gegen die Ausbeutung der Armen füllt die Rats- und Kon­ sistorialprotokolle, und diese christlich-sozialen Elemente der cal­ vinistischen Lehre haben dann auch ihren Niederschlag in der Ethik gefunden. So ist es zu verstehen, daß gegenüber der mo­ dernen Ausbildung des Kapitalismus der Umschlag in einen christ­ lichen Sozialismus immer nahe gelegen hat und noch nahe liegt. Es ist oben gezeigt worden, wie ein solcher Sozialismus von Hause aus in der Genfer Idee der heiligen Gemeinde lag. Er hat sich in den Gemeinden unter dem Kreuz fortgesetzt, wo die religiöse Idee sich frei entfaltete. Wie weit er die staatliche Gesetzgebung calvinistischer Länder mitbestimmte, ist erst noch zu erforschen. Die große englische Armen-, Arbeiter- und Lohn­ gesetzgebung trug - freilich in dem zünftlerisch - ständischen Sinne und vor allem mit Rücksicht auf Erziehung zur Arbeit Spuren seines Geistes. Gegen die manchesterliche Staats- und Wirtschaftsauffassung hat dann Carlyle bewußt wieder altpuri­ tanische Gedanken geltend gemacht. Der heutige christliche Sozialismus der Engländer ist wesentlich calvinistischen Ur­ sprungs, und die Wirksamkeit der amerikanischen Kirchen ist oft geradezu eine christlich soziale, gegen die Ausartungen des Kapitalismus gerichtete. In der Schweiz , den Niederlanden, in England und Amerika gibt es heute sozialistische Geistliche, während das auf dem Boden des Luthertums als ein Angriff auf a.lle heiligen Grundlagen der gottgesetzten Ordnung , als Einmi­ schung in rein weltliche Dinge, als verwerflicher Revolutionsgeist und menschlicher Eingriff in den Gang der Vorsehung, betrachtet T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften, 1,

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III, Protestantismus.

3.Der Calvinismus.

wird ; die sozialen Häresieen sind bei uns gefährlicher und ver­ werflicher als die dogmatischen. Das aber bede_utet wiederum, daß der Calvinismus in größerem Einverständnis mit der moder­ nen sozialen Lebensbewegung sich befindet als das Luthertum, auch als der Katholizismus, der wenigstens in seinen romanischen Stammländern gleichfalls diese Häresieen von sich fernhält. Dar­ auf aber beruht dann auch das ungeheure Selbstgefühl des Cal­ vinismus, die einzige, dem modernen Leben gewachsene Form des Christentums zu sein , indem er einerseits die modernen Produk­ tionsformen vor dem Gewissen zu rechtfertigen und andererseits deren Ausartungen durch den christlichen Sozialismus zu bekämp­ fen weiß. Er fühlt sich als das moderne Christentum, nicht weil er in der Theologie dem modernen Denken entgegenkäme - viel­ mehr das Gegenteil ist der Fall und nur der überwiegend prak­ tische Charakter führt zur Zurückstellung des Dogmatismus -, sondern weil er mit der politischen und wirtschaftlichen Lebens­ gestaltung im Einklang ist und deren Probleme fördernd und ein­ schränkend versteht, während das philosophisch verseuchte Luther­ tum unpraktisch und weltfremd sei 398). 393) Calvin ist ein Gegner des täuferischen Kommunismus, den er wiederholt bekämpft; aber gerade aus sozialen Gründen; denn wenn alle ihre Güter verkauft hätten, so müßten auch die Reichen betteln und hätte niemand ein Haus zur Wohnung und Aufnahme von Armen R XXXV 488, Im übrigen ist seine Denk­ weise eine bewußt soziale auf religiöser Grundlage, siehe den Abriß christlicher Ethik Inst. III 7-10, der die Erklärung des Dekalogs II 8 ergänzt und aus der christlichen Beseelung vertieft: Nostri non sumus: Inde consequitur, ut ne quaera­ mus, quae nostra sunt, sed quae ex Domini sunt voluntate et faciunt ad gloriam ejus promovendam .. Quum enim nos p r i v a t a m n o s t r i r a t i o n e m o m i t t e r e jubet scriptura, non modo habendi cupiditatem, potentiae affectionem, homi­ num gratiam ex animis nostris eradit, sed ambitionem quoque et omnem gloriae humanae appetitum aliasque secretiores pestes eradicat III, 7, 2. Perspicimus ab­ negationem nostri partim quidem in homines respicere partim in Deum III, 7, 3. Dann folgt die Ausführung des ersten Gedankens. •Jam in quaerenda proximi utilitate officium praestare, quantum habet difficultatis ! . • At Scriptura, ut eo nos manuducat, praemonet quidquid a Domino gratiarum obtinemus, esse nobis h a c l e g e c o n c r e d i t u m , u t i n c o m m u n e e c c l e s i a e (d. h. die ganze christ­ liche Gesellschaft) b o n u m c o n f e r a t u r i d e o q u e l e g i t i m a m g r a t i a­ r u m o m n i u m u s u m e s s e l ibe r a l e m a c b e n i g n a m c u m a l i is c o mm u n i c a t i o n e m.« Alle Güter sind deposita Dei ea lege fidei nostrae commissa, ut in proximorum bonum dispensentur. Folgt das bekannte paulinische Gleichnis vom Organismus. Nullum membrum s u a m f a c u l t a t e m s i b i hab e t n e c i n p r i v a tum u s u m a ppl i c a t, s e d ad s o c i a m e m b ra

3. Glaubenskrieg, Interventionspolitik und Internationalität.

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Weniger bedeutsam für die Folgezeit, dafür um so wichtiger für das erste Jahrhundert seines Bestandes war eine d r i t t e Rich­ tung, in der der Calvinismus durch die Genfer Lage und dann durch t r a n s f u n d i t . . . Sie pius vir, quidquid potest, fratribus debet passe: sibi non aliter privatim consulendo, quam ut ad communem ecclesiae aedificationem intentus sit animus. Haec itaque .. nobis sit methodus : quidquid in nos Deus contulit, quo proximum queamus adjuvare, e j u s n o s e s s e o e c o n o m o s , qui ad reddendam dispensationis rationem adstringimur. Eam demum porro rectam esse dispensationem, quae ad dilectionis exigatur regulam. Ita fiet, ut non modo a 1 i e n i c o m m o d i s t u d i um c u m p o p r i a e u t i 1 i t a t i s c u r a semper conjungamus, s e d h a n c i 11 i s u b j i c i a m u s III 7, 5. Dabei gilt es zu be­ denken, >non hominum malitiam reputandam esse, sed inspiciendam in illis Dei imaginem: quae inductis et obliteratis eorum delictis ad eos amandos, amplexandos­ que sua pulcritudine ac dignitate nos alliciat III, 7, 6, Ita secum quisque cogitabit, se, quantus quantus est, proximis debitorem rei esse, nec alium exercendae ergo ipsos beneficentiae statuendum esse finem, nisi quum facultates deficiunt: quae quam late extenduntur, ad caritatis regulam limitari debet III 7, 7. Das ist gerade­ zu ein Programm des christlichen Sozialismus, - Von da aus ist denn auch Calvins Einschränkung des Zinses, der Kampf gegen den Wucher, die bürgerliche Gesetz­ gebung über Verkehr und Verzehr, vor allem die Einrichtung der kirchlichen Armen- und Wohlfahrtspflege bestimmt. In derselben Richtung arbeitete die Com­ pagnie unter Beza mit beständiger Kontrolle des öffentlichen Lebens, worüber Choisy zahlreiche Mitteilungen macht. Ueber die rationelle Armenpflege und die kolossalen hiefür verwendeten Summen, Uhlhorn, Liebestätigkeit III 141-169 und Choisy allenthalben.- Wo die Verbindung mit dem Staat fehlte, war der christlich­ soziale Ausbau nur noch intensiver Sache der Gemeinde selbst, wie bei der Las­ kischen Fremdlingsgemeinde in London und den nach ihrem Vorbild organisierten niederländischen und niederrheinischen Gemeinden ; hierzu Simons, Eine altkölnische Seelsorgegemeindc 1894, Aelteste evangelische Gemeindearmenpflege vom Nieder­ rhein 1895, Niederrheinisches Synodal- und Gemeindeleben unter dem Kreuz 1897; hier S. 20: ,Die Synode ist also, modern geredet, vom christlichen Sozialismus nicht weit entfernt«. Ueber die Elisabethanische Sozialgesetzgebung und ihren Zusammenhang mit puritanischen Gedanken s. die oben angeführte Schrift Cunning­ hams und Held 16-38. - Ueber diese Einschränkungen und das auch in der refor­ mierten Ethik festgehaltene pretium justum siehe Weber, Antikritisches XXX 188, 194, 201 f.; auch Laspeyres, Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer 1863, hier S. 256-270: die theologischen Anschauungen über den Kapitalismus, die das Zinswesen zwar anerkennen, aber es mit Rücksicht auf die Armen eingeschränkt wissen möchten; andererseits aber auch hier der Hinweis auf die starken theologischen Elemente in den ökonomischen Theorien auch der Nicht-Theologen S.31. Charakteristisch calvinistisch ist die Formel für die bra,i­ lianischen Unternehmungen S. 82: ,De hooghste Wet, rakende Brasil, behoovt te wesen de Eere Gods ende de Welstand der Participanten«.

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

die weiteren politisch-kirchlichen Entwickelungen beeinflußt worden ist. Es ist die Richtung auf die Ausbildung d e r r e 1 i g i ö s e n P o l i t i k u n d i n t e r n a t i o n a l e n g ege n s e iti g e n Unte r­ s t ü t z u n g , s c h 1 i e ß 1 i c h d e r b e w a f f n e t e n I n t e r v e n­ t i o n s p o 1 i t i k. Wie die Genfer Selbständigkeit überhaupt mit der Reformation eng zusammenhing, so war sie dauernd nur durch Verbündung mit den protestantischen Mächten, den reformierten Kantonen, den deutschen Konfessionsverwandten, zu behaupten, da sie von Frankreich, Savoyen und Bern stets bedroht war 894). Ueber­ dies war Calvins ganze Stellung zu Genf oft nur durch Unterstüt­ zung der auswärtigen Kirchen möglich, deren Gutachten und Zustim­ mungen von ihm oft erbeten wurden und ihn in schwierigen Ver­ wickelungen gestützt haben. Dazu kam der oben geschilderte Mis­ sionsdrang und Universalismus, der freilich zunächst nur auf das Wort und die Macht der Wahrheit vertraute. Allein in der Praxis waren für all das die diplomatischen und weltlichen Mittel unent­ behrlich; sie hatten in der Schule der Genfer Politik sich überdies schon von selbst für die allernächsten Zwecke der Selbsterhaltung aufgedrängt. Sie wurden auch nach außen notwendig und muß­ ten auch anderen Kirchen anempfohlen werden. Die diplomatische Korrespondenz Calvins, die Tätigkeit Bezas als politischer Agent, die hugenottischen, niederländischen und pfälzischen Verhandlungen sind allbekannte Aeußerungen dieser Notwendigkeiten. In der Theorie spiegelte sich das durch die Lehre von der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützungspflicht aller Kirchen, was natür­ lich die gleiche Pflicht für die mit ihnen verbundenen Staaten und Gemeinwesen bedeutete 395). Daraus ergab sich allerdings zu394

Charakteristisch an Bullinger Briefe I 342 : > Wir müssen auch dieser Stadt Rechnung tragen und zwar nicht in letzter Linie. Wollte ich nur für mein Leben oder für meine eigenen Verhältnisse Sorge tragen, so könnte ich gleich anderswohin gehen. Aber wenn ich erwäge, wie wichtig dieser Weltwinkel zur Ausbreitung des Reiches Christi ist, so bin ich wohl mit Recht darauf bedacht, ihn zu schützen«. Da­ mit rät Calvin ein Bündnis mit Frankreich an, das erlaubt sei, wie Abraham mit dem Heiden Abimelech und Isaak und David gleichfalls mit Heide& Bündnisse geschlossen hätten für Zwecke des Gottesreiches, 395 ) Siehe Briefe I 3 I : • Was sollte uns hindern, eine Art öffentlicher Synode zu berufen, in der jeder, was seiner Kirche frommt, vorschlüge, ein Plan zum weiteren Handeln in gemeinsamer Beratung aller gelegt würde und, wenn nötig, Staaten und Obrigkeiten sich durch gegenseitige Einrichtungen unterstützten und mit ihrer Macht einander stärkten•. Aehnlich I 137. Ueber Calvins Internationali­ tät s. Rieker S. 184. )

Das Kriegsproblem,

72 5

nächst nur die Notwendigkeit finanzieller, persönlicher, theologischer Unterstützung und diplomatischer Hilfe 896). Die weitere Frage aber war dann sofort, wie weit diese Hilfe eine bewaffnete sein dürfe und müsse, und das heißt, wie weit der Glaubenskrieg als letztes Entschei­ dungsmittel erlaubt und geboten sei. Auch hier lag die wichtige und vom Luthertum so gründlich unterscheidende Erklärung für den Glaubenskrieg nicht im Geist und Sinn Calvins und ist doch aus seiner ganzen Glaubenspolitik schließlich hervorgegangen. Ueber den Krieg an sich hat Calvin ganz ähnlich wie Luther ge­ dacht 997). Er ist Sache des Staates und diesem für weltliche Zwecke der Verteidigung erlaubt , wenn er nicht im Vertrauen auf die Macht des Fleisches, sondern auf Gottes Hilfe mit aller Demut und christlichen Sittenstrenge geführt wird. Glaubensinter­ essen dagegen müssen ohne die Macht des Schwertes, rein durch Vertrauen zur Vorsehung, durch Leiden und Dulden durchgesetzt und dürfen nicht mit weltlichen Machtmitteln vermengt werden. Aber der reichliche Gebrauch der Diplomatie war doch auch be­ reits ein Gebrauch weltlicher Machtmittel, und es liegt nur in der Natur der Sache, daß diese Diplomatie gelegentlich auch zu ihrem letzten Mittel , zur bewaffneten Hilfe und Intervention, schreiten mußte. Wie Calvins Lehre von der Gehorsamspflicht der Unter­ tanen durch das Kontroll- und Widerstandsrecht der unteren Ma­ gistrate durchbrochen wurde, so wurde auch seine Lehre von der unblutigen Intervention schließlich bei Gelegenheit zur Anerken­ nung der bewaffneten. Freilich mußte dann immer für einen Rechtsgrund gesorgt werden , genau wie beim Widerstandsrecht. Es ergab sich , daß , sobald die Staatsgewalt zum Tyrannen ge­ worden war und die unteren Magistrate dadurch an deren Stelle traten, dann diese auch berechtigt wurden, auswärtige Bündnisse zu schließen. So glitt auch die Lehre von der Ausbreitung und Be896) Davon geben die Briefe zahlreichste Beispiele, sein Ideal ist, diplomatisch die Machtstellung stärken, ohne daß ein Tropfen Blut fließt, wie er Briefe II 334 betreffs Condes erklärt. 397) Calvins Lehre vom Krieg Inst. IV, 20, II und 12, wo übrigens die ener­ gisch den Krieg verteidigende Stelle erst aus den späteren Ausgaben stammt. Die Sache Christi ist durch Bekenntnis , Organisation , Bruch mit dem Papismus, Leiden und Dulden, Gottvertrauen allein zu führen, Auf Menschengewalt ist unbe­ dingt zu verzichten; wenn es not ist, wird Gott ein Wunder tun, um seine Kirche zu retten, Das bezeugen zahlreiche Briefstellen. Calvin hat überall vom Waffen­ gebrauch abgeraten und oft bei den für die Reformierten günstigsten oder drin­ gendsten Gelegenheiten,

III, Protestantismus.

3. Der Calvinismus,

hauptung der Christusherrschaft durch rein geistige Mittel hinüber in die Anerkennung des Rechtes der bewaffneten Intervention und des Glaubenskrieges, sobald dabei die legale Ordnung eingehalten wurde 898). Daraus wurde dann das Recht und die Pflicht krie­ gerischer Unterstützung überhaupt; das, was in realen Fällen die Not erzwang, wurde so theoretisch gerechtfertigt. Beza hat dement­ sprechend neben dem Widerstandsrecht der Untertanen auch die Frage des Glaubenskrieges und der Intervention ausführlich unter­ sucht und die bejahende Antwort biblisch und historisch sowie dog­ matisch begründet. Seitdem sind beide Fragen in der monar­ chomachischen Literatur eng verbunden 599). Weich ungeheure 898) Dieses Hinübergleiten zeigt sich mehrfach in den Briefen. I 341 bei dem Plan des Bündnisses mit Frankreich, bei dem ein Krieg Frankreichs gegen Karl V zu hoffen war; trotz aller Bedenken meint er •man könnte es mehr einer sträflichen Sicherheit als dem frommen Gottvertrauen zuschreiben, wenn wir Hilfskräfte außer acht lassen, die, wenn auch unerwünscht, doch erlaubt sindc I II 59 tadelt er die Deutschen, die 1555 durch ihre Trägheit den Schutz Gottes verscherzten und darum so geringes Waffenglück hatten. II 327 an Bullinger: »Glaube mir, ich kann es dir gewiß versichern, Aufruhrgefahr besteht von unserer Seite nicht, wenn nicht etwa der König von Navarra offen angegriffen wird. Zu seiner Verteidigung aller­ dings, hoffe ich, würden sich viele erheben«. II 345 beklagt er die Erhebung der savoyischen Protestanten gegen ihren Herrn. III 442 rät er dem reformierten Kommandanten von Lyon doch nur sehr bedingt, die Waffen niederzulegen: •Uebrigens wenn sich die beiden auch mit Ihnen verbünden, so müßte doch erst eine rechtliche Grund­ lage v orhanden sein; denn ohne ihre Hilfe können Sie die Sache, glaube ich, keinesfalls durchführen. Denn etwas angefangen, ohne dazu berufen und berechtigt zu sein, könnte nie gut ausfallen. Ich sage nicht, daß sich vielleicht nicht ein guter Grund finden ließe, aber ich kenne noch keinen, und deshalb wollte ich es nicht wagen, zum Beginn des Krieges zu raten, ohne genauer unterrichtet zu sein.« Also auch hier ist Calvins Gedanke nicht einheitlich, bei Wahrung eines legitimen Grundes ist auch der Bürger- und der Glaubenskrieg erlaubt. So faßt auch Marcks die Sache auf, Coligny S. 358, 361, 380, besonders 408; es kommt dann eben schließ­ lich darauf an, sich einen Rechtsgrund zu verschaffen ; da beginnt freilich die Sophistik. auu) De jure magistratuum 280. Wenn die Stände und Magistratus inferiores nicht stark genug sind, den Tyrannen zu bändigen, dann tritt für diese oder deren sanior pars das Recht der Herbeiziehung auswärtiger Hilfe ein: Licebit etiam sa­ niori parti oppressae auxilia aliunde conquirere, praesertim apud Regni confoede­ ratos et amicos. Beispiel ist der Beistand der israelitischen Stämme gegen die ins Heidentum verfallenen Stämme Ruhen und Gad, die Unterstützung der Römer durch Constantin gegen Maxentius, die der italienischen Patrizier durch Carl den Großen gegen die Longobarden. An sich freilich hat das Reich Christi mit Waffen nichts

Die bis heute dauernde Internationalität des Calvinismus.

72 7

Bedeutung das praktisch erlangte und wie dieses reformierte Vorbild schließlich im dreißigjährigen Kriege auch auf die Lutheraner zu­ rückgewirkt hat , die ja bei Gelegenheit des schmalkaldischen Krieges das gleiche Problem bereits erörtert hatten , das ist be­ kannt. Nach der Beendigung des Zeitalters der Religionskriege, wo Cromwell ein letztes Beispiel protestantischer Politik gegeben hatte, ist das freilich bedeutungslos geworden, aber geblieben ist von alledem bis in die Gegenwart ein mächtiges Gefühl der Zuzu tun : ,Cum religio ad conscientias pertineat, quibus nullo modo vis inferri po­ test, non videtur illa ullis armis stabilienda et defendenda, quam ideo praedicatione verbi Dei, precibus ac patientia hactenus potius propagatam conspicimus. Extant praeterea loci permulti in scripturis, quibus ostenditur, quanta sit inter regna hujus mundi et regnum Christi spirituale differentiac S. 294. Dazu kommen die Beispiele der Propheten, Christi und der Apostel. Allein damals gab es noch keine christlichen Untermagistrate. Sie standen rein heidnischen Regierungen gegenüber, von denen sie ein Eintreten für die Sache Christi nicht verlangen konnten und denen sie sich leidend unterwerfen mußten. Seit es aber den christlichen Staat mit der göttlichen Verpflichtung der Untermagistrate gibt, steht die Sache anders. >At ego contra praecipuum optimi piique Magistratus munus esse dico, ut quidquid mediorum autoritatis et potentiae illi a Deo concessum est, huc totum omnino conferat, ut inter sibi subditos Deus ipse vere agnoscatur agnitusque tan­ quam summus regum omnium rex colatur et adoreturc. So müssen die Regierenden auch mit den Waffen, zunächst bei den eigenen Untertanen, dann aber auch bei fremden, die wahre Religion durchsetzen. Allerdings all das auf legitimem Wege. Die Einführung der wahren Religion in ein Land kann nur mit rein göttlichen Mitteln geschehen. >Hoc enim proprie Spiritus sancti opus est instrumentis spiri­ tualibus utentis«. Da gelte es nun mit der Predigt die religiöse Erkenntnis zu verbreiten, und nur die starrköpfig Widerstehenden sollen schließlich gezwungen werden I Wo aber die reine Religion bereits gesetzliche Geltung hat, da sind die Regierenden verpflichtet, dieser gesetzlichen Geltung unter Umständen auch mit Waffen zur Wirkung zu verhelfen. Christus und die Apostel waren Privatleute und mußten in den Grenzen ihres Berufes bleiben unter Verzicht auf Waffenge­ brauch. Aber Magistrate eines christlichen Staates sind zum Waffengebrauch, wenn es nicht mehr anders geht, berechtigt und verpflichtet. Sie sind auch berechtigt, fremde Menschenhilfo anzurufen, wie wieder mit vielen Beispielen belegt wird. Aehnlich ist die Behandlung des Problems bei den ,Monarchomachen« Elkan S. 116 und 168 ff., Cardauns S. 5, S. 104, hier die Stelle aus den Vindiciae >Universam (Ecclesiam) singulis, singulas ejus partes universis commisit ,Deus; itaque si unam ejus partem princeps religionis illius curet, alteram vero oppressam, si opera ferre possit deserat et negligat, Ecclesiam deseruisse censetur. Die Erlaubtheit der Inter­ vention eines fremden Fürsten zugunsten eines von tyrannischer Obrigkeit bedrückten Volkes, ist einer der feststehenden Rechtsgrundsätze der Zeit«.

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

sammengehörigkeit aller Calvinisten, eine Internationalität des Cal­ vinismus, der das trotz seiner lutherischen Konferenz heute noch sehr partikularistische Luthertum ein gleiches nicht gegenüberzu­ stellen hat. Mit dem Rückzug von der Theorie des Glaubens­ krieges und der allmählichen Lösung des Verhältnisses zum Staate, freilich auch im Zusammenhang mit der Demokratisierung und Kapitalisierung, ist dann dieser internationale Calvinismus in dem für die christliche Ethik so schwierigen Kriegsproblem zu pazifisti­ schen Theorien übergegangen. Der Krieg ist, wie z. B. der Buren­ krieg, wohl aus Gründen der nationalen Selbstbehauptung berechtigt, aber christliche Völker sollen andere Völker überhaupt nicht in die Lage bringen, einen solchen Krieg führen zu müssen. Die huma­ nitäre und ethische Bewegung gegen den Krieg und für eine Er­ setzung des Kriegsystems durch ein System der Verträge und Schiedsgerichte ist gerade bei den Calvinisten und den Sekten vor allem zu Hause und hier durchaus ernst gemeint in schwerem Kampfe gegen die - übrigens mit der wirtschaftlichen Entwicke­ lung eng zusammenhängenden - imperialistischen Neigungen der Völker, denen sie angehören 400). Faßt man alles das zusammen, so verstehen sich die e i g e n40°) Dieser Pazifismus hervorgehoben bei Hartmann, Engl. Frömmigkeit S. 26. Lehr­ reich H. Oncken, ,Amerika und die großen Mächte«, (Studien und Versuche zur neueren Geschichte, Max Lenz gewidmet 1910) S. 427 f.: ,zu den eigentümlichen Folgen der kolonialen Situation dieses Staates gehörte von Hause aus eine relativ größere Unabhängigkeit von der auswärtigen Politik und ihren Gefahren. Und wenigstens unter den puritanischen und täuferischen Elementen verstand es sich von selbst, daß der Krieg, das traurige Privileg der Monarchien und Oligar­ chien, aus religiösen und demokratischen Gründen zu verwerfen sei . . . Der tiefe Einschlag religiöser Stimmungen, die an dem Aufbau dieses Staates in unend­ lich vielen verborgenen Fäden mitarbeiteten, verlangte gebieterisch, daß das Volk Gottes sich selber genug sei und ohne Waffen auskomme; auf strenge Enthaltsam­ keit von der auswärtigen Politik lief auch der rationalistisch-utilitarische Grundzug im amerikanischen Wesen hinaus, der aus naturrechtlichen Quellen entsprang«: Aber S. 469: ,schon das erste Jahrhundert amerikanischer Geschichte lehrt, daß auch ein Gemeinwesen, bei dessen Entstehung seit den Zeiten der Pilgerväter eher die entgegengesetzten Antriebe mitwirkten, auf die Dauer doch den Lebensgesetzen folgen muß, die dem Wesen des Staates und der Macht als immanente Notwendig­ keiten eingeboren sind«. Weiteres dazu bei Oncken, Amerikanischer Imperialismus und europäischer Pacifismus, Preuss. Jahrbb. 1911. Ebenso, nur mit der entgegen­ gesetzten Parteinahme und Zukunftsaussicht Masaryk in einem vortrefflichen Artikel über Roosevelt aus ,Märze 1910 Nr. 12 und 13.

Die eigentümlich reformierten Soziallehren.

729

t ü m 1 i c h e n S o z i a 1 1 e h r e n d e s C a 1 v i n i s m u s und ihre Entwickelung über den anfänglichen, Luthern scheinbar noch ganz nahe stehenden Stand hinaus. Sie sind ein Erzeugnis der besonderen religiös-ethischen Eigentümlichkeiten des Calvinismus, der in Prädestinationslehre, Voluntarismus, Organisationswille, Akti­ vität, Heiligungsgemeinde und in seiner aufs Praktisch-Mögliche ge­ richteten Ethik eine starke Besonderheit darstellte; andererseits aber der politisch-republikanischen, wirtschaftlich-kapitalistischen, diplo­ matisch-kriegerischen Tendenzen, die aus dem Genfer Boden zunächst in sehr eingeschränkter Weise einströmten, aber mit nahverwand­ ten Elementen der calvinistischen Religion und Ethik sich ver­ banden und in dieser Verbindung sich immer mächtiger entfal­ teten, bis sie im Zusammenhang mit der politischen und sozialen wie der kirchlichen Geschichte der einzelnen Länder jenes vom alten Genfer und französischen Calvinismus so verschiedene Ge­ präge der religiösen Moral der bürgerlichen Schichten empfingen. Die Ergebnisse dieser Entwickelung faßte die natürlich-philosophi­ sche und die theologische Ethik zusammen, die hier ganz anders stark entwickelt ist als im Luthertum und in großem Zuge von Calvin bis auf Jurieu und Lampe heruntergeht 401). Es ist nicht nötig, hier noch einmal zusammenfassend aus dieser Ethik die Soziallehren selbst darzustellen , nachdem sie bereits in der bis­ herigen Darstellung überall zu charakterisieren gewesen sind. Das soziologische Grundschema des Calvinismus , seine Staats- und Wirtschaftslehre sind klar geworden und bedürfen keiner neuen Zusammenfassung mehr. Nur bezüglich des Kirchenbegriffes ist noch eine solche nötig. Aus dem Bisherigen ergibt sich seine Stellung zu Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Kirche des Calvinismus ist Bekenntnis­ und Volkskirche, Heiligungsgemeinschaft und Heilsanstalt, Frei­ willigkeits- und Zwangskirche zugleich, indem vorausgesetzt wird, daß alle Erwählten bei genügender Belehrung dem Geist der 401) Vgl. Gaß und Luthardt; Alex. Schweizer, Die Entwickelung des Moral­ systems in der reformierten Kirche, Theo!. Studd. und Kritt. 1850. In all diesen Darstellungen tritt die inhaltliche Entwickelung der Ethik stark zurück hinter den Fragen des Verhältnisses der philosophischen und theologischen Ethik, der Freiheit und des Gnadenwunders, der Rechtfertigung und des Sittengesetzes, Problemstel­ lungen, die die theologischen Darstellungen der Ethik leider fast ausschließlich zu beherrschen pflegen. Mehr Inhaltlich-Charakteristisches bei Thc.mas Hall, History of ethics within organized Christianity, New-York 1910.

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III. Protestantismus,

3. Der Calvinismus.

Wahrheit ihr Ohr öffnen, und indem gefordert wird , daß alle Nichterwählten Gott zur Ehre und zum Schutze der Erwählten niederzuhalten und an öffentlicher Aeußerung ihres Unglaubens wie ihrer Sittenlosigkeit gehindert werden müssen. Das ist die Vereinigung des Sekten- und des Kirchenideals, ohne Summepi­ skopat und ohne Patronat. Die Kirche besteht in der Gesamt­ heit der Erwählten, aber sie ist um deswillen nicht demokratisch verfaßt , sondern gesteht der Gemeinde nur stillschweigende Zu­ stimmungen und allenfallsige Einsprüche zu. Das Kirchenregi­ ment liegt bei den durch göttliches Kirchenrecht geforderten Amtsstellen der Geistlichen, der Zuchtgerichte, der Doktoren und der Diakonen, deren ordnungsmäßige Besetzung dem Tumult der Volkswahlen entzogen ist und deren Inhaber nicht Vertreter der Gemeinde , sondern Vertreter des Gotteswortes sind. Die Clas­ sical- und Synodalverfassung hat diese Genfer Idee den Verhält­ nissen großer Völker angepaßt, aber ihren Geist nicht verändert. Die letzte Instanz in Glaubens- und Sittenfragen liegt bei der Bibel, deren Einhelligkeit und Durchsichtigkeit aufs strengste vorausgesetzt wird und deren Deutung nötigenfalls durch Befragung und Konsens der angesehensten Kirchen sicher gestellt wird. In der selbstän­ digen Ausübung des Sittengerichtes, in einem System der Ueber­ wachung und Denunziation, in der Macht des Abendmahlsausschlus­ ses mit der Wirkung des bürgerlichen Boykotts, in der Begutach­ tung der bürgerlichen Gesetzgebung und gelegentlicher Einwirkung auf sie besitzt diese Kirche eine hohe Selbständigkeit, die auf frei­ willige Unterstützung und Zustimmung der gleichfalls aus der Bibel sich belehrenden weltlichen Regierungsgewalt rechnet, mit dieser aber überall über die Handhabung des Bannes in Konflikt geriet. Reibungen mit der Staatsgewalt sind trotz der auch hier vorausgesetzten Einheit des Corpus Christianum unausbleiblich. Sie sind überall eingetreten und auch in Genf nicht ausgeblie­ ben. In England und den Niederlanden haben sie geradezu zu schweren Kämpfen und großen Katastrophen geführt, deren Wir­ kungen uns noch beschäftigen werden 402). 402) Vgl. hierzu Rieker, Reformierte Kirchenverfassung; Sohm , Kirchenrecht, S. 642-657; von Hofmann, Kirchenverfassungsrecht der niederländischen Refor­ mierten; Choisy, La theocratie, und L'etat chretien; dazu seine Antrittsvorlesung L'etat chretien calviniste au 16 eme siede, 1909. Hier eine treffende Hervorhebung der Bedeutung der Kommunion S. 11 : La communion est, en effet, dans l'etat chretien un acte obligatoire, impose, un acte social et civique. Par la participation

Kirchen-, Gesellschafts- und Familienbegriff.

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Die G e s e 11 s c h a f t s 1 e h r e ist bereits mit dem Bisherigen genügend geschildert. Sie trägt in Genf ein ganz überwiegend bürgerlich-geschäftliches und geldwirtschaftliches Gepräge. Wie sie auf die bäuerlichen und auf die seigneuralen Gebiete des Cal­ vinismus gewirkt hat, ist erst noch zu untersuchen. Jedenfalls war die Gesellschaftsidee überhaupt überwiegend bürgerlich bestimmt und wurde das immer mehr. Man sagte dem Calvinismus Adels­ haß nach. Die ständischen und zünftigen Gliederungen der Zeit verstehen sich auch hier von selbst, obwohl ein Interesse an der Stabilität nicht bekundet wird wie im Luthertum und der häufige Berufswechsel und die Vermögensumwälzungen in den Refugian­ tengemeinden überhaupt eine solche Stabilität unmöglich machten. So fehlt die grobe lutherische Dreiständelehre charakteristischer­ weise ganz. Wo, wie in der Luxusgesetzgebung, Standesunter­ schiede gemacht wurden, da wird ein ziemlich reich abgestufter Bau ständischer Schichtung klargelegt, aber das Maß der Unter­ scheidung ist lediglich der Besitz. Gewisse plutokratische Züge, die in den Niederlanden und Amerika bis heute bemerkbar sind, mögen damit zusammenhängen. Vor allem aber ist der Gedanke der religiösen Gleichheit vor Gott viel stärker angespannt als im Lu­ thertum und in der kirchlichen Praxis, inbesondere im Zuchtgericht, nachdrücklich durchgeführt. Hierum gehen in Genf die heißesten Kämpfe. Bekannt ist die Darlegung, die John Knox der Maria Stuart über die Gleichheit auch der Könige vor dem göttlichen Gesetze gab. Auch dem galanten hugenottischen Adel gegenüber hat das Zuchtgericht nicht versagt. Bei aller Festhaltung der äußeren Unterschiede und der dadurch bedingten strengen Loyali­ tät ist doch diese Gleichheit vor Gott unzweifelhaft ein Ferment demokratischer Gedanken, wie das Kuyper mit Recht in seinem a la Sainte Cene, Je bourgeois et l'habitant de Geneve font profession de croire au seul vrai Dieu et de se soumettre a sa loi. C'est l'hommage rendu par le chretien au Souverain legislateur et protecteur de Ja Cite, et a Jesus-Christ, son Fils, le Redempteur, le Chef supreme de l'Eglise. C'est pourquoi on ne saurait admettre la sainte table ceux qui violent ouvertement Ja loi de Dieu et outragent honteu­ sement sa verite. C'est pourquoi on ne saurait non plus admettre que personne s'abstienne de communier sans avoir ete officiellement ou publiquement exclu de la participation de la Sainte Cene. Cependant, tout en etant un acte civique obligatoire, Ja communion doit etre un acte de piete personelle etc.«. Die Kom­ munion übt soziologisch für den Calvinismus ähnliche Funktionen aus wie das Bußsakrament für den Katholizismus, dadurch gelangen auch beide zu einer or­ ganisatorischen Kraft, die dem Luthertum versagt ist.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Manifest des modernen Calvinismus ausgeführt und durch die charakteristisch patriarchalen Elemente des Calvinismus freilich wieder eingegrenzt hat. Es ist von Hause aus ein demokratische und aristokratische Elemente mit einander verbindendes und sie gegenseitig eingrenzendes Gesellschaftsideal, das durch die Unter­ stellung aller Kreise unter die Souveränetät Gottes eine hohe Selbständigkeit gegen die irdischen Machtverhältnisse und zugleich doch eine feste Bindung im Gedanken des Gesetzes und der allei­ nigen Zweckbestimmung für die Ehre Gottes empfängt. Daher erklärt sich der leidenschaftliche und oft erfolgreiche Angriff ge­ schlossener calvinistischer Minoritäten auf das ganze Volkstum, wie er die französische, niederländische und englische Geschichte erfüllt 403). Bezüglich der Familien- und Sexualethik ist schließlich noch zu bemerken , daß hier im allgemeinen natürlich die gleichen Grundsätze obwalten wie bei Luther. Aber man wird auch hier wohl eine größere Verselbständigung der Eigenpersönlichkeit der Frau und eine mehr rationell-zweckbestimmte Auffassung der Ehe anerkennen müssen , die von dem scholastisch-dualistischen Ge­ danken der relativen Anerkennung und wesentlichen Eingrenzung der Konkupiszenz sich zu einem rationellen Familienideal als Mit­ tel der Gesellschaft erhebt. Auch hier sieht der Unterschied lu­ therischer und calvinistischer Askese durch. Das Luthertum gibt mit der Erbsündenlehre die Konkupiszenz völlig als sündlich preis, läßt aber das triebhaft-sündige Element in der Einschränkung durch die Ehe bestehen, während der Calvinismus jene Sündhaf­ tigkeit weniger betont, dagegen die Eheführung unter die streng­ ste rationelle Kontrolle ihrer Leistung für das Gemeinwesen stellt und die triebhafte Leidenschaft durch sachliche Erwägungen und 408) Hierüber wage ich mich nur mit Zurückhaltung zu äußern, indem es Dar­ stellungen dieser Gesellschaftstheorie nicht gibt. Die Abwesenheit der Dreistände­ Lehre bei Rieker S. 184 betont, die Gliederung nach dem Besitz in den Luxusgesetzen bei Elster S. 190-192, die Fortdauer der Berufskategorien, Zünfte und Gilden bei Choisy S. l 18 Anm. 3 und Gierke, Althusius 2 24. Hier sind die Berufe alle zugleich als consociationes collegarum behandelt S. 22, zugleich aber hervorgehoben, daß sie >durchaus frei geschlossene und frei lösliche Verbindungen< sind. Ueber die Gleichheit vor Gott s. Choisy, L'etat chretien S, 484-490. Hierher gehört auch die sorgfältige Vermeidung jeder ,Amtswürde« bei den Geistlichen, die nichts dem lutherischen Amtsbegriff ähnliches aufkommen läßt. Betreffs des Bauernstandes Klagen über seine Vernachlässigung bei Althusius S. 25. Ueber die demokratische Konsequenz der religiösen Gleichheit s. Rieker S. 122.

Uebergang zum Neu-Calvinismus.

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Abzweckungen bricht. Es ist ein Unterschied der Nuance, aber er ist wichtig und beleuchtet die innersten Differenzen '0'). Mit diesen bisherigen Charakterisierungen ist wesentlich der alte Calvinismus beschrieben und sind nur einige seine moderne Entfaltung bestimmende Züge hervorgehoben. Der Calvinismus, so wie er heute ist und wie er diese die Gegenwart bestimmen­ den Züge in den großen Entwicklungen des 17. Jahrhunderts hervorgebracht hat , ist damit noch keineswegs ausreichend verstanden. Noch fehlen z w e i w i c hti g e F o 1 g e r u n g e n, d i e a u s s e i n e m W e s e n m e h r o d e r m i n d e r f o l­ g e r i c h t i g h e r v o r g e g a n g e n s i n d , d a s Fr e i k i r­ c h e n t u m u n d d e r i n n e r k i r c h l i c h e Pu r i t a n i s­ m u s o d e r P i e t i s m u s. Durch das erstere trat er zugleich in eine Art von Verbindung mit der Demokratie , die mit der bisherigen Schilderung seiner Staatsethik noch nicht getroffen ist. Denn diese bezog sich immer nur auf die Aufrichtung von Konstitutionen oder Kontrollen gegenüber einer die Ehre Gottes und das Wohl der Völker verletzenden Staatsgewalt bei übrigens möglichst konservativem und legitimistischem Denken. Das Frei­ kirchentum dagegen ist seinem Wesen nach die Auflösung der mittelalterlichen und altprotestantischen Idee eines einheitlichen staatlich-kirchlichen Lebensganzen und einer die gesamte Kultur einheitlich beherrschenden unfehlbaren Autorität. Es ist damit von vornherein revolutionär gegen die Grundbegriffe der bisherigen Gesellschaft und muß einen religiösen Subjektivismus und Relativis­ mus vertreten, der zwar nur der Verzicht auf die irdische, die absolute Wahrheit anerkennende und durchsetzende Gewalt ist, 404) Ueber Neigung und gegenseitige Klarheit über sich selbst als Voraus­ setzung der Ehe Briefe I 256, die Bezogenheit auf das Ziel der heiligen Gemeinde I 351 und 369, über die Gleichstellung von Mann und Weib in Christo und Pflichten der Frauen wie der größten Helden II 193 (An die gefangenen Frauen in Paris); Gleichheit von Mann und Frau II 268 und 451; immerhin aber der Mann das Haupt der Frau II 391; über das Verhalten von Staats- und Zuchtge­ richt in der Kontrolle des sexuellen Lebens s. zahlreiche Beispiele bei Choisy L'etat chretien, bes. S. 401 ; über die Bedeutung der Ehe für die Gesellschaft S. 487; zum Ganzen Elster S. 194 f. und die schöne Schilderung von v. Schulze­ Gävernitz, Britischer Imperialismus S. 47-49: >Der Puritanismus hat damit einer Betrachtung des sexuellen Verhältnisses die Wege gebahnt, welche die in der Zeu­ gung liegende Verantwortlichkeit in den Vordergrund schiebt und eine ethische Konstruktion des Geschlechtsverhältnisses vom Standpunkt des Kindes aus ermög­ licht«. - Eine Monographie über dieses Thema wäre lohnend.

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus,

der aber eben damit die verschiedenen Religionsgemeinschaften wenigstens als scheinbar gleichberechtigt nebeneinander bestehen lassen muß bis zu der Scheidung beim Kommen Christi. Das bedeutet die Verlegung der formellen Entscheidung der Kirchen­ zugehörigkeit in den Willen des Einzelnen und die wenigstens äußerlich rechtliche Auffassung der Kirche als eines Vereins, wenn auch dogmatisch die so zustande kommende Gemeinschaft nach wie vor als kirchliche Heilsanstalt betrachtet werden kann. Damit ist der Kirchenbegriff im Uebergang zu individualistisch­ demokratischen Gedanken, und es liegt auf der Hand, daß ein solcher Kirchenbegriff wahlverwandt ist mit der politischen Demo­ kratie, wie umgekehrt, daß die von der Vereinigung der Indi­ viduen her den Staat konstruierende Demokratie mit einem solchen Kirchenbegriff leichter arbeiten kann als mit einer uniformen, im Grunde immer den Staat irgendwie absolutistisch beherrschenden staats-kirchlichen Idee. Das Freikirchentum oder die Trennung von Staat und Kirche ist daher im Laufe der Zeit das religionspoli­ tische Prinzip der Demokratie geworden, wie umgekehrt von dem Freikirchentum Antriebe demokratischer Art ausgingen. Es ist klar, daß damit eine neue und über alle bisherigen Grundlagen weit hinausgehende Entwickelung des Calvinismus eintritt, vor allem daß damit eine formell-rechtliche Analogie mit der Sekte entsteht, auch wenn der Kirchenbegriff selbst mit allen dogmatisch­ ethischen Konsequenzen gewahrt wird. Ergibt sich bei dieser ersten Entwicklung schließlich eine mehr formelle Analogie mit dem Sektentypus, so entsteht aus der zweiten eine dauernde sachliche und inhaltliche. Der Pietismus hat nichts unmittelbar mit der kirchlichen Verfassung und mit demo­ kratischen Neigungen oder Konsequenzen zu tun, sondern geht nur auf die strenge Durchführung des Gedankens der Heiligungs­ gemeinde und der reinen Abendmahlsgemeinschaft. Er steigert die asketischen Grundzüge des Calvinismus und bricht darüber mit der Welt und der weltlichen Kultur, soweit sie über das schlechthin utilitarisch Notwendige hinausgeht. Gewiß liegt hierin eine erhebliche Abwendung von der viel freiem und feineren Hal­ tung Calvins, auch von der gerade durch urbane Feinheit und humanistische Bildung ausgezeichneten älteren calvinistischen Kulturidee, die natürlich auch nicht aufhörte fortzudauern, aber von dem aktiveren puritanischen und präzisistischen Calvinismus zurückgedrängt wurde. Damit ergab sich dann aber eine Annähe-

Freikirchentum und Puritanismus als Hauptmerkmale des Neucalvinismus.

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rung an das Ethos der Sekte, bei der zwar die Unterschiede gegen das alte echte täuferische Ethos immer noch sehr erheblich blie­ ben, aber doch sehr viel schmäler wurden. Beide Bewegungen, die freikirchliche und die puritanisch­ pietistische, fallen nun aber dabei durchaus nicht überall zusam­ men. Die erste kann im Sinne des dogmatisch und ethisch korrektesten Calvinismus verstanden werden und kann, wenn sie will, die freiere Haltung zur Welt durchaus behaupten oder steigern. Die zweite umgekehrt braucht nicht auf Auflösung der staats-kirchlichen Lebenseinheit zu dringen, sondern kann entweder hoffen, die ganze Gesellschaft unter das Joch des Zuchtgerichtes und des strengen Ideals zu bringen, oder kleinere Kreise inner­ halb der Kirche zu bilden, wobei dann eine religiöse Gemein­ schaft im weiteren, mehr pädagogischen und relativen, und im engeren, mehr perfektionistischen und absoluten, Sinne zu unter­ scheiden wären. Freilich können aber auch beide Richtungen. in einander übergehen. Das Motiv der Freikirche kann außer der Verwerfung des Religionszwanges auch das der Heiligungsgemeinde sein, und die pietistische Bildung engerer Kreise kann zur Frei­ kirche führen, wie beides mehrfach geschehen ist und wie es vor allem am Anfang beider Entwickelungen gewesen ist. Es ist nun die Frage, wie weit beides aus der inneren Kon­ sequenz des Calvinismus zu verstehen ist und wie weit etwa dabei fremde Einflüsse von außen her mitgewirkt haben. Beide Um­ formungen haben sich vor allem in den großen englischen und niederländischen Kämpfen zwischen dem Staat und der Souverä­ nität der Kirche, zwischen dem Heiligkeitsideal, der Renaissance und der Volkssitte vollzogen. Tritt hierbei die reine Folgerich­ tigkeit des Calvinismus hervor oder sind noch besondere Einflüsse der Lage beteiligt? Zunächst und in erster Linie freilich sind beide Entwicke­ lungen trotz der starken Neuerungen doch verständlich von den Genfer Grundlagen her, allerdings diesmal nicht positiv als Folgen der Genfer Umwelt, sondern gegensätzlich als Folgen einer andersartigen Umwelt. Sie traten ein, wo die Verhältnisse eines kleinen Staates wegfielen und damit das Problem der Zahl und der Masse und die damit steigende Notwendigkeit gewalt­ samen Zwanges in den Vordergrund rückte. Genf war ein kleiner Staat und machte die Durchdringung dieser verhältnismäßig be­ schränkten Masse mit christlichen Heiligungsmaßstäben möglich.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Auch blieb seine schwache Staatsgewalt lange Zeit den kirchli­ chen Interessen untertan. Es blieb in beiden Hinsichten einzig­ artig und unerreichbar. Aber auch anderwärts, wo der Calvinis­ mus sich in diesem Sinne organisierte, war er zunächst noch die Religion kämpfender Minoritäten. In den kleineren Verhältnissen war es möglich, das Ideal der heiligen Gemeinde als Volkskirche, als die ganze Gesellschaft umfassende christliche Gesittung, auf­ zurichten, und bei dem Gegensatz gegen die Staatsgewalt fiel das staatskirchliche Problem praktisch weg. Sobald es aber um die Beugung wirklicher Großstaaten unter das calvinistische Staats­ und Gesellschaftsideal sich handelte oder sobald die calvinisti­ schen Gemeinden in einer allgemeinen weltlichen Massenkultur standen, da entstand das Problem, wie die Staatsgewalt mit dem für sie sehr schwierigen Uebergewicht der kirchlich-theologischen Interessen sich abfinden würde, und wie die Heiligungsgemeinde streng persönlich überzeugter und bewährter Christen zugleich als Massengemeinde möglich sei. Der Druck des Calvinismus er­ zeugte den Gegendruck der politischen Interessen, die den »Era­ stianismus« d. h. die staatliche Kontrolle über die Kirche forder­ ten, und den Gegendruck der weltlichen Interessen, die sich in den harten und einseitigen Rigorismus nicht finden wollten. Dieser Gegendruck aber verwandelte den Calvinismus, indem er ihn zu neuer Stellungnahme nötigte. War die heilige Gemeinde und die Herrschaft von Gottes Ehre in der Welt überhaupt mög­ lich? Die Frage, welche die Täufer verneint hatten und die Cal­ vin in entschlossenem Vertrauen darauf, daß die Nichterwählten in der Minderheit seien und der christlichen Gemeinde wenig­ stens äußerlich unterworfen werden könnten und müßten, bejaht hatte, tauchte wieder auf. Mit ihr aber zeigte sich auch nun deutlich die anfänglich ganz verdeckte, relative Wahlverwandt­ schaft des calvinistischen Ideals mit dem täuferischen. Wie sie fing man das Staatskirchentum überhaupt zu bestreiten und durch eine vom Staat unantastbare Freiwilligkeitskirche zu ersetzen. Wie sie unternahm man es, sich gegen die Welt durch eine pu­ ritanisch strenge Lebensnormierung abzugrenzen. Es ist nur eine Annäherung, kein Zusammenfallen. Denn die Kirche blieb auch als Freikirche eine Kirche mit der Richtung auf möglichst breites Volkskirchentum, und auch der Puritanismus hat weltliche Aemter, Macht, Krieg, Recht und Eid nie prinzipiell bekämpft. Aber eine Annäherung liegt vor, und es ist klar, wie sehr sie in dem

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Schwierigkeiten des Volkschristentums und der Staatskirche.

durch den Calvinismus überhaupt gestellten Problem der wirklich aktiv heiligen und Gottes Souveränetät vertretenden Gemeinde begründet ist 405). 405) Diesen Zusammenhang mit dem Problem der Zahl, der Masse und der christlichen Volkskultur hat Göbel richtig erkannt und in beiden Richtungen, in­ bezug auf das Freikirchentum wie inbezug auf den Pietismus, in seiner Bedeutung hervorgehoben; auch hat er die Analogie mit dem Täufertum klar gesehen. Das Problem begann mit den exilierten Fremdengemeinden , der Gemeinde Laskis in London , der evangelisch-calvinistischen Gemeinde in Frankfurt , den nie­ derländischen Exulantengemeinden am Niederrhein Göbel I 326. Hier vollzog sich auch bereits die Demokratisierung der Gemeinden (I 340 f.), die nun ihre Organe selbst wählen mußten und keine Delegationen aus den Behörden in ihren Körperschaften hatten. Entscheidend war hier die Londoner Gemeinde Laskis. Göbel nennt sie »eine heilsame Vermittelung zwischen den verfassungslosen Lutheranern und den separatistischen Wiedertiiufern, und so hat er die Gründung einer refor­ mierten Kirche, welche zwischen beiden die Mitte hält, auf deutschem Boden mög­ lich gemacht«, S. 326. • Unter ihren frei gewählten Predigern und Vorstehern richtete sie sich unabhängig von dem Bischof und dem Pfarrzwang ganz frei nach ihren eigenen Grundsätzen, bekam aber dadurch auch ei'1en von den übrigen weltlichen und bürgerlichen Verhältnissen und Verbindungen unabhängigen, scharf ausge­ prägten, teilweise separatistischen Charakter, welcher nach ihrer Uebersiedelung nach Emden, Wesel, Frankfurt und Straßburg und ihrer weiteren Ausbreitung in den Main- und namentlich in den Rheingegenden der durch sie dort gegründeten reformierten Kirche natürlicherweise denselben scharfen kirchlichen und christlichen Charakter und dem in ihr blühenden christlichen Leben das Gepräge der Ent­ schiedenheit nnd Schroffheit , der Weltentsagung und der Weltfeindlichheit auf­ drückte« (336). Aehnliches gilt von den älteren niederländischen Gemeinden vor der - übrigens immer nur relativen - Herstellung ihres staatskirchlichen Charakters, wie v. Hoffmann zeigt; auch von den englischen Puritanern, sobald sie seit 1567 durch die schroffe Elisabethanische Konformität in die Opposition gedrängt waren, siehe Kattenbusch Art. Puritanismus in PRE 8: sie bildeten >Privatvereine, die gewöhnlich Prophecyings genannt wurden. Der Name gründete sich auf I Cor 14, 13. Es waren Vereine zur gemeinsamen Erbauung und zur Förderung eines christlichen Lebens und hatten ihren Ursprung in Laskis Gemeinde«; damit trat der Zug zum Presbyterianismus hervor: ,Die weltliche Obrigkeit habe keine Gewalt über die Kirche«; sie verlangen ,die volle Autonomie der Kirche«, was vorläufig nur in Gestalt der Separation möglich ist. - Vgl. weiterhin die Charakterisierung der wichtigen Beschlüsse der Emdener Synode 1571 bei Göbel I 418: >So war denn in Emden eine Kirchenordnung nicht für ein ganzes Land, nicht für eine ganze Stadt oder ein ganzes Volk, sondern nur für diejenigen festgestellt , welche ihr freiwillig beitraten und sich ihrer Ordnung und Kirchenzucht unterwarfen und da­ rum auch jeden Augenblick wieder austreten konnten«. Sie galt vorerst mit für die niederländischen Gemeinden, Der Zusammenhang dieses neuen Kirchenprinzips

T r o e 1 t s c h Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Dabei ist klar, daß der Puritanismus und Pietismus jedenfalls geradliniger aus den reformierten Grundideen hervorgehen konnte als das F r e i k i r c h e n t u m, zugleich, daß das letztere das welt­ historisch dauerhaftere und wichtigere Prinzip ist. Man hat es als ,subsidiäres Kirchenideal« des Calvinismus bezeichnet, das er hervorholt, wo er mit dem »primären« nicht ausreicht oder nicht durchkommen kann. Auf der andern Seite hat man von einer naturrechtlichen Tendenz des calvinistischen Kirchenbegriffs ge­ sprochen, die hierin erst zu ihrem folgerichtigen Ausdruck komme. Moderne Calvinisten wie Kuyper deuten das Freikirchentum ohne weiteres in das Wesen von Calvins Gedanken zurück und bezeichnen seine staatskirchliche Idee einer christlichen Zwangskultur als eine leicht wegfallen-könnende mittelalterliche Schranke. Andere ver­ muten Einflüsse oder wenigstens Analogien des täuferischen Ge­ meindegedankens, bei dem ja die Spättaufe nur ein Symptom, ,der Glaubens- und Bekenntniskirche« mit der Feindseligkeit der Staatsgewalten einerseits, mit den Schwierigkeü;en des Massen- und Volkschristentums andererseits ist entwickelt I 423. Ueber die Analogie dieser Gestaltung mit dem Sektentypus I 443: »Ueberhaupt würde die ganze (niederrheinische) Kirche ... allmählich in die Gefahr geraten sein eine Sekte zu bleiben oder wieder zu werden, wenn sie nicht einerseits immer im Zusammenhang mit der äußerlich wenigstens mächtig aufblühenden niederländischen Nationalkirche und ihrer zunächst auf den Univer­ sitäten Leyden (seit 1575) und Franeker (seit 1585) großartig sich entwickelnden Theologie geblieben wäre und andererseits der Synodalverband und seit 1609 ihre unerwartete Befreiung und außerordentliche Ausbreitung sie vor solcher Verküm­ merung bewahrt und auch ihr wenigstens teilweise die Aufgabe gestellt hätte, Na­ tional- oder gar Landeskirche zu werden und demnach mit ihrem Sauerteig das ganze Volk und das ganze Land zu durchdringen. Dennoch aber konnte unsere reformierte Kirche ihren separatistischen Ursprung nie völlig verleugnen, und es blieb daher in ihr der Gegensatz zwischen Welt und Christentum, Weltmensch und Christ, Menschensatzung und Wort Gottes, Papsttum und Evangelium, sodaß bei zunehmen­ der Erschlaffung der Kirchenzucht und dadurch veranlaßter Verweltlichung der Kirche und des christlichen Lebens immer aufs neue von außen und von innen her Versuche zur Wiederherstellung der alten Strenge und Schärfe, sei es durch eine Sammlung der einzelnen Erweckten in den Gemeinden, sei es durch Trennung dieser letzteren von der verweltlichten großen Kirche und Bildung besonderer Ge­ meinden gemacht wurden.< Das erklärt bis heute den Charakter des Wuppertals, den Pietismus von Elberfeld und Barmen. Das gilt aber auch mutatis mutandis von allen Gebieten des Calvinismus vermöge des Gedankens der Heiligungsgemeinde und der kirchlichen Autonomie gegenüber dem Staate.

Das Freikirchentum der echten calvinistischen Idee fremd.

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aber nicht das Wesen der Sache ist. Es fragt sich also sehr, wie diese Entwickelung zu verstehen ist ' 06). Erwägt man, daß in dem primitiven Calvinismus hierfür auch nicht der leiseste Ansatz ist, sondern daß eine Duldung mehrerer Kirchen neben einander, sowie die Entziehung der Staatsgewalt von ihrer christlichen Pflicht als das höchste Verbrechen erscheint, daß die Absolutheit und Ungebrochenheit des Wahrheitsbegriffs so gut die Einheit der Kultur und die alleinige Herrschaft der Wahr­ heit wie die Intoleranz gegen die Unwahrheit verlangt; erwägt man ferner, daß der calvinistische Gemeindegedanke von Hause aus eben gerade nicht demokratisch konstruiert ist, sondern die demo­ kratischen Konsequenzen sorgfältig fernhält, daß die Prädestina­ tion wohl einen ungeheuren Individualismus der Persönlichkeit, aber keinerlei enthusiastische Mannigfaltigkeit und Unmittelbar­ keit der religiösen Ideen gestattet, vielmehr bei der Bindung an die Heilsmittel von Kirche, Wort und Sakrament ihre ganze Furchtbarkeit auch auf diese alleinigen Heilsmittel ausbreitet : dann wird man eine solche Ableitung überhaupt gar nicht ver­ suchen. Dazu kommt, daß der Calvinismus in den Fällen, wo er zum Nebeneinanderbestehen mit fremden Konfessionen ge­ zwungen war, dies als etwas nur Vorläufiges und nur Erzwungenes betrachtet hat, daß er da, wo er im Anfang zu wirklich frei­ kirchlicher und geheimer Existenz genötigt war, dies ausdrücklich als schweren Mangel bezeichnete, daß er in England und Nord­ amerika von den Duldungsgrundsätzen infolge presbyterianischer Nachschübe zum Prinzip der Theokratie zurückkehrte, sobald er wieder die Macht dazu hatte, daß er den Independentismus und '08) Ueber diese Herausbildung des ,subsidiären calvinistischen Kirchenbe­ griffes«, vgl. Rieker S. 190-205; Kuyper, S. 52-60, 71-100 erkennt darin die eigentliche, von den Vätern noch nicht ganz enthüllte, Grundtendenz des Calvinis­ mus ; das ausgezeichnete Buch von Rothenbücher, die Trennung von Staat und Kirche 1908 zeichnet Entstehung und Wesen des Prinzips; die begeistertste reli­ giöse Verherrlichung des Prinzips als des modernen Religions- und Kirchenprinzips überhaupt bei Al. Vinet, Essai sur Ja manifestation des convictions religieuses et sur la separation de l'eglise de l'etat 1842, vgl. Deutsch v. Spengler 1845, sowie La liberte des cultes 2 1852. S, auch Troeltsch >Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten 1907; zu meiner Freude stimmt Rothenbücher mit dem hier von mir gegebenen Aufriß und der Herleitung vom Täufertum wesentlich überein. Deu naturrechtlichen Charakter des reformierten Kirchenbegriffes s. bei Sohm, Kirchenrecht I 655 f. 697 f. 47 *

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Kongregationalismus in der französischen Kirche geradezu feier­ lich auf der Synode von Charenton verdammt hat. Auch die anfänglichen ·separierten Puritanergemeinden Englands wurden bei günstigeren Umständen zu der großen Presbyterianerpartei, die eine presbyterianische Konformität an Stelle der anglikanischen setzen wollte. Selbst die niederrheinischen Gemeinden betrachteten ihre freikirchliche Existenz als Provisorium und strebten nach dem Staatskirchentum, wie ein solches die Niederländer Calvinisten erreich­ ten. Auch die Idee eines Church-Covenant ist nicht calvinistischen Ursprungs, denn die schottischen Covenants sind nicht Kirchen­ stiftungen, sondern Schutzvereinigungen für die Kirche 407). 407) Es ist aller Nachdruck darauf zu legen, daß dem alten Calvinismus der Wahr­ heitsbegriff fehlte. von dem aus allein nicht bloß der Verzicht auf das brachium saeculare, sondern die Freigebung verschiedener Kirchenbildungen möglich wird; vgl. Troeltsch >Trennung usw.«. Als die Niederländer sich auf ein derartiges Nebeneinander ein­ richten wollten, bezeichneten die Genfer das als das fluchwürdige Castelliosche Toleranz­ prinzip Rachfahl II 737-731. Die niederrheinischen Kirchen unter dem Kreuz, die fak­ tisch Freikirchen waren, behielten doch ausdrücklich die staatskirchliche Lebenseinheit als das Normale vor, s. Simons, Freikirche, Volkskirche, Landeskirche 1895 S. 12. Wo man sich unter katholischer Landesherrschaft zunächst freikirchlich organisierte, geschah es als etwas vorläufiges in der Hoffnung auf den Sieg der Wahrheit und in der Behauptung einer Pflicht des Landesherrn, der Wahrheit sich zu unterwerfen Rachfahl II 881, Rothenbücher 20. Wo man ohne Hoffnung des Sieges sich auf andere Konfessionen einrichtete, da wollte man doch keine allgemeine Freigebung der Kirchenbildung, sondern die Beschränkung der Toleranz auf Katholizismus, Luthertum und Calvinismus; es ist die Minoritätentoleranz, wo nichts anders zu erreichen ist, aber nicht das Prinzip der Kultus- und Gewissensfreiheit s. Rachfahl II 728, Frank Puaux, Les precurseurs frangais de Ja tolerance au 17 siecle Paris 1881, Rothen­ bücher 63. Die Pilgerväter kehrten zur strengen Theokratie mit Todesstrafe gegen die Täufer als Vertreter des Toleranzgedankens zurück, Rothenbücher 120-123. Auch von einer vereinskirchlichen Struktur des Calvinismus kann nicht die Rede sein. Das hat Rieker gegen Sohm, der eine Verwandtschaft des Calvinismus n::.it dem Naturrecht behauptet, gezeigt und hätte es noch stärker betonen dürfen, siehe S. 133. Der Independentismus ist ausdrücklich verworfen, s. S. 82 und Simons, Nie­ derrheinisches Synodal- und Gemeindeleben 1897 S. 15. Der vom Calvinismus so stark gepflegte Vertragsgedanke gilt für den Staat und das Verhältnis zum Staat, aber nicht für die Entstehung der Kirche selbst, wie Rieker selber feststellt S. 73. Bei den unter andersgläubiger Oberhoheit lebenden Fremdlingskirchen Laskis und dann bei den niederländischen Kirchen stellt H. v, Hoffmann (Das Kirchenverfas­ sungsrecht der niederländischen Reformierten, 1902} zwar fest, daß die Kirchen­ mitgliedschaft sowohl von bisher Andersgläubigen als von bereits Getauften nur >durch Vertrag« erworben wurde, und daß demgemäß hier zum ersten Male die

Der Brownismus.

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In der Tat findet sich der geschichtliche Ausgangspunkt des Freikirchentums als eines normalen Prinzips nicht in diesen von der Kirche im Sinne des modernen Rechts als Korporation erscheine S. 86. Allein der Ausdruck ist aus der modernen Rechtssprache ergänzt und trifft die Sache nicht, da das Korrelat eines ,Austrittsrechtes« nicht besteht S. 83. Es handelt sich in Wahrheit nur um die Form der persönlichen Anteilnahme an einem an sicl1 durch göttliche Stiftung (S. 88 f.) bestehenden und durch die göttlich eingesetzten Aemter (S. 87 f.) sich fortsetzenden Institut, bei dem jedesmal der Kirchenrat oder die Aemter als die geordneten Mittel für die Ausübung der Königsherrschaft Christi das Primäre sind (S. 87 und 96); auch besteht überall, wo ein solches Zentrum ist, die religiöse Pflicht sich dieser einen und alleinigen Anstalt der Wahrheit und Er­ lösung anzugliedern S. 75, 84 und 87 ! Die Freigebung kirchlicher Vereinsbildung stammt also so wenig wie der Vereinsgedanke selbst aus dem Calvinismus, sondern aus dem Vereinskirchentum der Kongregationalisten und der Täufer s. Rothenbü­ cher S. 30. Der Calvinismus hat ihn daher sich immer auch nur für die äußere rechtliche Form aneignen können, nie für sein Wesen; s. Rieker 130-174. - Der naturrechtliche Kirchenbegriff vollends ist ein rein aus der juristischen Konstruktion erwachsenes begriffliches Mittel, dessen sich alle Gemeinschaften bedient haben und das durch die Einführung der stillschweigenden Zustimmung beliebig in anstaltliche, staatskirchliche und zwangskirchliche Ideen umgebogen werden konnte. Mit der calvinistischen Idee von der Kirche hat er m. E. überhaupt nichts zu tun ; siehe Rothenbücher 68-72. - Ueber die schottischen Covenants und teilweise ihre Texte siehe bei Champlin Burrage, The Church Covenant ldea, its. origin and development, Philadelphia 1904. - Daß im Freikirchentum ein gegenüber dem alten Calvinismus (auch Katholizismus und Luthertum) neuer Wahrheitsbegriff zu Grunde liegt, zeigt charakteristisch Vinet, Darlegungen S. 276 »Wenn das National­ kirchensystem allen Sekten ein Ende oder ihr Entstehen unmöglich machte, so würde es dieser Triumph nicht loben, sondern verklagen. Denn es liegt amTage, daß es ihn nur auf Kosten der m e n s c h 1 i c h e n N a t u r u n d d e r R e 1i g i o n e r r i n g e n k ö n nte , d i e b e i d e e i n e s o l c h e E i n h e i t n i c h t w o 11 e n. L e b e n u n d M a n n i g f a 1 t i g k e i t s i n d a u f d i e s e m G e b i e t e g a n z k o r r e l a t. E s g i b t k e i n Le b e n , w o e s k e i n e S e k t e n g i b t , E i n f ö r mig k e i t i s t e i n Z e i c h e n d e s T o d e s« S. 278 »Die Ein­ heit des Glaubens war vor dem Sündenfall, seit dem Sündenfall ist der Mensch i n d i v i d u a l i s i e r t a u c h in d e rR e l i g i o n u n d zw a r u n a u f h e b l i c hc S. 206. > Was ein anderer vom Suchen der Wahrheit gesagt hat, daß es wichtiger sei, als die Wahrheit selbst, läßt sich auch auf die Religion verwenden, wenn es, wie wir glauben, heißen soll: die erste aller Wahrheiten ist die, die Wahrheit wollen und suchen. Die Wahrheit ist nur eine halbe, wenn man sie nicht sucht. D a s S u c h e n i s t h i e r e b e n so w i c h t i g a l s d a s B e s i t z e n .• D a s i s t w i r g e b e n e s z u , d i e S c h l a g a d e r u n d d a s H e r z u n s e r e rT h e o­ r i e c S. 293. Das eigentliche Staatskirchentum stammt nach V. erst von derRefor­ mation und ist ihre beklagenswerte Fehlgeburt S. 273. Historisch beruft sich Vinet

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Not erzeugten Freikirchen, sondern in dem Kongregationalismus, dessen Ursprünge nahe neben denen des Puritanismus lagen, aber mit diesem nicht identisch waren. Robert Browne, der Vater des Kongregationalismus, war im Anfang mit den strengen Puri­ tanern verbunden , entwickelte aber dann die Grundsätze einer Separation, die sich im Gedanken der Fernhaltung von aller weltlichen Gewalt und der Begründung bloß auf die Macht des inneren Geistes, in der biblischen Strenge des Kultus, in der Forderung wiedergeborener Prediger, dem Ideal der Reinheit der Abendmahlsgemeinde, dem Prinzip der Autonomie der Einzel­ gemeinden und schließlich in dem Covenant- und Vereins­ charakter der Gemeinde aussprachen. Hierin ist nur der Zug zur Heiligungsgemeinde puritanisch und calvinistisch. Alle andern Züge sind täuferisch, teilweise spiritualistisch, insbesondere die Idee des Church-Covenant ist ausgesprochen täuferisch. Daß Browne selbst, durch Leiden gebrochen, seinen äußeren Frieden unter Mentalreservationen mit der Konformität machte, tut nichts zur Sache; übrigens waren seine Vorbehalte spiritualistischer Natur, daß es nämlich bei der alleinigen Bedeutung des Geistes auf das Aeußere nicht ankomme. Auch bedeutete die Festhaltung der Kindertaufe und die Anerkennung der anglikanischen Taufe aller­ dings, daß diese nicht auf erneuter Taufe, sondern auf einem Bund mit Gott und untereinander beruhenden Heiligungsgemein­ den sich als reinere und engere Gruppen innerhalb der allge­ meinen Kirche empfanden , nicht als neue Kirchenstiftungen. Das zeigt die Polemik mit den General Baptists, die gemeinsam mit der Leydener Kirche Robinsons von einer brownistischen Gemeinde zu Gainsborough ausgegangen waren, aber unter dem Einfluß der holländischen Mennoniten zu dem Prinzip der Spättaufe übergingen. Auch blieben die Brownisten im Dogma völlig calvinivor allem auf Amerika 356, das auch den Zusammenhang des Freikirchen-Prinzips mit der Demokratie veranschaulicht »Ueberall, wo man die Demokratie ihr Haupt er­ heben läßt, wird man es auch die Religion erheben Jassen müssen; sie kann es ohne fremde Hilfe, aber sie wird nie populär, national und mächtig werden, als wenn sie aufgehört hat Staatsreligion zu sein« S. 366. Doch bedeutet diese De­ mokratie nur das Selbstbestimmungsrecht des Volkes , nicht eine demokratische Kirchenverfassung und keine egalitäre Aufhebung jedes Patriarchalismus in der Ge­ sellschaft oder im soziologischen Grundschema S. 377. Vinet hält das für ächten Calvinismus, aber es ist in Wahrheit ein subjektivierender und relativierender Spi­ ritualismus.

Der Barrowismus.

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stisch orthodox 408). Aehnlich lauteten die Sätze des zweiten Vaters des Kongregationalismus, Henry Barrows, eines zum Puritanismus bekehrten Gentleman und Laien, der als die allein richtige Kon­ sequenz des Puritanismus und des Ideals der Heiligungsgemeinde die Separation ansah. Darum bekämpfte er die Puritaner der Cart­ wrightschen Richtung als inkonsequent ebenso bitter wie die Hoch­ kirchlichen, welche ihrerseits in den Brownisten und Barrowisten dem Puritanismus die Folgen seines eigenen Tuns entgegenhalten zu dürfen meinten. Er starb mit vielen der Seinen als Märtyrer und Opfer der grausamen Elisabethanischen Konformität, welche in diesen Separationen die Prinzipien des Anarchismus Kirche, '08) Zum ganzen s. den vortrefflichen Artikel in PRE 3 von Loofs »Kongre­ gationalismus«. Das große Werk Dexters, Congregationalism of the last 300 years New-York 1880 ist vergriffen und mir nicht zugänglich gewesen. Außerdem s. das hochinteressante Buch von Burrage, The Church-Covenant Idea, das zahlreiche Texte dieser Covenants vorlegt, ihre Entwicklung verfolgt und Analogie und Zusammen­ hang mit dem Täufertum eingehend behandelt, s. S. 46 : In the same year 1580, it is now generally admitted, Browne very likely came into contact with forreign Anabaptists and doutless learned their simple ideas of forming their brotherhood churches or societies, by a Bund or a Covenant with God. Their idea was that a church may be composed only of believers. Browne accepted this view, but following the opinion of bis time in general, added .and their seed« .. . lt may be added that neither Browne nor any of bis earlier followers seem to have been influenced to any great extent by the Scothish covenants«. Uebrigens ist der Co­ venant der Brownisten und aller späteren nicht bloß ein covenant mit Gott, son­ dern zugleich ein solcher mit den Kirchgenossen, s. die Stelle aus Brownes grund­ legendem Book which sheweth life and manners of all true christians S. 37: How must the church be first planted and gathered under one kind of governement? First by a covenant and condicion made in Gods behalfe. Secondly by a covenant and condicion made on our behalfe. Thirdly by using the sacraments of Baptisme to seale thoses condicions and covenants.« Außerdem s. Burrage, The true story of Robert Browne (1550?-1633) Oxford 1906. Hier die wichtigen spiritualisti­ schen Stellen S. 56: > There (im Gegensatz gegen das äußere Kirchentum der Ang­ likaner) is no duty, law, deed, cause, question or plea etc., which ought not to be spiritual or is not determined by the divine and spiritual right, law and word of God.c S. 20: gegen Anglikaner, Presbyterianer die Losung: the Kingdom of God should be within you. S. 21 : gegen den Gebrauch des Latein: They spake the languages, saieth the scripture, as the spirit gave them utterance«. Diese Berüh­ rungen mit dem Spiritualismus sind noch wichtiger als die mit dem Täufertum ; über den Unterschied beider s. unten. Burrage verdanken wir die Entdeckung mehrerer Schriften Brownes, auf denen die neue Darstellung beruht: The retrac­ tation of R. B. 1907 und A new years gift 1904, deren Mitteilung ich der Güte des Herrn Herausgebers verdanke.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Staat und Gesellschaft bedrohen sah. Seine Gedanken entwickelten sich aus der Bibel und dem calvinistischen Heiligungsgedanken heraus, nicht ohne mittelbaren Einfluß des Brownismus, und in weitgehender tatsächlicher, von ihm selbst freilich bestrittener Analogie mit dem Täufertum. Auch der Einfluß spiritualistischer Literatur fehlte bei ihm so wenig, wie bei Browne, wenn er auch das innere Wort nicht, wie angeblich die Spiritualisten, über die Bibel stellen wollte. Seine Anerkennung der Laienpredigt und der Geistbegabung, die spontan aus der Bibel entstanden sein kann, weist in die gleiche Richtung. So ist sein Ideal eine vom Staat geschiedene reine Gemeinde, die als Einzelgemeinde völlig selb­ ständig sich auf Grund eines Church-Covenant konstituiert und in den Sakramenten lediglich die Siegel dieses Bundes hat, ihre Beam­ ten, Geistliche, Aelteste, Diakone selbständig und in rein demokrati­ schem Verfahren - doch ohne Egalität - beruft, . Kirchenzucht und Bann selbständig ausübt, sich und ihre Beamten aus freien Liebesgaben unterhält und in allen Stücken die urchristliche Heiligkeit und Liebe bei allen ihren Gliedern bewährt. Synoden der Gesamtkirche sollen nur beratende Bedeutung haben, die Einzelgemeinde völlig independent sein; für die Einigkeit wird der Geist sorgen. Das Dogma ist streng calvinistisch-prädesti­ natianisch. Der Staat soll nur falsche Lehren beseitigen, den Aufbau der Gemeinde aber dieser selbst und dem Geiste nach den Grundsätzen des biblischen Kirchenrechtes überlassen. Trauung und Beerdigung sind bürgerliche Funktionen. Die staatlichen Gewalten sind mit allem konservativen Respekt zu behandeln, doch kann die Exkommunikation auch gegen Fürsten gerichtet werden ohne Beeinträchtigung ihrer bürgerlichen Hoheits­ stellung. Die Kindertaufe bleibt in Kraft und auch die Taufe falscher Kirchen wird anerkannt, da ja die Erwählung und die Wirkung des Wortes nicht an die Grenzen der reinen sichtbaren Kirche gebunden ist. Bei aller Analogie mit der täuferischen Vereinskirche und dem täuferischen Heiligkeitsideal bleibt in diesem Letzten ein Rest des calvinistischen Volkskirchentums, von dem aus diese »reinen independenten Gemeinden« bloß als eine perfektionistische Sondergruppierung erscheinen. Trotz aller Polemik ist so der mit dem Puritanismus verbindende Faden nicht völlig zerrissen ' 09). •00) Hierüber s. Powicke, Henry Barrow Separatist (1550 ?-1593), London 1900, ein sehr lehrreiches und für die ganze Kirchengeschichte der Zeit erleuch-

Zweifache Entwicklungsrichtung des Barrowismus.

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Von hier aus war eine doppelte Entwickelung des Kongre­ gationalismus möglich, einmal die subjektivistische Entwickelung zu bloßen heiligeren Sonderkreisen und zur Gewissensfreiheit ohne bestimmte kirchliche Verfassungsideale , auf der andern Seite die zu einer neuen Kirchenbildung des Bundes autonomer Einzelgemeinden, deren jede auf dem Freiwilligkeitsprinzip beruht. In der ersteren Richtung entwickelte sich der englische Indepen­ dentismus des Cromwell'schen Heeres. In der zweiten ging der eigentliche, bis heute sich behauptende Kongregationalismus. So oder so ist er ein Mittelding zwischen calvinistischem Kirchentypus tendes Buch. Hier S, 215 f.: On the whole it may be said that Barrow was far nearer to the Anabaptists than he knew , , . Indead, apart from a number of com­ paratively superficial differences due partly to circumstances and partly to a more scrupulous fidelity to their common principle of reverence for Scripture - there was nothing in the sphere of church practice which need have held Barrow and the Baptists apart, except the doctrine of baptisme , . . But this refers only to his ecclesiastical position. As to theological difference the case is not the same. Here what meets us is diametrical opposition rather than developement. Barrow was a Calvinist, and accepted all the implications of his creed with full consent«. Die Festhaltung der Kindertaufe führt Powicke lediglich auf die Ablehnung des ge­ fürchteten Vorwurfs des Anabaptismus zurück; ich glaube darin doch die oben an­ geführten tieferen Gründe sehen zu �ollen. Er verwirft mit der täuferischen Lehre vom freien Willen auch die Beschränkung der Erlösten auf die der Vereinskirche freiwillig Beitretenden ; das bedeutet den Zusammenhang mit noch einem anderen Kirchenbegriff S. 123; gegen die Egalität fast mit den oben gebrauchten Worten 94, die Askese 149; notiert seien Vorausnahmen des Quäkertums: S. 118: B. anti­ cipated George Fox in some points, e. g., in his refusal to take an oath on the Bible; in his objection to naming the days of the week Sunday, Monday etc.; and here in his dislike of titles, Die separatistisch-täuferische Konsequenz des Purita­ nismus S. 153 ff,; es ist ein Hauptargument Whitgifts, und die einzelnen Puritaner zeigen sich in der Tat Barrow gegenüber in Verlegenheit. Ueber die spiritualisti­ schen Züge s. besonders das Verhör S. 92-93; B. beruft sich in der Bibelaus­ legung auf den Geist, der die Frucht des Wortes ist und wiederum das Wort deu­ tet: ,Andrews (der Inquirent), This savoureth of a private spirit. - Barrow. This is the spirit of Christ and his Apostles, and most publicly they submitted their doc­ trines to the trial of all men. So do I - A. What, are you an apostle? B, No, but I have the spirit of the Apostles, - A. What ! the spirit of the Apostles? B. Yes, the spirit of the Apostles. - A. What? in that measure? - B. In that measure that God has imparted unto me, though not in that measure that the Apostles had, by any comparison. Yet the same spirit, There is but one spirit«. Das scheint mir noch wichtiger als die auch von Loofs stark betonte Analogie zum Täufertum. Sollte vielleicht Schwenkfeld hier im Hintergrunde stehen?

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

und Sektentypus, das durch die jenem von Hause aus innewohnende Berührung mit dem Sektentypus nahegelegt war, aber aus ihm doch nur unter dem Einfluß des Täufertums und vor allem des, wie später zu zeigen, davon verschiedenen Spiritualismus hervorging. Wie naheliegend hierbei die sektenhaften Folgerungen lagen, zeigt nicht nur der Uebergang der bereits genannten General Baptists zu den Täufern, sondern die davon ganz unabhängige Entwickelung der Particular Baptists, die gleichfalls aus ursprünglich independenten Gemeinden sich ausschieden, zur Spättaufe als Folge des Freikirchen­ prinzips übergingen, im übrigen jedoch streng calvinistisch blieben und mit den Täufern keine weitere Beziehung hatten. Uebergänge von Kongregationalisten-Gemeinden zum Baptismus sind überhaupt nicht selten, ja es gab Gemeinden , die aus beidem gemischt waren. So haben auch Baptistengemeinden den grundlegenden Church-Covenant betätigt, eine ausdrückliche Bundschließung der Gemeindeglieder mit einander und mit Gott, die feierlich von jedem einzelnen unterschrieben und beschworen werden mußte. Das ist ein ganz und gar täuferischer Gedanke. Aber wie leicht für den Kongregationalismus andererseits doch wieder , der An­ schluß an das calvinistische Kirchentum war, zeigt die Unter­ scheidung eben dieses grundlegenden Church-Covenant als eines bald nur stillschweigenden, bald ausdrücklichen. Im ersteren Fall wird er als in dem Kinder-Taufbündnis und der Existenz der calvinistischen Volkskirche implicite schon enthalten be­ zeichnet; er bedeutet dann nur eine Auffassung dieser als streng verpflichtender Heiligungsgemeinde und beläßt ihr ihre volks­ pädagogische Bedeutung. Im zweiten Fall ist es die Konstitu­ tion einer Sondergemeinde auf Grund freier Willenserklärung und strenger Bewährung , die das Volkskirchentum aufhebt. So sind die Uebergänge zwischen Kongregationalismus, Pietismus und Presbyterianismus , sogar ein weiteres Verbleiben in der Staastkirche verständlich. Aber das der ganzen Idee zugrunde­ liegende Element ist doch das unkirchliche des Sektentypus; er hat sich nur von dem calvinistischen Dogma und der calvinistischen Heiligungsidee nicht gelöst und bedarf daher der Konstitution durch einen eigenen Taufritus nicht. Von da aus verstehen sich vor allem die Widersprüche in dem kongregationalistischen Kirchentum Neu-Englands 410). uo) Hierzu vor allem Burrage, Church Covenant Idea; die Entwicklungsmöglich­ keiten zum Baptismus, zum Independentismus und zum neuen Volkskirchenprinzip

Der Kongregationalismus.

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Folgen wir zunächst der Entwickelungslinie, die zum sog. kongregationalistischen Kirchenprinzip führte. Ihr gehörten die Exulanten- oder Pilgergemeinden an, die aus den oben geschil­ derten Ansätzen entsprangen und zuerst nach Holland und dann zur Bewahrung ihrer Nationalität und im Interesse ihrer Mission für eine ,reine demokratische Kirche« nach Neu-England auswanderten. Die englische Regierung milderte ihre Verfolgungsgesetze dahin, daß sie den Separatisten die Auswanderung - bei Verlust ihrer Güter und unter Todesstrafe im Fall der Rückkehr - gestattete. Hatte schon Browne eine rasch wieder verfallende Gemeinde in Middel­ burg begründet, so entstand nun aus den Anhängern Barrows eine solche in Amsterdam. Die soziale Stellung der Gemeinde war unter diesen Umständen eine sehr gedrückte. Farmer und gelehrt Erzogene mußten zum Handwerk oder Handel übergehen. In der Gemeinde zeigten sich bald die von Whitgift prophezei­ ten Folgen der Anarchie. Der demokratische Grundzug, das Majoritätsprinzip, die Laienpredigt oder Prophezeiung brachten allerhand Streitereien, Wortklaubereien und Rivalitäten mit sich. Man stritt um eine mehr aristokratisch-presbyterianische oder eine mehr demokratische Handhabung der Verfassung. Die Auskunft, daß überhaupt nicht Menschen, sondern der Geist Christi die Gemeinde regiere, zeigt auch jetzt den spiritualistischen Einschlag des Ganzen, war aber praktisch wertlos. Aus diesen Wirren führte Robinson einen Teil der Gemeinde heraus nach Leyden; er löste das Problem durch Unterscheidung der Kirchenregie­ rung, die die Aeltesten haben, und der Kirchengewalt, die die S. 167-169. >Yel certainly they would not turn for rescue to the Baptists whose baptisme on faith they bad spurnt, and thus lay open their ful indebtedness to Anabaptist principles, c Die gleichen verschiedenen Entwickelungsmöglichkeiten zeigt Powicke, der sehr richtig das Schwanken der Puritaner zwischen calvinistischer Volkskirche und separatistischer Freiwilligkeitskirche zeigt ; charakteristisch ist der Gegensatz Whitegifts, der ohne feste Autorität in Staat und Kirche und ohne das Zu­ sammenfallen beider das Prinzip der Einheit der Gesellschaft bedroht sah. Uebergänge von der Staatskirche zum Separatismus waren den Puritanern ermög­ licht durch Kauf des Patronats, wo sie dann ihren Pfarrer sich selbst wählen und als Gemeinde sich zu ihm halten konnten ; solche Fälle gab es schon vor Roh. Browne, s. Burrage, New facts concerning Robinson 1910 S. 21, 34 f. Auch war es häufig, daß puritanische Geistliche, denen die Predigtlizenz entzogen wurde, nun in Privathäusern oder im freien Feld predigten und Personalgemeinden sammelten Dexter, The England and Holland of the pilgrims, Boston 1906 S. 125.

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Gemeinde hat, was auf eine Erledigung der minder wichtigen Dinge durch die Aeltesten, der wichtigen durch die Gemeinde­ majoritäten hinauskam. Zugleich erkannte er eine Church-fellowship, eine beratende Gemeinschaft der an sich independenten Gemein­ den, an. Diese Grundsätze nahmen die Pilgerväter in ihren ver­ schiedenen Abwanderungen mit hinüber nach Neu-England. Dort gelang es ihnen, auch die zahlreichen presbyterianischen Nachschübe in ihrem Geiste zu bestimmen. Freilich bedeutete das noch keine Freigebung der Kirchenbildung überhaupt. Nur kongre­ gationalistische Calvinisten wurden dort anerkannt und mit der Kirchenzugehörigkeit sogar auch die wichtigsten politischen Rechte verknüpft. Zur engeren Abendmahlsgemeinde gehörten nur die ausdrücklich als wiedergeboren Anerkannten und den Covenant Beschwörenden. Aber alle Kinder wurden getauft und als weiterer Kreis der Gemeinde betrachtet, der, ohne zur engeren Abendmahls­ gemeinde zu gehören, doch als christlich im weiteren Sinne betrach­ tet wurde und die Kirchensteuern mit bezahlen mußte. Für sie bil­ dete man einen von den Gegnern sog. half way covenant aus, der sie nur zur allgemeinen Christlichkeit verpflichtete. So wurde der Kongregationalismus Staatsreligion in den Kolonialstaaten Neu-Eng­ lands und traten dort die Gemeinden untereinander in Beziehung. Von da ging dann der amerikanische Kongregationalismus aus, der von der methodistischen Einwirkung neu belebt einen Teil an die Presbyterianer, einen andern an die Unitarier verlor, aber immerhin bis heute eine starke und einflußreiche Gemeinschaft bildet, deren Verfassungsprinzipien von einer Reihe anderer Denominationen, den Baptisten, Adventisten, Unitariern geteilt werden 411). Ul) S. Loofs, Kongregationalismus; vor allem das eben erwähnte nachgelas­ sene Werk von Dexter mit vielem kultur- und sozialgeschichtlichem Detail, auch der Abschnitt bei Powicke über die Amsterdam church, sowie der bei Burrage, Church Covenant, über den half-way-covenant 169-174, Dort auch die Uebernahme des Covenant-Prinzips durch die Baptisten. Die kirchliche Demokratie der Barrowisten war nicht eigentlich demokratisch gemeint, sondern, ähnlich wie bei Luther die Idee der ernsten Gemeinden, als die durch den Geist Christi erzeugte und darum übernatür­ lich gewirkte Uebereinstimmung, weshalb man Wert darauf legte, alle Beschlüsse aus Gebet und Andacht hervorgehen zu lassen. S. Powicke S. 271 die Erklärung von Ainsworth: ,Christs ruling power, which the papists says is in the Pope, we say not (as this man calumnateth us) that it is in the body of the congregation,; nor that it is in the prelates .• , nor (as the Puritans) that it is in the presbytery, .•• but that it is i n C h r i s t h i m s e l f •. , The Word of God is given to all

Der englische lndependentismus.

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Ganz anders stellt sich die andere vorhin genannte Entwicke1 ungsreihe, der Independentismus des Cromwellschen Zeitalters, dar. Er fällt nicht zusammen mit den englischen Kongregationalisten, die gleichfalls in Leyden ihren Ursprung haben und von der nach London zurückgekehrten Gemeinde Jakobs ausgingen, um dann später mit den Presbyterianern und Baptisten zusammen and every member of the church to read and exercise privately; but publicly in the church - there is a double use of it in prophecy and in office. c Dexter formuliert: The mainspring of power for people and officers alike is in t h e I i v i n g pre s e n c e o f Ch r i s t.« Das ist unverkennbar spiritualistisch gedacht; es sind dieselben Sätze wie die Schwenkfelds, s. Sippe!, Schwenkfeld ChW. 1911, S. 869: Das Organisieren misst er nach apostolischem Vorbild nicht den Gläubigen, son­ dern dem h. Geiste zu. Die praktische Oberleitung ist nicht Sache eines oder mehrerer gewählter oder sich aufwerfender Repräsentanten, sondern des lebendigen regierenden Christus. Dieser allein repräsentiert das Kirchenregiment. Jesus re­ giert im Geiste durch seine charismatisch begabten Organe sowohl die Gesamtheit der Kirche als auch die Einzelversammlung. In dieser erzeigen sich zum gemeinen Nutzen die charismatischen Aemter und Gaben nach I Cor. 12, Die berühmte Abschiedsrede Robinsons (Weingarten 33, Dexter 587) mit ihrer Ermahnung, sich nicht an seine (Robinsons) Autorität zu binden, sondern sich neue Erleuchtungen offen zu halten, ist gleichfalls spiritualistisch gedacht, aber eben deshalb nicht zu überschätzen, da ein solcher Spiritualismus sich stets aus der calvinistisch verstan­ denen Bibel nährt und nur eine feste kirchliche Orthodoxie gleich der lutherischen und Genferischen abgelehnt werden soll. Von hier aus sind auch Robinsons spätere Konzessionen der Geistesgemeinschaft mit Angehörigen fremder Kirchen, ja sogar die Bereitwilligkeit, bei Ansiedelung in Virginia eine äußere, zivile Autorität der Bischöfe anzuerkennen (Dexter 568 f. 1), zu verstehen ; auch die Laienpredigt und Laienzensur gegen die Prediger sind so zu verstehen. Das schließt nicht aus, daß es im Idealfall nur kongregationalistische Gemeinden geben soll, wie das dann auch in Neu-England geschah. Als Motiv der Auswanderung bezeichnet Dexter 567 : ,Nor could they bring themselves to abandon the missionary purpose which ihey bad cherished from the first, that they might demonstrate somewhere the value to mankind o f a p u r e a n d d e m oc r a t i c c h u r c h.« - Ueber die Ge­ schicke und Entwickelung in Neu-England s. das wichtige Werk von Doyle, The Englisch in America, London 1887 und H. K. Caroll, The religious forces of the United States, New-York 1893. Viel Licht gibt auch Roger Williams' später zu besprechender Bloudy Tenent; die kongregationalistischen Kirchen dulden keine andern Kirchen, aber zwingen nicht alle Ansiedler, ihnen voll beizutreten; im ersteren wahren sie die calvinistische Einheitsidee, im letzteren die subjektive Gewissensfrei­ heit; von allen fordern sie die äußere Entsprechung mit dem Naturgesetz und christlichen Sittengesetz ; es gibt also einen Teil der Bevölkerung ohne Kirche über­ haupt, doch sollen diese wenigstens das Wort Gottes hören; s. BI. Ten. S. 250 !

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III, Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

den englischen Dissent zu bilden. Dieser englische Kongregatio­ nalismus war im Parlament und in der Westminstersynode, auch in dem Klerus, nur in einer sehr kleinen Minorität vertreten und war hier bereit zur Fortsetzung der Staatskirche, nur mit Inde­ pendenz, Exkommunikationsgewalt und Wahlrecht der Einzelge­ meinde; Kontrollen durch staatliche Behörden lehnte er nicht völlig ab. Aber nicht dieser Independentismus der Dissenting Brethren, sondern der der Cromwell'schen Armee wurde der Träger der Bewegung. Das war aber hier erst recht nicht einfach Brow­ nismus oder Barrowismus und war überdies durch den Gang der politischen Dinge vielfach zufällig von außen bestimmt. Vielmehr war es ein im Verhältnis zur Staatskirche überhaupt nicht klares und prinzipielles Drängen auf innerliche Erleuchtung und Erfah­ rung, auf das Recht der Laienpredigt, die von Offizieren und Soldaten geübt wurde, ein Begehren nach wiedergeborenen Geist­ lichen und die Berufung auf das Recht freier Gemeindebildung um das Zentrum eines frei berufenen Predigers. Es war ein viel stärkerer, oft mit Luthers Anfangslehren sich berührender, Spiri­ tualismus als bei den Brownisten und Barrowisten ; auch an Schwenk­ felds dem Urchristentum nachgebildeten engeren Gemeinden kann man denken. Man beanspruchte die Toleranz für sich um der Zart­ heit des Gewissensund der Selbstbezeugung des Geistes willen, mußte sie dann aber auch den �anderen Sekten« gewähren, weshalb die Independenten den Presbyterianern als »Anabaptisten und Antino­ misten • erschienen ; freilich fanden sie in diesem Punkte der unbe­ grenzten Toleranz bald selbst Schwierigkeiten. Man ließ sich auch die von der Parlamentskommission eingesetzten Geistlichen gefal­ len, wenn sie Wiedergeborene waren. Vor allem forderte man das Recht der Laienpredigt, weitergehend als Browne, womit man sich dem Enthusiasmus näherte. Der kirchliche Zustand selbst und die Theorie von der Kirche blieben dabei in großer Unklar­ heit. Insofern Cromwell sich dem Einfluß Harrisons, des eigent­ lichen Patrons der Sekten in der Armee und des späteren Quinto­ monarchisten hingab, mochten auch eigentlich täuferische Ideen auf ihn einwirken. Aber er blieb immer bei der Idee einer Ver­ bindung von Toleranz aller Protestanten und von christlicher Ein­ heit und Regierung der Nation ohne Beseitigung der technischen Ordnungen der Nationalkirche. Erst die Majorität des Barebone­ Parlaments machte durch die Beseitigung des Zehnten, womit Pfarreien und Universitäten ihre Grundlagen verloren hätten und

Der englische Independentismus.

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der Freiwilligkeit anheimgefallen sein würden, den Versuch einer prinzipiellen Neu-Regelung. Gerade dieser Versuch aber veran­ laßte Cromwell, dieses Notabelnparlament zu stürzen. Seine eigene Kirchenpolitik war dann, durch eine parlamentarische Prüfungs­ kommission, die Tryers, möglichst tüchtige Leute anstellen zu lassen aus allen Richtungen und Gruppen, auch Presbyterianer und Anglikaner. Nur die Katholiken waren ausgeschlossen aus poli­ tischen Gründen, und aus gleichen Gründen wurden nach einem Aufstandsversuch die Anglikaner ausgeschlossen. Daneben waren natürlich die separierten Gemeinden der Baptisten, Kongre­ gationalisten und Quäker usw. geduldet. Auf diese Weise war der Independentismus faktisch Staatsreligion, indem hauptsäch­ lich seine Anhänger, übrigens meist pietistisch ernste Männer, in die Aemter eingesetzt wurden. Wunsch und Wahl der Gemeinden konnte dabei berücksichtigt werden. Das ganze Verfahren und die mit ihm verbundene Toleranz war wesentlich spiritualistisch empfun­ den; die Kapläne Cromwells waren, wie wir sehen werden, erklärte Spiritualisten. Trotz alledem aber ist doch in Cromwells Gedanken die calvinistische Idee der Grundzug geblieben. Auch er wollte einen christlichen Staat. Er steckte nur die Grenzen der Christ­ lichkeit weiter : Sündenerkenntnis, Rechtfertigungsgewißheit, Gna­ dentheologie, das sind die Kennzeichen der Christlichkeit. Auch er übte eine moralische Volksüberwachung; nur nicht durch kirchliche Zuchtgerichte, sondern durch die staatlichen General­ majore. Auch er hielt fest an der Theokratie, betrachtete sein und der Armee Vorgehen als das Vorgehen der magistrats inferieurs bei Versagen der legitimen Obrigkeit, sah sein eigenes Amt als durch Vorsehung und faktische Fügung Gottes geheiligt und darum als Gottesgnadentum an. Seine religiöse Ueberzeugung blieb calvinistisch-prädestinatianisch. So war er und der Independentismus seiner Armee grundsätzlich geschieden von allem Täufertum, trotz zahlreicher Berührungen mit ihm. Seine Lehre von der Salus publica und der Volks­ souveränetät ist die reformierte von der Pflicht des Volkes für eine Gottes Willen gemäße Regierung zu sorgen, und den Willen Gottes sieht er aus dem faktischen Verlauf. In Fragen des Eigen­ tums, des Rechtes, der Regierung ist er darum prinzipiell kon­ servativ; von den demokratischen, kommunistischen und chilia­ stischen Radikalen grenzt er sich immer schärfer ab. Sein Inde­ pendentismus war schon von Anfang an von ihnen verschieden;

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III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

er war noch viel weniger als der Brownismus dem täuferischen anolog, daneben noch viel mehr als jener dem Spiritualismus zu­ geneigt, aber auch dem letztem nicht ohne die feste Begrenzung, die in dem calvinistischen Gedanken eines Gott dienenden und verherrlichenden Staatswesens liegt. Von hier aus hat er dann als Lord-Protektor auch die universale calvinistische Politik der Union und des Schutzes der Protestanten aufgenommen, eine protestantische internationale Politik, die letzte große Aeußerung einer protestantisch-konfessionellen Weltpolitik im Stile Butzers, Zwinglis, Calvins und des hessischen Landgrafen. Mit alledem aber blieb der Cromwellsche Independentismus ein Intermezzo. Die endgültige Revolution von 1688 griff auf die Ideen vor Crom­ well zurück, und der Independentismus gab seine treu bleibenden Anhänger an den Dissent ab, teils an Quäker, teils an Baptisten, teils an Kongregationalisten und Presbyterianer ,m. �12) Hierzu s. Carlyle, Cromwells Letters and Speeches 2 1846; Gooch, History of English democratic ideas, Cambridge 1898 ; Shaw, History of the English Church 1640-1660, London 1900; Glass, The Barebone Parliament 1653, London 1899; Firth, Cromwells Army, London 1902; Gardiner, Cromwell, 1899: alles sehr wich­ tige Werke , durch die Weingartens klassisches Buch ,Die Revolutionskirchen Englandsc, 1868 vielfach veraltet ist. Weingarten hat die Gruppen innerhalb des In­ depedentismus zu wenig unterschieden und den Unterschied des Täufertums vom kirch­ lichen Protestantismus überhaupt nicht recht erkannt, - Mit Weingartens übrigens treff­ lichem Bild Cromwells stimmt überein Koldes Artikel C, im PR, 8• Die religiöse Bil­ dungsgeschichte Cromwells, sein Verhältnis zu Harrison, seine Aneignung spirituali­ stischer Ideen bedürfen noch vielfach der Auf klärung. Der Spiritualismus ist von sei­ nen beiden Kaplänen Dell und Saltmarsh im höchsten Grade vertreten, wie später zu zeigen. Auch das ist ein Punkt, der bei Weingarten noch keine Beachtung gefun­ den hat und der Cromwell vom eigentlichen Täufertum scheidet. Spiritualistische Aeußerungen: ,The true succession is through the spirit given in its measurec Kolde IV. 341; pietistisch ist die Formulierung des alleinigen Kennzeichens wirklicher Christlichkeit: who believe the remission of sins trough the blood of Christ and free justification trough the blood of Christ, who live upon the grace of God, Kolde 342; spiritualistisch sind die Kennzeichen eines wahren Geistlichen für die Prüfungskommission: they must not admit a man unless they were able to discerne something of the Grace of God i n h i m; grace of God, which was to be so in­ quired for, as not foolishly or senslessly, but so far as man could judge according to the rules of charity, Glass l 33; spiritualistisch und nicht täuferisch ist sein ganzes Kirchenprinzip der comprehension mit freiem Gewährenlassen der verschie­ denen Gruppen innerhalb einer lediglich äußerlich verwaltenden Kirche: a system of State aid and regulation of parishes, leaving to individual churches a free hand for va-

Wirkungen des Kongregationalismus und Independentismus.

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Kongregationalismus und Independentismus waren zunächst räumlich sehr beschränkte Erscheinungen; der letztere überdies eine riety of doctrine and freedom in forms of worship, Glass 131; Cromwells Rede 1657: I think, if there be freedom of judgement, it is here. Here are three sorts of godly men whom you are to take care for, for whom you have provided for in your settlement. And how could you put the selection upon the Presbyterians, without by possibility excluding all those Anabaptists, all those lndependents I As you have put it in this way, that, though a man be any of those three judgements, if he have the r o o t o f t h e m a t t e r i n h i m , he may be admitted«, Glass 133. Von gleich spiri­ tualistischen Prinzipien ist Francis Raus erfüllt, der unermüdliche Vorsteher und Mit!lr­ beiter aller kirchlichen Kommissionen des langen Parlaments und Cromwells; dessen Erklärung bei Glass 48: ,From Christs time place is approved by truth and not truth by place. He that freed true worship from being tied to Jerusalem and tied it to the s e r v i c e i n s p i r i t w h i c h m a y b e i n a 11 p I a c e s , gave true religion a !arge scope, even as !arge as the world itself. « Uebrigens ist Rous ein bekannter Mystiker, den Ritschl, Gesch. d. Prot. I 128-130 denn auch auf das »mittelalterliche Vorbild« zurückgehen läßt. »Wie in der englischen Kirche der independentistische Calvinismus sich der Wiedertäuferei annähert, so beweist diese Schrift (von Rous), daß man in jener Richtung auch auf das unentbehr­ liche Vorbild der Mystik wieder zurückgegriffen hat I c Auch sonst in der ganzen Church comprehension spiritualistische Begründungen und Motive: siehe bei Shaw II 75 die auf Iretons Bericht den Schotten gegebene Erklärung: »For the toleration of all religions and forms of worship that their letter objects we know not whom they entend in that charge: as for the truth and power of religion it being a t h i n g i n t r i n s ·i c a I b e t w e e n G o d a n d t h e s o u 1 , and the matters of faith in the Gospel being such as no natural light doth reach unto we conceive their is no human power of coercion thereunto nor to restrain man from believing what God suffers t h e i r j u d g e m e n t t o b e p e r s u a d e d o f. c Andeutungen über Beziehungen zu Schwenkfeld bei Sippell ChW. 1911 S. 966 und William Dells Programm S. 81, wo statt auf Osiander besser auf Schwenkfeld verwiesen wäre. Sofern, wie später zu zeigen, Schwenkfelds Lehre bereits eine Kombination spiritualistischer und täuferischer Gedanken ist, stecken dar­ in natürlich indirekt täuferische Einflüsse. - Das Verhältnis Cromwells zu Harrison s. Glass 61 u. 64, Firth 318, 341 f., 370. - Ueber die independentistischen Feldprediger Dell, Saltmarsh, Sedgwick, Hugh Peters s. Firth 320 f., in Lilburnes Regiment John Canne; bei Cromwell ferner John Owen, Thomas Patient, Robert Stapylton s. Firth 324, weitere genannt S. 325-327. Ueber John Owen, -den Vertrauten Cromwells, als einen über allen Richtungen stehenden und bei allen geachteten Pietisten s. Heppe, Gesch. des Pietismus 1879 S. 43 f.; Dell und Saltmarsch sind Spiritualisten; Hugh Peters, ursprünglich Puritaner, entwickelte sich zum demokratischen Radikalismus Gooch 134-136, 175; Canne, erst Baptistenprediger, wurde gleichfalls täuferisch radikal Gooch 174 f.; John Goodwin ist ursprünglich anglikanischer Geistlicher, dann aber immer mehr zum Spiritualismus fortgeschritten Gooch 132 f. - CromT r o e lt s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III, Protestantismus.

3. Der Calvinismus,

vorübergehende. Aber sie haben große Wirkungen hinterlassen. Von allgemeiner welthistorischer Bedeutung war erstlich der Uebergang der independenten Theorie in die Lockesche Staats­ lehre, wo sie zu einer mit dem politischen Liberalismus eng ver­ bundenen Theorie der Freistellung der Kirchenbildung und der Trennung von Staat und Kirche wurde. Das wurde bereits oben angedeutet und erklärt sich jetzt aus dem geschichtlichen Zu­ sammenhang. Von Locke aus hat sich dann diese Theorie aus­ gebreitet und staatsphilosophisch fortentwickelt bis heute. Sie ist die Kirchenpolitik des Liberalismus und der Demokratie geworden. Das zweite noch wichtigere Ergebnis ist, daß die Ordnung der well selbst hat eine stark calvinistisch-konservative Ader. 'Seine Auffassung des Naturrechtes blieb ständisch: ,Ein Adeliger, ein Gentleman, ein Yeoman (Bauer oder Handwerker), die Unterscheidung dieser ist ein richtiges und großes Interesse der Nation, Ward die n a t ü r l i c h e Verfassung der Nation nicht von Leuten mit gleichmacherischen (levelling) Prinzipien mit Hohn und Verachtung, beinahe mit Füßen getreten?« Bernstein 630. Wie er dogmatisch prädestinationsgläubiger Cal­ vinist gewesen ist, so war seine Auffassung der Revolution und des Bürgerkriegs zunächst die calvinistisch-hugenottische. Aber je mehr Voraussetzung und Ziele einer solchen Auffassung bei der anarchischen Gestaltung der Lage sich ver­ flüchtigten, um so mehr deutete er Tatsachen und innere Entschlüsse als Offen­ barungen und Winke Gottes über den von Gott gewollten Gang der Dinge. Das ist enthusiastisch. Auch der Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi hat er sich zugeneigt und im Zusammenhange damit dem unbestimmten Gedanken einer allgemeinen Neuordung der Dinge im Sinne des christlichen Ideals. Aber die Auf­ rechterhaltung der bürgerlichen und staatlichen Ordnung, die Verwerfung aller reinen Demokratie und alles Kommunismus, die Berufung auf die Armee als a lawful power called by God, die Berufung auf die salus populi als die rationelle Rechtsgrundlage des Staates, all das sind doch calvinistische Züge im vollen Gegensatz zu der chiliastischen Reformidee, deren Vertreter er zuerst als sich unter einander widersprechend und darum schwerlich Gottes Willen kundgebend bezeichnete und die er schließlich als frevelhafte Zerstörer aller Ordnung betrachtete. Seit der Auflösung des Parlaments der Heiligen trat er immer entschlossener zu der alten cal­ vinistischen Theorie der Autorität zurück, indem er sich selbst als die durch das Volk in Ermangelung aller andern gesetzlichen Autoritäten berufene gesetzliche Auto­ rität betrachtete, Vom lndependentismus bleibt ihm nichts als die Gewissensfreiheit, indem er sowohl Sonderorganisationen als Besetzungen der Staatspfarren mit Geist­ lichen aller Richtungen zuließ, sowie eine starke ethische Kontrolle der Nation. Im übrigen trieb er eine Realpolitik, wie sie nur auf Grund des calvinistischen relativen Naturrechts denkbar war, immer noch gewiß, daß ,die Sache Christi und die Sache des Volkes gut zusammengehen". S. meinen Artikel »Moralisten. Eng­ lische« PRE. 8 XIII 445-448.

Eindringen des Freikirchen-Prinzips in den echten Calvinismus.

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kirchlichen Verhältnisse bei der Konstitution des nordamerikanischen Bundesstaates und in den Verfassungen der nordamerikanischen Einzelstaaten in diesem Sinne praktisch gestaltet wurde, zum Teil eine Folge des tatsächlichen Nebeneinanderbestehens verschiedener Kirchen in den verschiedenen Staaten, zum andern Teil aber der Ausdruck des kongregationalistisch-calvinistischen Gedankens von der dem Staate unzugänglichen Majestät der Kirche und der Ge­ wissensfreiheit. Bei einer im allgemeinen festgehaltenen Christlich­ keit des Staates sollte er doch gegenüber den Kirchen keine Macht und keine Pflicht besitzen, sondern das religiöse Gewissen sich selbst überlassen, ein scharfer Gegensatz gegen die in den lateini­ schen Ländern seit der französischen Revolution versuchte Tren­ nung von Staat und Kirche, die in Wahrheit ein Kampf der freidenkerischen Gesellschaft gegen die Macht der Kirchen , vor allem des Katholizismus, ist. Von jenen Theorien und diesem amerikanischen Beispiel werden die kirchenpolitischen Ideen der Gegenwart mit jedem Tage heute mehr bestimmt 413). Nach allem bisher Ausgeführten kann man das nicht als Wir­ kung des Calvinismus schlechthin, sondern nur als Wirkung eines täuferisch und spiritualistisch zersetzten Calvinismus bezeichnen. Immerhin ist es Tatsache, daß a u c h d i e e c h t c a 1 v i n i s t i U3) Ueber Locke s, Bastide und Lezius, bes. Rothenbücher, wo auch die weitere rechts- und staatsphilosophische Entwickelung geschildert ist S. 46-112. Es ist dabei charakteristisch, wie überall der Unterschied zwischen den stärker oder schwächer indepedentistisch-amerikanisch bestimmten Theoretikern und den die moderne Auf klärung gegen die Kirche schützenden und auf den Thron setzenden durchgeht. R. findet die letztere vor allem auf katholischem Gebiet vertreten, wo man die Einheitsreligion gewöhnt ist und nur die katholische Einheit durch die der Aufklärung ersetzt, Dem letzteren Typus folgt auch die deistische Staats­ religion Rousseaus, neben der er private Sonderüberzeugungen freigibt. Auch von dieser Seite her ist Rousseau nichts weniger als ein Abkömmling calvinistischer oder gar neucalvinistischer Ideen; s. auch Jellinek, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 2 1904; auch meine ,Trennung von Staat und Kirche• 1905. - Ueber die amerikanische praktische Gestaltung s. außer den S. 749 genannten Arbeiten gleichfalls Rothenbücher I 16-170. Wenn Hägermann auf das Naturrecht und auf Locke hinweist, so verkennt er das christliche Naturrecht, das darin steckt, und die Bestimmtheit Lockes durch den lndependentismus, Naturrechtliche und christ­ liche Begründung sind kein Gegensatz, wie er meint S. 151. Daher hat der Metho­ dismus in Amerika so starken Anklang gefunden und herrscht dort heute noch sozial eine sehr massive Orthodoxie und rigorose Moralität, Das pflegt der aufge­ klärte Europäer nie recht zu verstehen,

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III. Prote&tantismus.

3. Der Calvinismus,

s c h e n K i r c h e n diesem Beispiel angesichts der modernen konfessionellen Bevölkerungsmischung und angesichts der zu­ nehmenden Laicisierung des Staates gefolgt sind 414). Diese 414) Ueber den Uebergang großer Teile des heutigen Calvinismus zum Frei­ kirchenprinzip s. Vinet und Kuyper, und die große Uebersicht Rothenbüchers über die heute bestehenden Freikirchen. - Ueber die Verbindung dieses Kirchenprinzips mit der politischen Demokratie s. Rothenbücher 472. - Die Pilgerväter der May­ flower bildeten schon auf dem Schiff einen politischen Covenant nach Vorbild des kirchlichen, s. Burrage, Church Covenant S. 86 und 93: >By 1639 the covenant idea had become so popular in the minds of the Massachusset and New Haven colonists, that even towns were organized by covenant«. S auch Jellinek, Erklärung usw. S. 36-39. Die Verbindung von Calvinismus und Demokratie ist in der mo­ dernen calvinistischen Literatur fast etwas Selbstverständliches, sei es in der Form, daß das Christentum und die Bibel als mit der Demokratie identisch erklärt wird, sei es in der, daß der Calvinismus als die endgültige Entwickelungsform des Chri­ stentums bezeichnet wird, in der Demokratie und Religion eins geworden sind für immer und die daher zum Sieg über die Welt bestimmt ist. Das findet man bei Vinet, Kuyper, Rauschenbusch. Die Franzosen betonen die Koinzidenz von Chri­ stentum und Demokratie, s. die schon erwähnte Schrift Mealys, überdies P. Sabatier A propos de la separation 2 1900 und R. Allier, Une revolution 1806. Der treff­ liche Calvinforscher Choisy schließt seine Genfer Antrittsvorlesung L'etat chretien calviniste 1909 mit den Worten : > En somme le regime theocratique en vigeur dans l'etat chretien de Geneve a ete pour l'epoque une rude, mais salutaire ecole de justice, de moralite et virile piete. II a prepare l'avenement de Ja Iiberte de con­ science dans l'avenir, il a fraye Ja voie au developpement de l'esprit de fraternite et solidarite dans Ja democratie chretiennec S. 32. Ueber den englischen Dissent s. v. d. Goltz, >Staat und Kirche in Großbritannien«, Preuß. Jahrbb. 84, 1896. Ur­ sprünglich vollzogen ist diese Einigung von Calvinismus und Demokratie nur bedingt in England, wo die calvinistisch gesinnten Independenten, wie vor allem Ireton und Cromwell, auch politisch nach Möglichkeit konservativ und legitim blieben und nur die täuferisch beeinflußten Gruppen der Leveller und ähnlicher die reine Demo­ kratie vertraten, s. Rothschild, Der Gedanke einer geschriebenen Verfassung in der englischen Revolution 1903, auch Gooch, English democratic ideas. Cromwell er­ klärte wohl 1654 (Carlyle III 29) ,Liberty of conscience and liberty of the subject - two as glorious things to be contended for, as any God has given usc, aber fügt sofort hinzu: »yhet both these abused for the patronising of villanies•. Damit weist er die radikale Demokratie von seinem relativ konservativen Standpunkt aus zurück. Die bei ihm vorhandene Verbindung von Freikirchentum und Demokratie enthält sowohl das erstere als das letztere in einer eigentümlichen Unklarheit. - Sie ist in ihrem klaren, von altcalvinist. Vorstellungen freien Sinne erst in Amerika vollzogen worden, hierüber s. das heute noch großartige Buch von Tocqueville, La democrat1e en Amerique 3 1850. In England ist sie erst das Werk des 19. Jahrhunderts, wo der Dissent seit den Reformen von 1832 der Träger des Liberalismus und der

Der moderne Calvinismus überwiegend freikirchlich.

757

Tatsache aber ist entscheidend für die moderne Gestaltung des Calvinismus. Beinahe überall haben sich neben den Staatskirchen calvinistische Freikirchen gebildet. In Genf selbst herrscht heute die Trennung. Das durch die Princeton-University fast offiziell gemachte mehrfach erwähnte Manifest Kuypers lehrt das Freikirchentum geradezu als grundlegende calvinistische Theorie. Damit ist denn auch überall die Neigung zu liberalen oder demokratischen Verfassungen verbunden, welche jeder kon­ fessionellen Partei und jeder Kirche freie Bewegung und Geltend­ machung in der öffentlichen Meinung ermöglichen. Auf dem Wege über das Freikirchentum ist der Calvinismus in seinen Haupt­ massen politisch liberalisiert worden und teilt er die Neigung der Sekten zu einer individualistischen und rein utilitarischen Auf­ fassung des Staates so sehr, daß zwischen ihm und ihnen in dieser Hinsicht heute kaum mehr ein Unterschied ist. Es ist be­ reits oben in anderem Zusammenhang auf die Neigung des Cal­ vinismus zu konstitutionellen Staatstheorien hingewiesen worden. Der freikirchliche Calvinismus wurde aber noch darüber hinaus dem demokratischen Gedanken selbst zugänglich. Erst in dieser Amal­ gamierung von Freikirchentum und Demokratie empfing er sein heutiges Verhältnis zum politischen Individualismus. So steht der Calvinismus im Verein mit den Sekten heute dem lutherischen Staatskirchentum geradezu diametral gegenüber und bezeichnet er sich mit Hochgefühl als die dem modernen Wesen allein entsprechende Form des Christentums. Er hat natürlich die De­ mokratie nicht erst erzeugt, aber in seiner freikirchlichen Gestalt sie begünstigt. Wo, wie in den Neu-England-Kolonien , die na­ türlichen Verhältnisse der Demokratie sehr entgegenkamen, da hat er sie entscheidend gefördert, sich ihr angepaßt und ihren Ideen das Pathos der Unabhängigkeit des Individuums von allen irdischen Gewalten eingeflößt 41h). Demokratie ist und diese Gedanken zugleich mit religiöser Begeisterung durch­ dringt, s. Ostrogorski, La democratie et l'organisation des partis politiques I 1903 S. 21-26; auch Held S. 48. 4140) Ueber das Hochgefühl des Calvinismus in dieser Hinsicht s, Kuyper S. 15: >Das Luthertum ist kirchlich und theologisch geblieben, nur der Calvinis­ mus hat in und außer der Kirche seinen Stempel auf alle Aeußerungen des mensch­ lichen Lebens gedrückt. Vom Luthertum spricht denn auch niemand als von der Schöpfung einer eigenen Lebensform; selbst der Name kommt kaum vor, wlihrend die Kenner der Geschichte immer einstimmiger dem Calvinismus als Schöpfer einer eigenen Welt menschlichen Lebens huldigen,« S. 26: >Es ist klar wie der Tag,

758

III.Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Eine logische Folge des Kongregationalismus und des Frei­ kirchentums ist die T o 1 e r a n z verschiedener Kirchengemeindaß die Hauptmacht in der Entwickelung des Menschengeschlechtes sich nachein­ ander der Reihe nach von Babylonien und Aegypten nach Griechenland und dem römischen Reich, darauf nach dem Hauptgebiet der päpstlichen Herrschaft und zum Schluß zu den calvinistischen Völkern von Westeuropa verlegteUnter Calvinismus ist die vollendete Evolution des Protestantismus zu verstehen, die im 16. Jahrhundert die Lebensentwickelung unseres Geschlechtes in eine neue und höhere Phase geführt hat, ••• weshalb ein jeder, der sich weigert, den Atheis­ mus oder Antitheismus als Ausgangspunkt zu wählen, auf den Calvinismus zurück­ zugehen hat, um aus dem calvinistischen Prinzip, natürlich in einer unserer Zeit entsprechend entwickelten Form, denken und leben zu lernen.< Oder Dexter S. 594 f.: >In the Plymouth colonie and, later, in that of Massachussets the free church system flourished. lt had a large part in shaping the thought and Iife of the colonists. lt tinctured their political ideas and aided powerfully in preparing the way for American independence, and ever since their day it has continued a potent factor for good in our national Iife. In the mother country also, although hampered by many hostile conditions and not wholly free, even yet, to do its best work, it has become conspicuous and effective, and during the 19th cent.it has accomplished much of what it could not bring to pass in the 17 th .• lt would be a mistake to regard the Pilgrim colony in American ..• as merely ecclesiasti­ cal in origin and developement • .• lt was one of the earliest manifestations of that resistless impulse of expansion and conquest .• .which changed the whole face of the globe. lt opened a fresh and vitally important era in human history. lt was practically the beginning of the civilized, permanent settlement of on almost unknown continent. lt prepared the way for the birth of a new and mighty nation. The worlds debt to the Pilgrims is not Iimited by any denominational lines. lt is universal. The adherents of the free church systems fairly may claim to possess special justifications for pride in the Pilgrim history, but nobody can monopolise it. All lovers of intelligence, and civil as well as religious liberty have the right to share it.c Das ist der Amerikanismus in seinem relativen Zusammenhang mit Cal­ vinismus und Sektentum. - Vom entgegengesetzten Standpunkt aus beklagt Shaw, English Church 1 316 die Sache: The carliest Reformation bad never proclaimed such a separation of the civil from the ecclesiastical governement. lt was the fatal and malignant heritage of the genius and life of Calvin, and how adversely it has affected the Jater history of European progress can hardly yet be estimated.c Ueber die Sonderart der puritanisch-angelsächsischen Demokratie gegenüber der national-französischen s. die zahlreichen feinen Bemerkungen Tocquevilles. Er führt dafür 1 51 als Leitmotiv mit Recht die Worte aus des alten Mathiew Magnalia Americana an: >Täuschen wir uns nicht über das, was wir unsere Unabhängigkeit nennen. Es gibt in der Tat eine Art verderbter Freiheit, deren Gebrauch Menschen und Tieren gemeinsam ist und der darin besteht, zu tun, was einem gefällt. Diese Freiheit ist der Feind jeder Autorität, sie erträgt ungern die Regeln; mit ihr stei-

Toleranz als Folge des Freikirchentums,

759

schaften gegen einander und die Möglichkeit ihres Nebeneinander­ bestehens in einem Staatswesen. Doch hat es ziemlich lange gedauert, bis diese Folgerungen sich gegen das in jenem ent­ halten gebliebene calvinistische Prinzip der Alleinwahrheit der eigenen Religionsgemeinschaft und der Christlichkeit des Staates durchgearbeitet hatten, vollends bis auch der reine Calvinismus das Prinzip der Toleranz übernahm. Die alten Kongregationa­ listen wollten freie, independente Gemeinden und keinen Staats­ zwang zur Religion, aber Ausschluß aller häretischen Religion vom Staatsgebiete. Die kongregationalistischen Neu-England­ Puritaner setzten dieses Prinzip fort, zwangen niemand zur Kirchen­ zugehörigkeit, duldeten aber keine andere Kirche und verknüpften wichtige Bürgerrechte mit der Kirchenzugehörigkeit; also auch hier das rein negative Prinzip der Beseitigung des Staatszwanges, aber keine positive Einräumung der Bestandsmöglichkeit für verschiedene Religionsgemeinschaften neben einander. Erst die Ermattung des religiösen Geistes und allerhand profane Handels­ rücksichten haben dann im 18. Jahrhundert zur Duldung geführt. In England hat das lange Parlament nur den verschiedenen Gruppierungen innerhalb des calvinistischen Protestantismus Dul­ dung gewährt und die Christlichkeit des Staates durch die Auf­ rechterhaltung der Elisabethanischen Akte, daß jeder „assistence" beim Gottesdienst zu leisten und nachzuweisen habe, gesichert; man durfte sich nur jetzt die Gruppe aussuchen, bei der man „assistence" leisten wollte. Brownisten und Independenten haben dann gelegentlich auch auf Baptisten, Socinianer, Arminianer, so­ gar auf Juden und Mohammedaner die Duldung auszudehnen ge­ fordert; die Gründe waren dabei jedesmal spiritualistische, die die äußere Form für die innere Offenbarung als relativ gleichgen wir unter uns selbst herab; sie ist der Feind der Wahrheit und des Friedens und Gott hat selbst gegen sie sich zu erklären für nötig gehalten, Aber es gibt eine bürgerliche und moralische Freiheit, die ihre Kraft hat in der Einheit und die zu schützen selbst erst das Wesen aller Macht ist: das ist die Freiheit, furchtlos alles zu thun, was recht und gut ist. Diese heilige Freiheit wollen wir in allen Schicksalslagen verteidigen und dieser nötigenfalls das Leben opfern.« Vgl. auch das oben über das soziologische Grundschema des Calvinismus Bemerkte; auch Ostrogorski I 93 »Des Je moment ou l'ame individuelle se fut reveillee pour s'af­ firmer en face de Dien et de Ja societe, ,l'homme' etait entre sur a Ja scene sociale et politique de l'Angleterre pour ne plus Ja quitter. II est entre en Angleterre par l'ouverture de Ja morale, comme il a penetre en France par celle de Ja Iogique«. Ebenso Morley, Gladstones Life I 163.

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III, Protestantismus,

3, Der Calvinismus.

gültig bezeichneten. Am weitesten ging Milton, der freilich seinen puritanisch-spiritualistischen Gedanken mit einer starken Dosis von intellektualistischer Renaissancestimmung versetzte. Crom­ well erklärte die Gewissensfreiheit für ein natürliches Menschen­ recht, mußte aber doch Katholiken, Anglikaner und radikale Täufer aus politischen Gründen zuletzt ausschließen; auch hielt er so­ wohl an der Christlichkeit des Staates als an einem wenigstens formellen und verwaltungsmäßigen Staatskirchentum fest. Nur die Täufer, Quäker und Roger Williams behaupteten die gegen­ seitige Anerkennung aller Kultgenossenschaften auf spiritualisti­ scher Grundlage und die Indifferenz des nur die zweite Tafel des Dekalogs verwaltenden, auf das Naturrecht erbauten Staates gegen die religiösen Zwecke der Gesellschaft; in demselben Maße wurde hier dann der Staat rein utilitarisch aufgefaßt. Williams trat ge­ radezu zu den Täufern über; aber auch von ihnen rasch abge­ stoßen, ergab er sich einem konfessionslosen Spiritualismus, von dem aus er in Rhode-Island die Duldung bei allgemeiner Christ­ lichkeit des Staates durchführte. Zum wirklichen Prinzip gewor­ den ist die gegenseitige Toleranz erst durch Lockes Kirchen­ und Staatstheorie und praktisch durch die Konstitutionen der amerikanischen Staaten, wo das Gewissens- und Menschenrecht der Kultfreiheit aus Hochachtung vor der Majestät des Gewissens zur Verfassungsgrundlage der Einzelstaaten gemacht wurde, üb­ rigens aber die allgemeine Christlichkeit des Staates bis heute in verschiedenen Einrichtungen und vor allem in der Volksan­ schauung als selbstverständlich sich erhalten hat. Daß diese Formulierung der Kultusfreiheit als eines verfassungsmäßig zu garantierenden Menschenrechtes zugleich die vom Naturrecht der Aufklärung längst gelehrten Menschenrechte überhaupt in die juristische Formulierung mit hindurchriß und diese Formulierung dann auch auf die europäischen Verfassungen übertragen wurde, hat Jellinek gezeigt: ähnlich, wie die Berufsidee, ein Beispiel dafür, wie wichtige, heute jeder religiösen Begründung entbehrende und selbstverständlich gewordene Begriffe auf dem Boden des religiösen Lebens ursprünglich erwachsen sind. Dem Puritanis­ mus aber kann diese Tat, vor allem die Proklamation der Kultus­ freiheit als eines unantastbaren Menschenrechtes, nur insofern zu­ geschrieben werden, als man unter ihm zugleich Quäker und Baptisten mitversteht, vor allem als man die spiritualistische Er­ weichung, ·die Relativierung der äußeren dogmatischen Formen,

Der moderne Calvinismus und die Toleranz.

mit in ihn einrechnet. Erst der individualisierende und alle äußeren Formen relativierende Spiritualismus ist der Vater wirklicher Tole­ ranz; calvinistisch ist nur das Pathos der staatlichen Unantastbarkeit der Religion. Im übrigen aber ist nicht zu vergessen, daß neben diesen religiösen Mächten auch allerhand äußere Gründe, insbe­ sondere auch rationalistisch-aufklärerische Ideen, mit zu jenen Ver­ fassungserklärungen gewirkt haben. In den eigentlichen Calvinis­ mus selbst ist das Prinzip erst mit den pietistischen Separations­ kirchen und der konfessionellen Gemischtheit der Bevölkerungen übergegangen. Heute hat er gelernt, den altcalvinistischen Gedanken der Souveränetät der Religion und Kirche als Staatsfreiheit und da­ mit auch als Prinzip der Kultusfreiheit zu verstehen. Dabei bleibt er meist orthodox oder evangelical. Die Toleranz ist eine lediglich politische, auf die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat hinzie­ lende, aber keine innerkirchliche, soweit es sich noch um echten Calvinismus handelt. Er denkt das Nebeneinander als ein von Menschen nicht zu schlichtendes Provisorium , das erst beim jüngsten Tage zu Gunsten der reinen Wahrheit aufgelöst wird. Gottes Gericht, nicht Staat und Menschen, sollen die Sichtung vollziehen. Ueberdies ist dabei immer noch die Christlichkeit des Staates und der Gesellschaft im allgemeinen auf Grund­ lage des Naturrechts und des Gewissens der Regierenden vor­ ausgesetzt. Immerhin aber empfindet der Neucalvinismus sich auch in dieser Hinsicht als Träger des modernen Fortschritts; Freikirchentum und Toleranz unterscheiden vor allem ihn vom Altcalvinismus 415). 415) Ueber die Geschichte der Toleranz und der über das bloße Tolerieren hinausgehenden Kultusfreiheit s. den Artikel „Toleranz" von Friedberg in PRE. 8; Rothenbücher 74 f., II6-131; Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürger­ rechte 2 1904; bes. Ruffini, La liberta religiosa, I, Storia della idea, 1900. Ueber die sehr relative Toleranz der Brownisten, Barrowisten und Pilgergemeinden s. die oben genannten Arbeiten von Burrage, Powicke und Dexter; in Neu-England s. Jellinek S. 39-45 ; Toleranz des Langen Parlamentes Shaw II 33-97 ; bei den Independenten Jellinek 36, Shaw II 4 6-52; besonders weit gingen Goodwin und eine Eingabe der Brownisten bei Glass S. 21 f. (hier die spiritualistische Begrün­ dung >let every spirit praise the Lord«); über Cromwells Toleranz s. Glass und Kolde; Speech III (Carlyle III 68) behandelt die Frage der Grundgesetze, die jede Ge­ setzgebung als natürliche Rechte berücksichtigen muß. >Again is not Liberty of conscience a fundamental ? • • • Liberty of conscience is a natural right; and he that would have it, ought to give it • . • Liberty of conscience, truly that is a thing ought to be very reciprocal 1 .•. This, I say, is a fundamental. It is for us

762

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Damit aber hat der Neucalvinismus das ursprüngliche stark konservative, wenn auch dem Luthertum gegenüber viel rationaand the generations to come.« Im übrigen war dann doch diese Duldung eine nur beschränkte, wie Glass ausführlich zeigt. Am weitesten ging Milton, der die puritanisch-independenten und spiritualistischen Motive noch erweiterte durch die Toleranzmotive des Rationalismus, aber auch seinerseits in den Grenzen des christ­ lichen Staates blieb. Das Ergebnis dieser Kämpfe übernahm Locke. - Völlige Un­ abhängigkeit und Freiheit forderten nur die Täufer und die Spiritualisten. Betreffs der ersteren s. Tracts on Liberty of Conscience and Persecution 1614-1661, Publikation der Hanserd Knollys Society 1846. Am wichtigsten ist Roger Williams, den das heutige Amerika als einen seiner größten Geister ehrt ; s. >The bloudy tenent of persecution for cause of conscience« von 1644 1 publiziert mit einer biogra­ phischen Einleitung von der gleichen Society 1848. R. W. war strenger Heiligungs­ Puritaner und als solcher gegen jede Vermischung von Staat und Kirche, wie sie auch im Neu-England-Kongregationalismus wieder eingetreten war; in engem Zu­ sammenhang damit streng demokratisch und für moralische Politik, wie er denn gleich dem späteren Penn mit den Indianern auf dem Fuß der Gerechtigkeit und Güte verkehren wollte und lndianermission betrieb; von da aus bekämpfte er die Kolonial-Charters, die fremdes (indianisches) Land ohne weiteres vergaben. Dies und Proteste gegen die Vermischung von staatlichen und kirchlichen Rechten führte zu seiner Bannung. Er gründete in Providence einen rein demokratischen Staat mit voller Gewissensfreiheit (über dessen Schicksale s. Doyle) und trat zum Bap­ tismus über 1639 (die Biographie bemerkt: infant baptism and persecution, as in other churches, in sisterly embrace together XXVI und erwähnt S. XXXIII a baptist asserting as one of the results of infant baptism that >hence also colla­ terally have been brought the power of the civil magistrate into the church«, eine richtige Empfindung dafür, daß Kindertaufe Volks- und Massenkirche und die letztere Herrschaft des Staates in der Kirche bedeuten muß). Er blieb nicht lange Baptist, sondern gab jede Konfessionszugehörigkeit auf, der Ueberzeugung (wie Schwenkfeld, Coornheert, Seb. Franck und die Kollegianten), daß die echte alte Kir­ chenverfassung der apostolischen Zeit längst erloschen sei, und daß es jetzt überhaupt keine göttlich eingesetzte Kirche mehr gebe. Damit ging er zum konfessionslosen Individualismus über XXVII. Sein Bloudy Tenent 1644 knüpfte an eine täuferische Schrift für die Gewissensfreiheit verteidigend an XXX. Erst im gleichen Jahre trat der Independent John Goodwin hervor. Den Independenten ging R. W. zu weit: they are willing to grant liberty only to those sound in fundamentals, the identical views of their brother Congregationalists of America XXXV. Der Sinn des bloudy tenent ist radikal individualistisch, obwohl die Argumentation im ganzen die täu­ ferische ist und mit dieser nur das spezifisch puritanische Pathos der weltüber­ legenen Souveränität und siegreichen Mission der Wahrheit verbindet. Spiritua­ listische Züge sind nicht besonders betont, obwohl Kenntnis und Einfluß spiritua­ listischer Literatur wahrscheinlich ist. Der Relativismus der Gesinnungsmäßigkeit spricht dafür. S. 8 f. : >Whatever worship, ministry, ministration, the best and pu-

Freikirchlicher Neucalvinismus und liberales Naturrecht,

listischere, relative Naturrecht des Sündenstandes dem mod e rn e n k I a s s i s c h - r a t i on a l i s t i s c h e n N a t u rr e c ht d e s L irest, are practised without faith and true persuasion that they are the true insti­ tution of God, they are sin, sinful worships, ministres etc. . . . Without search and trial no man attains this faith and right persuasion . . . Having tried we must hold fast upon the loss of a crown.« Sein Spiritualismus erinnert oft an Luthers Frühzeit S. 118: »I hence observe, that here being in this Scripture (II Kor 10, 4) held forth a twofold state, a civil state and a spiritual, civil officers and spiritual, civil weapons and spiritual weapons, civil vengeance and punishement and a spiritual vengeance and punishement , , , These states being of different natures and considerations, as far differing as spirit from flesh, I first observe, that civil weapons are most improper and unfitting in matters of the spiritual state and kingdom, though in the civil state most proper and suitable, c Die Exegese ist oft ausdrücklich mystisch-spiritualistisch. Berufung auf die ,famous Waldensian wit­ nesses« S. 159, Berufung auf Luther S. 171, gegen Calvin Berufung auf Gai 1, 8 S. 181. Bemerkenswert ist, daß die zugrunde gelegte täuferische Schrift sich ausführlich auf Luthers spiritualistischen Kirchenbegriff beruft S. I 5 f, Roger selbst begründet überdies seinen Individualismus auf die Prädestinationslehre S. 82 : »The church or spiritual state, city or kingdom has laws orders and armories • , .• to defend itself against the very gates of earth or hell , , , , The Lord himself knows who are bis and bis foundation remaineth sure ; bis elect or chosen can not perish nor be finally deceived,« Aehnliche Beziehungen auf Luthers spiritualistische Frühzeit werden uns bei den englischen Mystikern des Cromwell­ schen Zeitalters begegnen. Eine Monographie über R, W. wäre sehr interessant; er ist in vieler Hinsicht sehr originell, - Die Aufnahme der Kultusfreiheit unter die Prinzipien des Neucalvinismus veranschaulicht - freilich etwas sophistisch - Kuyper. Wie er sehr gegen Calvin behauptet, daß »die Regierung der Kirche auf Er­ den demokratisch in Mark und Bein sei< S. 56, so bezeichnet er vollends auch noch die Kultusfreiheit und Toleranz als »wesentlichen« Zug des Calvinismus S. 92. Dabei nähert sich Kuyper auch der mit dem Toleranzprinzip unvermeidlich ver­ bundenen Einsicht in die Relativität aller religiösen Erkenntnis, somit einen Ur­ grundsatz des Calvinismus aufgebend. >Der Calvinismus gab durch sein lautes Ein­ treten für die Gewissensfreiheit die Einheit der sichtbaren Kirche preis« S. 94, ,Indem gerade das Zerbrechen der Einheit der Kirche von selbst den r e 1 a t i v e n Charakter eines jeden besonderen Bekenntnisses ans Licht bringen mußte, hat der Calvinismus dadurch, daß er eine Mehrsinnigkeit der Kirchenbildung möglich machte, die Beschränktheit unserer Einsicht auch beim Bekenntnis der Wahrheit ans Licht gebracht I« Der Staat hat in kirchliche Dinge nichts dreinzureden, »nicht aus einem falschen Neutralitätsbegriff, noch als ob ihm das Wahre und Falsche gleichgültig sein könnte, sondern sofern er als Obrigkeit die Voraussetzungen entbehrt, um ein Urteil abzugeben und jedes Urteil hierüber der Souveränität der Kirche zu nahe tritt« S. 97, Daher darf der Staat die Aufrichtung der strengsten Orthodoxie im Innern einer Kirche nicht hindern, aber jede Kirche muß auch andere neben

III. Protestantismus,

3, Der Calvinismus,

b e r a l i s m u s a n g e n ä h e r t. Dieses selbst ist natürlich kein Erzeugnis des Calvinismus. Es ist - nach seiner theoretischen sich dulden und darf den Staat nicht zu deren Vernichtung in Anspruch nehmen. >Nichts kann die Grundregel brechen, daß die Obrigkeit den Komplex christlicher Kirchen als die vielgestaltige Offenbarung der Kirche Christi auf Erden zu ehren hat< S. 98. ,Sie hat die Gewissensfreiheit jedem Bürger als ursprüngliches, jedem Menschen zukommendes Recht anzuerkennen« S. 99. Das ist genau der Sinn der Verfassung von New Hampshire, die Jellinek S. 21 anführt. Allerdings ist calvi­ nistisch daran nur die Behauptung der Souveränetät der Kirche gegenüber dem Staat. Das relativistische Element in diesen Sätzen stammt aus täuferischen, spiri­ tualistischen und rationalistisch1:n Motiven, wie denn Kuyper selbst sich nicht >der unleugbaren Tatsache« entziehen kann, ,daß es nicht selten (!) Baptisten und Remonstranten waren, die vor nun drei Jahrhunderten das System der freien Kirche gegen den Calvinismus verteidigten« S. 92. Wirklich tolerant in Wahrheit denkt nur der Spiritualismus, der ja auch oft genug in Rationalismus übergeht. Das Täufertum ist bei seinem absoluten Wahrheitsbegriff im Grunde nur auf dem Standpunkt der Staatsunabhängigkeit und folgert nun erst daraus die dann unver­ meidliche Kultusfreiheit. All diese Einflüsse vereinigen sich im Neucalvinismus. Ueber die daneben bestehenden profanen Wurzeln der Toleranz s. Max Weber, Archiv XXI 42 f. - Die von J ellinek behauptete Bedeutung dieser Formulierung und praktischen Durchsetzung der Gewissensfreiheit für die gesetzliche Formulierung einer noch sehr viel umfassenderen Liste von natürlichen Menschenrechten und damit die Einführung des Begriffs in die Verfassungen des modernen Staates über­ haupt ist vielfach bestritten oder eingeschränkt worden. Auf einiges nimmt die zweite Auflage bereits Rücksicht. Der Katholik Paulus (Kölnische Volkszeitung, Literarische Beilage 1906 Nr. 39) sucht die Menschenrechte ausschließlich auf die naturrechtliche Staatstheorie und die Aufklärungsphilosophie zurückzuführen; Wahl »Zur Geschichte der Menschenrechte« (H. Z. 103 S. 79-85) betont neben den religiösen Einflüssen die allgemeine politische Lage der sich vereinigenden Staaten mit ihren grundverschiedenen Kirchenbildungen und den Einfluß der Auf klärungs­ ideen. Das wird wohl zutreffen. Hägermann, Die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte, 1910 (Eherings Hist. Studd. 78) betont gleichfalls auf klärerisch-lite­ rarische Einflüsse und reduziert die religiösen Einflüsse auf ein Minimum, hat aber von den letzteren nur sehr verworrene Vorstellungen. Den Sinn und die Meinung von Roger Williams hat er mißverstanden, das christliche Naturrecht ist ihm un­ bekannt, der von ihm mit Recht betonte Einfluß von Milton und Locke ist nicht im Zusammenhang mit ihrer religiösen Unterlage verstanden. Aber vieles ist auch sehr lehrreich und interessant; in der Hervorhebung der Gleichheit als eines rein rationalistischen Gewächses hat er recht, und die Betonung der wirtschaftlichen, politischen, persönlichen Einflüsse ist sehr berechtigt. Uebrigens hat Jellinek nie die amerikanische Revolution aus dem Puritanismus hergeleitet, sondern nur Formu­ lierung und Begründung der Menschenrechte. Das bleibt m. E. richtig, wenn auch die Aufklärung bei ihm etwas zu kurz gekommen ist. Für jeden Kenner der religiösen

Das moderne, klassische und profane Naturrecht.

Seite - ein solches humanistisch gesinnter Juristen, die auf den von den christlichen Färbungen befreiten Stoizismus und das römische Recht zurückgingen, sowie der modernen psycho­ logisch-empiristisch deduzierenden Philosophen 416). Allein wie es Entwickelung ist in den Erklärungen (Texte bei Jellinek) das spezifisch-religiöse Pathos der Unantastbarkeit der Gewissensüberzeugung und des religiösen Elementes durch die dazu nicht berechtigten Hände des Staates klar und eben damit die calvinistisch-täuferische Herkunft d i e s e r Wendung des Gedankens. - Neuerdings s. Klövecorn, Die Entstehung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 191 I. 418) Daß das klassische Naturrecht die Emanzipation der stoischen Elemente von ihrer Verbindung mit der kirchlichen Dogmatik und Ethik und von dem kirch­ lichen Mythos der Urgeschichte ist, zeigt jeder Blick in die Masse der durchschnitt­ lichen Literatur des Naturrechts, wie Glafey, Gesch. des Rechts der Vernunft, 1739 (s. besonders S, 54, 111, 193 f.), und Hinrichs, Gesch. der Rechts- und Staats­ prinzipien, 1848-52 (s. besonders I 227, II 13) schildern. Aristoteles, dessen Lehre von der organischen Bildung des Staates in der überhaupt sehr gemischten kirchlichen Naturrechtslehre mit der Vertragslehre und der Lehre von der gött­ lichen Einsetzung der Obrigkeit verkoppelt worden war, wird gänzlich ausgeschie­ den, und der gesteigerte Individualismus arbeitet rein mit den stoischen Lehren von der - wirklich oder nur virtuell vorhandenen - ursprünglichen Freiheit, Gleichheit und Güte der Menschen des goldenen Zeitalters, woraus durch den Egoismus und die unsozialen Eigenschaften der Menschen die Nötigung eines Aufbaues der staatlichen Gesellschaft entsteht zum Zwecke des Schutzes der ursprünglichen, von der Natur verliehenen Güter, Damit werden aber nicht nur die stoischen Gedanken herausgelöst, sondern sie werden bei solcher Emanzipa­ tion auch ihrer christlichen Färbung beraubt, indem I. das Naturrecht rein aus der Natur der Menschen, d. h. aus der Sozialität und dem Vernunftcharakter ab­ geleitet wird ohne Vermischung des Naturgesetzes mit der Nachahmung der eigenen Gerechtigkeit Gottes und ohne jede Notwendigkeit direkter Heranziehung des Gottes­ begriffes; 2. indem für die Bestimmung des Naturrechtes zunehmend der Unterschied zwischen Urstand und Sündenstand verschwindet und das Naturrecht aus dem Men­ schen an sich abgeleitet wird; 3, indem die Entstehung von Staat und Recht nicht als ein bloß relatives Naturrecht des Sündenstandes und ein Abfall von der Unvollkom­ menheit, sondern als ein Kulturfortschritt zur Wahrung der Naturanlage gegen die sie gefährdenden Leidenschaften erscheint. Von da aus verselbständigen sich dann die Anschauungen vom Menschen, von seiner Urgeschichte und von seiner wünschens­ werten gesellschaftlichen Organisation zu rein rationellen Wissenschaften, die der Kirche und Offenbarung wohl einen Raum neben sich anweisen, die aber für sich selber prinzipiell selbständig sind. Vgl. meinen Aufsatz >Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht« H. Z. 1911, auch • Verhandlungen des 1. deutschen Soziologentages« 1911. Wenn hier Gothein und Kantorowicz die Bedeutung -des römischen Rechtes für den Uebergang hervorheben, so ist hierzu zu bemerken, daß das römische Recht schon für die konfessionelle Rechtsphilo-

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III. Protestantismus,

3. Der Calvinismus.

auch von dem christlkhen Naturrecht des Calvinismus und der Scholastik einen starken Antrieb empfangen und in sich aufge­ nommen hatte, so ist der .Uebergang des freikirchlich und in seinen praktisch-politischen Beziehungen demokratisch-liberal ge­ wordenen Calvinismus zu ihm sehr begreiflich. Die Vereini­ gung von Staat und Kirche im Alt-Calvinismus hatte außer auf der Pflicht der christlichen Obrigkeit gegenüber Gott auch auf der Unfähigkeit aller Bildungen des relativen Naturrechts beruht, die Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft ohne Mit­ hilfe des Gnadeninstitutes zu befriedigen. Wenn nun beides ge­ trennt war und die profanen Institutionen auf sich selbst, d. h. auf ihre naturrechtliche Grundlage allein gestellt waren, so konnte es nicht ausbleiben, daß diese naturrechtliche Grundlage sich von den Schranken des alten, bloß relativen christlichen Naturrechts und damit von der Ergänzungsbedürftigkeit durch die Kirche befreite. Man näherte sich immer mehr einem autono­ men rationellen Naturrecht , das die rein utilitarischen Zwecke der profanen Institutionen mit reiner Vernunft und ohne Mit­ wirkung der Offenbarungsautorität konstruierte und zu verwirk­ lichen lehrte. Theologisch ausgedrückt: das Gesetz der Natur in der zweiten Tafel kann verwirklicht werden auch ohne gleich­ zeitige Verwirklichung der ersten Tafel, die im Sündenstande nicht mehr zum Gesetz der Natur gehört. Derart argumentierten schon Milton, Roger Williams und Bayle. So konnte man sich das moderne profane Naturrecht ruhig gefallen lassen, und zwar um so mehr, je mehr es in der Weise der Engländer wesentlich empiristisch-utilitarisch konstruiert war. Aber auch mit dem sophie die ratio scripta und die historisch-positive Ausformung des Naturgesetzes war, im Geist und Sinn identisch mit dem Dekalog. Ganz deutlich ist dieser Her­ gang in der Entwickelungsgeschichte des Hugo Grotius, der von Hause aus einem innerlich uncalvinistischen Kreise angehört und aus der Stoa heraus, bei der schon utilitarische und idealistische Elemente eigentümlich gemischt sind, seine ethische, geschichtsphilosophische und juristische Theorie entwickelt, ganz unabhängig von allen Konfessionen, vgl. die bald erscheinende Heidelberger Dissertation von W. Gei­ bel über »Ethik und Theologie des H. G.c Weiteres zum Einzelnen der Emanzi­ pation vgl. Gierke, Althusius 2 und Figgis, From Gerson to Grotius; zum Ganzen Bluntschli, >Gesch. des allgemeinen Staatsrechtes und der Politik« 1864 und die gegen die tiefen ethischen Gehalte des Naturrechtes ganz unempfindliche Kritik desselben bei Bergbohm > Jurisprudenz und Rechtsphilosophie« 1892; es ist doch schwer zu sagen, wie nach der Zersetzung der kirchlichen Gesellschaftslehre die moderne anders hätte einsetzen können und sollen.

Naturrecht und Utilitarismus.

rationalistisch-idealistischen, von der Autonomie und Gleichheit der Einzelvernunft ausgehenden französischen Naturrecht konnte man sich abfinden, wie das die Calvinisten Neu-Englands im I 8. Jahrhundert zeigen. So ist es zu begreifen , wenn der Neu-Cal­ vinismus sich stark naturrechtlich gebärdet und das Recht dafür aus den bereits charakterisierten rationalistisch-naturrechtlichen Ansätzen bei Calvin sich dogmengeschichtlich sichert. Der theo­ kratische Geist ist aus ihm völlig verschwunden 416 •). Er überträgt das Prinzip der Bildung aller Gemeinschaft durch Association auf alle Lebensverhältnisse und strahlt die Neigung zur Vereinsbildung nach allen Seiten aus für kirchliche und reli­ giöse, sowohl als bürgerliche und kulturelle Zwecke; an Stelle der Stiftungen, Anstalten, Korporationen, der erblich gebundenen ständischen und zünftigen Fideikommisse tritt der Grundsatz der u 5 •) Bei Roger Williams ist in seinem Bloudy tenent einer der wichtigsten Gedanken die Möglichkeit eines nach Naturgesetz und zweiter Tafel erfolgenden Aufbaus der Gesellschaft und des Staates ohne Eingriff des Staates in die Maje­ stätsrechte der rein geistlichen Kirche, aber auch ohne Bedürfnis der bürgerli­ chen Moralität und Zweckmäßigkeit, sich an dem Christentum eine Stütze zu schaffen. Auch Heiden, Juden und Türken sind zu einer ausreichenden politisch­ bürgerlichen Moral befähigt, die mit der christlichen faktisch immer zusammen­ passen wird, da ja das Naturgesetz nur die zweite Tafel des Dekalogs ist. Da­ mit verbunden ist bei R. W. die rein äußerlich-utilitarische Auffassung des Staates, wie das aus gleichen Gründen bei Locke (über ihn das schon erwähnte Buch von Bastide) der Fall ist. Werden dem kirchlichen Staatsbegriff die religiösen Pflichten und Inhalte genommen, so fällt er gänzlich dem Utilitarismus anheim. Ueber Bayle s. Jod!, Gesch. der Ethik I 2 420, über Milton, Stern, Milton und seine Zeit 1877-99. - Den bruchlosen, von innen heraus sich vollziehenden Uebergang des kirchlich-calvinistischen Katurrechts zum rein rationalistischen, zeigen auch die von Hägermann geschilderten Neu-England-Amerikaner, insbesondere der von ihm als eigentlicher Vater des amerikanischen Systems gefeierte Otis, S. 44-58. Wer von der calvinistischen Staatslehre herkommt, sieht hier überall den calvini­ stischen Stamm und die rationalistisch-naturrechtliche Korrektur und Fortbildung. Hägermann zitiert S. 52: >Derjenige, welcher die Lehre des unbegrenzten passi­ ven Gehorsams und der Widerstandsfosigkeit bei den Menschen durchsetzen will, ist nicht nur ein Nero oder Schurke;· sondern auch ein Rebell gegen den gesun­ den Menschenverstand wie gegen die· Gesetze Gottes, der Natur und seines Lan­ des. « Damit verbindet er die Freiheit des Gewissens und die Verwerfung der Priester- und Kriegskaste, wie unter Berufung auf Saul auch Roger Williams ge­ lehrt hatte S. 53. So verglich man ihn in Boston mit Jesaja und Hesekiel S. 47. Das ist doch deutlich calvinistische Atmosphäre. Beispiele für diese Entwickelung finden sich bei Hägermann noch mehrere.

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III. Protestantismus,

3, Der CalTinismus,

freien Vereinsbildung, wie Staat und Kirche im Grunde ja auch Vereine sind. Er betont auf Grund der Einerleiheit des biblischen und natürlichen Gesetzes die Zusammenwirkung von Christentum und Humanität in einem dem alten Calvinismus unbekannten Sinne. Von da aus entwickelt er eine pazifistische internationale Gesinnung und Propaganda, vertritt die Menschenrechte und be­ günstigt die Antisklavereibewegung, verbindet sich mit philan­ thropischen und humanitären Bewegungen. Auch die Frauen­ bewegung findet bei ihm Wurzeln, lange ehe die andern Kon­ fessionen auf sie einzugehen wagten. Die christlich ernsten Be­ standteile des amerikanischen und englischen Protestantismus in England unter dem Einfluß der Evangelikalen auch ein großer Teil der Staatskirche - vertreten die charakteristische menschen­ freundliche, freiheitliche und kosmopolitische Ethik des Libera­ lismus 417). So hat schon Cromwell die naturrechtliche salus publica mit dem christlichen Heilsgedanken für vereinbar gehalten und eine relativ modern-liberale und utilitarische Politik mit seiner Id'ee des christlichen Staates verbunden. Vor allem aber interessant 417) Hierzu vgl. den oft angeführten Aufsatz von Max Weber >Kirchen und Sekten in Nordamerika« und »Antikritisches• S. 202; Tocqueville, Democratie en Amerique; v. Schulze-Gävernitz, ,Deutscher Imperialismus und englischer Frei­ handel« S. 42-64; Hartmann, >Englische Frömmigkeit«. Sehr interessant ist bei Rothenbücher S. 149-165 zu sehen, wie das amerikanische Recht vom Assoziations­ gedanken aus dem kirchlichen Anstaltsgedanken durch zweckmäßige Fiktionen ge­ recht zu werden versucht. Hier stoßen zwei Welten soziologischen Denkens aufeinander, - Dieser Zusammenstoß ist auch hübsch illustriert in dem Referat über Lockes Ar­ gumentation gegen den Patriarchalismus und gegen den Anstaltsgedanken bei Blunt­ schli S. 173: »Das (gegnerische) Argument heißt, die Nachkommen werden durch ihre Väter gebunden, und dieses Argument ist falsch, Der Vater hat kein Recht, die Freiheit des Sohnes wegzugeben. Wenn dieser zum Manne wird, ist er nicht minder frei als der Vater war, Weil die Staaten da sind und die Kinder als abhängige Familienangehörige geboren und erzogen werden, weil das Land und die Güter dauernd beherrscht werden, weil da nur einer nach dem andern, nicht gleichzeitig die Menge, volljährig und frei wird, so übersieht man den Akt der Freiheit, den der volljährig Gewordene übt, indem er sich dem Staate vereinigt. Es steht ihm frei, einen andern Staat zu wählen.• Das ist in der Tat der Angelpunkt, und die Analogie zu dem Sektengedanken liegt auf der Hand, dessen Wesen es ist, daß man nicht unmündig in eine Anstalt hineingeboren werde, sondern reif und bewußt einer Freiwilligkeitsgemeinschaft beitrete, daher nicht Kindertaufe, sondern Spät ­ taufe. - Dabei erinnere man sich, wie umgekehrt Gierkc in seinem Genossen­ schaftsrecht den mittelalterlichen Begriff der Korporation, der Anstalt, der Staats­ einheit von der Analogie des kirchlichen Corpus mysticum herleitet.

Neucalvinismus und Liberalismus.

ist in dieser Hinsicht der große moderne Vertreter der christlichen Politik, Gladstone. Er war zwar Anglikaner, näherte sich aber immer mehr dem Dissent und war politisch-ethisch von dessen Ideen bestimmt, nicht von anglikanischen. So hat er aus ethischen Gründen den Liberalismus befördert, das Stimmrecht erweitert, schiedsrichterliche Behandlung auswärtiger politischer Fragen für möglich und wünschenswert erklärt. Seine Politik war eine be­ wußt christliche und legte für das profane Gebiet ebenso bewußt das natürliche Recht zu Gnmde. Hält man dem die Idee des christlichen Staates bei Julius Stahl und Bismarck gegenüber, so erhellt der ganze Unterschied der kontinental-lutherischen und der angelsächsischen, calvinistisch bestimmten oder beeinflußten Ideen­ welt. Daß aber diese Unterschiede nicht an dem Angelsachsen­ turn liegen , das zeigt der Umstand, daß der holländische Ex­ minister Kuyper eine ähnliche liberal-naturrechtliche Auffassung für die profanen Angelegenheiten vertritt. Der Neu-Calvinismus ist in all diesen Dingen weit von Calvin abgerückt, was Kuyper vergeblich zu verdecken sucht; dabei ist er formell in der Be­ handlung der weltlichen Dinge dem modernen Liberalismus und Utilitarismus sehr nahe gekommen, und dieser hat an ihm eine der großen moralischen Kräfte, die ihm auf dem Kontinent fehlen. Von der abstrakten französischen Doktrin der Demo­ kratie und des egalitären Naturrechts unterscheidet er sich dabei immer noch tief genug und meistens mit vollem Bewußtsein 41�). '18)

Sehr lehrreich ist hier die Biographie Gladstones von Morley 1903. Glad­ stone arbeitete sich vom anglikanischen Toryismus zu einer Verbindung von Cal­ vinismus und Liberalismus durch, die für die innere Gestaltung Englands entschei­ dend geworden ist und bis heute ihre Hauptstütze am Dissent hat. Die bei uns übliche überlegen ironische Behandlung des großen Staatsmannes ist cha­ rakteristisch für den Unterschied der beiden geistigen Welten, Sein konservativer Nachfolger Salisbury nannte ihn ,the great Christian«, und der Biograph bemerkt dazu: nothing could be more true or better worth saying. He not only accepted the doctrines of that faith as be believed them to be held by his own communion; he sedoulously strove to apply the noblest moralities of it to the affairs both of his own nation and of the commonwealth of nations I 4. Eben deshalb nahm er auch wenigstens partiell_das Disestablishement in Aussicht. Er trennte die Sphären des Naturrechts und der Kirchen, jene dem Staat und diese der Offenbarung und ihren verschiedenen Deutungen vorbehaltend ; vgl. ein charakteristisches Wort G.s über >the higher ground of natural justice•: es ist >that justice which binds man to man; which is older than Christianity, because it was in the world before Christia­ nity; which is broader than Christianity, because it extends to the world beyond T r o e I t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

In der Entwickelung des Calvinismus zum Freikirchentum kam - so darf man beim Ueberblick über diese ganze EntChristianity; and which underlies Christianity, for Christianity itself appeals to itc I 563; es ist ihm z. B. die Regel für den Chinakrieg, Allerdings bemerkt Erich Marcks hierzu, daß diese christlich-moralische Politik nur möglich gewesen sei, weil Glad­ stones Vorgänger die englische See- und Weltherrschaft bereits unbestreitbar ge­ macht habe, wodurch der Luxus einer moralischen Politik für Gladstone erst mög­ lich geworden sei, daneben habe er glücklicherweise Disraeli als Vertreter der entgegengesetzten Politik zur Ergänzung gehabt; s. Marcks, Die Einheitlichkeit der englischei:i Auslandspolitik 1910. Heute erleben wir wieder die gleiche moralisch-liberale Begründung der inneren englischen Politik. Hierher gehört auch die Fahrt englischer Geistlicher nach Deutschland im Interesse des Frie­ dens. Charakteristisch ist die Notiz, die ich in einem Kirchenblatte einst gelesen habe, wo ein deutscher Generalsuperintendent mit höchstem Erstaunen berichtet, daß sein überaus frommer Gastwirt ihn in voller christlicher Gemeinschaft beher­ bergt habe, ihm aber wie etwas Selbstverständliches mitgeteilt habe, daß in dem­ selben Gastzimmer vor einiger Zeit sein Freund, der radikale Liberale Theodor Barth, gewohnt habe. Das ist allerdings auf dem Boden des Luthertums nicht möglich, und diese Unmöglichkeit ist eine der großen Schwierigkeit in der geistigen Lage Deutschlands. - Uebrigens ist dabei nicht zu übersehen, daß der englische Liberalismus auch eine stark antireligiöse, rein utilitarische Strömung im Sinne Benthams und Mills hat. - Typisch ist auch hier Kuyper, der von Gladstone sagt, daß er ,als christlicher Staatsmann Calvinist in Mark und Bein war« (S. 195). Er spricht von einem >heiligen demokratischen Sinn« S. 21. ,Im Calvinismus sieht man zuerst das Volk in seinen breiten Schichten selber zum Vorschein kommen und aus eigener Spontaneität sich um eine höhere Form menschlichen Zusammen­ lebens bewerben« S. 31. In diesem Weltbezirk waltet die »allgemeine Gnade«, die »Schöpfungsordnung• oder die Lex naturae. »Wir haben in der Welt die Wirkung von Gottes allgemeiner Gnade zu ehren, haben aus diesem Grunde die Welt von kirchlichen Banden zu befreien und selbst in ihr zu verkehren« S. 24, >Alles, was unter Menschen regelrecht aus der Schöpfung hervorgeht, besitzt alle Voraussetzungen zu e i g e n e r (d. h. kirchenfreier) Entwickelung i n d e r N a t u r als solcher . , . Es ist allzumal Schöpfungsleben nach Schöpfungsordnungen, und zwar in organischer Entwickelung« S. 84. »So trat die Kirche zurück, um nichts mehr und nichts anderes zu sein als die Versammlung der Gläubigen, so wurde das L e b e n d e r W e 1 t auf allen Gebieten nicht von Gott, sondern von der Herrschaft der Kirche emanzipiert . . . So gewann das häusliche Leben seine Selb­ ständigkeit wieder. Handel und Gewerbe sahen sich in Freiheit auf eigene Kraft angewie5en ; Kunst und Wissenschaft wurden von den kirchlichen Banden gelöst und ihrer eigenen Inspiration zurückgegeben und die Unterwerfung der ganzen Natur unter die Menschen, entsprechend der von Gott im Paradies gegebenen Schöpfungsordnung, verstanden« S. 23. »Grundgesetzliche Rechte« S. 90. »In der Declaration of lndepence spricht John Hancock es mit andern Worten aus, daß

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Neucalvinismus und Liberalismus.

wickelung sagen - dasjenige Element zur Befreiung, das von Hause aus in dem Gedanken der Heiligungsgemeinde gelegen hatte, das Amerika kraft ,the law of nature and of natures God' auftrat, daß man als ,endo­ wed by the creator with certain unalienable rights' handelte, . . . daß man seine Declaration ,with a firm reliance on the protection of Divine Providence' ausgehen ließ« S. 79. Dieses Naturrecht ist rein utilitarisch: »Gerade i n d e m W o h I e r­ g e h e n auf Grund seiner (Gottes) Anordnungen muß seine göttliche Weisheit zum Vorschein kommen« S. 74. Das ist freilich amerikanisierter Neucalvinismus: »Dorthin (nach Amerika) hat sich der Calvinismus verpflanzt, um sich in höherer Frei­ heit zu entfalten« S. 30. Das Gesamtbild dieses Neucalvinismus S. 33 : »Denken Sie daran, wie erst durch den Calvinismus der Psalm der Freiheit aus dem beengten Gewis­ sen zu den Lippen sich drängte, wie unsere konstitutionellen Bürgerrechte erst durch den Calvinismus erobert und gesichert worden sind, und wie zugleich gerade von Westeuropa jene mächtige Bewegung ausging, die Kunst und Wissenschaft auf­ blühen ließ, dem Handel und Gewerbefleiß neue Bahnen erschloß, das häusliche und gesellschaftliche Leben glänzend gestaltete, den Bürgerstand zu Ehren erhob, den Arbeiter als gleichberechtigt neben seinen Patron stellte, die Philanthropie zu reichem Wachstum brachte und über dies alles durch puritanischen Ernst das sitt­ liche Leben der Menschheit erhöht, gereinigt und geadelt hat« S. 33. Der Staat ist für Kuyper heute noch eine Stiftung des relativen Naturrechts des Sündenfalls, eine >mechanische•, über dem naturrechtlichen Kosmos der Gesellschaft aufgerich­ tete Autorität zur Repression des Bösen, aber eben darum sorgfältig einzugrenzen, damit er nicht in die Menschenrechte eingreifen könne S. 86. Mit all diesen demo­ kratisch-liberalen, freikirchlich-toleranten, utilitarisch-naturrechtlichen Prinzipien ist Kuyper der Führer der Orthodoxie und der mit den Katholiken verbundenen Reaktion, wie auch die amerikanischen und englischen Calvinisten in der Regel recht orthodox sind und die Kirchen noch immer sehr fest binden. Der Gegensatz gegen das französische Naturrecht der Egalität S. 173 f. - Damit stimmt überein (bis auf die Gleichheit) der Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (nach Jellinek S. 9): >Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für in sich über­ zeugend, nämlich, daß alle Menschen gleich geboren sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, daß zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören, daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre gerechten Befugnisse von der Einwilligung der Regierten ableiten ; daß, so oft eine Regie­ rungsform gegen diese Ziele zerstörend wirkt, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solche Grundsätze zu bauen und deren Gewalten derart zu ordnen, wie es ihm zu seinem Glück und seiner Zweckmäßigkeit am sichersten scheint.« - Wie ganz anders unter dem Einfluß des Luthertums die Staatsauffassung in Deutschland geblieben und wie dieser Begriff vom Kulturstaat hier heute noch für viele die Aufnahme der religiösen Lebenszwecke in die Staatsaufgaben bedeutet, das zeigen insbeson­ dere die Versuche, die Trennung von Staat und Kirche deutsch zu verstehen bei 49*

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

aber dort mit dem Gedanken der Einheit der christlichen Gesellschaft und dem Grundsatz ihrer alleinigen Verbürgung durch die Zwangs­ einheit des Glaubens verbunden gewesen war. Die Lösung beider erfolgte erst unter dem Druck der englischen Revolution und unter Mitwirkung spiritualistischer und täuferischer Einflüsse. Ihre Folge war dann die völlige Beseitigung jenes Gesellschaftsideals der Kon­ formität und die Anheimstellung der profanen Soziallehren an ein gänzlich utilitarisch verstandenes Naturrecht, während die christlichen Maßstäbe unmittelbar lediglich in den Kirchen gepflegt werden und aus der kirchlichen Pflege heraus erst als geistig-soziale Macht in die Gesellschaft hineinwirken. Für die dabei sich ergebende schließliche Zusammenstimmung beider bürgt dem Glauben heute .noch die Herkunft des Naturrechts von demselben Gott, von dem die Kirche kommt. So können diese calvinistisch bestimmten Völker trotz Preisgabe der äußeren Konformität an eine fort­ dauernde innere glauben. Wie lange noch, das hängt davon ab, wie lange sie von beiden Lebenskreisen die spezifisch moderne Kritik fernzuhalten verstehen und die praktischen Angelegenhei­ ten des Lebens für leicht durch den natürlichen common sense gestaltbar ansehen. Diese Völker kennen bis jetzt noch die mo­ derne Welt wesentlich nur als politisch-sozialwirtschaftlich-tech­ nische Entwickelung und haben es verstanden , sich mit ihrer Religion auf diese einzurichten 419). Freilich ist darin seit DarOtto Mayer, Staat und Kirche in PRE3 und E. Förster, Entwurf eines Gesetzes betr. die Religionsfreiheit 1911, bes. S. 39 und 47 mit Berufung auf den Freiherrn v. Stein und Hegel ; hier bleibt der Staat daran interessiert, mit den ihm zustehenden Mitteln äußerer Kir�henpflege die Einheit und den Fortbestand der großen Haupt­ . religionen zu unterstützen, weil er nicht rein rationell-utilitaristisch verstanden wird. Das gleiche Interesse bei Max Lenz, Nationalität und Religion, Preuß. Jahrbb. 1907, auch hier auf der Grundlage lutherischer Empfindungen. 419) S. z.B. Kuyper S. 184: >Der Calvinismus ist der Gipfel des Fortschritts; der ,Modernismus' ist kein Fortschritt, da er keine eigenen neuen Ideen ftat. Der materielle Fortschritt dieses (19.) Jahrhunderts hat nichts mit dem Fortschritt auf dem Gebiete der Prinzipien zu tun. « So hat auch der Pietismus technischen und naturwissenschaftlichen Unterricht als völlig neutral mit der dogmatischen Ortho­ doxie zu vereinigen gewußt. Die brauchbare moderne Philosophie sind die >Rea­ lien« und der >Realunterrichte. Orthodoxie, Naturwissenschaft und Technologie sind hier wohl vereinbar: >Unsere reformierte Konfession spricht von zwei Mitteln, wodurch wir Gott erkennen, der Natur und der Schcift, und noch viel bemerkens­ werter ist es, wie Calvin, weit entfernt davon, hierbei die Natur zu vernachlässigen, vielmehr die Schrift nichts anderes als eine Brille nannte, die uns in Stand setzt,

Das Prinzip des Puritanismus und Präzisismus.

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win, Herbert Spencer, Bentham , John Stuart Mill und Ruskin vieles anders geworden und wird es zunehmend anders werden. Nun aber konnte dieses dem Calvinismus eingestiftete Ele­ ment der Heiligungsgemeinde sich auch auf andere Weise aus­ wirken als in dem Kongregationalismus und dem Fre'ikirchentum, die bald auch unitarischen, aufklärerischen und intellektuellen Be­ sonderheiten dienstbar wurden und heute noch sind; insbesondere der moderne Kongregationalismus betont gerne die Verwandtschaft seiner Gewissensfreiheit mit dem wissenschaftlichen Wahrheits­ sinne 420). Es konnte sich vielmehr auch als bloße Steigerung der Heiligungsidee und Askese i n n e r h a lb d e r Ki r c h e entwickeln und hat das getan in dem sog. P u r i t a n i s m u s , P r ä z i s i s­ m u s u n d P i e t i s m u s. Auch diese Entwickelung lag von Hause aus im Wesen des Calvinismus. Pflegt man doch den Calvin stark beeinflussenden Butzer den >Pietisten unter den Re­ formatoren« zu nennen und Calvin selbst als Rigoristen zu be­ zeichnen. Aber auch hier mußte diese Tendenz erst durch be­ stimmte Verhältnisse befreit und vereinseitigt werden. Sie trat die göttliche Schrift der Schöpfung, die verwischt und entstellt war, wieder zu lesen« S. 113. >So blieb man ein Pilgrim, aber ein Pilgrim, der auf dem Weg zum ewigen Vaterland noch eine unermeßliche Aufgabe zu erfüllen hatte. Weit breitet sich vor, über und unter dem Menschen der Kosmos mit allen Reichen der Natur aus. Dies ganze unabsehbare Feld mußte bearbeitet werden. Die Erde mit allem, was in ihr ist, mußte dem Me�schen unterworfen werden. So erblühten in meinem jetzigen Vaterland Industrie und Landbau, Handel und Schiffahrt wie nie zuvor. Das neue Leben der Bürgerschaft weckte neue Bedürfnisse. Um die Erde sich zu unterwerfen, war die Kenntnis dieser Erde, ihrer Meere, ihrer Natur, der Eigenschaften und Gesetze dieser Natur notwendig« S. 122. So hat man sich die Orthodoxie so vieler großer englischer Naturforscher zu erklären. Auch die ganz andere Stellung der Mission bei diesen Völkern erklärt sich von hier aus nicht bloß aus ihrem kolonialen Bedürfnis und Verständnis, wenn auch Interessen hierbei selbstverständlich mitspielen. Es ist eben hier überall die Möglichkeit >to make the best of both worlds« (s. Dowden S. 275). '20) S. Powicke mit starker Betonung des spiritualistischen Elementes im alten Kongregationalismus S. 218 : >A result of hist two first principles working in com­ bination: his faith in the inner light and his reverence for the written ward. For faith in the inner light, at least, in the case of the more deeply thoughtful and devout of its disciples, really meant faith in the highest intentions o f s p i r i t u a l r e a s o n; and this, when brought to a study of the written Word could not fail to operate selectively, fastening on what was agreeable to the most worthy conception of God and man and tacitly ignoring all else.« So vollzog sich von ihm aus die Abzweigung des Unitarismus.

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III. Protestantismus.

3, Der Calvinismus.

hervor erst unter den Bedingungen eines breiten allgemeinen Volkslebens, das den echten Calvinismus mit Verweltlichung be­ drohte und das die Ideale Calvins nicht mehr einfach mit dem Zuchtgericht im Genfer Stil lösen konnte oder durfte. In Genf selbst, in dem von dem großen politischen Kampf gänzlich beschäftigten Hugenottentum, in dem nach Genfer Grundsätzen konstituierten Schottland hört man nichts davon. Dagegen hat der Präzisismus in dem von der Staatskirche geleiteten old merry England, in den niemals völlig calvinisierten und vor allem das Zuchtgericht ein­ schränkenden Niederlanden, in den unter niederländischem Einfluß stehenden westdeutschen Landschaften und in dem vom Methodis­ mus aufgerüttelten Amerika sich mächtig entwickelt und von da aus auch das französische und schweizerische Kirchengebiet im 19. Jahrhundert erfaßt. In Deutschland hat das gleichfalls mit der Gefahr der Verweltlichung und vor allem der dogmatischen Erstarrung ringende Luthertum eine ähnliche Reformbewegung - nicht ohne Anstoß und Beispiel des reformierten Pietismus eröffnet ; von da ab sind überhaupt die Absperrungen zwischen Luthertum und Calvinismus gemildert worden. Heute liegt der ganze Kontinent unter dem stärksten Einfluß angelsächsich-pie­ tistisch-methodistischen Wesens. Der englische Calvinismus, in der Zeit Eduards VI. begrün­ det, war von Cambridge her, wo Butzer gewirkt hatte 421), und von London her, wo Laskis Fremdengemeinden ein Vorbild gaben 422), von Anfang an im Sinne der Innerlichkeit und der Lebens­ strenge beeinflußt. Er wurde dann von den unter Elisabeth aus Europa zurückkehrenden Exulanten stark dem Genfer Ideal an421) S. Harvey, Butzer in England, 1906 (Marburger Diss.) mit interessanten Mitteilungen über Butzers sozialpolitische Vorschläge aus De regno Christi S. 77 bis 85 : schon hier der Kampf gegen Einhegungen, Monopole und schlechte Justiz. '22) Hierüber s. Göbel, Christi. Leben I 318-351. Schon hier begegnen die Demokratisierung der Gemeindeverfassung und die strenge Abhebung gegen die Welt, auch die Prophesyings. Charakteristik der puritanischen Prophesyings bei Heppe 20: >Der ganze Akt war von dem Gedanken getragen, daß das Christen­ tum notwendig Leben, und zwar ein ernstes, ganz und gar vom Worte Gottes be­ herrschtes und streng geregeltes Leben sein müsse, in welchem der Christ sich nicht gehen zu lassen, sondern sich unablässig zu üben, sich selbst im Angesichte des Wortes Gottes zu prüfen und durch anhaltendes Gebet, durch Meditation und durch Fasten, überhaupt durch methodische und aszetische Uebung in der Gott­ seligkeit einer immer vollkommeneren Heiligung nachzustreben habe.< Man be­ achte hier auch die Askese.

Der englische Puritanismus.

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genähert und war mit den Schotten in beständigem Austausch be­ griffen. So teilte er sich allmählich in drei große Hauptströ­ mungen, die oft ineinander übergingen. Es war einerseits der Presbyterianismus, der von Cartwright zur schärfsten Formulie­ rung gebracht wurde und durch die Hilfe der Schotten in der Zeit des Langen Parlamentes die Hoffnung hatte, Staatsreligion zu werden. Es ist echter, durch die Synodalverfassung über ein großes Volk ausgebreiteter Calvinismus, der einer näheren Schil­ derung hier nicht bedarf. Es war zweitens der Kongregationa­ lismus, der in den niederländischen, neuenglischen und schließ­ lich auch in englischen Gemeinden ein ganz neues Prinzip der staatsfreien und die Einzelgemeinden verselbständigenden Kir­ chenverfassung einführte. Seine Bedeutung haben wir soeben kennen gelernt. Es war schließlich der Puritanismus im enge­ ren Sinne oder der Präzisismus und methodische Rigorismus, kurz der Pietismus, der ohne besondere Kirchenverfassungspläne eine rein praktische Bewährung des christlichen Glaubens wollte und die calvinistische Theologie in ein »studium pietatis« über­ führte 423). Diese Gruppe ist es, auf die in unserem Zusammenhang jetzt die Aufmerksamkeit zu richten ist. Ihr gehörten Männer der verschiedensten kirchlichen Gruppierungen an, Presbyterianer, Anglikaner, Kongregationalisten, Baptisten. Auch in dem Crom­ wellschen Independentismus war er mit einem starken Zusatz von Mystik und Enthusiasmus in viel höherem Grade die treibende Macht als die kongregationalistische Kirchentheorie, von der er seinen häreseologischen, sehr wenig besagenden Namen empfangen hat. Cromwell selbst hat wohl vor allen dieser Strömung angehört 423) Ueber den Namen und seine Geschichte s. Douglas Campbell, The puritan in Holland, England and America 4 1902 I S. XXVII; Kattenbusch, Art. Puritaner in PRE.3, der den Puritanismus hier geradezu identisch erklärt mit Pietismus; Heppe, Gesch, des Piet., S. 6. Die Titel praxis pietatis u. ä. sind auch in der englischen Literatur häufig, Heppe S. 23, 30. Die Bezeichnung Precisians or Puri­ tans and now lately Martinists« gebraucht schon Barrow, der letztere Name von den Marprelate-Briefen hergeleitet Powicke S. 149. Ein anderer unendlich oft wiederkeh­ render Name ist Godliness und Saintlinnes, the godly men oder the saints. Wein­ garten hat diese Richtung als solche leider nicht charakterisiert und erkannt, wie Heppe S. 14 mit Recht hervorhebt; so hat er auch ihr Verhältnis zu Presbyteria­ nismus, Kongregationalismus und Täufertum nicht deutlich gemacht; aber erst bei diesen Scheidungen wird der Sammelbegriff >lndependentismus« einigermaßen durch­ sichtig. - Die Gegner nannte man nach altem Genfer Gebrauch auch jetzt noch gerne >Libertiner«.

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

und ist nur vorübergehend durch seinen Respekt vor den tatsäch­ lichen göttlichen Führungen der Nation und durch sein abwartendes Zutrauen zu den neuen Offenbarungen von dieser Linie abgedrängt worden. Ihre besten Gedanken und besten Leistungen finden wir bei einem Mann wie Baxter. Aber auch an den Erbauungsbüchern des baptistischen Kesselflickers Bunyan stärkt sich bis heute das ganze pietistische England, wie auch der kontinentale Pietismus. Die Bewegung begann mit den Angriffen auf die katholi­ schen Elemente des Anglicanismus, den Forderungen des Zucht­ gerichtes und der Sammlung reiner Abendmahlsgemeinden. Sie wurde dann aber unter den Stuarts zu einer eigentlichen Erweckungs­ bewegung, zur Forderung einer zweiten Reformation, die der Reform der Lehre die des Lebens folgen läßt und die persön­ liche Innerlichkeit und Heiligkeit als das wahre Wesen der Chri­ sten verwirklichen will. Charakteristisch für sie sind die Phrophe­ syings oder Besprechungen der Gemeindeglieder mit ihren Pfar­ rern über die Predigt und Texte der Bibel; die Hausandachten, in denen der Hausvater die Familie katechisiert und kontrolliert; das Interesse an genauem Jugendunterricht in den Heilswahr­ heiten, da jeder selbst alle Bedingungen des Heils kennen muß und die Unwissenheit zur Verdammnis führt, wie Bunyan anschau­ lich zeigt; das freie Gebet an Stelle der toten Liturgien; die strenge methodische Heiligung und Selbstkontrolle, womit die Selbstbiographien und Tagebücher, sowie die Forderung der Medi­ tation zusammenhängen ; die Vermeidung aller profanen Lustbar­ keiten und die strenge Selbstunterscheidung von den unbekehrten Kindern der Welt oder des Naturstandes; die Forderung aske­ tischer Uebungen und vor allem angestrengtester Arbeitsamkeit als des besten Mittels seelischer und körperlicher Disziplin ; die Kasuistik und die sorgfältige Gewissensforschung und -beratung, verbunden mit der eingehendsten Seelsorge ; die Volkstümlichkeit und die Fürsorge für Volksschulen und Volkshebung; die äußerste Einfachheit des Lebens in Kleidung und Komfort, die aber eine würdige Gediegenheit nicht ausschloß ; die praktische Lebens­ tüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit in allen Berufen, die sich in einer sehr erheblichen praktisch-politischen, sozialen und geschäftlichen Tätigkeit zeigt; schließlich die Unions-Gesinnung, die bei der alleinigen Wertlegung auf praktische Erfahrung und heilige Bewährung die Grenzen der protestantischen Denomina­ tionen verwischt und alle in der pietistischen �saintliness« einigt.

Der englische Puritanismus.

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Sie stehen damit in bewußtem Gegensatz zu der Renaissance­ stimmung und -Literatur der Elisabethanischen und Stuartschen Zeit, auch gegen die Politik und die wirtschaftlichen Maßnahmen der Feudalen, die in den großen Monopolisierungen und dep. Ein­ hegungen zum Ausdruck kamen. Bekannt ist der Haß Shake­ speares gegen diese sinnenfeindlichen Pietisten und der Hohn Buttlers über ihre theologische Enge und Pedanterie. Ihr Unter­ schied gegenüber dem primitiven Calvinismus ist ein viel weiter getriebener Individualismus, der Gott und die Seele trotz aller Gnadenmittel einsam und unmittelbar einander gegenüberstellt; die eingehende Schätzung und Prüfung der guten Werke als Zei­ chen der Erwählung, womit eine dem echten Calvinismus in die: sem Maße unbekannte Gesetzlichkeit und Selbstgerechtigkeit, Me­ thodik und Askese einzieht ; damit der Geist der isolierten indi­ viduellen Selbstkontrolle und asketischen Disziplin, der die Schät­ zung der Gaben und Offenbarungen Gottes in der Natur nicht ausschließt, aber doch die Kinder der Erwählung durch die Spra­ che Kanaans und durch die Strenge der Lebenshaltung von den Kindern der Welt und des Zornes abschließt. In alledem ist die Einwirkung neuer Motive unverkennbar. Die individuali­ sierenden Wirkungen des Prädestinationsdogmas, die Brechung der strengen Kirchlichkeit durch ein Zeitalter kirchlicher Kämpfe, die Spaltung der Gesellschaft in Strenge und Laxe waren inzwischen eingetreten. Das ergab naturgemäß eine andere Lage als in dem strengen und einheitlichen Christenstaate Calvins. Vom luthe­ rischen Pietismus andererseits unterscheidet sich dieser Puritanis­ mus durch seine bei alledem doch ungebrochen kirchliche Hal­ tung, durch die Abwesenheit des Bußkampfes und der momentanen gefühlsmäßigen Gnadenversicherung, durch die methodische Konse­ quenz der fortschreitenden Heiligung. Wie das Luthertum in der Rechtfertigung mit einem Schlage alles gewinnen läßt und in der Rechtfertigungsseligkeit die allein entscheidende Probe der Be­ gnadigung findet, so sammelte sich die Hauptmasse des luthe­ rischen Pietismus um Bußkampf und Gnadengefühle. Aber im Calvinismus liegt die Gnade in der vorzeitlichen, langsam und stufenweise sich auswirkenden Erwählung. So war im Puritanismus die Bekehrung eine allmählich sich selbst entfaltende Auswir­ kung der Prädestination und rechnete auf den sorgsam kontrol­ lierten und gepflegten Fortschritt, nicht auf Gefühle, die auch der bloße Zeitglaube haben kann. Damit war dann auch die Kirchlich-

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III. Protestantismus,

3. Der Calvinismus.

keit leichter vereinbar, indem gerade die Gnadenmittel diesen Fortschritt vermitteln und von vorneherein bei ihrer spirituellen Fassung die Innerlichkeit des Glaubens nicht hindern. Als Gegen­ gewicht gegen die Trockenheit und Strenge der Heiligungsaskese wurde auch hier die Mystik herangeholt. Aber, indem sie an den calvinischen Gedanken der insertio in Christum non otiosum anknüpfte, hat die Mystik hier eine praktischere und tätigere Rich­ tung erhalten als die lutherische. Chiliastische Gedanken fehlten nicht, aber sie waren verhältnismäßig selten, und es ist die Frage, wie­ weit sie nicht durch Täufertum und Enthusiasmus hereingetragen worden sind. Insofern ist dieser calvinistisch-puritanische Pietismus etwas anderes als der kontinentale. Er ist die moralische Schule der englischen Mittelklassen gewesen, und hat sich nach den Ermat­ tungen und Neubildungen des großen englischen Auf klärungszeit­ alters schon im 18. Jahrhundert wieder erhoben, jetzt freilich in methodistischer Gestalt, die wohl mit den alten puritanischen Ueber­ lieferungen zusammenhing, aber doch wesentlich neue Elemente zugleich enthielt. Ueber ihn wird später bei der Darstellung der Sekte noch mehr zu sagen sein, da er schließlich zur Separation übergegangen ist. Der von ihm in England und Amerika in immer neuen Anstürmen gegen die Aufklärung erzeugte Evangelikalis­ mus bedeutet aber trotz verschiedener Abweichungen bis heute die Macht puritanisch-calvinistischen Geistes und hat sich auch auf nicht-calvinistische Kirchengemeinschaften übertragen 424). 42') Wichtigste Quellen: Works of the English puritan divines, London 1845 bis 48 10 Bb., von Heppe und Max Weber ausgiebig benützt. Außerdem Heppe, Gesch, d. Pietismus, wo nur freilich die dogmengeschichtliche Stellung gegenüber dem alten Calvinismus und gegenüber dem lutherischen Pietismus gar nicht klar zu machen versucht wird und jede Beziehung auf die allgemeine Kulturgeschichte fehlt. Ritschl, Gesch, des Pietismus, ignoriert diesen Strom des Pietismus ganz ; der Zufall, daß er des Englischen nicht mächtig war, hat seine und seiner Nach• folger Auffassung sehr erheblich und sehr fatal bestimmt. Lehrreich, aber mit Vor­ sicht zu benützen ist Douglas Camp bell; er versteht unter Puritanismus überhaupt den individualistisch-rigoristisch gefaßten Calvinismus und leitet von ,ihm fast die gesamte moderne angelsächsische Welt her, erkennt darin die Grundlage der mo­ dernen Kultur ähnlich wie Kuyper, nur ohne dessen orthodoxe Schattierung; dabei rechnet er auch die Sekten mit in den Puritanismus ein. Das zweibändige Werk hat eine vierte Auflage erlangt, ein Zeichen, welches Echo solche Ansichten finden. Ueber den pietistischen Puritanismus als Sondergruppe gegenüber Presbyterianismus und Kongregationalismus s. auch Shaw, English Church I 6 f., 51-53; die Schil­ derung des Puritanismus der letzten Jahre Elisabeths und der Stuartschen Zeit im

Soziale Stellung des Puritanismus.

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Die soziale Zusammensetzung des Puritanismus umfaßte anfangs Glieder aller Stände. Er ist aber in dem Maße, als er zum eigent­ lichen Heiligungs-Pietismus wurde, die Religion der Mittelklassen geworden und hat sich seit den Neubelebungen durch den Methodis­ mus in England und Amerika immer mehr als solche befestigt. Der theologisch-klerikale Charakter wich vor dem Laieninteresse zurück, Unterschied von dem älteren, mehr von den Theologen getragenen und vom Genfe­ rischen Antikatholizismus bestimmten bei Glass 4-13; es sei ein ,revivalism«, ver­ gleichbar dem späteren Methodismus. Ebenso Dexter, The England and Holland of the pilgrims S. 122 f.; es ist eine •reformation within the reformation«, ein >evangelical purpose«. Diesen Puritanismus in seinem Zusammenfließen mit den Sekten schildert auch Max Weber, der ihn zugleich von dem primitiven Genfer Calvinismus richtig unterscheidet. - Die Frage nach den Gründen der Entstehung dieser pietistischen, die Unterlage der great rebellion und der englischen neueren Ge­ schichte bildenden Strömung erhebt Douglas Campbell I cap. X; er führt sie auf den Einfluß der niederländischen calvinistischen Exulanten zurück, die 75 ooo Fa­ milienväter betrugen und von Elisabeth aus handels- und gewerbepolitischen Grün­ These Netherlanders helped to make England Protestant, and this laid a lasting basis for her wealth; but at the same time they did even a greater work than this; for in helping to make her Protestant they also helped to make her free.« , • , >lt was protestant England, that ultinately controlled the ocean and the markets of the world, colonized America and girded the earth with an empirec S. 429, - Ueber die kulturgeschichtliche Seite der Bewegung s, Taine, Hist. de la litterature anglaise, II 1863 S. 275-435 und vor allem Dowden, Puritan and Anglican, London 1900, Beide schildern den Weltgegensatz und die methodische Askese, die aber nicht Zurückziehung, sondern aktive Beherrschung des Weltlebens sein will ; sehr fein ist bei Dowden die Schilderung der Säkularisation des puritani­ schen Geistes durch den Vergleich von Bunyan und Defoe 274-78; hier heißt es vom verweltlichten Puritaner: • To make the best of both worlds was the part of prudence, and of the two worlds that on which our feet are planted is, at least, nearer and the more submissive to our control. Divine providence is doubtless to be acknowledged, but it is highly desirable to supplement Divine providence by seif help , . , Adventurer, trader , colonist, missionary, we give him hail as one of our makers of empire.« Ueber den moralischen Gegensatz und die Opposition gegen die Elisabethanische Literatur s. Campbell Douglas II 114-136, Der Gegensatz war nicht ohne guten Grund und die literarische Schicht sehr dünn, Hier auch die Erklärung der von Calvin sich sehr unterscheidenden (S. 157) Austerität der Puritaner aus dem Gegen­ satz gegen die Weltlichkeit, Immoralität und Brutalität der Nation S. 152-163, wo­ bei übrigens das calvinistische Element sehr unterschätzt ist ; soziale und politische Reformbestrebungen S. 171-176; s. auch die Würdigung der Gesetzgebung des Barebene-Parlamentes, dessen unterliegende Minorität aus solchen Pietisten bestand, bei Glass; hier standen Pietisten gegen täuferische Enthusiasten.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

die vornehme und höfische Welt wurde durch die Revolution endgültig mit ihm entzweit. Seine Lebensformen paßten nicht für die hohen Beamten und die Seigneurie und konnten auch dem schwer zu brechenden Naturalismus der ländlichen Bevöl­ kerung nur mit großen Einschränkungen aufgezwungen werden. Mit der Konstituierung der ganzen Richtung als Dissent neben der Staatskirche und neben der amtlichen Welt waren daher diese Gruppen von Hause aus auf eine wesentlich geschäftliche Existenz angewiesen. Nach Neu-England war diese bürger­ liche Gesinnung des Mittelstandes von Anfang an durch die Pil­ gerväter übertragen und trotz der wirtschaftlich zunächst überaus primitiven Existenzbedingungen entwickelten sie dort den bürger­ lich-kapitalistischen Charakter des vorherrschenden amerikanischen Elements, das schließlich über die aristokratischen Pflanzer- und Sklavenhalter-Kolonien des Südens gesiegt hat. Es ist die Gruppe, die politisch den Liberalismus trägt und die wirtschaftlich aus den schon im allgemeinen günstigen Grundbedingungen des Cal­ vinismus mit besonderer Energie und mit nüchternem Welt- und Wirklichkeitssinn den Geist entwickelte, der dem bürgerlichen Kapitalismus dieser Völker die ideellen Grundlagen seiner brei­ ten Massenentfaltung und Massenerfolge gab 425). 425) Ueber die Klassenbeziehungen Andeutungen bei Glass S. 6 und 23 f. , Dowden S. 255 f.; bes. Glass 32: >Puritanism was a movement of the people, with not a few leaders from among the aristocracy. For a time its temper was high and cou­ rageous, hopeful and even andacious in new experiments. His religious spirit tended to abolish or to abate social distinctions : all mortal men were alike sinners before God, and, peer or peasant, if true members of the congregation, were equally saints. Its favoured ecclesiastical schema and plateformes were of a democratie kind. Its political ideal was not a loose and incoherent democracy; it aimed at vigour in government, and was willing to confer immens powers upon chosen indi­ viduals; but its political culmination was a Republic.• S. 4: >The mundane spirit of the Renaissance (?) in its lower form of commercial interests by degrees allied itself with Puritanisme,c Später S. 275: >The middle classes advanced in wealth, power, and in influence. After the jagged precipices and forlorn valleys - scenes of spiritual exaltation or dispair - a table land was reached - safe, if unheroic - where man might plough and build,c Energisch ist dem Problem Douglas Campbell nachgegangen, aber er löst das Problem zu äußerlich durch seine Lieb­ lingslehre vom Einfluß der holländischen Immigranten, schildert aber den Sachver­ halt selbst als Erhebung der Mittelklassen durch die religiöse Bewegung zu einer bis dahin unbekannten Bedeutung und dauernden Wirkung für die Emporhebung Englands und Amerikas über die übrige Welt, nachdem das Elisabethanische England

Der niederländische Prä.zisismus,

Der niederländische Calvinismus hat eine ähnliche Entwicke­ lung erlebt, freilich aber andere Ergebnisse hervorgebracht. Hier lagen bei der Fortdauer täuferischer Gemeinden und spirituali­ stisch-mystischer Richtungen, von denen später zu reden sein wird, sowie in der Herausbildung einer starken puritanisch-pietistischen Gruppe innerhalb des staatskirchlichen Calvinismus die gleichen Elemente bereit, die in England zu der Explosion der großen Re­ volution geführt haben. Allein es fehlte det Gegensatz einer verfol­ genden katholisierenden Staatskirche und die innere politische Krisis mit einer ganz dünnen Oberschicht der Renaissancebildung noch gänzlich hinter der Entwickel�ng Europas zurückgeblieben war; S. 483 f., 490 f., 492 : No people on earth have a higher order of virtue than the english middle classes. They bare a courage which never falters, an earnstness of purpose which brooks no obstacles, a love of justice and a fair play, a devotion to home and country, and an instinc­ tive morality and real belief in a Higher Power which are not so common among the Latin races • . • Their daily life was a sermon on the Christian virtues of in­ dustry, temperance and charity« ; 496: The opposition to the arbitrary power of the crown grew with the development of the industrial classes. The tiller of the soil, as Irish history has shown, can exist even when denied almost every human right. But manufactures and commerce require the air of freedom . . . The wealth came, but with it the ideas and spirit that in next century (unter Cromwell) bred an revolution.« Die Abdrängnng der Mittelklassen des Dissent von der offiziellen Welt und die Zuwendung - wie bei den Juden - zum Geschäft, zu kapitalisti­ schem Betrieb der Landwirtschaft, der Manufaktur, des Handels unter Verstärkung durch Hugenotten II 401, ihre Bedeutung für den Liberalismus des 19. Jahrhun­ derts II 404: ,In 1832 they forced the passage of the Reformbill, widening the suffrage. Then they began to look around for social, legal and other political reforms«. Dabei folgten sie jetzt dem puritanischen Amerika : Rejuvenated England has followed America in her system of popnlar education, freedom of religion, free­ dom of the press, the secret ballot, prison reform and the entire reformation of her legal system.c Die Herkunft des secret ballot vom holländischen Kirchen­ Wahlverfahren s. II 437. Trotz der Herleitung dieser Dinge vom Puritanismus ist nun freilich der innere psychologische Zusammenhang von Campbell nicht aufgehellt. Insbesondere würde die Herleitung vom holländischen ,Puritanismus« die Erklärung des letzteren notwendig machen, aber dort behandelt C. die Sache als Selbstver­ ständlichkeit. Im übrigen ist das Verhältnis des englischen und niederländischen Puritanismus ein wechselseitiges, wo die Einflüsse herüber und hinüber gehen. Aehn­ liche Charakteristiken der englischen Mittelklassen bei Held S. 48. Den bei diesen Autoren nur angedeuteten Zusammenhang hat Weber in seinen oft genannten Auf­ sätzen mit feinster Psychologie erläutert und erklärt. Ueber die Uebertragung dieses Geistes nach Neu-England und durch die Holländer nach New-York s. Douglas Campbell II und Doyle, The English in America.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

des Regierungssystems. Vielmehr hatte hier die bürgerliche Repu­ blik sich von vornherein in annähernder Uebereinstimmung befunden mit den profanen Idealen des Calvinismus, und auch seine kirchlichen Ideale fanden schließlich eine leidliche Verwirklichung. So kam es hier nur zur Herausbildung einer stark asketisch und rigoristisch ge­ färbten Richtung der Präzisen, Ernstigen, Feinen, die im Kultur­ gegensatze gegen den humanistischen Renaissance-Geist und gegen die Begleiterscheinungen eines märchenhaften, alle europäischen Völker überflügelnden wirtschaftlichen Aufschwunges sich zu engeren Kreisen innerhalb der Volks- und Staatskirchen zusam­ mentaten. Eine Neigung dazu brachte der in Emden 1571 erstmals einheitlich organisierte und im Exil das Vaterland mit einer kirch­ lichen Gesamtordnung bedenkende Calvinismus von Hause aus mit. Während in der Heimat zunächst der spanische Druck und dann ein von den Ortsbehörden mühsam geregeltes kirchliches Chaos herrschte, organisierten die Calvinisten von der Fremde her nach hu­ genottischem Vorbild ihr Kirchentum, das in seiner Sonderung des weiteren getauften und des ausdrücklich in der Konfirmation aufge­ nommenen engeren Mitgliederkreises, sowie in seiner strengen Sitten­ zucht zugleich die Merkmale kleiner und strenger Exulantengemein­ den an sich trug. Seit der Utrechter Union allmählich zurückkehrend, schufen sie im Bündnis mit den verschiedenen Staatsgewalten der einzelnen Provinzen calvinistische Staatskirchen, die freilich anders­ gläubige Minoritäten neben sich dulden und eine erhebliche Staats­ aufsicht, namentlich betreffs des Zuchtgerichtes, über sich ergehen lassen mußten. Auch standen sie überall in Gegensatz gegen die ältere und liberalere niederländische Reformbewegung, sowie gegen die wesentlich an Handel und Toleranz interessierten Großstädte. Schon in Emden machte sich der Gegensatz der »Präzisen« d. h. der schroffen Calvinisten gegen die »Rekkelijken« d. h. die verträglichen Vermittler geltend. Der Gegensatz verschärfte sich nach der Aus­ bildung der Staatskirchen. Man kämpfte um die strenge calvinisti­ sche Verfassung, um das strenge Bekenntnis und um das ethische Ideal der Rigorosität. »Präzise« und ,Libertiner« standen sich schon jetzt gegenüber. Das erste Interesse der strengen Calvi­ nisten in dieser Lage war die Ausscheidung der überwiegend humanistisch und erasmisch bestimmten, zugleich für die Kir­ chenhoheit des Staates und für die selbständige Verschieden­ heit der einzelstaatlichen Verhältnisse eintretenden Arminianer und der Kampf gegen die hinter ihnen stehenden Stände. Das

Der niederländische Präzisismus,

gelang durch das Bündnis der gleichfalls die nationale Einheit er­ strebenden oranischen Statthaltergewalt mit dem strengen Calvinis­ mus auf der Dordrechter Nationalsynode 1618. Diese Synode be­ schloß zugleich eine Fülle von Maßregeln, die mit Unterstützung der Obrigkeiten einer strengen Calvinisierung der Niederländer die­ nen sollten. Allein man war sich darüber klar, daß das Ziel mit diesen äußerlichen Mitteln allein nicht zu erreichen war, wie denn auch Arminianismus und Erastianismus bald wieder geduldet werden mußten, je nach dem Verhalten der Einzelstaaten. Es bedurfte viel­ mehr einer innerlich seelsorgerlichen Arbeit an den Individuen, der inneren Ueberwindung oder, wenn das nicht gelang, der Ausschei­ dung der »Libertiner« durch die Kirchenzucht. Die Mittel dazu entlehnte man, nachdem schon Taffin und Udemann vorangegangen waren, vom englischen Puritanismus. Wilhelm Teellinck, der Vater des niederländischen Pietismus, nahm seinen Ausgang von englisch­ puritanischen Reiseeindrücken. Auch die übrigen Führer, insbeson­ dere Voet, benutzten reichlich englische Literatur. Uebersetzungen aus dem Englischen folgten. Einer der Hauptautoren des niederlän­ dischen Pietismus, Amesius, war englischer Exulant, und noch Lo­ densteyn wollte sich auf seine praktische Tätigkeit durch eine Reise nach England vorbereiten. So ist denn auch hier der Ueber­ gang des Calvinismus. in einen mehr individualistischen, konven­ tikelmäßigen, seelsorgerlichen und schließlich stark mystisch ge­ färbten Pietismus ein beinahe unmerkbarer. Aber mit dem Fort­ schritt der darin liegenden Folgerungen entfernte sich doch dieser dogmatisch völlig orthodox bleibende und auch die Volkskirche festhaltende Pietismus immer deutlicher von dem primitiven Cal­ vinismus einer durch die Christusherrschaft geheiligten einheitlichen Volksgenossenschaft. Es entstand ein ausgebreitetes Konventikel­ wesen, eine reiche aszetische Literatur, ein auf die Parole der theologia regenitorum eingeschworener Pfarrstand, die Laienbe­ teiligung an den Konventikeln, wobei auch Frauen zur Lehre zu­ gelassen wurden. Die Kinder der Gnade und der Erwählung son­ derten sich von den Kindern der Welt, sie hielten den strengen Sabbat, pflegten die Kasuistik und die Gewissensforschung, übten die methodische Askese, wobei man auch jesuitische und katho­ lische Anregung nicht verschmähte. Man betrieb innere und äu­ ßere Mission, drang auf Bekehrung und sichtbare Zeichen der Bekehrung. Insbesondere pflegte man auch hier, wie in England, die Lehre von den guten Werken als Zeichen und Erkenntnis-

III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

mitteln der Erwählung, womit jene strenge methodische Gesetz­ lichkeit und Selbstdisziplin verbunden war. Auch hier äußerte sich der Individualismus in Tagebüchern, Selbstbiographien, Be­ richten über erbauliche Sterbestunden, in der Pflege Erastianer« sind, wie aus eben diesem Grunge die Theologie der Stuarts arminianisch war oder genannt wurde. In diesem Sinne nannte der Parti­ kularist, Staatskirchler und Humanist Oldenbarnevald die Gomarischen Calvinisten >Puritaner und Doppelpuritaner«, Campbell 304. Es ist also schon hier nicht bloß der dogmatische Gegensatz der Prädestinationslehre. Daß im weiteren der Gegensatz ein solcher gegen die Weltlichkeit eines politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich fortschrittlichen und der Askese widerstrebenden Volkes ist, geht aus den Klagen der >Ernstigen« hervor. Sie bekämpfen vor allem die Exemtion bestimmter praktischer Berufe von den religiösen Regeln und die Beschränkung der letzteren auf das bloß persönliche und private Leben. Sie streifen dabei of geradezu an die Formel ,der innerweltlichen Askese«. Vgl. Ritschl I 123: • Voet nimmt als Definition der Mystik . . • den Satz von Gerson an: Vita contemplativa est status hominum e x t r a m u n d u m . . . Voet ( der selbst die mystische und asketische Literatur des Katholizismus stark rezipierte Heppe 151) erkennt nun in dieser Lebensrichtung die Grundlage des Mönchtums . • . und wendet dagegen ein : unde ipsos videre est separare invicem primae tabulae praecepta a p r a e c e p t i s s e c u n d a e t a­ b u 1 a e.« S. 274: »Es ist freilich sachgemäß, daß, wenn die Kontemplation, deren Heimat das Kloster ist, durchgeführt werden soll, das Gesetz der kanonischen Stunden (d. h. die puritanische Disziplin und Zeiteinteilung bis zur Regelung des erlaubten Schlafes) wieder entdeckt wird. Aber d a s s e I b e s o 11 n u r g e I t e n i n n e r h a 1 b d e r b ü r g e r I i c h e n G e s c h ä f t i g k e i t, welche in der refor­ mierten Kirche ebenso legitimiert wie dem niederländischen Volke geläufig ist.« S. 278: »Hier begegnen uns die Themata von Selbstprüfung und Buße, von Selbst­ verleugnung und Präzisität, v o n g e i s t 1 i c h e r D u r c h d r i n g u n g d e r w e 1 t1 i c h e n G e s c h ä f t e u n d S t r e b e n n a c h V o 11 k o m m e n h e i t , endlich von öffentlichem und Privatgottesdienste. Busken-Huet gibt nach einem Buche van der Tunks über den Theologen Bogermann II 84 eine Schilderung der asketischen Forderungen mit der Zusammenfassung: ,Hunne levensbeschouwing was somber en stemmig als hun kleed. Zy geleken m o n n i k e n, d i e h u n n e c e I v e r1 a t e n h a d d e n, en het boze menschdom wilden overreden om, boete doende, de w e r e I d v o o r z i c h t o t e e n k I o s t e r t e m a k e n. c Das ist doch über­ all dasselbe wie das früher von mir zitierte Wort Sebastian Franks (Kultur d. G.

Sozialer Charakter des niederländischen Präzisismus.

massen des Volkes beherrschte, ist aus den bis jetzt vorliegenden Darstellungen nicht zu erkennen. Bekannt ist, daß die reiche Kauf­ mannschaft, vor allem Amsterdams, arminiani�ch gesinnt war und daß die Politiker die Toleranz als das Heil der Niederlande schätz­ ten ; sie kam freilich wesentlich vertriebenen englischen und fran­ zösischen Calvinisten, den Mennoniten und Sekten, sowie den spa­ nischen und portugiesischen Juden zugute, also Gruppen, die po­ litisch und wirtschaftlich der calvinistischen Republik homogen waren. Bekannt ist auch, daß die städtische Bevölkerung weit überwog über die ackerbauende, und daß das Bauerntum bereits einem kapitalistisch-technischen Betrieb der Landwirtschaft sich zuwandte, also von dem bürgerlichen Calvinismus nicht allzuweit abstand ; trotzdem bekämpften die Pietisten lebhaft das Kirmeß­ treiben und wird man auch hier in dem bäuerlichen Wesen man­ chen Widerstand gegen ihren Rigorismus vermuten dürfen. Der überwiegend bürgerliche und mittelständische Charakter wird also auch hier von diesem strengen Calvinismus angenommen werden dürfen. Er hatte hier nur keinen Anlaß, in einen so scharfen Gegen­ satz zu dem seigneuralen Lebensstil zu treten wie das englische Puritanertum und sein Nachfolger, der Dissent und die Evangeli­ kalen. Er fühlte sich hier mit dem Geiste der Republik und der bürgerlichen Berufsarbeit einig, so daß man besondere Sozial­ lehren des niederländisch-reformierten Pietismus nicht herausheben kann 427). N. S. 445): ,Die Weltverleugnung ist allen Christen geboten; hilft nicht, daß du es von dir schiebst auf die Mönch.« Für Rachfahl ist das alles nur »gemein. christliche Moral«. Leider folgt ihm darin auch Knodt S. 26. 427) Eine Richtung auf die niederen Volksklassen behauptet Heppe S. 51; Knap­ pert 172 spricht von demokratischen Neigungen der präzisen Prädikanten, die ihrer mittelständischen Herkunft entsprechen; das Gleiche betont die schon erwähnte Diss. von Geibel, der im Ganzen den Großhandel auf der Seite des Libertiner, das Ge­ werbe auf der Seite der Präzisen sieht ; zum übrigen s. Laspeyres, Busken-Huet und Douglas Campbell. - Charakteristisch sind die Ausführungen des Londoner Kaufmanns Lamb gegenüber Cromwell über die Ueberlegenheit der Holländer, die der letztere mitteilt II 327 : >In Holland when a merchant dies, bis property is equally divided among bis children and the business is continued and expanded, with all traditions and inherited experience. In England, in the contrary, the property goes to the eldest son, who often sets up for a country gentleman, squanders bis patrimony, and neglects the business by which bis father has become enriched . . • The honesty of the Hol­ landers in their manufacturing and commercial dealings. When goods are made or put up in Holland, they sell everywhere without question ; for the purchaser knows that 50

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

Der Pietismus in den niederrheinisch-reformierten Kirchen, die anfänglich eng mit dem niederländischen Calvinismus zusammen­ hingen und auch nach der Aufrichtung der niederländischen Staats­ kirchen dauernd von ihm aus beeinflußt wurden, bedarf keiner näheren Charakteristik. Es wiederholen sich hier dieselben Züge. Der Pietismus blieb hier nur durchgängiger erhalten, da der Cal­ vinismus in diesen Ländern nie zur Staatskirche wurde, sondern im­ mer - erst unter dem Kreuz, dann geduldet und von Brandenburg her gestützt, schließlich in die rheinisch-westfälische Kirche aufge­ nommen - sein Existenzrecht durch eine gesteigerte praktische Heiligkeit zu beweisen genötigt war und nie mit Volks- und Massen­ kirchen zu tun hatte. So hat sich hier der Pietismus insbesondere stark erhalten bis heute und bildet bis heute den Boden eines üppig wuchernden Sektentums. Von politischen Wirkungen die­ ses Pietismus ist nichts zu berichten; er blieb als Minderheits­ religion von breiteren politischen Wirkungen ausgeschlossen, wenn er auch bis heute dem preußischen Autoritätswesen nicht hold ist. Die wirtschaftlichen Wirkungen sind bekannt. Sie beschränken sich hier nicht auf einen pietistischen Mittelstand, sondern um­ fassen gerade die großen und reichen Fabrikanten und Handels­ leute, begreiflich genug, da hier eine privilegierte Grundherren­ schicht in der Kirche überhaupt fehlt und keine Gesellschafts­ gruppe in ihr vertreten ist, mit der pietistische Lebensgrundsätze unverträglich wären 428). they are exactly as represented in quality, wheight, and measure.« Laspeyres wei,t zur Erklärung des Hochstandes auf die Toleranz und die Anziehung aller Gewerbe­ treibenden hin, außerdem auf die ,moralischen Vorzüge«, bestehend in Sparsam­ keit und Ehrlichkeit, ohne aber der letzteren Frage in ihrem Verhältnis zur Kon­ fessionalität nachzugehen S, 122-124. Das hat auch keiner der anderen Autoren getan, wenn auch sowohl Douglas Campbell als Busken-Huet die Blüte der Repu­ blik mit ihrem puritanischen Calvinismus in Verbindung bringen. Im allgemeinen werden auch hier für die nähere Beantwortung dieser Frage die Weberschen Ana­ lysen maßgebend sein; Andeutungen bei Weber, Antikritisches usw,, S. 186-188 und ,Schlußwort« S. 570-571. Er bezeichnet den niederländischen Puritanismus als einen >in wichtigen - aber nicht in allen Punkten - immer wieder gebro­ chenen«. Die Missionsbestrebungen in den Kolonien z.B. wurden unterdrückt, über­ haupt dort das Religionswesen nach reinen Handelsgesichtspunkten geordnet, auch die Sklaverei trotz einiger Bedenken gerechtfertigt Laspeyres 106, 111. 428) S. Göbel, Gesch. des christlichen Lebens. Ein großer Teil der wichtigen Stellen ist bereits oben angeführt ; hier ist vor allem deutlich, wie Calvinismus und Pietismus ineinander übergehen. S. überdies Ritschl, Gesch. des Pietismus 1,

Reformierter Pietismus am Niederrhein, in der Schweiz und Amerika.

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Ebensowenig bedarf der reformierte Pietismus der Schweiz einer Schilderung. Er hat seinen Ursprung in Einwirkungen des deutschen Pietismus, ist also nicht von Hause aus vom Calvinis­ mus her zu verstehen. Auch die Erweckungen des 19. Jahrhun­ derts in der französischen Schweiz erfolgten unter auswärtigen Einwirkungen. Aber hier hat doch der reformierte Boden stark auf den Pietismus abgefärbt und ihm gleichfalls den Charakter eines kirchlichen Präzisismus gegeben. Politisch gehören hier die Pietisten zu den aristokratisch-konservativen Kreisen, freilich ist es eine republikanische Aristokratie. Die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen sind in dem Industrialismus der welschen Schweiz und in dem Reichtum Basels sowie in den großen Lei­ stungen für das Gemeinwohl die auch sonst beobachteten 429). In Nordamerika vollends sind calvinistische, puritanische und sektenhafte Einflüsse nicht zu scheiden. Alles Einzelne bedürfte hier erst der genaueren Erforschung. Es kann in diesem Zusam­ menhang nur auf die allgemein anerkannte Tatsache hingewiesen werden, daß überall der Puritanismus in der führenden englischen Schicht als ein bis heute wesentliches Element des amerikanischen politischen und sozialen Lebens bezeichnet wird, wenn auch frei­ lich der genauere Zusammenhang bis jetzt meines .Wissens nir­ gends aufgehellt worden ist 4�0). Blicken wir von hier auf unsere gesamte Darstellung zurück, so zeigt sich der ganze Unterschied des alten und des modernen Simons, Synodalbuch, und die >Kirchen unter dem Kreuz«. Der Pietismus des Wup­ pertales mit seinen wirtschafts-ethischen Folgen darf im allgemeinen als bekannt gelten. 429) S. Ritschl I; das übrige beruht auf allgemeinen Eindrücken ; jedenfalls ist Basel ein Paradigma pietistisch-reformierter Sozialethik. 430) S. Münsterberg, Die Amerikaner, 1904, und W. v. Polenz, Das Land der Zu­ kunft, 1903; beide bieten freilich gerade hierüber wenig Auskunft; auch bei Tocque­ ville finden sich nur Andeutungen; unergiebig ist W. Müller, Das religiöse Leben in Amerika 1911; mehr bietet Rauschenbusch. Viele Einzelbeispiele gibt Max Weber, dessen Studien überhaupt von der Analogie des niederrheinisch-westfälischen Pietismus mit englischen und amerikanischen puritanischen Gruppen ausgehen. Gerade bei der starken Verschiedenheit dieser Gruppen fallen diese Analogien um so stärker ins Gewicht als Zeugnisse einer bestimmten sozial-ethischen Tendenz und Folge (was beides nicht immer zusammenfällt) des Calvinismus. Weber betont, dass diese Folgen auch auf einem an sich sehr ungünstigen Boden, wie Ostfriesla�d und in den jungen neuenglischen Kolonien, eingetreten seien. Im übrigen ist selbstverständlich und zeigen schon die gegebenen Beispiele, daß jedesmal außer dem Calvinismus noch andere Mächte mitbestimmend sind.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus,

Calvinismus. Mit dem Freikirchentum und seinen demokratisch­ liberalen Begleiterscheinungen, sowie mit dem pietistischen Rigo­ rismus eines starken , sich selbst kontrollierenden, in weltlichen Dingen sehr utilitarischen Individualismus ist der Neucalvinismus weit abgerückt von dem alten, sehr aristokratischen und dem Luthertum noch recht nahe stehenden Calvinismus der Genfer Gründungszeit. Aber eben dadurch ist er zugleich ein großes neues sozialethisches Prinzip auf dem Boden des Christentums geworden. Die christliche Ethik gewinnt hier ein ganz anderes Gesicht als in den beiden anderen Konfessionen, vor allem als im Luther­ tum. Hatte bei diesem gerade die Innerlichkeit der christlichen Liebesmoral die Fernhaltung von den äußeren Dingen der Rechts­ und Staatsordnung gefordert; hatte es ferner den Ausschluß der Konkurrenz und des Kampfes ums Dasein in der ständisch-zünf­ tigen Gliederung befördert, von da aus den Rückzug des In­ dividuums in die innere Seligkeit und äußerlich die demütige Unterwerfung unter die gegebenen aristokratischen Ordnungen des Lebens befürwortet: so verlangt der Neucalvinismus christlich­ liberale Ordnung von Staat und Gesellschaft, Selbständigkeit und Befreiung d�s Individuums, Gleichheit des Rechtes und der Le­ bensmöglichkeiten, internationale Friedensordnungen und Ueber­ windung des Kampfes ums Dasein durch Selbstdisziplin und tätige soziale Vereinshilfe. Dadurch erst glaubt er die christlichen Ideale der Freiheit und der Bruderliebe zu verwirklichen und hierfür be­ ruft er sich auf die Bibel als auf das große soziale Lehrbuch der Menschheit. Die patriarchalisch-konservativen Elemente der christ­ lichen Ethik sind zurückgetreten und die freiheitlich-sozialrefor­ merischen sind dafür in den Vordergrund gestellt 481). Die Ent481) Ueber die mit dem Neucalvinismus verbundene Auffassung des christlichen Sozialismus s. Rauschenbusch und Holl, Calvinreden S. 35. - Ueber das Verhält­ nis zum Luthertum s. die charakteristischen Aeußerungen bei Kuyper S. 15: >In allen lutherischen Landen ist die Reformation mehr von den Fürsten als vom Volke ausgegangen, ist dadurch unter die Macht der Obrigkeit gekommen •••• und hat infolgedessen weder das soziale noch das politische Leben in Ueberein­ stimmung mit ihrem Lebensprinzip umgewandelt. Das Luthertum ist kirchlich und theologisch geblieben, nur der Calvinismus hat in und außer der Kirche seinen Stempel auf alle Aeußerungen des menschlichen Lebens gedrückt. Vom Luthertum spricht denn auch niemand als von der Schöpfung einer eigenen Lebensform, selbst der Name kommt kaum vor; während die Kenner der Geschichte immer einstim-

Die Ethik d. Neucalvinismus i.Verhältn. zu Luthertum u.Katholizismus.

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wicklung der beiden Konfessionen ist so eine geradezu entgegen­ gesetzte geworden. Das Luthertum ist in Preußen-Deutschland zu der �tütze der konservativ-aristokratischen, rechtspositivistischen und gewaltgläubigen Lebensordnung geworden und entfaltet in seinen echten Anhängern die christlichen Tugenden einer welt­ freien Innerlichkeit neben denen der Ergebung, Geduld, Pietät, Fürsorge und konservativen Beharrlichkeit. Der Calvinismus dage­ gen ist zu einer christlichen Akzentuierung des demokratisch-liberamiger dem Calvinismus als Schöpfer einer eigenen Welt menschlichen Lebens hul­ digen.• So fühlt er sich als das einzige große christliche Sozialsystem neben dem Katholizismus S. I o : • Vom Romanismus allein kann man sagen, daß er seinen Lebensgedanken in einer eigenen Welt von Empfindungen und Lebensäußerungen verkörperte, Aber neben und gegenüber diesem Romanismus trat nun der Calvinis­ mus auf, nicht allein um eine andere Kirchenform, sondern um eine ganz andere Form des menschlichen Lebens zu schaffen, der menschlichen Gesellschaft eine andere Weise des Bestehens zu geben und mit anderen Idealen und Vorstellungen die Welt des menschlischen Herzens zu bevölkern. « ,Diese Einheit der Lebens­ konzeption gibt nicht der enge Begriff des Protestantismus •.•, sondern die findet man allein in dem mächtigen geschichtlichen Prozeß, der als Calvinismus sein eigen Bett für den gewaltigen Strom seines Lebens grub, Dank diesem Einheitsbewußt­ sein des Calvinismus können Sie hier in Amerika, können wir in Europa wieder neben dem Romanismus und gegenüber dem modernen Pantheismus Stellung neh­ men.• - Betreffs des Katholizismus sei hier noch das Kontrastbild erwähnt bei Prezzolini, Wesen, Geschichte und Ziele des Modernismus, S. 58-60: ,Das katho­ lische Ideal ist ein gut genährtes, wenig denkendes, von einer Theokratie geleitetes Volk. Aber diese Art sozialer Betätigung ist grundverschieden von der, die sich im 19. Jahrhundert gebildet hat, und zwar in zwei Punkten: I. in der Priester­ vorherrschaft und 2. in der Wohltätigkeit ..• An Stelle der Theokratie tritt eine starke Laicisierung und an Stelle der Karität das neue Recht einer gründlichen Sozialreform . . . Gegenüber der Sozialdemokratie ist die Haltung der lateinischen Katholiken geteilt. Die alten Katholiken vertreten den Standpunkt der Nächsten­ liebe und des Wohlwollens und kritisieren fortgesetzt den ökonomischen Liberalis­ mus . , . Sie glauben, daß es genügen würde, Zünfte nach Art der mittelalterlichen Gilden, landwirtschaftliche Kreditkassen, Gesellschaften �u gegenseitiger Unterstüt­ zung zu gründen und eine Wahlbewegung in den Gemeinden hervorzurufen • , Ihr höchstes Ideal ist das einer mittelalterlichen Gesellschaft auf theokratischer Grund­ lage mit Arbeiterkorporationen. Die jungen Katholiken gehen allmählich kühner vor, sie wollen modernere rascher wirkende Methoden und scheuen sich nicht, die Kampfesweise und Werbetätigkeit der Sozialdemokratie nachzuahmen und wei�en im Gegensatz zu den alten Katholiken eine Verbindung mit den reaktionären bürger­ lichen Parteien zurück.« Daher sind sie in Italien bekanntlich vom Papst zensuriert worden.

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III. Protestantismus.

3. Der Calvinismus.

len Gedankens geworden und entfaltet die Tugenden der Selbstän­ digkeit, Freiheit, Menschenliebe, christlichen Weltverbesserung. Die beiden Grundelemente der ältesten christlichen Ethik haben sich auf beide Konfessionen verteilt, und dabei hat jedes eine außer­ ordentliche Verstärkung erfahren. Demgegenüber ist der Katholizis­ mus bis heute eine Vereinigung beider Elemente geblieben und be­ tont nach Bedarf bald mehr seine demokratisch-naturrechtliche, bald mehr seine aristokratisch-patriarchalische Seite, sicher, jeden Kon­ flikt dieser Richtungen durch die täglich sich stärkende kirchliche Zentralleitung beschwören zu können. Andererseits aber bleibt der Calvinismus in seiner Grundtendenz auf möglichste Volks­ kirchlichkeit und in seiner Betonung der Ungleichheit der Menschen in allen außerreligiösen Beziehungen doch von dem reinen Vereins­ kirchentum und der egalitär-kommunistischen Idee der strengen Sekte innerlich geschieden trotz aller herüber- und �inübergehen­ den Beziehungen. Der auf die Prädestination begründete Indi­ vidualismus ist und bleibt ein anderer als der auf die rationalistische Freiheitslehre des Täufertums gestützte. Nun ist aber freilich der letzte Punkt mit der Betonung des bloßen Unterschiedes nicht erledigt, indem gerade dieser Unterschied in der neueren Zeit stark zurückgetreten ist. Der Cal­ vinismus hat sich formell den Sekten genähert. Andrerseits stehen die nach der Reorganisation der Täufer zum Mennonitentum auf­ tretenden späteren Sekten alle bereits unter größerem oder gerin­ gerem Einfluß des Calvinismus. Das Freikirchenprinzip und der Pie­ tismus haben vollends beide Hauptgruppen sich noch mehr nähern lassen. Damit erst ergibt sich die v o l l e h e u t i g e We l t s t e l l u n g u nd s o z i a l e K u ltur b ede u t u n g d e s C a l v i n i s m u s. Der Cal­ vinismus und das Sektentum der Baptisten, Methodisten, Salutisten gehen heute zu einer großen religiösen Einheit zusammen, die sich zugleich als ein großer soziologischer Gesamttypus der christlichen Idee darstellt. Er ist wesentlich getragen vom Angelsachsentum, aber auf dieses nicht beschränkt, sondern auf allen calvinistischen Gebieten nachweisbar. Er hat aufs stärkste auch die religiö.s-ethi­ sche Ideenwelt und Praxis des heutigen Luthertums beeinflußt, vor allem mit Hilfe des hier gleichfalls entstehenden, wenn auch charakteristisch verschiedenen Pietismus 432). 432) Das ist ein Hauptgedanke von Max Weber; aber auch von Kuyper ; außerdem s. Knodt 45-46, auch Holl in Calvinreden S. 26. Auch Held hat das beobachtet S. 303: ,Die arbeitenden Klassen hatten sich läng�t von der vornehmen

Verschmelzung von Neucalvinismus u. Sekten z. asket, Protestantismus,

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Diese Verschmelzung ist einerseits darin begründet, daß das im Calvinismus von Hause aus stark mitberücksichtigte und ver­ arbeitete Sektenmotiv in seiner weiteren Entwickelung immer deutlicher hervortrat und sich seiner bemächtigte. Das hat die ganze bisherige Untersuchung gezeigt. Es fand seine Grenze nur an der positiven Weltbejahung und an der sachlichen Selbst­ auffassung als Kirchenanstalt trotz aller formellen Vereinskirch­ Iichkeit. Auch ist der ursprünglich vom Täufertum ihn so scharf scheidende dogmatische Prädestinationsgedanke vielfach stark zu­ rückgetreten, ohne daß darum die aus diesem herausgebildeten praktisch-ethischen Folgerungen verschwinden brauchten. Der mit jenem Dogma verbundene Heiligungsgedanke lebt selbständig fort und führt zu dem Ideal sittenstrenger Freikirchen. Aber gerade an diesem Punkte kam andererseits auch die Entwickelung der Sekten ihm entgegen, indem diese mit der Ausbreitung und Festsetzung unter toleranten Staatsverhältnissen zu breiten Massen­ gemeinden wurden und damit sowohl die strenge Abschließung der Heiligungsgemeinde wie den politischen und wirtschaftlichen Weltgegensatz aufgaben oder doch ganz bedeutend einschränkten; insbesondere stehen die modernen Sekten schon in ihrer Ent­ stehung zugleich unter dem Einfluß calvinistischer Ideen und unter­ scheiden sich erheblich vom Waldenser- und Täufertum. Beide Gruppen begegnen sich in der Betonung der Freiwi!Jigkeit und der methodisch-asketischen Strenge der Lebensführung. So wuchsen sie zusammen zu einer Gesamtmacht, die man im Unterschiede von dem weicheren, läßlicheren und prinziploseren Luthertum den >asketischen Protestantismus« genannt hat. Man könnte sie auch den individualistischen und aktiven Heiligungs-Protestantismus nennen, wenn diese Bezeichnung nicht zu umständlich wäre. Die­ ser asketische Protestantismus ist heute, auf die historische Wir­ kung und Ausdehnung gesehen, die Hauptmacht des Protestantis­ mus, indem er seinen Einfluß weit über die eigentlich pietistisch-as­ ketisch :.ernsten« Christenkreise hinauserstreckt. Er bedeutet neben dem mittelalterlichen Katholizismus den zweiten großen Haupt­ typus christlicher Soziallehren , hinter dem die feineren aber Staatskirche abgewendet, und ihr religiöses Bedürfnis wurde insbesondere durch die Sekten befriedigt, in denen auch der demokratische Geist der Puritaner in ab­ geschwächten Formen forlebte.• Auf Webers Sätze hierüber ist am Schluß noch zurückzukommen,

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III. Protestantismus. 4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

schwächeren Entwürfe der Soziallehren in der Mystik, im Spiritua­ lismus, im Luthertum und im philosophischem Neuprotestantismus an historischer Wirkung weit zurückstehen. Wenn der Katholizis­ mus die nötige Komplexität und Autorität zugleich hatte, um das Gesamtleben zu umfassen und zu leiten, so hat der asketische Protestantismus die nötige Härte und Biegsamkeit, die religiöse Energie und die nüchterne Sachlichkeit, die Anpassung an das ethische Denken des Durchschnitts und die dogmatische Einfach­ heit, um auf seine Weise ähnlich das Gesamtleben zu bemeistern; und, wie jener mit den mittelalterlichen allgemeinen Landesver­ hältnissen zusammenhing, so dieser mit den modernen politisch­ wirtschaftlich-sozialen und technischen Entwickelungen. Um aber das zum vollen Verständnis zu bringen, muß erst die Entwickelung des Sektentypus auf protestantischem Boden nachgeholt werden, wobei sich uns in der Mystik und dem Spiri­ tualismus noch eine weitere für die Soziallehren aller· Konfessionen schließlich recht wirksame Macht darstellen wird. Insbesondere wird dabei die Bedeutung der Umbildung des Sektentypus zu großen Massengemeinden, die Ermöglichung ihrer freien Bewegung auf dem Boden des toleranten modernen Staates und die Anpassung der Sekten an die bürgerliche Berufswelt hervortreten. Indem aber hierin jene angedeutete Ausgleichung mit dem Neucalvinis­ mus stattfindet, werden die Soziallehren dieses letzteren erst mit jenen zusammen zu abschließender Darstellung kommen können.

4. S e k t e n t y p u s u n d M y s t i k a u f p r o t e s t a n t i s c h e m B o d e n. Der Protestantismus ist mit den beiden großen Konfessionen nicht erschöpft. In ihnen wirkte sich die kirchlich-anstaltliche Grundidee der Reformatoren aus, durch welche die Reformations­ kirchen mit dem altchristlichen Grundgedanken, vor allem aber dem mittelalterlichen Katholizismus und seinem Prinzip einer allgemeinen, die Kultur beherrschenden Volkskirche zusammen­ hingen. Allein wie der mittelalterliche Kulturkatholizismus von der Komplementärbewegung der Sekte und der Mystik stets begleitet war und die Motive beider zum Teil auch in sich selbst eingeschmolzen hatte, so hatte auch der Protestantismus beides sowohl in sich als neben sich. Wie die Motive beider neben denen

lJie Komplementärbewegungen in und neben dem prot, Kirchenbegriff.

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des Kirchentypus schon im Neuen Testament enthalten waren us), so brachte die Geltendmachung des Neuen Testaments im Pro­ testantismus außer dem Anstaltsgedanken auch jene beiden an­ deren Ideale zu lebhafter Wirkung. Als er aber dann demge­ genüber seinen kirchlich-anstaltlichen Charakter und seine Be­ ziehung auf eine absolute, von außen gegebene, allbeherrschende Offenbarungswahrheit herauszuarbeiten genötigt wurde, zwang er sie zu einer selbständigen Existenz neben sich. Jedoch auch dann noch blieben sie trotz alles schroffen Gegensatzes immer in eng­ ster Wechselwirkung mit ihm und erlangten schließlich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine steigende Rückwirkung auf ihn Insbesondere die zwischen dem Calvinismus und ihnen stattfin­ dende Ausgleichung mußte bereits angedeutet werden. Das ist begreiflich genug. Die protestantische Kirchenreform war ja in ihrer Entstehung durchwirkt von jenen beiden neben dem Kirchen­ typus herspielenden Tendenzen und verdankte ihren Gegensatz gegen den Katholizismus zum großen Teil der Mitwirkung jener beiden. Durch die Vermittelung der Mystik drang Luther erst zu der persönlichen Heilsgewißheit hindurch, die nicht mehr in ding­ lichen, die Sündennot nicht stillenden Sakramenten, sondern in inneren seelischen Vorgängen die überwindende und erhebende Macht der Gnade fand. Die Strenge und Reinheit seiner biblischen Gesinnungsethik machte an Stelle des Kompromisses von Natur 438) Vgl. Hegler, Geist und Schrift bei Sebastian Franck, 1892 S. 168 Anm. Die Bedeutung der Bergpredigt dürfte noch schärfer hervorgehoben werden, wie das mit Recht in den gleich zu erwähnenden Schriften L. Kellers geschehen ist. Ueber die maßgebende Bedeutung der Bergpredigt bei den Täufern s. Gottfried Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie 1700 II 529 f. Ebenso bei Se­ bastian Franck, Chronica, Zeitbuch und Geschichtsbibel 1536 1 in der Ketzerchronik S. 146 : >Darum gehören hierher (unter die falschen Schriftverehrer) alle die, so die Schrift halbieren und nit ebenso streng ob einem Wort Gottes halten als ob dem anderen und die 5,-7, Kap. Math., 6. Kap. Lucae nit so gern und fleißig predigen als die Epistel zu den Römern und Galatern,« Vgl. auch Dilthey in seinem bedeutenden Aufsatz >Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert«, Archiv f. Gesch. d, Philos, V 1892 ; sehr treffend S. 378: >In der protestantischen Gemeinde lag das Prinzip des inneren Wortes mit dem der Schrift im Streit : die Evangelien mit Paulus : das apostolische Leben mit den Menschen wie sie sind : das christliche Ideal mit der Staatsraison : vor allem doch das Wort der Bibel mit der in der Reformation fortgeschrittenen Gestalt des reli­ giösen Lebens.«

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

und Uebernatur die Persönlichkeitsmoral der Bergpredigt und das Priestertum aller Gläubigen zur Regel des Sittlichen und rang nach einer neuen Auseinandersetzung mit den Formen und Wer­ ten des natürlichen Lebens, wobei Luther anfangs oft die Grenze der Sekte streifte. Erst als das Bedürfnis nach Unmittelbarkeit der Gnadengewißheit fest und ausschließlich auf das objektive Wort von der Sündenvergebung um Christi Sühntod willen zurückgehen gelernt hatte; als die inneren Vorgänge sich auf die Ergreifung der von außen schlechthin dargebotenen Sündenvergebung konzentriert und alles andere zu einer hieraus fließenden Folge gemacht hat­ ten, als von jener objektiven Heilsgrundlage aus die Heilsanstalt der Vermittelung der erlösenden Gewißheit durch Wort und Sakrament sicher konstruiert war ; schließlich als von der gött­ lichen Heilsanstalt aus die Gesinnungsethik der Bergpredigt in die festen Formen des Berufs- und Gesellschaftslebens hineingeleitet war: erst da vollzog sich die Scheidung von den Geburtshelfern und ihre immer schroffer werdende Abstoßung 4�4). Diese Scheidung hat aber nicht gehindert, daß das ursprünglich Zusammengehö­ rige sich immer wieder suchte, daß die ausgeschiedenen Motive der Sekte und der Mystik sich als relativ zum Protestantismus gehörig empfanden. Sie haben auch in der Tat auf seinem Boden eine eigentümliche, von der älteren sehr verschiedene Entwicke­ lung erlebt und unterscheiden sich wesentlich von der Fortbil­ dung der gleichen Motive auf dem Boden des nachtridentinischen Katholizismus. Von beiden Motiven hat nun der Sektentypus bereits früher "84) Das ist mit grausamem Witz, aber mit einleuchtender Klarheit von Luther in der Schrift > Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakra­ ment« von 1525 (B. A. Ergänzungsband I) geschehen. Sofern die Geguer mit ihm die ganze Bibel, vor allem auch den Paulus, als inspirierte Autorität anerkannten, ist Luthers Angriff unzweifelhaft im Recht und sicher vertritt er die Konsequenz seiner eigenen Grundgedanken. Vortrefflich ist diese Sachlage charakterisiert bei Erbkam, Gesch. d. prot. Sekten, 1848 S. 167-171, 483-488. Die Herausarbei­ tung aus der Mystik ist sehr gut dargestellt in Brauns schon erwähntem Buch, Be­ deutung der Konkupiszenz in Luthers Leben und Lehre 1908. Die neueste, auf die neu gefundenen Früharbeiten Luthers eingehende Untersuchung von Scheel, Entwickelung L.s bis zum Abschluß der Vorlesung über den Römerbrief (Schriften des Vereins für Ref.-Gesch. 1910) unterschätzt die Bedeutung der Mystik außer• ordentlich, s. bes. S. 192 f. u. 201 f. Ueber Luthers Verhältnis zur Mystik s. auch die treffliche Arbeit von H. Hering, Die Mystik Luthers 1879. Außerdem s. oben s. 473-482.

Selbständiges Hervortreten der Mystik neben und im Prot.

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beim Abschluß der Darstellung des Mittelalters seine prinzipielle Charakteristik gefunden 435). Es bedarf daher hier nur der Her­ vorhebung des Zusammenhangs der protestantischen Sekte oder des Täufertums mit jenem mittelalterlichen Sektenwesen und der Verdeutlichung der besonderen Eigentümlichkeiten, die es nun auf protestantischem Boden angenommen hat. Anders steht es mit der Mystik. Sie ist bei Gelegenheit des Spätmittelalters wohl berührt 486), aber noch nicht in ihrem religiösen Wesen und dem damit zusammenhängenden religiös-soziologischen Charakter ana­ lysiert worden. Das war dort nicht nötig, weil bei aller theolo­ gischen, religionsphilosophischen, kulturhistorischen und psycho­ logischen Bedeutung, die auch damals schon der Mystik zukam, doch gerade die religiös-soziologischen Eigentümlichkeiten und Folgen noch kaum hervortraten. Sie bedeutete die Entstehung einer Laienreligion innerhalb der Kirche und hatte großen Ein­ fluß auf die Individualisierung der bürgerlichen Welt. Aber für die Gestaltung des religiösen Gemeinschaftslebens und die Kritik des Kirchenbegriffes wie des Dogmas hatte sie noch keine Be­ deutung. Die Mystik barg sich noch unter dem Schutz der Kir­ che oder fand Anschluß an die Orden. Sie stellte sich niemals auf sich selbst. Die protestantische Mystik dagegen lernte sich als Konsequenz des allgemeinen Priestertums und der persönlichen Ueberzeugungsreligion betrachten und sich damit auf eigene Füße stellen. Es wird vor allem darauf ankommen, ihre hierbei sich ergebenden soziologischen Folgerungen deutlich zu machen. Da­ bei wird sich zeigen, daß sie ein überaus wichtiges, heute ge­ radezu vorherrschendes Prinzip in die Geschichte des Christen­ tums einführt. Es handelt sich also zunächst um die protestantische Sekte oder das sog. Tä u f e r t u m. Wie tiefe Wurzeln der Sekten­ gedanke in den Ideen und Schöpfungen der großen Reformatoren selbst schon hatte, ist oben bereits gezeigt worden. Luther hatte die Moral der Bergpredigt oder der Person gegen die Moral des Weltlebens oder des Amtes oder des relativen Naturrechtes des Sündenstandes als die eigentlich christliche abgegrenzt und im Grunde damit nur den Bedürfnissen der Volkskirche wie den von 485) S. oben S. 358-383. 488) S. oben S. 419-420.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Gott zugelassenen und eingesetzten Stiftungen des Sündenstandes Zugeständnisse gemacht 437). Hier blieb immer eine nie ganz verdeckte Naht, die erst in der Gedankenlosigkeit der Orthodoxie unsichtbar wurde. Im engen Zusammenhange damit hatte Luther anfangs innerhalb der allgemeinen Volks- und Zwangschristlich­ keit der Landeskirche engere Kreise wahrhafter und ernster Chri­ sten in Aussicht genommen, die als Herde echter und reiner Christlichkeit allmählich die Volkskirche von innen durchdringen sollten. Erst die Gefahr des Subjektivismus hat diese Pläne be­ seitigt und in der uniformen Landeskirche der Visitationen unter­ gehen lassen 43 8). Die Opposition innerhalb des Protestantismus hat es nie unterlassen, sich auf solche Aeußerungen des jungen Luther zu berufen ; solche Berufungen gehen von den alten Täu­ fern bis zu den englischen Independenten und den deutschen Pietisten 489). Von einer anderen Stelle her, aber noch stärker, '87) Vgl. Hamack, Dogmengeschichte III• S. 904: ,Was im Katholizismus in Kloster und Welt geteilt war, wollten die Reff. in einheitlicher Arbeit ver­ binden.« Auch das ist doch wieder nichts anderes als die •innerweltliche Askese«. 43ij) Vgl. Karl Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther, 1910, bes. S. 32-40, 84. Ich halte die Darstellung Müllers für völlig zutreffend; sie stimmt auch mit meiner Auffassung überein, s. oben S. 463-472. Luther hat auch bei diesen engeren Gemeinden den allgemeinen Kirchenbegriff der durch das Wort er­ zeugten Heilsanstalt festgehalten. Sie sollten nur engere Kreise innerhalb derselben sein und von diesen Kreisen die Wirkung des Wortes allmählich in die Massen­ und Volkskirchen hinaustragen. Auch was sie haben, ist nur vom Wort gewirkt, aber es ist die wirklich starke und erkennbare Wirkung des Wortes, die hier kon­ zentriert wird und sich von hier über das Ganze schließlich ergießen soll. So ist der allgemeine Kirchengedanke behauptet, aber innerhalb seiner doch eine Annäherung an die Sekte vollzogen. Freilich ist der Kirchengedanke dabei der Stärkere und Luthers Entwickelung infolgedessen im Ganzen eine wesentlich geradlinige, wie ich oben es ausgeführt habe. Es ist kein plötzliches Abbiegen zur Sekte und dann ein Wiederzu­ rückbiegen zur Kirche, sondern nur der Versuch, dem Sektenmotiv innerhalb der Kirche gerecht zu werden. Das ist aber sehr schwierig, und darum ist hier Luther bei bloßen Entwürfen geblieben. Das Entscheidende ist der Kirchengedanke, der denn auch alles bestimmt. Das ist auch bereits richtig von Erbkam S. 9-13 er­ kannt. - Ich meine also nicht mit Rieker und Achelis, daß diese Annäherung an die Sekte eine vorübergehende und prinzipwidrige Beeinflussung durch die Täufer gewesen sei, sondern daß in ihr eine aus der Bibel selbst stammende innere Span­ nung seines Gedankens liegt. 489) Berufungen auf den jungen Luther, der angeblich seine Anfangsideen ver­ leugnet habe, sind bei den Dissentern allgemein. Beispiele gibt Hochhuth in seiner großen Artikelreihe von Aktenpublikationen aus den hess. �rchiven, Z. f. bist. Theo!.

Anknüpfungspunkte des Täufertums bei den Reformatoren.

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hatte der Sektentypus auf den Calvinismus seinen Einfluß aus­ geübt. Calvin hat das Ideal der Sekte, die heilige Gemeinde, XXVIII--XXXII; bes. XXVIII S. 542, 631, XXIX S. 179. Hier der Brief eines Täufers: >Es hat auch ihr eigen Prophet Martinus Luther von solchen geschrie­ ben (in einem kleinen Büchlein also lautend: eine Weise christlich Maß zu halten), daß man in einem versperrten Haus zusammenkommen muß und Ordnung handeln. Abermals spricht er : Ich bin noch nit kühn, solches anzufangen, auf daß solches nit vor ein Rotterei angesehen werde.« Hier überall die Klagen als Motiv der Täuferei, daß die neue Kirche moralisch nichts leiste, und daß Luther den ersten Anlauf fortzusetzen wegen Mangels an ernsten Christen nicht gewagt habe. - In diesen Zusammenhang gehört auch die Deutung, die W. Köhler der reformatio Hassiaca als einer Ausführung der gleichen lutherischen Gedanken gegeben hat (Entstehung der ref, eccles. Hassiae von 1526, Deutsche Z. f. Kirchenrecht 1906 S. 199-232), Wenn man sie früher mit Lambert auf Franziskanerideale zurück­ führte, so hatte man den richtigen Instinkt, daß es Sektenideale sind ; aber man übersah, daß Luther selbst diese mit seinem weiteren Kirchenbegriff früher zu ver­ binden gesucht hatte; vgl. W. Köhler, Zu Luthers Kirchenbegriff, Chr, W. 1907. Unter den Independenten hat sich der bereits genannte und später noch genauer zu besprechende William Dell für seine originelle Verbindung mystischer, kongregationa­ listischer und staatskirchlicher Ideen nachdrücklich auf Luther bezogen ; s. Sippell, William Dells Programm einer ,lutherischen« Gemeinschaftsbewegung, 191 l, Be­ züglich ,Schwenkfelds haben Ecke, Schwenkfeld, Luther und der Gedanke einer apostolischen Reformation, 19II und dazu Sippell, Caspar Schwenkfeld, Chr. W. 191 l Nr. 37-41 die Herleitung von Luther gezeigt. - Franck in dem groß­ artig objektiven Artikel ,Martin Luther« seiner Ketzerchronik hebt die Idee der engeren Christengemeinde mit eigener Sakramentsfeier (II 173 b) hervor. Regler weist allenthalben auf die Anknüpfungen Francks und der Täufer an die ur­ sprünglichen reformatischen Ideen hin, - Aber auch bei Gottfried Arnold herrscht an sich gänzlich gleichgültig gegeneinander« (S. 28 u. 35); aber die Verkuppelung beider stamme schon aus dem Mönchtum, das einerseits das apostolische weltferne Leben erneuern will und andererseits bei seiner Berufs- und Beschäftigungslosigkeit sehr natürlich auf mystische Gefühlsschwelgerei gekommen sei ! - Den unprotestantischen Charakter der Täufer hat auch L u d. K e 11 e r (Reformat. d. älteren Reformparteien 1885, Staupitz und Anfänge d. Reform. 1888, Anfänge d, Reform. u, Ketzerschulen 1897) behauptet, allein er führt sie nun seiner­ seits nicht auf den Katholizismus zurück, sondern auf die vom konstantinischen Zeit­ alter her separierten und die reine urchristliche Freiwilligkeitskirche, Sozialmoral und Toleranz festhaltenden sog. altevangelischen Gemeinden, die mit Petrus Waldus und mit den sog. Wiedertäufern nur Umgestaltungen erfahren hätten und die echt christliche Tradition gegenüber Katholizismus und Protestantismus darstellen sollen. Sind auch die >altevangelischen Gemeinden« in dieser Weise ein Phantasiegebilde, so sind die Untersuchungen Kellers doch lehrreich und anregend genug, Sein Haupt­ mangd ist, daß er das Wesen der Sekte im Unterschied von der Kirche nicht scharf genug analysiert, und daß er für seine Sekte alle Oppositionen, die Mystik, den Humanismus usw. reklamiert. Namentlich die Nichtunterscheidung der Mystik und die Aufnahme des Gottesfreundes, Taulers usw. unter die Sekte verhindert jedes klare Bild. Er deutet überall die Mystik und Sekte auseinander; ,die Theologie der letzteren müsse als Ergänzung der deutschen Mystik an allen den Stellen her­ angezogen werden, wo die letztere eine Abgabe des Urteils zu vermeiden pflege !c Staupitz 143, die Mystik sei nur >das halbe Lehrgebäude der älteren Evangelischen< (ebd. 224), Wenn nun das Täufertum diesem aus Mystik und toleranter Freiwillig­ keitskirche gemischten Ideal nicht ganz entspreche, so komme das davon her, daß die Täufer die in älterer Zeit nur für Apostel geltende asketische Lehre und Weltablehnung auf die ganze Gemeinde übertragen hätten (ebd. 321), eine durch nichts bewiesene Behauptung. Alles das weist darauf hrn, daß diese von Keller kombinierten Bestandteile zu scheiden sind und für jeden besonders die Frage nach seiner Herkunft aus dem Mittelalter und nach ihrem Verhältnis zum reformatorischen Prinzip zu stellen ist. Dann aber verschwindet das Phantom der altevangelischen Gemeinden, und die von Keller m. E, nachgewiesenen Beziehungen der Täufer zu älteren Sekten verlieren die pikante Bedeutung, die sie bei Keller als dem Apologeten der ,altevangelischen Gemeinden« haben, der sogar die Refor­ mation von ihnen durch Vermittelung von Staupitz herleitet. - Ganz in den Bah­ nen von Keller geht T h u d i c h u m, Die deutsche Reformat. 1517-37, 1907/09; die Unterscheidung von Sekte und Mystik tut er mit den Worten ab II II4: ,Die von den neueren prot. Theologen beliebte Bezeichnung Mystiker, d. h. Geheim­ tuer, paßt sehr schlecht und es wäre endlich an der Zeit, dies Fremdwort zu verT r o e l t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

tung wirkte schon ganz von selbst die Bibel mit der Bergpredigt, die sich in die von den Reformatoren vollzogenen Kompromisse meiden.« - Wieder anders erscheint der Sachverhalt bei denen, die Täufer und Spiritualisten für die konsequente Auswirkung des Gemeindeprinzips und der Ge­ wissensautonomie der Reformation halten, wie Weingarten, Revolutionskirchen Eng­ lands 1868 S. 442 und A. Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte 1899 S. 253 ff. Hier pflegt übersehen zu werden, daß auch die Dissenter Fortsetzer der m.a.lichen Entwickelung sind, nur einer andern, als diejenige ist, welche die Reff. fortsetzen. Aber richtig ist hier die Betonung einer vielfachen Verwandtschaft mit den Ideen der noch nicht kirchlich befestigten Reformation. - Beachtung verdient heute noch das geistreiche Buch von E r b k a m , das viele gute Einsichten enthält, aber den Sachverhalt schließlich doch ganz schief konstruiert. Die Täufer seien ethische Mystik, die Spiritualisten aber intellektualistische Mystik. Beide zusammen seien eine vom MA. her fortwirkende Ergänzung der kirchlichen Objektivität und Anstalt, die auch den Protestantismus hätten ergänzen sollen. So aber hätten sie sich von ihm ungesund geschieden und sich deshalb in Wunderphantastik und Pantheismus aufgelöst; man scheide sich eben nicht ungestraft von der kirchlichen Heilsanstalt. Sehr reichhaltige Urkunden und eine Beleuchtung der ganzen Bewegung unter lokalen Gesichtspunkten bei H o c h h u t h, Protestant. Sektengeschichte in Hessen, Z. f. bist. Theologie XXVIII-XXXII. Auch hier geht alles von der Reformation und der Kritik an ihren mangelhaften moralischen Leistungen aus. - Eine treff­ liche Schilderung des deutschen Täufertums bei Cornelius, Gesch. d. Münsterschen Aufruhrs 1855/60, eine sozialistisch gefärbte Gesamtschilderung bei E. B e 1 f o r t B a x , Rise and fall of the anabaptists, London 1903, besonders bedeutsam das Schlußkapitel mit seinen Hinweisen auf Fortleitungen in der englischen Revolution; vom baptistischen Standpunkt A. H. Ne w m a n, History of Antipedabaptism, Phi­ ladelphia 1897, die eingehendste Gesamtdarstellung, leider nur bis 1609; schließ­ lich der Artikel • Täufer< von Kramer PRE 3• - Viel Wichtiges findet sich auch bei Göbel, Gesch. des christl. Lebens. Ueber den Zusammenhang der Bewegung bis in die pietistisch-separatistischen Gruppen hinein mit der Weberei und Tuch­ macherei, die schon den Waldensern sich vorzugsweise anschloß, s. I 37-39; über den Zusammenhang mit den zahlreichen Waldensern des Rheinlandes I 40-42. Göbel bringt hiermit auch den Sieg des Calvinismus über das Luthertum in diesen Ländern in Verbindung, da jener den Waldensischen asketischen Christen näher stehe. Sehr gute Charakteristik der Täufer als Sektentypus I 134- 139. Hier auch eine billige Auffassung : eine ganz bestimmte Richtung des christlichen Lebens, welche in ihrer fanatischen Ausartung wohl bekämpft und auch wohl gewaltsam ausgerottet, in ihrer Wa h r h e i t u n d No t w e n d i g k e i t aber nie völlig unter­ drückt und überwunden werden konnte«, »auch christlich berechtigt und anzuer­ kennen« I 135. Im Pietismus sieht er nur die Wiederkehr dieser Richtung, I 157 und öfter. Freilich hat er hierbei Sektentypus und Mystik nicht scharf genug be­ grifflich geschieden.

Verselbständigung des Sektenmotivs im Täufertum,

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nur schwer fügte. Gerade die Bergpredigt trieb immer von neuem zur Bildung von strengen Christengemeinden an, welche nach diesen Maßstäben leben wollten und welche dann mit einer Volkskirche und der allgemeinen Kulturgesellschaft sich nicht mehr decken konnten. Diese Wirkung ist um so begreiflicher, als in dem religiösen Leben der Zeit schon zahlreiche Gedankenzusammenhänge und wohl auch Organisationen bereit lagen, die unter waldensischem oder böhmi­ schem Einfluß von den gleichen Ideen erfüllt waren und in der Reformation nur die Entfaltung ihres eigenen Programms , in ihren Siegen die Möglichkeit freier, antihierarchischer und völlig laienhafter Gemeindebildung sahen. In der Tat schossen unter dem Anhauch der Reformation allenthalben die kleinen Gemeinde­ bildungen von ernsten, weltabgeschiedenen Christen mit der For­ derung der Freiheit von staatlichem und hierarchischem Zwang und mit dem Ideal des freien Zusammentretens der Wiedergebore­ nen zu Freiwilligkeitsgemeinden in erstaunlicher Masse empor. Ihr äußerlich erkennbares Wahrzeichen war die Spättaufe, d. h. die Bildung der Gemeinden bloß aus Wiedergeborenen und freiwillig ihr Zugehörigen, sowie die Verwerfung der Kindertaufe, d. h. die Bestreitung der objektiven, die Massen von Hause aus einschlie­ ßenden und von ihrer ethischen Würdigkeit unabhängigen univer­ salen Heilsanstalt. Ebenso trat als äußeres Kennzeichen hervor die Forderung der Gemeindezucht und des Gemeindebannes, die sich vor allem an die Forderung der Reinheit der Abendmahls­ gemeinde anschloß. Damit war dann auch die Auffassung des Abendmahles als einer Gemeinde- und Bekenntnisfeier verbunden und der Gegensatz gegen die kirchliche Abendmahlslehre. So wurden sie mit den »Sakramentierern« zusammengeworfen. Ihr wirkliches und eigentliches Wesen aber war die Heiligkeitsgemeinde im Sinne der Bergpredigt und im Sinne der ·Frt:iwilligkeitsge­ meinde gereifter Christen; die �urückhaltung von Staat, Amt, Recht, Gewalt, Eid, Krieg, Blut und Todesstrafe; die stille Dul­ dung des Leidens und Unrechtes als des Kreuzes Christi"i die enge soziale Verbundenheit der Glieder durch Armenpflege und Hilfskassen, so daß in diesen Gemeinden niemand betteln und hungern mußte; die strenge Kontrolle der Würdigkeit der Gemeinde­ glieder durch Bann und Gemeindezucht ; ein schlichter Kultus rein biblischer Erbauung durch gewählte Prediger und Seelsorger, die unter Handauflegung und Gebet von den Synoden der Ge51

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804 III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

meinden verordnet wurden 441). Das sittliche Naturgesetz erkannten auch sie an, aber sie bekämpften dessen von den Kirchen ange44') Vgl. die Schilderung bei G. Arnold II 264 f. und 524 ff., der sich jedoch selbst von ihnen scharf unterscheidet: •Wiewohl aber viel menschliche Torheit, Blindheit und Schwachheit bei manchen mit unterlief, so war doch bei vielen auch daraus eine große Einfalt und Treue des Gehorsams zu sehen, weil sie dem Buch­ staben der Schrift so genau nachzukommen trachteten, daß sie auch darüber in die anderen unzeitigen Urteile verfielen (d. h. exklusiv und intolerant wurden) und selbst in Schande und Schaden kamen.• Arnold selbst hält es mit den Mystikern. Das Urteil Luthers bei Arnold II 266: •Man kann diese Ungeheuer weder durch Schwert noch Feuer bändigen. Sie verlassen Weib, Kind, Haus und Hof und alles was sie haben.« Ebd. Melanchthons Urteil: >Es sollte sich niemand ärgern, wenn er die Wiedertäufer so getrost in den Tod gehen und alles leiden sähe, weil sie der Satan verhärtet hätte. « Etwas milder der reformierte Polemiker Hornbeck : >Daß die Wiedertäufer nicht sowohl durch ihre Lehre der Orthodoxen ihre wider­ fochten durch den Beisatz einer anderen oder neuen, als daß sie diese nicht recht fasseten und verstünden. « Ein späteres orthodoxes Urteil bei Arnold II 524: •Sehe ich die Wiedertäufer und Mennonisten an, so führen sie traun einen s c h e i n h e i1 i g en Wandel, hüten sich für Kleiderpracht, Schwören, Lügen, Fressen, Saufen, Huren, Buben, Zank und Hader wie für dem Teufel, daß, wer in ihre C o m m u n o d e r G e s e 1 1 s c h a f t kommt, fast erstaunen muß und denken, er komme nicht unter Menschen, sondern eingefleischte Engel, zum wenigsten unter eitel lebendige Heilige und auserlesene Kernchristen.c - Grundlegend ist auch die Schilderung bei Seb. Franck (Ketzerchronik 193-201), den Keller sehr mit Unrecht einen »echten Täufer « nennt (Ref. S. 462) und der jedenfalls von Kellers altevange­ lischen Gemeinden nichts weiß. Franck sagt über den Ursprung einfach: »Anno 1526 gleich in und nach dem Aufruhr der Bauern entstand a u s d e m B u c h­ s t a b e n d e r S c h r i f t ein neue Sekt und sundere Kirch, die nannten etliche Wiedertäufer, etlich Täufer, die fiengen an mit einem sunderen Tauff sich von den anderen zu sündern und alle andern Gemein als unchristlich zu erachten, auch kein selig oder für kein Bruder zu zählen, der nit ihrer Sekt oder Partei war. Fiengen an die, so zu ihnen traten, widerzutauffen oder vielmehr, wie sies fürgaben, zu tauffen nach dem Befehl Christi . . . Deren Vorsteher und Bischof waren erstlich der Balthasar Hübner, Melchior Rink, Joh. Hut, Joh.Denck, Ludwig Hetzer , .. Sie lehreten im Schein nichts denn Lieb, Glauben und Kreuz, erzeigten sich in viel Leiden geduldig und demütig, brachen das Brot miteinander zum Zeichen der Einigkeit und Lieb, halfen einander treulich mit Fürsatz, Leihen, Borgen, Schenken, und lehreten alle Dinge gemein haben; hießen einander Brüder. Wer aber ihrer Sekt nit war, den grußten sie kaum, boten auch dem kein Hand, hielten sich zu­ sammen und nahmen so jährigs zu, also daß die Welt sich einen Aufruhr von ihnen besorgt. < Die furchtbare Verfolgung und ihr Märtyrertum habe die Massen überzeugt, daß hier die wahren Christen seien und das habe ihnen wieder großen Anhang verschafft. Da hätten sich viele Täufer des in ihnen vorhandenen guten

Allgemeine Charakteristik des Täufertums,

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nommene relative Fassung, den Kompromiß des Naturgesetzes mit der Erbsünde. Sie verstanden es wie ihre mittelalterlichen Vorgänger als absolutes Naturgesetz des Urstandes, woraus dann auch gelegentlich ähnlich revolutionäre Folgerungen gezogen wur­ den wie bei den, Wiklifiten und Hussiten. Im allgemeinen freilich galt das Naturgesetz und das mit ihm identische Christusgesetz als in der Welt nicht durchführbar, daher die Welt als Stätte des Teufels, des Leidens und Duldens bis zur Wiederkunft Christi, auf die sich die Frommen durch Scheidung von der Welt bereiteten, Wir erkennen darin alle Grundzüge der Sekte wieder, wie wir sie bereits kennen gelernt haben. Unter diesen Umständen ist es begreiflich, daß man sich die Frage gestellt hat, ob diese täuferischen Sekten nicht etwa bloß das durch die Reformation ermöglichte Wiederhervortreten der mittelalterlichen, waldensischen Sekte sei. Allein weder ist der Fortbestand einer solchen Sekte als einheitliche internationale Organisation nachgewiesen, noch der Hervorgang der Führer der Täufer aus diesen Sektenkreisen. Sie kamen alle aus der reliKernes überhoben. > Wurden etwas im Geist hoffärtiger, fiengen an jedermann zu urteilen und auch in viel Stücken untereinander uneins zu werden und schier so viel Lehr zu treiben als sie Vorsteher hatten . , , Wiewohl ich für wahr acht und gänzlich halt, daß viel frommer einfältiger Leute in dieser Sekte gewesen und noch sind und viele auch ihrer Vorsteher nach Gott geeifert haben, aber meines Be­ dünkens nit nach der Kunst. Jedoch sollte man nit also mit ihnen tyrannisiren, wo sie gleich hartnäckig sich nit wollten weisen lassen, sondern sie allein Gott be­ fehlen, der allein Glauben geben, Ketzerei austilgen und der Sach, wie gehört, Rat schaffen mag. « Es sind die charakteristischen Züge des Sektenwesens bis beute. >Es ist des Bannens in ihren Gemeinden viel, also daß schier eine jede Gemein die andere in Bann thut, und ist schier eine solche Freiheit zu glauben als im Bapsttumb. Wer in ihren Gemeinden nit zu allen Dingen ja spricht, dem hat Gott die Ohren verstopft und heben an kläglich für ihn zu bitten. Will er nit bald umkehren, so schließen sie ihn aus « S. 193 a. Daher auch eine große Unüber­ sichtlichkeit: > Wiewohl alle Sekten in ihnen selbst zerspalten sind, so sind doch sonderlich die Täufer also unter einander uneinig und zerrissen, daß ich nichts Gewisses und Endliches von ihnen zu schreiben weiß« 193 b. Mustert man die von Franck beschriebenen Schattierungen, so sind es 2 Hauptgruppen: die, welche festen Organisationen angeschlossen sind und an das Schriftgesetz sich halten, und die, welche mehr mit dem Enthusiasmus und der Mystik gehen und dadurch zu gemeinschaftslosen Individualisten werden, aber doch ihr Publikum wesentlich in Täuferkreisen haben. Ueber diesen Unterschied später mehr. Die seit Bullinger sog. »freien Täufer « sind keine Täufer, sondern Spiritualisten. - Mit Francks Schilde­ rungen stimmen die Schwenkfelds überein, vgl. Ecke 89, 204-212.

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III. Protestantismus.

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giösen Bewegung der Zeit, bald mehr aus der lutherischen, zwingli­ schen oder humanistischen, bald mehr aus einem laienhaften Bi­ blizismus. Auch charakterisiert sie neben der positiven Anknüp­ fung an das allgemeine Priestertum, den Biblizismus und die Per­ sönlichkeitsreligion der Reformation ein negativer Zug des Gegen­ satzes, der Enttäuschung durch die Reformation, der radikaleren Betonung ihrer Grundelemente. Das tritt schon in der Hervor­ kehrung der Spättaufe oder der Wiedertaufe als des neuen Schlag­ wortes der Bewegung zutage ; es bekundet sich noch mehr in der Bekämpfung der moralischen Unfruchtbarkeit der reforma­ torischen Massen- und Zwangskirchen und in der bitteren Ver­ höhnung ihrer Welt- und Fürstenfreundschaft. Dies letztere sind bekannte Tatsachen, doch ist deren tiefere Bedeutung weniger allgemein anerkannt. In ihnen kommt nur die innere Schwie­ rigkeit der Reformationskirchen zum Ausdruck. Sie hatten ein äußerst hochgespanntes, beinahe utopisches ethisches Ideal. Unter Verzicht auf die katholische Stufenteilung und unter Preisgebung der hierarchisch-autoritativen Seelenleitung wollten sie die gesamte Bevölkerung mit dem Wunder der strengen christlichen Liebes­ sittlichkeit gleichmäßig durchdringen und das Weltleben zum direkten Organ der religiösen Liebe machen, das Luthertum völ­ lig idealistisch rein im Vertrauen auf die wunderwirkende Macht des Wortes, der Calvinismus mehr praktisch unter Heranziehung eines biblisch-begründeten, göttlich gestifteten Kontrollapparates. Es ist kein Wunder, daß dieser ungeheuere Idealismus schwere Enttäuschungen erlitt, und daß diese praktische Reform nicht ge­ lang. Das Ideal war gegenüber dem Katholizismus verallgemeinert, vertieft und verschärft, und zugleich waren die katholischen Zwangsmittel preisgegeben. So ist namentlich auf dem Boden des Luthertums eine praktische Verwilderung eingetreten, die aus Luthers und seiner Genossen eigenen Zeugnissen wohl bekannt ist und die von der katholischen Polemik bis heute reichlich ausge­ nützt wird m). Sie hat vor allem den Einsatz für die Kritik der 442) Vgl. die bekannten Sammlungen von Zeugnissen des Luthertums wider sich selbst bei Döllinger und Janssen. Noch erschütternder ist die Darstellung bei dem ehrlichen Gottfr. Arnold, und beherrschend ist dieser Gesichtspunkt auch in Francks Geschichtsbibel. Hegler hat mit Recht Franck überhaupt von hier aus zu verstehen gesucht, ebenso Ecke den Schwenkfeld. Auch in dem prächtigen Buche von Paul Drews, Der evang. Geistliche i. d. deutsch. Vergangenheit, 1905, ist die Schilderung des moralischen Standes von Geistlichkeit und Gemeinden sehr trüb. Es reicht nicht aus,

Die Herkunft der täuferischen Bewegung.

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täuferischen Oppositionsparteien gebildet. Auch der Calvinismus hat sich auf seiner Höhe auch nicht einmal in Genf länger als ein halbes Jahrhundert zu halten vermocht. Das Herabsinken auf das Niveau eines selbstgerechten und im irdischen Geschäfts­ segen den Lohn Gottes für Rechtgläubigkeit und Sittenstrenge preisenden Puritanismus ist eine sehr begreifliche Entartung und Entspannung des calvinistischen Ideals. In demselben Maße aber als die praktisch-ethischen Leistungen hinter dem Ideal zurück­ blieben, konzentrierten sich die Kirchen nach echter Kirchenweise auf den objektiven Heilsbesitz, auf das von menschlicher Werk­ gerechtigkeit unabhängige, göttliche Stiftungskapital. Das aber war für den Protestantismus das bibelgerechte Dogma und die Herrschaft der reinen Predigt des Amtes am Worte. So verfielen sie einer Orthodoxie, die bei ihrer Beschränkung auf das Wort, die Lehre und die Glaubenserkenntnis viel enger und härter war, als die katholische, welche ja neben und unter dem Dogma das Heil zugleich im Kult und in mystischen Devotionen, also in undoktrinä­ ren, phantasiemäßigen Elementen, besitzt. Damit war dann aber zugleich ein immer stärkerer Anschluß an die weltliche Macht gegeben, die allein jene Herrschaft des rechten Glaubens wenig­ stens äußerlich schützen konnte, und mit einem solchen Anschluß an die weltliche Macht wurde naturgemäß auch die feine luthe­ rische Grenzbestimmung zwischen eigentlich christlicher Liebes­ moral und naturgesetzlich weltlicher Moral immer mehr verwischt und damit die Moral selbst verweltlicht 448). Das in Krieg, Macht, Gewalt, Recht liegende Problem der christlichen Ethik wurde bald gar nicht mehr empfunden. Statt dessen wurde es umge• kehrt als Vorzug der reinen reformatorischen Lehre gerühmt, daß für diese geringen Erfolge die Nachwirkungen der früheren katholischen Erziehung verantwortlich zu machen oder auf die späteren wilden Kriegszeiten hinzuweisen, Der nur bedingte moralische Erfolg der Reform liegt sicherlich in ihrem Wesen selbst; s, Ecke 88. Die Ideale waren zu hoch, und die Erziehungsmittel waren eingeschränkt. Hier hat erst die Seelsorge des Pietismus und dann die humanere Moral der Auf­ klärung und Volksbildung durchgegriffen. Mit welchen Einschränkungen aber auch dies der Fall ist, zeigt z. B. die bekannte Selbstbiographie des berüchtigten Magisters Lauckhardt. Die Hebung der Durchschnittsmoral der Massen ist wohl überhaupt erst das Werk der Volksschule und des modernen Staates, wobei dann die Ideale freilich nicht dem hochidealistischen Luthertum in erster Linie entnommen sind. ''8) Hier reden die bekannten Bücher von Tholuck und Hundeshagen eine sehr deutliche Sprache.

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sie für alle diese Dinge Raum und göttliches Recht habe, die von Mönoherei und Schwärmerei mit der naturgemäßen Uebereinstim­ mung aller Gegner Christi geleugnet würden. An dieser Stelle liegt vor allem der Einsatzpunkt der täu­ ferischen Bewegung. Sie kehrte sich gegen den neuen theo­ logischen Dogmatismus, gegen das Zwangs- und Staatschristen­ tum und gegen die Verweltlichung 444). Sie lebte von der Oppo­ sition und machte gegen die Entwickelung der Reformation Elemente geltend, die diese selbst mitenthalten hatte, die sie aber sehr rasch mit den Aufgaben einer die weltliche Kultur rezipierenden Volkskirche hatte verschmelzen lernen. Gegen die Folgen dieser Verschmelzung und damit gegen den Kirchenbe­ griff und die kirchliche Kultur wandte sich das Täufertum. Dieser stark oppositionelle Zug aber spricht vor allem dafür, daß es in der Tat von der Reformation selbst in Bewegung gesetzt worden ist. Dafür spricht weiter seine apokalyptisch-eschatologische Stimmung, die den älteren evangelischen Sekten gefehlt hat. Es hatte sie mit Luther gemein, der sich schon seinerseits eine solche Auflösung aller kirchlichen Tradition nur aus dem bevorstehenden Ende und aus der Weissagung des Antichrist erklären konnte. Für die Täufer mit ihrem Prinzip der kleinen weltabgeschiedenen Freiwilligkeits­ gemeinden verstand sich diese Stimmung erst recht von selbst. Denn die Auflösung der Christenheit in solche kleine, die ent­ artete Massenkirche verlassende Gemeinden war mit dem Ge­ danken einer Herrschaft Christi über die Welt nur unter der Voraussetzung vereinbar, daß der große, von der Apokalypse geweissagte Massenabfall und der Rückzug der Christenheit auf wenige Getreue jetzt eingetreten sei. Erst von diesen eschato­ logischen Stimmungen aus gingen dann einzelne Gruppen zur ge­ waltsamen Aufrichtung des himmlischen Jerusalem über. Außer­ dem gaben sie in der Erregung dieser Erwartung zugleich my­ stisch-enthusiastischen Einflüssen Raum, die von den reinen Täu­ fer:n mennonitischer Observanz später wieder ausgeschieden wur­ den, die aber auch mit der von der Reformation geschaffenen Erregung zusammenhingen und sie mit den mystischen Abzwei­ gungen mannigfach verbanden. Auch das ist dem echten Walden­ sertum fremd. Alles das spricht dafür, daß wir im Täufertum HBij een karakteristiek van de innerlijke ontwikkeling der ge­ meenten van hun ortstaan c. 1650, mag deze trek van overgang der suvereiniteit uit de handen der oudsten in die der gemP.ente niet worden vergeten: De oudsten verloren hunne macht en te gemeende ontwikkelde zieh tot een geheel democra­ tische independente instelling« S. 5 l,

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Umgekehrt vollzog sich von England her auch eine An­ näherung des pietistisch beeinflußten Calvinismus an das Täufer­ tum. Wir haben das bereits bei Gelegenheit des Kongregationalis­ mus gesehen. Aber die Annäherung ging darüber noch weit hinaus. Von der gegen 16oz in Gainsborough begründeten kongregationa­ listischen Gemeinde des John Smyth nämlich ging die große, heute weitverbreitete Kirche der General Baptists aus. Die Ausgangs­ punkte waren puritanisch und calvinistisch ; aber während Browne und Robinson ihren Kongregationalismus in vielfacher Analogie mit der täuferischen Independenz ohne Aufnahme der spezifisch täuferi­ schen Lehren ausbildeten, so wurde Smyth, der seine Gemeinde nach Amsterdam als Exulantengemeinde überführte, weiter und weiter in die täuferische Ideenwelt hineingezogen. Schließlich erkannte er die Gläubigentaufe als die Konsequenz des Separatismus und der heiligen Gemeinde an. Er taufte sich selbst und dann seine Gemeindeglieder und begründete damit die Gemeinde neu als Ge­ meinde der Gläubigentaufe. Nun erklärte er auch ausdrücklich seine Verwandtschaft mit den Täufern und Mennoniten und vereinigte sich mit ihnen. Ein Teil seiner Gemeinde machte bei allem brüder­ lichen Verhältnis zu den Mennoniten die Fusion nicht mit und kehrte unter der Führung von Helwys und Murton 1611 nach England zurück. Dort wurde ihre Kirche die Mutter der großen Kirche der G e n e r a 1 Ba p t i s t s , die die Prädestination ver­ werfen, die Freiheit der Kirche vom Staate fordern, die Gemein­ schaft auf den freien Entschluß der Teilnahme, auf Würdigkeit und Immersionstaufe begründen, die dogmatischen Irrtümer der alten Täufer abstellen, Eid, Krieg und staatliche Aemter für bür­ gerliche Zwecke zulassen, den Kommunismus verwerfen und eine alle Klassen umfassende Körperschaft ohne soziale Einseitigkeit sein wollen 452). Im übrigen halten sie ihren Zusammenhang mit dem Täufertum der Reformationszeit fest, wenn sie auch aus ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer dauernden Umgebung einen starken Einschuß calvinistischen Geistes empfangen haben. Sie haben sich durch die Wirren der englischen Revolution hindurchgerettet '52) Newman S. 392. Ueber spiritualistische Züge, die die Gründung von Smyth trug und die die ursprünglich nahestehenden Kongregationalisten schroff ver­ warfen, s. Barcley !06-109; sie liegen bei den Täufern immer näher als bei Leuten der dogmatischen Autorität. Doch verlangte er Bindung an das äußere Wort als Mittel des Geistes, Behauptung des biblischen Sittengesetzes und strenge Ge­ meindeordnung.

Die General Baptists.

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und seitdem in England, Amerika und auch auf dem Kontinent zu einer großen Gemeinschaft entfaltet 458). In Wahrheit haben sie vom Täufertum nur das Freikirchen- und Vereinsprinzip, so­ wie die Forderungen der Sittenzucht festgehalten, im übrigen aber, weit über Menno Simons hinausgehend, die allgemein pro­ testantische Berufsmoral und die Anerkennung von Staat, Recht und Wirtschaft übernommen. Damit sind sie auch von der ein­ seitigen Bindung an die soziale Unterschicht gelöst worden und haben die verschiedensten sozialen Schichtungen in sich auf­ genommen. Man spricht heute besser von baptistischen Frei­ kirchen als von baptistischen Sekten. Das in der Welt leidende, duldende und hoffende Täufertum hat, wie schon Menno Simons darin vorangegangen war, in diesem Baptismus seinen Frieden mit der Welt gemacht, nicht viel anders als es die protestanti­ schen Konfessionen auch getan haben. Es blieb nur die Vereins­ kirche , die Sittenstrenge und ein weitgehender Individualismus, der sich - gleich dem religiösen, übrigens auch sachlich und geschichtlich nahe verwandten, aus dem Calvinismus entbund�nen Individualismus der Kongregationalisten und Independenten dem ganzen politischen und sozialen Leben Amerikas und auch der englischen Mittelklassen mitteilte und mit den andern in dieser Richtung wirkenden Motiven verband. Aber auch das r a d i k a l e T ä u f e r t u m blieb nicht ausgestor­ ben. Es erlebte seine Erneuerung in der englischen Revolution. Bereits früher ist gezeigt worden, wie der Kongregationalismus in der Struktur der Gemeinde dem Täufertum folgte und wie die Cromwellschen Puritaner und Independenten mit dem Enthusias­ mus der Laienpredigt und der Freigebung der Gemeindebildung täuferische Prinzipien mitvertraten, die dann auch Täufern, Quä­ kern u. a. mit zugute gekommen sind. Allein der Grundzug dieser 453) Nicht in Verbindung hiermit zu bringen sind die Particular (d. h, prädestina· tianischen) ßaptists. Die letzteren sind reine Calvinisten, die aus dem Prinzip de1 Freikirche die Spättaufe folgerten, wie umgekehrt die Freikirche aus dem Ideal der Gläubigentaufe seinerzeit entstanden war. Das zeigt uns den schon bei Gelegen­ heit des Calvinismus oben erörterten formellen Zusammenhang zwischen Freikirchen­ und Sektenideal, Newman S. 393. Barclay S. 318: »They consisted of little com­ panies of respectable godly people, gathered from Presbyterian worship, into what they deemed a more scriptural form of church discipline, and gradually became convinced of the importance and scriptural sanction of immersion.« T r o e 1 t s c h, Gesammelte Schriften.

I.

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4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Independenten war doch mehr spiritualistisch-pietistisch auf der einen Seite und calvinistisch-puritanisch-theokratisch auf der an­ dern Seite. Gerade in der Verbindung der Tolerierung freier pro­ testantischer Gemeindebildung, der strengen christlichen Sittenpo­ lizei, des heiligen Kriegs für die Sache Gottes und der Aufrichtung eines christlich-bürgerlichen Gemeinwesens lag der eigentümliche Zug jenes Cromwellschen Independentismus; er hing mit dem Täufertum doch mehr durch die von Calvinismus überhaupt aufgenommenen täu­ ferischen Ideale und durch die formelle Gemeindefreiheit zusammen als durch den charakteristisch täuferischen Radikalismus eines Neu­ baus des Gottesreiches auf den Trümmern der weltlichen und bürger­ lichen Ordnung. Der täuferische Geist in diesem Sinne lebte dagegen in Harrison und seinem Anhange und wurde durch den neubelebten Chiliasmus geschürt. Schon in der Armee bildete Harrisons Regi­ ment den eigentlichen Sammelpunkt der Sektierer, während Crom­ wells Regimenter der Sitz des Puritanertums waren. Im Barebone­ parlament vollends wollte Harrison und sein Anhang alles Recht und alle Gerichtshöfe beseitigen, um für die Wiederkunft Christi ein von allem weltlichen Wesen befreites Volk vorzubereiten; ja sie tasteten das Privateigentum an und wollten die kirchliche Ord­ nung durch Beseitigung ihrer finanziellen Grundlage in den Zehn­ ten völlig auflösen; alle irdische Autorität sollte zertrümmert werden zugunsten des himmlischen Königs und des kommenden Gottesreiches. Wie viele solche Ideen im Lande und in der Armee folgten und wie weit in ihnen ein tatsächlicher Zusammenhang mit dem alten radikalen Täufer- und Sektentum genetisch vorliegt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls wurde die alte täuferische Literatur viel gelesen. Kein Geringerer als Bunyan hat in seinem Holy War das Münstersche Ideal vor Augen gehabt, während man seinen Pilgrims Progress mit der Geschichte des Tobias von Heinrich Nikläs Wanderungen in Verbindung bringt. Im Barebone-Parla­ ment trafen beide Gruppen aufeinander, und es war die schmerz­ liche Trennung Cromwells von seinen alten Genossen, die in der Auflösung des Parlamentes der Heiligen zum Ausdruck kam. Die Tätigkeit des Parlamentes war durch dieses radikale Sektentum un­ möglich geworden, nachdem es im übrigen in ernster politischer Arbeit das Gemeinwesen gefördert hatte. Es brach in eine Crom­ wellsche gemäßigte Majorität und eine Harrisonsche schwärmerisch­ radikale Minorität auseinander und legte daher seine Mission in G:romwells Hände zurück. Von da ab waren die radikalen Heiligen

Radikales Täufertum in der englischen Revolution.

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die Gegner Cromwells ; sie hingen mit populär-demokratischen Bewegungen zusammen , die in der allgemeinen Erschütterung der Verhältnisse in die Höhe kamen. Damit aber geriet die Repu­ blik zwischen die Scylla der diktatorischen Autorität und die Cha­ rybdis des doktrinären Schwärmertums. Die Männer der Energie und der politischen Verantwortung, wie der General Monk, haben nicht gezögert, sich für die erstere zu entscheiden; und die Masse ist, wie es zu geschehen pflegt, dann nachgefolgt. Damit war die letzte große Erhebung des Täufertums zu Ende, die doch nur im Gefolge der sehr viel weniger vom Täufertum berührten und mehr puritanisch bestimmten Bewegung der Independenten hatte in die Höhe kommen können. Es war die letzte politisch be­ deutsame Weile des Chiliasmus, die letzte Wiederkehr des Geistes der Hussiten- und Bauernkriege, der letzte Versuch der christ­ lichen Welterneuerung, das Reich Gottes mit dem Schwerte vor­ zubereiten 454). 454) S. Glass, The Barebone Par!iament. Weingarten hielt Täufer und Inde­ pendenten zu wenig auseinander; sein Satz S. 158: >In Cromwell erreicht der Anabaptismus seinen Höhe- und Gipfelpunkt, aber es ist ebensosehr auch seine Tat, daß der Anabaptismus aufhört, eine Macht zu seine, ist nur sehr bedingt richtig. Ferner Gooch, The history of English democratie ideas in the 17th cent Cambridge 1898, ein sehr stoff- und lehrreiches Buch, das Weingarten ergänzt und fortführt. Für die ökonomische und sozialgeschichtliche Seite der Sache vgl. die wichtige Arbeit von E. Bernstein, Kommunistische und sozialistische Strömun­ gen während der englischen Revolution des 18. Jahrh., in >Geschichte des Sozia­ lismus in Einzeldarstellungen« I 1895 S. 507-718; natürlich ist hier dann wieder nach sozialistischer Geschichtsdogmatik alles Religiöse nur durchsichtige Hülle für ökonomisch-soziale Bestrebungen, die sich hier noch in ihrem vormarxistischen, d. h. ideologischen und zwar christl.-täuferischen Stadium befinden; außerdem Beifort Bax, Rise and fall of the Anabaptists, London 1903, wo das Ganze mittelbar auf das Täu­ fertum zurückgeführt wird. - Der wesentlich täuferische Charakter der späteren radi­ kalisierten Bewegung, der den presbyterianischen und calvin.-independenten Charak­ ter ablöst, ist in allen Darstellungen anerkannt; auf starke Bestände radikaler Täufer nehmen sowohl die Darstellungen als die Quellen überall Bezug, vgl. Weingarten S. 103-105, das Zeugnis Baillies Weingarten S. 127, S. 179 Anm. 2, 265. Ferner Gooch 73-75, 128-129, 174 f., 267-70, Bernstein 509, 522 Vorspiel im Jahre 1549, 525-527 Lollharden und Täufer. Ueber das Verhältnis zu Luther s. eine Flugschrift bei Weingarten S. 114: >Jeromes of Prague or Luthers time was buc a little bether than the darkest time of popery. « Das ist die Sprache der Täufer und Spiritualisten. Vielfache Bezüge auf radikale, von den friedlichen General Bap­ tists unterschiedene Täufer bei Barclay, The inner life, und in dem wichtigen * 52

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4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Einige Gruppen die in den letzten Jahren des Kriegs und dann vor allem nach Cromwells >Abfall« hervortraten, zeigen die Buch von Firth, Cromwells Army 1902, das nur leider diesen Beziehungen nicht prinzipiell nachgeht: Disputation der Feldprediger über Kindertaufe S. 325; Vertre­ tung der Laienpredigt durch Leutnant Chillandon in dem Traktat »Preaching without ordination ; der Leutnant wurde Anabaptisten-Prediger. S. 336 : Die Laienpredigt, namentl. der Offiziere, erhielt ihren Anlaß durch die Zurückziehung der presbyteria­ nischen Geistlichen von der Armee, Firth 334 f., ebenso Bernstein 546. Sie hing mit dem Chiliasmus zusammen, indem bei dem Kommen des Reiches das geordnete Amt hinfällig wird. Aus dieser Laienpredigt der Offiziere und ihren relig. Besprechun­ gen entstanden dann auch leicht religiös-politische Theorien, .Firth S. 337. Doch war das Recht der freien Predigt nie 1;nbeschränkt und unkontrolliert ; es endete mit der Säuberung der Armee von allen ,anabaptistischen« Elementen, wobei jedoch Cromwell die milderen ,Anabaptisten« ausdrücklich der Armee erhalten wollte. Ein Pamphlet von 1655 (Firth 342 f.) redet Cromwell an: •And so were you at Dun­ bar in Scotland or at least you seemed so by your words and your actions ; for you spake as pure lndependency as any of us all then and made this an argument, why we should fight stoutley, because we bad the prayers of the Independents and Baptist Churches. So highly did you seem to love the Anabaptists then, that you did not only invite them into the Army but entertain them in your family.c Bei Firth auch Darstellung der geistlichen Versorgung der Armee, die wichtigsten Feld­ prediger Dell, Saltmarsh, Hugh Peters, Canne, zum Teil reine Spiritualisten, über die später zu sprechen ist, zum Teil Radikale im Sinne des Täufertums. - Die ethische religiöse Begründung des Krieges gegen die bisherige Autorität war zunächst die huge­ notisch-schottisch-calvinistische, s. den Soldatenkatechismus bei Firth 330 und den Traktat von Bridge über das Recht des bewaffneten Widerstandes bei Hanbury, Historical memorials relating to the independents II 189 ff. Mit dem Eindringen des Chiliasmus wird die Begründung eine andere : es gilt Christi Reich vorzubereiten, Hierfür besonders lehrreich ein Traktat von Archer, The personal reign of Christ upon earth 1642, den mir Herr Sippell freundlichst mitgeteilt hat. Damit geht dann die Auffassung vom Recht des Krieges in die Analogie des täuferischen über oder ist direkt von ihr abhängig. - Im übrigen ist die Politisierung der Armee die Folge des Bruches mit dem Parlament und bedeutet das Auf kommen einer bestimmten politischen und sozialen Schicht in der Armee Firth 318, 351-354, Ursprünglich meist aus gepreßten Leuten bestehend, hatte sie kein eigenes Inter­ esse. Seit 1651 besteht sie nur aus Freiwilligen, weil es nur dieser Sache sei, für Nation und Religion zu streiten. Der eigentliche Sitz dieser Freiwilligen ist von Anfang an Cromwells Kavallerie. - Ueber das damit zugleich auftauchende absolute Naturgesetz der Sekte im Gegensatz gegen das relative der Kirche, auch gegen das immer noch ständisch gedachte hugenottisch-schottische Natur­ recht des Staatsvertrages siehe Gooch : S. 108 f. schottisch-hugenottisch, ebenso S. 117 u. 133-162 (Ireton); der Uebergang zum Radikalismus S. 176 (Godwin) und 180 (Milton); das radikale Naturrecht des Urstands, der Vernunft und Christi

Die Leveller.

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täuferischen Züge mit besonderen Eigentümlichkeiten. Es sind bei der ganzen Lage der Dinge und bei der die Atmosphäre er­ füllenden spiritualistischen Vergleichgültigung des Kultus und der Organisation jetzt keine besonderen kultischen Gruppen mehr, eher politisch-soziale Parteien. Aber in diesen treten dann die politisch­ sozialen Folgerungen als solche der religiösen Idee umso deutlicher hervor. Die wichtigste und zahlreichste Gruppe waren die Level­ ler. Sie waren stark politisch interessiert und setzten sich in Gegen­ satz gegen die Armeeleitung, aber auch sie begründeten ihre Forde­ rungen religiös. Sie sind die Vertreter des radikalen Natur-, Gottes­ und Christusgesetzes, das von keinem Kompromiß mit den Ord­ nungen der Sünde weiß, sondern von Grund aus das christliche, soziale und politische Ideal verwirklichen will. Ihr Führer John Lil­ burn stammte aus Puritanerkreisen, war ein Opfer der Sternkam­ mer, Exulant in Holland, dann Offizier der Parlamentsarmee. Bald auch mit dem Parlament zerfallen, setzte er durch seine Agitation die Armee in Brand und regte sie zu den berühmten Vorstellungen an die Gemeinen und das Parlament auf, die als Agreements of the people bekannt sind. Der Geist des Ganzen war eine aus dem christlichen Spiritualismus gefolgerte völlige Entstaatlichung der Kirche und ihre Auflösung in freie, sich selbst erhaltende Gemein­ den, zugleich die Folgerung einer radikalen Demokratie aus der christlichen Gleichheit und Freiheit der Erlösten, Nicht Vermögens­ gleichheit, aber volle Rechtsgleichheit und wirkliche Beteiligung des gesamten Volkes, soweit es christlich fromm ist, an der Leitung der Regierung sollte gefordert werden, das Rechtswesen verein­ facht, die Todesstrafe beschränkt werden. In diesem Sinne sei Jesus der erste Leveller gewesen. Durch den Widerstand der Generale und schließlich durch Cromwells Protektorat zurückgewiesen, gingen sie in eine leidenschaftliche Opposition über, die Attentate, Verschwö­ rungen und sogar Verbindungen mit den Royalisten nicht scheute, bis sie schließlich gewaltsam unterdrückt wurden. John Lilburn selbst rettete sich schließlich in den stillen Hafen des Quäkertums 456). ohne Kompromiß mit der Sünde S. 184 f., 199, 328. Besonders in der gleich zu nennenden Schrift von Berens über die Diggers : First we demand, yea or no, whether the earth with her fruits was made to be bought and sold from one to ano­ ther? and whether one part of mankind was made to be a Lord of the land and another part a servant by the I a w o f c r e a t i o n b e f o r e t h e f a 1 I ?c Ueber Bunyan s. Beifort Lax S. 379-381. 456) Ueber die Leveller am besten Gooch S. 139-157, 195-206, 256-259.

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III. Protestantismus. 4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Viel wirkungsloser sind die S o z i a l i s t e n u n d K o m m u­ n i s t e n der Revolution. Während die Leveller das dem radi­ kalen Bürgertum und den Arbeitern gemeinsame politische Freiheits­ interesse aus den religiösen Voraussetzungen folgern und begründen, vertreten diese Gruppen das Interesse des Landproletariates, das gleichfalls durch das Reich der Heiligen zu seinem Recht und zu dem Hier ist die Auffassung Weingartens am befremdlichsten ; er sieht in ihnen ver­ kappte Rationalisten und gar die Anfänge des Deismus, weil er das absolute Natur­ recht in seiner Identität mit der Vernunft und dem ChriHtusgesetz als alte Sekten­ idee nicht kennt. Das absolute Naturrecht erscheint ihm als moderner Rationalis­ mus, was es nicht ist. Noch weiter geht Bernstein, der hier nur eine dünne, über­ all zerreißende Decke im Religiösen erkennen will. Die Schrift von Overton >Mans mortalityc, auf die er sich beruft S. 579 f., leugnet doch nur den sog. Zwischenzu­ stand und lehrt eine vollkörperliche Auferstehung. Mehr beweisen die - freilich von Gegnern berichteten - epikuräischen Aeußerungen Walwyns S. 581 f. Allein bei Lil­ burn selbst und bei der ganzen Bewegung kann an der wesentlich spiritual.-religiösen Wurzel nicht gezweifelt werden. Die Verwerfung des Dogmas und der Heilsgeschichte sowie die Allegorisierungen sind Spiritualismus im Stil Seb. Francks, aber nicht eine verdeckte Preisgabe der religiösen Grundlage. Die von Weingarten S. 307 zitierte, mit der zur Verteidigung Walwyns geschriebenen Schrift The charity of churchmen vermutlich den gleichen Verfasser besitzende Schrift >The craftmans craft 1649« (s. auch Weingarten 304) ist mir von Herrn Sippell gütigst zur Kenntnis gegeben. Sie enthält an religiösen Elementen mehr als das bloße von W. zitierte Bekenntnis zur Existenz Gottes. Sie verteidigt einmal Overtons oben berührte Aeußerung über die Sterblichkeit des Leibes als die Auferstehung des Geistes und seine Wiederver­ körperung ausdrücklich behauptend ; sie verwahrt sich ferner mit charakteristischer Einschränkung gegen den Vorwurf Münsterschen Täufertums > Where proofs are wanting, there are resemblances insinuated in their stead; and comparisions made either in such things as are true of neither; or eise the Party, that is to be �ade odious, is likened to such as are already, i n s o m e p a r t i c u I a r s n o t m a t e r i a 1; a n d y e t t h e r e b y i s s u g g e s t e d a s im i 1 i t u d e i n a 11 t h e r e s t.c Das ist doch das runde Bekenntnis zum täuferischen Ideal, abgesehen von some particulars not material. Vor allem aber die Begründung der levellistischen Forde­ rung selbst: We answer, that we cannot suppose nor do we think, any rational man to belive the thing unlawful in itself ; f o r t h e n t h e p r i m i t i v e Ch r i­ s t i a n s d i d u n 1 a w f u 1. c Das Prinzip an sich ist christlich und vernünftig ; es darf nur nicht mit Gewalt aufgezwungen werden : to make it lawful there raust be an unanimous and individual consent of every man unto. Das zeigt auch, wo die mißbilligten particulars der Münsteriten liege : in der dem christlichen Geist wider­ sprechenden Gewaltsamkeit. Die von Weingarten S. 304 zitierte Aeußerung zeigt doch nur den Spiritualismus der Leute, dessen nicht rationalistische Natur wir noch kennen lernen werden.

Die Diggers.

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Lohn seiner Opfer für den Krieg zu kommen hoffte. Die Bewegung blieb auf dieses beschränkt, da es ein Industrieproletariat noch kaum gab. Sie traten hervor als >Diggers« d. h. als eine kommunistisch organisierte kleine Gruppe, die das Gemeinland und Krongut unter Grabscheit und Pflugschar zu nehmen für ihr christliches Recht hielt. Ihr Wortführer war Gerard Winstanley, von dem unter dem Titel » The law of Freedom« ein christlich­ soziales Reformprogramm, Cromwell gewidmet, nebst vielen Flug­ schriften auf uns gekommen ist. Winstanley war in seinen Aus­ gangspunkten reiner Spiritualist, ähnlich wie Hans Denk, Seba­ stian Franck und die Familisten. Aber die aus diesem Spiritualis­ mus des inneren Lichtes und des einwohnenden ewigen Christus, der zusammenfällt mit der schaffenden Gottesvernunft, gefolgerte christlich-soziale Idee ist das alte Sektenideal des absoluten Natur­ rechts, wie es vor dem Sündenfall war, das Ideal der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, welches Recht, Gewalt und Herr­ schaft nur soweit kennt, als all das aus der freiwilligen Zustimmung der Individuen abgeleitet ist und der Aufrechterhaltung des Ge­ samtwohls willig dient. Alles darüber hinausgehende historische Recht, das von der Kirche und dem monarchisch-aristokratischen Prinzip als relatives Naturrecht gefeiert und durch den Sündenfall begründet wird, ist ein Erzeugnis des Fleisches, der Selbstsucht und der Aeußerlichkeit; es wird nur von der falschen Priester- und Profes­ sorentheologie im Klasseninteresse mit sophistischen Gründen ge­ deckt. Christus, das innere Licht, die Vernunft, das absolute Natur­ recht, all das ist identisch ; es soll mit dem Siege Christi jetzt in England ein neues Zeitalter begründet und auch auf den Konti­ nent übertragen werden. Durchgeführt werden soll dieses christliche Naturrecht zunächst in der Auflassung des Gemeinlands und der herrenlos gewordenen Güter für eine kommunistische Bearbeitung durch die Verarmten und Kapitallosen. Dabei soll die Familie und der Privathaushalt erhalten bleiben. Auch soll das Ganze nicht mit Gewalt verwirklicht werden. Die älteren Brüder, wie er die Landbesitzer und Kapitalisten nannte, sollen in ihrem Besitz und Gewinn bleiben, nur das freigewordene Land soll den »jün­ geren Brüdern« oder den Kapitallosen überlassen werden. Der Geist müsse dann die neue Ordnung selbst durchführen, die Winstanley als eine absolut demokratische, durch jährlichen Wech­ sel der Wahlbeamten zu leitende Gesellschaft dachte und in der er das Geld sowie Mietung und Verwertung von Arbeitskräften

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik anf protestantischem Boden.

ausschloß. Das Vorbild des Gesetzes Israels, geistig gedeutet, schwebte ihm dabei vor. Cromwell stellte er vor die Wahl, die neue Ordnung aufzurichten und so ein wahrer Christ zu bleiben oder bloß unter neuem Namen die alte fortzuführen und damit den inwen­ digen Christus zu verraten. Es ist eine Vorausnahme von Ideen über das Eigentum, wie sie später Locke vertreten hat, und von einer Bodenreform, wie sie heute Henry George vertritt, freilich zunächst völlig wirkungslos, da die nächste Entwicklung gerade im Gegenteil die Aufteilung des Gemeinbesitzes und die Ver­ drängung der freien Bauern zugunsten der Enclosures brachte. Kurz nach Winstanley begegnen wir im Jahre 1659 in London zwei Pamphleten des Holländers Peter Cornelius Plockboy, der der gemäßigt täuferischen Bewegung angehörte und, von den mähri­ schen Täufern, vielleicht auch den Labadisten angeregt, das Pro­ gramm einer im großen Stil organisierten Kooperativ-Genossen­ schaft aus christlichen Grundsätzen entwickelte ; damit wollte er die bürgerliche Wirtschaft zur Nachfolge zwingen; von praktischen Wirkungen erfahren wir nichts. Immerhin aber haben Winstan­ leys Ideen dann auf den christlichen Sozialismus des Quäkers Bellers und dieser auf Richard Owen gewirkt, sodaß von ihm un­ mittelbare Fäden zum modernen Sozialismus hinüberlaufen. Er selbst hat, ähnlich enttäuscht wie Lilburn, mit vielen seiner Anhänger schließlich den Anschluß bei den Quäkern gefunden 466• 456) Vgl. Gooch S. 214-225, Bernstein S, 583-608; vor allem das die wichtigsten Auszüge darbietende Buch von Berens , The digger movement in the days of the commonwealth, London 1906, Dadurch, daß W. Gott als Ver­ nunft oder creative reason bezeichnet, haben sich viele verleiten lassen, diese Ideen als wesentlich rationalistisch zu betrachten, Allein W. beginnt bei den Familisten und endet bei den Quäkern. Die Creative Reason ist der Logos, identisch mit dem inwendigen Christus: »This Spirit of reason is not without a man, but within every man; hence he need not to run after others to tel1 him or to teach him; for this Spirit is bis maker, he dwells in him, and if the flesh were subject thereunto, he would daily find teaching therefrom, though he dwelt alone and saw the face of no other manc S, 45. >Even so Christ, which is the spreading power, is now beginning to fill every man and woman with himself, He will dwell and rule in everyone: and the law of reason and equity shall be Christ in them , , , This is the Church, the great congregation, that, when the mystery is completed, shall be the mystical body of Christ, all set at liberty from inward and outward straits and bondage, And this is called the holy breathing, that made all new by Himself and for Himselfc S. 6i, •The golden Rule, do not to another as thou wouldst have another to do thee, which God,

Die Millenarier.

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Am engsten ist der Zusammenhang mit dem radikalen Täu­ fertum festgehalten bei den M i 11 e n a r i e r n , einer Partei, die die vier danielischen Weltreiche der kirchlichen Geschichts­ philosophie bis auf Cromwells Protektorat ausdehnte und nach dessen Zusammenbruch das fünfte Weltreich der vollendeten Christusherrschaft erwartete. Sie hofften auf die Wiederkunft Christi und die Aufrichtung des wahren Reiches der Heiligen ohne Priester, Sakramente, Recht, Eid, König und Obrigkeit, auf das Reich des vollendeten christlichen Liebes-Anarchismus. Die einen harrten dieser Zukunft in stillem Dulden und Ertragen der Welt, die andern griffen wie die Taboriten und Münsteraner zur Revo­ lution. Zu dieser Gruppe gehörten die eigentlichen religiösen Schwärmer; ihr Geist beherrschte die Linke des Barebone-Parla­ mentes, mit dem Cromwell daher nicht regieren konnte. Sie bil­ deten eine wirkliche Gefahr für das Protektorat. Ein engerer und stillerer Kreis sonderte sich von ihnen ab unter der Führung von John Pordage, der, zu mystischen und asketischen Ideen übergehend, das Reich der Heiligen zu einer philadelphischen Gesellschaft ver­ innerlichte, ähnlich wie die späteren Quäker und die kontinenta­ len Labadisten. Aber viele verharrten auch im erbitterten Kampfe gegen Cromwell. Nahe verbunden mit ihnen waren die radika­ len Baptisten, die namentlich in der irischen Armee vertreten waren und dort einen anabaptistischen General auf den Schild heben wollten, bis Monk sie aus der Armee heraussäuberte. Bei der Restauration waren diese Chiliasten die einzigen, die sich nicht fügten oder zu den Innerlichkeitsgruppen übergingen. Sie machten den Versuch einer Auflehnung , der blutig niederge­ schlagen wurde. Ihr Führer Harrison starb in der Ueberzeugung, daß er bald wiederkommen werde zur Rechten Christi bei der Christ and scripture have enacted for a lawc S. 171, ,The law of creation and equity of the scriptures« 158. > That their intent is to restore the Creation to its former condition« S. 37. In diesem Sinne ist auch stets von dem birth right, dem angeborenen Recht oder den Menschenrechten die Rede, Bereits hier tritt uns dieser wichtige Gedanke, und zwar als ein religiös begründeter, entgegen. Das birth right ist zugleich das vornormannische englische Volksrecht, wie einst in der Wikliffie; vor der Eroberung galt das Naturrecht. Solche Stellen sind zahllos, es ist das uns wohlbekannte christliche Naturrecht in der Sektengestaltung, außerdem verbunden mit dem mystischen Spiritualismus. W. über sein Verhältnis zu den Täufern S. 65, sie sind ihm zu äußerlich. - Ueber Plockboy Bernstein S, 685-694 und Laspeyres S, 105 f. - Ueber Bellers Bernstein 694-728.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Aufrichtung des Reiches. Von da ab war es mit dem revolu­ tionären Täufertum bis heute zu Ende 457). Die übrigen religiösen Gruppen der Revolution gehörten der mystisch-spiritualistischen Bewegung an und sind im Zusammen­ hang mit dieser später zu nennen. Das religiöse Endergebnis von allem aber, die Quäker-Sekte, war ein Mischgebilde aus Sektengeist und Spiritualismus und ist daher gleichfalls erst später zu schil­ dern. Hier war nur das in der Great Rebellion mitspielende sek­ tenhafte Element hervorzuheben, wie im vorigen Kapitel das cal­ vinistisch-schottisch-hugenottische im Zusammenhang des Calvi­ nismus erläutert werden mußte. Was über diese letztere Linie hinausging, war enthusiastisch, mystisch-spiritualistisch und vor allem radikal-naturrechtlich im Sinne des aggressiven chiliasti­ schen Täufertums. Dieses letztere Moment der höchst kompli­ zierten Bewegung gehört in den gegenwärtigen Zusammenhang. Es war nicht das beherrschende, aber es hat tiefe Wirkungen hinterlassen. Wie immer hat auch hier der idealistische Radika­ lismus zunächst allerdings bloß der Reaktion den Weg bereitet. Aber die Folgen blieben doch unaustilgbar. Teils gebrochen in der Verbindung mit der puritanisch-independenten Bewegung, teils unmittelbar in den radikalen Gruppen hat der Geist des Täufertums dazu gewirkt, die Einheit von Staat und Kirche auf­ zulösen, die Kirchenbildung frei zu stellen und die Verchristli­ chung des Volkes auf ethisch-soziale Interessen ohne dogmati­ schen Zwang hinzuleiten. All das geschah noch im Geist uto­ pischer Schwärmerei, aber es wurde in den nächsten Generatio­ nen zum politischen und wirtschaftlichen, nüchternen Programm. Es ist das letzte Mal, daß eine politisch-soziale Revolution sich im Zeichen der christlichen Ideen vollzog, aber diesen Ideen verdankte sie einen großen Teil ihrer Macht und von ihnen her erst ist ihre säkularisierte Gestalt in die moderne Welt eingeführt worden. Hier zeigt sich aufs stärkste die nicht bloß kirchen- und religions­ geschichtliche, sondern die allgemeine politisch- soziale Bedeu­ tung der im Sinne des Sektentypus ausgestalteten christlichen Idee 45 8). 407) Ueber die Quintomonarchisten s. Gooch 260-267, 324 und Glass. '3�) Hierzu vgl. meine den Independentismus und die Bedeutung des Crom­ wellschen Zeitalters zusammenfassende Darstellung in Kultur d. G. IV. 1 2 S. 588 bis 600. Das dort Vereinigte ist hier in seine verschiedenen Komponenten aufge-

Der Pietismus.

Die Entfesselung des Sektengeistes in der englischen Revo­ lution hing mit der pietistisch-puritanischen Gestaltung des engli­ schen Calvinismus zusammen. Diese Gestaltung fehlte auch dem kontinentalen Calvinismus nicht, wie wir gesehen haben. So viel friedlicher und ruhiger dieser verlief, so haben daher doch auch bei ihm die Uebergänge in das erklärte Sektenwesen nicht ge­ fehlt, und die ganze Bewegung griff auch auf das Luthertum über. Hier pflegt man die Erscheinungen unter dem Namen P i e t i s m u s zusammenzufassen. Der Pietismus ist im allgemeinen nichts anderes als der in­ nerhalb der Kirchen sich auswirkende und durch die Grundge­ danken des Kirchentums eingegrenzte Drang des Sektenideals, wie es aus dem neutestamentlichen Sittengesetz, dem Gedanken des Gottesreiches und dem Gegensatz gegen die kirchlich-sakra­ mentale Veräußerlichung sich auch innerhalb der Kirchen selbst immer wieder erhebt. In diesem Sinne gehört der Pietismus, eben­ so wie das Sektenideal selbst, allen Kirchen an. Auch der Katho­ lizismus hatte gerade damals aus verwandten Gründen seine pie­ tistische Erscheinung im Janssenismus; da er eine solche jedoch nur ertragen kann, soweit sie in Orden und Bruderschaften sich kirchlich regeln läßt, so hat er den Janssenismus rundweg vernichtet. Die entsprechenden Bewegungen des Calvinismus, soweit sie inner­ kirchlich blieben, haben wir bereits als Puritanismus und Präzisis­ mus kennen gelernt. Aber bei dieser Innerkirchlichkeit blieb es nicht, es vollzog sich vielmehr überall der nahe liegende Ueber­ gang zur Separation und zur Sekte. In den Niederlanden begann damit der Labadismus, in England erhob sich mit dem Metho­ dismus eine neue große Welle der Sektenbildung. Aber auch im Luthertum zeigten sich die gleichen Erscheinungen und traten in Berührung mit den calvinistischen, welche Berührung bis zum heutigen Tage immer nur zugenommen hat. Freilich fehlt bei diesem späteren englischen Pietismus und dem kontinentalen jene welthistorische Aufgipfelung zum Abbruch eines alten und zum Auflöst und jede im Zusammenhang ihrer Entwickelungsreihe dargestellt, Der »Inde­ pendentismusc ist eben eine völlig komplexe Größe, in der Verschiedenartigstes sich vereinigt. Meine dort sehr allgemein gehaltene Darstellung von dem Einfluß des täuferischen Elementes, die übrigens dort noch zu sehr unter dem Einfluß Wein­ gartens stand, ist jetzt genauer bestimmt. Damit erledigen sich die teilweise be­ rechtigten Bedenken, die Loofs, Luther und Mittelalter, S. 15 erhoben hat.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

bau eines neuen Staatswesens, die in der englischen Revolution stattgefunden hatte. Dort war die religiöse Bewegung durch den Gang der Dinge für einen Moment in den Brennpunkt der poli­ tischen und sozialen Kämpfe versetzt, und daraus erklärte sich die gewaltige Umwälzung , in der das Christentum das Haupt eines Königs gefällt hat. Auf dem Kontinent fehlen dem Pietis­ mus derartig große Zusammenhänge. Daher behält er hier und vor allem in Deutschland ein mehr partei- und winkelhaftes, in theologischen und kirchlichen Kreisen sich erschöpfendes, im ganzen mattes und zahmes Wesen. Er zeigt viel echtes, warmes und opferwilliges Christentum, aber auch die ganze Kleinlichkeit geistlicher Gruppen, die für ihre Weltabgeschiedenheit durch einen um so gründlicheren Hochmut sich entschädigen, den scheinbar verschmähten weltlichen Einfluß durch allerhand persönliche Bezie­ hungen dann doch wieder hinten herum gewinnen wollen und ihre Leidenschaften in allerhand geistlichem Krakehl austoben, genau wie das schon die Schattenseite des Täufertums gebildet hatte. In Deutschland ergab sich seit der Erholung aus dem 30jährigen Krieg eine 'Gegenbewegung gegen das dogmatisch er­ starrte, im Amtswesen verknöcherte und moralisch nur allzu duld­ same Massen- und Landeskirchentum. Ihr Führer wurde Spener, der dabei außer an seine lutherischen Vorgänger vor allem an Luthers Anfangsprogramm der engeren Gemeinden »ernster Chri­ sten« anknüpfte, aber auch von dem englisch-niederländischen Pietismus starke Eindrücke empfangen hatte. Insbesondere führte er das dortige Konventikelwesen ein als ein Mittel der geistlichen und ethischen Reform der Kirche, die zur bisher allein streng durchgeführten dogmatischen Reform nun noch hinzukommen solle. Freilich sollte es eine völlig innerkirchliche Reform sein. Aber der Perfektionismus, die Sammlung bekehrter, d. h. reifer und bewußter Christen zu engeren Kreisen eigentlicher Christlichkeit, die Forderung wiedergeborener Prediger, die Betonung des Laien­ christentums und der reinen apostolischen Urkirche bedeutete doch etwas dem kirchlichen Geiste innerlich Entgegengesetztes. Auch glaubte er als stärksten Ansporn für die Reform den Hin­ weis auf das kommende Gottesreich und die baldige Weltver­ wandelung gebrauchen zu sollen. Die von hier aus entwickelte Ethik der berufstätigen , aber von der Welt sich scheidenden Askese und die methodisch-rationelle Disziplinierung der Selbst­ heiligung für das Jenseits stand der lutherischen Ethik der Mit-

Der Pietismus.

teldinge, der Läßlichkeit und der freien Auswirkung des Geistes, schroff gegenüber. Bei aller Anerkennung des kirchlichen Dog­ mas, der Sakramente u�d der Landeskirche schlug eben doch die Verwandtschaft mit dem Geiste der Sekte vor. Das haben denn auch die Gegner genügend hervorgehoben, indem sie den Pietismus mit der Wiedertäuferei, den Weigelianern, Rosenkreu­ zern und Quäkern immer von neuem in Verbindung brachten. In der Tat ist auch das entscheidende Motiv ein verwandtes ge­ wesen. Nur haben seine Gegner die Anknüpfungspunkte im eigenen Kirchentum nicht sehen oder nicht gelten lassen wollen. Aus der Bibel, den älteren Idealen Luthers, der Veräußerlichung des absolutistischen Staatskirchentums ging die Bewegung mit innerem Recht hervor. Ihre Stellung zur Welt und Kultur war doch erst die konsequente Folgerung aus Luthers Erbsünden­ und Bekehrungslehre, sobald die lutherische Tauf lehre und die lutherische freiere, aber unklare Stellung zur Welt minder betont wurden. Auch war die Nachahmung der reformierten Konventikel und der Anschluß an die reformierte Askese und Moraldisziplin nicht .ein zufälliger, fremder Einfluß des Calvinismus, sondern ein Ergrei­ fen der wahlverwandten, aus ähnlichen Motiven erwachsenen Mittel, die der deutschen Bewegung aus der Not helfen sollten. Damit traten dann auch alle anderen Folgeerscheinungen dieses sektenhaft asketischen Geistes ein: die Betonung der Mittätigkeit der Laien, die selbständige Bibelforschung ohne kirchliche Auslegungskon­ trolle, die Geringschätzung des Staatskirchentums und der »sub­ sidia« religionis, die Forderung des Bannes und der Kirchenzucht als Tätigkeit der Kirche und nicht bloß als solche der Polizei; das Drängen auf eigene, persönlich gefühlte und erfahrene Religion; die Zurückführung aller weltlichen Kultur lediglich auf das Prak­ tisch-Nützliche und die Verwerfung aller Philosophie und Theo­ logie ; die Missionierung und Erziehung bei den zwar getauften aber noch nicht eigentlich bekehrten Kindern ; die Einfüh­ rung der Konfirmation als Ersatz für die Spättaufe ; das neue pietistische Kirchenrecht des Kollegialismus, der die Kirche aus dem Zusammentreten der Individuen zu Vereinen hervorgehen ließ, aber freilich die stillschweigende Uebergabe der Vereinsge­ walt an die Obrigkeit zugleich behauptete und damit die prak­ tischen Folgerungen vorerst abschnitt. Zu bedeutenden Separa­ tionen, die überdies im Unterschied von England und den Nie­ derlanden das Reichsrecht nicht zuließ, ist es in Deutschland nicht

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

gekommen. Der Pietismus blieb innerkirchlich, ja im Aufklärungs­ zeitalter verband er sich aufs innigste mit den Resten der alten dogmatischen Kirchlichkeit, und aus se_iner Wiedererweckung in dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist die große orthodoxe Re­ stauration dieses Jahrhunderts hervorgegangen, wodurch freilich das heutige Kirchentum mit einer Masse pietistischer Sprengstoffe durchsetzt worden ist. Es ist alles in allem das Sektenmotiv auf kirchlichem Boden; von den mystischen Beimengungen wird später noch zu handeln sein. Die kirchliche Gebundenheit des Sektenmotivs zeigt sich in allen Stücken, nicht nur in Dogma und Organisationsideen, son­ dern vor allem in seinen sozialen Ideen. Ihm fehlte, wie auch dem Puritanismus und dem späteren Baptistentum, jeder Zug der Sekte zum sozialen und politischen Radikalismus. Er brauchte nicht erst zu verbürgerlichen, wie das alte Täufertum, er war von Anfang an bürgerlich und loyal. Er nahm im Sinne des Luthertums die gegebe­ nen Ordnungen in Staat und Gesellschaft hin, wie sie waren, und dachte nicht an eine Christianisierung der Gesellschaftsordnung. Im Gegenteil, er liebte den Anschluß an regierende Gewalten, an den Adel und die höheren Stände und christianisierte nur die Herzen, aber nicht die allgemeinen Verhältnisse. Er trieb innere Mission und heilte soziale Schäden durch eine neue, auf die freie Initiative des Vereins gestellte Art der Karität, aber er tastete nir­ gends die Grundlagen des Gegebenen an. Auch dem leidenden und duldenden Täufertum ähnelt er nur sehr bedingt. Askese und Weltentsagung vollzieht sich vielmehr, wie im Puritanismus und im späteren Mennonitentum, in der Form der Bejahung aller gegebenen Berufsverhältnisse. So schließt er sich auch der reformierten Geschäftsmoral an. Er lehrt die Beseitigung jedes selbständigen Eigenwertes der weltlichen Interessen und Geschäfte, die er sämt­ lich nur als »Rentmeister Gottes« zum Nutzen des bürgerlichen Daseins und zur Verwendung für die »Reichs-Gottes-Arbeit« be­ treibt. Aber er reformiert nicht die Welt, sondern sammelt die ern­ sten Christen zu einer Partei in der Kirche und bekehrt die Heiden, auch das ein Zeichen seiner Uninteressiertheit an der Reform des Weltlebens. Seine Aufgaben liegen überall nur in der Bekehrung und in der Sammlung der wiedergeborenen Seelen. Sein Interesse an der Befreiung des dritten Standes, d. h. der Laien ist rein religiös und kirchlich gemeint, als Verselbständigung der persön­ lichen Innerlichkeit und als Recht der Konventikelbildung. Dabei

Die soziale Bedeutung des Pietismus,

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ist ein charakteristischer Unterschied des deutschen gegenüber dem reformierten Pietismus gerade in diesem Punkte hervorzu­ heben. Während der von Hause aus auf die heilige Gemeinde abzielende Calvinismus bei pietistischer Steigerung gerade in der Unter- und Mittelschicht seine Träger hat, gehen beim deutschen Pietismus diese Schichten gerne in die Separation über, während der kirchliche Pietismus Sache nur allein der Theologen und des Adels ist. Das lutherische Kirchentum ist eben innerlich auf den Pietismus und seine Ethik nicht eingestellt, wenn auch die luthe­ rische Sünden- und Bekehrungslehre ihm sehr entgegenkommt. Auch so sind natürlich starke kulturgeschichtliche Wirkungen der Individualisierung und Verinnerlichung des Lebens, der gesell­ schaftlichen Nivellietung, der Verpersönlichung des gesellschaft­ lichen Daseins nicht ausgeblieben ; aber sie sind durch seine Nei­ gung zum Adel, zu Sonderkreisen und Parteiwesen, oft auch ins Gegenteil verkehrt worden. Er ist in Wahrheit ein auf kleinere Kreise zugeschnittenes Bekehrungschristentum, das seinen Halt an den Landeskirchen hat und sucht, und das die Welt und die Kultur liegen läßt, wie sie ist. Kulturwirkungen, vor allem poli­ tischer und sozialer Art übt er nur gegen den eigenen Sinn und Willen aus. Wir stehen hier wieder auf dem Standpunkt der leidenden und duldenden Sekte, die überdies mit der kirchlichen und weltlich-staatlichen Ordnung sich abfindet. Daher auch die relative Beliebtheit des Pietismus bei den herrschenden Mächten, nachdem man sich in die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung der alten reinen Staatsreligion - schwer genug - finden gelernt hatte. Er liefert treue, die Unterordnung als Berufsaskese betäti­ gende Diener, tastet die Verhältnisse nicht an, verpflichtet die Herrschenden nur zu patriarchaler Güte und Fürsorge und löscht die Standesunterschiede nur im eigentlich religiösen Verkehr aus; übrigens ist auch das von ihm nur sehr wenig durchgeführt worden 459). 459) Vgl. den ausgezeichneten Artikel von Mirbt ,Pietismus« in PRE.3 XV, ferner Ritschl; Heppe; Grünberg, Spener 1893, 1905, 1906 ; Göbel, Geschichte d. christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen ev. Kirche 1849, 1852, 1860. Stephan, Pietismus als Träger des Fortschritts 1908; W. Köhler, Anfänge des Pie­ tismus in Gießen 1689-1695 in der Gießener Festschrift von 1907, Ueber die sozialen Beziehungen s. Gustav Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Ver­ gangenheit; Bertholdt, Die Erweckten im prot. Deutschland (Raumers historisches Taschenbuch 1852 und 1853), hier ist der reformierte, nicht-Spenersche Charakter

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden

Bei dieser kirchlichen Gebundenheit des Sektenmotivs im Pietismus ist es verständlich, daß die wenigen bedeutenden Sepader geschilderten Erscheinungen nicht beachtet; Drews, Einfluß der Kirche auf die gesellschaftlichen Zustände, Z. f. Th. u. K. 1905; Uhlhorn, Liebestätigkeit III 236-261; bes. Ritschl II 500-505; Max Weber, Archiv XXI S. 39-56. Wein­ garten, der die verschiedenen Strömungen überhaupt nicht recht unterscheidet, hat leider der pietistischen Strömung in ihrem Unterschied von Kongregationalismus und Täufertum in England keine Aufmerksamkeit geschenkt, wenn er sie auch tatsächlich gelegentlich treffend schildert. - Das in seiner Weise großartige Werk Ritschls beruht auf der scharfen Erkenntnis des sektenhaften Charakters des Pietismus und eröffnet aus diesem Grunde vom Standpunkt des vollendeten Bour­ geois und Kirchenmannes gegen ihn eine Polemik, die wegen ihres geradezu in­ quisitorischen Scharfsinnes von höchster Bedeutung ist. Hier ist es nun höchst interessant und lehrreich, daß bei Ritschl diese Verwerfung diktiert ist durch seine klare Einsicht darein, daß nur das auf die anstaltliche Sündenvergebungsgnade auf­ gebaute Landeskirchentum den für ein Volks- und Massenchristentum nötigen moralischen Relativismus und nur eine durch das objektive Amt geleitete Kirche den relativen gemäßigten Rationalismus einer wissenschaftlichen Theologie ertragen kann. ,Das Christentum in Gestalt einer Volkskirche ist darauf angewiesen, in einem Mittelmaß von öffentlicher Sitte und in manigfacher Abstufung des religiösen Interesses des Einzelnen aufrechterhalten zu werden« I 178. ,Aller Separatismus wurzelt aber darin, daß die relative Art der kirchlichen Beziehungen nicht zuge­ standen wird• I 450. > Ursprünglich richtet sich der Pietismus auf die (moralischen) Bürgschaften der Seligkeit jedes Einzelnen im Gegensatz zur Welt und auf die Ablehnung aller der Rücksichten, welche die Kirche auf die Welt zu nehmen pflegte I 450. »Das auf die reine Lehre sich zurückziehende Luthertum blieb außer direk­ tem Zusammenhang mit den ethischen und ästhetischen Bedürfnissen, die einem Volk auf Grund der religiösen Bildung erfüllt werden s o 11 e n«. Insofern sei der Pietismus schon durch die Kirche selbst vorbereitet II 88. » Wer an seinem Orte seine Schuldigkeit als Christ thut, hat aus dem Glauben zu urteilen, daß, wo das Evangelium rein und lauter gepredigt wird, Gott seine Gemeinde hat ; und man darf den Wert dieses Glaubens nicht durch die Sorge durchkreuzen, daß die (echte) Gemeinde Gottes umfangreicher sein und mehr in die sinnliche Wahrnehmung fallen möge, als man es beobachtet. Sonst tritt man eben auf den der Kirche entgegengesetzten Boden der Sekte« II 151. »Ein Leben, welches auf Baßkampf und Durchbruch zum Glauben gestellt wird, mag noch so viele Proben christlicher Vollkommenheit mit sich führen; es ist aber vom Boden des geschlossenen kirch­ lichen Zusammenhangs weggerückt ; und wo es einen entsprechenden Boden der Gemeinschaft findet, in der Sekte oder in der Clique oder in der Aufklärung, das ist bei jenem Grundsatz nicht vorgesehen« II 194. Diese Sätze beleuchten ausgezeichnet den Sinn des Kirchentypus. Daß demgegenüber freilich Sekte und Mystik dem Urchristentum näher stehen als die Kirche und jene Berufung auf die jerusalemische Urkirche relativ berechtigt ist, bedarf keines Wortes. - Das letztere

Soziale Bedeutung des Pietismus,

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rationen nicht freiwillige, sondern erzwungene waren. Das gilt von der einzigen größeren deutschen Separation, der He rrnh u t e rg e m e i n d e . wird denn auch von Göbel viel richtiger eingesehen : »Alle diese Orgien und ge­ fährlichen Ausartungen (des Pietismus) hängen mit den (biblisch) wohlberechtigten Arten des christlichen Lebens so eng zusammen, daß sie immer noch als Erschei­ nungen desselben angesehen werden müssen, ja daß sogar häufig die rechte Art sich erst aus ihrer ursprünglich mit sündiger Einseitigkeit und Verkehrtheit auf­ tretenden Ausartung herausentwickelt, wie z. B. erst durch den Mystizismus und Separatismus die rechte Mystik und Askese sowohl in den einzelnen Gläubigen und in besonderen Gemeinden als auch - durch Rückwirkung - in der herrschenden Kirche selbst zu der ihr gebührenden Geltung gelangt« I 3, Eine vortreff liche Gesamtcharakteristik, die mit meiner Auffassung völlig zusammentrifft II 617-621, Mirbt erklärt die pietistische Askese aus ,der Beschäftigung mit der hl. Schrift, deren asketischen Elementen der pietistisch-gerichtete Bibelleser jener Zeit schon unter dem Einfluß eschatologischer Neigungen Verständnis entgegenbrachte« XV 804. - Das Urteil Uhlhorns S. 260: »Die richtige Stellung zu den weltlichen Dingen überhaupt zum Staat, zur Wissenschaft, zur Kunst, hat der Pietismus doch nicht gefunden. Er sieht sie nur von seinem subjektiven (d. h, dem unkirchlichen, nur an Bekehrung und Reife der Einzelchristen interessierten) Standpunkte als berechtigt an, soweit sie ihm nützen; nicht wie das Luthertum sie beurteilt an sich, ihrer Substanz nach berechtigt, (Das ist schief und dunkel formuliert; es bedeutet, daß gegenüber der besonderen Mischung von Weltverneinung und Weltbejahung des Luthertums die pietistische Ethik die asketische Konsequenz vollendet durch An­ schluß an die reformierte Ethik (s. Max Weber, Archiv XXI S. 46-50) 1 die alles Weltliche des Eigenwertes entkleidet, aber es rein utilitarisch als Mittel zum Zweck rationell und methodisch gestaltet; daher auch die Bildungsideale des Pietismu genau dieselben wie des Puritanismus). Die Frömmigkeit ist ihm nicht das alles durchdringende Lebensprinzip, sondern der einzige Inhalt des Lebens, Deshalb hat er für die sozialen Lebensinteressen keinen Sinn, Es ist das alles für ihn ein Stück Welt, dem er kühl gegenübersteht, Trotz der Neigung, überall einzu­ greifen, bleibt er doch auf allen diesen Gebieten unfruchtbar, Der Pietismus hat stark dazu beigetragen, die Bedeutung der Kirche für diese Lebensgebiete abzu­ schwächen und auch die Liebestätigkeit, speziell die Armengemeindepflege, in die Hände des Staates zu bringen«. - Wichtig ist, zu beachten, daß Ritschl den eng­ lischen, überall in Pietismus übergehenden Puritanismus ganz beiseite gelassen hat. Er konnte kein Englisch, und dieser Zufall hat für die ihm nacheifernde Auffas­ sung des Pietismus sehr vereinseitigende Folgen gehabt. Hier müssen Heppe und Barclay ergänzen. - Ueber die sozialen und wirtschaftlichen Wirkungen Weber S, 55 f.: »Ganz offenbar enthielt also (im deutsch-lutherischen Pietismus) die Aus­ richtung des religiösen Bedürfnisses auf eine gegenwärtige innere G e f ü h I s­ affektion ein Minus an Antrieb zur Rationalisierung des innerweltlichen H a n d e I n s gegenüber dem nur auf das Jenseits ausgerichteten Bewährungsbedürfnis der reT r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Diese Gemeinde ist freilich so wenig wie die Quäkergemeinde ein einfacher Ausdruck des, wenn auch kirchlich gebundenen, Sektengedankens. Sie ist von Hause aus ein Mischgebilde aus der lutherischen Innerlichkeit des Grafen, der, ein sieghafter Men­ schenbezauberer und ein in das Zeitalter der Sentimentalität ver­ schlagener Kreuzritter, nach dem Vorbilde der engeren Christen­ gemeinden Luthers und der Spenerschen Konventikel die wahr­ haften Liebhaber Christi sammeln wollte und an der Vereinbar­ keit dieser überkirchlich-philadelphischen Kreise mit dem Luther­ tum nie zweifelte; andererseits aus dem sektenhaften Drang der mährischen Brüder, die, zufällig auf seinem Gute angesiedelt, ihm >Zum Streitwagen und Bataille-Pferd« für die Erfechtung seines Sie­ ges wurden, aber auch seine Konventikelidee in die einer organiformierten ,Heiligen', während sie freilich gegenüber der traditionalistischen an Wort und Sakrament haftenden Gläubigkeit des orthodoxen Lutheraners immerhin ein Plus von m e t h o d i s c h e r religiBser Durchdringung der Lebensführung zu entwickeln geeignet war,< Die zunehmende Entwickelung in der Richtung auf bloßes Gefühl hängt auch mit der sozialen Verschiebung der Bewegung zu Geistlichkeit und Adel zusammen, • Wenn eine praktische Konsequenz des Unterschiedes , , hier charakterisiert werden soll, so kann man die Tugenden, welche der Pietismus. züchtete, mehr als solche bezeichnen, wie sie einerseits der ,berufstreue' Ange­ stellte, Arbeiter und Hausindustrielle und andererseits der vorwiegend patriarchal gestimmte Arbeitgeber in Gott wohlgefälliger Herablassung entfalten konnten, Der Calvinismus scheint im Vergleich damit dem harten rechtlichen und aktiven Sinne bürgerlich-kapitalistischer Unternehmer wahlverwandter,« - Die Eigentümlichkeiten des württembergischen Pietismus, der in Deutschland allein wirklich populär ge­ worden ist, hängen mit der Geringfügigkeit des dortigen Adels, der Disposition einer freien Bauernschaft für religiösen Individualismus und der frühzeitigen Verkirch­ lichung des dortigen Pietismus zusammen, wogegen aber bis heute separatistische Bauernbewegungen reagieren ; siehe Mirbt und Ritschl ; auch Kalbe, Kirchen und Sekten der Gegenwart 2 1910, - Ueber die soziale Zugehörigkeit des kirchlichen Pietismus zu Adel, Pastorentum, Beamtentum und die des radikalen zu den Unter­ schichten als Folge der sozialen Umwälzungen der Religionskriege s. Becker, Zinzendorf S, 240-243; es ist das jedenfalls die Auffassung des Grafen. - Ueber den wahren inneren Zusammenhang des Calvinismus mit dem Pietismus, demge­ mäß dort die Konventikel die Kirchenidee gar nicht stören, und seine innere Gegensätzlichkeit und zerstörende Wirkung auf das Luthertum s, sehr richtige Ein­ sichten Zinzendorfs ebd. S. 246-250, - Ueber die Schattenseiten pietistisch-sek­ tiererischen Wesens s. Hamack, Alte Bekannte, Aus Wissenschaft und Leben 11 277-288. - Ganz zuletzt kommt mir noch zu Gesicht Göters, Vorbereit. d, Piet. in den Niederlanden 1911, offenbar eine Anknüpfung der deutschen Entwickelung an die niederländische,

Die Herrnhutergemeinde.

satorisch geschlossenen, auf Freiwilligkeit und Glaubensreife be­ ruhenden, Zucht und Bann verwaltenden, von Laien geistlich be­ dienten Sekte hinüberzogen. Aus den Spannungen und Reibungen beider Motive wurde schließlich infolge der Ablehnung seiner Konventikelidee durch die offizielle lutherische Kirche eine neue Kirche, deren Bestand allmählich ein erblicher wurde wie der der Quäkergemeinde; sie nahm an der Kindertaufe keinen Anstoß, sondern suchte nur eine möglichste Innerlichkeit des Gefühls und der Christusmystik durch Kult, Organisation und Erziehung zu erreichen. Trotzdem verblieben doch auch wichtige Züge des Sektenideals. Die Abendmahlsgemeinde sollte möglichst rein sein und die Zucht dafür sorgen. Die Kleinheit der Gemeinde, die gegenseitige Kontrolle, die Staatsunabhängigkeit und der recht­ liche Vereinscharakter, die für die Existenz der Gemeinde auf­ kommenden geschäftlichen Unternehmungen der Gemeinde, der auf die Heidenmission abgeleitete Drang nach Gewinnung frei zu­ stimmender echter Christenseelen, vor allem das Hinarbeiten auf eine von den Kindern der Welt unterscheidende Aktivität und Reinheit der christlichen Ethik: all das gab der Brüdergemeinde teils mit, teils gegen ihren Willen eine Aehnlichkeit mit den Sek­ ten, wie sie sich denn auch gerne auf die böhmischen Brüder, die Waldenser und durch diese auf die Urkirche zurückführte. Auch fehlen die Spuren ähnlicher Befolgung der Bergpredigt, wie bei den Täufern, nicht. Schließlich ist ihre Ethik, wenn auch in der von dem Grafen erteilten Art und Begründung lutherisch kindlich und fröhlich, relativ weltoffen und systemlos, doch durch den Willen zur Darstellung einer weltunterschiedenen tätigen Christlichkeit und durch calvinistische Zuflüsse zur Gemeinde in mancher Hinsicht wieder der puritanischen verwandt. Die Mähren jedenfalls fühlten sich dem Calvinismus näher als dem Luthertum. Auch sind die unter solchen Verhältnissen eintretenden ökono­ mischen Folgen, ein durch Reellität und sparsamen Konsum aus­ gezeichnetes und dadurch sich selbst erfolgreich steigerndes Ge­ schäftsleben, nicht ausgeblieben, um so mehr, als die aus den beweglichen Elementen der Bevölkerung sich erst sammelnde Gemeinde wesentlich auf gewerblich tätige Mitglieder beschränkt war und bei der Nötigung, ihre Kosten, namentlich auch die der Mission, selbst zu bestreiten, auf geschäftliche Unternehmungen der Gesamtgemeinde angewiesen war und ist 460). '60) Vgl. Ritschl, Gesch. d, Piet. III, wo freilich die schulmeisterliche Behandlung, 53

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III. Protestantismus.

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Viel bedeutender ist die Stiftung des M e t h o d i s m u s, eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des neueren Christentums und in der modernen geistigen Entwickelung, die Wiederbelebung des altgläubigen Christentums in einer ganz indie Herleitung aller •gefährlichen Fehler« des •theologischen Dilettanten« Zinzen­ dorf von einer ,fahrlässigen« Deutung des lutherischen Kirchenbegriffes, unerträglich ist. Neben Ritschl unentbehrlich Jos. Th. Müller, Z. als Erneuerer der alten Brüder­ kirche, 1900, In der Hauptsache, der Erkenntnis der Spannung zwischen des Grafen mystisch-überkirchlichem Ideal und dem sektenhaften Ideal der Mähren, hat freilich Ritschl ganz richtig gesehen und auch die Gefahr für das Kirchentum richtig erkannt. Vgl. auch Müller S. 40: > Wo eine annähernde geschichtliche Verwirk­ lichung dieses Begriffes (einer ,offenbaren Gemeinde Christi') versucht wird, da wird das so entstehende Gebilde, eine ,offenbare Gemeinde Christi' oder wie man es sonst nennen will, i m m e r b e f ä h i g t e r s e i n , d a s c h r i s t l i c h e I d e a 1 z u v e r w i r k l i c h e n a l s d i e V o l k s- u n d St a a t s k i r c h e n, i n d e r e n M i t t e e s s i c h b e f i n d e t . . . Zugleich aber folgt aus dem Begriff einer offen­ baren GemeindeChristi mit Notwendigkeit, daß dieser Charakter nicht einer geschicht­ lich entstandenen Gemeinschaft als u n v e r ä u ß e r 1 i c h e r B e s i t z a n h a f t e n, g l e i chs a m i h r a n g e b o r e n s e i n k a n n, w e i l e r v o n d e r p e r s ö n­ l i c h e nC h r i s t l i c h k e i t d e r je d e s m a l i g e n M i t g l i e d e r a b h ä n g i g i s t,c Das ist eben der Unterschied von Kirche und Sekte, auf dessen Verständnis alles ankommt. - Von hier aus beantwortet sich auch die Frage, die Loofs mir ein­ mal brieflich vorgelegt hat, ob nicht das Luthertum - bei anderen äußeren Ver­ hältnissen - eine dem Herrnhutertum ganz analoge Ethik hätte hervorbringen kön­ nen. Die Frage ist sehr lehrreich, da die prinzipielle Begründung der Ethik hier unzweifelhaft lutherisch gehalten ist in Sinn und Wort. Allein die Ethik einer Sekte und einer Volkskirche ist eben doch grundverschieden. Die Sekte ist mit staatlichen Aemtern, Politik, Recht, Krieg wenig verworren und braucht nicht wie Luther all das aus dem christlichen Naturrecht abzuleiten und in die christliche Ethik als grundlegend wichtig hineinzunehmen. Der Unterschied der Moral des Amtes und der Person, der für das Luthertum so wichtig ist, tritt hier ganz zurück und es bleibt die Ethik der Person. Diese aber wird durch die gegenseitige Kontrolle, durch die Wirkungen der Kleinheit und Enge des Kreises,, sowie durch die Messung an der Bibel in die Richtung einer von der Welt sich unterscheidenden Strenge gedrängt. Bedenken gegen Eid, Amt und Krieg wie bei den Täufern bei Müller 27, 92 1 Ritschl III 244, Annäherungen an den Kommunismus III 296, Verzicht auf das staatliche Recht und innergemeindliche Schiedsprüche III 346-348; es ist der Geist der Bergpredigt, den Ritschl freilich so wenig wiedererkennt, daß er in dem allem nur »Einfälle« sieht. Aber auch die Bewährungsethik und aktive Heiligkeit spielt hier eine viel größere Rolle (Ritschl III 398, 439, 247) als im kirchlichen Luthertum, wie Ritschl und Müller beide richtig anerkennen, Auf lediglich äußere Verhältnisse ließe sich der agrarische Charakter von Luthers Wirtschaftsethik und der überwiegend gewerbliche

Der Methodismus.

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dividualistisch zugespitzten Form, die Vorausnahme der kontinen­ talen Restaurationsbewegung des 19. Jahrhunderts und eines der Mittel, wodurch die englische Welt gegen den Geist der franzö­ sischen Revolution immunisiert wurde, der radikale Gegensatz gegen allen Geist moderner Wissenschaft und Kultur. Der Methodis­ mus war zunächst ähnlich wie die Brüdergemeinde - übrigens von dieser selbst angeregt und wie diese durch pietistisches Konventikel­ wesen vorbereitet - ein Versuch, durch engere erweckte Kreise das Salz der Landeskirche zu werden und ist äußerlich nur durch die Verschließung der landeskirchlichen Kanzeln zur Verselbstän­ digung gedrängt worden. Innerlich freilich war diese Scheidung unumgänglich. Denn seine ganze Struktur war, wie die der Brü­ dergemeinde, dem Sektentypus und nicht dem Kirchentypus zu­ gehörig trotz des ernsten Willens, in der Kirche zu verbleiben. Ja sein Wesen trieb ihn noch viel mehr zur Verselbständigung, als jene durch das ihre genötigt wurde. Denn sein Absehen war (s. Ritschl III 347, Müller 79, 84) der Herrnhuter allerdings zurückführen. Allein auch das hängt mit dem Unterschied von freiem und beweglichem kirchlichen Verein (Müller 24-27, 36, 40) und Staatskirche zm,ammen. Der erste ist auf die bewegliche und von dem damaligen Merkantilismus begehrte gewerbliche Bevölkerung zuge­ schnitten, während die Staatskirche das schollengebundene Bauerntum und den Grundadel berücksichtigen mußte. Auch folgt der gemeindliche Geschäftsbetrieb aus dem Wesen der Sekte, die sich selbst erhalten muß und nicht von Pfründen und Staatszuschüssen lebt. Es ist also doch ein wesentlicher, innerlich begründeter Unter­ schied, der gerade bei der Gleichheit der prinzipiellen Grundlagen der Ethik und bei der Gebrochenheit des Sektencharakters im Herrnhutertum höchst charakteristisch ist für die von allem Kirchentum so verschiedene soziologische Wirknng des Sekten­ tums. Außerdem vgl. Max Weber, Archiv XXI 50-57. - Wie weit reformierte Geschäftsmoral im Einzelnen herübergewirkt haben mag, wäre erst zu untersuchen. Es ist doch bezeichnend, wie der Graf gerne seine Gleichnisse aus der Geschäftswelt nimmt; für die Innerlichkeit, mit der der Gnadenschatz der Kirche Herzenseigentum wird: »Ich will Gemeinschaft haben, so muß ich einen Schatz haben, eine Aktie in der Sozietät, zu der ich gehören will . . . Und wo kann man das besser suchen als un­ mittelbar bei Ihm« Becker, Zinzendorf S. 20; über die Berechtigung der Konventikel in der lutherischen Kirche: • Welcher vernünftige Mensch wird sagen, daß, wenn zwölf Bürger eine Maskopey einführten zur Beförderung des Commercii, sie sich eo ipso von der ganzen Bürgerschaft und Landschaft trennen müssen« S. 134. Bedeutsam ist auch der in diesen Worten liegende Anschluß an das unlutherische Grotianisch-Pufendorfsche Naturrecht (auch sonst ausdrücklich s. Becker S. 117), wie auch schon Spener das calvi­ nistische Naturrecht bevorzugt hatte. Das hängt instinktiv mit dem Sektengedauken oder What account will a man give to the Judge of quick and dead for a life spent in colle­ cting all these ? • Für die Verfassung siehe den vortrefflichen Artikel von Loofs ,Meth.• PRE.8 XII und Nuelsen, >Meth. in Amerika« PRE.8 XIII; für die Ethik s. den feinen Abschnitt bei Schneckenburger, Lehrbegriffe der kleineren prot. Kirchen­ parteien, 1863 S. 103-151 und Max Weber, Archiv XXI 57-61, - Bezüglich der Taufe s. Loofs XII 779; in Wesleys Verkürzung der 39 A. ist die Tauf-Wieder­ geburt beiseite geschoben ; er handelt nicht de peccatis post b a p t i s m u m , son­ dern of �in after ju s t i f i c a t i o n; zu Art. 15 ist der Satz ,Nos reliqui (neben Christus), etiam baptisati et in Christo regenerati, in multis tarnen offendimus et, si dixerimus, quia peccatum non'habemus, nos ipos seducimus« beseitigt; wie Loofs meint, zugunsten des Perfektionismus, aber auch, was damit eng zusammenhängt, zu ungunsten der Kindertaufe. Nuelsen zitiert aus dem Katechismus von Nast : Die Wiedergeburt •geschieht nicht durch die Taufe, sondern sie wird von Gott zu gleicher Zeit mit der durch den Glauben erlangten Rechtfertigung gewirkt« XIII 14. An Stelle der Taufe tritt daher die Erweckungsbearbeitung von .Kinderklassen, die intensive Arbeit der Kinderschule, Bei der Aufnahme wird zur Probezeit zugelassen auf Grund aufrichtig bekundeten Erlösungsverlangens, die endgültige Aufnahme stellt als erste Frage : >Erneuert ihr in der Gegenwart Gottes und dieser Gemeinde das feierliche Versprechen, welches im Taufbund enthalten ist• XIII 18. Hier ist doch überall die Taufe tatsächlich eliminiert. Schneckenburger S. 1 48: •Beide Sakramente fallen daher mehr unter den Begriff der Gebote Christi, denen man sich zu unterziehen hat. Ganz konsequent hat sich daher bei einem Teil der Methodisten der Baptismus entwickelt. Bei den amerik. Methodisten ist die Kindertaufe fast ganz abgekommen (?).c - Die Verkirchlichung zeigt sich allenthalben. Die südamerik. Methodisten haben die Probezeit ganz abgeschafft, XIII 18: >Die getauften Kinder von Gliedern der Kirche sind den Probemitgliedern gleichgestellt und können, wenn sie ein hinreichendes Alter erreicht haben, die Ver­ bindlichkeiten der Religion zu verstehen und Beweise von Herzensfrömmigkeit geben, auf Empfehlung eines Führers, dessen Klasse sie mindestens sechs Monate besucht haben, als volle Glieder in die Kirche aufgenommen werden, indem sie öffentlich vor der Gemeinde zu dem Taufbunde sich bekennen und die Fragen über Lehre uud Kirchenordnung bejahend beantworten, Konfirmationspraxis ist dem Meth. nicht bekannt, doch sind die Prediger angewiesen, die getauften Kinder, sobald sie zehn Jahre alt sind, in besondere Klassen einzuteilen und dieselben über diejenigen Wahr­ heiten zu unterrichten, welche notwendig sind, um weise zu machen zur Seligkeit«

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III. Protestantismus,

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

die Taufformel so um, daß sie die Kinder nicht als Christen, sondern als bloß zum Glauben bestimmt bezeichneten, beides starke Anzeichen sektiererischer Folgerungen aus dem Präzisis­ mus. Eine eigentliche Sektenstiftung unternahm nur La b a d i e , der damit andern die Anregung zur Separation· gab. Seine Stif­ tung ähnelte einem Kloster. Aber da das Motiv hier nicht bloß der Heiligkeitsgedanke, sondern vor allem die Mystik gewesen ist, so soll davon erst später ausführlicher die Rede sein. Ueber­ dies ist seine Stiftung schon in der nächsten Generation nach ihm eingegangen. Aber sie ist für die Niederlande und für die niederrheinische Kirche das Wahrzeichen für eine starke Entfal­ tung sektirierischen Geistes geworden 462). Fast alle bisher genannten Sekten erstrecken sich bis in die Gegenwart. Manche n e u e v o n ä h n l i c h e m T y p u s sind dazu gekommen, die Heilsarmee, die Adventisten, die Irvingianer, XIII 19, »In manchen Gemeinden ist, seitdem die Amtszeit der Prediger (an einer Station) verlängert worden ist, das Klassensystem eingezogen und an Stelle der einzelnen Klassen ist eine sonntägl, a 11 g e m e i n e Klassenversammlung (Bekenntnisstunde) oder die wöchentliche Bet• und Erfahrungsstunde bzw. Bekenntnisstunde des Jugendbundes getreten« ebd, 17. Zusammenfassend Loofs XII 810: ,Einst nahm man als Mit­ glieder nur solche auf, die mindestens 2 Monate auf Probe in einer Klasse gewesen waren. Jetzt gilt die Mitgliedschaft in den junior society classes als Probezeit, d. h. die Methodistenkinder wachsen in die society hinein wie in Volkskirchen. Wie die Menschen einmal sind, müssen unter diesen zugewachsenen Mitgliedern nicht wenige sein , die innerlich nicht in die Methodistenkirche hineinpassen, Eine metho­ distische Volkskirche ist eine Unmöglichkeit. Die Schwierigkeiten, die auf der Spannung zwischen seiner wachsenden Ausbreitung und seinem nicht ganz auszu­ tilgenden Society-Charakter beruhen, wird der Methodismus nie überwinden, er hörte denn auf zu sein, was er istc, - Im übrigen läßt gerade Loofs in seiner Darstellung die sektenhaften Züge, die schon bei dem Methodisten Nuelsen viel deutlicher sind, merkwürdig zurücktreten, Er wünscht eine ähnliche Erweckung für Deutschland, wo alles für einen Wesley reif sei und wo man dann die Bewegung nicht von der Kirche ausscheiden solle Allein einer solchen Erweckung steht bei uns die Tatsache ent­ gegen, daß die Funktionen, die der Methodismus damals ausgeübt hat, bei uns längst von der Sozialdemokratie übernommen sind, an der eine Wesleysche Pre­ digt ganz abprallen dürfte. Auch unterschätzt Loofs den Unterschied der inneren Struktur, wenn er an eine Vereinbarkeit von Landeskirche und Methodismus denkt. Würde bei uns die Gemeinschaftsbewegung zu ähnlicher Größe anwachsen, dann wäre auch bei uns die Vereinbarkeit zu Ende, Solche Dinge sind Fragen der Zahl. Ueber die Klassenbedingtheit des Methodismus s. Lecky 600-602. 462) Hierüber s. Göbel II, Ritschl I und Heppe.

Der christliche Sozialismus.

die Darbysten, der württembergische Tempel und andei:e. Ueber­ all unterwühlt ihre Mission die kontinentalen Landeskirchen, und in deren eigenem Inneren erzeugt die sog. Gemeinschaftsbewe­ gung immer neue Analogien zu den Anfängen jener Sekten. Sie .alle tragen in ihren Soziallehren das gleiche Gepräge der staats­ freien Vereins- und Freiwilligkeitsgemeinschaft, des Perfektionis­ mus, der im Beruf tätigen Askese, der konservativ-bürgerlichen Haltung, auch wo sie an politisch bürgerlich-liberale Ideen sich .anschließen. Es ist die Entwickelung, welche die duldende und leidende und die innerkirchlich-pietistische Sekte naturgemäß ge­ nommen hat in einer Zeit, in der die Sekte nicht mehr verfolgt wird und die Unentbehrlichkeit staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung für den ungeheuer kompliziert gewordenen wirtschaft­ lichen Organismus jedermann klar und fühlbar geworden ist. Das Ideal der alten leidenden Waldenser- und Täufergemeinden ist in dem Zeitalter des Kapitalismus unmöglich geworden. Hier muß man entweder radikal verneinen und einen ersetzenden Neubau vorschlagen, oder man macht in noch so weit- und kulturfeind­ lichen Gruppen doch die gegebene Gesellschaftsordnung mit und kann dann nur die unchristlichen Begleiterscheinungen mildern oder beseitigen 468). Dieser Gegensatz hat daher doch auch die alten welterneuern­ den Ideen der a g g r e s s i v e n S e k t e in der modernen Welt wieder belebt. Sie sind aus der Bibel, der Bergpredigt und dem Reich-Gottes-Gedanken wieder neu aufgestiegen. Hussitenkriege und Armeen der Heiligen hat es zwar nicht wieder gegeben ; auch ist die Absicht jetzt nicht mehr in erster Linie, durch eine heilige Gemeinde, eine kultisch und religiös organisierte Gemeinschaft, die Weltverhältnisse unmittelbar umzuwandeln. Dazu weiß oder emp­ findet man zu deutlich, welche verwickelte Probleme des Gesamt­ lebens und der Kultur in diesen großen Fragen zusammenlaufen. Mit dem Aufkommen der modernen , bis in die Kleinigkeiten des Lebens eingreifenden Riesenstaaten und der Enthüllung des Wesens 488) Zur modernen Sektengeschichte s. ,.Kirchen und Sekten der GegenwartNatur des Menschen« die gemeinen Naturgesetze sozialer Entwickelungen überwinden oder wenigstens lenken können, ob nicht auch hier das Mögliche die Grenze des Ideal-Notwendigen bildet, ob es eine Massenchristlich­ keit überhaupt geben könne 464). 464) Zum • Christlichen Sozialismus« s. außer den bereits angeführten Schriften von Theod. Mayer, Ratzinger, Uhlhorn, Naumann, Göhre, Wenk, v. Schulze-Gävernitz, Rauschenbusch, Wernle, Traub, Ragaz und Kutter noch die Biographie des Bischofs. von Ketteler Pfülf 1899 und die Art. >Christlich-Sozial«, ,Evangelisch-Sozial«, » Ka­ tholisch-Sozial« in Schieles Lexikon, sowie den Aufsatz von Ragaz ,Zur gegenwär­ tigen Umgestaltung des Christentums« (Neue Wege, Basel 1909) und von Liechten­ hahn, Die religiös-soziale Bewegung in der Schweiz (Christi. Welt 1911), sowie die gesammelten Reden des Berliner Weltkongresses für freies Christentum, Religion und Sozialismus, hrsg. von Schneemelcher 191 I, - Ueber die schwärmerischen­ Vorstufen des marxistischen Sozialismus s. Sombart, Sozialismus und soziale Be­ wegung 6, 1905; er betont mit Recht den stark rationalistischen und egalitären Einschlag, den die Religion der Auf klärung in diesen Chiliasmus gebracht hat, Die Schweizerischen Religiös-Sozialen setzen das Problem des christlichen Sozialismus am innerlichsten auseinander und lassen die wesentlich christlichen Motive der ganzen Gedankengruppe am deutlichsten erkennen. Der Evangelisch-soziale Kongreß steht auf einem vermittelnden Standpunkt. Die >Kirchlich-Sozialen« katholischer und lutherischer Observanz sind keine Sozialisten überhaupt. - Zur praktischen Beurteilung der Dinge ist nicht zu übersehen, daß die wirkliche soziale Entwickelung eher sich Analogien mittelalterlicher Festlegungen des Kampfes ums Dasein nähert. Vor unseren Augen entsteht in den • Wohlfahrtseinrichtungen• die Schollenpflichtigkeit und Hörigkeit in moderner Form, in den Trusts und Syndikaten die Verteilung der Absatzgebiete und das Prinzip des Nahrungsschutzes, in Genossenschaften und Gewerkschaften. 0

Tolstoi.

Es trifft sich merkwürdig, daß, während die abendländische Christenheit derart an eine wirklich christliche Gesellschaftserneue­ rung im modernen Staate denkt, gleichzeitig das alte radikale Sekten­ motiv von Rußland her einen Propheten gefunden hat, der nun seinerseits umgekehrt mit dem Staate und der ganzen technisch­ rechtlichen Kultur überhaupt brechen will, um ein neues Men­ schentum aufzurichten. Es ist das alte christlich-radikale Ideal ohne auf apokalyptische Gewalt zurückzugreifen, aber auch ohne den modernen technischen Rationalismus zu Hilfe zu nehmen. Bricht die Gesinnung mit der Ordnung der Welt, so wird aus der Liebesgesinnung selbst eine neue Welt entstehen; eine Welt ohne Staat, ohne Recht und Gewalt, ohne Technik und mate­ rielle Genußsucht. T o 1 s t o i ist ganz nur aus der russischen Welt und vermutlich auch aus der Entwickelung des russischen Sektenwesens zu begreifen. Aber für das Abendland hat er die Bedeutung, das alte radikale Sektenmotiv einer Verwirklichung der Bergpredigt in den künstlerischen Formen zu verkündigen, die allein die Aufmerksamkeit des modernen Bildungsmenschen auf solche Dinge zu lenken imstande ist. Es ist das Motiv der Berg­ predigt ohne die urchristliche Spannung auf das kommende Gottes­ reich, aber auch ohne die Einbettung in eine kirchliche Kompromiß­ moral und ohne die Verschmelzung mit der schaffenden Aktivi­ tät des Abendlandes. Daß dem Ganzen bei Tolstoi ein Gottes­ begriff zugrunde gelegt ist, der stark von abendländischem Pan­ theismus angesteckt ist und der die hellen Gesinnungsmotive der Bergpredigt mit einer modernen Müdigkeit überhaucht, kann hier außer Betracht bleiben. Welches auch immer die Schranken von Tolstois Verständnis des Evangeliums sein mögen, es ist doch wie die radikale Sekte und der christliche Sozialismus eine Erinnerung an wesentliche Grundgedanken des Evangeliums, die im relativen Naturrecht des Sündenstandes untergegangen waren und die im eine Analogie der Zunft, im Staate eine Bureaukratisierung der ganzen Gesellschaft und eine Pensionsanstalt für die halbe Bevölkerung. Der Individualismus wird überall gebunden, und bald wird es nicht mehr zu viel, sondern zu wenig geben. Dann wird sich vielleicht wieder in der Religion neben der bei alledem fortschreitenden formellen politischen Demokratisierung das Asyl des Individualismus öffnen. Siehe hierzu das ausgezeichnete Buch von Joh. Plenge, Marx und Hegel 1911. Das Buch ist völlig aus dem Ueiste gedacht, aus dem auch meine ganze Darstellung hervor­ gegangen ist. Zu den Zukunftsmöglichkeiten unserer sozialen Entwickelung s. vor allem S. 178-182.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

klassischen Naturrecht des Liberalismus wie in dem modernsten des Sozialismus ihre ursprünglichen Zusammenhänge vergessen und verwischt haben 465). Diesen Fragen kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Sie gehören der systematischen Ethik, nicht der Geschichte der Ethik und der Soziallehren an. Die Darstellung muß sich vielmehr zurückwenden zu dem zweiten Nebenstrom, der neben dem kirchliehen Hauptstrom des Protestantismus hergeht, zu dem Spiritualismus und der Mystik. Er wurde bereits mehrfach sichtbar in seinen Vermischungen mit dem Sektenwesen und ist in den durchschnittlichen Darstellungen auch überall mit diesem ohne weiteres vermischt. » Täufer und Spiritualisten« ist zu einer stehenden Formel geworden, als ob beides im wesentlichen dasselbe bedeute. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Es sind zwei getrennte Ströme, die nur gelegent­ lich sich mischen und die einen sehr verschiedenen geschichtlichen Quellpunkt und Verlauf haben. Der Betrachtung dieser Dinge gilt es nun zuletzt sich zuzuwenden. Es ist die christliche M y s t i k u n d i h r e B e d e u t u n g a u f p r o t e s t a n t i s c h e m B o d e n , um die es sich hier handelt. Auch diese protestantische Mystik setzt vorreformatorische Gedan465) Ueber Tolstoi ht unendlich viel, aber wenig Gutes geschrieben worden. Trefflich ist der Artikel von Johannes Müller, Chr. Welt 19n S. 218-224: » Das neue Wesen, das Jesus darstellte und weckte, war ihm fremd. Dieses quellende, er­ füllende, wiederherstellende, schöpferische Leben aus hintersinnlichen Tiefen, die feste und freie Ueberlegenheit über alle Dinge auf dem Punkte außerhalb der Welt, der in uns liegt, das göttliche Ja zu allem, was existiert, das in allem das zu­ grunde liegende Gute, die nach Leben ringende Wahrheit, die durchschimmernde Herrlichkeit sieht und es deshalb für Gott in Anspruch nimmt ; die Liebe, die über­ strömendes Leben und Hingabe der Seele ohne Wahl und Grenzen ist, die Ehrfurcht und Güte, Ringen nach unmittelbarer Fuhlung im Innersten ist, kannte er nicht.« Das ist ein gutes Wort zur christlichen Ethik, aber freilich bleibt die Ausformung dieses Lebens in den konkreten Daseinsverhältnissen schwierig genug. Müller denkt denn auch seinerseits an eine Weltverwandelung, die aus der Einstellung in Jesu Empfindungsweise folgen soll, und betrachtet Tolstoi wenigstens als einen Wegweiser zum vergessenen Radikalismus des Christentums: ,Er öffnete mir die Augen dafür, daß das Christentum weltförmig geworden, und die Behauptung von theologischer Seite, daß es verweltlichen mußte, um Weltreligion werden zu können, konnte das erwachte Mißtrauen nur erhöhen. Wär e e s d o c h d e r W e g z u m L e b e n g e b 1 i e b e n, d e n s ie e i n e S e k t e he i ß e n.«

Das religiöse Wesen der Mystik.

ken und Richtungen fort wie die Sekte, aber sie steht in einem noch engeren Zusammenhang mit den ursprünglichsten Grundgedanken Luthers als diese und hat daher einen noch stärkeren Halt im Protestantismus 466). Dabei ist es nun aber sehr schwer, diese Mystik gegen die Sekte richtig abzugrenzen, umsomehr, als die alte häreseologische Ueberlieferung die Unterschiede überall verwischt und unter ihrem Einflusse auch die moderne Forschung nur sehr langsam beides zu trennen gelernt hat. Der Unterschied wird am deut­ lichsten von der Betrachtung der soziologischen Konsequenzen aus, von denen aus ja auch der zwischen Kirche und Sekte sich erst ergeben hatte 467). Um nun aber die soziologischen Konsequen466) Berufungen auf Luthers Geistlehre: bei Seb. Franck, Ketzerchronik II 199 b ; Regler, Geist und Schrift S. 269; Gottfried Arnold II 229 ,Allermaßen aus Lu­ thers Schriften sattsam bekannt ist, daß er in seinen ersten Schriften von dieser Gnade (der Eingebung des Geistes) sehr frei und oftmals viel anstößiger als immer mehr die vermeinten Enthusiasten geschrieben, auch sich allein auf den Geist bezo­ gen«; bei den Quäkern, Arnold II 661, 671, 673. - Otto, Anschauung vom hl. Geiste bei Luther 1898, zeigt gleichfalls die Ansätze, nur daß er, den Gegensatz gegen die »Schwärmer« am falschen Orte suchend, selbst Luther zu sehr im Sinne der Spiritualisten deutet, - Ueber das Maß des Spiritualismus bei Luther, Zwingli, Calvin, Capito, Oekolampad und Butzer s. die interessanten Ausführungen bei Rich, Grützmacher, Wort und Geist, 1902, Auch die Prädestinationslehre kommt bei Luther und Zwingli in diesem Sinne in Betracht als Ausdruck der Unmittelbarkeit der Er­ fahrung. Capito greift sogar auf die alte mystische Lehre zurück, daß die innere Erleuchtung nur den im Menschen lebenden Gottesfunken bei den Prädestinierten belebe Oekolampad hat geradezu Schriften Schwenkfelds herausgegeben, Butzer ist geradezu ein Prediger der Unmittelbarkeit des Geistes im Zusammenhang mit der Prädestination, In dem Maße, als Luther die Wirkung des Geistes nicht bloß mit der Schrift koordinierte, sondern diese zum alleinigen Mittel jener machte, trat auch die Prädestinationslehre zurück und die Kirchlichkeit und Objektivität des Heils in den Vordergrund. Calvin hat durch die vorneherein festgelegte Bindung der Aus­ wirkung der Prädestination an Schrift, Amt und Kirche all das vermieden. Es ist deutlich, wie viel Spiritualismus in den Kreisen der Reformatoren selber lebte, So wuchs er auch aus ihren Schriften selbst immer neu empor. Ein be­ sonders interessantes Beispiel zeigt Sippell in ,W. Dells Programm«. Die mir in einer Ausgabe seiner Works von 1817 (1) zugänglichen Predigten zeigen überall be­ wußten Anschluß an Luthers spiritualistische Elemente. Das gleiche wird von den Lutheran antinomians gelten, die den Abscheu der puritanischen Präzisisten und der Männer des jus divinum in der Kirche bildeten s. Sippell S. 2-4. 467) Ueber den Unterschied beider treffende Bemerkungen bei Regler, Anzeige in Harnacks Dogmengeschichte, ThLZ. 1898 Nr, 9 und Luthardt, Gesch. d. christl. T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

zen der Mystik richtig zu verstehen, ist es vorerst nötig, diese aus ihrem religiosen Wesen herzuleiten. Es handelt sich daher zuerst um eine allgemeine Analyse des religiösen Wesens der Mystik, für welche im Zusammenhang unserer Untersuchung erst hier der Ort gekommen ist, obwohl die Mystik selbst schon auf die älte­ sten christlichen Zeiten zurückgeht und insbesondere das für die prote­ stantische Mystik grundlegende Gedankenkapital bereits teils in der Bernhardinischen und Viktorinischen Mystik teils in der groß­ artig gedankentiefen sog. deutschen Mystik des Spätmittelalters ausgebildet worden ist. Die Mystik im weitesten Sinne des Wortes ist nichts anderes als das Drängen auf Unmittelbarkeit, Innerlichkeit und Gegen­ wärtigkeit des religiösen Erlebnisses. Sie setzt die Objektivierung des religiösen Lebens in Kulten, Riten, Mythen oder Dogmen bereits voraus und ist entweder eine Reaktion gegen diese Ob­ jektivierungen, die sie in den lebendigen Prozeß wieder zurück­ zunehmen sucht, oder eine Ergänzung der herkömmlichen Kulte durch die persönliche und lebendige Erregung. Sie ist also im­ mer etwas Sekundäres und etwas Absichtlich-Reflektiertes, ein absichtlich herbeigeführter Erregungszustand in charakteristischer gleichzeitiger Verbundenheit mit einer dem ganz entgegengesetzten Unmittelbarkeit des Gefühls selbst. Sie enthält dadurch immer ein Stück Paradoxie, eine Gegensätzlichkeit gegen die Massen und deren Durchschnitt, eine künstliche und doch ihre eigene Künst­ lichkeit im Unmittelbaren auslöschende Steigerung. Die religiöse Urproduktion selbst, für die Erlebnis und Ausdruck des Erleb­ nisses schlechthin zusammenfallen , ist daher nie mystisch 468). Wohl aber wird die Lebendigkeit der religiösen Produktion ge­ genüber der objektivierten Religion leicht und oft zu mystischen Erscheinungen. Sie äußert sich als Enthusiasmus und Orgiasmus, als Vision und Halluzination, als religiöser Subjektivismus und Spiritualismus, als Konzentration auf das rein Innerliche und Ge­ fühlsmäßige. Ihre Visionen sind freilich selten schöpferische neue Erkenntnisse, sondern fast immer Ausmalungen, Ausdeutungen des gemeinsamen Besitzes, der hier nur eine Belebung und Fort­ setzung erfährt, wie dies in den Geistesgaben der alten Christen Ethik II 249 f.; auch Sippell, Chr. W. 1911 S. 955-957, zeigt wichtige Einsichten im Anschluß an meine Bestimmung des Sektenbegriffes. 468) S. meine Artikel über Offenbarung, Glaube, Glaube und Geschichte in Schieles Lexikon.

Die Mystik im Urchristentum und im N. T.

und in den unzähligen Visionen und Prophetien mittelalterlicher :.\fönche, Nonnen und Heiligen der Fall war und bis heute sich wiederholt. Sie schafft neben oder innerhalb der geltenden Kulte besondere engere Mysterien, in denen das Heil auf eine besonders innerliche Weise angeeignet wird und alte Kulte der Göttermahl­ zeit, des Opfers, der Neugeburt aus der Gottheit zu einem un­ mittelbaren mystischen Essen und Trinken der Gottheit, zu einer wirklichen Neugeburt und Vergottung intensiviert und verinner­ licht werden. Sie schafft Prophetien und Ekstasen ebenso wie allegorisierende Grübelei und das Objektive vergeistigende Deu­ tung. Aber sie schafft auch einen leidenschaftlichen Realismus des Verkehrs mit den Gottheiten, der alte Kulte oder geltende Riten zu Mitteln unmittelbarer, substanzieller Einigung macht. Die hellenistischen Mysterien verwandten bald die rohesten fast materialistischen Verstellungen, bald spiritualisierten sie alles zu einem Symbol, das doch immer noch wunderbar wirkte. Das christliche Herrenmahl in der Deutung des Paulus war selbst eine Schöpfung der Mystik, und als die Eucharistie zu einem objek­ tiven Kirchenritus wurde, machte die eucharistische Mystik daraus zum zweitenmal ein mystisches Erlebnis. Vor allem spielt hier das Erotische eine große Rolle, indem entweder die sexuelle Er­ regung benutzt wird zur Miterregung des religiösen Enthusiasmus oder der letztere sich in sexuellen Reizungen verstärkt und ent­ ladet. Die Liebes- und Trinkpoesie der Sufis und die christlichen Deutungen des hohen Liedes spielen auf derselben Saite der Seele. Andererseits überfliegt diese Unmittelbarkeit gerne die sinnlich-endliche Welt durch einen Spiritualismus, der sie gleich­ gültig macht und ignoriert oder auch sie durch asketische Morti­ fikation aus dem Wege räumt. Damit ist ihr sowohl ein spiri­ tualistischer Pantheismus als ein radikaler Dualismus von Fleisch und Geist, von Sinnlichkeit und Ewigkeit nahegelegt und im Zu­ sammenhange damit eine alle Endlichkeit vernichtende Askese oder ein sie vergleichgültigender Libertinismus. Die Mystik in diesen verschiedenen Spielarten ist eine allgemeine .Erscheinung auf allen Religionsgebieten und besonders in Indien, Persien und Griechenland, Kleinasien und Syrien hochentwickelt. Sie ist auch der urchristlichen Bewegung begreiflicherweise nicht fremd ge­ blieben, teils aus ihr selbst erwachsen teils in sie von außen hereingetragen und begierig ergriffen 469). 489) Zum Allgemeinen s. Edv. Lehmann, Mystik in Heidentum und Christen54 *

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4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Hierher gehört der sogenannte urchristliche Enthusiasmus, ein großer Teil der Geistesgaben, die Glossalalie, der Exorzis­ mus, das ganze pneumatische Wesen, eine bis heute in der christ­ lichen Sektenbewegung immer wiederkehrende Erscheinung, in ·der die Heilsschätze verlebendigt, subjektiviert und gewaltsam zur Wirkung und Aeußerung gebracht werden. Hierher gehört aber insbesondere auch Paulus nach seiner mystischen Richtung, die mit seiner kirchlichen in einer fortwährenden, wenn auch frei­ lich nicht als Gegensatz empfundenen Spannung, stand. Paulus überkam den Christuskult der Urgemeinde als eine bereits in den ersten Grundzügen durch Kult, Legende und Gemeinderegel objektivierte Religion. Aber er belebte sie durch eine tiefsinnige und leidenschaftliche Mystik, die daher auch die antike Mysteriensprache mitbenützt. Erst hier lag seine religiöse Originalität gegenüber der Urgemeinde, und erst dadurch wurde sein antijüdischer Universa­ lismus möglich. So wurde das Herrenmahl, das Zentrum des neuen Kultus, bei ihm zu einem mystischen Essen und Trinken, einer sub­ stanziellen Einigung. So wurde die Taufe zu einem realen Mitsterben und Mitauferstehen mit dem Christus. So wurde der Christus für ihn eine reale Lebenssphäre übersinnlicher Art, in der der Gläubige lebt, empfindet und denkt und zu einem neuen pneumatischen Wesen wird. So wurde alles Zeremonielle und alles bloß Ueberlieferte zum Fleisch und Element dieser Welt, wurde der Christus nach dem Fleisch beiseite geschoben. So wurde die israelitische Heilsge­ schichte allegorisiert und spiritualisiert zu unmittelbarer Anwen­ dung auf den Christusgläubigen und wurde die Gemeinde zu einem spiritualen Christusleib. Ekstasen· und Visionen fehlten nicht, die Geistesgaben wurden gerühmt und gepflegt und in das Lebens­ system des Pneumatikers eingefügt. Hier in dem urchristlichen pneumatischen Enthusiasmus und in der paulinischen Christus­ mystik liegen die unversieglichen Quellen einer christlichen Mystik. Im vierten Evangelium ist diese Mystik bereits beruhigt und ge­ faßt und wieder mit dem Historischen und Objektiven ausge­ glichen. Aber hier hat sie nun erst recht ihre charakteristischen Formeln von Fleisch und Geist, von Finsternis und Licht, von Alle­ gorese und buchstäblichem Verständnis, erzeugt oder gefunden. turn 1901 ; A. Merx, Ideen und Grundlinien einer allgemeinen Gesch. der Mystik 1903; vor allem Erwin Rohdes Psyche, auch James, Varieties of religious expe­ rience.

Die religionsphilosophische Mystik.

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Andere altchristliche Schriften enthalten Aehnliches. Durch das Neue Testament sind der pneumatische Enthusiasmus und die paulinische Mystik zu einer dauernden, immer wieder verwandte Bedürfnisse anregenden und ihnen die Formeln gebenden Kraft geworden, die in allen Perioden der Kirchengeschichte, und sonderlich in allen Perioden der Kritik am Ueberkommenen, der religiösen Ermattung und der religiösen Neubildung, sich lebendig geäußert hat. Im Urchristentum liegen die Keime des Kirchen- und Anstaltsge­ dankens, der mit dem Gedanken der Gnade, der fertigen Heils­ stiftung und Welterlösung, der von allem Subjekt unabhängigen prinzipiellen Neuschaffung der Welt, gegeben ist. In ihm liegen die Keime der Sekte, die die Bergpredigt ihres Meisters als ihr Sittengesetz verehrt und seine Hoffnung auf das zur Erde kom­ mende Reich fortsetzt, die Reinen und Heiligen sammelt zu der des Gottesreiches und der Wiederkunft Christi harrenden Gemeinde. In ihr liegen aber auch die Keime einer Mystik, der alles Ver­ gängliche nur ein Gleichnis, alles Sinnlich-Irdische nur eine Schranke, aller Kult nur ein Mittel substanzieller Einigung und aller Glaube nur eine unmittelbare Versetzung in das unsichtbare Gottes- und Christusleben ist 470). Von dieser Mystik im weiteren Sinne und in ihrer protei­ schen Mannigfaltigkeit ist nun aber die Mystik im engeren und technischen, religionsphilosophisch zugespitzten Sinne des 470) Ueber den urchristlichen Enthusiasmus s. Gunkel, Wirkungen des hl. Geistes nach der populären Anschauung der apostol. Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus 3 1909; Weine!, Geist und Geister im nachapostol. Zeitalter 1899; Taufe und Abendmahl bei Paulus 1903; über die Mystik des Paulus höchst lehrreiche Ausführungen bei Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen 191o. Von hier aus erklärt sich auch die heute so vielfach zum Ausgangspunkt phanta­ stischer Schlüsse gemachte Opposition des Paulus gegen den Christus nach dem Fleisch. So habt:n auch nach ihm alle Mystiker gegenüber dem Dogma gedacht. Reitzenstein betont mit Recht auch bei Paulus ,den Gegensatz von Autonomie des religiösen Empfindens und Gebundenheit der Tradition« S. 58; die ,mystischen Ge­ danken befreiten sich unmerklich zunächst von der Tradition, die sich in der Ge­ meinde auf jüdischem Boden zu bilden begonnen hatte, und der Kampf, der bald folgte, brachte ihm das Bewußtsein der Freiheit, die für ihn nun überall ist, wo der Geist des Herrn ist• S. 60. - Auch Deissmann, Paulus 1911, hebt das hervor, ohne freilich den Gegensatz gegen die Urgemeinde und den Ansatzpunkt für alle spiritua­ listische Mystik hierin genügend zu erkennen. Treffend ist die Betonung der Ver­ bindung des Historischen und Spiritualistischen S. 154 : Das erste führt zur Sekte, das zweite zum Spiritualismus.

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Wortes zu unterscheiden. Die bisher geschilderten Erschei­ nungen gehen aus dem unmittelbaren Gefühlsdrang hervor, sind ebendamit verhältnismäßig instinktiv und spontan und vertra­ gen sich mit jeder Gestaltung der objektiven Religion, mit den üblichen Kulten, Mythen und Dogmen. Sie enthalten keinerlei Doktrin und Theorie über sich selbst, höchstens eine primitive Technik der religiösen Selbstbearbeitung und Stimmungserzeugung. Auch sind ihre verschiedenen Aeußerungen, der Enthusiasmus und Orgiasmus, die Kontemplation und Gnosis, die Allegorisierung und Vergeistigung , die Belebung oder Erzeugung von Kulten unter sich ganz verschieden und enthalten sehr mannigfache, oft sich gegenseitig auf hebende Folgerungen. Sie berühren auch den vorgefundenen soziologischen Zusammenhang der Religion nicht wesentlich, indem sie bloß eine Steigerung seiner Kräfte oder eine Heraushebung Einzelner bedeuten oder etwa neue Kulte hinzufügen, aber die konkrete Religion nicht verneinen. Die Sache kann aber auch ein ganz anderes, viel eindeutigeres Gesicht ge­ winnen, und dann stellen sich erhebliche soziologische Folgen ein. Die in solcher Mystik wirksamen Kräfte können nämlich auch gegen die konkrete Religion sich prinzipiell verselbständigen, von ihr lösen und eine Theorie ihrer selbst aufstellen, die an Stelle der kon­ kreten Religion und ihres Mythus oder Dogmas tritt, sei es mit offener Verneinung, sei es mit allegorisierender Umdeutung. Damit empfindet die Mystik sich dann als selbständiges religiöses Prinzip, als eigentlichen allgemeinen Kern aller religiösen Vorgänge, der sich in den verschiedenen mythischen Aeußerungen nur verkleidet. Sie empfindet sich als Herstellung einer unmittelbaren Gotteini­ gung, fühlt sich selbständig gegenüber aller konkreten Religion und hat eine völlig individuelle innere Gewißheit, die sie gegen jede religiöse Gemeinschaft gleichgültig macht, einerlei ob sie äußerlich sie mitmacht oder ob sie eine solche radikal verwirft. Dann wird die Gotteinigung, die Vergottung, die Entwerdung das eigentliche und einzige Thema der Religion. Dies Thema wird als ab­ strakter Gehalt der mystischen Erlebnisse herausgeholt und zum allge­ meinen, universalen Wesen aller innerlichen und echten religiösen Vorgänge gemacht. Eine solche Gotteinigung fordert nun aber weiterhin eine allgemeine kosmische Theorie, in der die Möglich­ keit und die Verwirklichungsweise dieses Heilsvorganges begründet ist. · Sie fordert zugleich eine aus dieser Theorie sich ergebende Technik der Herbeiführung und Vollendung des mystischen Er-

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lebnisses. Eine solche Theorie muß zeigen, wie es in Gott zu einer Scheidung zwischen Gott und den endlichen Geistern kom­ men konnte und wie diese Scheidung vermöge des Enthalten­ seins der endlichen Geister in Gott wieder überwunden werden kann. Sie zeigt den Ausgang des Endlichen aus Gott und den Rückgang des Endlichen in Gott, die bei aller Scheidung ver­ bleibende Identität, vermöge deren die Wiederaufhebung der Scheidung möglich wird. Sie bezeichnet die Stufen des Herab­ steigens und die des Wiederhinaufsteigens der Kreatur zu Gott; sie macht schließlich klar, wie im Denken und Erkennen dieses Prozesses der religiöse Vorgang sich über sich selbst verdeutlicht und zu seinem eigentlichen Kerngehalt kommt. Das reine Denken dieses Zusammenhanges, meint man, ist, wo es wirklich echtes und eigenes Denken ist, das religiöse Erlebnis selbst und dieses wiederum verdeutlicht und erläutert sich vor sich selbst durch dieses Denken. Daraus ergeben sich auch die Stufen dieses Erlebnisses, die nichts anderes sind als die zugleich in inneres Handeln umgesetzten Stufen dieses Denkens bis zur Erreichung und Fühlung des vollen Identitätsgedankens. Eine solche Mystik wird zur selbständigen Religionsphilosophie, welche den religiösen Vorgang als die allgemeine überall gleiche Aeußerung und Bewußtwerdung des metaphysischen Zusammenhangs von abso­ lutem und endlichem Sein erkennt und unter allen konkreten Reli­ gionsformen überall den gleichen Kern entdeckt, der aber doch erst unter ihrer Pflege die volle und reine Reife erfährt. Da­ mit wird sie unabhängig von der konkreten Volksreligion, zeitlos und geschichtslos, höchstens unter geschichtlichen Symbolen ver­ hüllt, die allein richtige Deutung des religiösen Vorgangs, unter welchen besonderen Vorstellungen er sich immer verkleide. Sie wird antipersonalistisch und asketisch, indem sie die Persönlichkeit untergehen läßt in Gott , indem sie das Sinnlich- Endliche als die Scheidewand zwischen dem absoluten Gott und dem in der endlichen Kreatur enthaltenen Gott betrachtet. Sie prägt jenen Pantheismus aus, der doch im philosophischen Sinn kein Pantheis­ mus ist, weil in ihm die Trennung des endlichen Ich von Gott so wichtig ist wie die Wiedervereinigung, der daher immerfort umschlägt in den schroffsten Dualismus oder in einen allerhand Zwischenglieder einlegenden Emanatismus. Sie wird ein Intellek­ tualismus eigener Art, der die Maßstäbe des sinnlich geburn;lenen Intellekts verachtet und eine nur dem Religiösen verständliche

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religiöse Logik an Stelle des gemeinen, fleischlichen und unge­ weihten Denkens setzt. Sie kann aber auch zum reinen Volun­ tarismus werden, sobald sie die Gefahren des Denkens für die religiöse Innigkeit spürt und den Nachdruck auf die Willenseini­ gung mit Gott oder auf den Untergang des endlichen Lebenswillens legt. So gehen die brahmanische spek"ulative und die buddhisti­ sche voluntaristische Mystik, die dominikanische Erkenntnis- und die franziskanische Willens- und Liebesmystik nebeneinander her. Auch diese technische, religionsphilosophische Mystik im enge­ ren Sinne ist in einer erstaunlichen Analogie auf verschiedenen Reli­ gionsgebieten hervorgetreten, im indischen Brahmanismus und seinem Gegenschlag, dem Buddhismus, im Sufismus der Parsen und der persischen Mohammedaner, im Neuplatonismus der Griechen, in dem bunten Synkretismus der Spätantike, den man Gnosis nennt. Im platonischen, nenplatonischen und gnostischen Gewande hat sie sich den alten Christen dargeboten, die nach ihr als einer wissenschaftlichen Grundlegung ihrer eigenen religiösen Lehre begierig griffen, wie sie die Stoa als eine wissenschaftlich durch­ gebildete Analogie ihrer Ethik für ihre Moral- und Gesellschafts­ lehre in Beschlag genommen haben. Der Stufengang dieser Ent­ wickelung im Christentum liegt deutlich vor. Jesus ist kein My­ stiker. Er lebt nur in der Anschauung Gottes, dringt auf die praktische Heiligung des Lebens und verkündet die bevorstehende Verwirklichung des Ideals. Paulus und die Pneumatiker verinner­ lichen, vergeistigen, verlebendigen den in der Urgemeinde gebilde­ ten Christuskult und die Christusüberlieferung ohne Philosophie und Spekulation in freier Benützung der antiken mystischen Kult­ sprache. Die Gnostiker und religionsphilosophischen Theologen der alten Kirche öffnen sich der religionsphilosophischen Mystik, die konkrete Anlehnung an die christliche Geschichte bald mehr bald weniger betonend und die praktisch-ethische Persönlichkeits­ idee bald mehr bald weniger behauptend. So entwickelte auch die religionsphilosphische Mystik, die Mystik im engeren und technischen Sinne, ihre ungeheure Be­ deutung innerhalb des Christentums. Sie half der wissenschaft­ lichen Theologie der alten Christen ihren Glauben an eine Ver­ körperung und Menschwerdung Gottes in ihrem Kultheros, dem Christus, auf die wissenschaftlichen Formeln der erst emanatistisch und dann homousianisch verstandenen Trinitätslehre bringen. Sie half ihr das im christlichen Kult zu gewinnende Heilsgut der

Der Spiritualismus als Folge der Mystik.

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Gotteinigung definieren und ihren Sakramenten einen religions­ philosophischen Sinn zu geben. Auch für ihre Apologetik erwies sie sich als wertvoll, indem die Mystik das natürliche allgemein religiöse Bewußtsein darstellte, das in der Menschwerdung des Logos und in den Sakramenten der Kirche zur Vollendung kommt. Doch ist das in unserem jetzigen Zusammenhang nur insofern von Bedeutung, als die damalige relative Rezeption der Mystik immer den Ausgangspunkt und den Rechtstitel für ein jedesmal neues und volleres Einströmen der Mystik bildete. Die für uns bedeutsamen Wirkungen der Mystik treten vielmehr erst da her­ vor, wo das Bedürfnis nach Verinnerlichung und Verlebendigung des rel�giösen Prozesses zu den Mitteln der von der Mystik erar­ beiteten Technik des Stufenganges griff, wo man beschrieb, wie die Seele von der Betrachtung und Selbstverleugnung durch rei­ fende Erkenntnis und Einigung bis zum seligen verzückten Ge­ nuß gelangen und so die christliche Vereinigung mit Gott und Christus erwirken und erleben könne. Hier bildet der Areopagite nicht die einzige, aber die vornehmste Brücke der Verbindung mit dem Neuplatonismus, der diese Lehre grundlegend ausgebildet hatte. Auch die alexandrinischen Theologen und Augustin hatten bereits das Ihrige getan. Aber entscheidend ist erst die Art, wie die mittelalterliche Frömmigkeit das dem Germanentum fremde, von der Antike als Kult, Dogma und Hierarchie überlieferte christ­ liche System durch die Mystik sich aneignete und persönlich er­ wärmte. So haben Bernhard und die Viktoriner den Christus­ glauben aus dogmatischer Verhärtung heraus neubelebt, und so reden auch die Mystiker der Reformationszeit vom Stufengang der Gelassenheit und Entgröbung bis zur Höhe der Seligkeit und Gotteinigung. Weiter kommt für uns in Betracht die Lehre von der mystischen Gotteinigung oder der Einwohnung Christi als dem Kern und Grund aller praktisch-religiösen Leistung und dem Ausstrahlungszentrum aller religiösen Ethik. Damit haben die christlichen Mystiker eine substantielle Verbindung mit Christus erstrebt und gefunden, in welcher das Christusleben zum Prinzip aller religiösen Betätigung und Kraft wurde und wiederum die praktische Weltüberwindung zur Probe auf die Wirklichkeit der Christuseinigung. Hierdurch wurde die Kluft zwischen Geschichte und Gegenwart, Dogma und religiöser Praxis überwunden und der Glaube zum Prinzip unmittelbarer praktischer Leistung. So hat die Christusdevotion des Mittelalters die Unmittelbarkeit der Wirkung

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4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Christi auf die Gläubigen hergestellt, aus dem Felsen des byzanti­ nischen Dogmas das Wasser des Lebens herausgeschlagen. So hat auch Luther gelegentlich geredet und empfunden. So haben Karlstadt, Schwenkfeld und Osiander den Glauben an eine bloße Rechtfertigung zur Kraft eines sich unmittelbar praktisch äußernden Lebens gemacht. In dieser Richtung ging die Christuslehre aller Spiritualisten, wobei sie dann den geschichtlichen und in der Mystik uns gegenwärtig gemachten Christus gerne durch das allge­ meinere Prinzip des in Christus verkörperten Logos verdeutlichten und den Anschluß an die zeitlose Lebensfülle Gottes gewannen. Vor allem kommt für uns dies letztere in Betracht als Mittel, den mystischen Drang nach Verinnerlichung und Verlebendigung der objektiven Religion zugleich auf eine prinzipielle und allgemeine Grundlage wissenschaftlicher Einsicht zu stellen. Da wird als letzter Untergrund auch der christlichen Heilserfahrung jener allgemeine kosmische Prozeß der Herabsenkung des Absoluten in die Endlich­ keit und Sinnlichkeit geschildert, wobei Gott der Lebensgrund, Same und Funke auch der in Selbstsucht und Sünde sich isolie­ renden und verselbständigenden Kreatur bleibt. Es ist die wich­ tige Lehre vom Samen und Funken, der in jeder Seele und jeder Vernunft steckt, erstickt von Endlichkeit und Sünde, aber in der Berührung mit dem an uns und in uns arbeitenden göttlichen Geiste der Aktualisierung fähig. Dieser Same wirkt in aller religiösen Sehnsucht und Ahnung und wird durch die rein innere, von ·der geschichtlichen Offenbarung nur belebte , entzündete und gekräftigte Bewegung des Geistes entwickelt zur vollen Ueber­ windung der Welt und zur Rückkehr in Gott. Hier fällt alles Gewicht auf die gegenwärtige unmittelbare, innere, religiöse Be­ wegung des Gefühls und des Gedankens im Gegensatz gegen jede äußere Autorität, jeden Buchstabenglauben, jede Abhängig­ machung der Seligkeit von geschichtlichen Tatsachen und von deren Kenntnis und Bejahung. Hier fällt die seligmachende Wirkung Gottes zusammen mit der Bewegung des momentanen religiösen Gefühls und ist der Glaube gewiß, die Regung des göttlichen Geistes von der des bloß menschlichen Meinens und Begehrens unterscheiden zu können durch Selbstprüfung und Selbstlosigkeit. Alles Kirchliche, Historische, Dogmatische, Objektive und Autori­ tative verwandelt sich in bloße Anregungsmittel und Erreger des allein wertvollen und allein heilsbegründenden persönlichen Er­ lebens. Es ist eine Theologie des Heilsbewußtseins, und nicht

Der Spiritualismus als Theologie des Bewußtseins.

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mehr der bloßen Heilstatsachen. Das Verhältnis zwischen dem Geist oder dem gegenwärtigen lebendigen Heilsbewußtsein und den Tatsachen der Geschichte und des Kultus wird neu geordnet. Das Kirchliche, die Lehre, das Dogma erscheinen schon ihrer­ seits lediglich als Niederschläge eines solchen persönlich-religiösen Lebens und können in ihrem wahren Sinn nur verstanden werden von dem ihnen entgegenkommenden innern Wirken des Geistes oder der Bewegung Gottes in der Seele. Der Geist Gottes er­ kennt in der Schrift und der Kirche nur sich selber wieder und kann nur dadurch Kraft und Nahrung aus ihnen ziehen; für sich allein sind beide tote Buchstaben und Zeremonien. Es ist der my­ stische Spiritualismus im Dienst der Unmittelbarkeit und Persönlich­ keit des religiösen Lebens und in der Bewährung durch das Allein­ Wertvolle, ein weltüberlegenes und weltüberwindendes Leben aus philadelphische Einladung« III 99. Doch zeigt Göbel nur die Gemeindebildungen des reformierten und luthe­ rischen mystischen Separatismus in Westdeutschland. Die Charakteristik reicht an sich viel weiter. Schon bei Preger findet sich allerhand :Material ganz ähnlicher Art für die m.a.liche Mystik, weiteres in Reglers •Schrift und Geiste. Göbel u. Ritschl schildern nur die verhältnismäßig kleinlichen pietistischen Konventikel, die die Aktivität einer von allen großen politischen Dingen ausgeschlossenen Bevölkerung in bald rührenden, bald dumpfen und überspannten Grüppchen auf die religiöse Grübelei ablenken. Die großen Gedanken solcher Mystik bei Seb. Franck, Castellio und Coornheert bleiben bei ihnen außer Betracht. Nur die letzteren aber können mit der kirchlichen Denkweise an Größe und prinzipieller Schärfe sich messen.

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4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

stes zurück, sucht er in den psychologischen Vorgängen selbst die wesentliche Offenbarung und die gegenwärtige Erlösung. Wie alle Mystik erst an dem Gegensatz des objektivierten Dogmas und Kultes entsteht, so setzt er sehr aristokratisch die Fortdauer des buchstäblichen Gottesdienstes als Massenreligion voraus, Aber seine stille Propaganda sammelt daraus die echten Gottes­ kinder, um sie zu erheben in das Gottesreich, das rein inwen­ dig ist in uns. Von allen Seiten her sieht er die Seelen in dieses Reich hineinwachsen. Die engeren Gemeinschaften sind ihm ledig­ lich persönliche und wechselnde, die allgemeine Einheit des Geistes in einem besonderen Kreise mit gesteigerter Lebendigkeit aus­ wirkende Gruppen. Daher bleiben die Spiritualisten auch viel­ fach in den Kirchen, die sie ja nicht durch etwas Neues ersetzen wollen, und halten sie ihre Gruppen für innerhalb der Kirche mög­ liche Sondergruppierungen. Manche freilich verwerfen die Kirche völlig und leben als einsame Menschen. Aber dann trösten sie sich doch einer besseren Zukunft, einer dritten Offenbarung, wo alle von Gott gelehrt sein werden und ein »unsektisches Christen­ tum der Liebe« alle verbinden wird. Zur freiwilligen Separation haben sie nicht entfernt den Trieb wie die Sekten. Natürlich wirkt diese ganze Denkweise auch auf die dogmatische Vorstellungswelt zurück. Wie das kirchliche Hauptdogma von Christus, der Trinität, dem Erlösungswerke des Sühnetodes und den diese Heilswirkung zueignenden Sakramenten eng mit dem Kirchenbegriff und dem kirchlichen Kultus verbunden ist, so wendet sich der Spiritualismus gegen die kirchliche Erlösungslehre und die Sakramentslehre. Er kennt kein fertiges Heil als Ausstattung der Anstalt, sondern in erster Linie die Offenbarung und Erlösung in dem jedesmal gegenwärtigen religiösen Erlebnis; so bedarf er des Versöhnungsdogmas nicht und findet er in ihm nur die lo­ gischen, ethischen und metaphysischen Widersprüche, die es auf­ lösen. Er kennt keine Zueignung des Heilseffektes durch Kult, Sakrament und Kirchenstiftung ; so bestreitet er die ganze Lehre von einer objektiven Heilsbeschaffung und -vermittelung und lehrt er nur das Vorbild Christi als die Quelle der von ihm fortwirkenden Geisteskräfte. Er kennt überhaupt Christus nicht in erster Linie nach dem Fleisch und hat kein Interesse an dem Gottmenschheitsdogma, sondern er findet die Gottheit Christi ledig­ lich in dem Geiste Christi, der in dem historischen Jesus nur sein konkretes Symbol besitzt. Er vergottet daher Christus gänzlich bis

Dogmatische Folgerungen aus dem Spiritualismus.

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in sein Fleisch oder er lockert die Beziehung des göttlichen und menschlichen Elementes in Christo. Von da aus ergeben sich dann auch gelegentliche Angriffe auf die Trinitätslehre, deren Rück­ bildung in einen neuplatonischen Emanatismus für ihn nahe genug liegt 475). Er drängt nicht auf ein Massenchristentum, für das natur­ gemäß die Sündenvergebung als Freilassung der unüberwind­ lichen Stufenunterschiede der Heiligung, ohne doch den Heils­ trost preiszugeben, im Vordergrunde steht; bei ihm tritt hinter der un­ mittelbaren Gottesgewißheit und der tatsächlichen Ueberwindung der Sünde in der Vergöttlichung der Seele die Sündenvergebung überhaupt zurück 476). Nach all diesen Seiten hin steht er aber im Gegensatz auch zur Sekte, die den Gottmenschen als Autorität und Gemeindestifter voraussetzt und des Heilswerks als Ergänzung der Anstrengungen eines doch immer unvollkommenen Heiligungslebens bedarf. Mit ihrem historischen, buchstäblichen Christus und mit ihrer Festhal­ tung der synoptischen Reich-Gottes-Predigt vermag er nichts anzu475)

Das hat Veranlassung gegeben, verschiedene Spiritualisten den Antitrini­ tariern zuzuzählen, einer Gruppe, die in der üblichen Dogmengeschichte immer noch aufgeführt wird, deren Glieder aber ganz verschiedenen Zusammenhängen angehören und in ihr nur unter äußerlich häreseologischen Gesichtspunkten zusammengefaßt werden, 476) Sehr lehrreich ist hier der schroffste und scharfsinnigste Bestreiter der My­ stik, Ritschl. Wie er sein kirchlich-anstaltliches Interesse in engem Zusammenhang mit dem Volkschristentum entwickelt, so muß er auch die Sündenvergebung als Attribut der Gemeinde oder Kirche lehren, an dem der Einzelne als Glied der Kirche durch die Taufe teil hat, Dementsprechend bekämpft er auch an der Mystik nichts so als ihre Vernachlässigung der beiden Korrelate: objektive Sündenvergebungs­ gewißheit und Gemeinde als Anstaltskirche. Niemand hat diese Zusammenhänge so scharf erkannt wie er. Darum hat er auch von dieser Erkenntnis aus seine eigene kirchliche Dogmatik auf die Korrelation von Christus-Sündenvergebungsgewißheit­ Gemeinde begründet. Interessant ist nun aber seine Lehre besonders, weil er die Begründung der Sündenvergebung auf den Sühnetod bestreitet. Er muß sie daher als Ausstattung der Gemeinde mit einer auf der supranaturalen Autorität Christi ruhenden Gewißheit über Gottes Bereitschaft, Sünde zu vergeben, konstruieren und kommt damit in die Nähe der Sozinianer, bei denen er aber wieder die Korrelation auf die Gemeinde vermißt. So ist höchst interessant, seine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Spiritualisten Dippel und mit Zinzendorf (Gesch. d. Pietism. III 429-435), von denen der erste den Sühnetod bestreitet, der andere ihn behauptet und die beide den Kirchengedanken zerstören oder doch auflockern, Durch Betonung der Gemeinde und der objektiven Sündenvergebungsgewißheit in ihr, die nicht des Sühnetodes, sondern nur der Bürgschaft Christi bedürfe, entscheidet er den Streit zwischen beiden in einem >höheren Drittenc,

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4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

fangen. Nur wo die Sekte in den Spiritualismus hinübergleitet, findet sich auch bei ihr jene dogmatische Kritik, wie bei einigen täuferi­ schen Theologen und den Quäkern. Umgekehrt nähert sich der Spiri­ tualismus an einigen andern Punkten dogmatisch der Sekte, aber aus charakteristisch verschiedenen Gründen. Das gilt vor allem von der Verwerfung des Prädestinationsdogmas. Es schien in seiner Verkoppelung mit der Erbsünden- und Verwerfungslehre sowohl den moralischen Ernst zu gefährden als auch die Grundlage der Mystik, den überall gegenwärtigen und irgendwie wirksamen inneren Gottes­ samen, aufzuheben. Ebenso näherte er sich der Sekte in der Zusam­ menziehung des Glaubens auf eine schlichte, erlebbare und fühlbare Einheit des Gedankens, wie das ursprünglich auch schon Luther gewollt hatte und wie es jedes Bedürfnis nach Innerlichkeit und Unmittelbarkeit wiederholt. Gegen die kirchlich-orthodoxe Ent­ faltung dieses praktisch-einfachen Kerns zur Dogmatik kämpfte da­ her nicht bloß das moralistische Täufertum, sondern ebensosehr der mystische Spiritualismus 477). Durch diese Kritik am Dogma und durch die Berufung auf einen immer gleichen ruhenden göttlichen Lebensgrund in der Seele, der durch das Zusammentreffen mit der Bibel und der Christusverkündigung nur aktualisiert wird, gewinnt der Spiritua­ lismus nun aber eine andere, im Grunde näher stehende Ver­ wandtschaft, die Verwandtschaft mit dem Rationalismus. Allein es bedarf nur eines Blickes auf die humanistische Theologie, den Sozinianismus und den Deismus, um den bei alledem bestehenden wichtigen Unterschied zu bemerken. Vom Humanismus hat manches Motiv herübergewirkt, wie bei Seb. Frank, Castellio und Coornheert deutlich erkennbar ist. Allein es bleibt ein grundsätzlicher Unter­ schied. Der mystische Enthusiasmus mit seinen beständigen Er­ leuchtungen und Handlungen Gottes in der Seele, die spirituali­ stische Uebersinnlichkeit mit ihrer Askese, ihrer Verwerfung des Buchstabens und des äußerlich sinnlichen Verstandes ist dem ra477) Ueber diese Vereinfachung s. Otto, Anschauung Luthers vom hl. Geiste; auch Kant-Friesische Religionsphilosophie S. 18-23; nur ist es irrig, die entsprechenden Vereinfachungsbestrebungen der Aufklärungstheologie an Luther anzuschließen; es ist der Pietismus und Spiritualismus, dem diese hier folgt. Die Entfaltung des >Ver­ bum consummatum ac breve« Luthers aus dem objektiven Heilsmittel des Wortes zur Dogmatik ist die unumgängliche Folge kirchlicher Theologie, die eine absolute äus­ sere Autorität hat und haben muß im orthodoxen Sinne des Kirchenbegriffes und dann natürlich auch diese Autorität bis in Peripherische entfalten muß, um keine Unklarheiten übrig zu lassen, in denen sich die Schwärmer�i festsetzen könnte.

Spiritualismus, Rationalismus und Humanismus.

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tional-wissenschaftlichen Geiste im Grunde doch entgegengesetzt. Dieser ist eher in der rationellen Apologetik und Scholastik der Kir­ chen zu Hause, und echte Rationalisten wie die Sozinianer hielten sich lieber an die Kirchen, da die reine kritisch-theologische Wissen­ schaft ein eigenes Gemeinschaftsprinzip nicht besitzt. Wo sie zur Separation gedrängt wurden, da schufen sie dann freilich eigene Gemeinschaften, die aber mehr Aehnlichkeit mit der Schule als mit einem religiösen Gesinnungs- und Liebesverbande hatten. Trotzdem hat nun aber doch der Spiritualismus mancherlei Berüh­ rungen mit dem allgemein begrifflichen Geiste des Rationalismus und geht er beim Verlöschen seiner mystischen Glut leicht in ihn über, wie das bei Spinoza, Edelmann und einem Teil der Deisten der Fall war. Die unmittelbar aus der Gegenwart Gottes schö­ pfende Mystik ist ein überall und immer gleich sich wiederholen­ der Vorgang und berührt sich so mit der Autonomie und Allge­ meingültigkeit des wissenschaftlichen Denkens. Beide assimilieren sich aneinander. Ferner wird in dem Maße als die Mystik nach neuplatonischem Muster ihr Erlebnis auf allgemeine kosmische Grundlagen zurückführt und es als Aktualisierung des in jeder Vernunft enthaltenen Gottesfunkens betrachtet, die mystische Re­ ligion überhaupt zu einem im Denken und Erkennen Gottes sich vollziehenden Vorgang, zur Erlösung des Geistes durch Erkennt­ nis. Sie führt damit zu einem Universalismus, der in allen kon­ kreten positiven Religionen jenen grundlegenden, aus dem wesent­ lichen Verhältnis von Gott und Endlichkeit entspringenden Vor­ gang erkennt. Sie nivelliert bei aller Verehrung der Bibel doch den Unterschied der Religionen und erkennt den Christus in uns auch in den nichtchristlichen Religionen an. Sie setzt dem auf histori­ sche Objekte gerichteten, Tat und Vertrauen verlangenden Glau­ ben die universal und allgemein in ihrer inneren Notwendigkeit verstandene religiöse Erkenntnis entgegen. Damit aber geht sie aus der positiven Theologie in die universale Religionsphilosophie über. Mit der Aufhebung oder Abschwächung der Kluft zwischen christ­ licher und außerchristlicher Welt ist dann weiterhin die religions­ geschichtliche Vergleichung und Kritik nahegelegt, mit der schon Erasmus vorangegangen war. Sie wendet sich zunächst auf die­ jenigen Elemente der dogmatisch-kultischen Ueberlieferung, die dem Mystiker am meisten im Wege stehen, gegen die der mystischen Unmittelbarkeit feindselige Isolierung und Festlegung der christ­ lichen Heilstatsachen. Gerne wird das Geschichtlich-Zeitliche und

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

das Sinnlich-Magische einer mehr oder minder durchgreifenden Kritik ausgeliefert und wird statt dessen das darin liegende Zeit­ los-Allgemeine herausgezogen. So entwickelte sich die volle Kon­ sequenz des Spiritualismus erst bei jenen Mystikern, die, wie Franck, Coornheert und Castellio, auch die humanistische Bildung und Kritik mit übernommen hatten. Damit verbindet sich schließlich eine Tole­ ranz, die weit über die täuferische Toleranzforderung hinausgeht, die nicht bloß den Verzicht auf Gewalt und Konformität bei Vorbe­ haltung der eigenen Alleinwahrheit bedeutet, sondern die wirklich jeden bei seinem Glauben beläßt und relativistisch empfindet, weil in allem Relativen das Absolute gegenwärtig ist. Es ist jene Re­ lativierung des Wahrheitsbegriffes, die weder den Kirchen noch den Sekten geläufig ist und die erst völlig die auf Alleinherrschaft drängenden Triebe eines absoluten Wahrheitsbegriffes entwurzelt. Wenn Luthers stark spiritualistische Ansätze zur Toleranz verloren gingen, so kam das davon her, daß er den absolutistischen Wahr­ heits- und Offenbarungsbegriff nicht aufgeben wollte, sondern mit instinktiver Selbstverständlichkeit beibehielt. In ihm mußten jene Ansätze unvermeidlich untergehen. Dagegen setzte die spiritua­ listische Toleranz sich durch, weil sie überall Wahrheit und Offen­ barung in relativer Annäherung an die eine, letztlich immer erst in der Gegenwart erlebbare, Wahrheit erkannten. Erst bei ihnen gab es Gewissensfreiheit innerhalb der religiösen Gemeinschaft, während Sekte und Freikirche eine solche nur vom Standpunkte des Staates und neben den kirchlichen Organisationen kennen. Aber auch in dieser Hinsicht ist sie vom strengen Rationalismus verschieden, der vielmehr bei der Absolutheit seines Wal1rheits­ anspruches zur Intoleranz neigt wie die Kirchen und nur aus Geringschätzung und Opportunität zur Duldung bereit ist. Wirk­ liche Toleranz kannte und kennt nur derjenige Rationalismus, der sich mit mystisch-spiritualistischen Gedanken zugleich durch­ drungen hat '1 78). 478) Vgl. meine »Trennung von Staat und Kirche« S. 21 f. Die Herleitung des uniformen Kirchentums und der Intoleranz, sowie der gegenteiligen Stellungen von der Art des Wahrheitsbegriffes scheint mir eine sehr wichtige Erkenntnis. Doch habe ich damals den Unterschied von Täufertum und Spiritualismus noch nicht genügend erkannt, wenn ich dort die gegenteiligen Stellungen einfach auf das Täufertum zu­ rückführte. Wie die Kirche mit einem bestimmten Wahrheitsbegriff, so hängt auch die Sekte und der Spiritualismus mit einem solchen zusammen. Die Sekte verzichtet auf Gewalt und Konformität, aber nicht auf die Absolutheit des Wahrheitsbegriffes;

Die Festhaltung der spez, Christlichkeit im Spiritualismus.

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Aber das sind doch nur die letzten Konsequenzen. So weit sind unter den Spiritualisten des alten Protestantismus nur wenige ge­ gangen. Sie wollten im Grunde nur die christliche Lebenswelt verle­ bendigen, tätig und wirk�am machen und gingen daher meist über eine bloße bernhardinische C:hristusmystik gar nicht hinaus. Schwenk­ feld ist der Führer oder doch der Typus der meisten. Auch wurde das die Kluft zwischen Christentum und Nichtchristentum befestigende Erbsündendogma zwar in den Hintergrund gedrängt durch den Gedanken des Fleisches und der im Aeußern sich ver­ festigenden Selbstsucht; aber der grundlegende Dualismus wurde doch selten gänzlich aufgelöst. Das alles sind erst moderne Folge­ rungen aus diesen Gedanken, die in ihnen steckten, aber fast nie zu voller Folgerichtigkeit entwickelt wurden. Seiner spezifischen Christlichkeit ist der alte Spiritualismus immer noch, auch bei den Radikalsten, gewiß, und er beruft sich mit Vorliebe auf die verwandten spiritualistischen Aeußerungen in Luthers Früh­ zeit, wo auch Luther alles vom Geist erwartet hatte, der im Worte enthalten ist. Alles ist auf das Vertrauen zum Geiste ge­ stellt, der, wo immer er auch ist, der Geist Christi ist und die Christlichkeit der Menschheit bewirken wird. Die konfessionellen Härten sind erweicht oder gar aufgelöst; aber das Christentum selbst ist in diesen Relativismus noch nicht hineingezogen; diese Folgen einer relativen Betrachtung schlummern noch. Die äußere Kirche ist aufgelöst; aber die innere Kirche und der durch sie gegebene Zusammenhalt besteht fort. Das Interesse ist kein intellektualistisches, sondern ein gefühlsmäßiges. Nicht die Kri­ tik am Dogma und an der heiligen Geschichte erzeugt die reli­ giöse Stellung, sondern umgekehrt. Der Ausgangspunkt aller Kritik ist das Unmittelbarkeitsbedürfnis, der ethische Ernst und die soziologische Stellungnahme des Mystikers oder Spiritualisten. Die Dogmen, soweit sie hiermit im Widerspruch sind oder von hier aus gefühlsmäßig überflüssig werden, verfallen freilich der Kritik, wozu dann humanistische und sonstige Kritik herangezogen wird. Das Interesse selbst aber ist ein religiöses, und der ganze Relativis­ mus wird als ein innerhalb der christlichen Position möglicher emp­ funden. Um diesen religiösen und christlichen Grundzug zu brechen, bedarf es erst der Einwirkung der modernen Naturwissender Spiritualismus relativiert ihn erst zu verschiedenen Ausdrucksformen einer nur geistig-innerlich faßbaren und darum überhaupt nie abschließend und adäquat for­ mulierbaren Wahrheit.

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

schaft und der auf sie aufgebauten neuen philosophischen Systeme. Erst seitdem verschmelzt sich der Spiritualismus mit einem wirk­ lich rationalen »universalen Theismus« 479). 479) Die Verwandtschaft des Spiritualismus und des moralistischen Sektentums mit der Aufklärung, die für Orthodoxe wie R, Grützmacher eine Selbstverständlichkeit ist, ist auch ein Hauptgedanke Ritschls, der geradezu die Aufklärung von diesen Zersetzungen des gesunden Kirchentums herleitet. So bildet er die erstaunliche Glei­ chung von Katholizismus, Mönchtum, Sekte, Mystik und Aufklärung, in der jedes Glied zugleich die Ungesundheit des anderen dartut und der gegenüber dann nur Ritschls rationalistisch ermäßigtes, aber doch wesentlich positiv-supranaturales und auf eine moderne Volksethik zugeschnittenes lutherisches Kirchentum übrig bleibt, So hat, damals noch Ritschl folgend, W. Bender in Dippel, Der Freigeist aus dem Pietismus 1882, die Selbstverwandelung der Mystik in Aufklärung geschildert. Allein diese Behauptungen sind offensichtlich bei Ritschl nichts als Apologetik für sein kirchliches Luthertum, und Benders Behauptung ist positiv falsch. Der Umschlag in Rationalismus, der ebenso bei der Orthodoxie wie bei Pietismus und Mystik eintrat, muß, wie schon dieser Eintritt unter ganz verschiedenen Voraussetzungen zeigt, seinen Grund in etwas haben, was gleichmäßig jenseits aller liegt. Bei der Orthodoxie vollzieht sich der Uebergang vermöge ihres intellektualistisch-scholastischen Ele­ mentes, beim Heiligungspietismus vermöge seines moralistischen und in weltlich­ wissenschaftlichen Dingen rein utilitaristisch-empiristischen Elementes, bei der Mystik vermöge ihres Gedankens von einem in der Vernunft oder der Seele als solcher ent­ haltenen zeitlosen religiösen Element. In allen Fällen aber stammt die Aufklä­ rung nicht aus den religiösen Interessen, sondern aus der politisch-sozialen Umwäl­ zung und der Emanzipation der Interessen von den religiösen Leitgedanken der Ver­ gangenheit, die begleitet ist von einer völlig neu, d. h. kausal-naturwissenschaftlich orientierten Philosophie und von einer damit zusammenhängenden Entwickelung neuer technischer Möglichkeiten. Die Aufklärung war die stärkere Bewegung und suchte bei allen Gruppen das jeweils ihr homogene Element ; es ist naturgemäß jedesmal ein anderes, Der Umschlag in Aufklärung trat eben deshalb auch nirgends von selbst ein. In England ist der Umschlag durch die whiggistische Revolution erkämpft und durch die Cromwellscbe vorbereitet worden. Von den Ergebnissen dieses Kampfes und Sieges her ist erst die Aufklärung auf dem Kontinent durchgedrungen, und sie ist auch in den anderen Ländern nirgends völlig ohne Kampf durchgedrungen. Der Kampf wurde vor allem durch das absolutistische Fürstentum durchgeführt. Daß dann die neue Bewegung überall aus der alten an sich zog, was ihr homogen war, ist ja klar, In diesem Sinne leben viele christliche Ideen - verändert - auch in der Aufklärung fort, vor allem die hier von mir in ihrer Entwickelung verfolgte Idee des Naturge­ setzes und Naturrechtes s. meinen Aufsatz »Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, H. z. 19II Bd, 106. Auch der ganze Individualis­ mus der Aufklärung hängt mit dem entkirchlichten christlichen Subjektivismus zu­ sammen, wie das Plenge a. a. 0. mehrfach treffend ausführt. Ihr letzter Grund aber, die soziale Umwälzung und das entscheidende Emporkommen des Bürgertums

Die Ethik des Spiritualismus.

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Eigentümlich ist auch die Ethik dts Spiritualismus. Auch sie ist Heiligungs- und Vollkommenheitsethik und wirft den Kir­ chen nichts so lebhaft vor als ihre ethische Laxheit und ihr »Zechen auf fremde Kreide« d. h. ihre Beruhigung bei der stell­ vertretenden Tilgung des Sündenfluches im Tode Christi. Ge­ rade hier scheint der Spiritualismus mit der Sekte sich besonders nahe zu berühren und ist er mit ihr oft genug zusammengeflossen. Auch mit der katholischen Ethik berührt er sich, der er daher oft höheres Lob spendet als der protestantischen. Aber diese Heili­ gungsethik ist hier doch anders verstanden als in der Sekte. Nicht Kontrolle, Gemeindezucht und Strenge des Bergpredigt-Gesetzes hängt gleichfalls mit der vorangegangenen protestantischen Entwickelung zusammen, aber nur mit deren ungewollter ethisch-sozialen Wirkung, das geschäftliche Bürger­ tum zu steigern; hierüber s. Max Weber. - Der Zusammenhang des Deismus mit den radikalen Parteien und Spiritualisten der englischen Revolution ist noch nicht aufgeklärt, Bei Lackes Toleranzprinzip ist er klar. Aber Lackes Theologie und ebenso die Tolands weisen auf arminianische und sozinianische Einflüsse hin. Bei den durchschnittlichen Deisten ist die Opposition der Dissenter gegen alles Katholi­ sierende erkennbar, aber kein Umschlag spiritualistischer oder pietistischer Ideen in Rationalismus, In Deutschland sind Edelmann und Lorenz Schmidt, von Spinoza bestimmt, keine Entwickelungsstufe des christl. Spiritualismus. - Auch Dilthey scheint mir das >Rationale« in dem ,universalen Theismus« eines Franck und Coornheert zu überschätzen. -Der Unterschied des Spiritualismus gegen die rationalistische Theologie der Sozinianer, Arminianer, Deisten ist auch von der soziologischen Seite her nicht un­ interessant. Jene liebte es in dem Gefühl, mit der wissenschaftlichen Argumentation auf psychologisch viel schwächere Triebkräfte angewiesen zu sein und nur eine intellektuelle Schicht erreichen zu können, in den Kirchen zu bleiben und sie lediglich zu liberalisieren oder in ihnen wenigstens Duldung zu finden. Ihre eigene kirchenbildende Kraft ist zu gering. Wo sie zur Separation genötigt sind, da haben sie einen Propaganda- und Be­ lehrungstrieb, einen wissenschaftlichen Wahrheitstrieb, der der Mystik und dem Spiri­ tualismus ganz ferne liegt. Es wäre eine anziehende Aufgabe, die rationalistischen Ge­ meindebildungen bis herab auf die heutigen freireligiösen Gemeindebildungen von der soziologischen Seite her zu betrachten. Sie haben keine Aehnlichkeit mit den mystischen freien Kreisen, aber auch keine mit den Heiligkeitsgemeinden und ebensowenig mit der Kirche. Ritschls für alles Unkirchliche unglaublich scharfer Blick vergleicht sie mit der Schule, Rechtf. und Vers. 2 I S. 320-323, und leitet aus diesem Charakter die Annäherungen an die Sekte, den intellektuellen Propagandatrieb, das Zurücktreten des Kultus, die Leichtigkeit der Spaltung über Lehrmeinungen, ab. Das verbindende Element ist nur die intellektuelle Zustimmung verbunden mit allen Bedürfnissen der Ausbreitung und Belehrung, aber auch allen Gefahren der Spaltung und dem Mangel der allumfassenden geistigen Substanzialität, welche den aus dem Gemeinbe�itz sich fortzeugenden Kirchen zukommt.

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III. Protestantismus.

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

ist ihr Ideal, sondern die gesetzlose Freiheit des Geistes. Gerade hier berührt sie sich mit Luther und hat sie auf seine frühen Aeußerungen gerne sich bezogen. Die Freiheit des Geistes ist auch im Sittlichen alles. Auch hier gibt es keinen Buchstaben und nichts Aeußerliches. So fehlt ihr zwar nicht der tiefe Weltgegen­ satz, die Ablehnung der fleischlichen und selbstsüchtigen Welt­ gesinnung ; in diesem Sinne befolgt sie das asketische Ideal viel stärker als die Kirchen. Aber ihr fehlt das andere Element der Askese, die methodisch-gesetzliche Einübung und Lebensgestal­ tung auf das jenseitige Ziel hin. Sie kennt einen Methodismus der Stufen der Gottesgemeinschaft und der Selbstbearbeitung für das Ziel der Vergöttlichung. Aber sie kennt keinen Methodismus der für ein jenseitiges Lebensziel sich bereitenden und den Gnaden­ stand stufenweise bewährenden sittlichen Heiligung. Sie steht dem nüchternen und gesetzlichen Geist des Calvinismus und Puritanis­ mus so ferne wie dem der Baptisten und Mennoniten. Wo sie im Puritanismus Fuß faßte, da hat sie sich auf Luther und auf die katholische Literatur berufen, wie bei Dell und bei Francis Rous. Immerhin unterscheidet sich in diesem Punkt calvinistische und lutherische Mystik. Tersteegen fand den Grafen Zinzendorf leicht­ sinnig ; der letztere vertrat folgerichtiger die Ethik des Spiri­ tualismus und der Mystik. Ihr Ziel ist ein immanentes, eine freie Seligkeit, die alles Gute aus eigenem Triebe bewirkt und an die Konventionen der Menschen so wenig gebunden ist wie an ein Sittengesetz der Bibel. Auch der Gedanke des natürlichen Sittengesetzes hat daher hier keine große Bedeutung. Lieber spricht man vom inneren Licht, von der erleuchteten Vernunft, vom Gewissen als identisch mit der Christusoffenbarung und durch sie zum vollen Leben erweckt. Diese Ethik der Freiheit zielt in erster Linie auf Genuß und Betätigung des persönlichen Seelenheils ab. Die Ausgießung der Gottesliebe auf die Brüder ist erst ein An­ hang, wenn auch ein stark und nachdrücklich betonter Anhang. Es ist die Stellung der Religion über der Ethik. Daß dabei die Fragen der weltlichen Moral, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft eine ganz geringe Bedeutung haben und wesentlich der Gleichgültig­ keit verfallen ist eine ganz natürliche Folge. Wo man in engerem Kreise diese Probleme zu lösen unternahm, gab man ihm die Form des Familienhaushaltes oder klosterähnlicher Vergesell­ schaftung, oder man nahm Elemente des Sektentypus in sich auf, mit dem man gerade bei jedem Versuch ethischer Praxis

Die Ethik des Spiritualismus.

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zusammenrückte, wie denn überhaupt die Vermischungen nahe genug lag. In der Wirklichkeit geht beides fortwährend durch­ einander. Die Sekte strebt hinüber nach der Verinnerlichung der Mystik, die Mystik nach der heiligen Gemeinschaft der Sekte. Der Enthusiasmus, die Folge starker Erregungen und großer Kampf­ zeiten und der gegen beide gerichtete Druck der Kirchen tut das Seinige dazu, beide Gruppen sich zu nähern. Aber es zeigen sich dann doch auch stets die Gegensätze und Spannungen, die aus solcher Mischung hervorgehen 480). �0) Vieles gibt auch hier Ritschls Geschichte des Pietismus. Im übrigen läßt sich an diesem Punkte gar nicht generalisieren. Das ist gerade der Unterschied der spiritualistischen Ethik von jeder kirchlichen und jeder sektenhaften. Wichtig ist vor allem zu erkennen, daß hier auch die Askese mehr einen metaphysischen und un­ mittelbar religiösen, als einen disziplinären Sinn hat, eben deshalb auch leicht umschla­ gen kann in Libertinismus. Für diese Gruppen trifft daher das , was Weber als Askese geschildert hat, durchaus nicht zu, wenn sie nicht etwa, wie z. B. Tersteegen, der Zinzendorf leichtsinnig fand, durch reformierte Herkunft die Askese von vorn­ herein reformiert verstanden. - Mitteilungen über die Ethik auch bei Hegler, Geist und Schrift S. 148-150, 166, 170-184. Die Soziallehren sind bei Franck wesent­ lich dieselben wie bei Luther, nur mit noch größerer Resignation. - Beziehungen auf das absolute Naturgesetz, das hier natürlich mit dem göttlichen Samen und Funken, der höheren im Menschen enthaltenen göttlichen Natur, gleichgesetzt wird, aber auch mit dem natürlichen sittlichen Bewußtsein zusammenfällt und mit den zehn Geboten identisch ist, bei Regler 209, 243, l 16; die 10 Gebote im inwendigen Wort enthalten 92 f. Das »Naturgesetz der Liebe« bei dem Mystiker Sperber Ritschl I 304; ebenso Dippel I 337 ; das Gewissen und natürliche Sittengesetz ewigem Wort und übernatürlichem Licht I 354, was Ritschl natürlich sofort als Auf klärung nimmt. Bei Barclay S. 22 5 erklären einige Aelteste den heiligen Geist vermittelt außer durch das Wort durch »his handywork in the whole creation, the law of nature written in the hearts of mankind, the light of conscienceContentez-vous qu'on accorde aux p r i n c i p a u x p o i n t s d e 1 a r e 1 i g i o n 1 e s q u e 1 s s o n t c 1 a i r s e t e v i d e n t s en Ja Sainte-Ecriture, puis ils sont en tout point d'accord avec vous.« Die wahren Christen freilich sind selten II 232 : •Ceux qui r e g a r­ d e n t a i n s i a u n o m b r e (wi e C a I v i n) e t p o u r c e I a c o n t r a i g n e n t J e s g e n s, ressemblent a un fol qui, moyennant un grand tonneau et un peu de vin dedans, Je remplit tout d'eau pour en avoir d'avantage, en quoi faisant tout s'en faut qu'il accroisse son vin, que meme il gaste ce qu'il avoit de bon. Par quoi il ne faut pas esbahire si aujourdhui Je vin des Chretien est tant soit petit et faible, puisqu'on y mele tant d'eau !« Als Mittel der Reinhaltung der Kirche dient ihm eine Ausschließung ohne alle bürgerlichen Folgen II 235: >Voila Jes vrais moyens de resister aux heretiques : par parole s'ils usent de parole, et par glaive s'ils usent de glaive.c Das alles ist von modernen Toleranzbegriffen noch sehr viel verschie­ dener als Buisson meint.

Dirck Coornheert.

jede Reformation und Neuaufrichtung der Kirche, da die sicht­ bare Kirche an sich vom Uebel ist. Doch kann man unter diesen Umständen an dem alten Kult äußerlich teilnehmen, da ein schlech­ ter Kult nicht böse und ein gereinigter Kult nicht gut macht. Man kann alles mitmachen und sich innerlich davon unabhängig halten. Aber man kann auch jede kirchliche Gemeinschaft mei­ den und ohne Sakrament und Kult leben in reiner innerer Hei­ ligung und bloßer Bruderliebe. Eine neue Kirche will er, wie Schwenkfeld und Franck, nur zulassen, wenn ein von Gott mit Zeichen und Wundern ausgerüsteter Prophet aufstände 486). Aber sich selbst kann er nicht dafür halten, ebensowenig die Reforma­ toren; und auch in den Vi�ionären neben ihm, wie David Joris und Heinrich Nikläs, kann er solche nicht erkennen. Für den Fall, daß die Christen trotz alledem einer Gemeinschaft zu bedürfen glauben, entwirft er dann freilich ein höchst eigentümliches Ge­ meindeprogramm. Der Glaube soll auf Bibel und Apostolikum beschränkt und vor allem soll auf praktische Bewährung gedrungen werden. Die sich frei vereinigenden Gemeinden sollen alle als Mit­ glieder annehmen, die diese einfachste Glaubenssubstanz anerkennen und von groben Sünden sich frei halten. Um der Schwachen willen kann eine Meidung der beharrlichen und verstockten groben Sünder und Bestreiter von Gottes Ehre vorgeschrieben werden, aber ohne Wortklauberei und Konsequenzmacherei. Taufe und Nachtmahl kön­ nen um der Schwachen willen gebraucht werden als Zeichen der Wie­ dergeburt, aber in voller Freiheit. Ein autoritatives Lehramt gibt es nicht, sondern nur Vermahnung und Besserung aus der Schrift. Solche Gemeinden sollen frei sein und niemand zur Zugehörig­ keit gezwungen sein. Das sieht aus wie eine Ermäßigung und Rationalisierung des Schwenkfeldsehen Ideals, an den überhaupt manches erinnert. Es ist freilich ein höchst utopisches Kirchen­ programm, das in der Durchführung zu einer unabsehbaren Tei­ lung der Gemeinden geführt haben würde, und möglich nur, wie bei Castellio und bei dem jungen Luther, durch das Zutrauen zu der von selbst einigenden Kraft des heiligen Geistes. So hat es denn auch eine praktische Wirkung nur im bescheidensten Maße gehabt und die Konfessionalisierung der Niederlande nicht aufgehalten 487). 486) S. Hegler, S. 256 f. Wie schon bei Franck kehrt sich auch bei Coornheert dieser Gedanke bes. gegen die Täufer. 487) U eher das Verhältnis von Castellio zu Coornheert s. Buisson II 324 f., die my­ stische Lehre C.s bei Heppe, Gesch. des Pietismus und der Mystik in der reform.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

Coornheerts Nachwirkungen zeigt deutlich erkennbar nur die Gruppe der Collegianten oder Rijnsburger, die ein eigen­ tümliches Mittelding zwischen Freikirche oder Sekte und ledig­ lich persönlich-verbundener mystischer Gemeinschaft darstellen. Sie mußten sich äußerlich den Täufern anschließen,. ohne doch die Aufrichtung einer Täuferkirche zu billigen, und sind durch den Zutritt von Remonstranten sehr rationalistisch gefärbt worden. Aber ihr Grundzug ist der Spiritualismus und die Mystik Coorn­ heerts. Die neunzehn Artikel von Galenus Abrahams und Spruyt c. 1650 erklären die mit erkennbaren Wundergaben ausgerüstete apostolische Kirche für längst erloschen. Sie »allein durch das Mittel der nachgelassenen Schriften wiider aufzurichten«, finden sie in der Schrift kein Gebot und in den neuen Kirchen keine Ermun­ terung, da sie, die Mennoniten nicht am wenigsten, in bestän­ digem Streit sich entzweien. Ein den apostolischen Lehrern ver­ gleichbarer, wunderbeglaubigter Prophet ist nicht erschienen und damit kein Mittel der Wiederaufrichtung von Kirchen vorhanden. Daher erklären sie sich selbst für eine rein menschliche Stiftung ohne göttliches Gebot oder Autorität, die lediglich auf dem Ver­ trauen beruht, »es werde dem großen Hausvater doch wohlge­ Kirche namentl. d. Niederlande, 1879 S. 80-86. »Diese Heiligen sind und leben in Christo, der das Licht der Welt ist, und sie allein können darum Gott er­ kennen. Von Gott selbst mittelst seines lebendigen Wortes, nämlich des Logos, und des Geistes der Wahrheit gelehrt und in alle Wahrheit geführt und durch des Geistes Salbung erleuchtet, bedürfen sie daher keiner Unterweisung durch Menschen mehre S. 84. »Christus ist Mensch geworden . , . und herrlich auferstanden, daß wir durch seinen tätigen Gehorsam in uns in ihm göttlich sollten werden« S. 88. Eine Bekanntschaft auch mit Franck und Schwenkfeld ist doch sehr wahrscheinlich. Dilthey, Archiv V 486-493 rückt ihn viel zu nahe an Erasmus heran, wenn er ihn auch »wenigstens über das, was E. in seinen Schriften zu sagen für geraten hielt, entschieden hinausgehen« läßt S. 492. Rachfahl, der überhaupt der niederländisch­ liberalen Parole von Erasmus als dem Träger des niederländischen Nationalgeistes folgt, macht ihn zum reinen Erasmianer, Oranien I 451. Das ist aber falsch, Humanist ist er nur in der Würdigung des »Naturgesetzes« und seines stoischen Charakters, worin er ja aber auch mit den Reformatoren, Castellio und Franck, einig ist. Er betont nur diese Unterlage und ihre Identität mit dem Logos aller­ dings viel stärker, In der Hauptsache aber ist er Spiritualist und Mystiker, der die Stufen der Heiligung von der Gelassenheit bis zur Sündlosigkeit zum Zentrum macht und alles auf das innere Wirken Gottes zurückführt, s. auch Busken-Huet II 47-56. Seine Ideen über die Kirche entnehme ich Exzerpten, die Herr Sippell gesammelt und mir zur Einsicht überlassen hat, deren Veröffentlichung er aber sich selbst vorbehalten hat.

Die Collegianten.

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fallen und er werde es, soweit es aus guter Meinung geschieht, nach seiner gründlichen Barmherzigkeit gnädig ansehen«. Daher haben bei ihnen Aemter, Dienste, Zeremonien, Lehrer, Taufe, Nachtmahl und Bann »nicht den Wert, wie in der ersten Kirchet. »Allerhöchstens sind sie zulässig, wenn sie ohne Anspruch auf Autorität, in aller Niedrigkeit, mit Duldsamkeit und unter Ver­ besserungen gehandhabt werden, ohne daß man die Gewissen der Menschen an seine Lehre und den Gebrauch derselben genau bindet«. »Die Gläubigen-Taufe und das Abendmahl können auch jetzt noch, wenn sie vorsichtig gehandhabt werden, ihren Gebrauch und Nutzen haben«. Die eigentliche Wahrheit aber liegt in der reinen Innerlichkeit des Gemütes und in der unsichtbaren Kirche. Das sind, wie eine nähere Erklärung von 1659 sagt, »die in der heutigen Zeit des Verfalls der sichtbaren Kirche überall unter vielerlei Völkern zerstreuten Gläubigen, die sich von Herzen ab­ wenden von allem Zwist und aller Sektiererei, die mitten unter allen Zerspaltungen ein ungeteiltes Herz haben und insgesamt be­ ruhen auf einem und demselben Grund, Christus, und völlig eins sind in dem Grund und der Kraft Gottes«. Das sind wie bei Coorn­ heert unverkennbar Nachwirkungen und Umformungen Schwenk­ feldseher Gedanken. Es ist nur der schroffe Supranaturalismus, die substantielle Mystik und die Eschatologie weggefallen 487•). Bekannt ist, daß auch ein Teil der Täufer spiritualistischen Ideen gehuldigt hat, und man hat um deswillen oft beide Grup­ pen vereinerleit. Allein es sind doch nur einzelne Theologen des Täufertums und ihr Anhang. Das Täufertum ist an sich untheo­ logisch und bedarf nicht mehr als der Bibel. Bei feinerer theo487") Ueber die Collegianten ausführlich Hylkema, Reformateurs, und Sippell, Ueber den Ursprung des Quäkertums, Chr. W. 1910 S. 483-487. Ebenso verdanke ich Herrn Sippell die Kenntnis der bei Hylkema vielfach angezogenen ,XIX Artikel« und ihrer ,Erklärung«, deren Veröffentlichung er sich gleichfalls vorbehalten hat. Ueber den Zusammenhang der Rijnsburger mit den Täufern s. Newman, Antipedobaptism S. 321 f., über ihren spiritualist. Charakter ganz in der Weise Coornheerts s. Barclay, The inner life S. 90. Ueber Coornheert und seinen Anhang als Vertreter des inneren Wortes und Genossen Seb. Francks und Schwenkfelds s. auch Maronier S. 307-309, über die Anfänge der Collegianten Barclay S. 89-92, ihre spätere Entwickelung seit 1650 bei Hylkema. Eine Biographie Coornheerts oder wenigstens eine Darstellung seiner Theologie wäre höchst lohnend und würde die Zusammenhänge nach vorwärts und rückwärts sehr erleuchten. Die herrschende einseitig konfessionelle Auffassung der Reformationsgeschichte könnte damit wieder an einem wichtigen Punkte ein­ geschränkt werden.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

logischer Beschäftigung ergaben sich allerdings hieraus Bedürf­ nisse der Begründung und Folgerung, die zum Spiritualismus führen konnten, sobald man dem groben gesetzlichen Buchstaben der Bibel oder ihren Widersprüchen entgehen wollte. Auch hat der in den Verfolgungszeiten auftretende Enthusiasmus, dessen neue Offenbarungen man mit der neuen Lage beim Anbruch des Weltendes rechtfertigte, durch die darin liegende Ueberschreitung des Schriftbuchstabens eine Brücke zum Spiritualismus gebildet. An sich aber sind enthusiastische Täufer und spiritualistische My­ stiker noch recht verschieden. Andererseits haben spiritualistische Denker, die gemeindlichen Anschluß suchten, ihn bei den Kirchen nicht finden können, sondern ihn bei der ethischen Laienreligion der Täufer gesucht, wie das auch Karlstadt und Seb. Franck vorüber­ gehend getan haben. Das letztere ist auch der Fall bei einer der menschlich anziehendsten Persönlichkeiten der Reformationszeit, bei Ha n s D e n k. Er war ein Schüler Taulers, der deutschen Theo­ logie und des Humanismus; doch entzweite er sich, als Schulrektor in Nürnberg unter die Einflüsse von Karlstadt, Münzer und Staupitz geraten, mit der lutherischen Kirchenlehre, der er ihre ethische Unfruchtbarkeit und ihre das Subjekt entlastende Versteifung auf die der Kirche zukommende Versöhnungsgnade vorwarf. Von da ab führte er das Flucht- und Wanderleben, das allen solchen Gei­ stern beschieden war. Er wandte sich den Täufern zu, um schließ­ lich auch von ihnen sich wieder zu scheiden und sich ganz der Er­ lösungskraft des inneren Wortes und des ewigen Christus zu be­ fehlen, der überall seine Kirche, bei Beschnittenen und Unbe­ schnittenen, Katholiken, Zwinglianern und Lutheranern, innerlich hervorbringt, wenn man sich vom Geist zur Gelassenheit und Bruderliebe führen läßt. Christus und die Bibel sind ihm die von Gottes Geist erfüllten Belebungsmittel des inneren Samens oder Funkens. In der Belebung dieses überall enthaltenen, in jeder Seele schlummernden und vom Willen hingebend zu pflegenden Funkens ist Gott der Erlöser; Christus ist als Erlöser nur zu be­ zeichnen, sofern er diese inneren Vorgänge in Gang bringt. Allein damit Christus das könne, muß der Geist schon im Menschen sein. Nur indem der göttliche Geist im Menschen sich in dem göttlichen Geist der Bibel wieder erkennt, kommt es zu der Aeußerlichkeit, Fleisch, Selbstsucht und Weltlichkeit überwindenden Erlösung, zur Gottesliebe und zur Bruderliebe als der Wirkung und Probe jeder echten Erlösung. Daher sein Kampf gegen die Aeußerlichkeit des

Täuferische Spiritualisten.

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Naturphilosophen.

widerspruchsvollen Bibelbuchstabens, gegen die Stellvertretungs­ und Versöhnungslehre, gegen die ausschließliche Bindung des Heils an den geschichtlichen Christus, gegen die den göttlichen Seelen­ grund verkennende Scheidung der Menschen in Erwählte und Ver­ dammte, gegen die Uebertreibungen der Sündenlehre, gegen die Spaltung des Endschicksals in Himmel und Hölle, gegen die kirch­ liche Christologie und gegen die mit der Welt sich vertragende kirchliche Ethik. Den Staat erkannte er an, aber den Christen widerriet er die Teilnahme an staatlichen Aemtern. Aehnlich stand es mit Hätzer, Bünderlin, Entfelder. Sie waren Schüler Denks, und haben mit ihm Seb. Franck beeinflußt. Eine ganz eigentümliche Stellung nahm Theobald Thamer ein, der den Geist in das natürliche Gewissen oder sittliche Naturgesetz verwandelt hat, eine merkwürdige Vorausnahme der zwei Jahrhunderte später eintretender Umwandelung der christlichen Ideenwelt in den mo­ ralistischen Deismus 488). Viel weiter in die neuplatonische und naturphilosophische Begründung des Geistes und des Kampfes zwischen Fleisch und Geist führen die mystischen Naturphilosophen der Epoche Lu d­ w i g V i v e s , C a m p a n u s und S e r v e t , A g r i p p a v o n N e t t e s h e i m und P a r a c e l s u s. Sie sind nach der religiö­ sen Seite hin sämtlich Vertreter einer kirchlich gleichgültigen Inner­ lichkeit der Gesinnung und einer die Selbstsucht überwindenden mysti,schen Liebe, sind auch größtenteils Katholiken geblieben, üben aber ihre Hauptwirkung auf protestantische Spiritualisten aus. Insbesondere Servet in seiner Wiederbelebung gnostischer Ele­ mente der Bibel und ihrer Verknüpfung mit neuplatonischen Spekulationen war einer der interessantesten und geistvollsten 488) Vgl. hiezu im allgemeinen Hegler, Geist und Schrift, und Keller, Staupitz. Keller nennt diese spiritualistischen Täufer die » besseren Täufer«, wie das auch Maronier tut S. 327, andere nennen sie »freie Täufer«, was eine contradictio in adjecto ist. Ueber Bünderlin s. Hegler S. 51, Entfelder Hegler 273 und Keller 360. Ueber Thamer s. Neander, Th. als Repräsentant moderner Geistesrichtung 1842 und Hochhut, Z. f. bist. Theol. 1861. Wie Sebastian Franck, Coomheert und die Kollegianten bestreitet Denk schließlich jedes geistliche Amt, auch das von ihm bei den Täufern selbst bekleidete; ohne supranaturale Berufung, wie die der Apo­ stel war, gibt es kein Amt. Das ist wieder der Satz Schwenkfelds, oder geht schon Schwenkf:ld hierin auf eine ältere mystische Theorie zurück ? Das kommt der Aufhebung �eder Kirche und Sekte überhaupt gleich s. Keller, Denk 1882 S. 226 ; hier Analysen seiner Schriften. Sein sog. • Widerruf« ist nur die Abrückung von den Täufern zum Spiritualismus. T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Köpfe der Zeit. Von ihnen allen hat auch Seb. Franck nicht unerhebliche Einflüsse aufgenommen. Auf Eindrücken von Para­ celsus, Schwenkfeld und Weigel beruhte dann die Theosophie Ja k o b B ö h m e s , religiös gleichfalls wesentlich Spiritualismus unter gläubiger Schonung der kirchlichen Sakramente. Der glei­ chen Gedankenwelt gehörten dann weiter die Gichtel, Poiret, van Helmont, Fludd Vater und Sohn an. Sie alle haben nach der Aus­ rottung der Ketzer in Deutschland und der Schweiz ihre Zuflucht in den Niederlanden und in England gefunden, wo der Spiritualis­ mus der Revolutionsepoche an ihren Büchern zum großen Teil seine Nahrung fand. Böhmes Schriften wurden in Holland gedruckt und ins Englische übersetzt, ähnlich wie Franck seine Weiterwirkung in Holland und England gefunden hat. Unter den großen Naturforschern stand Kepler dieser Richtung nahe, der ja auch sonst bekanntlich mit dem Neuplatonismus, der Unterlage des ganzen prinzipiellen Spiritualismus, sich nahe berührte. Er glich seine neue Naturlehre mit der Bibel durch die Beschränkung der Offenbarung auf die religiösen »Intentionen« des Geistes und durch die »Akkommoda­ tion« der buchstäblichen Ausdrucksweise des Geistes an die popu­ läre Denk- und Redeweise aus; auch er hat den heißesten Kampf mit den Theologen führen müssen und seine der Hexerei angeklagte Mutter nur durch eine heftige literarische Polemik vor dem Tode gerettet. Ein anderer der hierher gehörigen bedeutenden Re­ former und Propheten der Zukunft war Arnos Comenius, der letzte Bischof der böhmischen Brüderkirche, der nach furchtbaren Schicksalen, wie so viele andere, sein Asyl in Amsterdam fand. In den Angelegenheiten der natürlichen Dinge war er, wie später die Pietisten und Quäker, Anhänger einer empirisch-sensualistisch­ utilitarischen Auffassung, von wo aus seine berühmte Reform der Pädagogik ihren Ausgangspunkt nahm. Religiös ist er dagegen Chiliast, Platoniker und Spiritualist. Er hofft auf die Einheit der Menschheit im Geiste und auf das Ende aller Konfessionen. Er gehörte wie Sebastian Franck zu den heimlichen Verschworenen einer bessern Zukunft, die erst heute voll verstanden werden 489). 489) Zum Ganzen vgl. Hegler und Gottfried Arnold. Ueber Servetes Spiritua­ lismus Tollin, Servet und die Bibel, Z. für wiss. Theol. 1875. Ueber Paracelsus den schönen Aufsatz Euckens in den »Beiträgen zur Einführung d. Gesch. d. Philosophie«. Betreff Böhmes sei in diesem Zusammenhang nur auf Ritschl, Gesch. d, Pietismus II 301-305 u. R. Grützmacher 195-204 verwiesen. Der religionsp11ilosophische und metaphysische Gehalt dieser Denker interessiert uns hier nicht; hierüber s. den heute noch unvergleichlichen »Grundriß der Gesch. der Philosophie 8 von J. E, Erdmann

David Joris und die Joristen.

Dem ganz andersartigen Gebiete der orgiastisch-enthusiasti­ schen Mystik gehörten ursprünglich die Gruppen der Joristen und Familisten an. Der mit der Auflösung der bisherigen Kirche nahegelegte und auch von Luther oft ausgesprochene Gedanke des bevorstehenden Weltendes, die Vorbilder des urchristlichen Enthusiasmus und der Apokalypse legten derartige Schwärmerei nahe, am meisten bei dem täuferischen Biblizismus; dazu kam die von der sadistisch grausamen Verfolgung gesteigerte furchtbare Nervosität. Die beiden Gruppen bedeuteten die Herausarbeitung von festeren mystisch-spiritualistischen Gemeinschaften aus diesem re­ gellosen Enthusiasmus und wurden damit bedeutsame Kräfte in der Ausbildung der großen mystischen Bewegung, die dann in der englischen Revolution und im Pietismus sich auswirkte. Die J o r i s t e n gehen auf David Joris zurück, einen nieder­ ländischen Zeitgenossen Luthers, der in die reformatorische und dann in die täuferische Bewegung hineingeriet; da suchte er die beiden Flügel der letzteren, den radikal-gewaltsamen und den leidenden, zu vereinigen in dem übergeordneten Prinzip der My­ stik, deren Ethik er im Sinne der Gelassenheit und Bruderliebe, aber nicht ohne libertinistische und antinomistische Folgerungen aus dem Grundsatz der Freiheit und Vollkommenheit des Geistes lehrte. Seine Besonderheit aber war, daß er aus dieser Mystik eine Gemeinschaft herausbildete, die ohne Kult und Sakramente an seine eigene Person gebunden war, indem er sich in wunderbaren Visionen zum Träger des Christusgeistes oder zum dritten David beim Anbruch der neuen Weltzeit, des dritten Reiches, bezeichI 462-502, auch Gottfried Arnold. Hier erscheinen sie lediglich mit ihrer spiri­ tualistisch-mystischenWirkung, die die Bindung an geschichtliche, kirchengründende Heilstatsachen überflüssig oder zu bloßen Hilfsmitteln des eigentlich entscheidenden, ganz individuell-persönlichen Vorgangs macht. Das hat Ritschl mit dem Scharfblick des Hasses richtig erkannt. - Ueber Kepler gleichfalls Eucken S. 38-53; hier das charakteristische Bekenntnis Keplers gegen einen orthodoxen Gegner: > Tibi Deus in naturam venit, mihi natura ad divinitatem aspirat« S. 43. Sein Verhältnis zur Schrift bei Deißmann, Kepler und die Bibel 1894; dort auch die Analogie Seb. Francks S. 28 f. betont. - Ueber Arnos Comenius s. den Artikel von Schiele in seinem Lexikon und die Veröffentlichungen der Comeniusgesellschaft, die ganz kon­ sequent auch die übrigen Spiritualisten unter ihre Fittiche genommen hat, leider in der oft unkritischen, wenn auch einem richtigen Instinkt folgenden Weise ihres Leiters, Ludwig Keller. Ueber den Zusammenhang von Askese, Spiritualismus und Pietismus mit einer empirischen Pädagogik und Philosophie s. die sehr erleuchten­ den Bemerkungen von Max Weber, Archiv XXI S. 53 u. 97.

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III. Protestantismus,

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

nete. Zugleich schuf er einen familienhaft persönlichen Verband um sich herum, für den er in phantastischen Verkündigungen und Botschaften die Anerkennung von staatlichen und kirchlichen Ge­ walten verlangte. Er bejahte für seine Person, was Schwenkfeld, Franck, Coornheert und die Kollegianten leugneten, den wunder­ baren Beruf. Zugleich brachte er ihn mit seiner Lehre von den drei Weltzeiten und von einer besonderen Einwohnung und Er­ schließung des bisher unvollkommenen offenbaren Christusgeistes in seiner Person in Verbindung. Deshalb griff ihn auch der sonst mit seinen spiritualistischen Grundsätzen einverstandene Coornheert heftig an. Bereit, äußerlich sich allen beliebigen Kulten anzuschlie­ ßen, lenkte Joris schließlich in Basel als geehrter Bürger heimlich eine große, überall hin verzweigte Gemeinde, die gleichfalls sich nur als geheime Gemeinde verbreitete. Noch radikalen Pietisten wird Ansteckung durch joristisches Gift vorgeworfen, wie denn seine Schriften noch Ende des 16. Jahrhundert neu aufgelegt wurden. Das Ketzerrecht konnte von den entrüsteten Baslern, die in ihm einen vornehmen fremden Herrn von exemplarischer Frömmigkeit gesehen hatten, erst an seiner Leiche ausgeübt werden. Eine interessante Wiederholung ähnlicher Vorgänge ist die moderne Sekte der Nazarener, deren Prophet Wirtz Aehnliches von sich aussagte und deren Gemeinde in ähnlicher Weise heimlich ver­ bunden war, im übrigen eine Trägerin der uralten mystischen Traditionen und Literatur 490). 496) Hierüber Gottfried Arnold, für den der von der Rechtgläubigkeit über jedes Maß gehaßte Erzketzer und Blasphemist ein Lieblingsheiliger ist, ein Zeichen der Neigung mancher Zweige des Pietismus für ihn; außerdem die mustergültige, das ganze Thema aufarbeitende Untersuchung von Nippold, Z.f. Hist.1863 u, 1864. Hier die Auseinandersetzung des Joris mit Menno Simons B. 33 S. 141-149 und B.34 S. 533-557, die den Unterschied von Sekte und Mystik vorzüglich erleuchtet: Geist gegen Buchstabe, Freiheit gegen Gesetz. Die drei Typen B, 34 S.554, wo Blesdyk auseinandersetzt: »Die einen (die Sekte) haben eine falsche Zuversicht auf äußerliche Tugenden und opfern alles für buchstäblichen Glauben auf .., die andern (die Kirchen) haben eine falsche Zuversicht auf einen selbsterdachten Got­ tesdienst ... oder auf den Wahn, den sie Glauben nennen, daß Christus für sie gestorben, ihre Gerechtigkeit und Heiligung geworden ist • .. Und diese falsche Zuversicht stützen und unterhalten sie, die einen mit vielen äußerlichen Werken, die andern mit Erzählen und Lesen der hl. Schrift, welche sie nach gelehrten Kommen­ taren dem Volk erklären, aber Gottes Wort nennen, und mit Gebrauch des Nacht­ mahles, welches sie für eine Versiegelung der Erlösung und Rechtfertigung halten.« Dem gegenüber verkündet Joris die Religion des Geistes als neu erweckter Prophet

Heinrich Nikläs und das Haus der Liebe.

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Aber auch schon gleichzeitig erhob sich neben den Joristen ein bedeutendes Seitenstück, das »Haus der Liebe« oder die »F a ­ m i Ii a c a r i t a t i s «. Ihr Stifter war der Kaufmann Heinrich Nikläs, der unmittelbar aus dem Katholizismus heraus ohne Anschluß an eine der Reformparteien sich einem visionären Enthusiasmus und den bekannten Gedanken der deutschen Mystik von der Ver­ gottung und Gelassenheit, vom göttlichen Licht- und Liebesfunken, sowie der Fleisch und Buchstaben überwindenden Ethik der From­ men und Vollkommenen ergab. Seine Wirkung aber hat er doch erst auf protestantischem Boden gefunden, indem er sich als den Propheten der letzten Tage auf Grund seiner visionären Berufung und seiner Vergottung darstellte und die bekannten drei Stufen der Heilsgeschichte auf sich als den Propheten der letzten Stufe bezog. Auf dieser letzten herrscht die reine Innerlichkeit des Geistes wie einst im Urstand und die reine asketische Heiligkeit und Liebe, zugleich jene völlige Freiheit von Gesetz, Geschichte und Buch­ staben, die als vollendete Schwärmerei erscheint. Bedeutsam aber ist, daß dieser Prophet seine Gemeinde nicht bloß im Personenkult mit sich verbunden, sondern eine hierarchisch-kommunistische Organi­ sation geschaffen hat, die nach dem Vorbild der Täufer die reine Gemeinde des neuen Jerusalem hervorbringen und nach dem des Katholizismus zugleich ein heiliges Priestertum darstellen sollte, das letztere freilich nur auf innerer Erwählung beruhend. Auch dieser Gruppe ist Coornheert entgegengetreten, da sie das hierarchische S. 554. Die Auseinandersetzung mit Coomheert 34, S. 627-641, besonders S. 635: >Hierbei wirft der Verteidiger (des David) dem Coornheert vor, er verstehe Davids Meinung (insofeme C. festhält an der Verkörperung des Geistes in der Bibel statt in dem neuen Propheten) nicht, weil e r s i e m i t Fr a n c k s u n d S c h w e n k f e l d s A n s i c h t, m i t d e n e n e r (C.) s e l b s t ü b e r e i n s t i m m e, v e r w e c h s l e. Denn David lehrt nicht wie diese, daß in den letzten Zeiten niemand mehr den anderen münd­ lich und schriftlich belehren wird, sondern Buchstaben oder äußere Lehre nennt er das, was von weltlichen Weisen ohne den Geist gelehrt wird. Dem gegenüber bezeich­ net er das, was von dem wahren Gesandten Christi (d. h. durch David selbst) durch den heiligen Geist, zumal in den Zeiten des heiligen Geistes oder der Vollkommen­ heit gesprochen wird, als Geist und Leben. « Das erleuchtet in der Tat den Sach­ verhalt. Keine Klassenbedingtheit dieser Sekte 34 S. 575, Neue Ausgaben Ende des 16. Jahrh. B. 34 S. 566, 627, 667. Vorwürfe des Jorismus gegen Knutzen 1674: 34. 672. Den Eindruck auf den radikalen Pietismus bezeugt auch Arnolds Ehrenrettung. - Ueber die Sekte der Nazarener Kalbe S. 275-285. Ein Verwandter von mir, der Anhänger dieser Gruppe war, besaß die ganze übliche mystische Literatur, ein­ schließlich Gottfried Arnold und der Berleburger Bibel.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Amt erneuere und die einfache Enthaltenheit des Geistes in der Bibel schwärmerisch verunreinige. Aber auch sie hat große Aus­ breitung gefunden, vor allem in England, wo Bunyan die allego­ risch-mystische Reise des Propheten zu seinem Pilgrims Progress umgestaltete und wo man fast alle schwärmerischen Erscheinungen mit den Familisten in Verbindung brachte. Insbesondere hat man die sog. Ranters, eine besonders exzentrische spiritualistische Gruppe, von ihnen hergeleitet. Mit der englischen Revolution verschwindet ihre Spur. Eine gewisse Aehnlichkeit mit ihnen bietet in neuerer Zeit die Gründung Irvings, die apostolische Kirche. Neben ihnen gab es noch manche kleinere Prophetengemeinden von ähnlichem Wesen, aber von geringerer historischer Bedeutung, zum Teil aus abgefallenen Anhängern der beiden Gemeinden bestehend? 491) Gehörten diese Gruppen den kirchlich noch nicht festgelegten Verhältnissen Hollands an, so stellten die L a b a d i s t e n eine klösterlich-kommunistische Hausgemeinschaft im Gegensatz zu der reformierten Staatskirchlichkeit der Niederlande dar. Labadie war ursprünglich katholischer Priester und stand dem Jesuitenorden nahe. Von der quietistischen Mystik und der Lehre vom inneren Wort ergriffen, näherte er sich den augustinisch-reformierten Lehren, trat zum Calvinismus über und fand, aus Frankreich ver­ trieben, begeisferte Aufnahme bei den niederländischen Pietisten. Seine Gemeinde in Middelburg organisiert er aber bald auf Grund 491) Vgl. Gottfried Arnold und Nippold, Z. f. hist. Theo!. 1862. Hier ist frei­ lich die englische Entwickelung der Gruppe nur sehr dürftig behandelt. Ueber die letztere s. Beifort Bax 338-380; er bringt Ranters und Quäker mit ihnen in Zusammenhang; ebenso Barclay, The inner life of the religion societies of the com­ monwealth 1876, 25-35. Keine Klassenbewegung Nippold 370, Anerkennung der be­ stehenden Gesellschaftsordnung und äußere Fügung in gegebene Verhältnisse, auch kirchliche 377; Gegnerschaft Coornheerts 388 und 536; die ideale Ethik im Sinne libertinistischer Mystik 516, der Grundsatz der heiligen Gemeinde und Bußzucht aus Täufertum stammend, 539-542, die hierarchisch-kultische Geheimorganisation, aber ohne Sukzession und Anstalt, lediglich innere Berufung des Geistes und An­ erkennung dieser Berufung durch Weihe 549-563. Es ist eine eigentümliche Mischung von spiritualistischer Mystik, visionärem Enthusiasmus, katholischer Hier­ archie und täuferischem Gemeindeideal, zugleich sehr starke Betonung der im dritten Reich wiederherzustellenden Vollkommenheit und Gotteinigkeit des Urstandes. Daher bringt Berens Winstanley in engen Zusammenhang mit den Familisten S. 15-18. - Ueber den Irvingianismus s. Kalbe S. 439 bis 455. - Weitere Pro­ phetengemeinden sind die Ubboniten, Heppe S. 68, andere in den beiden Abhand­ lungen Nippolds.

Labadisten.

Niederländische Mystik des 17. Jahrh.

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des inneren Wortes, des Stufengangs der Gotteinigung und der strengen Askese zu einer neuen Gemeinde des kommenden himm­ lischen Jerusalems, wurde aber infolgedessen von seinen alten Freunden fallen gelassen. Das spiritualistische Prinzip mit dem klösterlichen und dem täuferisch-chiliastischen verbindend hat er dann seine kommunistische Hausgemeinde geschaffen , die zu einem un­ ruhigen Wanderleben verurteilt war, bis sie unterging, nicht ohne nach allen Seiten Keime des mystischen Denkens auszustreuen. So gehört er sowohl der Geschichte des Sektentypus als der der Mystik an, eine Doppelseitigkeit, die wir bereits mehrfach festzustellen hatten, die aber die Getrenntheit beider Typen nicht aufhebt 492). Auch außerdem wurden die N i e d e r l a n d e , wo noch alte Ueberlieferungen der Mystik des 15. Jahrhunderts nachwirkten und die in ihrer vorcalvinistischen Reformationsepoche Schauplatz und Zufluchtsort aller möglichen mystischen Bewegungen gewesen waren, um die Mitte des 17. Jahrhunderts von einer neuen Welle der mystischen Bewegung durchflutet, ähnlich wie gleichzeitig England. Der von dorther eindringende puritanische Pietismus bildete, wie wir bereits gesehen haben, die Brücke zu einer die kirchliche Heilslehre, den Kult und die Heilsgeschichte vergleich­ gültigenden Mystik. Der jüngere Teellinck, Lodensteyn, Brakel im 17. und Schortinghuys im 18. Jahrhundert streiften die Grenze der Aufhebung jedes kirchlichen Heilsgedankens 493). An492) Vgl. Heppe S. 240 -374, Ritschl I 194-246, Die Doppelheit des Motivs: ,die Mystik und der Gedanke, daß der Wiedergeborene mit dem Nicht-Wiederge­ borenen keine Gemeinschaft haben dürfe« S. 316. Charakteristisch der Gegensatz des reinen Spiritualisten Gichtel, »der mit dem geschlossenen Sektenwesen sich nicht zurechtfinden konnte, indem er selbst durchaus keine Sekte bilden wollte« ebd. 317. - Andauernde labadistische Einwirkungen auf die niederländische Kirche Heppe 394-464 »die Konventikel waren der Boden, auf dem sich ganz gewöhn­ lich Pietisten, Labadisten und Hattemisten die Hand reichten« 399; in der deutsch­ reformierten Kirche Heppe 482 u, 489. Dabei fielen die kommunistisch-klöster­ lichen Bestrebungen zu Boden, aber es blieb die Neigung zur Separation, zur ge­ schichtslosen Mystik, zum Enthusiasmus, zum Chiliasmus, Perfektionismus und ge­ legentlich auch die sexuell ungebundenen Neigungen eines solchen Perfektionismus. Ueber die Ausläufer dieser Bewegung in den philadelphischen Sozietäten, darunter der sog. Butlarschen Rotte s, Hochhut, Geschichte und Entwickelung der philadel­ phischen Sozietäten, Z. f. bist. Theo!. 1865. - Ueber Analogie und Zusammen­ hang mit den Waldensern und Täufern s. Maronier S. 316; auf der Reise von Genf nach Middelburg hat Labadie in der Tat bei pfälzischen Waldensern seine Zuflucht 493) Vgl. Heppe S. 169-204, 375-489. gefunden.

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III.

Protestantismus.

4,

Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

dere, wie die Verschooristen und Hattemisten, näherten sich dem Pantheismus. Die ganze Atmosphäre ist die Voraussetz­ ung sowohl für die Ethik Spinozas als für die des Geu­ lincx 494). Die Collegianten erwachten aus ihrem stillen Le­ ben und trugen durch Galenus ihren Independentismus, ihr Pro­ phetisieren und ihren Spiritualismus des inneren Lichtes als refor­ matorische Kraft in die täuferischen Gemeinden hinein, woraus bis ins 18. Jahrhundert hinein tiefe und leidenschaftliche Gegen­ sätze hervorgingen. Neue Propheten des Enthusiasmus und der Heiligkeit standen auf, von der leidenschaftlichen Spannung des neuen großen niederländischen Daseinskampfes gegen Ludwig XIV. ergriffen. Lutherische Mystiker und Anhänger Böhmes neben den Sendboten der quietistischen französischen Mystik machten eifrige Propaganda. Die Missionare der Quäker weckten auch in den Niederlanden den Gedanken einer jetzt erst einsetzenden wirklichen Reformation der Christenheit, nachdem die Reform Calvins und Luthers nur eine Art neuer Katholizismus gewesen sei und die Christenheit innerlich unverändert gelassen habe. Die zweite Hälfte des I 7. Jahrhunderts sah so in den Niederlanden die Mystik zu einer großen, breite Volksmassen erfüllenden Be­ wegung ansteigen. Alle Stände waren daran beteiligt, wenn auch in den verschiedenen Gruppen verschieden. Der nur die Kirche ergänzende Pietismus blieb von dem unkirchlichen Spiritualismus deutlich geschieden, auch wenn die pietistischen Mystiker sich '94) Ueber den Verkehr Spinozas mit Collegianten und Mennoniten s. Kuno Fischer, Gesch. d. n. Ph. I 165, 137 f.; über seine Verwandtschaft mit dem Spiri­ tualismus ibid. S, 153-155 nach den Briefen: ,Zur -Seligkeit halte ich es nicht für notwendig, Christum nach dem Fleisch zu kennen ; ganz anders dagegen denke ich von jenem ewigen Sohn Gottes, nämlich der ewigen Weisheit Gottes, welche sich in allen Dingen, am meisten im menschlichen Geist, unter allen Menschen am meisten in Jesus Christus geoffenbart hat; denn ohne diese Weisheit, die allein lehrt, wie sich Wahrheit und Irrtum, Gutes und Böses unterscheiden, kann niemand selig werden,« Das ist die Lehre der Spiritualisten, Auf solche Zusammenhänge verweist auch Windelband, Gesch. d, n. Ph, I 213. Hegler S. 288 wirft mit Recht die Frage auf, ob Sp, den vor allem in Holland fortgepflanzten Seb. Franck ge­ kannt habe. Auch Hylkema, Reformateurs, Haarlem 1900 und 1902 stellt Spinoza in diesen Zusammenhang II 367, 473-477, Das scheint mir überhaupt erst die religiös-ethische Seite von Spinozas Denken zum Verständnis zu bringen, Auch Geulincx gehört unzweifelhaft nach der religiös-ethischen Seite hin in den gleichen allgemeinen Zusammenhang, wie Heppe mit Recht hervorhebt.

Die niederländischen Mystiker des 17. Jahrh.

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schließlich nur mehr durch ihren Willen zur Kirche von ihm unter­ schieden, Er setzte sich praktisch zumeist in der Weise fest, daß er zunächst bei den längst mit dem Staat ausgesöhnten täuferischen Gemeinden eindrang, um sie - unter heftiger Bekämpfung der täufe­ rischen Sekte selbst -- als Sprungbrett zur reinen kirchenfreien My­ stik zu benützen und dann ihren alten weltverbessernden Radikalismus wieder zu beleben. Dadurch erhielt dieser Spiritualismus von Haus aus zugleich eine praktisch-reformatorische schwärmerische Richtung, die er bei Seb. Franck und Coornheert noch nicht gehabt hatte. So ver­ schiedenartig diese Geister waren, einig waren sie in der Verwer­ fung der sakramentalen Kirche und der buchstäblichen Sekte, der Massenchristenheit und der äußeren Autorität, der bisherigen Ge­ schichte der Kirche von Konstantin bis Luther und Calvin. Es ist überall der echteste Spiritualismus mit seinem radikalen Individua­ lismus, seiner Kritik an Buchstaben, Autorität und Dogma, sei­ nem Drang nach Unmittelbarkeit und Gefühlsmäßigkeit, seiner Unabhängigkeit des inneren Christus von der äußeren Christen­ heit und ihren Geschichtswundern. Sehr bunt und verschieden­ artig sind freilich ihre Gemeinschaftsbildungen. Die einen be­ nutzten, wie bereits gesagt, die Täufergemeinden, indem sie zu­ gleich deren inneren Daseinsgrund auflösten. Die anderen hatten rein persönliche Prophetengemeinden oder geschlossene Hausge­ meinden nach Art der Labadisten. Andere suchten neue Ver­ einigungen oder bestritten auch alle äußere Gemeinschaft über­ haupt und erwarteten das völlig freie Wirken des Geistes in einem neuen Zeitalter der rein geistigen Kirche. Ebenso verschieden­ artig ist ihre Ethik, die nur überall die Grundzüge der spiritua­ listischen Askese, der Ueberwindung von Fleisch und Welt trägt. Aber hier gibt es dann im einzelnen rein quietistische Gelassen­ heit, übersittliche rein geistige Freiheit der Wiedergeborenen mit völliger Unabhängigkeit von allen Konventionen bürgerlicher Moral auch in sexuellen Dingen, puritanisch-pietistische Berufs­ und Arbeitsaskese verbunden mit größerer oder geringerer Zu­ rückhaltung von den Ordnungen des Staates und den Sitten der Gesellschaft, schwärmerische Erwartungen des Weltfriedens und Verzicht auf Recht, Macht und Gewalt in jedem Sinne, vor allem die Gleichgültigkeit einer enthusiastischen Innerlichkeit gegen alle Moral überhaupt und den inneren Drang zur opfervollsten Liebes­ tätigkeit. Toleranz und Gewissensfreiheit , Ausschaltung des Staates aus allen religiösen Dingen, das Ideal eines möglichst auf

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III. Protestantismus.

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

Liebe, Frieden und Gesamtwohlfahrt aufgebauten Staates ver­ stehen sich dabei von selbst, ebenso wie der heftige Gegensatz gegen den bestehenden Macht- und Gewaltstaat der fleischlichen Selbstsucht. Doch soll alle Reform von innen herauskommen aus der Macht des Geistes, soll ohne Revolution und äußere Gewalt­ tat von selbst sich durchsetzen. So hat denn auch die Staatsregie:. rung diese Leute sehr zum Verdruß der Presbyterien und Geistlichen, im wesentlichen gewähren lassen, so lange sie seine Institutionen und die herrschende Sitte nicht praktisch gefährdeten. Wie aller übermäßig gespannte Idealismus, so ist auch dieser allmählich in sich selbst versickert; wie auch überall sonst, ging sein heiliger Christusgeist, der ja auch ihm mit Gewissen, Vernunft und Natur­ gesetz einig · war, in die rationalistische und philosophische Ver­ nunft über 495). Eine noch bedeutendere Entfaltung gewann der Geist der Mystik in den durch die englische Revolution geschaffenen Ver495) Ueher diese neue Flut mystischer Bewegung s. das hochinteressante Buch von Hylkema, Es ist eine Fundgrube von charakteristischen Eigentümlichkeiten des Spiritualismus und zeigt in überraschender Weise die Parallele zu der eng­ lischen Bewegung, Der Name freilich ist nicht glücklich gewählt, auch ist der dogmengeschichtliche Zusammenhang mit dem früheren Spiritualismus und das Verhältnis zu den Täufern nicht genügend klargestellt; die politisch-sozialen sowohl als die theologischen Lehren dieses Spiritualisten sind zu sehr modernen, ratio­ nalistischen und politisch-sozialen Erscheinungen angenähert. - Keine Klassenbe­ dingtheit I So, II 205-208 ; gemeinsamer Gegensatz gegen Kirche und Täufer I 138, 169, 185, II 7; radikale Unkirchlichkeit I 100 ff., Gegensatz auch gegen den innerkirchlichen asketischen Pietismus II 86 f., 472; Identität des wahren ethi­ schen Gehaltes des Geistes mit Gewissen und Vernunft I 161 1 167, 176; die Ethik im Verhältnis zum Staat I 147-178, nach innen II 1-Ill, Sehr treffend ist die Hervorhebung der prinzipiellen Unabhängigkeit und Fremdheit dieser religiösen Idee gegen alle Moral überhaupt II 83-1ll; am meisten calvinistisch-puritanische Züge bei den Collegianten, kommunistisch-sektenhaft-demokratische Züge bei den anderen. Sehr interessant ist bei den ersteren auch die Uebereinstimmung mit den von Max Weber charakterisierten ökonomi,chen Zügen des >asketischen Protestantismus« ; van Hoek ruft seinen Collegiantenbrüdern zu: >Vergenoegt u met een seedig gelat en gemoed, met deftighijd in handel en wandel !« II 14; hier findet auch das von Weber so stark betonte systematisch-rationale Element der reformierten Askese seinen klassischen Ausdruck II 49 : >Liever dan er ook maar de minste ruimte aan te geven (d, h. dem Fleisch), wil hij het s t e I s e 1 m a t i g tyraniseeren. Juist omdat het vleesch op gemak gestelld is, zal hij sich zetten tot strengen arbeid etc,« Bei den eigentlichen Spiritualisten und reinen Mystikern dagegen fällt diese Metho­ dik zugunsten der Freiheit des Geistes weg. Es ist ein starker Unterschied zwischen

Die englische Mystik des 17. Jahrh.

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hältnissen. Die E n g 1 ä n d e r, denen man die praktische Nüchtern­ heit und Verstandesmäßigkeit wie ein anthropologisches Merk­ mal zuzuschreiben pflegt, hatten ihr großes mystisches Zeitalter. Freilich stand auch hier die entsagende, duldende, alles vom Wirken des inwendigen Christus erwartende Mystik in der unmittel­ baren Bedeutung zurück hinter den aggressiveren und prakti­ scher auf die Welt eingerichteten Gestaltungen der christlichen Moral, erst hinter der presbyterianischen politischen Religion und dann hinter den radikal-täuferischen Idealen. Allein neben und unter dem allen war eine starke spiritualistische Strömung, die den Gedanken der vollen Trennung von Staat und Kirche, des radi­ kalen Laienchristentums, der freien Prophetie und Predigt, der von innen heraus erfolgenden ethischen Erneuerung in Opferwil­ ligkeit und Bruderliebe, der frei aus dem Innern quellenden, durch kein schulmäßiges Dogma und keine Gelehrsamkeit verfälschten Lehre in die Massen trug und damit diese Massen teils dem Independentismus , teils dem Täufertum erst geneigt machte. Beide boten für die Mystik allerhand Einsatzpunkte, und umge­ kehrt konnte die Mystik leicht zu der Folgerung der freien Ge­ meindebildung und der Bindung der Sakramente an volle Würdig­ keit führen, wie sie von jenen vertreten wurde. Auch war es nicht schwer, von dieser Seite her den puritanischen Pietismus zur Preis­ gebung seiner kirchlichen Denkweise zu verlocken. Und wo sich die Mystik von all diesen Verschmelzungen fernhielt oder aus ihnen sich befreite, da schuf sie die rein der Innerlichkeit zugewandten Gruppen wie die Seekers oder Waiters und die Quäker oder orgia­ stisch-libertinistische Gruppen wie die Ranters. So wurde sie hier zu einer Macht des allgemeinen Lebens wie nie zuvor und nachher nie wieder. Ihre Wurzeln lagen in der ganzen Vorgeschichte des Cromwellschen Zeitalters. Der Pietismus hatte sich bereits der Mystik geöffnet bei Hall, Francis Rous und James Janaway. Da­ neben aber gab es auch bereits unter den Stuarts radikale Spiri­ tualisten, so vor allem John Everard, den eine holländische Quelle als Vorläufer der Quäker bezeichnet. Er war, am Anfang des 17. Jahrhunderts lebend, Prediger und Schriftsteller, übersetzte den Poimandres, den Areopagiten, Schriften Taulers, die deutsche Theoder die reformierte Berufsmoral anerkennenden und als Zuchtmittel verwertende und der quietistisch-kontemplativen Mystik, Auch die enthusiastischen Weltrefor­ mer haben mit der protestantischen Berufsmoral wenig zu tun; hier dominiert der Geist der radikalen welterneuernden Sekte.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

logie, den Widerruf Hans Denks u. a. ins Englische und trug selbst in seiner »Geöffneten Schatzkammer« den verwegensten Spiritua­ lismus des inneren Wortes und der Erlösung durch innerliche Gotteinigung vor. Dabei berief er sich auf Plato, Platin, Proc­ lus, Origenes, Augustin, Bernhard, auch auf den heiligen Franz. In fortwährendem martyrienreichen Kampf mit der Staatsregie­ rung und Kirche erwarb er einen mächtigen Anhang, mit dem die Familisten und andere Ansätze der Mystik sich verschmolzen zu haben scheinen. Dazu kamen dann weiterhin die Gemeinden von Anhängern Jakob Böhmes, dessen Werke von den Nieder­ landen herüberdrangen und jetzt ins englische übersetzt wurden; sie haben noch George Fox in seinen Anfängen stark beeinflußt, bis er sich wegen der von den Böhmisten beibehaltenen Sakra­ mente von ihnen wandte. Nicht zu vergessen ist daneben die große Schule englischer Platoniker zu Cambridge, die eigentliche philosophische Leuchte des damaligen England, die in die Finster­ nis des kirchlichen Aristotelismus hineinschien und eine mystische Ethik im Sinne der Neuplatoniker verkündigte; die rationali­ stisch-technische Fortschrittsphilosophie des Fürstendieners Baco hatte daneben so gut wie gar keine Bedeutung. Aber es blieb nicht bei dieser in letzter Linie wissenschaftlich und begrifflich begründeten, auf ruhigen und dauernden Geistesprinzipien sich erhebenden Mystik. Neben ihr entfaltete sich, von der täuferi­ schen Literatur und niederländischen Einflüssen genährt und in den furchtbaren Wirren der Zeit gesteigert, die enthusiastische My­ stik der Visionäre, Convulsionäre und Propheten ; sie war stark chili­ astisch gefärbt und dogmatisch gänzlich allerhand plötzlichen und wechselnden Einfällen und Liebhabereien preisgegeben, hatte aber auch ihrerseits ihre Bedeutung in der Weckung des religiösen Un­ mittelbarkeitsdranges und in dem Streben nach ethisch-asketischer Bewährung. Dadurch floß sie mit der ersterwähnten eigentlichen Mystik hundertfach zusammen. Zugleich verschloß sie sich nicht auf enge Kreise, sondern ergoß sich über alle. Auch Staatsmänner und Generäle handelten nach Eingebungen und Erleuchtungen und lausch­ ten achtungsvoll den sich darbietenden Propheten, die ja möglicher­ weise ein wirkliches Wort Gottes haben konnten. Cromwell zum Beispiel meinte bei längerem Austausch mit Fox wohl noch einig mit ihm werden zu können, was dieser freilich mit Grund für einen Irrtum hielt. Dazu kam die anarchische Entwickelung des Indepen­ dentismus. Ursprünglich rein calvinistisch und nur die Selbständig-

Die englische Mystik des 17. Jahrh.

keit der aus wirklichen Christen bestehenden Gemeinden fordernd, verfielen die Independenten in schwärmerische Willkür. Sie verlang­ ten und übten die freie Predigt von Männern und Frauen, beriefen sich auf unmittelbare Erleuchtung und Geisteszeugnisse und trieben die Folgerungen aus dem Prinzip der Wiedergeborenen-Gemeinde bis zum radikalen Individualismus. Ebenso zeigten die Baptisten neben den streng mennonitisch gefärbten General Baptists die alte Neigung des Täufertums, sich mit Enthusiasmus und Spiritualismus zu verbinden. Aus all diesen Kreisen und Einflüssen setzten sich die »Geist­ treiber« zusammen, wie sie die erbitterte Polemik der Puritaner zu nennen pflegte. So ist es zu begreifen, daß die beiden großen Prediger des Cromwellschen Hauptquartiers, John Dell und John Saltmarsh erklärte Spiritualisten gewesen sind. Der erste lehrte, daß die wahre Kirche sich allein auf das Wort und die ihm ein­ wohnende Wundermacht begründen solle, indem das Wort die Gemeinden von selbst um sich schare und hervorbringe : man müsse ihm nur völlig freien Lauf lassen, wie das schon Luther in seinen Anfängen gelehrt habe. Auf die Frage, wie denn dann die Gläubigen die wahre Predigt und die echten Träger des Wortes erkennen sollten, antwortete er mit dem Satze, daß die Gläubigen die Gabe hätten, sich gegenseitig zu erkennen. Frei­ lich ist das Wort, um das es sich hierbei handelt, stets das innere Wort, das dem Bibelwort und dem Wiedergeborenen gleicherweise immanent ist und zeitlos wie der Logos über beiden schwebt. Der andere trug die alte mystische Lehre vor von den drei Stufen der Heilsgeschichte von Adam bis zu Christus, von Christus bis zum Zeitalter des Geistes und von diesem als dem gegenwärtig be­ ginnenden bis zum himmlischen Jerusalem. In dieser dritten Periode gibt es überhaupt keinen Buchstaben und kein Gesetz, kein geistliches Amt und keine äußere Kirche, sondern nur den in der Liebe sich erweisenden inneren Christus. Es sind die Ge­ danken die man von Seb. Franck, Coornheert und den Colle­ gianten her kennt; auch an Schwenkfeld erinnert manches. Auch hier waren es, wie in der niederländischen Mystik, sehr verschiedene Geister, und doch hatten sie alle etwas Gemeinsames. Sie bildeten teils neue eigene Kultgemeinschaften, teils ließen sie sich in die freigemachten kirchlichen Aemter setzen, teils bekämpften sie jedes Amt und jeden Kultus überhaupt. Die einen erkannten den Zehnten und damit das darauf aufgebaute kirchliche Amt an, die andern verwarfen eines mit dem andern. Die Bewegung ging

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durch alle Klassen; sie trug überall den asketischen Zug, der bei den extremen Schwärmern in die Freiheit des Fleisches umschlug. Am schwierigsten war für sie das Problem des Krieges und der auf äußerem Rechtszwang beruhenden Obrigkeit. Hier haben die einen den heiligen Krieg für die Endzeit zugegeben, die andern haben ihn auch jetzt verworfen. Die einen wollten Staat und Recht nur bei christlicher Handhabung anerkennen, die andern wollten um der Ordnung willen sich in das Gegebene fügen. So viel Köpfe, so viel Meinungen, in allen aber ein ungeheurer utopischer Idea­ lismus, der von dem Zeitalter des Geistes die Aufrichtung einer Lebensordnung im reinen, kompromißlosen christlichen Sinne er­ wartete 496). 496) Zum Ganzen vgl. Hylkema, der die Zusammenhänge des holländischen und englischen Spiritualismus, besonders die Bedeutung der Collegianten für die Seekers und Quäker mehrfach beleuchtet; ferner und vor allem Barclay, der außerordent­ lich viel Material in undurchsichtigster Ordnung gibt ; allein seine Darstellung ver­ setzt völlig in die Atmosphäre der Zeit und beleuchtet allenthalben die Unter­ schiede zwischen Independenten, Baptisten und reinen Spiritualisten, auch die wech­ selnden Entwickelungen, Annäherungen und Entfernungen dieser Gruppen. Ent­ scheidend ist für ihn mit Recht bei der Aussonderung der echten Spiritualisten das Kriegs- und Resistence-Problem. - Auf dem Material beider und Verfolgung der von ihnen gegebenen Winke beruht die höchst lehrreiche Arbeit Sippells, Ueber den Ursprung des Quäkertums, Chr. W. 1910 und ,Dells Programm«. Er hat vor allem die mystischen Traktate und ihren Zusammenhang mit den Collegianten und damit indirekt mit Coornheert aufgehellt und auch die Beziehungen zu Luthers anfäng­ lichem spiritualistischen Gemeindeideal verfolgt. Mehreres verdanke ich mündlichen Mitteilungen Sippells, der mir auch mehrere in seinem Besitz befindliche seltene Trak­ tate der Zeit gütigst zur Verfügung gestellt hat. So habe ich Dells Predigten und Dells Select Works, London 1773, und den wundervollen kleinen mystischen Traktat von Saltmarsh, Sparkies of glory, London 1847, sowie Eatons Honey-Combe kennen lernen. Erst aus diesen Traktaten versteht man die Zeit. Ueber Dell s. nun die interessante Arbeit Sippells ; S. scheint mir freilich die Beziehungen zum Kongregationalismus, der schon seinerseits spiritualistische Elemente enthielt, zu unterschätzen und die zu Luther zu überschätzen. Dells Lehre ist doch in Wahrheit ein mit spiritualistischer Mystik versetzter Kongregationalismus, der überdies eine rein technische Unterstützung des Kirchenwesens durch den Staat akzeptiert, wie das unter Cromwell nahe lag; auch an Schwenkfeld kann gedacht werden, wie Sippell neuerdings Chr. W. 1911 S. 966 selbst bemerkt. Bei den wesentlich calvinistisch­ puritanischen Independenten ist eine Entwickelung von ursprünglich reinem dog­ matischen Calvinismus zu den enthusiastischen Independenten unter den Einwir­ kungen von Täufern und Spiritualisten, vor allem auch der Aufregung und Nervosität

Die Quäker.

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Diese spiritualistischen Hoffnungen scheiterten naturgemäß nicht anders als die radikal-täuferische Welterneuerung an den har­ ten politisch-sozialen Notwendigkeiten. Das Ergebnis aller Kämpfe der Zeit zu konstatieren: Barclay S. 150-159, Aber das ist doch nicht reiner Spiritualismus ; vgl. die von Barclay mitgeteilte Stelle C. H. Spurgeons : »lt happened that the Puritans were getting into the sere and yellow leafe ; and the lndependents and Baptists and other sects, who were at times throughly and even remarkably spirituel, were growing worldly, political, and vain glorious. They had the opportunity of grasping the carnal sword and they embraced this opportunity; and from that very moment very many of them lost the spiri­ tuality for which they had been eminent. The danger was, lest the Evangelical sects should quietly settle down into one State Church . . . and preach each one after bis fashion . . At that very moment God sent into the world George Fox , . He stood up in the face of the christian world and said to it: No, thou shalt not do this. Thou shalt not conform thyself to the world. Thou shalt not go into an unholy alliance with the State ; there shall be in the midst of thee a spiritual people, who shall bear their protest, that Christ's Kingdom is not of this world, and that religion standeth not in forms and ceremonies, but is a matter connected with the inner man and is the work of Gods spirit in the heart.« Das zeigt den ganzen Unterschied des Spiritualismus gegen die oben geschilderten täuferisch­ hussitisch-hugenottisch-calvinistische Stimmung des Kriegs für die Aufrichtung des Königreichs Christi. Der gleiche Unterschied in der Bemerkung Barclays S. 625: »The christianity of Cromwells soldiers at the commencement of our Civil Wars cannot be doubted, but it is more than doubtful whether it improved in quality by the conflict. They had however seen enough of war to be apt disciples of Fox, and many of them became preachers of the Gospel of peace and good will to men,c - Ueber englische Böhmisten Barclay S. 214, über die Seekers und ihren Zusam­ menhang mit den Collegianten S. 73 und 410-413; über die Ranters S. 414 bis 428, B. führt sie bis auf die Libertins Calvins und die mittelalterlichen Brüder vom freien Geist zurück, während das mir eine bloße Analogie, erklärlich aus ge­ meinsamem Untergrund, scheint, - Die Entwickelung vieler spiegelt sich in dem Bericht über Salmons Traktat S. 428 I: »First he became a Presbyterian ; they appeared to him to hover gently and soar sweetly in a more sublime region than the Episcopal people. Then came lndependency on the stage, a people far excee­ ding others in the strictness of their form. Then the doctrine of Believers Bap­ tisme. He became a Baptist preacher, braved persecution and built a tabernacle. Then came that voice from the throne of the Almighty: arise and depart, for this is not your rest. « - S. auch die Darstellung bei Firth, Cromwells Army. Hier drang der Spiritualismus durch die Laienpredigt ein und durch die Ersetzung der pres­ byterianischen Kapläne, die sich zurückzogen, durch spiritualistische, Dell, Salt­ marsh, Sedgwick, Hugh Peters, S. 320. Die allmähliche Zurückdrängung aus der Armee S, 340: A sober congregationalisme became the dominant form of religion,

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4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

war nach der einen Seite das Protektorat, dann die Restauration und schließlich der whiggistische Liberalismus, nach der andern die gründliche Abwendung von allem christlichen Ueberidealismus, die Verweltlichung des Geistes zur Vernunft, womit der Deismus die große religionsgeschichtliche und religionsphilosophische Kritik der Neuzeit begann. Alles, was von dem mystischen Aufschwung übrig blieb, das waren »die Kinder des Lichtes« oder »die Gesell­ schaft der Freunde«, wie die Qu ä k e r sich nannten. Sie sind in ihrer endgültigen Lehre die reinen Abkömmlinge des Spiritualismus der Reformationszeit, die Verkünder des inneren Lichtes, der per­ sönlichen Wiedergeburt durch den ewigen Christus, der Identität des Geistes im Wiedergeborenen und in der Bibel, der Enthaltenheit des göttlichen Lichtes in dem jedem Menschen innewohnenden Licht­ funken, der in der Berührung mit der Bibel lediglich entbunden wird aus der Gefangenschaft durch Fleisch und Finsternis. Aber es wäre doch falsch, sie von hier aus allein verstehen zu wollen. Sie sind in Wahrheit die Verbindung dieser spiritualistischen Lehre mit der täuferischen Idee der reinen und heiligen, auf ernster Bekehrung beruhenden und staatsfreien Freiwilligkeitsge­ meinde. Sie haben die natürliche Neigung des Spiritualismus zur Gemeinschaftslosigkeit gebrochen durch den Anschluß an die mennonitische und vor allem collegiantische Gemeindeverfassung. Cromwell deutet das kommende Gottesreich im Gegensatz gegen die Quintomon­ archisten spiritualistisch und will die äußeren Ordnungen daher bestehen lassen S. 341. Monk klagt über militärische Unbrauchbarkeit von Spiritualisten 344 f, Kassierung spiritualistisch gesinnter Offiziere 346 f. Hier die Charakteristik des Hauptmanns Jackson: •In the language of the time, he was one of those who bad passed through all forms, and was above all forms and above all ordinances, whose religion was not made up of laws and duties, but all exaltation and inward bliss For such, he said, all extemal forms of duties and performances are tumed into praises and thanksgivings. Now there is nothing but mirth in them, there is a conti­ nual singing of birds in them, chirping sweetly, in a sweet harmony of soul-ravishing delightful music,« Er erlag einem presbyterianisch gesinnten Oberst, war aber mili­ tärisch sehr brauchbar, weshalb Fairfax ihn nicht opfern wollte, Daß auch Crom­ well hierin nicht zu weit gehen ließ und sozinianische oder antinomistische Folge­ rungen als derogation to the honour of God bestrafte, zeigt der Fall des Haupt­ manns Covell 347 f. - Die Bedeutung der Familisten für das Ganze schränkt Sippell S. 2 sehr ein ; er leitet Enthusiasmus und Mystik von der eschatologischen Wendung des Puritanismus her S, 5-10. Doch ist bei Everard, Dell und Saltmarsh die ganze mystisch-spiritualistische literarische Tradition unverkennbar im Hinter­ grunde Sippen S. 80-88.

Die Quäker.

Wie diese haben sie ihren engeren und weiteren Kreis, ihre Lehr­ Aeltesten und ihre Armenpfleger, ihre Versammlungen und Liebes­ mahle, die freie Laienpredigt - dazu kommt hier das schweigende, der Erleuchtung harn;nde Meeting -, die Gemeindezucht und den Bann. Nur vollziehen sie die Aufnahme nicht durch die Spättaufe, sondern durch die Anerkennung der Wiedergeborenheit der Auf­ nahme Begehrenden, wozu man - wenigstens mit Rücksicht auf das äußere Verhalten - die Vorsteher für befähigt hält. Die freie Ge­ meinde des Geistes muß auch hier voraussetzen, daß der Geist in der Wahl der Aeltesten und in der Aufnahme der Bewerber sich selbst er­ kennt. Insoferne stehen auch sie Luthers ursprünglichem, spirituaiisti­ schen Gemeindeideal nahe; sie lösen das damit entstehende Problem, wer denn dann zur Aufnahme und zum Amt berechtigt sei, durch das Vertrauen zum Geist. Freilich mußten auch sie erleben, daß praktisch aus dieser frei vom Geist gebildeten Ge­ meinde durch die Gewöhnung an die Macht des Gemeinschafts­ lebens eine sich von den Eltern auf die Kinder forterbende Ge­ meinschaft wurde, ein »Geburtsrecht« statt des freien Zuströni.ens aller Bekehrten zur Gemeinde der Gottesfreunde. Aber nicht bloß die Verfassung verband sie mit dem Täufertum. Auch ihre Ethik, die den Antinomismus scheute, band sich, wie die der Täufer, an die Weisungen der Bergpredigt, forderte den Verzicht auf weltliche Ehr e, auf Macht, Krieg, Recht, Eid und obrigkeit­ liche Aemter und schrieb die schrankenloseste Bruderliebe und Armenpflege vor. Nach dieser Seite hin sind sie, wie man gleich­ falls mit Recht oft gesagt hat, die letzte und die reinste Organi­ sation des Täufertums. Von da aus haben sie dann freilich auch die verbürgerlichende Entwickelung der ihnen so nahestehenden Mennoniten durchgemacht. Bei der ursprünglichen Weltfremdheit konnte es nicht bleiben; sie haben vielmehr die reformierte Be­ rufsethik mit ihrer asketischen Lebenshaltung in steigendem Maße verbunden. Gott hat dann auch »ihr Geschäft gesegnet« mit den ökonomischen Folgen, die diese Berufslehre des asketischen Pro­ testantismus mit sich zu bringen pflegt. Strengste Arbeitspflicht; Beschränkung der Arbeit auf nützliche praktische Leistungen in Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft; Mindestmaß des Luxus und der eigenen Konsumtion, Höchstmaß der Leistungen für die Gemeinde; gemeindliche Ueberwachung der geschäftlichen Ehrlichkeit und Kreditwürdigkeit, des Familienlebens, der Kinder­ erziehung ; kurz das gleiche Ideal wie im alten calvinistischen Tro e 1ts ch

Gesammelte Schriften. I.

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Genf, nur auf Grund der Freiwilligkeit: das ist schließlich der Charakter der Gemeinde, die mit dem äußersten weltfremden Spiritualismus begann. Sie »verbürgerlichte« gerade aut Grund ihrer asketischen Berufsmoral, wie denn die Askese nach Bernstein eine »bürgerliche, d. h. bürgerliche Lebenshaltung hervorbringende Tugend ist. Besonders bedeutsam aber ist, daß ihnen das Schicksal durch ihren größten und reinsten Gläubigen, durch Penn, die Gelegenheit gegeben hat, auf dem jungfräulichen Boden Amerikas einen Staat und eine Gesellschaft mit Hilfe dieser strengsten und in vie­ ler Hinsicht folgerichtigsten Fassung echt christlicher Ethik auf­ zubauen. Der Quäkerstaat von Pennsylvanien ist das »heilige Experiment«, die Schaffung eines wirklich christlichen Staates auf Grund der Freiheit des Geistes und der Strenge des Ethos zugleich. Es war ein Staat ohne religiöse Zwangsgemeinschaft und ohne jede Beziehung politischer und religiöser Organisationen auf einander, nur durch die praktisch infolge der Majorität der Quäker bestehende Christlichkeit bestimmt und durch die vertrauensvoll stets wieder­ holte Wahl quäkerischer Vertreter in die Volksvertretung auf­ rechterhalten. Die Verhältnisse waren günstig in dem erst der Kultur zu erschließenden Kolonialland, wo nur mit Indianern und Nachbarkolonien Konflikte entstehen konnten, wo einfache fromme Farmer ohne verwickelte Kulturbedürfnisse und ohne die Schwie­ rigkeiten einer Massenbevölkerung in persönlich bekanntem kleinen Kreise ihre Angelegenheiten ordnen und schlichten konnten. Es ge­ lang mit den Indianern ohne Blutvergießen auszukommen und nach innen - wenigstens am Anfang - die meisten Streitigkeiten in brüderlichem Schiedsspruch ohne Gericht und Zwang zu überwin­ den. Soweit das nicht gelang, nahm man an einer formell recht­ lichen Justiz und auch an der Todesstrafe keinen Anstoß; die Ge­ walt gegen einzelne unverbesserliche Friedensstörer schien etwas anderes als der Krieg und auch für das christliche Regiment Pflicht. Gescheitert ist dieser christliche Staat schließlich nach 7ojähriger Existenz an dem Kriegsproblem und an der Toleranz. In die Kämpfe zwischen England und Frankreich hineingezogen und vom Mutterland zu kriegerischer Parteinahme genötigt, verlor die Ko­ lonie das quäkerische Gepräge. Die Quäker ließen sich nicht mehr in die Vertretungen wählen, um die Kriegssteuern nicht bewilligen zu müssen. Dadurch gewannen die von der quäkeri­ schen Toleranz stets geduldeten und von ihnen nicht zu sich be-

Die Quäker.

kehrten fremden Denominationen die Oberhand; die Quäker aber verloren mit dem faktischen auch den geistigen Einfluß auf die Kolonie. In dem großen Unabhängigkeitskriege hatten die Quäker das tragische Schicksal, einem Kampfe untätig zusehen zu müssen, der zum großen Teil um ihre eigenen Ideale geführt wurde. Nun erkannten sie, daß das öffentliche Leben überhaupt nichts ist für den Christen und gaben das >heilige Experiment« für immer auf, während umgekehrt ein anderer Teil von ihnen, darunter Frank­ lin, auf das alte christliche Prinzip der non-resistance verzichtete und sich dafür umso eifriger der demokratischen Idee als einer christlichen Forderung in die Arme warf. Die Hauptmasse zog sich, immer mehr in die Minderheit gedrängt, auf die rein gemeindliche Existenz zurück, wo sie ihre Reihen strenger schlossen und eine großartige Liebestätigkeit entfalteten. A her auch so ließ sich die Verweltlichung nicht aufhalten. Der Ruhm dieser späten Zeit ist die wirkungsvolle Forderung der Sklaven­ befreiung und humaner Negererziehung, nachdem sie in der Zeit ihrer Herrschaft bereits mit dem praktischen Beispiel vorange­ gangen waren und ihrerseits alle Sklaven freigelassen hatten. Aehnlich ist die Entwickelung der europäischen Quäker ver­ laufen, die nur sehr viel früher ohne den Umweg über das heilige Experiment bei dem gleichen Ergebnis ankamen. Sie sind hervor­ ragend in ökonomischer Tüchtigkeit, Redlichkeit und christ­ licher Liebestätigkeit, nehmen aber bei dem Mangel jedes propa­ gandistischen Geistes nicht zu, auch das eine höchst lehrreiche Tatsache für das soziologische Verständnis des religiösen Lebens: die Toleranz und Innerlichkeit ist, wie sie aus dem Widerspruch gegen das Massen- und Zwangschristentum hervorging, der Be­ hauptung eines organisatorischen Zusammenhangs nicht günstig. Sie begnügten sich in ihrem Kreise, die Aufgaben einer christ­ lichen Gesellschaft zu lösen auf der Grundlage des Privateigen­ tums, der strengen und ehrlichen Arbeit und der Armenfürsorge. Ueber ihren Kreis hinaus wirkten sie durch philantropische und hu­ m anitäre Aufforderungen und Leistungen. Interessant ist insbeson­ dere, wie einer der ihren, John Bellers (t 1725), die Unzulänglichkeit solcher bürgerlicher Sozialideen erkannte und aus christlichen wie ökonomisch-sozialpolitischen Erwägungen heraus einen Sozialismus der Produktivgenossenschaft erst den Freunden, dann dem Parla­ ment vorschlug. Er trug dabei freilich der bürgerlich-kapitalisti­ schen Gesamtlage und den Gewohnheiten der Freunde Rechnung, 58*

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Protestantismus.

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

faßte aber doch das Problem von Armut und Reichtum an der Wurzel an, indem er mit besserer Organisation der Arbeit zugleich eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung des Arbeitsertrages um des Evangeliums willen vorschlug. Auf ihn hat dann im 19.. Jahrhundert Richard Owen zurückgegriffen und unter den Quäkern einige seiner besten Helfer gefunden 497). 497) Hierüber vor allem Barclay, der die wichtigsten Einzelheiten gibt, aber sichtlich das Bestreben hat, das Quäkertum als eine pietistisch-biblizistische Frei­ willigkeitskirche erscheinen zu lassen; außerdem Weingarten, der sie von den Täu­ fern, und Sippell, der sie von den Mystikern herleitet, sowie das Tagebuch von George Fox (deutsch I9Io) mit der schönen Einleitung von Wernle, die vor allem das Ernstmachen mit der Moral der Bergpredigt betont. Mir scheint alles Verständ­ nis daran zu liegen, daß man versteht, wie der anfängliche Spiritualismus und Enthusiasmus organisations- und haltlos war, wie er zu einer Organisation nur durch den Anschluß an das Vorbild der täuferischen Gemeindebildung kommen konnte und wie diese Gemeindebildung, einmal vollzogen, zu immer weiterem Kompromiß mit der Welt nötigte, bis die puritanische Berufsmoral und eine fast kirchliche Ordnung und Ueberlieferung erreicht war. Das Quäkertum ist eine Synthese von Spiritualismus und Täufertum und schließlich nahe an den Puritanismus herangedrängt, den es von Anfang an so schroff verwarf. - Das ist denn auch das Hauptergebnis von Barclays Darstellung, der dem entsprechend auch den spiritualistischen und enthu­ siastischen Ursprung abschwächt. Der Anschluß an die Verfassung der Mennoniten S. 247: ,Does not this clearly show the way in which the doctrine of the light, associated with the doctrines and practices of the Mennonites, passed into England and found a powerful and active exponent in George Fox?« Der verbleibende Unter­ schied S. 249: >In Friesland, he (ein quäkerischer Missionar) says, that they (die Täufer) hung exceedingly on their outward visible things, so that I am confident it was as easy for the Apostle taking the sect of the Pharissees off from circumcision, offerings, temple and the traditions of the elders, as it is for us to bring these people van het uitwendige Doopgeszinde avendmaal, that is from their ordinances commonly called Baptism and the Lords supper.« Der Anschluß an Mennoniten und Collegianten bes. S, 352-358. - Die Spannung zwischen beiden Elementen ist darum auch nicht ausgeblieben S. 431 ff. Das schwierige Problem der Feststellung der Mitgliedschaft von den spiritualist. Voraussetzungen aus s. S. 359-366, ebenso die Bestellung der minister und teaching elders als Anerkennung einer charismatischen Begabung durch die Gemeinde S. 445. Die Lösung des Problems der ,Infallibilität«, d. h. der ent­ scheidenden, über Mitgliedschaft und Amt bestimmenden Instanz ist der Geist, zu dem man das Vertrauen haben muß S. 446: ,None ought nor can be accounted to the Church of Christ, but such as are in a measure sanctified or sanctifying by the grace of God and led by bis Spirit; nor get any made officers in the curch, but by the grace of God and inward revelation of this Spirit«, An der Unlösbarkeit dieses Problems scheiterte seinerzeit Luthers Idee der reinen Christengemeinden. Bei

Enthusiasmus bei den Methodisten,

Mit dem Quäkertum ist der christliche Spiritualismus in Eng­ land zu Ende. Es selbst hat sich zunehmend entspiritualisiert. Von da ab herrscht die moderne bürgerliche Aufklärung im Zu­ sammenhang mit dem Aufschwung der bürgerlichen Klassen oder eine in ihrem besseren Teil pietistisch gesinnte Kirchlichkeit, beide mit dem charakteristisch utilitarischen Zuge, der vom Calvinismus auf die weltlichen Dinge so leicht ausgeht und der auch oft ge­ nug die geistlichen ergreift. Die zweite große Erweckungsperiode den Quäkern wurde freilich der Geist schließlich bezüglich der membership zum birth­ bright, d. h. zur Präsumtion, daß die Quäkerkinder vom Geist erfüllt sein werden und zu einer möglichst intensiven religiösen Erziehung ; bezüglich der Beamten zur Stimme der Majorität, die die Beamten ernannte und kontrollierte. Das ist die von Barclay immer neu beklagte Verweltlichung S. 527 und 362. - Die Auf­ nahme der puritanischen Berufsmoral, die Ueberwachung d er Gemeinde durch Laien die Aufsicht und Einmischung in alle Einzelheiten des geschäftlichen und des Familienlebens S. 490-501 ; hier Ueberwachung der Arbeits- und Lohnverhältnisse, strengste Vermeidung jedes Luxus, Ausschluß alles Bettels und Unmöglichkeit eines Armen in der Gemeinde. Nur der Nutzen ist maßgebend für alles Tun ; in einer Gemeinde wird verboten, Blumen zu pflanzen ; das ist Luxus, statt dessen sind Kartoffeln und Rüben zu pflanzen. Hier auch die ökonomischen Konsequenzen geschildert, übereinstimmend mit Weber, Archiv XXI S. 61-72, und besonders Bernstein S. 680-685. - Ueber den Quäkerstaat in Pennsylvanien vgl. das hoch­ interessante Buch von Sharpless, A Quaker Experiment in governement, Philadel­ phia 1902. - Barclay klagt über den numerischen Rückgang der Gesellschaft und führt ihn auf den Mangel an Propaganda und die Laxheit der Ausschließung von Unwürdigen und von nach auswärts Heiratenden zurück. Aber das liegt an dem soziologischen Prinzip der Gesellschaft, die nur in Zeiten des Enthusiasmus sich stark ausbreiten kann. Den Gewinn von der natürlichen Bevölkerungssteigerung haben nur die Kirchen, die sich durch die Kindertaufe mit der Bevölkerung selbst vermehren und mit ihren Maßstäben die Massenreligion vereinigen können. Aehn­ liche Klagen sind mir in Amerika bei Unitariern und Kongregationalisten begegnet. Das liegt in der Sache und dem ist nur durch Annäherung an kirchliche Prin­ zipien zu entgehen, wie schon das birth-right der Quäker eine solche ist, s. Barc­ lay S. 362. - Ueber die Armenpolitik der Quäker mit Unterstützungswohnsitz, Arbeitsvermittelung und Würdigkeitsprüfung und mit der Wirkung der Auf hebung der Armut im engeren Kreise, aber Fernhaltung der Proletarier und die damit ein­ setzende Entproletarisierung s. Barclay S. 517-521 und Bernstein 683. - Ueber Bellers die höchst interessanten Mitteilungen bei Bernstein S. 694-718. Es ist das radikal-christliche täuferische Element im Quäkertum, das hier spricht, ver­ verbunden mit puritanischer Schätzung der Arbeit. Die Hauptschrift trägt das charakteristische Motto: ,Industry brings plenty. The sluggard shall be cloathed with raggs. He that nill not work, shall not eat. «

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des religiösen Gefühls, der M e t h o d i s m u s , hatte denn auch keine mystisch-spiritualistischen Unterlagen mehr. Wohl kannte auch er - und er ganz besonders - den Drang nach individueller und persönlicher Unmittelbarkeit. Aber er befriedigte ihn in der Form des Enthusiasmus und der konvulsiven Erweckung. Wie sehr sich das von der spiritualistischen Mystik unterscheidet und wie ganz anders das auf das Problem der Gemeinschaftsbildung wirkt, haben wir bereits gesehen. Auf diesem Orgiasmus beruht geradezu die immer neue erschütternde Massenwirkung des Methodismus, das Missionarische und Ueberwältigende; durch ihn gelangt er an Individuen und Volksschichten, die anders gar nicht zu erreichen sind. Freilich enthält dieser Enthusiasmus die Gefahr einer anar­ chischen Individualisierung, aber dieser Gefahr begegnet der Me­ thodismus, wie wir gesehen haben, durch die um so feiner und wirksamer gerade auf die Verknüpfung des Individuums mit dem Ganzen berechnete Organisation. In ihr ist er ebenso Meister wie in der Kunst der Erweckung. Dem Enthusiasmus entspricht eine Ethik der Seligkeit und Freiheit, deren Folgen an sich anti­ nomistisch wären. Aber auch hier ist die Konsequenz des mysti­ schen Gedankens gebrochen durch Einführung der calvinistischen Strenge, die als methodische Bewährung und Erkennungszeichen des Heilsstandes dient; auch davon war bereits oben die Rede. Nur in der äußersten Vereinfachung des praktisch-dogmatischen Gehalts der christlichen Idee kommt die Reduktion auf den »Geist« hier zu einer bedeutenden Wirkung. Freilich geht es dann wie bei den Klöstern, wo auf die Zeiten der Begeisterung die der Sättigung folgen und stets neue Reformen notwendig werden. So müssen auch der Methodismus und seine Abzweigungen immer neue Stürme der Erweckung entfesseln, um nicht in eine halbe und verweltlichende Kirchlichkeit zurückzusinken 498). Nicht unerheblich sind die spiritualistisch-mystischen Bei­ mischungen im k o n t i n e n t a 1 e n P i e t i s m u s. Wenn er als ein aus sehr heterogenen Elementen bestehendes Ding bezeichnet worden ist, so liegt die Hauptursache davon, wie beim Quäkertum 498) Ueber diesen Enthusiasmus s. Lecky II 582-589, außerdem James, The variety of religious experience, London 1902. Das Anschauungsmaterial dieser Reli­ gionspsychologie ist fast ganz diesem Gebiet entnommen. - Ueber das mystische Element im Methodismus, das durch Einflüsse des Herrnhutertums vermittelt ist, s. Schneckenburger, Kleinere Kirchenparteien S. 150 f.; was Loofs PRE. XII 774 und 799 dagegen sagt, scheint mir das nicht aufzuheben.

Mystik und Enthusiasmus im Pietismus.

und manchen Gruppen bereits desTäufertums, in dieser Beimischung. Von dem überwiegend aus den Niederlanden her beeinflußten deutsch-reformierten Pietismus und den mystischen Elementen des englischen Pietismus war bereits die Rede. Hier ist nur noch der innige Poet Tersteegen zu erwähnen , der ähnlich wie Seb. Franck und Coornheert seine Stellung völlig über den Konfessionen nahm und als erwählter Seelenführer Gottesfreunde um sich sammelte. Ferner ist noch Lavaters und Jung Stillings als reformierter Mystiker zu gedenken, die allerdings beide den Gegensatz von Welt und Hei­ ligkeit, von Fleisch und Geist unter dem Einfluß moderner Imma­ nenzgedanken und moderner Humanität zurücktreten ließen, aber in einer an der Gebetserhörung sich erprobenden Christusmystik das Zentrum einer »lichtvollen«, von allen Konfessionen unabhän­ gigen Christlichkeit und rein persönlichen Gemeinschaft fanden. Im ganzen hat überhaupt der reformierte Pietismus nach dem ersten An­ lauf zu einer sektenhaft-asketischen Reform der Gesamtkirche sich vielfach auf eine konfessionell indifferente Mystik zurückgezogen und die strenge Lebensheiligkeit mit stark quietistischen Züge� durch­ setzt. Dem lutherischen Pietismus lag eine ähnliche Entwickelung schon von Luthers Hochschätzung der mittelalterlichen Mystik und von der orthodoxen Lehre der Unio mystica her in noch viel höhe­ rem Grade nahe. Sehr bald fand zur Belebung der dogmatischen Christologie die bernhardinische Christusmystik Eingang, vor allem bei den auf Innerlichkeit und Wärme dringenden Männern der as­ ketischen Literatur und des Kirchenliedes. Besonders bedeutsam ist hier Joh. Arnd, der nicht in die Linie des rigorosen Konventikel­ christentums, sondern in die des Spiritualismus und der Mystik ge­ hört, nur daß er dabei den Anschluß an das lutherische Dogma sorgfältig wahrte und die Vermittelung durch das Wort betonte. Ein Freund Valentin Weigels und Verehrer des Paracelsus, ein Kenner der mystisch-erbaulichen Schriften hat er einen Kompromiß zwi­ schen dem Luthertum des Aqits und Wortes und der .unmittelbaren inneren Erleuchtung, zwischen Rechtfertigungsdogma und Ver­ gottungslehre, zwischen radikaler Erbsündenlehre und panentheisti­ schen Immanenzideen instinktiv geschlossen, der reich ist an Wider­ sprüchen, aber bis heute sich sehr erbauungskräftig erweist. Er ist nicht ohne heftige Anfeindungen geblieben, aber die eingeschlagene Richtung fand ihre Fortsetzung, und vor allem der Pietismus zog daraus mannigfache Nahrung. Boehmistische, nieder­ ländische und englische Einflüsse, auch der Rückgang auf die äl-

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

tere mystische Literatur haben diese Neigung gesteigert. Doch blieb es im ganzen bei dem Ausbau der Lehre von den Stufen der Heiligung und Gotteinigung, bei einer dem Zeitge­ schmack entsprechenden Sentimentalisierung der bernhardinischen Christusmystik und bei einer mystischen Reich-Gottes-Hoffnung, die doch erst mit der geistigen Wiederkehr Christi die völlige Vergleich­ gültigung von Amt, Wort und Sakrament erwartete. Auch kon­ vulsionäre Erscheinungen, visionärer Enthusiasmus und wunderbe­ gabtes Prophetentum blieben nicht aus. Spener selbst, dessen skrupulöses Wesen der Mystik wenig verwandt war, liebte wenig­ stens die mittelalterlichen mystischen Schriften und sprach von der Kirche als • dem verborgenen Samen der lieben Seelen in jeder Kirche«: ein Lieblingsausdruck der englischen Mystik. An sich bedeutete die Betonung der inneren Erfahrung und praktischen Erprobung allerdings auch bei ihm und seinen Schülern eine Konkurrenz für die Rechtfertigung als den Gna­ denbesitz der Kirchenanstalt, und von da aus konnte leicht der Ueber­ gang zur Mystik gemacht werden, insbesondere dann, wenn die asketische Heiligkeit nicht mehr calvinistisch , sondern quieti­ stisch-spiritualistisch verstanden und begründet wurde. Immer­ hin aber vermochte ihm sein Gegner Dilfeld nur »einen sub­ tilen Enthusiasmus« nachzusagen. Franke, der in Wahrheit die Beschlagnahme des Pietismus für die Erziehung der Theologen bedeutet und insoferne die Kirche schlechthin voraussetzt, hat doch dem Enthusiasmus durch die Lehre vom Bußkampf und der datierbaren Bekehrung, die sich schlecht mit der Kindertaufe ver­ trug, mannigfachen Vorschub getan. Auch hat die unmittelbare »Empfindlichkeit« des Gnadenstandes eine gewisse Richtung auf den Spiritualismus. So hat er Tauler als Beispiel einer. praxis interioris Christianismi gefeiert und einen Traktat der Katharina von Genua übersetzt. Daher konnte auch E. V. Löscher solchen Pietisten starke Verstöße gegen die Kirchlichkeit vorhalten, • den fromm scheinenden Indifferentismus und die Geringschätzung der Gnadenmittel, vor allem des Wortes, Neigung zu Mystizismus, Enthusiasmus und Chiliasmus, das Reden von dem in der Natur und den Menschen ruhenden Ebenbild Gottes, die Vermischung von Natur und Gnade, die Rede von der Vergottung der from­ men Menschen, die Deutung des Glaubens als Erfahrung und geistlicher Empfindung, die Regung und Entschuldigung der Schwär­ mer«. Mit den letzteren ist der Uebergang zum eigentlichen Spiri-

Enthusiasmus und Mystik im Pietismus.

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tualismus angebahnt, aber er ist bei der wesentlich kirchlichen Be­ stimmtheit des deutschen Pietismus und bei der unbegrifflich phan­ tasiemäßigen Natur des Enthusiasmus wie der bernhardinischen Christusmystik im ganzen eine Seltenheit. Sieht man von allerhand krähwinkelhaften Begebenheiten und dunklen Ehrenmännern ab, so kommen hier nur Gottfried Arnold und Dippel, und zwar beide als sehr bedeutende Geister, in Betracht, Beide stellten sich echt spiritualistisch aus jeder Konfession und Kirche heraus, fanden die christliche Gemein­ schaft vollkommen nur in der Urgemeinde vor Konstantin, erkannten die Bedeutung Christi und der Heilsgeschichte in der Aktualisie­ rung des in jedem Menschen enthaltenen göttlichen Samens, be­ tonten das Verwandte in dem göttlichen Seelengrunde auch der nichtchristlichen Frommen, folgerten aus der Geistnatur und Gott­ einigkeit des Menschen die asketische Heiligung und die Indiffe­ renz gegen die bestehenden, aus der Natur sich ergebenden gesell­ schaftlichen Ordnungen, lehrten die Einerleiheit des inwendigen Wortes mit dem sittlichen Naturgesetz der Menschenliebe und erwar­ teten das Gottesreich ohne Amt, ohne Glaubenszwang, ohne Staats­ kirchentum. Es sind die Züge des in letzter Linie durch die neuplatonische Religionsphilosophie unterbauten, aber mit dem Christusgeiste und durch ihn mit der christlichen Geschichte ver­ knüpften Spiritualismus. Der interessante und sarkastische Edel­ mann ging von da aus zu einem Monismus über, der das ge­ schichtliche Christentum für Trug und Wahn erklärte und ein Entzücken für Arthur Drews und Genossen bilden müßte. Auch Christian Thomasius gehörte zu den Freunden der mystischen »In­ differentisten« mehr als zu denen des eigentlichen Pietismus, mit dem er am Anfang verbunden gewesen war. Auf jenem »Indiffe­ rentismus« baute er sein Kirchenrecht auf und suchte die Christen in Selbstverleugnung und Liebe zu einigen bei Freigabe der reli­ giösen Vereinsbildung, die nur freilich unter gegenwärtigen Ver­ hältnissen überall mit dem positiven Staatskirchenrecht zu rechnen hat. Von den Mystikern aber trennte ihn wieder sein antiasketi­ scher Sinn, und so vollzog er den Uebergang zu einer christlichen Aufklärung 499). 499) Ueber die Unio mystica treffende Bemerkungen bei Hupfeld, Ethik Ger­ hards, S. 204-232; über Arnd s. Lasch, Arnds Wahres Christentum, Monatsschrift f, Pastoraltheologie 1909 ; sehr viel bei Göbel, der die Mystik überall mit Liebe aufsucht, so lange sie innerkirchlich bleibt ; übrigens s, die oben zum Pietismus angeführte Literatur. Ritschl hat den Unterschied des »Indifferentismus« gegen die

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Das mystische Element des eigentlichen Pietismus ist auf den Gipfel gesteigert in der He r r n h u t e r g e m e i n d e. Hier war der Graf selbst sein eigentlichster Träger und hat ihm die innige, aber auch unerträglich geschmacklose Form gegeben, die in Sprache und Lyrik der älteren Brüdergemeinde den modernen Leser zu »Sekte« und die Besonderheit ihrer Art von Gemeinschaftsbildung wohl erkannt. Er nennt sie in seiner freundlichen Weise »Clique• II 359-362, I 475, 483, sieht im Seelenführer der Gottesfreunde eine Nachahmung des katholischen Beicht­ vaters, in der Mystik den Urgrund des streitbaren Jesuitenordens oder einen Luxus, der darin begründet ist, daß es »Menschen genug gibt, die ähnlich gestellt waren (wie Tersteegen), teils Weber, deren mechanische Arbeit ihrer Einbildungskraft und Andacht wenig förderlich war, teils reiche Leute, die nicht zu arbeiten brauch­ ten, teils Frauen, namentlich unverheiratete, welche immer die Fähigkeit und die Zeit besitzen zu mystischer Kontemplation« I 478 ! Solche Leute passen nach seiner Meinung nur ins Kloster, und die ganze Lehre stammt aus dem Kloster. Dem gegenüber ist ihm noch die asketische Sekte erträglich: »Denn der Separa­ tismus (der Sekte) verrät gerade, je heftiger er gegen die Unreinheit einer Konfessions­ kirche auftritt, eine versteckte Anhänglichkeit an dieselbe, wenigstens insofern, als er die Notwendigkeit einer partikularen Kirchenbildung überhaupt voraussetzt« I 483. Das ist ein völliges Unverständnis ! - Ueber die Stellung zu Staat und Gesellschaft bei Gottfried Arnold und Dippel II 315 und II 327, auch Göbel II 698-735 und III 166-193. Die Auffassung Dippels trägt einige quietistische Züge, ist aber im Ganzen nicht, wie Ritschl meint, in Wahrheit klösterlich und aus Thomas Aquinas stammend, sondern echt lutherisch. Er bevorzugt Ackerbau und Viehzucht, be­ trachtet die Arbeit als Askese und Mittel der Selbsterhaltung wie der Nächsten­ liebe, behandelt das Privateigentum als Folge des Sündenfalls usw. Nur hat er gegen staatliche Berufe eine Abneigung, die Luther wohl für die Person, aber nicht für das Amt hatte, und bekämpft er die geistlichen Berufe, was für Luther natür­ lich auch ausgeschlossen war. Gottfried Arnold ergibt sich echt lutherisch in die bestehenden Verhältnisse wie einst auch Sebastian Franck. Richtig II 365: »Die Praxis der alten Wiedertäufer und der englischen Baptisten lag den Separatisten in Deutschland in dem Maße fern, als ihre Frömmigkeit mit keinen politischen Ansprüchen und keiner Tendenz auf soziale Reform verknüpft war. Ihre vollständige Weltflüchtigkeit und ihre ganz individuelle, vielfach auf Quietismus gestimmte Selbst­ verleugnung ließ ihnen die Isolierung eines Jeden auf sich selbst als das wünschens­ werte erscheinen.« Diese Begründung gilt freilich nur für die Mystiker; die Gründe für �olche Passivität bei den asketischen Pietisten und Kirchenreformern waren andere, denen Ritschl nicht nachgegangen ist. Es war die Unmöglichkeit jeder Sozialreform im Hori­ zont des deutsch-luther. Absolutismus und die Uebernahme einer von vornherein bürger­ lich-konservativen Berufsmoral von den Calvinisten. - Ueber Christian Thomasius Ritschl II 552 und R. Kayser, Christian Thomasius und der Pietismus, 1900. Wenn man von radikalem Pietismus spricht, so ist auch dieser zu unterscheiden

Die Mystik im Herrnhutertum.

entsetzen pflegt. Für ihn ist der Pietismus keine Reformation der Kirche mehr, sondern eine freie Verbindung der Persönlichkeiten mit dem innerlich gegenwärtigen, im Wort erkennbaren Heiland, wie ihm schon die Urkirche lediglich eine persönliche Wirkung Jesu und ein persönlicher Verband der Gläubigen war. Der Spenersche Kon­ ventikel wird in seinem Geist zur freien christlichen Geselligkeit, wobei er und die Brüder in dieser Geselligkeit durch die Vor­ sehung eine besondere Konnexion mit der Person des Heilands empfangen haben. Es ist kein Spiritualismus, der das Christen­ tum in dem allgegenwärtigen und nur in Christus besonders ver­ körperten Geiste sieht , sondern eine am kirchlichen Dogma haftende Christusmystik, die ähnlich wie einst Paulus und später der h. Bernhard die objektive Heilstatsache in die unmittelbare Innerlichkeit und Gegenwart des Gefühls zurückschlingt. Hierin hat sich auch Zinzendorf mit den Jansenisten trefflich verstanden. Der Unterschied ist nur, wie Ritschls Spürsinn richtig herausnach der asketisch-sektenhaften und nach der mystisch-indifferentistischen Richtung ; die letztere ist im Luthertum bedeutend wichtiger und folgenreicher als die erstere, während diese umgekehrt auf calvinistischem Gebiete bis heute von höchster Bedeu­ tung ist und immer aus diesem her seine Nachschübe und nachdrängenden Stöße empfängt. Ueber die Mystik in der reformierten Kirche s. oben S. 774-789; außerdem Heppe S. 70; Ritschl I 122-130; Max Weber, Archiv XXI 44. Bei der holländischen und englischen unkirchlichen Mystik ist oben ihr Zusammen­ hang mit den spiritualistischen Elementen des Täufertums und dem alten Spiritua­ lismus der Reformationszeit gezeigt worden. - Ueber das Wiederaufkommen mittel­ alterlich-mystischer Literatur zahlreiche Angaben bei Ritschl, auch Keller, Refor­ mation, S. 470 f.'; sehr interessant auch Hegler, Sehast. Francks lateinische Para­ phrase der deutschen Theologie, 1901 ; hier S. 16: >Das Urteil über die deutsche Theologie ist bei den Calvinisten in der orthodoxen Periode andauernd ein schärferes geblieben als bei den Lutheranern.« - Die andersartige Stellung der Mystiker und Spiritualisten zur praktischen Ethik, d, h, das Ausbleiben des An­ schlusses an die calvinistisch-rationelle Askese und Berufssittlichkeit zugunsten einer mehr passiv leidenden und prinziplosen Stellung zur Welt ist von Ritschl und Max Weber (Archiv XXI 41) mehrfach angedeutet, aber nicht bis in die eigent­ lichen Gründe verfolgt, die in der andersartigen dogmatischen Grundidee und sozio­ logischen Beschaffenheit der Mystik liegen. Hier fehlt denn auch der systematische Utilitarismus und herrscht die Unbefangenheit der Stimmung, des Gefühls und der momentanen Eindrücke. Aber gerade dadurch nähern sie sich wieder dem Luther­ tum, von dem sie in der Ethik sich nur durch eine stärkere prinzipielle Verwer­ fung des Fleisches unterscheiden. Aber hier waren ja gerade Luthers Anhänger auch ihrerseits sehr schwankend,

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

fühlte, daß diese pietistische, und besonders die Zinzendorfische Christusmystik, jene Unmittelbarkeit als ein jedesmal ganz indi­ viduell geartetes Privatverhältnis zum lebendigen Heiland faßt, während die ältere Christusmystik die Ansprüche individuellen Ge­ fühls in einer viel allgemeineren, weniger differenzierten und gat­ tungsmäßigeren Weise befriedigte. Der Pietismus sieht eben auf die ganze Entwicklungsgeschichte des christlichen Individualismus zurück und hat schon einen Einschlag des modernen sentimental­ ästhetischen Individualismus. Im übrigen ist aber das Verhältnis zur Kirchlichkeit bei dieser Mystik der Herrnhuter sehr unklar. Zinzen­ dorf hat sich stets für übereinstimmend mit der lutherischen Lehre gehalten. Allein es war in Wahrheit eine Uebereinstimmung nur mit gewissen Teilen des lutherischen Dogmas. Hingegen war es keine Uebereinstimmung, sondern ein Gegensatz gegenüber dem kirchlich­ soziologischen Geiste des Luthertums. Wir haben gesehen, wie er mit Hilfe der Mähren zur Ausbildung einer sektenhaften Organisation ge­ nötigt wurde. Aber auch diese ist doch immer wieder durch­ brochen von dem letzten eigentlichsten Motiv des Grafen, das in der stark spiritualisierenden Christusmystik liegt. Hinter jener Ge­ fühlsunmittelbarkeit des gegenwärtigen Christus und der individuel­ len Differenzierung des Heilandsverhältnisses lauerte eine gewisse Vergleichgültigung des Geschichtlichen und ein gewisser, liebe­ voll gepflegter Relativismus der individuellen religiösen Besonder­ heiten. Die mystisch auflösenden Folgen traten bereits in der sogenannten Sichtungszeit im Herrenhag zutage, in der Er­ nennung Jesu zum Oberältesten der Gemeinde, in dem Dringen auf den »Generalgeist« der Bibel statt auf den Buchstaben, in dem über die Konfessionen hinausstrebenden »Generellen«, in der Vergleichgültigung der Konfessionen zu verschiedenen Weisen der Erziehung für die allein wahre Christusliebe. Vor allem aber ge­ langte der relativierende Individualismus der rein persönlichen Frömmigkeit, wie er in der gegenseitigen Selbstdarstellung, der Einverleibung der Berichte über das innere Leben der Einzelnen ins Gemeindearchiv, der erbaulichen Vorlesung dieser Konfessio­ nen, in dem Interesse für persönliche Sonderentwickelungen be­ sonders zum Ausdruck kommt, zu einer starken Wirkung bis weit über die Gemeinde hinaus. In diesem Sinn blieben Schleiermacher und Novalis dauernd Zöglinge der Brüdergemeinde und entwickel­ ten nur die darin liegenden Folgen. Auch bei Fries ist die Beklei­ dung der allgemeinen religiösen Idee mit dem individualisierenden

Die Mystik im Herrnhutertum.

und relativierenden Symbolismus wohl vor allem eine Erinnerung an die Brüdergemeinde 500). 500) Vgl. Plitt, Zinzendorfs Theologie 1869 f., Becker, Z. und sein Christentum im Verhältnis zum kirchl. und religiösen Leben seiner Zeit 1900. Auch hier sehr scharfsichtig Ritschl, der ihn ursprünglich dem Philadelphentum und Indifferentis­ mus im Sinne Arnolds zurechnet und ihn erst durch die Mähren in die Bahnen des Sektengedankens gezwungen werden läßt. Den Ausdruck hat Becker (Studd. u. Kritt. 1891) bestritten, da Z. immer Lutheraner geblieben sei. Aber das ist doch richtig, daß es ein überkirchliches, interkonfessionelles Luthertum, d. h. lutherische Christusmystik und Gefühlsethik, ist, um die es sich handelt und deren Unterschied vom kirchlichen Sinn des Luthertums nur dem Grafen nicht zum Bewußtsein kam. Hierin war er merkwürdig naiv und unklar. Mystische Züge bei Ritschl III 407, 384, vor allem bei Becker 76-82, 249-26:i. Seine Bedenken gegen die Mähren beziehen sich auf deren Sektencharakter, ,ihre Neigung zum Separatismus, ihre Ver­ anlassung und Inkorporation in schädliche Sekten, wenn sie nur etwas hübsch Aeußerliches hatten« ; ,das ist ein italienischer, waldensischer falscher Genius ge­ wesen« (Worte Z.s bei Müller 100 f.). Warum er von seiner Mystik doch zum Anschluß an eine Gemeinde kommt, sagt er selbst sehr klar : > Uns ist die mäh­ rische Konstitution . . . gar sehr zu statten gekommen; wir hätten sonst doch eine andere Form inventieren müssen. Denn im Grunde ists doch ein fanatisches (d. h. spiritualistisches) Räsonnement, wenn man spricht: Was Sekten, was Menschen 1 wir wollen Gemeine J esu Christi sein. Aber was denn für eine ? Die unsichtbare ) So müßt ihr wieder Einsiedler werden. Die sichtbare ? So wisset, daß es keine gibt ohne eine Religionsform tout court« Müller 99. Diese Worte sind höchst er­ leuchtend für den Unterschied der Sekte gegen die Mystik und den Spiritualismus. Hierher gehört auch sein Gegensatz gegen die von den Mähren gewünschte Kir­ chenzucht und gegen die Ausbildung der Gemeinde zu einem Staat im Staate; s. Becker S. 225-232. - Ueber den von hier aus und viel weniger vom Vereins- und Freiwilligkeitscharakter herzuleitenden gefühlig ästhetisierenden Individualismus vgl. das interessante Programm von Sam. Eck, Ueber die Herkunft des lndividualitäts­ gedankens bei Schleiermacher, Gießen 1908. Ueber die Umwandlung der Spener­ schen Konventikel in freie religiöse » Geselligkeit« als etwas aus der geselligen Natur des Menschen folgendes und darum auch in der Religion berechtigtes, sowie andererseits die Fortbildung der Konventikel zu freien Assoziationen, die die Be­ fruchtung der Landeskirchen durch Konzentrierungen innigeren Christentums um erleuchtete Rüstzeuge Gottes bewirken sollen, s. Becker S. 163-178; S. 153: ,Das Zinzendorfsche Brüdertum hat mit dem, was man Kirchenbildung nennt, nichts zu tun, sondern ist lediglich eine in freien Gesellschaftsgruppen und Vereinen sich organisierende religiöse Bewegung innerhalb der Volkskirchen.« Dabei aber hält der Graf die letztere im Grunde doch für erledigt: ,Die Zukunft gehört (für Z.) der freien religiösen Assoziation , die lediglich den gekreuzigten Christus zum Grund und zum Zweck hat, und unter diesem allein maßgebenden Gesichtspunkt den Volkskirchen dienen will.«

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

In verschiedenen Formen dauert mit dem gesamten Pietis­ mus und seinen mannigfachen Abzweigungen, auch in der Stif­ tung neuer mystischer oder auch geradezu spiritualistischer Ge­ meinden, diese ganze Ideenwelt bis heute. Die alten mystischen Traktate werden gelesen und neu aufgelegt bis in die Gegenwart. Es sind das die von der Oeffentlichkeit wenig beachteten Unter­ strömungen des religiösen Lebens, auch sozial meist der Unter­ schicht angehörig. Sie haben sich vielfach mit Spiritismus und Theosophie heute verbündet. Ein neuer Anstieg großen Stiles ist nur die Lehre Swedenborgs, der ein in die moderne Natur­ wissenschaft übersetzter Paracelsus ist und bereits die okkultisti­ schen Phänomene mit seiner Mystik verband 501). Aber das be­ traf schließlich nur enge Kreise: in Amerika lebt seine Gemeinde fort; ihr stand William James nicht ferne. Wichtiger für das allgemeine geistige Leben ist nun aber ein anderer Umstand. Es ist die He r a u s ke h r u n g d e s l e t z t e n s p i r i t u a l i s tis c h e n u n d r e l i g i o n s p h i l o s o ­ p h i s c h e n S i n n e s d e r M y s t i k , die für die Gesamtheit des heutigen außerkirchlichen oder wenigstens nicht spezifisch kirchlich oder pietistisch religiösen Lebens entscheidend gewor­ den ist. In dem Maße nämlich, als das moderne Denken unter den Einfluß des Begriffes allgemeiner Weltgesetze und einer durchgängigen Welteinheit kam, hiermit auch Moral, Religion und Kunst als allgemeine Grundgesetze der menschlichen Geistesent­ faltung zu betrachten genötigt wurde, erwies sich als das einzige Mittel, eine Brücke von diesem Denken zur Religion und zum Christentum zu schlagen, die spiritualistische Mystik. Sie be­ deutete ja bereits den überall wesentlich gleichen, im unmittel­ baren Lebenszusammenhang mit Gott sich bewegenden religiösen Vorgang, den man in seinem ethisch-religiösen Inhalt der christlichen Idee verwandt fohlen konnte und der in den geschichtlichen Ele­ menten des Christentums eine geschichtliche Verkörperung und Symbolisierung, eine besonders lebendige oder urbildliche Dar­ stellung seiner selbst erkennen konnte, soweit er überhaupt an sie sich zu binden fortfuhr. Man brauchte sie nur mit den allge­ meinen psychologischen oder erkenntnistheoretischen Gedanken der modernen Philosophie zu verbinden, so ergab sie die allge­ meine Grundlage, von der aus man zum Besonderen der positiven 501) Vgl. auch hier Kalbe, Kirchen und Sekten der Gegenwart; auch W.Bruhn, Theosophie und Theologie 1907.

Der Spiritualismus in der modernen Religionsphilosophie.

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Religionen sich den Weg bahnen konnte, nachdem die naive tausendjährige Herrschaft des Positiv-Besonderen d. h. des supra­ natural verfestigten Christentums erschüttert war. Die ganze moderne Religionsphilosophie geht in dieser Richtung. Freilich war damit dann das Historisch-Positive aller Reli­ gion überhaupt zum Problem gemacht und war die Möglichkeit radikalster Lösungen eröffnet. Da die geschichtlichen Elemente gleichzeitig einer allgemeinen historischen Anschauung einverleibt und damit der Kritik unterworfen wurden, so führte das Be­ dürfnis der Befreiung von unsichern Geschichtlichkeiten nicht selten vollends zur Forderung der reinen Unmittelbarkeit, Ge­ genwärtigkeit und Innerlichkeit des evangelium aeternum, zur Aussicht auf das dritte Reich, wo jeder aus eigener Lebenstiefe selbständig und individuell und doch wesentlich übereinstim­ mend die Erkenntnis Gottes schöpft. Die Gedanken, denen Sebastian Franck den schärfsten und tiefsinnigsten Ausdruck ge­ geben hat, setzten sich wieder durch. Eine Mystik in diesem Sinne ist der Kern der Leibnizischen Religionsphilosophie, so entschlossen orthodox sich dieser Alles-Vermittler auch gebärdete. Diesen Weg war bereits Spinoza gegangen. Mit einem the­ istisch-individualistischen Verständnis folgten ihm Herder und Goethe, welcher letztere seine Anschauung von der Kirchen­ geschichte aus Gottfried Arnold schöpfte. So hat Lessing die Religion unter Berufung auf herrnhutisches Gefühlschristentum vor Verstand und Kritik gerettet. So hat der übrigens rein ethisch­ theistisch und gar nicht mystisch empfindende, aber doch auch die Religion nur als Geist und Idee anerkennende Kant die Heils­ geschichte behandelt ; seine Vergeistigung der Dogmen zu Sym­ bolen ewiger Wahrheiten und immer sich wiederholender Gegen­ wartsvorgänge ist völlig im Sinne des Spiritualismus. Für Fichte, Schelling und Hegel bedarf es keines weiteren Beweises; die beiden letzteren haben ausdrücklich auf die alte mystische Li­ teratur zurückgegriffen, und auch noch des späten Schelling Gnosis ist ein an Böhme angelehnter Spiritualismus. Vor allem aber ist bei Hamann, Friedrich Heinrich Jacobi und Lavater klar, wie ihre so unendlich anregenden Ideen aus der christlichen My­ stik oder auch geradezu aus dem Spiritualismus stammen. Wenn sie die theistischen und dualistischen Gegenspieler gegen den moni­ stischen Zug der Epoche sind, so ist der Gegensatz doch nur ein relativer und innerhalb des gemeinsamen Ganzen. Wie der Mo-

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

nismus der andern durchsetzt ist mit dem Irrationalismus des In­ dividuellen und gekrönt ist mit einem ethisch erfüllten Gottesbe­ griff, so ist der Dualismus dieser kein solcher bloß von Na­ turgesetz und christlichem Wunder, sondern von äußerlich-mechani­ scher Natur und Fülle des Geistes, von niedrigerer und höherer Natur überhaupt. Der Geist wird bei ihnen zum Genie und das Fleisch wird bei ihnen zu der am Aeußerlichen, Rechnungsmäßigen und Sinnlichen haftenden Verstandesmäßigkeit. Der Glaube wird ihnen zum Gefühl, das der in der Seele gegenwärtige Gott wirkt und in dem er und alle seine Offenbarungen allein erlebt werden können. Es liegt auf der Hand, wie sich hier die alten spiritualistischen Ideen nur in neuer Form fortsetzen oder erneuern. Dabei tritt das in die christliche Mystik aufgenommene religionsphilosophisch­ neuplatonische Element immer deutlicher und selbständiger her­ aus, mit ihm der ästhetische Einschlag des Platonismus, den die Verchristlichung so gründlich beseitigt hatte, und den die mo­ derne ästhetische Kultur in so viel differenzierterer Weise erneuert 502). 502) Das kann im Einzelnen hier nicht belegt werden. Einiges bei Keller, Re­ formation S. 483-488; die Monatshefte der Comeniusgesellschaft beschäftigen sich in der Weise Kellers unausgesetzt mit diesem Gegenstand; auch Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie, 1904. Aehnlich führt Kronen­ berg, Geschichte des deutschen Idealismus I 1909 den Satz durch, daß der deutsche Jdealismus der Durchbruch der christlichen Mystik »ins Allgemein-Mensch­ liche« sei. Fein sind seine Darstellungen von Hamann und Jacobi. Doch ist die Gleichung von Christentum, Mystik, Protestantismus, Romantik, Platonismus und die Ableitung des geistigen Kampfes aus den Urgegensätzen dieser Richtung gegen Aufklärung, Rationalismus, Scholastik, Kirchentum sehr wenig geeignet, das Rich­ tige an seiner Behauptung mystisch-spiritualisfücher Einflüsse auf den deutschen Idealismus erkennbar zu machen. - Lehrreich für die völlige Vernachlässigung aller soziologischen Gesichtspunkte bei solcher Konstruktion ist die Kritik von J. Plenge, Realistische Glossen zu einer Gesch. d. deutschen Idealismus, Archiv für Sozial­ wissenschaft XXXII 1-35: •Der kritische Subjektivismus erlebt eine kurze kritische Glanzzeit, getragen von dem sozialen Optimismus der zur Freiheit gelangenden Bourgeoisie . . . Er scheint dne solche Verfrühung (d. h. gegenüber der Aufgabe eines Neubaus der Gesellschaft im Zusammenhang mit der religiösen Idee), die nur durch die auf dem Boden des christl. Subjektivismus gewachsene spezifische Ausbil­ dung des Vernunftproblems möglich wurde« S. 34. - Ueber den sehr interessanten und einflußreichen Lavater s. die vortreffl. Studien von v. Schultheß-Rechberg und Heinr. Maier in J. C. Lavater 1902, dazu m. Anzeige HZ. 93. - Zum Ganzen Seil, Die Religion unserer Klassiker, 1904. Das beste findet man heute noch bei Ge!zer, Die deutsche poetische Literatur seit Klopstock und Lessing, 1846. Treffend formuliert Sell S. 175 das Gemeinsame der Klassiker: •Es ist die Ueberzeugung von der völli-

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Der Spiritualismus der Romantik.

Am wichtigsten wurde hierin die R o m a n t i k , deren religiöses Element durch Schleiermacher und Novalis vertreten und über den ganzen Kreis mit größerer oder geringerer Echtheit und Tiefe wirksam gemacht worden ist. Jeder Kenner von Schleiermachers Reden weiß, wie hier geradezu die spiritualistische Idee von einer unmittelbaren Offenbarung des religiösen Gefühls und einem sich gegenseitigen Verstehen aller Geisterfüllten und aller Offenbarungen verkündet ist, wie auch die soziologischen Folgerungen scho­ nungslos gezogen sind : eine fließende Gruppenbildung, um begen Relativität alles dessen, was sich als Offenbarung gibt, unter voller Anerkennung dessen, von wannen alle Offenbarungen kommen, und dessen, was sie empfängt: von Gott und der Seele«. Goethe ist im Ganzen nicht unchristlich, aber schlechterdings unkirchlich. >Dieser Pietismus (Lavaters, Jungs usw.) konnte und mußte Goethe interessieren, weil er eine Gestalt eigener, selbst erfundener Religion ist, keine auf Autorität oder durch bloße Gewohnheit oder durch Unterwerfung unter irgend eine Obrigkeit angenommene Religion« S, 176. >Darnach ist Goethe (abgesehen von der antikisierenden mittleren Periode seines Lebens) ein an die Bibel in freier Weise sich anschließender Autodidakt, ein nur dem Zeugnisse des eigenen Gewissens folgen­ der Gläubiger« 189. Lehrreich ist Goethes Wort: »Es gibt den Standpunkt einer Art Religion, den ,der reinen Natur und Vernunft, welcher g ö t t 1 i c h e r A b­ k u n f t. Dieser wird ewig derselbe bleiben und dauern und gelten, so lange g o t t b e g a b t e Wesen vorhanden. Doch ist er nur für Auserwählte und v i e 1 z u h o c h, u m a 11 g e m e i n z u w e r d e n« S. 206; das ist nicht rationalistisch, sondern spiritualistisch gemeint mit der Goethe eignenden Einbeziehung der Natur in die Offenbarung des Allgeistes. Das bekannte Wort über Christus : ,Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich : durchaus, Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen O f f e n b a r u n g d e s h ö c h s t e n P r i n z i p s der Sittlichkeit« ist ebenfalls ganz im Sinne des Spiritualismus, nur daß sich Gott gleichzeitig auch in anderen Wirklichkeiten ähn­ lich mächtig offenbart, wie z, B, in der Sonne als der vorzugsweisen Offenbarung des zeugenden Prinzips; »die Anbetung Christi ist nur bedingte Anerkenntnis von etwas, das er von ihm erfahren hat« 190, Sehr bedeutsam ist die religiöse Er­ ziehung in der pädagogischen Provinz der Wanderjahre, weil sie einen eigentüm­ lichen, diesen Ideen entsprechenden Kult entwirft, der vom kirchlichen völlig ab­ weicht und das Bedürfnis bekundet, der neuen Fassung des Christentums auch eine Erziehungsgemeinde und einen Kult zu geben ; es ist der Gedanke eines an verschiedene Gruppen frei zu gebenden Erziehungssystems und Kultes. - In diesen Zusammenhang gehören auch Björnson und lbsen, die bP.ide von dem Pie­ tismus ihrer Heimat ausgegangen sind. Das dritte Reich Ibsens ist das Evangelium aeternum Lessings, die Dreiheit der Stufen oder das dreifache Evangelium bei den Mystikern, und geht bis auf Joachim von Fiori zurück; hierzu Weine!, lbsen, Björn­ son, Nietzsche, 1908. - Das ganze Thema verdiente eine eigene Untersuchung. T r o e 1 t s c h, Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

sonders starke Führer und Propheten geschaart, verbindet immer neu und wechselnd die Gläubigen in gegenseitiger Darstellung und Erweckung des ihnen allen einwohnenden Gefühls ; der Geist bleibt nicht gebunden an die historische Gemeinschaft des Christentums, sondern kann, über es hinausschreitend, das an sich überall iden­ tische religiöse Gefühl zu immer neuen konkreten Gruppen sich vereinigen lassen ; die Propheten und Offenbarer, Christus einge­ schlossen, sind nur Anreger und Entzünder des bei Jedem eigenen und unmittelbaren religiösen Lebens. Ein gewisser Zusammenhang mit Herrnhut ist hierin unverkennbar, wenn auch die Gesamtan­ schauung überwiegend von den Grundzügen der modernen Weltan­ schauung aus bestimmt ist und der Unmittelbarkeits- und Verinner­ lichungsdrang mit Schleiermachers ganzem Wesen eng verbunden ist. Gleichviel aber, ob Analogie oder historische Abhängigkeit, das Ganze ist dem protestantischen Spiritualismus aufs allernächste ver­ wandt. Bei Novalis ist überdies noch die herrnhutische Christus­ mystik in diesen Rahmen eingestellt, worin Schleiermacher später folgte ; aber sie ist hier auch wirkliche Christus m y s t i k d. h. An­ schauung der alles erfüllenden und in Christus nur konkret verkör­ perten göttlichen Lebenskraft; das Abendmahl ist die Speisung mit dem im ganzen Universum verdinglichten und konkretisierten gött­ lichen Geiste, ein Symbol der Einheit von Geist und Natur, von Prophet und Gemeinde. Dieser romantische Spiritualismus hat mm aber nach zwei Seiten hin überaus wichtige neue Züge. Einmal fällt in ihm unter der Einwirkung der modernen Gesetzes- und Allein­ heitsbegriffe der dualistische Gegensatz von Fleisch und Geist und damit die asketische Lebensrichtung des älteren protestantischen Spiritualismus weg. Hatte dieser seinen asketischen Dualismus mit dem Gedanken der göttlichen Immanenz durch den neupla­ tonischen Stufen-Emanatismus notdürftig vermittelt und überdies der Freiheit der Kreatur in diesem Rahmen Platz gemacht, so hat der neue Spiritualismus die Richtung zur Immanenz schlecht­ hin und zum Determinismus. Wo das letztere nicht der Fall ist, da ist doch die Freiheit nur das Prinzip einer aufsteigenden und überwindenden Entwickelung, nicht das einer asketisch-dualisti­ schen Entgegensetzung von erlöstem Geist und Sündenvergiftung des Fleisches. Das macht den heutigen Spiritualismus überall den pantheisierenden lmmanenzgedanken verwandt und setzt den alten Gegensatz in aufsteigende Entwickelungsstufen um. Die zweite wichtige Veränderung ist die Verwachsung der vollende-

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Der Spiritualismus in der modernen Religion.

ten religiösen Innerlichkeit und Individualität mit der ästhetischen Individualitätsidee , der Differenzierung des ganz individuellen künstlerischen Gefühls. Das geht weit hinaus über den immer noch am Allgemeinen haftenden Aesthetizismus des Platonismus, der bis­ weilen in der christlichen Mystik des Altertums noch nachklang und in der Renaissance wieder mit heraufgekommen war. Es ist eine unter dem Einfluß der christlichen Idee und des modernen Lebens bis ins äußerste differenzierte Aesthetik ganz persönlichen Empfindens. Damit verbindet sich jetzt nur allzuleicht der ganze ästhetische Relativismus, der alles als an seinem Ort berechtigt und die Harmonie des Ganzen erfüllend betrachtet. So energisch Schleiermacher, Novalis, Fichte, Schelling, Hegel einem solchen Relativismus sich entgegengesetzt haben, er ist bis zum heutigen Tage immer nur gewachsen, verbunden mit dem Wachstum einer prinzipiell ästhetisierenden Weltanschauung und mit dem Eindruck der geschichtlichen Mannigfaltigkeiten. Diese doppelte Fortbil­ dung aber bedeutet eine höchst wichtige Ergänzung der reinen christlichen Innerlichkeit. Hatte der ältere Spiritualismus die neuplatonische Vergottungslehre und die Naturphilosophie an sich herangezogen, so zog er jetzt den modernen Humanitätsbegriff und den ästhetischen Individualismus an sich. Damit aber wurde er fähig auf die praktischen Aufgaben des modernen Lebens einzugehen 503). In dieser romantischen Religiosität, in dem mit der künst­ lerischen Differenzierung und dem philosophischen Immanenzge­ danken verbundenen Spiritualismus, wurzelt dasjenige, was der mo­ derne Deutsche der Bildungsschicht vom Protestantismus sich an­ eignen kann, sein Verständnis der Religion überhaupt. Es ist die heimliche Religion der Gebildeten. Die ganze mystisch-spiritua­ listische Literatur feiert darum heute ihre Auferstehung. Vor al­ lem ist dazu der Boden des Luthertums veranlagt, das von Hause aus auch in seiner echtesten Gestalt damit gewisse Beziehungen hatte. Auf angelsächsischem und calvinistischem Boden begegnet ein solcher Spiritualismus viel geringerem Verständnis, erscheint er als unpraktisch, unsozial, unkirchlich, unethisch. Doch ist mit den Schriften des Emersonschen Kreises und - in einem stark aktiv-ethischen, dem Aesthetizismus entgegengesetzten Sinne mit denjenigen Carlyles auch dort längst dieser Weg betreten: 508) S. auch den Aufsatz von Koch, Zur Beurteilung der modernen Persönlich­ keitskultur, und die Erwiderung von Joh. Müller, Chr. W. 1908.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

alles Historische ist ein Symbol; ewig unter allen Formen ist die sich überall erkennende, von den Heroen nur mit besonderer Ge­ walt ausströmende Idee. In England ist schließlich auch der ästhe­ tisch-spiritualistische Geist eingezogen mit Ruskin und seiner Schule, den man mit Recht das Ende des Puritanismus genannt hat. Mit alledem sind dann auch die soziologischen Folgerungen aus dieser Grundstellung nicht lange in der Verborgenheit ge­ blieben. Die religiöse Gemeinschaft, die Kirche und der Kon­ ventikel gleichermaßen, ist völlig zurückgesetzt. Der Kultus hat seine innere Notwendigkeit überhaupt verloren und ist für die Re­ ligion bedeutungslos geworden. Das Historische ist zum Symbol, zum Anregungsmittel, zur Veranschaulichung geworden, wenn man nicht gar völlig bedenklich ihm gegenübersteht. Sein Zusammen­ hang mit dem Kultus ist beinahe völlig verschwund�n, es ist zum Thema der wissenschaftlichen Verhandlung, zum Gegenstand der freien Phantasie und beliebigen privaten Stimmungserregung ge­ worden. Die Literatur, die Poesie und das alte Philadelphentum, die Bildung kleiner, von persönlichen Eindrücken geleiteter Kreise, sind an Stelle der alten kultischen Gemeinschaft getreten, ganz so wie es Schleiermachers Reden schildern, nur meist mit geringe­ rem Ernst. Inzwischen sind dann auch der naturalistische Monis­ mus moderner Naturphilosophen und brahmanistische und bud­ dhistische Ideen in diese Mischung eingeflossen; sie haben vollends die Beziehungen zur christlichen Geschichte, ja zu dem christlichen Per­ sonalismus überhaupt, gründlich verwirrt oder gar gelöst und lei­ denschaftlich bekämpft. Aber auch wo diese Ablösung von allem christlichen Geiste nicht eingetreten oder nicht erkannt ist, da ver­ läuft doch oft genug das Verständnis das Christentum in diesen romantischen und neuromantischen Auffassungen eines völlig per­ sönlich differenzierten und gänzlich innerlichen Spiritualismus 504). 504) Hiezu s. die Arbeiten von Dilthey und Haym. Das Anti-Kirchliche in Schleiermachers Reden, die nur der Unverstand gegenüber den gleichzeitigen Pre­ digten für eine exoterische Aeußerung halten kann, hat A. Ritschl richtig gefühlt ; s. Schl.s Reden und ihre Nachwirkungen auf die evangel. Kirche in Deutschland 1874. Außerdem Troeltsch, Schl. und die Kirche (Schl., der Philosoph des Glau­ bens 1910). - Der ästhetische und der Immanenzcharakter sowie der radikale Indi­ vidualismus der romantischen Religion sind nirgends besser erkannt als bei Kierke­ gaard, der die beiden ersten abstößt, um so stärker aber das letztere betont. Die Ergänzung dieses Individualismus durch einen romantisch katholisierenden Zug, ähnlich wie Novalis, zeigt Paul de Lagarde in seinen deutschen Schriften, die

Der Spiritualismus in der modernen Theologie.

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Auch die Gedankenbildungen der neueren wissenschaftlichen Theologie, soweit sie mit dem modernen Geiste inneren Zusamtrotz mancher Schrullen zum Bedeutendsten gehören, was überhaupt über die mo­ derne religiöse Lage geschrieben worden ist; er sieht den ganzen Zustand als Auf­ lösung der bisherigen Kirchen und als Vorbereitung einer neuen Religion durch einen aus dem vorpaulinischen Evangelium erneuerten und ethisch vertieften Spiri­ tualismus an.- Charakteristisch für die völlige Auf lösung des Kirchengedankens und bezeichnend für unzählige ähnlich Denkende ist A. Bonus, Die Kirche (aus •Die Gesellschaft•, hsg. v.Buber XXVI).- Einflußreiche Kreise, wie der von Joh. Müller in Schloß Mainburg, zeigen ganz den Charakter einer ethischen Mystik: Weckung des göttlichen Samens im Menschen durch Christus zu freier persönlicher Ausgestaltung aus dem mit Christus gemeinsamen, aber mit seinem Buchstaben sich nicht deckenden Geiste; die Menschwerdung des Menschen durch die Befol­ gung der von Christus dargelegten und zur Erkenntnis gebrachten Naturgesetze des persönlichen Lebens ist nichts anderes als die spiritualistische Lehre von der Weckung des göttlichen Funkens in der Berührung mit Christus, alles freilich in die Sphäre der Aktivität versetzt. Dieser Kreis zeigt auch typisch den Kirchengegen­ satz und die soziologische Art eines solchen Spiritualismus, vgl.seine Bergpredigt, verdeutscht und vergegenwärtigt 1906.- Spiritualistisch ist auch die Auffassung vom Christentum, die Eucken als die notwendige Fortbildung desselben bezeichnet, vgl. >Können wir noch Christen sein«, 1911 S.190: »So entspricht es dem Zuge der weltgeschichtlichen Bewegung, wenn wir eine weitere Wendung vom Sichtbaren ins Unsichtbare fordern und wahre Wirklichkeit von sinnlicher Handgreiflichkeit noch schärfer geschieden haben wollen. Daher fällt es nicht aus den Zusammenhängen des Christentums, der R e I i g i o n d e s G e i s t e s , heraus, wenn uns die G e­ s c h e h n i s s e i n n e r h a I b d e s G e i s t e s I e b e n s als die Hauptsache gelten und als solche behandelt sein sollen•. S. 200: >Die religiöse Gemeinschaft muß sich auf die Wahrheiten stellen •.., welche u n mit t e I b a r d e m Le b e n s­ p r o z e s s e s e I b s t a n g e h ö r e n , nicht ersterhand aus metaphysischer Spekulation oder aus geschichtlicher Ueberlieferung stammen d. h. also Wahrheiten, welche die Tatsachen des Erscheinens einer neuen (inneren) Welt beim Menschen und die Weiterbildung dieser Welt durch Kampf und Erschütterung hindurch betreffen und vertreten, die Tatsachen einer grundlegenden, kämpfenden und überwindenden G e i s t i g k e i t«.- Eine gegen das Christentum indifferente sehr originelle Mystik ent­ faltet Maeterlinck, dessen Einfluß auf die Gegenwart gleichfalls aus dieser Homogenität zu verstehen ist, s.Der Schatz der Armen 3, deutsch 1906. - Bewußt antichristlich gestaltet sich unter pessimistischem Einfluß die Mystik bei Schopenhauer und Ed. v. Hartmann, noch feindseliger bei dessen Schülern Arthur Drews und v.Schnehen. Hier fällt bei der Auslöschung jedes theistisch-personalistischen Elementes jeder Gemeinschaftstrieb und jeder Kultus völlig weg und wird der Mittelpunkt des christl. Kultus, Jesus, gänzlich beseitigt; gleichwohl glauben diese Religionsphilo­ sophen durch eine solche gemeinschafts-, kult- und geschichtslose Religion der Im­ manenz des Einzelgeistes im All die unter uns absterbende Religion wieder beleben

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III. Protestantismus. 4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

menhang haben und zugleich religiöse Wärme und Lebendigkeit suchen, bewegen sich seit Schleiermacher, Hegel und de Wette in dieser Richtung. Freilich hat man hier klarer das Bedürfnis, der Geschichte und Offenbarung gerecht zu werden, aber doch nur unter der Grundvoraussetzung, daß die Erlösung nicht eine Ausstattung der Heilsanstalt mit einer fertigen Heilskraft, sondern ein jedesmal neuer Vorgang der inneren Einigung der Seele mit Gott ist. Daher ist auch das Problem der Bedeutung der Ge­ schichte für den Glauben in der modernen Theologie das Zentral­ problem geworden. Sie ist dem Meister Eckart und Sebastian Franck näher verwandt als Luther und Calvin, und schätzt an Luther für die Gegenwart wesentlich nur seine spiritualistischen Anfänge. Sie ist auf der ganzen Linie die Erneuerung des alten Spiritualismus. Ihre besten Gedanken hat sie von dort her oder findet sie dort bereits vorgebildet. Sie versetzt sie nur in die inzwischen ausgebildete historisch-kritische Denkweise und in die moderne Welterkenntnis hinein. Sie ist Theologie des Bewußt­ seins im Gegensatz zur Theologie der Tatsachen und hat für Jesus nur die Bedeutung der urbildlichen Erregung des frommen Bewußtseins. Aber damit wiederholt sich für sie auch die sozio­ logische Situation und Wirkung jenes Spiritualismus. Sie schafft keine Gemeinschaftsformen und formt weder den dazu nötigen Gemeinsinn und Autoritätsglauben, noch den nicht minder nöti­ gen Fanatismus und Uniformitätsdrang. Sie lebt in Gemeinschaften und von Gemeinschaften, die andere , rücksichtslosere Kräfte gebaut haben und muß sie aus Bekenntniseinheiten in bloße Ver­ waltungsorganisationen zu verwandeln trachten, die sehr verschie, denen Geistern und Kräften Behausung gewähren. Sie ist dem kirchlichen Geiste entgegengesetzt durch ihre Toleranz , ihren Subjektivismus und Symbolismus, ihre Betonung der ethischen und religiösen Gesinnungsinnerlichkeit, ihren Mangel an festen Normen und Autoritäten. Daher muß sie die Organisationsfor­ men mitbenützen, die das robustere Zeitalter des staatskirchlichen zu können. - Höchst charakteristisch ist auch Simmel, Das Problem der religiösen Lage (in dem Sammelband > Weltanschauung, Philosophie und Religion< 19u), der die Religion rein als Zustiindlichkeit ohne jeden bestimmten Inhalt und Antrieb faßt und daher auch jede geschichtliche und kultische Beziehung ausschließt. Hierher gehört auch die moderne mystische Lyrik wie die R. M. Rilkes und Aehnliches auch die Religionspolitik des Diederichs'schen Verlages, die ganze mo­ derne Losung >nicht unreligiös, aber unkirchliche und vieles andere mehr.

Der Spiritualismus in der modernen Theologie.

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Zwanges geschaffen hat und die öhne Gewalttat nie entstanden wären. Oder sie nimmt überhaupt einen neuen Zustand in Aus­ sicht, wo die Investierung der Religion in den verfallenden Kirchen überhaupt nicht mehr nötig ist. Nicht umsonst hat Richard Rothe mit Hegel das Aufgehen der Kirche im Staat d. h. die volle Au­ tonomie des mit der Gesamtvernunft und ihrer sozialen Organi­ sation unmittelbar einigen religiösen »Geistes« prophezeit. Er hat damit die letzten Tendenzen und die schwersten Probleme des Spiritualismus klargelegt, diesen selbst aber als das notwendige Ergebnis der Entwickelung des Christentums in einer äußerst lehr­ reichen und tiefsinnigen Gesamtauffassung der Kirchengeschichte konstruiert 504•). 50••) Es ist nicht uninteressant, unter diesem Gesichtspunkt die gegenwärtige protestantische Theologie zu gruppieren. Die heutige O r t h o d o x i e hat ein stark pietistisch-spiritualistisches Element ; aber da sie in der inneren Erfahrung des Geistes immer vor allem Bibel, Sakrament und Kirche als das übernatürliche Agens der Gegenwartserfahrung beglaubigt werden läßt, so behält sie einen hin­ reichenden Rest von Objektivität, Autorität, Maßstab und Wunder, um kirchlich denken und wirken zu können ; hier hat man von der Jungfrauengeburt und Auf­ erstehung eine innere Erfahrung; sie ist kirchlich ,potente. - S c h l e i e r m a c h e r und seine Schüler sind wesentlich spiritualistisch ; aber er ist vom Spiritualismus zu einer modernisierten Christusmystik zurückgegangen, womit er einen christlichen Kult und einen einigermaßen faßbaren Lehrkanon, die Anerkennung der Erlösung durch den übernatürlichen Eindruck der gotteinigen Christuspersönlichkeit, behält ; dementsprechend behauptet er Kirche und Kultgemeinschaft, freilich mit Freigebung sehr individueller Zurechtlegungen der in die Volkskirche eingekleideten christlichen Lebenssubstanz; von hier aus ist eine feste Kirchlichkeit im alten Sinne nie zu er­ reichen. - Schleiermacher sind alle H e g e 1 i a n e r gefolgt, soweit sie die Religion aus dem rein intellektualistischen Geiste und dem lediglich partei- und schulmäßi­ gen Zusammenhang heraussetzen wollten; oder sie haben das »Prinzip< des Geistes völlig gegen die >Person« Christi verselbständigt und damit für die Kirche nur die völlig anonyme Geistesgemeinschaft übrig behalten. - R i t s c h 1 und seine echten Schüler haben die Lehrsubstanz eigentümlich reduziert, aber für sie eine streng autoritativ-kirchliche Geltung verlangt, eben deshalb die Kirchlichkeit aufs stärkste betont und den mystischen Spiritualismus aus jedem Schlupfwinkel ver­ trieben ; es war sein Triumph, den orthodoxen Gegnern ihre pietistisch-spirituali­ stischen Erweichungen des Kirchenbegriffes nachzuweisen und kirchlicher zu sein als sie. Sein Dogma ist daher völlig auf die Möglichkeit einer Volks- und Landeskirche zugeschnitten. - H e r r m a n n folgt einer Zinzendorf und Schleier­ macher verwandten Christusmystik, die einen Kern der von außen gegebenen, Gewißheit und Zuversicht verbürgenden und dadurch erlösenden Offenbarung behauptet, im übrigen aber alles der persönlich-gewissensmäßigen Ueberführung

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III. Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Eben hieraus ist es aber auch zu begreifen, wenn gerade aus der Romantik heraus der soziologische Gegenschlag erfolgt ist, die anheimstellt ; daher hält er es kirchlich mit Luthers Vertrauen zu der über­ natürlichen , die Bekehrung von sich aus wirkenden Christusverkündigung , die keiner künstlichen Nachhilfe bedarf und sich von selbst durchsetzen wird; die kirchenrechtlichen Folgerungen aus einer solchen Position. haben Rudolf Sohm und Erich Förster gezogen ; das würde praktisch zu kongregationalisti­ schen Folgerungen führen, bei denen es lediglich eine Sache des Glaubens und Gottvertrauens ist, daß man ihnen keine kirchen-auflösende Wirkung zutraut. - Die sog. r e 1 i g i o n s g e s c h i c h t 1 i c h e S c h u I e lenkt völlig zum Spiri­ tualismus zurück und ist daher kirchlich >impotent«. Meine eigene Theologie ist sicherlich spiritualistisch, sucht aber eben deswegen dem historischen und dem da­ mit verbundenen kultisch-soziologischen Moment Raum zu schaffen. Die Schwierig­ keiten eines solchen Unternehmens sind mir natürlich wohlbekannt. - H a r n a c k (s. besonders die Aeußerungen über den Weltkongreß für freies Christentum, Aus Wissenschaft und Leben 19n I 146-152) hält eine prinzipielle Lösung des Pro­ blems überhaupt für untunlich und wünscht nur ein verständiges tolerantes Kirchen­ regiment, das den Geistlichen Bewegungsfreiheit läßt, also eine rein faktische Auf­ lösung des Kirchentums und, seine Wahrung lediglich durch Beseitigung ganz extremer Geistlicher, über deren Extremität ein wesentlich die Persönlichkeit in Betracht ziehendes Spruchgericht entscheidet nach bestem Wissen ; das mag dann den Uebergang zu späteren glücklicheren Formationen bilden. Eine Auffassung, die durchaus der Mischung von Spiritualismus und Historismus in seiner Theologie (s. ebd. »Christus als Erlöser< S. 81-94) entspricht. - Von da aus versteht sich auch eine Schrift, wie die des Generalsuperintendenten Kaftan ,Wo stehen wir? Eine kirchliche Zeitbetrachtung« 1911. Er rühmt an den Orthodoxen ihre kirchliche Potenz und verwirft bei den Liberalen ihre kirchliche Impotenz, die er an lauter, den Spiritualismus in Erinnerung bringenden Zügen erläutert. Zur Rettung der Kirche will er die Subjektivisten von ihr abgliedern. Die Charakteristik ist nicht falsch. Aber man muß doch auch hervorheben, daß mit der »kirchlichen Potenz« wesentlich Eigenschaften verbunden sind, die moralisch sehr schwer zu ertragen sind, und mit der spiritualistischen Impotenz solche, die gerade der Milde, Güte· und Inner­ lichkeit des Christentums entsprechen. Es ist eben die soziologische Antinomie zwischen den Erfordernissen der Organisationsbildung und denen der freien Per­ sönlichkeitsbildung. Mutatis mutandis steht die Sache bei den politischen Parteien ganz ähnlich, nur daß diese nicht prinzipiell der Bildung der Persönlichkeit dienen. Steht die Sache aber so, dann wäre doch ein anderer Ausweg als der Kaftans wün­ schenswert. So würde die Kirche um einen sehr hohen Preis gerettet und dem all­ gemeinen Geistesleben überdies völlig entfremdet. - Feine Bemerkungen über diese ganze Lage bei Seil in dem Aufsatz, Die zweifache Theologie, ChW 19u; s. auch meine Gedächtnisrede »Richard Rothe« 1899. Rothe hat sich nur durch seine Christologie der letzten Konsequenzen des Spiritualismus erwehrt, schließt sich aber auch in dieser an die Theosophie an ; hier erinnert er an Schwenkfeld, Paracelsus, Böhme, Oetinger, Arnd. - Zum Ganzen s. auch das erwähnte Buch von Bruhn.

Soziologische Schwierigkeiten im Spiritualismus.

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Zurückwendung zum alten Kirchentum. Das ist schon bei Novalis kein aus der Romantik selbst quellender Trieb, sondern im Gegenteil eine Erwehrung gegen ihre relativierenden und radikal individualisie­ renden Folgen. Ihm geht bei der romantischen Versenkung in die Geschichte die völlige Verarmung der modernen Gesellschaft und der sie erfüllenden Religion an soziologischem Gehalt und gemein­ schaftsbildender Kraft auf. Von hier aus erscheint ihm nicht ohne guten Grund das Mittelalter natürlicher und reicher. Aehn­ liche Einsichten ergaben sich gleichzeitig bei St. Simon, der für seine Entdeckung einer notwendigen sozialen Neugestaltung nach der religiösen Idee griff und hier sich an ein romantisch belebtes Christentum hielt. Auch die französische katholische Romantik ging ähnliche Wege. Das romantische historische Gefühl und das Bedürfnis nach Symbol- und Phantasiebefriedigung ist nur ein Mittel für diese Gegenbewegung gewesen. Der eigentliche Geist der Romantik ging keineswegs in dieser Richtung. Das neue Kirchentum hat sich darum bald genug von diesen untauglichen Mitteln befreit und zu pietistischen oder rein orthodoxen ge­ griffen. Heute herrscht in katholischem und protestantischem Kirchentum in Wahrheit der der Romantik entgegengesetzte Geist, die Richtung auf Anstalt, Autorität, Uniformität. Von der Ro­ mantik ist nichts geblieben als bei Theologen, die gerne geist­ reich sein und sich modern gebärden wollen, die Phraseologie. Aber zu einem solchen Gegenschlag nötigte in irgend einer Art doch das eigentliche Wesen des Christentums selbst, das nie lediglich individualistische Mystik, sondern immer zugleich ethische Triebkraft, zur Gemeinschaft verbindende Anerkennung des gött­ lichen Willens ist und das als Religion nur von einem lebendigen Kultus genährt werden kann. Der Kultus kann aber kein anderer als die Verehrung Jesu als Gottesoffenbarung in irgend einem Sinne sein. So hat auch Schleiermacher sich von seinen spiri­ tualistisch-individualistischen Jugendidealen zur Kirche zurückge­ wendet und sie um den Christuskult vereinigt als um die Quelle, von der die religiöse Kraft des Urbildes immer neu ausströmt. Dieser Kult soll nach ihm in den Landeskirchen, so lange solche bestehen, in einer großen gemeindlichen Selbständigkeit und mit weitgehen­ der individueller Beweglichkeit ausgeübt werden. Er soll inner­ halb der landes- und volkskirchlichen Einheit die einzelnen Kult­ körperschaften mit christlichem, jedesmal sich individualisierendem Geiste durchdringen. Es ist das Ideal einer Synthese von kirchen-

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

artigem Gemeingeist und spiritualistischem Individualismus, von Volkskirche und kongregationalistischer Independenz, von Christus­ verehrung und Lebensgestaltung aus dem Christusgeist, ein Ideal, das von Gemeinden und Kirchenregierungen die größte Weisheit und Weitherzigkeit, Besonnenheit und Hingebungsfähigkeit fordert, das ebendeshalb praktisch nur als Karikatur d. h. als landeskirch­ liche Orthodoxie mit notgedrungener Duldung liberaler Theologen durchgeführt worden ist. Die gebildete Laienwelt hat, soweit sie am Christentum hängt, daher in Wahrheit eine Religion ohne Kirche und Kultus, ein Christentum des Geistes und der Gesinnung, der humanitären Tat und völlig individueller Zurechtlegung des reli­ giösen Gedankengehaltes 505). Durch all das ist die Lage des Christentums in der modernen Bildungsschicht bedingt. Die Zugehörigkeit der religiösen Typen zu gewissen sozialen Schichten, die sich überall herausarbeitet und jenen Typen erst dauernde Wurzelung verleiht, ist auch hier nicht zu übersehen. Gewisse Schichten verlangen die Sekte, ihre Auf­ reizung und ihre das Individuum mitbeteiligende und befriedigende soziologische Gestaltung. Andere verlangen die Kirche als das alles ausgleichende und vermittelnde, Autorität und Halt bietende, der Massenleitung günstige soziologische und religiöse Element. Die moderne Bildungsschicht aber versteht im allgemeinen nur den Spiritualismus. Es ist das zugleich ein Reflex des radikalen, atomisierenden Individualismus der modernen Kultur überhaupt, eines Individualismus, der auf den nicht-religiösen Lebensgebieten bereits wieder zu weichen und in sein Gegenteil umzuschlagen be­ ginnt. Es ist mit der Verflüchtigung von Gemeinschaft, Kultus, Geschichte und Sozialethik trotz aller Tiefe und Innerlichkeit des Gedankens zugleich eine Schwächung des religiösen Lebens, das von Kirche und Sekte in seiner konkreten Lebensfülle erhalten werden muß, damit eine ganz individuelle Mystik es überhaupt spiritualisieren kann. So darf man es sich nicht verbergen : diese 505) Treffende Bemerkungen über die Wendung bei Novalis und bei der französ. Romantik bei Windelband, Die Philosophie im deutschen Geistesleben des 19. Jahr­ hunderts, 1909 S. 32-36 ; über St. Simon s. Lorenz Stein, Sozialismus und Kom­ munismus. Schon Herder hatte in seiner Bückeburger Zeit derartige Anwandelungen. Wie wenig aber solche Wendungen aus dem eigentlichen Geiste der Romantik stammen, zeigt die heutige Neuromantik, welche den alten ästhetisch differenzieren­ den Geist erneuert und die positiv-historische Tendenz wieder gänzlich ausge­ schieden hat, vermutlich nur, um einen ähnlichen Umschlag zu erleben.

Die soziologischen Folgerungen des Spiritualismus.

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der modernen Bildungsschicht allein zugängliche Fassung des Christentums setzt neben sich den Fortbestand anderer und kon­ kreterer Lebensformationen des Christentums voraus und kann niemals für alle sein. Man wird vielmehr mit Sicherheit sagen können, daß die Verheißung Lessings, das Evangelium aeternum und die in allen Individuen gleich ursprüngliche und gleichartige Gotteserkenntnis, niemals eintreten wird. Was aber in Wahrheit kommen wird und welche Bedeutung dieser moderne Spiritualis­ mus für die Zukunft haben wird, das vermag freilich niemand zu sagen. Das Problem der Organisation religiöser Gemeinschaften ist heute dunkler als jemals. Die Lage am Anfang der Refor­ mation ist mit der Erstarkung von Sekte und Spiritualismus und mit der Fraglichkeit des Verhältnisses von Kirche und Staat wie­ dergekehrt 506). Damit ist der Ueberblick über die Erscheinungen des Sekten­ wesens und der spiritualistischen Mystik gewonnen. Obwohl beide von dem kirchlichen Protestantismus sich sehr wesentlich unter­ scheiden, so gehören sie doch zum Protestantismus, indem sie die jeden Kirchentypus begleitenden und aus der Bibel sich stets neu erzeugenden Strebungen der Sekte und der Mystik in ihrer spezifisch protestantischen Bestimmtheit zeigen, die Sekte in der schließlichen Erfüllung mit dem protestantischen Berufsideal, die Mystik in ihrer Verschmelzung mit dem protestantischen auto­ nomen Individualismus. So liegen denn auch ihre Ideale schon im protestantischen Kirchentum selbst enthalten, die Sekte mehr im Calvinismus, die Mystik mehr im Luthertum. Sie ergänzen sich mit dem Kirchentum in dem sog. Pietismus immer von neuem, der ein Mittelding zwischen protestantischem Kirchentum und sek­ tenhaft oder spiritualistisch gestimmter Frömmigkeit ist. Die erst­ malige Ausscheidung der mit den demokratischen Neigungen der Zeit verknüpften sektenhaften und mystischen Gruppen aus der Refor­ mation hat dereinst die populäre Kraft des Protestantismus stark be­ einträchtigt und ihn erst recht den herrschenden Gewalten in die 608) Siehe meine Abhandlung >Die Kirche im Leben der Gegenwart« in dem schon erwähnten Sammelwerk Weltanschauung usw., und den Aufsatz >Gewissens­ freiheit« ChW 19II; auch meinen Vortrag, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben 1910; ganz ähnlich urteilt Eucken a. a. 0. S. 136. S. auch die mit Bonus sich auseinandersetzenden Schlußausführungen in Harnacks Dogmen­ geschichte 4. Aufl. III 902-908.

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III.

Protestantismus,

4,

Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

Arme getrieben, wodurch dann wieder die Festigkeit seines Kir­ chentypus gesteigert wurde. Aber die ausgeschiedenen Motive kamen wieder und erzeugten teils das pietistische Wesen, das den Kirchen bis heute seinen Einfluß tief aufgeprägt hat, teils die ver­ selbständigte Sektenbewegung und die christliche soziale Reform­ idee sowie den kirchenfreien oder kirchlich gleichgültigen Spiri­ tualismus 507). Es erübrigt nun bloß noch abschließend die S o z i a l l e h re n d i e s e r G r u p p e n und ihre soziologische Bedeutung zu formu­ lieren. Dazu bedarf es nicht mehr als die im einzelnen schon ge­ machten Beobachtungen kurz zusammenzufassen und das Verhältnis dieser Soziallehren zu denen des Katholizismus, des Luthertums und des primitiven Genfer Calvinismus zu bestimmen. Um mit der zuletzt behandelten Richtung zu beginnen, so ist S p i r i t u a l i s m u s u n d M y s t i k überhaupt ohne Organi­ sationstrieb. Nur in dem Maße, als der ethische christliche Theis­ mus in ihnen erhalten bleibt, und bei den quietistisch-pantheisieren­ den Gruppen nur unter dem Druck des unausrottbaren natürlichen Gemeinschaftstriebes, ergeben sich hier soziale Selbstgestaltungen der religiösen Idee. Sie pflegen an sich lediglich das Individuum und sein Heilsinteresse und glauben zugleich an die allgemeine Geistes- und Liebesgemeinschaft. Diese letztere betonen sie unter Umständen sehr stark, aber Kirche und religiöse Organisation liegt ihnen ferne. Innerhalb jener geglaubten Geistesgemeinschaft aber bilden sie mit eigenem Tun nur die engeren Kreise des Phila­ delphentums, der Seelenführer und Virtuosen aus. Kultus und Ge­ schichtsbeziehung, an denen Kirchen und Sekten ihren zusammen­ haltenden Organisationspunkt finden, treten hier zurück, werden in ein persönliches unmittelbares Verhältnis zu Gott und Christus oder in die Erhebung des Geistes verwandelt oder verschwinden ganz. Sie bilden ein soziologisches Grundschema wohl aus, eine Einigung aller Geister im gemeinsamen Ziel und eine völlige Tole­ ranz aller Geister nebeneinander, weil, wie Lagarde sagt, >auf dem Wege aufwärts zu Gott die Linien sich nicht schneiden, sondern zusammentreffen«. Allein sie tragen dieses Grundschema nicht planmäßig und tätig in die Gesellschaft hinein. Es gilt nur für 607) Ebenso Göbel I 145. Das ist auch das Richtige in Barges Gesamtanschau­ ung vom Verlauf der Reformation, die nur wenig Verstiindnis für den Kirchen­ typus zeigt, aber in den Hauptzügen richtig ist.

Die Soziallehren des Spiritualismus und der Mystik.

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die Suchenden, Erkennenden und Erleuchteten, und seine Kraft kann sich nur mit der Ausbreitung des Geistes von selbst ver­ breiten. Hier wird nichts gemacht und organisiert. Die Frage ist nur, wie weit dieser Geist von selber wirken wird, und da unter­ scheiden sich die einzelnen sehr nach ihrem Temperament. Re­ signation, bewußter Aristokratismus, Pessimismus, Quietismus und optimistische Hoffnung wechseln hier. Von da aus folgt natürlich erst recht eine völlige Gleichgültigkeit oder Hilflosigkeit gegen­ über den außerreligiösen sozialen Problemen. Mit dem Staate und der Wirtschaft weiß diese Denkweise im Grunde nichts anzufangen, das muß alles neu und anders werden. Wann? und wie? das ist freilich schwer zu sagen. Nur auf dem Gebiete der Sexual- und Familienethik hat sie begreiflicherweise eigentümliche Züge auf­ zuweisen, da diese Dinge mit der ganz persönlich intimen Lebens­ würdigung sehr eng zusammenhängen. Hier charakterisiert sie eine große Unabhängigkeit von der Konvention. Die Verinnerlichung und Vergeistigung dieser wichtigsten, das Gefühlsleben so stark beeinflussenden Vorgänge, die Zusammenschmelzung des Erotischen mit dem Ethisch-Religiösen, ist ihr Ziel. Da�er stammen die Er­ scheinungen, die man als Antinomismus und Libertinismus diesen Kreisen immer wieder mit Recht und Unrecht vorwarf. Heute ist gerade von ihnen das Problem der Sexualethik mit großer Feinheit behandelt. Die Gesinnungsmäßigkeit und religiöse Durchdringbar­ keit der erotischen Beziehungen oder auch umgekehrt asketische Bedenken gegen die erotische Gefühlskonkurrenz werden hier be­ tont und von da aus die Ideale sehr stark im Gegensatz gegen die konventionelle rechtliche, vermögenspolitische und kirchlich-legi­ time Anschauung von der Ehe entwickelt. Die sehr schwankenden Einzelheiten lassen sich nur im Rahmen einer Monographie dar­ stellen, würden aber sehr viel des Interessanten darbieten. Wichtig bleibt jedenfalls die Berührung erotischen und religiösen Gefühls, die bei diesen verinnerlichten Subjektivitäten eine gegenseitige Durchdringung beider möglich macht und die grobe kirchliche Lehre von der Konkupiszenz als Folge des Sündenfalls beseitigt. Wo aber in den großen spiritualistischen Denkern der Neuzeit, wie Schleiermacher und Richard Rothe, die Ethik auf die prak­ tischen Aufgaben der Kultur eingeht, da stammen ihre Gedanken offenkundig und eingestandenermaßen aus der modernen Ideen­ welt. Die Schwierigkeit ist dann die Einschmelzung dieser Ideen­ welt in die christliche Innerlichkeit und Ueberweltlichkeit. Für

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III, Protestantismus,

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

die Schwierigkeit und Zwiespältigkeit dieser Aufgabe ist insbeson­ dere Rothe höchst charakteristisch 508). Was dann weiter die Sekte betrifft, so zerfällt sie wie be­ reits im Mittelalter in die aggressive weltemeuemde und die dul­ dende und leidende, weltindifferente Sekte. Die e r s t e r e mit ihrem apokalyptisch gewaltsamen Geiste ist seit dem

17. Jahrhundert erschöpft, hat freilich hier in der

50S) Einzelheiten s. bei Ritschl und Göbel. Die Geschichte der Ethik von Luthardt II 248-340 und Gaß II I S. 283-325, 359-368 bieten an diesem Punkte so gut wie gar nichts. Dippel hat eine Sozialethik geschrieben : >Christen­ stadt auf Erden ohne gewöhnlichen Lehr-, Wehr- und Nährstand oder kurze doch eigentliche Abbildung der aus dem Reiche der Natur entstandenen und im Zorn Gottes bestätigten Ordnungen unter den Menschenkindern«. Auszüge bei Walch, Religionsstreitigkeiten 729 f. u. 753 f. Die gegebene Gesellschaft des Naturgesetzes gehört nur in die Oekonomie des Gesetzes oder des Vaters. - Aehnliche Gedanken enthält Saltmarsh in seinen Sparcles of glory. Ein völlig neuer aus Geist, Gesin­ nung und Liebe fließender gesetzesfreier, aber in sich organisch durch die Liebe gegliederter Menschheitszusammenhang soll kommen. Bis dahin ziehen die Christen sich von der Welt in Gelassenheit und Demut zurück, - Sebastian Franck toleriert die gegebenen Verhältnisse im Sinne des lutherischen Naturrechts mit starker Resignation und pessimistischer Menschenbeurteilung, Regler 260-263, 243, 116, 179-184; auch Schmoller und Wiskemann berühren Franck. - Aehnlich konser­ vativ und provisorisch für die Gegenwart, aber spiritualistisch-revolutionär für die Zukunft steht Gottfr. Arnold zu dem Problem Ritschl II 311, 315. Winstanley und Lilburne dagegen erwarten die Erneuerung der Gesellschaft im demokrat. und kom­ munist. Sinne vom Geist und arbeiten bewußt, wenn auch ohne Gewalttat, auf dieses Ziel hin. - Für die Sexualethik ist auf die Zulassung der Frau zum Predigen hin­ zuweisen, die an sich schon eine Auf hebung des kirchlichen, vor allem lutherischen Patriarchalismus ist. Im übrigen tritt die feinere Sexuatethik erst bei den modernen Spiritualistan zutage, die die religiöse Idee der Persönlichkeit mit einer ästhetisch­ immanenten Auffassung der Natur verbinden. Hier sind charakteristisch Schleier• machers Briefe über die Lucinde s. Rade, Stellung des Christentums zum Ge­ schlechtsleben S. 61-89, wo aber die Sache zu nahe an Luther angeschlossen ist statt an die Subjektivierung der Persönlichkeit in Mystik und Spiritualismus. Schleiermachers Gedanken sind völlig unlutherisch. - In diesen Gedankenkreis ge­ �ören auch die feinen Schriften zur Sexualethik von Lhotzky, Das Buch der Ehe 19u, und Joh. Müller, Beruf und Stellung der Frau 191I. Das ist gänzlich un­ kirchliche Sexualethik. Job. Müller ist überhaupt für die Ethik des modernen Spiri­ tualismus sehr charakteristisch : nicht quietistisch, sondern kräftig und entschlossen auf die Neugestaltung der Menschheit durch die Erweckung des in jeder Seele schlummernden >Ursprünglichen Wesens« oder Gottesfunkens gerichtet, den der Eindruck Jesu erweckt und zu persönlicher frei gestaltender Gesinnung macht. Es

lJie Soziallehren der aggressiven Sekte.

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Great Rebellion Englands ungeheure welthistorische Wirkungen hervorgebracht. Seitdem besteht sie nur mehr in den christlich­ sozialen Bestrebungen weiter, die mit sehr verschiedener Folgerich­ tigkeit und mit sehr verschiedenen Mitteln eine neue gerechte und Gottes Willen wie der Vernunft gemäße Gesellschaftsordnung her­ beizuführen bestrebt sind. Im Katholizismus, der übrigens nur auf dem gemischt-konfessionellen Boden sich auf die Sache einläßt, ist der Sektencharakter naturgemäß am meisten abgestreift. Dort gilt es im Grunde nur einen neuen Stand in den von der Kirche geleiteten sozialen Organismus einzufügen, dessen innere Harmo­ nie durch die der Kirche gegebene Gnadenkraft und die sie lei­ tende Autorität damit auch für die Gegenwart wieder hergestellt sein wird; das schließt natürlich eine sehr energische und erfolg­ reiche sozialpolitische Tätigkeit im einzelnen nicht aus, um so mehr als ihr der ungeheuere kirchliche Einfluß zur Verfügung steht. Auf dem Boden des Calvinismus äußert der christliche Sozialismus sich wesentlich als Vereinsbildung, Beeinflussung der öffentlichen Meinung und Stiftung von Kooperativ-Gemeinschaften. Auf dem Boden des Luthertums, wo gar keine Ansätze in den Kirchen für ihn bereit lagen, hat er sich am prinzipiellsten entwickelt. Aber auch hier teilt er sich in eine bloß im allgemeinen die ethische Gesinnung bearbeitende und auf Versöhnung des Klassenkampfes hinarbeitende Richtung und eine andere, welche eine sozialistische Erneuerung der gesamten Gesellschaftsverfassung für Christenpflicht ist ein spiritualisierter Chiliasmus. Die höchsten Wirkungen hat diese Lehre natur­ gemäß für die rein persönlichen Verhältnisse und damit für das Geschlechtsver­ hältnis. Ueber Staat, Wirtschaft und Gesellschaft enthält seine Bergpredigt, ver­ deutscht 1906, freilich sehr vage und unmögliche spiritualistische Reformideen, die der Komplikation des wirklichen Gesellschaftslebens nicht entfernt gerecht werden, Das ist Enthusiasmus, Der Gegensatz gegen die Kirche, die Bildung kleiner, um die Persönlichkeit gescharter Kreise, die Zuwendung zum Empirismus und die Ab­ neigung gegen die theologische Wissenschaft kehren auch hier als charakteristische Grundzüge wieder, Demokratische und kommunistische Züge, alles Egalitäre, liegt dagegen Müller völlig fern. - Im übrigen ist bei alledem aber auch an solche Dinge wie Tolstois ,Kreuzersonate« zu denken, - Die Soziallehren Weigels ange­ deutet bei Ritschl, Gesch. d, Piet. I 97 : ,Er rechnet auf vollständige Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht mehr Justinians, sondern Christi Gesetz soll gelten, Die Obrigkeit darf keine Steuern nehmen, keine Todesstrafe verhängen, keinen Krieg führen, Gemeinschaft der Güter soll herrschen, Der Handel wird als unchristlich bezeichnet. Die Erzeugung der Kinder, also auch die Ehe, wird als eine Ordnung der Sünde bezeichnet. « - Ueber Rothe s. meine Rede S. 31-35.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

und für Einstellung in den von Gott gewollten, aufwärts führenden Zug der Entwickelung hält. Gegenüber diesen allgemeinen Grund­ problemen treten natürlich die sozial-ethischen Einzelprobleme zu­ rück. Sie zersplittern sich entweder in unendliche Einzelfragen oder sie gehen unter in der Unbestimmtheit der nur in den allge­ meinsten Zügen charakterisierten Zukunftsordnung. Die zum Teil recht lehrreichen Besonderheiten können auch hier nur mono­ graphisch dargestellt werden 508•). In unserem Zusammenhang handelt es sich nur um die grundsätzliche Einsicht in die Zusammenhänge. Diese aber ist lehrreich genug für das ganze Verhältnis des Christentums zu dem Gedanken einer Sozialreform und schließt die bereits früher ge­ machten Beobachtungen über dieses Thema ab. Das Evangelium war in dieser .Hinsicht völlig ideologisch und gleichgültig gegen die Welt, deren Verwandelung es erst dem großen Wunder des kommenden Gottesreiches zuschrieb und im Großen wie im Kleinen völlig Gott anheimstellte; nur der Vorzug der Armen und Leidenden als der wärmer und demütiger Gott Fühlenden war dabei in Aussicht genommen; außerdem betrachtete es jeden Erweis der Liebe, den die Gelegenheit forderte, als Betätigung der Gott gemäßen Gesinnung. Die alte Kirche nahm die Welt mit den notwendigsten Abänderungen und mit innerer Zurückhaltung gegen sie in sich auf und bildete zur Besiegung der materiellen Not die An­ fänge der Karität aus. Das Mittelalter hat eine relative Zusammenstim­ mung der wirklichen Lage mit dem christlichen Ideal hervorgebracht; aber es entwickelte nur die Herrschaft der Kirche über diese natürlich­ übernatürliche Lebensharmonie und begegnete den Schäden nicht mehr durch kirchliche und gemeindliche, sondern durch anstaltliche, mönchische und stiftungsmäßige Karität. Das Luthertum befahl alle Dinge der weltlichen Lebensordnung einer vom Evangelium geleiteten Obrigkeit und ließ diese sich mit den hier obwalten­ den Schwierigkeiten abfinden, gewiß, daß das Evangelium die Naturordnung durch die Liebe zu beseelen und zu ordnen ver­ mag. Der Calvinismus , der das Sektenideal der heiligen Ge­ meinde in sich aufgenommen und mit dem staatskirchlichen Geiste ausgeglichen hat, betonte zum erstenmal neben den S�kten an leitender Stelle ein christlich-soziales Ideal, aber in dem 508a) Hierzu die verschiedenen, schon erwähnten Arbeiten von Ragaz und Rauschenbusch, weiteres oben S. 946 f.

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Die Soziallehren der aggressiven Sekte,

durchaus konservativen Sinne der Behauptung der gegebenen bürgerlich-staatlichen Ordnung und in der Voraussetzung, daß diese von relativem Naturrecht geleitete Ordnung bei gutem Willen und dem nötigen Heiligungsernst zur Unterlage einer wirklich christlichen Lebensorganisation gemacht werden könne. Eine radi­ kale Sozialreform, die die bestehende Gesellschafts- und Eigen­ tumsordnung als wurzelhaft unfähig betrachtet, die christliche Per­ sönlichkeit und die christliche Liebe allumfassend auszubilden, kannten nur die Sekten, und zwar auch diese nur in dem Maße, als sie vom Dulden und Leiden unter dem Einfluß des eschato­ logischen Reich-Gottes-Gedankens und in der Erwartung der Nähe seiner Verwirklichung zur grundsätzlichen Reform nach dem Ideal des Gottesreiches und der vollen urständlichen Vernunft über­ gingen. Je mehr hierbei noch überdies der stoische Naturrechts­ gedanke mitklang, wurde diese Reform demokratisch und kommu­ nistisch. Sie waren die alleinigen Träger einer radikalen kompro­ mißlosen und nicht-resignierten christlichen Sozialethik. Die Kirchen setzten dem bis heute den Gedanken der auf Erden unüberwind­ lichen Sünde oder der Innerlichkeit des Heils entgegen und haben sich auch durch die Not der Zeit und die wachsende Entchristlichung der Massen nur zu einer mehr oder minder tiefgreifenden Mitarbeit an der staatlich-bürgerlichen Sozialreform und überdies zu innerer Mission und breit entfalteter Karität treiben lassen; das letztere ist schon ein Einfluß, den sie dem Calvinismus und Pietismus ver­ danken. Aber gerade bei diesen Versuchen konnte die Einsicht nicht ausbleiben, daß jede geistig-ethische Emporbildung der Masse an bestimmte politisch-ökonomische Grundlagen gebunden ist und daß die moderne kapitalistische Lebensverfassung diesem Ziel schär­ fer entgegensteht als irgend eine bisherige. So erhob sich der christliche Sozialismus zu einer innern Kritik der bestehenden bürgerlichen Ordnung und verlangte entweder eine radikale Erneue­ rung der grundlegenden Gesinnung oder geradezu die Abstellung der gegebenen bürgerlichen Ordnung zugunsten einer neuen Gesell­ schaftsordnung, wie deren Ideal zugleich die von der Not der Lage hervorgerufenen sozialistischen Reformparteien erfüllt. Damit aber nimmt der christliche Sozialismus den alten Geist der aggressiven Sekte wieder auf, deutet wie sie die Bewegungen der Zeit auf einen von Gott herbeizuführenden grundsätzlichen Wandel der Dinge, macht den Gedanken des Reiches Gottes auf Erden und des inneren Zusammenhangs von Geist und Leib geltend und T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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III. Protestantismus,

4, Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

nähert sich den alten Gedanken des absoluten stoisch-christlichen Naturrechts. Die modernen Immanenzgedanken und die Bedeutung der innerweltlichen.Kultur haben auch auf ihn abgefärbt. Er ver­ steht und konstruiert sich als ein Ergebnis der geistigen und kul­ turell-technischen Entwickelung. Der asketische Enthusiasmus und Duali."smus ist daher auch für ihn vorbei. Er ergänzt das Evangelium nicht mehr wie die alte Sekte aus dem Alten Testa­ ment und der Apokalypse, sondern aus der modernen sozialwissen­ schaftlichen und technologischen Fortschrittsstimmung. So hat er auf den apokalyptischen Revolutionsgedanken der Gewalt und auf das weltverwandelnde Wunder verzichtet und erwartet die Revo­ lution nur von innen heraus. Damit aber löst er sich auch heute von der Kirche, nicht sowohl von der tatsächlichen Institution, als von dem Geist und Sinn der Kirche, die die Ergebung der Massen in die gottgeordneten Verhältnisse im ganzen verlangt und , ihrem Begriff nach mit allen Mächten der Ord­ nung und Autorität verbunden, Sozialreform nur als Karität und als christliche Kontrolle der bürgerlichen Ordnung kennt. Sozia­ listische Kirchen sind ein Unding. Denn die Kirchen haben einen anderen religiösen Inhalt als die radikal-ethische Leistung und Le­ bensgestaltung. Aber ein vom kirchlichen Geiste gelöster christ­ licher Sozalismus kann sich auf das Evangelium berufen. Die christ­ liche Religiosität der Kirchen ist eben eine innerlich anders geartete als die einer freien Gemeinschaft zur Anstrebung des Gottesreiches. Dabei sind natürlich zahlreiche Uebergänge zwischen beiden nicht ausgeschlossen. Aber in dem Gegensatz einer auf die Menschen realistisch eingestellten Kirchenanstalt und einer das Ideal be­ dingungslos erstrebenden freien Willensgemeinschaft liegt der Kern des Problems. Die d u 1 d e n d e u n d 1 e i d e n d e S e k t e stellt sich dar in den Mennoniten, Baptisten, Quäkern, den aus dem Pietismus entstandenen Gemeindebildungen und den modernen Sekten. Auch sie hat einen anderen Charakter angenommen als ihre mittelalter­ lichen und altprotestantischen Vorfahren, als die Waldenser, Böh­ mischen Brüder und altprotestantischen Täufer. Sie sind von dul­ dender und partieller Verneinung der Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zur Bejahung übergegangen und haben sich alle auf Grund der protestantischen Berufsmoral zu Gruppen ent­ wickelt, die im soziologischen Sinne als bürgerlich gelten müssen und auf die gegebenen Verhältnisse sich einrichten. Die Sozialre-

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Die duldende Sekte.

form betreiben sie nur als innere Mission, Bekehrung, Erweckung und Karität, auch als gesteigerte Kontrolle der Gesellschaft durch die christliche öffentliche Meinung und Presse. Diese Verbürger­ lichung und der Anschluß an die Berufsmoral ist eine natürliche Folge der dauernden Festsetzung, der steigenden Zahl,, der Ver­ erbung fester Verhältnisse, der Verflechtung in den allmächtigen Organismus des modernen Staats- und Wirtschaftslebens, das nicht mehr, wie die Anarchie und Einfachheit mittelalterlicher Verhält­ nisse, unberührte Inseln in seinem Strome bestehen lassen kann. Auch der Einfluß ihrer calvinistischen Umgebung ist ein bedeuten­ der. Dadurch wuchsen und wachsen sie nun aber in ihrer sozio­ logischen Selbstgestaltung wie in ihrer sozialen Ethik eng zusam­ men mit dem Calvinismus oder besser dem Neucalvinismus, der auch seinerseits die Verbindung mit dem Staate größtenteils ge­ löst hat und mit ihnen nach der ethischen Seite hin ununterscheid­ bar zusammengeht. Vor allem die Staatsfreiheit und die Forde­ rung kirchlicher Neutralität des Staates unterscheidet sie noch von den Kirchen, ein Unterschied, der mit der Lösung der Kirchen vom Staate in der Neuzeit auch von der andern Seite her immer mehr verringert wird. Der Grund dieser Entwickelung ist durch­ sichtig. Die duldende und leidende Sekte ist nur als Provisorium möglich, als Warten auf die göttliche Offenbarung des Reiches. Hört dies Warten auf und gehen sie auf die dauernden Ordnungen der Welt ein, so relativieren auch sie ihre Maßstäbe und schließen ihren Kompromiß. Sie nähern sich mit Notwendigkeit entweder den Kirchen oder der radikalen Sekte oder sie erlöschen. So sind sie verkirchlicht und verbürgerlicht, wie der Calvinismus umgekehrt freikirchlich und gesetzlich geworden ist. Sie sind religiös-sozio­ logisch betrachtet Kirchen geworden, wie die echten Kirchen auf dem Gnaden- und Sündendogma beruhend und fassen nur die Zugehörigkeitsbedingungen formell oder tatsächlich strenger als die Kirchen. Als solche selbständige, staatsunabhängige und die Souveränetät des Religiösen gegenüber der profanen Welt gerade durch diese Trennung bekundende Kirchen, als Organisationen eines sehr gesteigerten Individualismus der persönlichen Ueberzeugung und der bewußten, planmäßigen ethischen Leistung, entwickeln sie von sich aus ein soziologisches Grundschema, das man als Ver­ knüpfung der Individuen in einem Gesamtgeiste bezeichnen kann, der nicht die Summe, sondern das Produkt der sich vereinigenden Einzelwillen ist, der nur durch ihre aktive Arbeit und nur in ihr 60*

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

besteht. Er nimmt jeden Einzelwillen von einer bestimmten Seite her in sein Wesen hinein, um ihn hierin von dem Gesamtgeist aus wieder rückwirkend zu bestimmen, nach anderen Seiten hin aber zu beliebiger andersartiger Vergesellschaftung freizulassen. Es ist kein barer Individualismus, aber auch kein die Individuen erst hervorbringender und in sich tragender Anstaltsgeist, son­ dern eine lebendige Wechselwirkung zwischen den zusammentreten­ den Individuen und dem aus dieser Vereinigung sich ergebenden Produkt. Nicht vererbte Gefühle und Stimmungen, fertige und durch eigene Wunderkraft sich erhaltende Grundgerüste des Le­ bens, zwischen eigener Anstrengung und vegetativer Zugehörig­ keit hin- und hergehende Gemütsrichtungen bestimmen die Ge­ meinschaftsidee, sondern der klar erkannte, methodisch verwirk­ lichte, jeden einzelnen beanspruchende und doch allen überge­ ordnete göttliche Zweck des Lebens, die heilige Gemeinde, die Bewährung der Gnade, die Bereitung für das Jenseits. Es ist eine eigentümliche Mischung von Kirchengeist und Sektengeist, wobei der letztere der stärkere ist. An den religiösen Gemein­ schaften vor allem betätigt, veranschaulicht und eingeübt über­ trägt sich dieser Geist auf das Ganze des Lebens als ein soziologi­ sches Grundschema, das ähnlich den Staat, die Kommunen und das ganze unendlich verzweigte Vereinsleben überhaupt bestimmt. Von da aus ergibt sich eine gewisse Wahlverwandtschaft mit Demokratie und Liberalismus, aber ohne die rationalistische Forde­ rung der Gleichheit und ohne den revolutionären Geist, wie er der Demokratie der lateinischen Völker eigentümlich ist. Viel­ mehr ist ein solcher Individualismus geradezu konservativ, indem er die sehr zarten Bedingungen des Gleichgewichts zwischen In­ dividuum und Gemeinschaft sorgfältig als Verfassung aufrecht er­ hält und sie möglichst unantastbar macht. Das sind Dinge, die jedem Beobachter amerikanischen Lebens auffallen und die auch den englischen Dissent charakterisieren. Man pflegt diese Eigen­ tümlichkeiten aus der angelsächsischen Rassennatur herzuleiten, während in Wahrheit diese Rassennatur in der Schule des Calvi­ nismus und der Sekte geschult und erwachsen ist 509). So ergibt sich aus der puritanischen und freikirchlichen Ent­ wickelung des Calvinismus einerseits, aus der Verbürgerlichung des 509) Vgl. die mehrfach angeführte Studie Max Webers über ,Kirche und Sekte in Nordamerika«; einiges auch bei Tocqueville und Bryce, The American Com­ monwealth 3 1903.

Verschmelzung von Sekte und Neucalvinismus.

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Täufertums und aus der Verkirchlichung der pietistischen Sekten andererseits jene G e s a m t g r u p p e d e s P r o t e s t a n t i s m u s , die bereits oben als »a s k e t i s c h e r P rot e s t a nt i s m u s« bezeichnet worden ist, im Unterschiede vom Luthertum und vom Katholizismus. Hier ist der Faden wieder aufzunehmen, den wir am Schluß des vorigen Abschnittes fallen lassen mußten. Das Luthertum hat, wie mehrfach ausgeführt, zwar die Berufserfüllung als Gottesdienst und Betätigung der Liebespflicht gelehrt, aber bei seiner Betonung der reinen Innerlichkeit der Religion, seiner Un­ sicherheit in der Normierung des sittlichen Handelns und seiner Ergebung in die vom Naturgesetz geschaffenen, oft höchst un­ christlichen Lebensbestimmungen und Mächte eine ihm aus eigenem Trieb erwachsene, zusammenhängende und systematisierte Gestal­ tung sozialer Dinge überhaupt nicht herbeigeführt. Es besitzt weder in der Theorie noch in der Lebensstimmung eine systematische Ethik. Es durchbricht den aus seiner Erbsündenlehre auch bei ihm folgenden Asketismus immer wieder durch das Ausruhen in der Seligkeit göttlicher Gnade, durch dankbares Genießen göttlicher Gaben in allem Guten und Schönen, und zieht sich, wo es bedenk­ lich wird gegen Welt und Sünde, wieder auf seine innere Recht­ fertigungs-Seligkeit zurück. Der Katholizismus andererseits schätzt gleichfalls den Kosmos des Berufssystems als das naturgesetzliche Mittel der natürlichen Existenz. Aber er gilt doch eben nur für die natürliche Existenz und ist somit bloß die Unterstufe der höheren übernatürlichen Sittlichkeit, die an die Forderungen des aktiven Lebens nicht mehr innerlich gebunden ist, sondern in dem komtemplativen Leben die höchsten Stufen der Uebernatur oder Gnade erreicht. Der asketische Protestantismus der Gruppen, die in der angegebenen Weise geschichtlich zusammengewachsen sind, behandelt dagegen den Beruf als Mittel der Bewährung und die eifrige Berufserfüllung als Erkenntniszeichen des Gnadenstan­ des. Er spannt dementsprechend die Berufsarbeit an zu einem zusammenhängenden System der Aufbietung und Konzentration aller Kräfte auf das Berufsziel, das dem einzelnen durch seine vorsehungsmäßige Stellung im beruflichen Kosmos zugewiesen ist. Die innere Lösung des Gefühls und des Genusses von allen Gegenständen der Arbeit, die rastlose Anspannung der Arbeit auf das im Jenseits liegende und darum bis zum Tode Arbeit fordernde Ziel, die Herabsetzung aller irdischen Dinge und Güter zu bloßen Zweckmäßigkeitsmitteln, die methodische Ausbildung

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

der Arbeit zur Unterdrückung aller zerstreuenden und träge machenden Triebe und die opferwillige Verwendung ihres Er­ trages für die religiöse Gemeinde und das öffentliche Wohl : das sind seine Grundsätze und Ideale, die im einzelnen verschieden begründet werden, die aber ein gleichartiges Gepräge tragen und auch in erheblichem Maße praktisch verwirklicht wurden und werden 510). 510) Hier mündet meine Darstellung endgültig ein in die bekannten Untersuchungen Max Webers über »Der Geist des Kapitalismus usw.« Webers Untersuchungen gehen von dem Bestreben aus, die Konstitution des modernen, gewerblich-bürgerlichen, vom antiken und spätmittelalterlichen unterschiedenen Kapitalismus aufzufinden. Als eines dieser Konstituentien hat sich ihm auf Grund praktischer Anschauung in Westfalen und am Niederrhein, in Schottland, England und Amerika der »asketische Protestantismus« dargestellt, dessen Wesen Weber in dieser wirtschaftsgeschichtlichen oder besser kulturgeschichtlichen Absicht untersucht. Meine Darstellung hat andere Ziele. Sie erstreckt sich nur auf die Klarstellung der protestantischen Sozialethik um ihrer selbst willen. Ich lasse also die weiteren Bezüge Webers beiseite. Seiner Darstellung des >asketischen Protestantismus« konnte ich in diesem Punkte genau folgen, weil sie sich mir bei jeder erneuten Durcharbeitung dieses Gegenstandes neu als glänzend scharfsinnige Beobachtung und Analyse bewährt hat. - Im übrigen aber gehen - was ich bei dieser Gelegenheit bemerken möchte - meine Unter­ suchungen nicht von denen Webers aus. Sie sind äußerlich veranlaßt durch den Auftrag, für das Archiv das Buch von Nathusius »Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage« anzuzeigen. Ich fand dabei, daß alle Voraussetzungen für die Lösung einer solchen Aufgabe in der Literatur fehlten, und machte mich daran, die G!undlagen mir selbst zu verschaffen, Daraus ist dieses Buch entstanden. In diese Arbeit mündeten aber dann alle Interessen meiner Forschung ein: sozio­ logisch-phänomenologische über Begriff und Wesen der Kirche, die sich mir aus Rothes bekannter Lehre ergaben (s, >Religion u. Kirche« Preuß. Jahrbb. 1895), die Geschichte der christl. Ethik betreffende (s. >Grundprobleme der christlichen Ethik« Z. f. Th. u. K. 1902) und vor allem Untersuchungen über die Bedeutung der Lex naturae (sie ziehen sich seit meinem >Melanchthon und Gerhard« durch eine ganze Reihe von Arbeiten hindurch). Schließlich ist das Buch zur Ausführung des Pro­ gramms geworden, das ich 1901 in meiner Anzeige von Seebergs >Lehrbuch der Dogmengesch.« Gött. Gel. Anzz. 1902 S. 21-30 entworfen habe. Webers Arbeit aber ist erst seit 1903 erschienen. Auf den Begriff des »asketischen Protestantismus« wäre ich allerdings ohne Weber nicht in größerer Klarheit gekommen, als dieser Be­ griff schon bei Schneckenburger und Ritschl vorbereitet ist. Man braucht übrigens die Werke dieser beiden hervorragend scharfsinnigen und kenntnisreichen Gelehrten nur genau zu studieren, um auf den Begriff geführt zu werden, Webers eigene, sehr bedeutende Entdeckung ist die Einstellung in den allgemeinen kultur- und wirt­ schaftsgeschichtlichen Zusammenhang, wobei übrigens auch die psychologische Fein-

Die Sexualethik des asketischen Protestantismus.

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Von diesen Grundsätzen aus verstehen sich dann auch die das außerreligiöse Gebiet betreffenden Soziallehren des aske­ tischen Protestantismus, wie von nun ab der Kürze wegen immer gesagt werden soll. Der Neucalvinismus, dessen Soziallehren aus diesem Grunde oben nicht für sich dargestellt wurden, ist hierbei mit einbegriffen 510a). Die S exu a l e t h i k ist natürlich strengste Familienethik. Vor­ und außerehelicher Geschlechtsverkehr sind verpönt. Das ist gemein­ christlich. Aber die Familienethik selbst ist hier doch eigentüm­ lich gedacht. Die Askese verlangt nämlich die Ausscheidung alles Erotischen und •Gefühlsmäßigen, das Katholizismus und Luther­ tum als die aus der Erbsünde folgende Wollust immerhin dulden zu müssen glaubten. Das Geschlechtsleben der Ehe war ihnen medicina libidinis. Hier aber wird es dem Zweckzusammenhang der zu Gottes Ehre dienenden Gemeinde fest eingegliedert. Das Geschlechtsleben soll nicht dem Genuß, sondern der wohlüber­ legten Kinderzeugung dienen. Es hat keinen Zweck in sich selbst, sondern dient der Fortpflanzung von Gesellschaft und Kirche. Die Kinderzeugung wiederum bedeutet die Pflicht zur Aufzucht von nützlichen Gliedern der Gesellschaft und frommen Gliedern der Gemeinde, setzt sich also unmittelbar fort in der Aufgabe einer zweckmäßigen Erziehung. Der Gedanke einer planmäßigen, nütz­ lich-realistischen Erziehung und entsprechender Schulen gehört den Sekten und dem Pietismus an. Das sehr individualistisch emp­ fundene Verhältnis der Geschlechter in der Ehe mildert den harten Patriarchalismus; die Frau wird insbesondere im Täufertum religiös und damit auch sozial verselbständigt. Die Sekten kennen ge­ legentlich, wie die Mystiker, weibliche Prediger und Stundenleiter. In den reformierten Prophecyings und Konventikeln Voets durften Frauen mitreden. In der Gemeinde Labadies spielten Frauen, allen voran die berühmte Anna von Schürmann, eine entscheidende und selbständige Rolle. Die bekannte Stellung der Frau in Amerika hängt unter anderem auch mit ihrer religiösen Position zusammen. Es ist nur natürlich , daß bei dem ganzen Streben nach gehal­ tener , fester und bewußter Lebenserfassung auch die Stellung der Kinder zu den Eltern selbständiger wird. Kinderschulen heit seiner dogmatisch-ethischen Analysen nicht übersehen sein soll. Sie stützt sich auf eindringende Studien von Baxter, Spener, Bailey, Sedgwick, Hoornbeck und die Works of the puritan Divines, London 1845-48. 610 a) S. oben S. 794.

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III. Protestantismus. 4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

und Kindergruppen mit der Entwicklung eines selbstän­ digen Korpsgeistes und einer selbständigen Verantwortung be­ zeichnen das Erziehungsideal dieser Gemeinschaften ; in dieser Richtung bewegt sich auch die kirchliche Sonntagsschule, die Christian Young Man Association und Aehnliches, Die durch die demokratischen Lebensgewohnheiten verstärkte Wirkung dieser Erziehung ist etwas vom Auffallendsten , was der Europäer in Amerika wahrnimmt 511). 011) S. Weber, Archiv XXI S. 79 f. »A sober procreation of childrenc ist der Zweck nach Baxter, ähnlich Spener, indessen mit Konzessionen an die grobe lutherische Ansicht . , . Nach der Auffassung mancher pietistischer Richtungen ist die höchste Form der christlichen Ehen diejenige mit Bewahrung der Virginität ; die nächstschärfste diejenige, in welcher der Geschlechtsverkehr ausschließlich der Kinderzeugung dient, und so fort bis zu denen, die aus rein erotischen oder rein äußeren Gründen geschlossen wurden und ethisch betrachtet als Konkubinate gelten. Dabei wird in diesen unteren Stufen die aus rein äußerlichen Gründen geschlossene Ehe (weil immerhin rationaler Erwägung entspringend) der erotisch bedingten vor­ gezogen. Die Herrnhuter Theorie und Praxis mag hier außer Betracht bleiben.« So begründet Whitefield einen Heiratsantrag : »I bless God, if I know anything of my own heart, I am free from that foolish passion which the world calls love . . . I trust I love you only for God and desire to be joined to you only by His commands and fur his sake« Lecky II 589. Weiterhin Weber S. 79 f.: • Wie bei jener rationalen Deutung der geschlechtlichen Beziehungen bei den puritanisch be­ einflußten Völkern schließlich doch jene Verfeinerung und geistig ethische Durch­ dringung der ehelichen Beziehungen und die feinen Blüten ehelicher Ritterlichkeit erwachsen sind, - im Gegensatz zu jenem bäurisch-patriarchalen Brodem, der bei uns bis in die Kreise der ,Geistesaristokratie' noch in oft sehr fühlbaren Rück­ ständen vorhanden ist - das bleibt hier außer Erörterung ; der Schutz der Ge­ wissensfreiheit der Frau und die Ausdehnung des Gedankens des ,allgemeinen Priestertums' auf sie waren auch hier die ersten Breschen in den Patriarchalismus.« W. Köhler verzeichnet im Th. JB. 19u eine Abhandlung von Ellen A. Mc. Arthur, Woman petitions to the Long Parliament, in Ecclesiastical History Review 24, S. 698-709; dazu bemerkt er: • Warum dieses Auftreten der Frauen gerade jetzt am Vorabend der Puritanerherrschaft und des Quäkertums? Aus welchen Kreisen stammen sie, welches sind ihre Motive ? Man hört doch deutlich den calvinisti­ schen Einschlag.« Das Parlament antwortet allerdings: »Good women, we entreat you to repaire to your houses and turne your petitions into prayers at home for us. « Ueber die Gründe der Stellung der Frau in Amerika s. Bryce II 742: •The cause is the usage of the Congregationalist, Presbyterian and Baptist Churches, under which a woman who is the member of the congregation has the same rights in choosing a deacon, eitler , or pastor, as a man has.« - Zu der oft betonten Neigung des asketischen Protestantismus zu einer breiten Volksbildung, aber ohne Philosophie und akademische Theologie , dagegen mit biblischer und

Politische Ethik,

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Die p o l i t i s c h e Ethik betrachtet den Staat gleichfalls vom rein utilitarischen Gesichtspunkt aus. Hierin ging schon das cal­ vinistische Naturrecht voran, das die Sekten und Freikirchen fort­ setzen. Der Staat hat sein Existenzrecht nur als Mittel der Ord­ nung und Zucht, als Voraussetzung der Gesellschaft. Die rein politische Auffassung des Staates als eines ethischen Selbstzweckes, die der Antike selbstverständlich war und die in der modernen Welt sich vielfach erneuert hat, liegt gänzlich außerhalb des Hori­ zontes. Eine solche wesentlich utilitarische und wesentlich so­ ziale, unpolitische Auffassung des Staates ist nun freilich, wie früher mehrfach gezeigt, ebenfalls gemein-christlich. Sie ist die natürliche Folge der Verlegung aller wahrhaften Lebenswerte in das religiöse Gebiet, wobei dann für die übrigen Lebenswerte günstigen Falls nur die Bedeutung eines Mittels zum Zweck übrig bleibt. Allein der asketische Protestantismus geht hier auf Grund des rationalistischen Naturrechts, das er ebenso wie die puritani­ sche Moral instinktiv vom Calvinismus herübernimmt, viel weiter als Luthertum und Katholizismus. Für den Katholizismus ist der Staat ein Stück der Naturstufe, über welcher die gegen den Staat völlig gleichgültige Oberstufe der Gnade sich erhebt; daher wird hier der Staat bald als Mittel gebraucht und verherrlicht, bald als Stoff und Voraussetzung geformt und zurechtgewiesen, bald ganz außer Kraft gesetzt und der Weltorganisation der Kirche zu Füßen gelegt. Im Luthertum ist er auch ein Stück der na­ türlichen Ordnung, aber als solches eine notwendige Form der Betätigung der christlichen Liebe und Gesinnung; aber indem er doch wesentlich ein Erzeugnis der die Sünde strafenden und heilenden natürlichen Vernunftentwickelung ist und als solcher von Gott geleitet ist, gewinnt er, ob dem christlichen Lebenzweck nützlich oder schädlich, doch die übernatürliche Würde einer un­ mittelbar von Gott eingesetzten Gewalt, die vor allem ertragen technisch-realistischer Bildung , s. auch das Schulprogramm Dells bei Sippell 63-7 I , dessen Aehnlichkeit mit dem der Quäker und Pietisten auch Sippell hervorhebt, Er will strenge Zucht der Jugend , allgemeine Volksschule , mög­ lichst viele Hochschulen, aber keine scholastischen, theologisch-philosophischen und privilegierten Universitäten: »Besonders müssen die mathematischen Wissenschaften auf den Universitäten hoch in Ehren gehalten werden, wie Arithmetik, Geometrie, Geographie und dergleichen, welche nichts Böses mit sich führen und außerdem sehr nützlich sind für die menschliche Gesellschaft und die Angelegenheiten dieses gegenwärtigen Lebens,
The state is not to them, as to Germans or Frenchmen, and even to some English thinkers, an ideal moral power, charged with the duty of forming the characters and guiding the lives of its subjects. lt is more like a commercial company, or perhaps a huge municipality created for the management of certain business, in which all who reside within its bounds are interested. That an organisation of this kind should trouble itself, otherwise than as matter of police, with the opinions or conduct of its members, would be as innatural as for a rail­ way company to inquire how many of the shareholders were total abstainers. c Vgl. auch Veit >Englische und deutsche Frömmigkeit« ChW 1906.

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

den Größe. Der Besitzer ist »Rentmeister« Gottes und verwaltet eine anvertraute Gottesgabe. Eine solche Ethik stellte dem begin­ nenden modernen bürgerlichen Kapitalismus, der sich gerade durch diese Züge von dem antiken und spätmittelalterlichen Kapitalismus unterscheidet und neben dem die andern immerdar vorhandenen Arten des Kapitalismus selbstverständlich nicht zu übersehen sind, energische und mutige Unternehmer sowie Arbeitswillige und der Ausbeutung sich fügende Arbeitnehmer zur Verfügung. Sein be­ sonderes christliches Gep�äge aber behält dieser Kapitalismus durch die Verpönung der Genußsucht und der Selbstverherrlichung, die sich im Dienst der Vorsehung wissende Pflichttreue der Arbeit, die strenge Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, die humane Verpflich­ tung der Fürsorge für den Arbeitnehmer und der Pietät gegen die Arbeitgeber, die ausgedehnte karitative Verwendung des Be­ sitzes. Das System der festen Preise, die Standardisierung fester Qualitätsgruppen, der Aufbau des Geschäftes auf strengste forma­ listische Ehrlichkeit, der Grundsatz »honesty is the best policy«; all das hat hier seine Ausgangspunkte. Es ist ein geistig-mora­ lischer Gegensatz gegen das System der zünftlerischen Regulierung und gegen das des übervorteilenden Handelns von Fall zu Fall, ein Aufbau des Geschäftslebens auf die Kalkulation des Individuums gegenüber einem abstrakten Abnehmerkreis und auf die hierfür unentbehrliche Korrektheit und Ehrlichkeit der Angaben und Liefe­ rungen. Die Inschrift der Bremer Börse, daß der Kaufmann der ehr­ lichste Mann sei, ist von hier aus zu verstehen. Die Berechtigung des Wirtschaftslebens ist seine Zweckmäßigkeit für die Gemein­ schaft, und in diesem Sinne kann es als Segen gelten, während an sich die völlige innere Unabhängigkeit des Gemütes vom Besitz das Ideal ist. Daher kann man auch fortfahren gerade die Armut zu preisen. Sie bewahrt vor den Gefahren des Reichtums, wie umgekehrt der letztere, christlich verwendet, die Gemeinde vor Elend bewahrt. So ist auch hier kein Gedanke von Gleichheit. Das verhindert der ganze V orsehungsgedanke und vor allem der Prädestinationsgedanke, wo er lebendig geblieben ist. Es ist immer ein von Gott geleiteter Kosmos, in dessen Wechselwir­ kung, Arbeitsteilung und Anlageverschiedenheit das christliche Ethos erst sich auswirkt. Wie Calvinismus und Sekten sich be­ gegnen in der Herausbildung der Freiwilligkeitskirche und in der Lösung des Verhältnisses zum Staate, so begegnen sie sich auch in der die Wirtschaftsethik des asketischen Protestantismus bestim-

Wirtschaftsethik.

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menden Fassung der innerweltlichen Askese ; der Calvinismus, in­ dem er aus seiner ursprünglich größeren Freiheit unter dem Zwang des Bewährungsgedankens die methodische Arbeitsaskese erzeugt, die leidende Sekte, indem sie ihren Weltgegensatz aufgibt und ihre weltabgewandte Askese mit der protestantischen Berufsmoral ver­ schmilzt. Zudem begegnen sich beide in dem gemeinsamen Schick­ sal, daß sie, auf Grund ihrer Staatsfreiheit und Nonkonformität von den staatlichen Aemtern und Ehren und damit von den seigneuralen Klassen abgedrängt, den Mittelklassen des Bürgertums zugewiesen werden. Dadurch befestigt sich dieser bürgerlich-kapitalistische Cha­ rakter noch mehr. Die Landwirtschaft ist nicht ausgeschlossen, doch ist sie an diesen Schichten nur mit den Farmen und den bürger­ lich-kaufmännischen Verwertungen des Landbesitzes, aber nicht mit dem feudalen Grundbesitzertum beteiligt. Damit ergeben sich die Unterschiede gegen die früher geschilderte prinzipiell traditio­ nalistische Wirtschaftsethik des Katholizismus von selbst, welche Arbeit und Besitz nur der natürlichen Unterstufe zuweist und auch hier die Motive des Erwerbs nicht unmittelbar in die religiöse Ethik hineinzieht, sondern im Erwerb nur ein Mittel standes­ gemäßer Existenz und, soweit entbehrlich, der Karität sieht; die eigentlic;hste Karität wird hier gerade von den Besitzlosen, außer­ halb der Weltarbeit Stehenden geleistet. Ebenso sind gegen­ über dem Luthertum die Unterschiede deutlich. Es nimmt zwar den Erwerbsberuf auf in den Berufsdienst der Liebe am Nächsten, bevorzugt aber hier die mit einer feststehenden agrarisch-hand­ werkerlich-amtlichen Gliederung der y-esellschaft gegebenen Be­ rufe und ist gerade gegen den Kapitalismus und die Arbeit der kalkulierenden Erwerbssteigerung höchst mißtrauisch und ab­ lehnend. Aber auch gegenüber dem primitiven Calvinismus, der mit seinem staatskirchlichen Horizont auf die Gesamtheit der Er­ werbe mit gleichem Interesse gerichtet war, die Arbeitsaskese nicht entfernt in diesem Maße ausgebildet hatte und überhaupt nicht den kleinbürgerlichen Horizont besaß, ist das etwas Neues. Es ist die Wirkung der Askese, in der der puritanisch sich ver­ gesetzlichende und methodisierende Calvinismus mit den der Welt sich relativ öffnenden Sekten zusammentraf, und zugleich die Folge der sozialen und politischen Situation, in der beide sich der offi­ ziellen Welt gegenüber befanden 512). 512) Ich gebe hier den die kapitalistischen Bezüge des Calvinismus und der Sekten betreffenden Gedankengang Webers wieder, nachdem ich ihn oben bereits

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden,

Ueberblickt man dies alles mit einem Blick, so stellt sich die christliche Sozialphilosophie des puritanischen Calvinismus, des Pietismus und der Sekten, teilweise sogar auch der mystischen Gruppen, als eine große Einheit dar, die an historischer Be­ deutung nur mit der Sozialphilosophie des Mittelalters verglichen angedeutet habe. Es ist erst hier der Ort, ihn in seinem vollen Umfang einzu­ fügen, weil es nicht sowohl auf den Calvinismus als auf den puritanisch-pietistisch­ asketischen Calvinismus und den Zusammenschluß der Sekten mit ihm in dieser Hinsicht ankommt. Das hat Rachfahl nicht beachtet, obwohl es Weber stark genug betont hat und seine Arbeit geradezu sämtliche Sekten umfaßt. - Ein Beispiel für die Sache rein von der letzteren Seite her ist die Schilderung des Quäkertums bei Weingarten 397-405. Der charakteristische Ausdruck von den ,Rentmeistern Gottes• finden sich bei Heppe 188, hier auch Lodensteyns Betrachtung über >Die Darbringung der zeitlichen Güter eines Christen an ihren Eigentümer•. In der Form eines Gespräches mit Gott läßt er in dieser Meditation den Christen in aller Form den Akt der Uebergabe all seiner Güter an Gott, dessen Rentmeister er sein will, vollziehen. - Alles weitere sehe man bei Weber nach, außerdem s. die teilweise vorausgreifenden Mitteilungen oben S. 709-723. Ich glaube nur durch meine Darstellung der Sekten und besonders durch die Abgrenzung der Mystik gegen den Sektentypus Webers Auffassung noch im Einzelnen deutlicher, auch durch den Aufweis der sektenhaften Elemente im Urcalvinismus die Verschmel­ zung des Die Aufgabe ist , ,, die Bedeutung des asketischen Rationalismus (d. i, des asketischen Protestantismus mit seinem utilitarischen und die Arbeit syste­ matisierenden Charakter) nun auch für den Inhalt der s o z i a 1 - ökonomischen Ethik, also für die Art der Organisation und das Funktionieren der sozialen Gemeinschaften vom Konventikel bis zum Staate aufzuzeigen. Alsdann muß seine Beziehung zu dem humanistischen Rationalismus und dessen Lebensidealen und Kultureinflüssen, ferner zur Entwickelung des philosophischen und wissenschaftlichen Empirismus, zu der tech­ nischen Entwickelung und zu den geistigen Kulturgütern analysiert werden. Dann end­ lich ist sein geschichtliches Werden von den mittelalterlichen Ansätzen einer inner­ weltlichen Askese aus und seine Auflösung in den reinen Utilitarismus h i s t o r i s c h und durch die einzelnen Verbreitungsgebiete der asketischen Religiosität hindurch zu verfolgen. Daraus erst kann sich die Kulturbedeutung des asketischen Prote­ stantismus im Verhältnis zu anderen plastischen Elementen der modernen Kultur ergeben.< Das Programm ist sehr schwer durchzuführen, so lange nicht die Ge­ schichte des Humanismus, der humanistischen Bildung und der sie tragenden Stände , sowie die Geschichte der modernen Philosophie in ihren sozialen Be­ zügen aufgehellt ist, Daran fehlt es in den Spezialwerken bis jetzt noch ebenso wie in den kirchengeschichtlichen. Auch die Geschichte der Technik, die keines­ wegs mit der der Naturwissenschaften zusammenfällt, müßte erst klargestellt sein. 0

Verhältnis zur allgemeinen kulturgeschichtlichen Entwickelun�.

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kirchenideal übergehender Kirchenbegriff, seine demokratische Ge­ staltung der Einzelgemeinde und des Aufbaus der Kirchenverfas­ sung, sein autonomer, in Gottes Wille und Erlösungstat gefestigter Individualismus, seine planmäßige und sachliche Arbeitsamkeit haben eine der Unterlagen gebildet für die ungeheuren Umformungen der modernen Gesellschaft, die in katholische und lutherische Gebiete erst von außen her hereingetragen worden ist, die aber anderer­ seits doch auch durch die wirtschaftlichen, politischen und tech­ nischen Neubedingungen der modernen Welt allein nicht geschaffen worden wäre. Das darf als ein Ergebnis unserer Untersuchung be­ zeichnet werden. Die Verrechnung der einzelnen Bildkräfte der modernen Gesellschaft gegeneinander ist hier nicht zu vollziehen. Genug, daß dem asketischen Protestantismus ein sehr erheblicher Anteil zukommt. Man kann natürlich auch hier die Frage umdrehen, ob diese Leistung dem asketischen Protestantismus nicht erst durch die Anpassung an die Umwelt des fortgeschrittenen Westeuropa möglich geworden oder aufgedrungen sei. Auch das ist in unserer Untersuchung vielfach erörtert worden. Schon die Genfer Umwelt enthielt solche Richtung gebende Antriebe ; der französische, nieder­ ländische und englische Boden unzweifelhaft noch mehr. Auch die Abdrängung seiner Angehörigen von der offiziellen Welt in vielen Ländern hat seine Physiognomie mit bestimmt. Allein im ganzen wird man bei den übereinstimmenden Entwickelungen in so vielen ganz Das Programm Webers ist also m. E. noch nicht ausführbar. Aber es ist äußerst anregend, wie übrigens auch ähnliche Andeutungen Plenges a. a. O. - Insbesondere ist ein solches Programm der Kulturgeschichte lehrreich durch seinen Unterschied gegen­ über Lamprecht, der ein ähnliches wissenschaftliches Erkenntnisziel mit ganz anderen Methoden erstrebt. Lamprechts Methoden beruhen auf >psychologischen« Gesetzen, die ihm die Anordnung der Tatsachen in bestimmten Reihen von vornherein ermöglichen und vorschreiben, während meine Methode wesentlich auf die Analyse des konkreten individuellen Zusammenhangs gerichtet ist in Bezug auf seinen Inhalt und seine nur mit diesem besonderen Bestand gegebenen besonderen kausalen Bezüge. In­ s0fern möchte ich mit dieser Arbeit auch meinen Gegensatz gegen die Lamprecht­ sche Methode erleuchtet haben, wo ein höchst wertvolles Erkenntnisziel mit unmög­ lichen Mitteln zu erreichen versucht wird. - Völlig zustimmen kann ich den metho­ dischen Betrachtungen über den Zusammenhang von Geschichte des Christentums und Kulturgeschichte, die Harnack in dem Vortrag ,Ueber das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte«, Aus Wissenschaft und Leben II 41-62, entwickelt hat. Ich glaube nur in dieser Arbeit gezeigt zu haben, daß die religiöse Entwickelung eine festere und eigenständigere Haltung zeigt, insbesondere im Ver­ hältnis zu den politischen Verfassungsentwickelungen, als Hamack annimmt. 61*

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III. Protestantismus.

4. Sektentypus und Mystik auf protestantischem Boden.

verschiedenen Kulturzusammenhängen und auf manchmal so wenig günstigem Boden hier von der führenden Bedeutung der religiös­ ethischen Idee sprechen dürfen, die ja von Hause aus eine starke Anpassung an die praktischen und durchschnittlichen Bedürfnisse in sich trug 515 •). Heute ist aus dem, was sie wesentlich mitgeschaf­ fen hat, freilich ihr Geist großenteils entwichen. Die von ihr mit geformten Schöpfungen sind in andere Hände übergegangen und werden von diesen ihren Zwecken gemäß gestaltet. Insbesondere gilt dies von den Umwandelungen der Ergebnisse der englischen puritanischen Revolution durch die französische Revolution und ihre geistig-literarischen Triebkräfte. Allein gegen diese von den lateinischen und katholischen Völkern geschaffene und die Welt überallhin überflutende rationalistische und abstrakte Aufklärung kämpft bis heute überall die in der Schule des asketischen Pro­ testantismus gebildete Auffassung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Zwecke. Sie ist vor allem im Angelsachsentum verkör­ pert. Soweit der gesellschaftliche Kampf der Gegenwart ein geis­ tiger und prinzipieller ist, dreht er sich vor allem um diesen Gegen­ satz zwischen angelsächsisch-calvinistischer Korporationsidee und französisch-rationalistischer Demokratie; der katholische und der lutherische Patriarchalismus sind in den Hintergrund getreten. Die Gruppenunterschiede des Protestantismus verringern sich zu­ sehends in diesem Gegensatze. Calvinismus und Sektentum haben sich gefunden. Aber auch das Luthertum wird langsam in diesen Aufmarsch der protestantischen Soziallehren hineingezogen und vom asketischen Protestantismus beeinflußt. Es wird das noch mehr geschehen, wenn einmal, wie sicher zu erwarten, seine Staatsstützen zerbrochen sind. Das protestantische Kirchentum, das als Reform des Katholi­ zismus begonnen und sich als neue Einheits- und Zwangskultur des Christentums ausgebildet hatte, wurde in steigendem Maße zu einer Ablösung seiner Soziallehren von diesen kirchlich-universalen Anfangsbildungen geführt. Das erste große Gebilde in diesem Ablösungsprozeß ist der asketische Protestantismus. Er hat die Hauptmasse protestantischer Kultur begründet und durchgesetzt. Aber auch er ist im Verblassen begriffen, und damit steht der Prote­ stantismus vor neuen Aufgaben sowohl seiner eigenen soziologi­ schen Selbstgestaltung als seiner sämtlichen Kulturbeziehungen. 5l5 •) S. oben S. 690.

Schluß.

Die gegenwärtige Lage.

SC h l U ß.

Die Darstellung ist am Ende. Sie konnte in erschöpfender Breite nur bis zum I 8. Jahrhundert geführt werden. Die von da aus bis auf die Gegenwart sich erstreckenden Entwickelungen konnten nur angedeutet werden. Wie die ganze Kirchengeschichte mit jenem Jahrhundert unter neue Bedingungen tritt und infolge der Auflösung der staatskirchlichen Lebenseinheit wie der Verselb­ ständigung des modernen Denkens seitdem überhaupt keinen einheit­ lich geschlossenen Gegenstand mehr vor sich hat, so unterliegt auch die Sozialphilosophie der christlichen Gruppen einer unüber­ sehbaren Zerteilung und einer immer wechselnden Abhängigkeit. Der Boden, auf dem sie sich bewegen, ist ein neuer geworden, der Boden der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der bureaukratischen Militärstaaten. Das Verhältnis von Staat und Religion ist gelockert oder gar aufgehoben. Die Sozial­ theorie ist aus ihrer lediglich mit der Antike, der Bibel und der Theologie arbeitenden Kindlichkeit zu einer selbständigen Wissen­ schaft herangereift, die die Beziehungen von Boden und Bevöl­ kerung, das Verhältnis des wirtschaftlichen Unterbaus und des geistigen Ueberbaus, die soziologischen Gesetze und Verhältnisse aller Gemeinschaftsbildung völlig neu untersucht und die Sozial­ philosophie der Kirchen weit überholt hat. Vor allem haben die moderne Bourgeoisie, das Naturrecht, die Emanzipation des vierten Standes, schließlich der wissenschaftliche Rationalismus ein neues soziologisches Grundschema des rationalistischen Individualismus geschaffen, das mit den älteren Ideen des christlichen Individualis­ mus zwar zusammenhängt, aber durch den optimistischen und egali­ tären Geist ihm wiederum scharf gegenübersteht. Die Gegenschläge, die gegen diesen atomistischen und auch im Kommunismus und Sozialismus noch wesentlich individualistisch denkenden demokra­ tischen Geist sich erhoben haben, sind nur teilweise von der kirch­ lichen Sozialphilosophie bestimmt, zum andern Teil aber vom na­ turwissenschaftlich-biologischen oder vom platonisch-organischen. Geiste ; beide bedeuten einen scharfen Gegensatz gegen die Grund­ gedanken der christlichen Sozialphilosophie. Die wirklichen prak­ tischen Einschränkungen des modernen Individualismus, die Still­ stellung des vom bürgerlichen Individualismus für ein paar Jahr­ hunderte entfesselten und über die Erde sich ergießenden Kon­ kurrenzkampfes scheint überdies ein Werk rein wirtschaftlicher und

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Schluß.

politischer Machtverhältnisse werden zu sollen, wo die Verteilung der Absatz- und Einflußsphären der Produktion sichere Kontingen­ tierungen bringt und init dieser Festlegung auch die Beweglich­ keit der Bevölkerung wie die Produktion der Nachkommenschaft in feste Grenzen eingeengt werden wird. Der radikale Individua­ lismus wird vermutlich bald ein Zwischenakt sein zwischen einer alten und einer neuen Kultur der Gebundenheit. Er ist die Zer­ legung eines abgerissenen Hauses in seine einzelnen Steine, aus denen dann wieder ein neues aufgebaut wird. Wie das neue Haus aussehen wird und welche Möglichkeiten es der Entfaltung der christlichen Ethik und der christlichen Sozialphilosophie bringen wird, weiß heute noch niemand. Sie wird sowohl mit ihrem Ge­ meinsinn wie mit ihrem metaphysischen Individualismus an ihm bauen. Aber sie wird sich mit anderen Bauherren zu teilen haben und gleich diesen an die Besonderheiten des Bodens und Mate­ rials gebunden sein. Unter diesen Umständen ist eine Schilderung der gegen­ wärtigen Lage und eine Ableitung von Grundsätzen für die Zu­ kunft aus ihr untunlich. Wollte man sich aber auf die bloße Darstellung der verschiedenen gegenwärtigen christlichen Bestrebungen, Pro­ gramme und Gruppenbildungen beschränken, so wäre auch das bei der Verwickeltheit der ganzen Lage die Aufgabe eines eigenen Werkes. So bleibt zum Abschluß der bisherigen Darstellung nur übrig, ihre Ergebnisse ohne näheres Eingehen auf diese beson­ deren Gegenwartsfragen in einigen kurzen allgemeinen Sätzen zu formulieren. Unsere Untersuchung ging aus von den sozialethi­ schen Aufgaben und Möglichkeiten des Christentums in der Gegen­ wart. Sie ging dann zurück auf die Scheidung der sozialen Selbst­ gestaltung der religiösen Idee von ihren Beziehungen auf die profanen sozialen Bildungen. Sie entdeckte, daß diese Beziehungen sich sehr verschieden gestalten je nach der besonderen Fassung der christlichen Idee und der dieser Fassung entsprechenden or­ ganisatorischen Selbstgestaltung. So verfolgte sie die verschiedenen Kirchen- und Grqppenbildungen und die ihnen jedesmal ent­ sprechende Sozialethik. Sie stieß schließlich auf die Bedingtheit all dieser Bildungen durch die allgemeinen Kulturverhältnisse und mußte überall die Frage nach dem jeweils vorliegenden wechselseitigen Beeinflußungsverhältnis aufwerfen. So kommt es, daß die Ergebnisse sich über die gesamte Auffassung von Wesen und Geschichte des Christentums überhaupt erstrecken.

1. Die drei Typen der Gemeinschaftsbildung.

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Es sind folgende: I. Es ist klar geworden, wie wenig eindeutig bestimmt das Evangelium und das Urchristentum in der Gestaltung der reli­ giösen Gemeinschaft selbst war. Das Evangelium Jesu war freie personalistische Religiosität mit dem Drang nach innerstem Ver­ stehen und Verbinden der Seelen, aber ohne jede Richtung auf kultische Organisation, auf Schaffung einer Religionsgemeinschaft. Erst in dem Glauben an Jesus, in der Erhöhung des Aufer­ standenen zu dem Kultmittelpunkt einer neuen Gemeinde trat die Notwendigkeit hierzu ein. Dabei zeigten sich von Anfang an die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik. Die Kirche ist die mit dem Ergebnis des Erlösungswerkes ausgestattete Heils- und Gnadenanstalt, die Massen aufnehmen und der Welt sich anpassen kann, weil sie von der subjektiven Heiligkeit um des objektiven Gnaden- und Erlösungsschatzes willen bis zu einem gewissen Grade absehen kann. Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Widergeborene zusammen­ treten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebens­ ordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in der Erwartung des kommenden Gottesreiches. Die Mystik ist die Ver­ innerlichung und Unmittelbarmachung der in Kult und Lehre ver­ festigten Ideenwelt zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbe­ sitz, wobei nur fließende und ganz persönlich bedingte Gruppenbil­ dungen sich sammeln können, im übrigen Kultus, Dogma und Ge­ schichtsbeziehung zur Verflüssigung neigen. Diese drei Formen sind schon in den Anfängen vorgebildet und treten bis heute auf jedem Konfessionsgebiet nebeneinander auf mit allerhand Ver­ schlingungen und Uebergängen untereinander. Zu einer großen Massenwirkung sind nur die Kirchen befähigt. Die Sekten nähern im Fall der Massenausbreitung sich den Kirchen an. Die Mystik hat Wahlverwandtschaft zur Autonomie der Wissenschaft und bil­ det das Asyl für die Religiosität wissenschaftlich gebildeter Schich­ ten ; in wissenschaftlich unberührten Schichten wird sie zum Or­ giasmus und zur gefühlsmäßigen Devotion, mit alledem eine gern gepflegte Ergänzung von Kirchen und Sekten. 2. Es erhellt die Abhängigkeit der ganzen christlichen Vor­ stellungswelt und des Dogmas von den soziologischen Grundbe-

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Schluß.

dingungen, von der jeweiligen Gemeinschaftsidee. Das einzige beson­ dere christliche Ur-Dogma, das Dogma von der Göttlichkeit des Chri­ stus, entsprang erst aus dem Christuskult und dieser wiederum aus der Notwendigkeit der Zusammenscharung der Gemeinde des neuen Geistes. Der Christuskult ist der Organisationspunkt einer christ­ lichen Gemeinschaft und der Schöpfer des christlichen Dogmas. Da der Kultgott der Christen, nicht wie ein anderer Mysteriengott polytheistisch zu verstehen ist , sondern die erlösende Offen­ barung des monotheistischen Gottes der Propheten darstellt, so wird aus dem Christusdogma das Trinitätsdogma. Alle philo­ sophischen und mythologischen Entlehnungen sind nur Mittel für diesen aus der inneren Notwendigkeit der christlichen Kultgemein­ schaft sich bildenden Gedanken. Dieses Christusdogma gewinnt nun aber auf dem Boden der Kirche, der Sekte und der Mystik eine sehr verschiedene Bedeutung. Der Christus der Kirche ist der Erlöser, der in seinem Heilswerk die Erlösung und Begna­ digung ein für allemal vollbracht hat und, durch Amt, Wort und Sakramente in der Kirche wunderbar wirkend, sein Heilswerk den einzelnen zueignet. Der Christus der Sekte ist der Herr, das Vorbild und der Gesetzgeber von göttlicher Würde und Autorität, der seine Gemeinde in der irdischen Pilgerschaft durch Schmach und Elend gehen läßt, aber die eigentliche Erlösung bei seiner Wiederkunft und der Aufrichtung des Gottesreiches vollziehen wird. Der Christus der Mystik ist ein innerlich geistiges, in jeder Erregung frommen Gefühls, jeder Wirkung des Samens und Funkens gegenwärtiges Prinzip, das in dem geschichtlichen Christus göttlich verkörpert war, aber nur in innerer Geisteswirkung er­ kannt und bejaht werden kann und das daher mit dem göttlichen verborgenen Lebensgrunde des Menschen überhaupt zusammen­ fällt. Wie mit dem Ur-Dogma, so geht es auch mit allen anderen. Wie das Christusdogma die ursprüngliche Jesus-Verkündigung vom Gottesreich in sich aufgezehrt hat, so ist mit den Wandelungen des Christusdogmas auf den verschiedenen Gebieten auch das Schicksal dieses zweiten christlichen Hauptgedankens bestimmt. Die Kirche ist das Christusreich und daher mit dem Gottesreich in der Welt identisch oder doch das Mittel seiner beständigen Erzeugung. In der Sekte bleibt Jesus der Verkündiger und Bringer des kommen­ den Gottesreiches und sie neigt zum Chiliasmus. In der Mystik ist die Christusherrschaft die Herrschaft des göttlichen Geistes und daher ist hier das Gottesreich lediglich inwendig in uns. Ganz analog

2, Die soziologische Bedingtheit des Dogmas und der Theologie.

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steht es mit dem Erlösungsgedanken. Für die Kirche ist das Errosungswerk fertig im Sühnetod des Christus ; es stattet die Kirche mit der Kraft der Sündenvergebung und Heiligung aus. Für die Sekte liegt die eigentliche Erlösung in der Wiederkunft Christi und der Aufrichtung des Reiches, wofür alles andere nur Vorbereitung war. Für die Mystik ist die Erlösung der immer neu sich wiederholende Vorgang der Einswerdung der Seele mit Gott, wofür Christus nur Anreger und Symbol ist. Die verschie­ denen Typen mischen und verbinden sich in Wirklichkeit natürlich ebenso wie die Typen der christlichen Gemeinschaftsidee. Aber von dieser Abstraktion aus versteht man doch die Dogmengeschichte sehr viel klarer und einfacher, als das bisher der Fall war. Sie ist weder eine immanente Entwickelung der christlichen Gottesidee, noch ein Amalgam antiker Mysterienmythologie und spekula­ tiver Philosophie, noch eine Anhäufung kirchlicher Lehrbestim­ mungen, noch ein unmittelbarer Ausdruck der jeweiligen christ­ lichen Lebensstimmung. Die religiöse Lehre ist der Ausdruck der zunächst im Kultus sich sammelnden und ausströmenden religiösen Lebendigkeit und die Ausbildung des Gedankens, soweit Gedanken überhaupt zu diesem Zwecke nötig waren. Alles Philosophische und rein Dogmatische ist sekundär. Die hinter dem Kultus und der jeweiligen Gemeinschaftsidee liegende instinktive Fassung der Gottesidee selbst hat man sich dialektisch klar zu machen nie das Bedürfnis empfunden. Man hat nur die Einzelheiten verkettet und systematisiert. Die eigentlich religiöse Grundidee selbst liegt im Unbewußten und hier wiederum eingebettet in die instinktiv damit gegebene Gemeinschafts- und Kultusidee. Daß einzelne Denker in die Tiefen dringen und theologisch und reli­ gionsphilosophisch sich in die christliche Gotteserkenntnis hinein­ bohren, ist dabei nur selbstverständlich; aber solange sie an irgendwelche Gemeinschaft gebunden bleiben, kehrt auch bei ihnen diese Bedingtheit durch den soziologischen Charakter des ihnen vorschwebenden Gemeinschaftsgedankens wieder. Umgekehrt bringt eine wesentliche dogmatische Kritik auch eine Verschiebung in der soziologischen Grundempfindung mit sich. Das bedeutet dann aber auch einen erleuchtenden Aufschluß über Wesen und Schicksal der Theologie, der wissenschaftlichen Bearbeitung der christlichen Vorstellungswelt. Die Theologie des Katholizismus, der durch und durch kultisch und sakramental bedingten Ent­ wickelung der christlichen Ideenwelt, ist die formelhafte Fixie-

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Schluß.

rung und die Einstellung des depositum fidei der Erlösungsan­ stalt in den Rahmen der spätantiken idealistischen Entwickelungs­ metaphysik. Die Theologie des Protestantismus, des Kult und Sakrament verinnerlichenden und vergeistigenden Kirchenprinzips, hat das gereinigte Dogma zu einem Gedankensystem gemacht, das aber auf die kultische Predigt und auf den autoritativen Gnaden- und Lehrfond bezogen bleibt ; infolgedessen bewegt sie sich hin und her zwischen einem System von durch sich selbst gültigen Gedanken und einem historisch-autoritativen, wunderbe­ glaubigten Dogmenkreis, ein Schwanken, das mit der zunehmen­ den Beeinflussung durch moderne Wissenschaft nur immer hef­ tiger geworden ist. Die Sekte, die ihrem ganzen Wesen nach der Unterschicht angehört und der Vermittelungen mit dem all­ gemeinen Denken nicht bedarf, geht auf den vorkirchlichen und vorwissenschaftlichen Standpunkt zurück und hat überhaupt keine Theologie, sondern eine strenge Ethik, einen lebendigen Mythos und eine leidenschaftliche Zukunftshoffnung. Der Spiritualismus allein faßt die christliche Religiosität als lebendig fortzeugende Gegenwartsbewegung und als Moment in der allgemeinen Bewe­ gung des religiösen Bewußtseins überhaupt. Daher hat er allein eine eigentlich wissenschaftliche , auf das Allgemeine zurück­ gehende, religionsphilosophische Theologie erzeugt und eine wirk­ liche Fortbildung eröffnet. Daher ist auch er allein unter allen christlichen Gedankenbildungen von den großen Denkern des modernen Idealismus übernommen und fortgebildet worden. Aber wie er aus der Brechung des eigentlich kirchlichen Geistes entstanden ist, so findet er nur schwer ein Verhältnis zu den Kirchen und den Bedingungen fester und dauernder Organisation. An diesem Punkte liegt das schwere Problem der heutigen Christ­ lichkeit in der modernen Bildungsschicht. 3. Es tritt die Verschiedenheit des christlichen Wahrheits­ begriffes in den drei verschiedenen Typen zutage, und von ihm aus klärt sich das verwickelte und widerspruchsvolle Verhältnis des Christentums zur Staatsgewalt und zur Toleranzidee. Die Kirche will Massen- und Volkskirche sein und verlegt daher die Göttlichkeit und Heiligkeit aus den Subjekten in die objektive Heilsanstalt und ihre göttliche Gnaden- und Wahrheitsausstattung. Sie besitzt, wie eine schlechthin wunderbare, aller sonstigen menschlichen Kraft entgegengesetzte Erlösungsgnade, so eine absolute, unmittelbar göttliche, aller menschlichen Subjektivität

3. Wahrheitsbegriff und Toleranz.

entgegengesetzte Wahrheit und Lehrautorität. Solche Wahrheit muß ihrem Wesen nach uniform und allbeherrschend sein. So wird sie in der Kirche selbst gegen Geistliche und Lehrer, aber auch gegen Gläubige und Laien diese unwandelbare Wahrheit mit Zwang aufrecht zu erhalten berechtigt und verpflichtet sein. Jeder idealistische Versuch, diese Durchsetzung der Wahrheit der inneren Wunderkraft der Kirche selbst ohne Zwang zuzuschreiben, scheitert an der praktischen Undurchführbarkeit und hat die Rück­ kehr zum Zwang zur Folge. Aber auch nach außen wird dieser Zwang sich schließlich äußern müssen, indem volksverderbende, Gottes Ehre schmähende Irrtümer und Sitten nicht geduldet werden dürfen und das in die Kirche hineingeborene Volk nicht der Versuchung schutzlos ausgeliefert werden darf. Schließlich muß dafür gesorgt werden, daß das ganze Volk zur Kenntnis der Heilspredigt komme und jedermann wenigstens mit dem gött­ lichen Heil in Berührung gebracht werde. Das verlangt die Barm­ herzigkeit, und dazu berechtigt die absolute Göttlichkeit der Heils­ wahrheit. Hier darf man die Menschen zu ihrem Wohle zwingen. Das aber verlangt die Mitwirkung der materiellen Gewalt oder des Staates, ohne welchen weder die Uniformität der Kirche nach innen noch die Ausbildung von Volks- und Landeskirchen jemals zustande gekommen wäre. Er tut damit nur seine Pflicht gegen die göttliche Wahrheit. Damit entsteht das verwickelte Konfor­ mitätsverhältnis zum Staate. Ganz anders aber denken hier die Sekten. Sie wollen nicht Massenkirchen, sondern Bekenntnisge­ meinden heiliger Christen sein. Das sind kleine Gemeinden, die neben dem Staate und der Gesellschaft stehen. Auch sie behaupten die absolute Wahrheit des Evangeliums zu haben, aber sie erheben sie hoch über jede Erkenntniskompetenz der Masse und des Staates und verlangen daher die Freiheit vom Staate ; da überdies gerade dieses absolute Evangelium ihnen Gewalt, Macht und Recht ver­ bietet, so müssen sie auch auf die gewalttätige Durchsetzung nach innen und außen verzichten. So fordern sie die Toleranz nach außen, die religiöse Neutralität des Staates. Nach innen aber, be­ tätigen sie eine geistliche Lehr- und Sittenzucht. Sie haben die Tole­ ranz des an seine eigene Sache glaubenden Idealismus und verbieten es, aus der Absolutheit der Wahrheit deren gewaltsame Durchsetzung zu folgern, erwarten überhaupt vor dem jüngsten Tage keine Massen­ durchsetzung. Bei verschiedenen Sektenbildungen nebeneinander können sie es auf den rein geistigen Kampf und den bloß ethischen

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Schluß,

Wetteifer ankommen lassen, ohne an der Absolutheit ihrer Wahr­ heit irre zu werden. Sie ist keine Wahrheit für die Masse und Allgemeinheit und wird erst am jüngsten Tage in ihr herrschendes Recht eingesetzt werden. Sie kennen die Toleranz und Gewissens­ freiheit als eine solche neben den Kirchen und als den Standpunkt der herrschenden Gewalten. Nach innen kennen sie keine oder nur sehr wenig Toleranz, da hier das biblische Gesetz herrscht. Aber indem sie auf die Mitwirkung der Staatsgewalt für die Aufrecht­ erhaltung dieser Einheit verzichten und höchstens auf das Mittel des sozialen Boykotts angewiesen sind, entstehen hier unendliche Spaltungen; wirkliche Konformität gibt es eben nur mit Hilfe des Staates und der materiellen Zwangsgewalt. Wieder anders schließ­ lich denkt die spiritualistische Mystik. Sie verinnerlicht und rela­ tiviert die Heilswahrheit zu einem individuellen persönlichen Besitz, der unaussprechlich hinter den buchstäblichen Formen liegt. Die bloß relative Bedeutung der biblischen, dogmatischen, kultischen Form macht sie von jeder geschichtlichen Form unab­ hängig, und die innere Einheit des Geistes eint ganz von selbst alle Seelen in der gemeinsamen rein geistigen, doch nicht formu­ lierbaren Wahrheit. Auf diesem Standpunkt und auf diesem allein ist Toleranz und Gewissensfreiheit auch innerhalb der reli­ giösen Gemeinschaft möglich, indem die Organisation lediglich zu einem Mittel der Kirchenpflege wird, das religiöse Leben selbst aber unter den verschiedenen relativ berechtigten Ausdrucksformen sich frei bewegen kann. Freilich entstehen dann auch hier Schwierig­ keiten, mit welcher Entscheidungsinstanz und nach welchem Maß­ stabe hier die Christlichkeit überhaupt noch festgestellt werden kann. Die gewöhnliche Antwort, daß der Geist den Geist er­ kennt, ist praktisch wertlos. Darum ergibt sich von diesem Stand­ punkt aus leicht der Verzieht auf alle und jede organisierte Gemeinschaft oder der Rückzug auf private Gesinnungsgemein­ schaften rein persönlicher Art. Die Mystik droht mit der Kon­ formität alle Gemeinschaft überhaupt aufzuopfern und verfällt leicht einem relativistischen Individualismus. In diesem Zirkel bewegt sich das Problem der christlichen Toleranz und Gewissensfreiheit im Verhältnis zu den Bedingungen der religiösen Gemeinschafts­ bildung. Aus ihm gibt es kein Entrinnen. Es gibt nur wechselnde praktische Auskünfte von annähernder Brauchbarkeit aus diesem tragischen Widerspiel der Kräfte heraus. 4. Es erleuchtet sich die Geschichte des christlichen Ethos,

4. Die Geschichte der christlichen Ethik.

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deren Darstellung bekanntlich außerordentliche Schwierigkeiten hat. Das Ethos des Evangeliums ist von einer unendlichen Erhaben­ heit und kindlichen Innigkeit: einerseits die Selbstheiligung für Gott durch Fernhaltung alles dessen, was die innere Gemeinschaft mit Gott stört und durch Betätigung alles dessen, was mit seinem Willen innerlich verbindet, und andrerseits die l?ruderliebe, die in Gott alle Spannungen und Härten des Kampfes ums Dasein, des Rechtes, der bloß äußerlichen Ordnung auflöst und die Seelen zu innigstem Verstehn wie zu opferwilligster Liebe verbindet, die auch schon in ihren einfachsten Aeußerungen eine Ahnung des wahren gött­ lichen Wesens ist. Es ist ein Ideal, das zu seiner vollen Durch­ führung eine neue Welt verlangt , die dementsprechend auch Jesus in dem Gottesreich verkündet hat. Aber es ist ein Ideal, das in der dauernden irdischen Welt ohne Kompromiß nicht durch­ führbar ist. Daher wird die Geschichte des christlichen Ethos zu einem immer neuen Suchen nach diesem Kompromiß und zu immer neuen Bekämpfungen der Kompromißgesinnung. Als Volks- und Massenanstalt ist nun aber vor allem die Kirche zum Kompromiß genötigt, und durch ihre Verlegung der Heiligkeit in die Anstalt und die ihr eignende Vergebungsgnade ist sie be­ fähigt, ihn zu finden. Sie hat ihn gefunden durch das Bündnis mit der stoischen Idee von dem relativen Naturrecht des Sün­ denfalls, die für die Dauer des irdischen Lebens Recht, Macht, Gewalt, Krieg, Privateigentum, Besitzstreben als Folgen wie als Heilungsmittel der Sünde anerkennt. Mit diesem Kompromiß trat dann freilich in der Kirche die durchschnittliche Weltmoral und die strenge Heiligkeitsmoral auseinander. Die letztere floß mit der spätantiken dualistischen Askese zusammen und organi­ sierte sich in den Klöstern, um aus diesen immer wieder in die Welt hineinzudringen. So ergab sich eine Moral der Doppel­ stufigkeit, die die klassische katholische Theorie in ein sinnreiches Entwickelungssystem des Aufstiegs von der Natur zur Gnade ge­ bracht hat. Der kirchliche Protestantismus hat diese Doppelstufigkeit aufgelöst und beides in seiner Berufsmoral ineinander gezogen, das Luthertum mit läßlicher Ergebung in die gegebenen und mit der Sünde gesetzten Weltverhältnisse, der Calvinismus und der as­ ketische Protestantismus mit dem Versuch, rationell innerhalb des Weltlebens die heilige Gemeinde herzustellen. Neben diesen kirchlichen Kompromissen aber stand von Anfang an die Sekte, die das reine Ideal der Bergpredigt ohne Kompromiß durchführen

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Schluß.

wollte und damit in einen scharfen Weltgegensatz gedrängt wurde. Sie hat ihn als leidende und duldende Sekte mit dem möglichen Mindestmaß von Zugeständnissen in engen und stillen Kreisen durchgeführt und sich des kommenden Gottesreiches getrö­ stet, bis auch sie durch den Anschluß an den asketischen Protestan­ tismus einen Weg zur Eingliederung in die dauernde Welt ge­ funden hat. Als aggressive und welterneuernde Sekte hat sie, wenn ihr das klar bevorstehende Weltende das Recht zum Ge­ brauch der Gewalt zu geben schien, die christliche Lebensord­ nung mit Gewalt durchzusetzen gesucht, selbstverständlich nie mit dauerndem Erfolg und immer unter Preisgabe ihrer eigent­ lichen Christlichkeit; anstelle des Evangeliums traten dann für sie die Apokalypse und das Alte Testament. Unbekümmert aber schließ­ lich um beides, um Kompromiß und Kompromißlosigkeit, lebt die spiritualistische Mystik in der Freiheit des Geistes und des Gewissens, antinomistisch im guten und gelegentlich auch im bösen Sinn; auch wo sie streng asketisch ist, ist sie es im Sinne der Freiheit. Sie tut und unterläßt, wie die Quäker sagen, alles, was dem Gefühl einer innigen Gemeinschaft mit dem lebendigen und heiligen Gott entspricht oder entgegensteht, und ergießt sich in eine rein innere persönliche Seelengemeinschaft. Damit verliert sie freilich die Möglichkeit zur Massenwirkung und zu jeder Gesamtorganisation des Lebens. Aber nach der strebt sie uberhaupt von Hause aus nicht oder sie erwartet sie erst von der inneren Macht des Geistes. Sie läßt es darauf ankommen, was von ihrem Geiste in die All­ gemeinheit fließen und dort auf eine innerliche Weise sie umgestalten mag. In allen diesen ethischen Bildungen aber steckt als die trei­ bende Kraft der christliche Weltgegensatz. Diese Grundrichtung des Christentums ist heute von der modernen Lebensbewegung mit ihrem Utilitarismus, ihrem Optimismus, ihrer Immanenz, ihrem Naturalismus und ihrer ästhetischen Naturverherrlichung empfind­ lich gebrochen, oft bis zum völligen Unverständnis ihrer selbst gebracht worden. Aber sie bricht aus den religiösen Grundge­ danken und aus der Selbstauflösung jedes rein innerweltlichen Optimismus immer neu hervor. Sie stellt heute der christlichen Ethik wiederum von neuem inmitten aller Kulturseligkeit und alles bloß skeptischen Pessimismus ihre Aufgabe. Das Problem der Ueberweltlichkeit und ihrer unvermeidlichen Folge, der Askese im metaphysisch-dualistischen oder im disziplinär-rigorosen Sinne, ist daher noch heute das Grundproblem des christlichen Ethos,

5. Bedeutung der Marxistischen Methode für die Kirchengeschichte.

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das doch zugleich keine einfache Welt- und Selbstverneinung ist. Andererseits ist sein zweites Grundproblem die Ergänzung dieser religiösen Einseitigkeit durch eine mit ihr vereinbare Kulturethik. Die Kirche hat diese Ergänzung aus der spätantiken Philosophie als sittliches Naturgesetz aufgenommen. Die Sekte, sofern sie auf die Ergänzung verzichtet hat, verfiel in Kulturlosigkeit und Bedeutungslosigkeit, die Mystik in völlig einsame Resignation. Wo beide zu Bedeutung sich erhoben, haben sie jede auf ihre Weise gleichfalls Ergänzungen herangeholt. Die alten Ergänzungen aber sind heute bei einer völlig neuen Kulturlage unmöglich ge­ worden. Eine neue Ergänzung ist also nötig. Das christliche Ethos kann für sich allein nicht leben und genügen in einer dauernden Welt. Die Frage ist nur, wie diese Ergänzung heute gestaltet werden kann. Hier liegen die Aufgaben einer neuen christlichen Ethik. 5. Die letzte wichtige historische Einsicht ist diejenige in Recht und Grenzen der Anwendung einer sozialgeschichtlichen Methode auf das Christentum. Die >Marxistische« Methode formt mit demjenigen an ihr, was sich als klar berechtigt erweist, nach und nach all un­ sere geschichtlichen Auffassungen und damit natürlich auch die Auffassungen von Gegenwart und Zukunft um. Die Gelehrten des Klassenkampfes haben es unternommen, das ganze Christen­ tum als ideologisches Spiegelbild ökonomischer Entwickelungen darzustellen und damit nicht bloß bei den Parteigenossen Ein­ druck gemacht. In feinerer und lehrreicher Weise hat erst jüngst Maurenbrecher diese Auffassung an der Geschichte der Entste­ hung des Christentums durchgeführt. Gegenüber jeder ausschließ­ lichen und doktrinären Durchführung dieser Methode hat nun aber die bisherige Darstellung gezeigt, daß alles spezifisch Religiöse und vor allem die großen Knotenpunkte religiöser Entwickelungen eine selbständige Aeußerung des religiösen Lebens sind. Jesus, Paulus, Origenes, Augustin, der hl. Thomas, der hl. Franz, der hl. Bonaventura, Luther, Calvin, sie können in ihrem Fühlen und Denken nicht aus Klassenkämpfen und ökonomischen Interessen hergeleitet werden. Aber auf der andern Seite ist doch klar, daß in dem Kausalzusammenhang, aus dem heraus ihr eigentümlich religiöses Denken Anstoß, Form, Bewegung und Ziel konkret ge­ winnt, immer in größerer oder geringerer Stärke, in mittelbarer oder unmittelbarer Weise soziale und durch diese vermittelt schließlich auch ökonomische Kräfte wirken. Wie auf allen Ge-

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Schluß,

bieten, so ist auch auf dem religionsgeschichtlichen die Auffassung des Kausalzusammenhangs durch die neue Rücksicht auf dieses mitwirkende Element erheblich erweitert und verändert. Wie man bereits bisher politische, wissenschaftsgeschichtliche, philosophi­ sche, rassentheoretisch-biologische Kausalitäten in den Zusam­ menhang einstellte, aus dem und in dem die konkreten reli­ gionsgeschichtlichen Bildungen sich erheben, so muß man auch diese neu enthüllte Kausalität in ihrer vollen Bedeutung aufnehmen. Das bedeutet prinzipiell nichts Neues, wenn man überhaupt ein­ mal sich daran gewöhnt hat, die religiösen Offenbarungen aus dem Zusammenhang der Kausalitäten erwachsen zu sehen, wobei von ihrer angeblichen »Notwendigkeit« und von ,angeblichen Gesetzen der Geschichte« hier nicht weiter die Rede sein soll. Zwischen den Kausalitäten besteht kein Rangunterschied größerer oder geringerer Vornehmheit, und so ist es keinerlei Entwürdi­ gung, wie viele meinen, wenn man dieser neu erkannten Kausa­ lität dasselbe Recht einräumt, wie den bisher beachteten. Aber praktisch bedeutet es doch eine recht erhebliche Verschiebung des Bildes. Es zeigt sich dann, wie das Christentum und die verwandten idealistischen Bestrebungen ethisch-religiöser Art in der Spätantike mit dem Ergebnis der antiken Sozialgeschichte aller­ dings zusammenhängen und daher auch sich treffen und verbinden als die neue Welt; wie das Mittelalter sein Wesen durch Aufpfropfung der Kirche und des christlichen Ethos auf eine relativ einfache und unentwickelte soziale Welt erhält und dadurch erst eine christliche Kultur möglich wird ; wie der Individualismus der Re­ formation die Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft voraus­ setzt und die siegreiche Durchsetzung der Reformation nur aus den politischen und sozialen Verhältnissen erklärbar wird ; wie der Unterschied der beiden protestantischen Konfessionen durch den politischen und sozialen Boden aufs stärkste mitbedingt ist; wie der moderne Protestantismus mit der modernen bürgerlichen Ge­ sellschaft und ihren Bildungsidealen verknüpft ist, und wie schließ­ lich der Kapitalismus, der moderne nationalistische und imperia­ listische Staat und die ungeheure Bevölkerungssteigerung eine Krisis der bisherigen christlichen Ethik bedeuten. Es zeigen sich die Klassenzusammenhänge der Sekten, die verborgenen Gründe von plötzlichen Wendungen des religiösen Gedankens, die aus seiner bloßen gedanklichen Dialektik nicht begreiflich wären. Frei­ l ich wird damit die Religionsgeschichte noch tiefer in den Strom

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6. Der bleibende ethische Gehalt.

des Geschehens und in die Wechselbedingtheit der Grundelemente des Lebens hineingezogen. Es wird noch weniger möglich, auch nur in der christlichen Ethik einen unwandelbaren und absoluten Punkt zu finden, da auch diese stets nur die Bemeisterung einer ge­ gebenen, vor allem durch soziale Verhältnisse bedingten Lage und die Aufstellung eines dieser Lage entsprechenden Ideals ist. Allein auf dem Weg zu einer solchen Auffassung ist die Religionsgeschichte und die Geschichte des Christentums längst, seit sie das religiöse Leben in die allgemeine Entwickelung einstellen gelernt hat. Die relative Bedingtheit jedes Momentes als einer unwiederholbaren Synthese und als einer ihm entsprechenden geistig-ethischen Be­ meisterung, die im Instinktiven oft viel klarer sieht als in der vieles übersehenden und vieles bemäntelnden Theorie, wird da­ durch nur noch eindringlicher vor Augen gestellt. Das macht die Unart, ganze Zeiten und Gruppen nur als Vorbereitungsstufen für ein in der Historie doch nie auffindbares Absolutes zu be­ trachten, endgültig unmöglich. Dafür aber tritt Rankes tiefsin­ niges Wort, auf das schon öfter hingewiesen wurde, in sein Recht, daß jede Epoche - nicht mit ihrer groben Wirklichkeit, aber mit ihren von ihr selbst instinktiv gebildeten Idealen und Zielen - unmittelbar ist zu Gott. Sie ist es auch in der Bemeisterung der aus der Naturgrundlage, der wirtschaftlich-sozialen Lage, den politischen Machtverhältnissen folgenden Aufgaben durch die Idee, wobei die Idee von dem von ihr bemeisterten Stoffe nie unab­ hängig sein kann und oft genug von ihm in Bewegung gesetzt ist. Dagegen aber sind alle Versuche, das Christentum zu einem wechselnden Spiegelbild der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu machen, eine Modetorheit oder ein unter der Firma der neuesten Wissenschaftlichkeit versteckter Angriff auf seine religiöse Geltung. 6. Alle diese Erkenntnisse sind historischer Art. Aber es erhebt sich natürlich die Frage, ob eine so ausgedehnte Unter­ suchung über die Ideen- und Lebenswelt des Christentums wirk­ lich nichts zu bringen vermag als historische Einsichten in Gewesenes und in dessen Nachwirkung auf die Gegenwart. Lehrt sie nicht auch etwas Bleibendes und Ewiges als Gehalt des christlichen Sozial­ ethos kennen, das ein Leitstern wäre für die Gegenwart und für die Zukunft, etwas, was nicht bloß dem Begreifen, sondern auch dem Gestalten der Lage dient ? Sie ist nun gewiß imstande, auch etwas derartiges zu lehren. Aber Erkenntnisse ewiger ethi­ scher Werte sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse und sind T r o e 1 t s c h , Gesammelte Schriften. I.

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Schluß.

nicht wissenschaftlich beweisbar. Sie sind Herausgreifungen aus dem geschichtlichen Leben, die die lebendige Ueberzeugung und der handelnde Wille vollzieht in der Gewißheit, hier die absolute Vernunft in ihrer uns zugewandten und im gegenwärtigen Zusam­ menhang geformten Offenbarung zu erkennen. Nur in diesem Sinne sei es nun noch versucht, die bleibenden ethischen Werte heraus­ zuheben, die in der bunten Geschichte der christlichen Soziallehren enthalten sind. E r s t 1 i c h : Das christliche Ethos allein auf Grund seines personalistischen Theismus hat einen metaphysisch begründeten, durch keinen Naturalismus und keinen Pessimismus zerstörbaren Persönlichkeits- und lndividualitätsgedanken. Die Persönlichkeit, die aus dem Naturwesen durch Willens- und We­ senseinigung mit Gott erst entsteht, ist allein über die Endlich­ keit erhaben und kann allein ihr trotzen. Ohne diesen Halt aber verflüchtigt sich in Wahrheit jeder Individualismus. Zw e i t e n s: Der christliche Ethos allein hat auf Grund seines G:edankens von einer allen zugewandten und alle in sich vereinigenden göttlichen Liebe einen wirklich unerschütterlichen Sozialismus. Erst in dem Medium des Göttlichen versinken die Trennungen und Sprödigkeiten, die Kämpfe und Ausschließlichkeiten, die dem Menschen als Natur� wesen zugehören und in denen sein natürliches Dasein sich formt. Erst in ihm gewinnen die Vereinigungen, die Zwang und Gewalt, Sympathie und Hilfsbedürfnis, Geschlechtstrieb und Neigung, Ar­ beit und Organisation stiften, einen ihnen allen übergeordneten und unzerstörbaren, weil metaphysischen Zusammenhang. D r i t­ t e n s: Nur das christliche Ethos überwindet das Gleichheits- und Ungleichheitsproblem, indem es weder im Sinne der Auslese die Gewalt und den Zufall verherrlicht, noch im Sinne der egalitären Doktrin die Wirklichkeit vergewaltigt. Es nimmt die Verschieden­ heit der Lebenslagen, der Kräfte und der Fähigkeiten als einen von Gottes unerforschlichen Willen gestifteten Zusammenhang hin, den die innere Hebung der Persönlichkeit und die gegen­ seitigen Verbundenheitsgefühle in einen ethischen Kosmos ver­ wandeln. Die ethischen Werte der willigen Ein- und Unterord­ nung nach der einen Seite, der Fürsorge und der Verantwortung nach der andern Seite stellen jeden in Verhältnisse, wo er die natürlichen Unterschiede in ethische Werte der gegenseitigen An­ erkennung, des Vertrauens und der Fürsorge umwandeln kann und soll. V i e r t e n s : Das christliche Ethos leistet kraft der christlichen Persönlichkeitsschätzung und Liebe etwas, was keine

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7, Die zweckmäßigste Organisation,

noch so gerechte und rationelle Gesellschaftsordnung völlig ent­ behren kann, weil in ihr immer unberechenbare Leiden, Nöte und Krankheiten übrig bleiben, die Karität. Sie ist aus dem christ­ lichen Geiste entsprungen und kann nur durch ihn sich behaupten. Alle Kleinlichkeit und Bekehrungslust, die sich mit ihr verbinden mag, ist doch nur eine menschliche Beschränktheit an einer gro­ ßen und edlen Sache. S c h 1 i e ß 1 i c h : Das christliche Ethos stellt allem sozialen Leben und Streben ein Ziel vor Augen, das über allen Relativitäten des irdischen Lebens hinausliegt und im Verhältnis zu dem alles nur Annäherungswerte darstellt. Der Gedanke des Gottesreiches der Zukunft, der nichts anderes ist als der Gedanke der endgültigen Verwirklichung des Absoluten, wie immer man sie denken mag, entwertet nicht, wie kurzsichtige Gegner meinen, Welt und Weltleben, sondern strafft die Kräfte und macht durch alle Durchgangsstufen hindurch die Seele stark in ihrer Gewißheit eines letzten, zukünftigen absoluten Sinnes und Zieles menschlicher Arbeit. Er erhebt über die Welt, ohne die Welt zu ver­ neinen. Dieser tiefste Gedanke und Sinn aller christlichen Askese ist das einzige Mittel, Kraft und Heldentum zu behalten in einer geistigen Gesamtlage, die das Gefühlsleben so unendlich vertieft und ver­ feinert und die natürlichen Motive des Heroismus rettungslos zerbricht oder lediglich aus den Instinkten der Brutalität wieder zu erwecken versucht. Er ist eine Quelle der angespannten Ak­ tivität und der Zielsicherheit zugleich und damit der schlichten Gesundheit. Alle Gesellschaftsutopien werden dann überflüssig; die immer wieder von der Erfahrung gepredigte Unmöglichkeit, das Ideal voll zu begreifen und zu verwirklichen, braucht dann den Suchenden nicht zu beirren und nicht in die Skepsis zurückzu­ werfen, die so leicht die Folge gerade ernsten Wahrheitssinnes ist und die feineren Geister der Gegenwart überall erfüllt. Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits. 7. Diese sozialethischen Gedanken und Kräfte quellen aus der christlichen Religiosität. Damit sie es können, ist die Leben­ dighaltung und Fortpflanzung dieser religiösen Kräfte notwendig und für beides wieder eine sie fortleitende und beständig neu erzeugende Organisation. Es ist daher die Frage : was lehrt unsere Darstellung über dieses gerade in der Gegenwart so bren­ nende Problem, über die Bildung der religiösen Gemeinschaft selbst und deren Einfügung in die anderen großen Gemeinschaf­ ten? Lernen wir aus einem dicken Bande, der von den Ge62 *

Schluß.

meinschaftstheorien des Christentums handelt, nicht etwas zur Ueber­ windung unseres täglich schlimmer werdenden Kirchenelends? Auch hier ist der Ertrag ein reicher, freilich auch hier mehr eine Sache freier Zweckmäßigkeitseinsicht als wissenschaftlicher Beweisführung. Die e r s t e Lehre ist, daß das religiöse Leben auf der Stufe der Geistesreligion einer selbständigen, von den naturgegebenen Gliederungen unterschiedenen Organisation be­ darf. Darnach strebt es im ersten Augenblick seiner selbstän­ digen Selbsterfassung, und das bleibt immer eines seiner wichtig­ sten Probleme. Das Zentrum solcher Organisationen ist der Kul­ tus ; die Herleitung der zusammenfassenden Kräfte von ihm oder die Angliederung an ihn ist das große Problem. Ohne Gemeinde­ organisation und ohne Kultus ist das Christentum nicht fortpflan­ zungs- und zeugungsfähig. Jeder Rückzug auf den bloßen frei­ schwebenden Geist und seine organisationslose Selbstdurchsetzung ist eine Utopie, die die wirklichen Bedingungen des Lebens ver­ kennt und nur die Verflüchtigung und Entkräftung des Ganzen zur Folge hat. Bezüglich der Formen dieser Organisation zeigte sich z w e i t e n s die Ueberlegenheit des Kirchentypus über den Sek­ tentypus und die Mystik. Er hält an dem vollen Heils- und Gnadencharakter der Religion fest, ermöglicht die Unabhängigkeit des Gnadenbesitzes von den Leistungen der Individuen, kann die verschiedensten Stufen der Reife und Verchristlichung umfassen und ist darum allein fähig, eine Volksreligion mit den unumgäng­ lichen verschiedenen Abstufungen der Mitglieder zu umhegen. Darin ist er der Sekte überlegen und vollends der Mystik. Dar­ um verläuft die eigentliche Hauptmasse der christlichen Religions­ geschichte als Kirchengeschichte und ist die »allgemeine christ­ liche Kirche« das nächste Ergebnis der urchristlichen Missions­ arbeit. Er ist aber allerdings zugleich eine Herabminderung der christlichen Idee auf das Niveau praktischer Möglichkeiten und Durch­ schnittlichkeiten, ein Prinzip der weitestgehenden Anpassungen und Kompromisse. Der Kirchentypus selber aber hat d r i t t e n s ge­ rade wegen der in ihm enthaltenen Spannungen zwischen reiner Christlichkeit und Weltanpassung eine sehr wechselreiche Ge­ schichte gehabt und ist heute in voller Wandelung begriffen. Die reine und konsequente Ausprägung des Kirchentypus ist der römische Katholizismus, der in steigendem Maße die Innerlichkeit , Persönlichkeit und Beweglichkeit der Religion der festen Objektivierung in Dogma , Sakrament , Hierarchie,

7. Die zweckmäßigste Organisation.

Papsttum und Infallibilität geopfert und den sektenhaften wie den mystischen Motiven nur im Ordenswesen und den Devo­ tionen ein Ventil geöffnet hat. Seit seiner Krisis im I 5. Jahrhun­ dert, wo die naive Selbstverständlichkeit seiner Herrschaft aufzu­ hören anfing, hat er darum sich immer mehr objektiviert und zen­ tralisiert. Im Gegensatze dazu suchte der Protestantismus den Ge­ danken der kirchlichen Heilsanstalt wieder mehr zu subjektivieren und zu verinnerlichen, indem er das objektive organisierende Element in die heilige Schrift und die ihr innewohnende Geisteskraft, sowie in das sie auslegende Predigtamt verlegte, Luther mit einem bald enttäuschten Vertrauen zu der Alle bekehrenden Macht des Gei­ stes und Wortes, Calvin mit der Nachhilfe einer festen und zur Kontrolle der Gläubigen fähigen Kirchenverfassung. Alle Kirchen­ tümer haben zu ihrer Aufrechterhaltung und Durchsetzung mit der rein moralischen Macht nicht ausgereicht, sondern den welt­ lichen Arm in Anspruch nehmen müssen. Ohne seine Hilfe gibt es kein dauerndes, konformes und unzertrennbares Kirchentum. Es ist ohne Zwang nicht denkbar, und der Zwang ist wiederum nicht denkbar ohne Hilfe des Staates. In Zeiten einer allgemeinen naiven Gläubigkeit wirkt ein solcher Zwang auch nicht schädlich oder unreligiös. Weiß man die Wahrheit schlechthin sicher und sind die allgemeinen Instinkte der Völker in ihr einig, so ist die Bewahrung vor Torheit, Irrtum und Verführung nur verständig und gesund, die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der geistigen Einheit der Gesellschaft überhaupt, die man nicht dem doktrinären und überidealistischen Ideal einer freien Selbstgesetz­ gebung des Einzelnen opfern darf. Aber eben wegen dieses Zu­ sammenhanges des Kirchentypus mit der ungebrochenen Einheit der Weltanschauungs-Instinkte großer Völkergruppen ist v i e r t e n s der ungebrochene Kirchentypus nur solchen Zeiten innerlich ange­ messen. Unsere Darstellung zeigt, wie er seit der Auflösung dieser Voraussetzungen im Einschrumpfen oder in der Zersetzung begriffen ist. Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt. Die Selbstverständlichkeiten der modernen Lebensanschauung fallen mit denen der Kirche nicht mehr zusammen. Der Zwang ist nicht mehr eine Bewahrung des Ganzen vor Einzelstörungen, sondern eine Vergewaltigung der wirklichen Lebensströmungen. Der weltliche Arm hat sich zurückgezogen, ganz oder teilweise, und wird bald nur mehr überall den kleinen Finger geben oder gar nichts. Die verschiedenen Kirchentümer stehen in konfessionell gemischten

Schluß,

Bevölkerungen als eine sich selbst aufhebende Vielzahl absoluter Alleinwahrheiten gegenüber. Die Seelen der Völker entgleiten den Kirchen, und ein guter Teil ihrer Funktionen ist an Schule, Literatur, Staat und Vereinswesen übergegangen. Unter diesen Umständen ist der Kirchentypus des Katholizismus zu einer im­ mer gewaltsameren und äußerlicheren Gewissensherrschaft ge­ zwungen. Das protestantische Kirchentum aber ist zu einer ähn­ lichen Entwickelung teils zu schwach fundiert, teils enthält es in seiner Subjektivierung des Kirchentums starke, ihr entgegenwir­ kende Kräfte. So hat es dem mit der modernen Welt wahlver­ wandten Sektentum und der Mystik nicht widerstehen können. Es hat sich mit Sektenmotiven und mystisch- spiritualistischem Relativismus durchsetzt. Es ist kein reines Kirchentum mehr, wenn auch der kirchliche Konformitätsgeist leidenschaftlich genug gegen diese unauf haltsame Entwickelung sich empört und verschämt oder unverschämt nach katholischen Idealen hinüberschielt. Seine stark hervortretenden Entwickelungsrichtungen sind die Ablösung vom Staate, die Freigebung der Kirchenbildung, die Independenz der Einzelgemeinde, die Verwandelung der Staatskirchen in Volkskirchen, die zusammenhalten in der gemeinsamen Verwaltung, aber den Ein­ zelgemeinden freie Hand lassen, eben damit aber einen ihren Zu­ sammenhalt beständig bedrohenden Konfliktsstoff in sich tragen. Auch unter der Hülle einer scheinbar noch fortbestehenden ein­ heitlichen Bekenntniskirche hat die Bekenntnislosigkeit der unge­ heueren Mehrzahl der Kirchenglieder diesen Zustand erzwungen. Es ist eine immer zunehmende Durchdringung der Lebensgehalte des Kirchentypus mit denen der Sekte und der Mystik, die uns die Geschichte des Protestantismus gezeigt hat. Während der Katholizismus beide immer unwirksamer macht, werden im Protestan­ tismus beide immer mächtiger. In der gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihrer Vereinigung zu einem all diese Motive versöhnenden Gebilde liegen seine Zukunftsaufga­ ben, Aufgaben soziologisch-organisatorischer Natur, die dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik. Die Anstrengungen, durch diese eine vermittelnde Einheit zu schaffen, sind gescheitert. Es gibt keine »protestantisch-kirchliche Dogmatik« mehr. So wird auch Einigung und Zusammenhalt auf einem anderen Boden als dem der Dogmatik gesucht werden müssen. Es wird nur möglich sein unter der Voraussetzung, daß die von Zwang, Gewalt, Staatsreligion und Konformität geschaffenen Kirchen zu Gehäusen werden , in

8. Das Christentum und das soziale Problem der Gegenwart.

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denen jetzt friedlich die verschiedenen christlichen Geister wohnen und wirken können. Die kirchlichen Organisationen behaupten sich durch ihr eigenes geschichtliches Schwergewicht , und können, einmal geschaffen, anderen Zwecken dienen als denen, für die sie ursprünglich gebaut worden sind. Die Schmerzen und Qualen, die das Staatskirchentum seinerzeit gekostet hat, mögen als das Opfer betrachtet werden, das die Erbauung gekostet hat, das aber nicht ewig wiederholt zu werden braucht. Was Zwang, Härte und starknervige Uniformität erbaut hat , kann von fei­ neren und vor allem von sehr verschiedenen Geistern bewohnt wer­ den, die dann freilich gegenseitig für Verträglichkeit sorgen müssen. Während das bloße Freikirchen-System oder System der Tren­ nung von Kirche und Staat nur eine Gewissensfreiheit neben und außer den Kirchen gewährt, in ihnen selbst aber erst recht die In­ toleranz aufrichtet, kann ein solches System die Volkskirche be­ haupten und die heiß ersehnte Gewissensfreiheit in der Kirche gewähren, soweit sie überhaupt möglich ist. Vom Geiste des Kirchentypus aber behauptet sich dann der große Gedanke einer ge­ meinsamen historischen Lebenssubstanz, die in allen individuellen Gemeindebildungen und Verkündigungen nur besondert und ver­ flüssigt wird. Wir behalten Gemeingefühl und Vererbungsbewußt­ sein, ein > Minimum von Kirche«, wie Richard Rothe sagte. 8. Wo aber bleibt die Frage, von der wir ursprünglich aus­ gegangen sind, die Frage nach der Bedeutung des Christentums für die Lösung des heutigen sozialen Problems, das das Problem der kapitalistischen Wirtschaftsperiode und des von ihm ge­ schaffenen industriellen Proletariats, der militärisch-bureaukra­ tischen Riesenstaaten, der in Welt- und Kolonialpolitik auslau­ fenden ungeheuren Bevölkerungssteigerung , der unermeßliche Lebensstoffe erzeugenden, im Weltverkehr alles mobilisierenden und verknüpfenden, aber auch Menschen und Arbeit mechani­ sierenden Technik ist? Man braucht die Frage nur so zu formulieren, um nach allem Bisherigen als wichtigste Antwort zu erkennen, daß das überhaupt ein neues, für die christliche Sozialarbeit bisher überhaupt nicht vorhandenes Problem ist. Die radikalen sozial­ reformerischen Ideale der chiliastischen Sekte sind dem unge­ heuren Ernst dieses Problems gegenüber Kinderspiel und Kinder­ traum; ehrenwert und edel, aber utopisch auch in ihrer modernen Gestalt eines radikalen welterneuernden christlichen Sozialismus. Die Mystik verzichtet von vornherein auf jede Lösung und sieht

Schluß.

in diesen Wirrsalen nur die Unmöglichkeit, daß die Welt den Frieden gebe, der über alle Vernunft ist. Die Kirchen aller Kon­ fessionen - am wenigsten freilich die lutherischen - entfalten Programme zur Linderung dieser schweren, allen Geist und alles Ge­ müt bedrohenden Nöte und arbeiten an ihrem Teile rührig und auf­ opfernd. Aber sie gehen dabei im wesentlichen nur auf die alten großen Haupttypen ihrer Sozialphilosophie zurü�k, die sie für die grandiosen Kämpfe der Gegenwart von neuem mobil zu machen ver­ suchen. Wir haben nun gesehen, daß es nur zwei solcher großer Haupt­ typen gibt, die eine umfassende historische Bedeutung und Kraft erlangt haben. Der eine ist die ständisch-zünftig-patriarchalische Sozialphilosophie des mittelalterlichen Katholizismus, der die rela­ tive Gebundenheit des Kampfes ums Dasein, die Begründung aller Gemeinschaft auf persönliche Autoritäts- und Pietätsbezie­ hungen, die relativ einfachen Wirtschaftsformen und Bedürfnisse der vorkapitalistischen Periode, die Reste alter Solidaritäten in Bluts- und Bodengebundenheit mit dem christlichen Ethos des individuell-persönlichen Wertes und der universalen Liebesge­ meinschaft in der kirchlichen Lebensorganisation zu verbinden wußte. Der andere ist die Sozialphilosophie des asketischen Pro­ testantismus, der aus dem freikirchlich und pietistisch gefärbten Calvinismus und den der Verkirchlichung angenäherten asketischen Sekten emporwuchs, der mit dem modernen Utilitarismus und Rationalismus, der Betriebsamkeit des Berufes und der Verherr­ lichung der Arbeit um ihrer selbst willen, mit der politischen Demokratie und dem Liberalismus, mit der freien Bewegung des Individuums und dem alles beherrschenden Vereinsgedanken in­ nerlich verwandt ist, der aber die ethisch gefährlichen Folgen dieses modernen Lebens durch die religiösen Ideen der Verant­ wortung des Individuums und der Liebespflicht des Einzelnen wie der Gemeinschaft, durch die Verpönung von Luxus, Mammo­ nismus und Genußstimmung, schließlich durch einen überall der Sache Christi dienenden Heroismus zu neutralisieren weiß. Was neben diesen beiden Haupttypen an christlichen Sozialidealen sich gebildet hatte, vermochte schon seinerzeit nicht den harten Stoff der sozialen Wirklichkeit aufzulösen; es prallt heute vollends an diesem Felsen ab. Aber auch jene beiden mächtigen Typen haben sich - trotz großer bis heute dauernder Leistungen erschöpft. Was der zünftig-patriarchalische Katholizismus will, das ist teils überhaupt nicht wieder möglich, teils kann es mit

8. Das Christentum und das soziale Problem der Gegenwart.

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den geschwächten religiösen Kräften des Katholizismus nicht durchgeführt werden, die überdies die unerträglichsten Nebenwir­ kungen mit sich führen. Was der asketische Protestantismus als rationelles Mittel für die Aufrichtung der Christusherrschaft dem religiösen Gedanken unterordnete, das ist diesem längst über den Kopf gewachsen und hat die religiösen, ja überhaupt die gedanklichen und metaphysischen Eingrenzungen und Richtpunkte von sich geworfen; andererseits fordert seine kühle Härte, nüch­ terne Sachlichkeit und betriebsame Bekehrungslust, sein unkünst­ lerischer und puritanischer Charakter alle Instinkte der modernen Kultur zur Gegnerschaft heraus ; und auch vom rein religiösen Standpunkte aus ist seine Neigung zur Gesetzlichkeit und zum Pharisäismus, zur Treiberei und Schablonisierung nichts weniger als in voller Uebereinstimmung mit den tiefsten christlichen Ideen. Unter diesen Umständen ist das Ergebnis unserer Untersuchung die Einsicht in die problematische Lage aller christlich-sozialen Arbeit. Sie ist problematisch überhaupt, weil die Fähigkeit der Idee zur Bemeisterung der brutalen Wirklichkeit immer eine dunkle und schwierige Sache bleibt, problematisch insbesondere weil die geschichtlichen Hauptformen der christlichen Gesellschafts­ lehre und -gestaltung gegenüber den bestehenden Aufgaben aus ver­ schiedenen Gründen heute versagen. Soll es eine christlich-soziale Bemeisterung der Lage geben, so werden hier neue Gedanken nötig sein, die noch nicht gedacht sind und die dieser Lage entsprechen, wie die älteren Formen älteren Lagen entsprochen haben. Sie werden aus der inneren Triebkraft der christlichen Idee und ihrer lebendig-gegenwärtigen Neugestaltung herausgeholt werden müs­ sen und nicht lediglich aus dem Neuen Testament, wie ja auch jene beiden großen Hauptformen nicht aus dem Neuen Testament, son­ dern aus der jeweiligen Gegenwartsbewegung der religiösen Idee he­ rausgeholt worden sind. Und sie werden das Schicksal haben, das alles Schaffen der religiös-ethischen Idee hat : sie werden unentbehr­ liche Dienste leisten und innerlichste Kräfte entfalten, aber sie werden ihren eigentlichen idealen Willen nie voll verwirklichen in dem Bereiche der irdischen Lebenskämpfe. Das Reich Gottes auf Erden als einen vollendeten sozialethischen Organismus wer­ den sie so wenig schaffen, als irgend eine andere Macht der Erde. Es ist eine der ernstesten und wichtigsten Einsichten unserer Untersuchung, daß aller Idee die brutale Tatsächlichkeit und aller Emporentwickelung die inneren und äußeren Hemmnisse entgegen-

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Schluß.

stehen. Es gibt keine absolute christliche Ethik, die jetzt erst zu entdecken wäre, sondern nur Bemeisterungen der wechselnden Weltlagen, wie das auch die frühere auf ihre Weise gewesen ist. Es gibt auch keine absolute Ethisierung, sondern nur das Ringen mit der materiellen und der menschlichen Natur. So wird auch die jetzige und kommende christliche Ethik eine Anpassung an die Lage sein und nur das Mögliche wollen. Darin ist die unaufhörlich vorwärts treibende Spannung und ebenso die Un­ vollendbarkeit der ethischen Arbeit begründet. Das können nur ideologische Doktrinäre oder im Glauben alles Irdische überflie­ gende Schwärmer verkennen. Der Glaube ist die Kraft des Lebens­ kampfes, aber das Leben bleibt ein auf immer neuen Fronten sich immer neu erzeugender Kampf. Für jede bedrohliche Kluft, die sich schließt, geht eine neue auf. Es bleibt dabei - und das ist das alles zusammenfassende Ergebnis - das Reich Gottes ist inwendig in uns. Aber wir sollen unser Licht in vertrauender und rastloser Arbeit leuchten lassen vor den Leuten, daß sie unsere Werke sehen und unseren himmli­ schen Vater preisen. Die letzten Ziele aber alles Menschentums sind verborgen in seinen Händen.

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Sachregister *. A Abendmahl 400 455 529 803 834 841 851 852 860 Absolutismus, politischer 310 589 700 Agreements of the people 82 I Almosen 104 115 119 Altertum 29 30 52 90 112 182 241 702 953 Altes Testament 101 103 191 229 380 404 410 411 423 444 497 508 535 540 562 677 692 955 Amerikanismus 285 Anglikaner 702 751 760 776 Amtstheorie, luth. 518 529 562 664 Antinomismus 647 f. Apost. Brüder 391 Arbeit II7 f. 349 572 654 f, 705 720 949 955 Armenpflege 141 588 Arminianer 87 697 782 f. Askese 70 94 95-105 (Arten derselben) 131 138 207 226-38 362 373 f. 409 444 506 644 732 783 f. 828 876 951 957 959 Aufklärung 284 761 778 917 964 Autorität, relig. 27 44 320 340 430 allg. 539 660 B Bauernaufstände 402 411 813 Baptismus 748f. 792 817 825 840 909 Bareboneparlament 750 818 825 Begarden 412 Bekehrung 341 777 783 850 Benediktiner 237 Bergpredigt 796 802 812 847 Beruf 122 f. 311 f. 442 580 f, 653 f. 760 814 900 913 949 Besitz 112 113 f. 139 349 395 485 573 576 662 731 823 f. Bettelorden 222 249 Bibel 440 f. 455 462 514 f. 809

Biblizismus 379 (d. Sekten) 426 461 (luth.) Bischof 86 90 93 119 136 f. 139 f. 187 212 384 Bodenreform 824 Brüdergemeinde 834 837 Brüder vom fr. Geist 390 Bruderliebe 107 Bürgertum 716 Bußsakrament 220 389 415 C Casuistik 309 776 783 Calvinismus 82 168 173 334 398 483 509-512 521 540 564 585 64o f. 674 f. 702 f. 728 766 806 816 917 943 944 954 956 960 964 Neucalv, 733 f. 761 f. 785 790 947 951 Engl.-Calv, 774 f. 827 Niederl.-Calv. 781 f. Chiliasmus 410 423 464 778 813 f. 818 f, 825 882 Christentum 3 6 9 10 26 f. 31 33 72 74 80 181 230 357 486 722 809 845 937 944 961 Christlich-Sozial 592 Christologie 428 Christusmystik 857 873 882 919 923 f. 930 Cluniazenser 203 207 Compagnie venerable 709 Conciliartheorie 305 320 417 430 451 church-covenant 740 742 746 church-fellowship 748 Coelibat 143 400 Collegianten 894 900 904 Communismus, relig.-urch. 49 50 70 307 423; sekt. 401 413 813 822 Congreß, evgl.-soc. 425 593 Conservativismus 1 2 537 539 567 579 590 718 791 Consumptionsstandpunkt 574 709 corpus christianum 484 523 667 - mysticum 303 353

*) Die Register verdankt der Leser der Freundlichkeit des Herrn stud, theol, et philos. Herbert Link.

Sachregister.

988 D

Darbisten 843 Deismus 871 897 912 Dekalog 145 158 261 264 269 271 289 380 441 494 498 f. 506 529 543 643 658 f. Demokratie 702 734 948 Deutsche Theologie 420 850 889 896 9o 7 Dissenter 420 785 787 810 948 Dogma 172 209 462 873 Dominikaner 856 Donatisten 189 359 367 385 Dordrechter Synode 783 E Ehe 48 53 126 338 557 Eherecht 90 130 558 Enthusiasmus, urch. 852; sekt. 862 918 Entwicklungsgedanke 270 276 291 381 446 930 Era�tianismus 736 783 Erbsünde 97 217 483 558 646 648 732 829 838 873 949 Erlösungslehre und -hoffnung 16 95 267 445 446 648 Erweckung 237 776 838 917 Eschatologie 97 105 110 121 216 359 368 373 391 392 424 466 808 Episkopat 84-87 187 189 f. 203 218 Evangelikalismus 778 787 Evangelium 14 f, 36-42 47 52 f, 89 96 107 l 74 176 227 232 295 3II 369 375 422 647 811 847 944 946 F Familisten 823 899 901 908 Feudalismus 93 121 377 Flagellanten 391 Franziskaner 214 216 227 238 386 390 394 415 856 Frauenbewegung 768 951 Freikirchentum 733 738 f. 757 761 785 792 f. 813 963 Freiwilligkeitskirche 375 383 803 808 812 912 G Gegenreformation 512 679 Geldwirtschaft 204 243 f. Geistlehre 377 873 879 887 889 892 Gemeindeprinzip, luth. 464 f. 467 587 913; calv, 682 739 742 Gemeinschaftsbewegung 843 Gemeinschaft, relig. 86 87 92 187 216 354 427 679 948 General Baptists 742 746 812 909 Genossenschaft 242 824

Gesetz 156 f. 824 382 (Sekte); 436 kath.; 437 prot. Geschichtsphilosophie, kirchl. 130 163 Geschäftsleben 709 830 Glaubensbegriff 438 prot. Glaubenskrieg 725 Gleichheit-Ungleichheit 49 53 60-65 127 175 308 314 f. 410 671 731 812 954 Gnade 271 427 436 449 485 508 644 8II Gnosis 19 20 98f. 101 l 53 856 897 Gottesbegriff 16 27 37 44 52 62 88 174 185 264 283 381 382 440 446 f. 649 672 847 865 Gotteinigung } 857 f. 859 878 919 - Vergottung G ottesgesetz 378 41o f. 416 Gottesgnadentum 168 f. 310 316 751 H Handel 127 f, 346 577 705 f. 913 956 Hattemisten 904 Hausgemeinde 903 905 Heiligung 490 793 Heilsarmee 842 Herrenhuter 833 f. 884 922 f. Hugenotten 656 724 731 774 Humanismus 283 420 431 697 870 Humanität 768 931 Hussitismus 390 393 401 f, 409 f. 813 878

J Jansenismus 827 923 Idee, christl. 71 74 87 104 137 251 282 310 352 356 408 411 420 f. 429 431 452 683 792 811 826 918 Jesus 15 16 27 28 34 40 41 44 49 93 f. 104 296 373 376 855; als Messias 5 8; als Christus 58 59 60 63 68 83f. 376 440 455 514 f. 852 856 f, 868 f, 896 lmmanenzidee 531 (des Luthertums) 919 930 946 (modern) Individualismus 68 72 83 86 90 107 150 171 232 244 306 322 354 357f. 376 392 421 424 440 671 717 757 777 792 812 864 865 931 961 965 lndependentismus 405 410 512 739 745 749 759 775 798 817-819 862 908 f. Interventionspolitik 724 lnstitutio Ca!vini 684 Joachimiten 390 405 410 Joristen 893 899 Irvingianer 842 902 Judentum 715 Jugendunterricht 776 Jurisdiktionsgewalt 219 515 f.

Sachregister.

K Kaiserzeit, römische 21 f. 27 31 120 f. 126 Kaisertum 167 f. 189 f. 193 195 342 Kalixtiner 402 Kapitalismus 354 421 708 f. 711 f, 718 780 955 f. Kastenordnung, wittenbergische 537 Karolinger 195 198 207 240 Karität 575 589 830 Katharer 238 385 389 Katholizismus 173 187 208 227 334 438 452 462 507f. 519 550 555 585 642 647 718 721 792-794 806 809-813 860 943 949 959 - mod. 179 344 431 809 Katechismus, luth, 552 calv, 663 Ketzerrecht 223 388 Kirche 92 f. 105 109 rr6 119 136 175 178 182 188 213 f. 230 241 254 272 275 325 337 352 f. 360 362 368 f. 398 413 423 Wiel.; 448 472 484 Prot.; 513 luth.; 588 590 677 683 Calv.; 700 Sekten; 734 738 747 795 806 82l 873 932 944 f, 964 - unsichtbare 865 895 Kirchengut 204 f. 222 Kirchenreform 383 Greg.; 398 Wiel. : 795 prot. ; 828 Spener Kirchenrecht 87 89 90 f. 135 172 196 341 388 516 f. 683 829 Kirchenväter 50 101 rr7 rr8 121 147 156 159 162 165 167 168 175 201 359 406 410 Kirchenzucht 134 l 88 829 Klassenkampf 962 964 Klerus 88 f. 92 104 131 139 191 205 231 337 384 388 Kloster 141 177 188 203 f. 918 Konfessionalismus 873 893 Konfirmation 829 Konformität, Elisabeths 742 f. 772 Kongregationalismus 740 742 f. 745 f. 775 816 f. 862 885 Konkupiszenz 732 941 Konsistorium 5 l 7 588 Konventikel 828 834 882 885 932 Kreuzzüge 205 230 249 387 Kriegsproblem 725 728 807 814 910 914 Kult 83 220 388 867 932 937 Kultfreiheit 760 Kultur, christl, 126 172f, 177 179 181 222 272 275 357 408 422 426 667 959 - mod. 229 357 432 717 Kyniker 118 L Labadisten 825 827 842 902 f, Laienpredigt 720

Laientum 384 f, 413 417 418 f. 461 829 840 907 Landeskirchentum 195 197 206 240 384 459 466 516 f. 798 828 Lehnswesen 196 206 Leveller 82 l Liberalismus 3 310 335 354 537 754 763 768 769 791 848 Liebesidee 115 rr6 539 720 866 Liebestätigkeit 134 f. 247 304 720 s, Karität Lollharden 400 8 l 5 Lutheraner 503 530 680 702 Luthertum 105 173 334 455 506 5°9 511 512 f. 515 f. 549 f. 555 589 59° 642 648 652 667 706 718 721 728 751 774 777 790 792 794 806 827 831 860 924 931 943 944 949 953 959 964 - mod. 555

M Mährische Brüder 407 f. 834 f. 924 Manchestertum 717 Menschenrechte 355 760 768 Mennoniten 742 787 808 913 Merkantilismus 584 589 Merowinger 204 Methodisten 748 779 792 827 836 f, 862 884 918 Millenarier 825 Mission 205 368 389 590 783 830 945 Mittelalter 122 126 140 174 179 182 f. 193 194 230 233 241 332 381 420 429 448 470 944 Modernismus 270 285 328 Monarchomachen 691 726 Mönchsregel 197 203 Mönchtum 94 107 l 16 f. 122 126 131 143 156 176 179 188 228 231 f. 349 359 360 410 427 442 507 810 812 Monogamie 129 f. Montanismus 105 155 359 Moral, kath. 276 526 807 - prot. 476 501 f. 509 529 647 654 797 807 - antike 332 Mysterien 19 59 88 851 Mystik 96 144 281 383 390 392 420 f. 778 783 794 797 842 848 849 (Arten derselben) 864 866 868 87 l f. 886 899 903 f. 919 920 f. 939 94° f, N Natur - Uebernatur 264 f. 271 442 Naturalwirtschaft :104 241 242 f. Naturgesetz, sittliches 52 144 146 I 58 164 228 253 261 264 f. 289 290 410 f. 416 417 442 444 494 499 5o8 53° 657 804 811 821

990

Sachregister.

Naturrechtslehre 51 54 164 167 170 253 272 329 332 359 378 404 532 544 578 585 688 691 700 772 823 945 953 Nazarener 960 Nestorianer 188 Neues Jerusalem 901 903 Neuplatonismus 56 229 271 274 359 382 856 857 869 898 908 928 Neues Testament 16 29 377 387 811 853 860 Nominalismus 283 430

173 459 763

277 921 441

0 Obrigkeit 588 Occamismus 283 430 Orden 227 237 387 551 809 Orthodoxie 555 798 807 935 Ortlibarier 390 Ostrom 194 Ottonen 195 p Papalidee 195 207 210 211 310 320 342 384 414 415 416 515 Particular Baptists 817 Patarie 384 Patriarchalismus, christl. 67 f. 93 109 296 299 314 344 551 Pauperismus 48 67 Perfektionismus 828 838 Persönlichkeitsideal 354 421 450 668 f. 856 Philosophie, mod. 765 Pietismus 512 589 733 734 773 775 776 777 783 785 788 f. 792 798 810 827 f. 831 860 898 899 903 904 907 918 f. 939 Pilgerväter 747 748 780 Platonismus 26 31 56 98 144 145 181 f. 216 236 254 Polis 30 118 239 243 251 312 Prädestination 62 f. 121 289 398 f. 404 438 643 650 669 739 793 870 881 956 Präzisismus 773 827 841 Preistheorie 127 346 574 706 956 Presbyterianer 695 739 748 749 775 Proletariat 22 f. 822 Prophesyings 776 951 Protestantismus 180 352 420 426 429 434 438 462 507 508 512 531 648 679 793 794 810 812 813 861 939 964 - mod. 180 794 - asket. 793 949 f. 954 959 962 964 Puritanismus 405 557 652 733 736 740 742 759 773 f. 783 789 807 827 862 932

Q Quäker 760 824 825 826 835 862 870 898 904 907 912 f. 955 Quäkerstaat Pennsylvanien 915 Quietismus 649 R Räte, evgl. 145 380 Radikalismus, christl. 359 376 406 409 5II 815 817 8:J6 Ranters 902 907 Rationalismus 76 701 870 87 l Rechtslehre, kath. 206 f. 2 l 1 328 341 Rechtfertigung 648 Reformation 194 358 425 429 431 433 512 808 809 Reich Gottes 35 36 42 47 48 IIO 422 945 Reichskirche l 97 Rekkeljiken 782 Relativismus 873 889 924 93 l ReligionsgP.schichtliche Schule 936 Religionsphilosophie 871 927 Remonstranten 890 Renaissance 194 237 512 777 931 Restauration 555 (pr.-deutsch) 830 orth. Revolution, engl. 702 780 781 815 817 828 899 - christl. 379 410 4II 844 845 946 961 Revolutionsrecht 340 535 561 665 687 Rijnsburger 894 Romantik 929 936

s Sakramentsidee 84 f. 89 217 f. 388 400 439 449 455 Salier 195 198 Salutisten 792 Seekers 907 Sekte 184 358 360 382 423 424 426 427 433 507 51 l 677 703 787 792 794 f. 810 f. 812 827 839 843 853 869 876 939 942 944 946 f. 956 960 961 964 Separatisten 747 Severer 153 Sexualethik 100 104 131 132 353 556 732 941 951 Sittengesetz, christl. 263 f. 528 Sklaverei 19 22 f. 24 53 120 130 132 f. 142 162 313 355 581 768 840 915 Skotismus 283 Sozialdemokratie :J 754 757 769 821 844 Sozialismus 381 405 406 f. 642 677 721 822 824 844 848 915 943 945 961

99 1

Sachregister. Sozialphilosophie, kath. 282 284 f. 325 330 335 350 5rn511; prot. 475 510 524; luth. 556; ask. Pr. 958 f. Sozialpolitik 126 655 Sozialproblem 1 11 355 Sozialreform 126 326 334 585 945 Sozinianer 871 Spiritismus 926 Spiritualismus 390 391 744 746 747 756 760 761 794 821 848 858 f. 863 864 898 905 917 f. 927 930 934 94o f. 960 Sünde 427 f. Supranaturalismus 92 104 450 Synodalverfassung 730 Sch Schisma 397 Schmalkalder Bund 538 Scholastik 279 530 Schule 177 776 951 Schwärmer 814 825 879

u Unabhängigkeitskrieg, amerik. 915 Union 776 Unitarier 748 Universalepiskopat des Papstes 209 210 214 Universalismus, religiöser 68 72 83 86 90 107 195 221 871 Urgemeinde 429 853 Urkirche, Ideal der 391 393 Urstandslehre 53 162 445 499 535 671 700 Utilitarismus 769 Utraquisten s. Calixtiner V

St Staatsidee 10 12 45 70; Paulus 73 148 f.; germ.-rom. 195; Kirchenväter 201; Greg. 213 f.; Thomas 253 336 339 353 414; luth. 485 521 540 543 556 560; calv. 661 683; Hobbes 702: Sekten 729 744 754 760 906 953 Staatskirchentum 193 195 196 f. 736 760 782 784 785 954 Stadt 121 250 f. 312 344 377 384 386 433 578 588 Ständegliederung 120 332 442 522 582 Stellvertretung Christi 232 322 447 Stoicismus 21 26 31 32 44 52 f. I05 144 146 f. 158 162 165 167 181 f. 216 229 251 254 359 410 502 765 846 856 T Taboriten 403 813 878 Taufe 341 400 455 491 742 744 842 - Spättaufe 803 806 816 - Kindertaufe 455 465 74a 8o3 Täufertum 402 410 450 471 51 l 682 702 736 738 742 744 746 760 797 f. 814 815 817 818 843 863 870 895 913 Tempel, württembg. 843 Tertiarier 232 Theokratie 170 172 214 216 229 423 566 751 Theologie, moderne 935 Theismus 874 887 Theosophie 926 Thomismus 182 f. 252 290 293 315 369 427 429 430 508 512 525

Toleranz 750 758 f. 761 787 866 872 889 890 905 914 915 940 Traditionalismus, dogmatischer 84 85 86 88 298 Trennung von St. u. K. 754 f. Trinität( dogma) 462 856 868

863 664 75° 860

240

347 551

Vaticanum 209 Vereinskirche 812 817 Verschooristen 904 Vertragstheorie 696 Viktoriner 222 237 857 Virginität 100 101 131 208 557 Volkskirche 736 783 792 800 811 Volkssouveränität 684 f. 694 Vollkommenheitsideal 232 233 282 322 381 Sekt.; 442 Prot.; 484 Luth.; 491 644 Ca!. ; 838 Meth.

w Wahrheitsbegriff 472 Luth.; 739 Calv.; 872 myst.-spirit. Waiters 907 Waldenser 226 386 389 f. 394 405 808 843 Waterländer 815 Werke, gute 138 276 777 783 Wiklifie 381 393 f. 417 Wirtschaftstheorie 46 73 Alte Kirche; 241 f. 346 Mittelalt. 957; 571 957 Luth.; 704 957 Calv.; 955 ask. Prot. Wohlfahrtspflege 588 f. Wort, das bibl. 449 463 f. Wucher 128 346 572 574

z Zentrum 12 Zinswesen 708 f. 720 f. Zuchtgericht 776 Zunft 251 333 343 580 677

992

Namenregister. Abaelard 222 Agrippa v. Nettesheim 897 Althusius 696 Ambrosius 105 Amerika 355 721 731 739 748 755 768 774 789 817 884 914 926 952 Amesius 783 Amsterdam 747 816 898 Aristoteles 56 l 18 229 254 265 274 f. 309 315 317 344 359 410 502 525 530 542 f. Arnold von Brescia 226 386 Arnold, Gottfried 368 804 92 l Augustin 63 103 106 119 132 164 170 191 215 229 236 254 268 359 367 410 562 857

760 948

270 499

168 289

Baco 908 Barclay 910 916 Barge 434 68 l 880 Barrow 743 747 Basel 890 900 Baxter 776 Bayle 766 Bentham 717 Bern 682 Bernhard von Clairvaux 222 226 237 784 850 857 919 923 Bernstein 914 Beza 607 688 709 724 726 Biegelmaier 90 II2 f. u5 120 125 127 152 Bismarck 2 537 769 Boehme, Jakob 898 908 927 Boehmer 190 200 216 223 234 438 458 Bonaventura 386 Bonifacius 197 Bonus 933 Brentano 46 51 113 127 128 132 Browne 742 f. 747 759 816 Buddensieg 395 Buddeus 526 Bünderlin 896 Bunyan 776 818 902 Burkhardt, J. 4 76 77 91 Butzer 682 752 773 774

Eckart 934 Ecke 884 Edelmann 87 l 92 l Eger 497 504 Ehrhard 180 Eicken, von 181 200 223 f. 226 287 363 Emerson 931 Emden 782 Endemann 127 England 393 411 512 694 701 709 721 730 732 735 739 759 766 768 774 815 816 817 837 884 888 902 907 f. 962 963 Epiktet 54 Erasmus 697 87 l 886 892 Estienne 690 Eucken 933 Everard, John 907 Feugueray 256 267 273 f. 316 Fichte 927 931 Filmer 700 Fludd 898 Fox, George 908 Frank, Seb. 368 458 823 862 870 872 886 f. 889 896 897 f. 900 905 927 934 Francke, Aug. Herrn. 920 Franklin 915 Frankreich 384 386 41 l 414 512 709 732 767 774 963 Franz von Assisi 390 400 Fries 924 Galenus Abrahams 894 904 Gaß 3 90 102 106 125 Genf 655 681 f. 706 f. 720 731 735 757 774 807 963 Gent,l!et 690 Geulinx 904 Gierke 90 i. 147 151 173 216 288 297 697 Gladstone 769 Goebel 737 802 833 861 867 Gothein 284 339 765 von der Goltz 459 462 Gottschick 365 398 400 402 f. 438 456

Namenregister, Gregor der Gr. 133 165 191 198 208 f. 213 f. 219 222 236 254 368 Grotius 545 697 Grützmacher, R. 874 883 Haegermann 764 Haetzer 897 Hall 907 Hamann 927 Hamack 42 51 75 81 96 III 180 209 237 268 860 936 963 Harrison 750 818 825 Hartmann, Ed. von 933 Hauck 192 202 216 231 Hegel 927 93 I 934 f. Heinrich von Toulouse 386 Helmont, van 898 Helwys 816 Herder 927 Hermas 157 Hermelink 431 475 Heumann 441 502 506 935 Hobbes 702 Hoensbroech 216 218 Hofmann, von 524 f. 533 554 Holland 384 386 388 902 Hotmann 690 Huegel, F, von 860 Huß 401 f. 408 Hut 813 Hylkema 900 910 Jacobi, F. H. 927 James, W. 98 296 Janaway 907 Jellinek 760 764 Innocenz III 209 Jod! 3 30 56 Irenaeus I65 Isidorus Hisp. 165 Italien 384 386 39 l 420 Jung-Stilling 919 Jurieu 691 729 Justinian 131 168 Kant 284 555 669 927 Karl d. Gr. 197 201 204 222 236 240 Karlstadt 858 862 879 896 Katharina von Genua 920 Kautsky 17 433 Kierkegaard 932 Knox, John 693 731 Kuyper 731 738 f. 763 769 Labadie 842 Lagarde 940 Lampe 729 Lamprecht 199 f, 963 Laski 774 Lavater 919 927 T r o e I t s c h, Gesammelte Schriften. I.

993

Leibniz 698 9a7 Lessing 927 939 Leyden 742 747 749 Lilburn 82 l 824 Locke 699 717 754 760 824 Loening 143 188 Lodensteyn 783 841 903 Lombardei 384 386 Loofs 225 470 827 836 842 Luthardt 3 255 486 f. 645 Luther 420 430 f, 434 f. 448 450 f. 452 f. 481 512 524 532 541 552 555 578 586 643 654 660 663 f, 669 750 795 797 808 828 849 858 860 866 872 f. 876 879 881 899 919 934 Macchiavelli 536 578 Maeterlinck 933 Major, John 694 Masius 546 Marsilius von Padua 414 Marx 844 Maurenbrecher 291 338 345 Mausbach 18 l Melanchthon 471 524 530 541 f. 661 Methodius 131 Meyer, Th. 173 294 317 Middelburg 747 902 Milton 760 766 Monk 819 825 Morus, Th, 283 421 Müller, Joh. 848 932 942 Müller, K. 198 260 406 798 Münzer, Th. 878 880 Nathusius 5 6 12 13 Naumann 13 47 592 Neu-England 746 747 748 757 780 Niederlande512 709 721 724 73of. 735 740 774 784 f. 813 f. 841 891 902 919 963 Niclaes, Heinr. 893 901 Nicolaus von Kues 283 Novalis 470 924 929 931 937 Occam 416 430 451 Oldenbarneveld 697 Origenes 158 Overbeck 4 146 Owen, R. 824 844 916 Paracelsus 897 926 Paulus 28 29 51 59 63 66 67 68 94 98 131 147 155 296 358 368 429 447 452 455 851 852 856 863 923 Pelagius IOO Penn 914f. Peter von Bruys 386 Peter von Chelzic 407 Peutinger 578

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Namenregister.

Philipp v. Hessen 752 Pirkheimer 578 Plato 54 56 131 233 317 Plenge 847 Plinius 25 123 Plockboy 824 Poimandres 907 Pufendorf 545 702 Rachfahl 650 704 Rade 560 Ragaz 365 Ranke 186 Ratzinger 143 294 327 Ritschl 4 374 454 645 647 669 778 785 800 836 860 867 869 874 920 935 Rodbertus 8 Rothe, Rich. 935 941 Rousseau 29 698 Saltmarsh 909 v. Seckendorf 569 584 Segalleli, Gerb. 391 Seneca 54 163 165 Servet 889 897 St. Simon 13 844 937 Simons, Menno 814 Sohm 85 92 509 513 520 Spener 828 920 Spinoza 698 871 904 927 Spruyt 894 Swedenborg 926 Schelling 927 931 Schleiermacher 867 924 929 931 932 934 935 937 941 Schopenhauer 933 Schottland 5 12 694 740 774 775 Schortinghays 903 Schweiz 77J 774 789 Schwenkfeld 750 858 862 873 881 f. 886 895 900

Stahl, Jul. 76 245 536 545 590 769 Stella, Eudo von 386 Stuarts 695 731 776 Taffin 783 Tanchelm 386 Tauler 889 896 907 920 Teellinck 783 903 Tersteegen 876 919 Thamer 897 Thomas von Aquino 183 215 219 253 277 312 316 318 337 340 343 344 358 369 406 416 Thomasius 546 941 Tryers 751 Udemann 783 Uhlhorn 81 105 113 128 132 134 174 177 199 314 503 589 Victoriner 850 Vinet 741 f. Vives, L. 578 588 897 Voetius 783 784 951 Weber, M. 251 346 355 656 715 f. 718 877 950 962 Weigel, V. 862 885 Weine! 28 157 Weingarten 822 827 832 860 Weiding 844 Weber 858 Wesley 858 Whitgift 747 Wiehern 590 Wiclif 404 f. 406 408 414 Williams, Roger 760 766 Winstanley 823 Wirtz 900 Ziegler, Th. 3 108 225 Zinzendorf 834 f. 884 922 f. Zürich 681 812 814 Zwingli 681 752 812 880