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German Pages 239 Year 1965
PAUL T I L L I C H • GESAMMELTE W E R K E BAND
III
PAUL
TILLICH
DAS RELIGIÖSE FUNDAMENT DES MORALISCHEN HANDELNS Schriften zur Ethik und zum Menschenbild
GESAMMELTE W E R K E BAND I I I
EVANGELISCHES VERLAGSWERK
STUTTGART
Herausgegeben von Renate Albredit
1. Auflage Ersduenea 1965 im Eyangeltsdien Verlagswerk GmbH» Stuttgart Gesamtherstellung: Union Drudterei GmbH Stuttgart Printed in Germany
JAMES LUTHER ADAMS GEWIDMET Dem Freund und besten Kenner meiner Schriften in Amerika
VORBEMERKUNG
DES
HERAUSGEBERS
Der vorliegende Band ist innerhalb der „Gesammelten Werke" der erste, der nach dem Tode des Autors erscheint. Noch zu seinen Lebzeiten hat Paul Tillich über die Auswahl der hier vereinigten Aufsätze entschieden sowie alle Übersetzungen der englischen Texte überarbeitet und in der vorliegendeil Form autorisiert. Einige wenige Rückfragen haben ihn vor seinem Tode nicht mehr erreicht. Die zur Debatte stehenden Entscheidungen wurden von Herrn Professor D. Dr. Carl Heinz Ratschow getroffen. Herr Professor Ratschow wurde vom Autor als derjenige benannt, der Text- und Übersetzungsprobleme endgültig zu entscheiden hat. Verlag und Herausgeber sind ihm zu großem Dank verpflichtet, daß er diese mühevolle Aufgabe übernommen hat. Bereits an diesem Band hat er an der Textgestaltung wesentlich mitgewirkt und dadurch dem Autor die Überarbeitung erleichtert. Für weitere Mitarbeit sei gedankt: Herrn Pfarrer Peter Beier für kritische Begutachtung einiger theologischer Übersetzungstexte, Herrn Dr. Heinz Emunds für seine sachverständige Hilfe bei der Übersetzung aller philosophischen Abschnitte, Frau Dr. Inge Henel, deren unschätzbares Verdienst es ist, in persönlichen Diskussionen die Übersetzung der ersten drei Aufsätze von „Morality and Beyond" gemeinsam mit dem Autor durchgearbeitet zu haben. Nur dadurch konnte die Textgestaltung noch im Sinne des Autors erreicht werden. Herrn Dr. Theodor Mahlmann danken wir für die Herstellung des Sachregisters, Frau Dr. Gertie Siemsen und Frau Gertraut Stöber für die Hilfe beim Korrekturlesen, Herrn Professor Dr. Karl Heinz Volkmann-Schluck für einige wertvolle terminologische Ratschläge. Aus praktischen und inhaltlichen Gründen wurden in diesem Band die ethischen und anthropologischen Schriften vereinigt. Eine sachbezogene Aufteilung ergab sich zwanglos durch die Verschiedenheit der Gebiete, innerhalb derer die chronologische Reihenfolge angestrebt wurde. Die ethische Schrift „Das religiöse Fundament des moralischen
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Handelns" (Obersetzung von „Morality and Beyond") wurde trotz ihres späten Erscheinungsdatums (1963) wegen ihres grundlegenden Charakters an den Anfang gestellt. Für das bessere Verständnis dieser Schrift erschien es hilfreich, erklärende Anmerkungen des Autors folgen zu lassen, die einem Briefwechsel zwischen Paul Tillich und dem Herausgeber entnommen sind. Die bibliographischen Anmerkungen befinden sich am Schluß des Buches. Düren, im Januar 1966
Renate Albrecht
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I N H A L T
Vorbemerkung des Herausgebers
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ZUR ETHIK
A.
Grundlegung
1. Das religiöse Fundament des moralischen Handelns Einleitung
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I . D i e religiöse Dimension des moralisdien Imperativs . . . . I I . Der religiöse Ursprung der moralisdien Gebote I I I . Das religiöse Element in der Motivation zum moralischen Handeln IV. Das transmoralisdie Gewissen V . Ethik in einer sich wandelnden Welt 2. Die Überwindung des Persönlichkeitsideals 3. Ist eine Wissenschaft von den Werten möglich?
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B. Sozialethik 4. Die Bedeutung der Kirche für die Gesellschaftsordnung in Europa und Amerika 5. Der Angriff des dialektischen Materialismus auf das Christentum 6. Die Judenfrage - ein christliches und ein deutsches Problem . . 7. Christentum und Marxismus
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ZUM MENSCHENBILD
8. Das christliche Menschenbild im 20. Jahrhundert 9. Typisdie Formen des Selbstverständnisses beim modernen Menschen 10. Das christliche Verständnis des modernen Menschen 11. Der Mensch im Christentum und im Marxismus 12. Wie hat die Wissenschaft im letzten Jahrhundert das Selbstverständnis des Menschen gewandelt?
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Bibliographische Anmerkungen
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Namen- und Sachregister
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A. Grundlegung 1. D A S R E L I G I Ö S E F U N D A M E N T D E S MORALISCHEN HANDELNS EINLEITUNG
„Theologische Ethik" ist ein Element der systematischen Theologie und ist implizit in jedem ihrer Teile enthalten. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wird sie jedoch in Vorlesungen und Untersuchungen häufig gesondert behandelt; denn nur so kann der Theologe dem umfangreichen Material Genüge tun und dem berechtigten Wunsch nachkommen, einzelne Probleme im Zusammenhang zu behandeln. In den folgenden fünf Kapiteln steht die alte Frage zur Diskussion, wie sich Moralität und Religion zueinander verhalten. Diese Frage ist wieder wichtig geworden, sowohl angesichts der gegenwärtigen kirchlichen Lehre wie angesidits der modernen „philosophischen Ethik". Im Rahmen der analytischen Philosophie ist audi die Ethik auf logische und semantische Probleme reduziert worden, oder sie ist zum Teil einer Werttheorie gemacht worden, die selbst schon die Aufgabe der ontologischen Betrachtungsweise voraussetzt, oder schließlich ist im reinen Pragmatismus oder im reinen Existentialismus audi die Möglichkeit ethischer Normen verneint worden (wobei die Bezeichnung „rein" allerdings auf einer Täuschung beruht). Wichtiger für unser Problem ist jedoch der gegenwärtige Stand des Predigens und Lehrens in der Kirche, der katholischen wie der protestantischen, besonders aber in der letzteren. Das Evangelium, d. h. die frohe Botsdiaft von der Versöhnung und Wiedervereinigung mit Gott als dem Grund und Ziel unseres Seins ist in eine Vielzahl von z. T. dogmatischen und z. T. moralischen Gesetzen verkehrt worden. Das „Jodi" der moralischen Gebote, das Jesus den Menschen erleichtern wollte, ist zu einer schwereren Last geworden, und die Botsdiaft der Gnade ist weitgehend verloren gegangen - trotz der zahlreichen liturgischen Gebete um Vergebung der Sünden. Diese bringen nichts mehr von den Visionen zum Ausdruck, die in den Paulinischen Briefen, in dem Johannesevangelium oder in der siebenten Bitte des Vaterunsers enthalten sind, nichts von dem Bild einer dämonischen Macht, die das Uni13
versum beherrscht und den Menschen von Gott trenilt und zur Feindschaft gegen ihn treibt. Die Gebete um Vergebung haben für viele Menschen keine andere Funktion als die, ihr unruhiges Gewissen zu erleichtern, das die Folge ihres Verstoßes gegen traditionelle und oft lächerliche Vorschriften, meist in Form von Verboten, ist. Sie sind für diese Menschen nicht Ausdruck des großen Paradoxes, daß es eine Wiedervereinigung mit dem Grund unseres Seins gibt, unabhängig von unserem „richtigen" Handeln, unserem „Gutsein" oder unserem „guten Willen". Deshalb ist die Botschaft von der Gnade verloren gegangen trotz liturgisdier Formen, trotz der Lieder und trotz der Texte aus den Paulinisdien Briefen. Die Gnade als die Macht, die den Unannehmbaren annimmt und dem zu Tode Kranken Heilung bringt, ist durch das Predigen religiöser und moralischer Gesetze verdrängt worden. Daß viele Menschen sich angesichts dieses gnadenlosen Moralismus der profanen Ethik zuwenden, ist verständlich. Aber wenn sie dort nichts als die logische Analyse ethischer Theorien vorfinden, besteht die Gefahr, daß sie einem zynischen Relativismus oder einem totalitären ethischen Absolutismus verfallen, dem einen häufig aus Enttäuschung am anderen. Diese Situation stellt uns vor die Frage: Gibt es etwas in der ethischen Theorie wie im praktischen Handeln, das sowohl den gnadenlosen Moralismus wie den normenlosen Relativismus transzendiert? Die Antwort des Christentums auf diese Frage ist, daß mit dem Kommen des Christus eine Neue Wirklidikeit erschienen ist, eine Seinsmacht, an der wir teilhaben können, und aus der, wenn auch nur fragmentarisch, wahres Denken und richtiges Handeln erwachsen können. In anderen Religionen und selbst in säkularen Bewegungen von quasireligiösem Charakter wie dem Nationalismus, dem Sozialismus und dem liberalen Humanismus finden sidi ähnliche Verheißungen. Sein geht in allem, was ist, den Menschen eingeschlossen, dem Handeln voraus, obwohl im Menschen als dem Träger der Freiheit das Handeln in der Vergangenheit das Sein in der Gegenwart mitbestimmt. Diese Antwort steht im Gegensatz sowohl zum moralischen Legalismus wie zur amoralischen Gesetzlosigkeit. Sie bestätigt die Moralität und weist zugleich über sie hinaus auf ihr religiöses Fundament. „Die religiösen Prinzipien des moralischen Handelns" ist das Thema der ersten drei Kapitel der vorliegenden Aufsatzreihe, die eine gewisse Einheit bilden und ursprünglich unter dem gleichen Titel als die „Jacob Ziskind Memorial Lectures" am Dartmouth College gehalten wurden. Die beiden letzten Kapitel, meinem Buch „The Protestant Era" entnommen, behandeln wichtige Fragen, die sich aus der prinzipiellen 14
Analyse ergeben: das vierte Kapitel die Befreiung des moralischen Gewissens durch seine transmoralische Fundierung, und das letzte Kapitel die mögliche Uberwindung des ethischen Relativismus durch eine Vereinigung der beiden Prinzipien der agape und des kairos. Die Art, in der diese Sdiriftenreihe zustandekam, erklärt gewisse Wiederholungen und gelegentliche Unvollständigkeit. Trotz dieser Naditeile hoffe ich, daß sie dazu beiträgt, den längst überholten Konflikt zwischen Vernunft-bestimmter und Glaubens-bestimmter Ethik zu überwinden. Ich habe dies zu erreichen versucht, indem ich gezeigt habe, daß die religiösen Prinzipien in den Prinzipien des moralischen Handelns enthalten sind. Wenn Moralität ihrem Wesen nach religiös ist, wie Religion ihrem Wesen nach moralisch ist, sind Religion und Moralität nicht voneinander abhängig, und die eine kann nicht durdi die andere ersetzt werden. Diese Sdiriftenreihe ist Reinhold Niebuhr gewidmet, dem ich durch 30 Jahre der Freundschaft und des Dialogs verbunden bin. Die Spannung zwischen dem ethischen Pol, den er vertritt, und dem ontologischen, den ich vertrete, hat sich als wichtiger Zugang zu dem Mysterium der Theologie und des Lebens erwiesen. Ich werde ihm nie vergessen, daß er meiner Familie und mir im Jahre 1933 verholfen hat, nach Amerika zu kommen, nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen hatten und midi dadurch zwangen, das Land zu verlassen. Seit jener Zeit haben wir zusammen gearbeitet und einander unterstützt durch gegenseitige Kritik und im Geiste der agape.
I . D I E RELIGIÖSE DIMENSION DES MORALISCHEN IMPERATIVS
In den drei hier vorliegenden Kapiteln soll von drei Gesichtspunkten aus erörtert werden, in weldier Weise das Religiöse dem Moralischen immanent ist. Das erste Kapitel behandelt die religiöse Dimension des moralischen Imperativs, das zweite den religiösen Ursprung der moralischen Gebote und das dritte das religiöse Element in der Motivation zum moralischen Handeln. Um zu verstehen, was mit dem Ausdruck „moralischer Imperativ" gemeint ist, ist es nützlich, die drei grundlegenden Funktionen des menschlichen Geistes zu unterscheiden: Moralität, Kultur, Religion. Wenn wir sie „Funktionen des menschlichen Geistes" nennen, so meinen wir mit „Geist" die dynamische Einheit von Leib und Seele, von Vitalität und Rationalität, von Unbewußtem und Bewußtem, von 15
Emotionalem und Intellektuellem. An jeder Funktion des menschlichen Geistes nimmt die ganze Person teil, nicht nur ein Teil oder ein Element. Wie ich oft betont habe, muß man das Wort Geist als eine natürliche, die ganze Person betreifende Qualität des Menschen verstehen und darf dem intellektuellen Element im Geist-Begriff keinen Vorrang geben (wie es z. B. das englische Wort „mind" tut, das oft als Obersetzung für Geist gebraucht wird). Keine der Funktionen des Geistes betätigt sich isoliert von den beiden anderen. Dennoch müssen sie unterschieden werden, weil sie in sehr verschiedener Weise zueinander in Beziehung treten können. In kurzer Formulierung: Moralität ist die Konstituierung des Trägers des Geistes, des geschlossenen oder zentrierten Selbst - der Person. Kultur deutet auf die schöpferisdie Macht des Geistes wie auf das Ganze seiner Schöpfungen. Religion ist das Selbst-Transzendieren des menschlichen Geistes in Richtung auf das, was das Letzte und Unbedingte in Sein und Sinn ist. Moralität ist der Gegenstand unseres ersten Kapitels. Aber wir können nicht in angemessener Weise von Moralität handeln, ohne ständig auf Kultur und Religion Bezug zu nehmen. Daraus ergibt sich eine gewisse Schwierigkeit für eine gedrängte Abhandlung wie die vorliegende. Nur in einem umfassenden System der menschlichen Selbstinterpretation und Lebensdeutung (das idi in meiner Systematischen Theologie versucht habe) könnte diese Schwierigkeit behoben werden. Die vorliegende Abhandlung muß eine solche Interpretation und Selbstdeutung voraussetzen, kann sie aber nicht entwickeln. Walnüssen daher Gedankengänge aus meiner Systematischen Theologie heranziehen, um einer möglichen Lösung des Problems der religiösen Prinzipien des moralischen Handelns näher zu kommen. Es ist der moralische Imperativ, der sowohl der Kultur wie der Religion letzten Ernst verleiht. Ohne Moralität würde die Kultur zu einem ästhetisierenden oder utilitaristisdien Unternehmen und die Religion zu einem emotionalen Mystizismus herabsinken. Es war das prophetische Wort des Alten Testaments, das mit der Forderung der Gerechtigkeit den moralisdien Imperativ der Kultur und der Religion der damaligen Zeit entgegenstellte. Die Verkündigung der Gerechtigkeit war von einem unbedingten Ernst getragen, wie wir ihn kaum in einer anderen Religion wiederfinden. Auf ihm beruht der Ernst der christlichen Botschaft und alles dessen, was letzten Ernst innerhalb der christlichen Kultur zeigt. Kunst und Wissenschaft, Politik und Erziehung - alle Bereiche der menschlidien Kultur werden entleert und zerstören sich selbst, sobald das moralische Element verloren geht. Es 16
zeigt sidi in der wissenschaftlichen und künstlerischen Redlichkeit, die zuweilen das letzte Opfer fordert. Es zeigt sich im Kampf für Humanität und Gerechtigkeit im Sozialen wie im Politischen, in der Liebe zum Anderen als Folge der erfahrenen göttlichen Liebe. Das sind Beispiele, die zeigen, daß ohne die Gegenwart des moralischen Imperativs Kultur und Religion dem Verfall ausgesetzt sind. Der moralische Imperativ ist die Forderung, das zu werden, was man potentiell ist - eine Person in einer Gemeinschaft von Personen Innerhalb unserer Erfahrungswelt ist nur der Mensch Person, nämlich ein voll zentriertes Selbst, das der Welt als Selbst gegenübersteht - der Welt, zu der er gehört und von der er gleichzeitig geschieden ist. Diese zweifache Beziehung zur Welt - Zugehörigkeit und Trennung - gibt dem Menschen die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu finden, Forderungen zu stellen und entgegenzunehmen. Als zentriertes Selbst, d. h. als Individuum, kann der Mensch im Handeln und Erkennen auf die Eindrücke, die von der Welt kommen, antworten. Er steht in der Welt, und er steht ihr gleichzeitig gegenüber, und nur insofern er ihr gegenübersteht, ist er frei von ihr, d. h. kann er „verantwortlich" antworten, nämlich durch Abwägen und Entscheiden und nicht unter Zwang. Das ist seine Größe, aber auch seine Gefahr, es setzt ihn instand, auch gegen die moralische Forderung zu handeln. Er kann sich den Kräften ausliefern, die das Zentrum seiner Person zu beherrschen und zu zerstören suchen. Er kann desintegrieren. Aber bevor wir diesen Gedankengang weiter verfolgen, müssen wir einige der bisher gebrauchten Begriffe tiefer durchdenken. Der Mensch hat eine Welt - ein strukturiertes Ganzes. Die Griechen nannten sie Kosmos wegen ihres strukturierten Charakters, durch den sie dem Menschen zugänglich ist, im verstehenden Aufnehmen und schöpferischen Umgestalten. „Eine Welt-haben" ist mehr als „Umwelthaben'". Natürlich hat auch der Mensch wie jedes andere Lebewesen Umwelt, aber im Gegensatz zu den höheren Tieren ist er nicht an seine Umwelt gebunden. Er kann sie in Richtung auf „Welt" transzendieren: in der Vorstellung, im Denken und Handeln (z. B. in sozialen Utopien, in ontologischen Begriffen, in der Raumforschung). Der Mensch hat „Welt", die ihm durch jedes Stück seiner Umwelt vermittelt wird. Seine Begegnung mit irgendeinem der ihn umgebenden Gegenstände ist auch immer eine Begegnung mit dem Universum, das sich in einem spezifischen Gegenstand manifestiert. Der Mensch begegnet nicht nur diesem Baum als diesem Baum, sondern als einem * Siehe Anmerkung Nr. 1 auf S. 81. 17
Baum unter vielen Bäumen, einem Vertreter der Gattung Baum» die ihrerseits eine spezielle Manifestation der universalen Macht des Seins ist. Eine solche Begegnung setzt Freiheit voraus - Freiheit vom Partikularen - und die Fähigkeit, im Partikularen das Universale zu sehen. Diese Freiheit manifestiert sich in der Sprache. Die Sprache lebt in UniversalbegrifTen. Es ist ein und dasselbe, ob ich sage: Der Mensch hat Welt, der Mensch transzendiert seine Umwelt oder der Mensch redet in Begriffen und sinnvollen Sätzen. Die Freiheit vom Partikularen in Form von Sprache und Begriff konstituiert die essentielle Freiheit des Menschen. Diese Freiheit ist die Voraussetzung dafür, daß er den moralischen Imperativ erfahren kann. Der moralische Imperativ ist also die Forderung, das zu werden, was man essentiell und daher potentiell"' ist. Person-sein ist die Seinsmächtigkeit des Menschen - von Natur ihm eigen - , die er in Raum und Zeit verwirklichen soll. Das wahre Sein des Menschen soll verwirklicht werden, und da sein wahres Sein Person-sein ist, so ist der Inhalt des moralischen Imperativs zunächst: eine Person zu werden. Jeder moralisdie Akt ist ein Akt, in dem ein Selbst sich als Person konstituiert und gleichzeitig den desintegrierenden Tendenzen Widerstand leistet. Denn nur die integrierte Person erfüllt die Möglichkeiten des Person-seins. Aus diesem Grunde ist ein moralischer Akt kein Gehorsamsakt gegen ein äußeres Gesetz, sei es ein menschliches, sei es ein göttliches Gesetz. Er ist das innere Gesetz unseres wahren Seins, unserer essentiellen oder geschaffenen Natur, die von uns fordert, daß wir uns in Richtung auf sie verwirklichen. Und ein anti-moralischer Akt ist nicht die Überschreitung einer oder mehrerer genau definierter Forderungen, sondern ein Akt, der der Selbstverwirklichung der Person als Person widerspricht und zur Desintegration führt. Er zerreißt die Integriertheit der Person, indem er partikularen Trieben, Süditen, Wünschen, Befürchtungen und Ängsten die Vorherrschaft gibt. Die zentrale Kontrolle ist dann geschwächt und oft fast verschwunden. Wenn das eingetreten ist und verschiedene Trieb-Elemente um die Vorherrschaft kämpfen, dann ist das Selbst gespalten und zum Schlachtfeld widerstreitender Kräfte geworden. Der „Wille" ist versklavt, -wenn man unter „Wille" ein Selbst versteht, das aus der zentrierten Totalität seines Seins heraus handelt. An die Stelle der Freiheit ist Zwang getreten. Erwägung und Entscheidung, die Kennzeichen der Freiheit, * Siehe Anmerkung Nr. 2 auf S. 81. 18
werden zur bloßen „Fassade" für übermächtige Triebe, die die Entscheidung im voraus bestimmen. Die Stimme des „essentiellen Seins" wird langsam zum Schweigen gebracht, und das Ergebnis ist ein desintegriertes, entpersönlichtes Selbst, das die Natur des anti-moralischen und damit indirekt auch des moralischen Aktes bloßlegt. Der moralische Akt als die Selbstverwirklichung des zentrierten Selbst oder die Konstituierung der Person als Person hat Analogien im Bereich aller Lebewesen, einschließlich des Menschen im rein biologischen Sinne. Die Analogie zur Desintegration der Person in unterpersönlichen Leberaprozessen ist das psychosomatische Phänomen der Krankheit. In der Krankheit machen sidi Prozesse, die notwendige Elemente im Ganzen des Lebensprozesses sind, selbständig und bedrohen das Funktionieren des Ganzen. Das krebsartige Wachstum von Gewebeteilen ist die beste Analogie zu dem, was in der Person geschieht, wenn partikulare Tendenzen das Zentrum zu beherrschen suchen und damit das Gleichgewicht zerstören und die Einheit bedrohen. Die Analogie zwischen dem anti-moralischen Akt und der körperlichen Krankheit ist in vielen (in gewisser Beziehung in allen) Fällen mehr als eine Analogie. Beide sind Ausdruck der universalen Zweideutigkeit des Lebens, dergemäß Prozesse der Selbstintegration ständig durdi Prozesse der Desintegration bedroht werden. Für das ethische Problem bedeutet das, daß der moralische Akt immer ein Sieg über desintegrierende Kräfte ist und daß sein Ziel die Verwirklichung des Menschen als einer integrierten und daher freien Person ist*. * An dieser Stelle muß eine kurze semantische Anmerkung gemacht werden. In dieser Abhandlung gebrauche idi die Begriffe Moralität, Moral und moralisch und an manchen Stellen auch die Begriffe Ethik und ethisch. Um alle begrifflichen Verwechslungen zu vermeiden, möchte idi Ethik als die Wissenschaft von der Moralität definieren, obwohl das nicht eine in jedem Fall anerkannte Begriffsbestimmung ist. „Moralität" wird hier nicht nur wie bei Kant für das sittliche Bewußtsein des Einzelnen gebraucht, sondern steht als Titel für das Gesamtgebiet aller Phänomene, die durch die moralisdie Funktion konstituiert werden. Sofern von der spezifischen Moralität bestimmter sozialer Gruppen die Rede ist, gebrauche idi das Wort „Moral" (z. B. die „Moral der Primitiven"). Das Wort „moralisch" hat durch die geschichtliche Entwicklung mehrere entstellende Nebenbedeutungen erhalten. Seit dem 18. Jahrhundert wird „moralisch" zumindest in Europa im Sinne des „Moralismus" gebraucht und bedeutete daher vorwiegend ein Verhalten des Menschen, das der unbedingten Forderung des moralischen Gesetzes gemäß ist. In den Vereinigten Staaten hingegen hat es unter dem Einfluß des Puritanismus eine Einengung auf den sexuellen Bereich erfahren. „Amoralisch" sich verhalten heißt im alltäglichen Sprachgebrauch vorwiegend: in sexueller Hinsicht keine Ge-
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Nun müssen wir fragen: Was ist die religiöse Dimension des moralischen Imperativs? Als Antwort auf diese Frage können wir sagen: Die religiöse Dimension des moralischen Imperativs ist sein Unbedingtheits-Charakter. Aber diese These führt zu der weiteren Frage: Wann ist der Imperativ unbedingt und wann ist er es nicht? Im Alltagsleben gebrauchen wir unzählige Imperative, aber die meisten von ihnen sind bedingt, z.B. wenn wir sagen: „Du solltest jetzt gehen, wenn Du das Flugzeug nodi erreichen willst. Aber vielleicht willst Du es gar nicht erreichen, und dann kannst Du bleiben." Zweifellos ist das ein bedingter Imperativ. Für einen Arzt jedoch, der das Flugzeug erreichen müßte, um einen Patienten noch rechtzeitig operieren zu können, wird der bedingte Imperativ zu einem unbedingten. Das Verpassen des Flugzeuges aus Nachlässigkeit wäre ein anti-moralischer Akt und würde auf die Person des Arztes desintegrierend wirken. Es gibt Fälle, in denen bedingte Imperative Bedeutung für einen unbedingten Imperativ haben. Und es gibt Fälle, in denen verschiedene Imperative miteinander in Konflikt stehen und jeder einzelne höchste Gültigkeit beansprucht und die Entscheidung ein „moralisches Wagnis" ist. Aber trotz dieser Fälle ist der moralische Imperativ, wie Kant sagt: „kategorisch" im Gegensatz zu „hypothetisch" oder, wie ich sagen würde, „unbedingt" im Gegensatz zu „bedingt". Es erhebt sich dann die Frage, ob Imperative, zwischen denen zu entscheiden ein Wagnis ist, überhaupt „unbedingt" genannt werden können. Dazu muß gesagt werden: Der unbedingte Charakter der moralischen Entscheidung bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form der moralischen Entscheidung als moralischer Entscheidung. Welche Seite der moralisdien Alternative ich auch wähle, ich erfahre den moralischen Imperativ immer in derselben Form des reinen „Du sollst". Trotzdem bleibt die moralische Entscheidung Wagnis, und derjenige, der sich entscheiden muß, bleibt im Zweifel, welcher von den verschiedenen möglichen Akten den moralischen Imperativ erfüllt. Denn jeder der möglichen Akte kann in einer bestimmten Situation der rechte Akt sein. Welche Möglichkeit der Mensch auch wählt - er muß die Entsetze anerkennen oder zumindest die sexuellen Konventionen mißachten. Wegen dieser beiden Bedeutungen hat man versucht, das Wort „moralisch" (moral) durch das Wort „ethisch" (ethical) zu ersetzen. Würde dies allgemein akzeptiert, so würde das Wort „ethisch" bald dasselbe Schicksal erleiden und ihm derselbe Sinn unterstellt werden, den jetzt das Wort „moralisch" hat, und dann wäre die Situation dieselbe. Aus diesem Grunde schlage ich vor, das Wort „Ethik" für die Theorie der Moralität zu reservieren und das Wort „moralisch" und seine Ableitungen von den moralistisdien und sexuellen Assoziationen zu befreien. 20
Scheidung mit dem Bewußtsein treffen, daß er unter einem unbedingten Imperativ steht. Der Zweifel gegenüber einer bestimmten moralischen Entscheidung widerspricht nicht der Gewißheit unbedingten Ernstes innerhalb der Entscheidung. Die Behauptung, daß der moralische Imperativ wegen seines Unbedingtheits-Charakters religiös sei, kann unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert werden. Manche Theologen, die den unbedingten Charakter des moralischen Imperativs durchaus bejahen, werden bestreiten, daß er aus diesem Grunde religiös sei: religiös seien ethische Forderungen nur dann, wenn sie göttliche Gebote sind. Sie seien nur deshalb unbedingt, weil sie den „Willen Gottes" ausdrücken; dies sei ihre religiöse Dimension. Gott könnte auch andere Gebote gegeben haben, und wir müssen deshalb auf die Offenbarung blicken, um zu erkennen, was Gottes Wille ist. Solche Argumentation schließt jede Art säkularer Ethik aus. Nicht nur der Inhalt, sondern auch der unbedingte Charakter des moralischen Imperativs müßte durch ein göttliches Gebot sanktioniert und in kirchlichen Traditionen oder heiligen Schriften aufbewahrt werden. Aber „Wille Gottes" muß anders formuliert werden. Er ist kein von außen kommender, uns aufgezwungener Wille, kein willkürliches, von einem himmlischen Tyrannen auferlegtes Gesetz, das unserer essentiellen Natur fremd ist und dem wir uns deshalb mit Recht widersetzen. Der „Wille Gottes" ist für uns unser essentielles Sein mit all seinen Potentialitäten. Er ist unsere „geschaffene Natur", von der Gott gesagt hat, daß sie „gut" sei, wie es im Mythos von der Schöpfung heißt. „Er sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut." Für uns manifestiert sich der „Wille Gottes" in unserem essentiellen Sein, und nur deshalb ist der moralische Imperativ verbindlich für uns. Er ist kein fremdes Gesetz, das von uns Gehorsam verlangt, sondern die „lautlose Stimme" unseres eigensten Wesens als Mensch, und zwar als Mensch mit individuellem Charakter. Wir müssen aber noch einen Schritt weitergehen. Man könnte einwenden: Die Erfüllung des eigenen Wesens ist sicherlich eine moralisdie Forderung, die in jedem Sein verankert ist. Aber warum erscheint sie als unbedingter Imperativ? Habe ich nicht das Recht, meine Potentialitäten unerfüllt zu lassen, hinter dem Person-sein zurückzubleiben, meiner essentiellen Gutheit zu widersprechen und mich schließlich zu zerstören? Ich bin ja ein Wesen, das die Freiheit hat, sich selbst zu widersprechen. So sollte ich auch das Recht zu dieser Möglichkeit haben und mich selbst vernichten dürfen. Der moralische Imperativ ist nicht mehr unbedingt, wenn die Bejahung meiner essenti21
eilen Natur Sache meiner Wahl ist, so daß ich die Bejahung vollziehen oder unterlassen kann, denn damit ist die Bejahung meiner essentiellen Natur an die Bedingung meines Wollens geknüpft und ist daher keine unbedingte Forderung mehr - und damit ist eine Bedingung eingeführt. - Die Antwort auf dieses Argument liegt in einer Erfahrung, die in der Lehre vom unendlichen Wert jeder menschlichen Seele in der Sicht des Ewigen ausgedrückt ist. Es ist kein von außen kommendes Verbot körperlicher, seelischer oder moralischer Selbstzerstörung, das wir im Moment der Verzweiflung erleben, sondern es ist die „lautlose" Stimme unseres eigenen Seins, die uns das Recht auf Selbstzerstörung versagt. Wir fühlen, daß wir einer Dimension angehören, die unsere endliche Freiheit und damit das Redit, uns selbst zu verneinen, transzendiert. Darum halte ich an meiner These fest, daß der Unbedingtheits-Charakter des moralischen Imperativs seine religiöse Qualität ist. Nicht religiöse Heteronomie, nämlich Unterwerfung unter von außen auferlegte Gebote, ist gemeint, wenn wir behaupten, daß das moralische Gebot eine religiöse Dimension hat. Der wesenhaft religiöse Charakter des moralischen Imperativs wird von der Wertphilosophie in indirekter Weise geleugnet. Die Wertphilosophen postulieren eine Hierarchie der Werte, in der audi der Wert des Heiligen einen Platz haben kann, aber nicht haben muß. Ist das Heilige mit einbezogen, so wird es meistens an die Spitze der Pyramide gestellt und den moralischen, gesetzlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Werten übergeordnet. Für unser Problem bedeutet eine solche Auffassung zunächst, daß die Wert-Gebiete einander über- und untergeordnet sind und darum nicht eines dem anderen immanent sein kann. Das Wert-Gebiet des Heiligen kann dann nicht dem Wert-Gebiet des Moralischen immanent sein und umgekehrt. Die Beziehung der Werte zueinander ist äußerlich und kann zu Konflikten und zur Eliminierung des einen oder anderen Wert-Gebietes führen am häufigsten zur Eliminierung des Heiligen. Ein zweites Charakteristikum der Wert-Theorie ist wichtig für unser Problem: Die Feststellung von Werten und ihrer Beziehung zueinander setzt ein wertendes Subjekt voraus, und es erhebt sich die Frage: Wie können Werte, die rein durdi das wertende Subjekt bestimmt sind - sei es ein Individuum oder eine Gruppe - (z. B. Werte des Angenehmen oder Nützlichen), von solchen Werten unterschieden werden, die in sich selbst gültig sind, d.h. unabhängig von einem wertenden Subjekt? Wenn es im letzteren Sinne „absolute Werte" gibt, worauf gründet sich ihre Absolutheit? Wie können absolute Werte entdeckt werden? Welche Beziehung haben sie zur Wirklichkeit? Wo 22
haben sie ihren ontologischen Ort? Diese Fragen weisen auf etwas hin, was die Wert-Theorie ängstlich zu vermeiden sucht - nämlich auf eine Lehre vom Sein, eine Ontologie. Denn Werte haben Realität nur, insofern sie in der Wirklichkeit wurzeln. Ihre Gültigkeit ist ein Ausdruck ihrer ontologischen Fundierung. Sein ist „älter" als Wert, aber der Wert ist Erfüllung von Sein. Daher ist die Wert-Theorie in ihrer Suche nach absoluten Werten auf die ontologische Frage, d. h. auf die Frage nach dem Ursprung der Werte im Sein, zurückgeworfen. Noch auf eine dritte Art wird die religiöse Dimension des moralischen Imperativs in Frage gestellt, nämlich in dem Versuch, mit Hilfe psychologischer und soziologischer Erklärungen den unbedingten Charakter aller Moral zu leugnen. Der psychologische Einfluß, den z. B. fordernde und drohende Eltern oder Lehren wie die von einem befehlenden und strafenden Gott auf den Menschen ausüben, erweckt oft das Gefühl von etwas unbedingt Ernstzunehmendem, dem man nicht entgehen und mit dem man keine Kompromisse schließen kann. In noch eindrucksvollerer Weise kann soziologisch argumentiert werden. Man kann z. B. wie Nietzsche die Formung des Gewissens von dem Druck ableiten, den herrschende Gruppen jahrhundertelang auf die Massen ausgeübt haben, ein Druck, bei dem die grausamsten Unterdrüdcungsmethoden - militärische, legalistiscne, erzieherische, psychologische - angewandt wurden. Von Generation zu Generation erzeugte dieser Druck eine wachsende Verinnerlichung der Gebote, so daß der Mensch schließlich das Gefühl hatte, unter einem inneren unbedingten Gebot, einem absoluten moralischen Imperativ, zu stehen. Ein solches Argument scheint überzeugend zu sein. Aber es ist in Wahrheit ein Zirkelschluß, denn es setzt voraus, was es beweisen will, nämlich die Identität zweier qualitativ verschiedener Strukturen. Einerseits sind Personen und Gruppen durch Traditionen, Konventionen und Autoritäten gebunden, denen sich zu unterwerfen das Gewissen befiehlt. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um ein schwaches oder starkes Gewissen, ein zu Kompromissen neigendes oder starres, ein gesundes oder zwangsneurotisches, ein vernunftgebundenes oder fanatisches Gewissen handelt. Psychologische und soziologische Erklärungen solcher inneren Zustände haben ihre volle Berechtigung, denn nichts, was sich im menschlichen Geist abspielt, sollte von psychologischer und soziologischer Erforschung und Erklärung ausgenommen sein. Aber innerhalb dieser Kausalkette manifestiert sich etwas anderes, was wir „Sinn-Struktur" nennen könnten oder - um einen berühmten mittelalterlichen Begriff zu verwenden, den die moderne Phänomenologie wieder aufgenommen hat - Intentionalität oder „noetische Struktur" 23
(von „nous" = Intellekt). Diese Struktur wird z. B. sichtbar, wenn ein Mathematiker, der wie jeder andere Mensch, psychologisch und soziologisch bedingt ist, einen neuen mathematischen Lehrsatz entdeckt. Die Gültigkeit dieses Lehrsatzes ist völlig unabhängig von der Kette der Bedingungen, die die Entdeckung möglich machte. In ähnlidier Weise erscheint das Element des Unbedingten im Sein und Sein-sollen innerhalb psychologischer und soziologischer Prozesse, die sein Erscheinen erst ermöglichen. Seine Gültigkeit ist nidit abhängig von den Strukturen, in denen es ersdieint. Psychologischer und soziologischer Druck können Sinnstrukturen zur Ersdieinung bringen, aber sie können den Sinn des Unbedingten nidit selbst erzeugen. Wie stark die psychologischen und soziologischen Elemente auch sein mögen, sie sind selbst bedingt, und es ist möglich, sich ihnen zu widersetzen und sich von ihnen zu befreien, z. B. vom „Vaterbild" oder vom „Sozialgewissen". Aber es ist nidit möglich, sich vom unbedingten Charakter des moralischen Imperativs zu befreien. Man kann zwar einen bestimmten Gewissensinhalt mißachten zugunsten eines anderen, aber man kann nicht den moralischen Imperativ selbst außer acht lassen, ohne daß man dabei seine essentielle Natur und seine Beziehungen zum Ewigen zerstört. Aus diesen Gründen ist der Versuch, den unbedingten Charakter des moralischen Imperativs durch psychologische und soziologische Argumente aufzulösen, zum Scheitern verurteilt. Es gibt jedoch eine fundamentalere Frage, die bereits von den Moralphilosophen der Antike erörtert wurde, die Frage nach dem moralischen Ziel*. Wir hatten als Ziel des moralischen Handelns bezeichnet: eine Person innerhalb einer Gemeinschaft von Personen zu werden; und wir hatten darauf hingewiesen, daß die zentrierte Person der Träger des Geistes, seiner schöpferischen Kraft und seines SelbstTranszendierens ist. Wenn es das moralische Ziel ist, die Person mit ihren schöpferisdien Potentialitäten zu konstituieren und zu bewahren, dann besagt der moralische Imperativ, daß der Mensch seine in ihm liegenden Potentialitäten verwirklichen soll. Damit erhebt sich jedoch die Frage: Ist das eine unbedingte Forderung? Die Antwort fällt verschieden aus, je nadidem, was man als das innerste Ziel, das telos, zu dem der Mensch gesdiaffen ist, betraditet. Wenn das telos die Endlichkeit und Vergänglidikeit des Menschen transzendiert, dann ist die Erfüllung dieses telos unendlich bedeutsam und das heißt von unbedingtem Ernst. Wenn das telos des Menschen - wie Plato sagt - darin besteht, „soweit wie möglich Gott ähnlich zu werden", dann erhält * Siehe Anmerkung Nr. 3 auf S. 82.
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durch ein solches telos der moralische Imperativ den Charakter der Unbedingtheit. Wenn aber das telos wie in der hedonistischen Schule darin gesehen wird, dem Leben das größtmögliche Maß von Lust abzugewinnen, dann ist von einem unbedingten moralischen Imperativ nicht die Rede. Vielmehr wird der sehr bedingte Rat gegeben, klug zu berechnen, welches Maß an Schmerz erlitten werden muß, um den größtmöglichen Gewinn an Lust zu erzielen. Zwischen diesen beiden Extremen einer fe/os-Definition gibt es eine Reihe von Definitionen, die in ihrer Formulierung ein Endliches als telos zu setzen scheinen, in denen aber die Unbedingtheit des moralischen Imperativs noch durchscheint. Das gilt z.B. vom Utilitarismus, bei dem der moralische Imperativ fordert, „für das größte Glück der größten Zahl von Menschen" zu arbeiten. Hier ist das Wort Lust durch das Wort Glück ersetzt, und vor allem ist nicht das individuelle Glück das telos, sondern das Glück der vielen. Und das Glück der vielen ist nicht möglich ohne Selbstbeschränkung in dem Verlangen des Einzelnen nach Glück. Es ist also eine Forderung, die nicht aus den rein natürlichen Trieben des Individuums abgeleitet werden kann, es ist eine Forderung, die den anderen als Person anerkennt und damit ein unbedingtes Element, ob eingestanden oder nicht, enthält. Die Epikureer fassen das Problem des telos und des moralischen Imperativs von einer anderen Seite an. Auch sie gebrauchen das Wort „Glück". Aber für sie ist Glück ein geistiges Leben in der Gemeinschaft mit Freunden und in der schöpferischen Teilnahme an den wissenschaftlichen und künstlerischen Werten ihrer Kultur. Die Beziehung zu den Freunden und die Partizipation an der schöpferischen Kultur fordert unbedingte Anerkennung der Normen und der Strukturen der Freundschaft, der Erkenntnis und der Schönheit. Piatos Definition des menschlichen telos am nächsten steht der Aristotelische Gedanke, daß das höchste telos des Menschen die Partizipation an der ewigen göttlichen Selbst-Anschauung, „noesis noeseos", ist. Dieser Zustand kann vollkommen nur durch Erhebung zum ewigen Leben über dem endlichen Leben erreicht werden. Das soll nidit heißen, daß das Individuum Unsterblichkeit besitzt, sondern daß es in der Zeit an der Ewigkeit teilhaben kann, und zwar durch ein „theoretisches Leben", das Leben der anschauenden Erkenntnis. Wo immer dieser Zustand der Partizipation erreicht wird, da ist eudaimonia, Erfüllung unter der Führung eines „guten Dämons", einer halb-göttlichen Macht. Dieses Ziel zu erreichen, ist ein unbedingter Imperativ. Und da die praktischen Tugenden die Vorbedingung für die Erfüllung dieses telos sind, haben auch sie unbedingte Gültigkeit. 25
Wir haben das griechische Wort eudaimonia gebraucht, um das moralische Ziel zu charakterisieren, wie es in verschiedenen ethischen Schulen verstanden wurde. Eudaimonia gehört zu jenen Worten, die einen besonders großen Sinnverfall erfahren haben. Zu diesem Prozeß trugen vor allem die stoischen und christlichen Angriffe auf den Epikureismus bei, der oft völlig zu Unrecht mit Hedonismus gleichgesetzt wurde. Das Wort an sich bedeutet Erfüllung mit göttlicher Hilfe und daraus folgendes Glück. Dieses Glück schließt Lust nicht aus, aber Lust ist nicht das Ziel, wie auch das Glück an sich nicht das Ziel ist. Sie begleitet die Erfüllung und wird zusammen mit ihr erreicht. Wenn wir diesen Begriff der eudaimonia ablehnen, müssen wir auch die christliche Hoffnung auf „ewige Seligkeit" ablehnen. Denn sogar der Calvinist, der die Ehre Gottes4 als das Ziel seines Lebens bezeichnet, erfährt Seligkeit bei der Erreichung dieses Zieles. Das gleiche gilt von der theosis (dem Gott ähnlich werden), der fruitio Dei (der genießenden Schau des göttlichen Lebens) oder von dem Wirken für das „Reidi Gottes" und der Teilhabe an ihm, die alle als telos des Einzelnen bzw. der Menschheit oder des Universums genannt werden. Glück oder Seligkeit als Bewußtsein der Erfüllung steht nicht im Widerspruch zu dem unbedingten und darum religiösen Charakter des moralischen Imperativs. Ein Widerspruch besteht nur dann, wenn die Funktion des Selbst-Transzendierens im Geist des Menschen geleugnet und der Mensch als völlig in seine Endlichkeit gefangen angesehen wird. Aber diese Herabsetzung des Menschen zu einem endlichen psychosomatischen Prozeß findet sich nur selten in der Geschichte des Denkens. Sogar ausgesprochen säkularisierte Philosophen haben das Selbst-Transzendieren im menschlichen Geiste anerkannt und damit die Dimension des Unbedingten, und das heißt: die religiöse Dimension. In dem bisher Gesagten habe idi häufig zwei Begriffe benutzt, ohne sie hinreichend geklärt und definiert zu haben: »Gewissen" und „Religion". Gewissen ist sozusagen der Weg, auf dem der unbedingte Charakter des moralischen Imperativs erfahren wird. Über „Religion" habe ich sehr häufig in meinen Büchern gehandelt, so daß ich mich hier mit der folgenden Zusammenfassung begnügen kann. Religion ist der Zustand, in dem wir von etwas ergriffen werden, was uns letztlich angeht, was von unendlichem Interesse ist, was wir unbedingt ernst nehmen. Dieser Religionsbegriff war gemeint, als wir die Hauptthese dieses Kapitels aufstellten, daß der moralische Imperativ in sich selbst eine religiöse Dimension enthält. Von diesem fundamentalen Religionsbe* Siehe Anmerkung Nr. 4 auf S. 82.
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griff ist die traditionelle Vorstellung abgeleitet, nach der Religion eine spezielle Ausdrucksform des unbedingten Anliegens in symbolischen Bildern und Handlungen ist, wie sie sidi in sozialen Gruppen, z. B. in einer Kirdie, findet. Wenn der moralische Imperativ von der Religion im traditionellen Sinne des Wortes abgeleitet wäre, müßte die profane Ethik jede Verbindung mit der Religion aufgeben, denn sie verwirft die direkte Abhängigkeit von jeder spezifischen Religion. Wenn das religiöse Element jedoch eine Dimension des moralischen Imperativs ist, braucht es zu keinem Konflikt zwischen Religion und Ethik zu kommen. I I . D E R RELIGIÖSE URSPRUNG DER MORALISCHEN G E B O T E
Im ersten Kapitel haben wir vermieden, irgendwelche Angaben über den Inhalt des moralischen Imperativs zu machen. Wir haben uns auf eine Erörterung des Unbedingtheits-Charakters der Moralität beschränkt, ohne Rücksicht auf den Inhalt der moralischen Forderung und ihre geschichtliche oder persönliche Bedingtheit. Ihr Unbedingtheits-Charakter wurde als ihre religiöse Qualität verstanden. Zweifellos hat sich bei dem Leser die Frage nach dem moralischen Inhalt, nach dem, was wir tun sollen, längst eingestellt. Diese Frage ist bisher nicht völlig unbeantwortet geblieben, aber die Antwort - daß wir das werden sollen, was wir essentiell sind, nämlich eine Person - ist so formal, daß sie keine Richtschnur in concreto gibt. Aber eine Richtschnur ist für das menschliche Leben notwendig. Es gilt also, Prinzipien zu finden, die, obwohl als Prinzipien abstrakt, dennoch zugleich so konkret sind, daß Grundlagen für moralische Entscheidungen von ihnen abgeleitet werden können. Gibt es solche Prinzipien des moralischen Handelns? Wenn ja, wie können sie auf die sich stets ändernden Bedingungen der menschlichen Existenz angewandt werden? Ist nicht der ethische Relativismus die einzig mögliche Antwort selbst in Anbetracht des Unbedingtheits-Charakters des moralischen Imperativs? Als erstes Problem dieses Kapitels müssen wir die positiven Aspekte und die Grenzen des ethischen Relativismus betrachten. Denn der Relativismus ist die vorherrschende ethische Theorie und auch eine weit verbreitete moralische Praxis. Er wirü durch viele offensichtliche Tatsachen gestützt. Der ausgesprochene Unterschied zwischen der Moral der Primitiven und der Moral der Moderne, zwischen der von West und Ost, zwischen der feudalistischen und der bürgerlichen, der liberal-humanistischen und der neo-kollektivistischen Moral, und schließ27
lieh die unterschiedliche moralische Haltung gegenüber ein und demselben Ereignis am selben Ort durch Vertreter verschiedener sozialer Schichten, verschiedener religiöser Gruppen, verschiedener Generationen - all dies unterstützt den ethischen Relativismus. Eine Zeitlang waren die Ethnologen auf Grund ihrer Kenntnis der primitiven Kultur die Verfechter des ethischen Relativismus. Seit dem 18. Jahrhundert hat die ethnologische Forschung besonderes Interesse an der Ethik des Primitiven gezeigt. Seine Moral sollte die Bedingtheit unserer eigenen ethischen Grundsätze demonstrieren, der feudalen wie der bürgerlichen, der christlichen wie der humanistischen. Besondere Gesetze in bezug z. B. auf Töten, Stehlen, Lügen usw. in der einen Kultur wurden mit den entsprechenden, aber ganz anderen (und manchmal widersprechenden) Gesetzen in einer anderen Kultur verglichen, und man kam zu dem Schluß, daß die ethischen Ideen in den verschiedenen Kulturen keine gemeinsame Grundlage haben. Nach diesem Standpunkt ist die Ethik kulturell bedingt, und die Ethik verschiedener Kulturen ist folglich so verschieden wie die Kulturen selbst. In der Kulturanthropologie und auch im populären Denken werden solche Ansichten immer noch vertreten, obwohl sich inzwischen ein scharfer Widerspruch gegen die primitive Art dieser Methode erhoben hat. Wir haben gelernt (teils durch die Einsicht, daß eine lebendige Wirklichkeit eine strukturelle Einheit - eine Gestalt - und nicht eine mechanische Summation ist), daß Kulturen Ganzheiten sind und daß wir nicht Teile von ihnen mit Teilen einer anderen Kultur vergleichen können, sondern daß wir die Teile im Lichte des Ganzen verstehen müssen. Dann können wir verstehen, daß die Verschiedenheit moralischer Gebote in den verschiedenen Kulturen keinen Gegensatz darstellt, sondern der unterschiedliche Ausdrude eines gemeinsamen fundamentalen Prinzips ist. Die mangelnde Einsicht in diese Tatsachen hat den naiven Relativismus im populären Denken genährt und unglücklicherweise auch bei Wissenschaftlern gefördert, wenn sie sich aufs philosophische Gebiet wagten, ohne selbst Philosophen zu sein. Die Strukturanalyse warnt uns davor, die „Primitiven" als Beweis für den ethischen Relativismus in dieser naiven Weise ins Feld zu führen. Eine positive und konstruktive Kritik des Relativismus ist in der Lehre vom Naturrecht (dem natürlichen moralischen Gesetz)"' enthalten. Es ist eine sehr alte, berühmte und immer noch vertretene * „Naturrecht« soll hier wie auch in späteren Aufsätzen immer in diesem Sinne verstanden werden.
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Theorie, daß der Mensch von Natur aus (im Christentum durch die Schöpfung) ein Wissen von den universal gültigen moralischen Normen habe. Dieses Wissen ist potentiell jedem Menschen gegeben, wenngleich es in Wirklichkeit durdi Kultur, Erziehung und die Entfremdung des Menschen von seinem wahren Sein verdunkelt und entstellt ist. Diese klassische Theorie vom Naturrecht hat nur eine indirekte Beziehung zu den physikalischen Gesetzen, den Naturgesetzen im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Naturredit in unserem Zusammenhang ist das Gesetz der moralischen Vernunft oder, wie Kant gesagt hat, der „reinen praktischen Vernunft". Nach stoischem Denken hatte es einen gemeinsamen Ursprung mit den physikalischen Gesetzen im göttlichen logos, der sowohl in den physikalischen Naturgesetzen als auch in dem natürlichen Gesetz der menschlichen Moralität schöpferisch gegenwärtig ist. Das Christentum übernahm die stoische Lehre, und die meisten religiösen Systeme haben ähnliche Begriffe entwickelt. Die Frage nach universal gültigen moralischen Normen ist ein allgemeines und unvermeidbares menschliches Problem, das in der Suche nach Wahrheit wie in dem Verlangen nach Gerechtigkeit enthalten ist. Eine Wurzel unseres Problems ist das Bewußtsein von der Kluft zwischen dem, was der Mensdi essentiell ist und daher sein sollte, und dem, was er aktuell ist. Die Erfahrung dieser Entfremdung des Menschen von seinem essentiellen Sein hat einige radikale protestantische Denker veranlaßt, die Idee des Naturrechts gänzlich zu verwerfen. Nach ihrer Auffassung hat der Mensdi das, was er essentiell, d. h. von der Schöpfung her ist, total verloren. Er weiß nichts mehr von seiner wahren Natur, es sei denn durch göttliche Offenbarung. Die Offenbarung, die in der geschaffenen Natur des Menschen liegt, ist verhüllt, weil der Mensch von Gott entfremdet ist. Eine neue Offenbarungserfahrung ist notwendig wie die, die z. B. das mosaische Gesetz oder die Bergpredigt inspirierte. Aber in jeder Leugnung des Naturrechts liegt eine gewisse Selbsttäuschung. Denn diejenigen, die es ablehnen, müssen zugeben, daß ein durch Gott geoffenbartes Moralgesetz nicht der von Gott geschaffenen menschlichen Natur widersprechen kann. Es kann nur eine Neuformulierung des Gesetzes sein, das in der essentiellen Natur des Menschen verkörpert ist. Und wenn so viel zugegeben ist, müssen die Kritiker nodi einen Sdiritt weitergehen und das Naturrecht bejahen. Die essentielle Natur des Menschen kann nicht verloren gehen, so lange der Mensdi Mensch bleibt. Sie kann zwar im Prozeß der Aktualisierung entstellt werden, aber sie kann nicht verschwinden. Schon die Behauptung, daß der Mensdi von seiner geschaffenen Natur entfrem29
det ist, setzt die Erfahrung von der Kluft zwischen dem, was er essentiell, und dem, was er existentiell ist, voraus. Selbst ein schwaches oder irregeleitetes Gewissen ist noch ein Gewissen, nämlidi die leise Stimme der essentiellen Natur des Menschen, die sein aktuelles Sein richtet. Wer das Naturrecht gegen seine theologischen Kritiker verteidigt, greift gleichzeitig die nominalistische Ableitung der moralischen Normen an. Der Nominalismus versucht, alle moralischen Gebote als Ausdruck sozialer Bedürfnisse und politischer Machtstrukturen zu verstehen. Wäre eine solche Ableitung möglich (was nicht der Fall ist), müßte der Begriff „die essentielle Natur des Menschen" aufgegeben und der Konflikt zwischen dem, was der Mensch essentiell, und dem, was er existentiell ist, wegerklärt werden. Zweifellos sind die konkreten Formulierungen moralischer Gebote und ihre Interpretation in ethischen Systemen weithin von der jeweiligen Situation bestimmt. Aber in der Vielfalt der Kulturen und Religionen und folglich auch in der der ethischen Systeme gibt es gewisse fundamentale Normen. Sie stammen aus der essentiellen Natur des Menschen und letztlich aus der Struktur des Seins selbst. Die Aufgabe einer ausgeführten Theorie des Naturrechts muß sein, diese Normen herauszuarbeiten. Es mag hier bemerkt werden, daß eine solche Theorie nicht nur allen ethischen Systemen, sondern auch allen Systemen positiven Rechts zugrundeliegt. Die Erörterung des Relativismus hat uns gezeigt, daß die fundamentalen ethischen Normen ein absolutes und ein relatives Element in sich vereinigen müssen. Sie müssen universal gültig und gleichzeitig auf die konkrete Situation anwendbar sein. Diese Spannung zeigt sich deutlich in dem Gegensatz zwischen der römisch-katholischen und einer möglichen protestantischen Naturrechtslehre. Die katholische Kirdie behauptet, es sei möglich, eine Reihe von Einzelgeboten aus gewissen universalen Prinzipien durch rationale Deduktion abzuleiten. Und solche Gebote seien - insofern sie durch einwandfreie Methoden gefunden werden - für alle Zeiten und alle Situationen gültig. Für ihre Auffindung sind keine Offenbarungserfahrungen notwendig, ebensowenig können veränderte geschichtliche Bedingungen ihre ewige Gültigkeit in Frage stellen. Allerdings gibt es einen Punkt, an dem Ungewißheit besteht: diejenigen, die die Gebote durch Deduktion finden und auslegen, sind Menschen und daher Irrtum und Entstellung ausgesetzt. Deshalb muß die Kirche entscheiden, was das wirkliche Naturrecht ist. Nur das Übernatürliche kann die Gültigkeit des Natürlichen bestätigen, obwohl das Natürliche an und für sich wahr ist. Auf die beschriebene Weise hat die katholische Kirche ein System von naturreditlidien Geboten entwickelt, die durch die Vernunft begründet und verteidigt 30
werden können, die aber wegen der Möglichkeit des menschlidien Irrtums der supranaturalen Sanktionierung durch die Kirdie bedürfen. Die gegenwärtige Diskussion über erlaubte Methoden der Geburtenkontrolle oder über die Autorität der Eltern sind aktuelle Beispiele. Ganz anders ist demgegenüber die protestantische Haltung. Der Protestantismus hat nicht viel zu einer Theorie des Naturrechts beigetragen. Das war teils in der Tatsache begründet, daß der protestantische Biblizismus und der Calvinismus versuchten, ethische Forderungen direkt aus der Bibel bzw. aus dem Alten Testament abzuleiten. Ein anderer Grund war das allgemeine Mißtrauen des Protestantismus gegen die Vernunft - eine Konsequenz seiner Lehre von der Verderbtheit des Menschen in allen Teilen seiner Natur, im Geiste wie im Körper, in der Vernunft wie in den Trieben. (Der mißverständliche Ausdruck „totale Verderbtheit" bedeutet nicht, daß der Mensch total verderbt ist, sondern daß er von seinem wahren Sein in allen Teilen seines aktuellen Seins entfremdet ist.) Schließlich verneint das protestantische Prinzip, daß es irgendeine menschliche Institution geben könne, die Kirche mit ihren Lehren und ethischen Geboten eingeschlossen, die über der Dynamik der Geschichte stünde. Ein System von unveränderlichen konkreten Moralgesetzen widerspricht den schöpferischen Kräften des Lebens und des Geistes, ja es widerspricht dem verwandelnden Wirken des göttlichen Geistes innerhalb und außerhalb der Kirche. Der Protestantismus kann daher das Element der Relativität in der Ethik bejahen und mit seiner Hilfe eine dynamische Naturrechts-Lehre entwickeln. Eine solche Lehre kann nicht ohne eine Antwort auf die Frage entwickelt werden: Haben die moralischen Gebote einen religiösen Ursprung? Wenn wir diese Frage bejahen, wie können wir dann diese Antwort mit der früher gegebenen formalen Antwort vereinen, daß der moralische Imperativ fordert, der Mensch solle aktuell das werden, was er essentiell ist - eine Person in einer Gemeinschaft von Personen? Was bedeutet das konkret? Was für Normen moralischen Handelns ergeben sich aus dieser Forderung? Es ist notwendig, diese Fragen der Reihe nach zu beantworten und Schritt für Schritt eine Struktur des moralischen Handelns aufzustellen, die beides enthält: das absolute und das relative, das statische und das dynamische, das religiöse und das profane Element der ethischen Theorie und der moralischen Erfahrung. Wir müssen zunächst den Ausdruck „in einer Gemeinschaft von Personen" untersuchen. Die modernen ethischen Theorien haben betont darauf hingewiesen, daß die Begegnung von Person mit Person die 31
Erfahrungsgrundlage der Moralität ist. Der entsdieidende Grund dafür ist der grundlegende Unterschied zwischen der Begegnung einer Person mit einer anderen Person und der mit einer nicht-personhaften Wirklichkeit (Martin Bubers „Idi-Du-Beziehung" im Gegensatz zu seiner „Idi-Es-Beziehung"). Im Falle der Idi-Es-Beziehung, z.B. der Begegnung des Mensdien mit der außermensdilidien Natur, ist dem Menschen keine Grenze gesetzt. Der Mensch kann sie zu einem reinen Objekt machen, er kann sie zerlegen, analysieren oder etwas Neues aus ihr machen, ein technisches Erzeugnis, das aus ihren Teilen oder Elementen zusammengesetzt ist. Der Mensch kann die Natur in zunehmendem Maße unterwerfen, fast ohne daß seiner Erkenntnis und seinem Handeln in irgendeiner Richtung Grenzen gesetzt sind. Die einzige Grenze des Menschen ist seine Endlidikeit. Aber niemand kann diese Grenze eindeutig festlegen. Bevor sie erreicht ist, kann nidits dem kognitiven und technischen Angriff des Mensdien auf die nicht-personhafte Wirklichkeit widerstehen. Nichts kann sidi dem menschlichen Willen entziehen, der die Natur zum Objekt machen und für seine Zwecke gebrauchen will. Diesem Streben ist im Hier und Jetzt der Ich-Du-Beziehung jedoch eine Grenze gesetzt. Diese Grenze ist die andere Person. Diese Behauptung scheint ohne weiteres einleuchtend zu sein. Aber sie ist nicht so einfach, wenn wir die Frage stellen: Wo begegnen wir der anderen Person? Die Antwort - in jedem menschlichen Wesen - ist nur dann hilfreich, wenn wir solche lebende Wesen als menschlich definieren, die im Hinblick auf ihre psychophysische Struktur potentielle Personen sind. Diese Definition schließt prinzipiell alle Grade der Verwirklichung menschlicher Potentialität ein, vom neugeborenen Kind bis zum reifen und weisen Mann. Aber in der aktuellen Begegnung von Mensch und Mensch bleibt es immer zweifelhaft, welchen Gruppen innerhalb der psydio-physisdien Species, die wir menschliche Rasse nennen, potentielle Personalität zuerkannt wird. Im Laufe der menschlichen Geschichte ist dies nicht eindeutig entschieden worden, und es ist in gewissen Beziehungen bis auf den heutigen Tag unentschieden geblieben. Sklaven, Frauen, Feinde und spezielle Rassen wurden als Objekte mit begrenzter oder aberkannter Personalität angesehen. Und oft wurden Kinder, Kranke und Alte, geistig Abnorme und Kriminelle als bloße Objekte behandelt, weil sie noch nidit oder nicht mehr fähig waren, ihre Personalität zu verwirklichen, und das geschah sogar, wenn sie zu einer Gruppe gehörten, deren Personalität an sich anerkannt war. Diese Unsicherheit in der Abgrenzung der Personalität zeigt, daß der Versuch, den Relativitäten der Geschichte im moralischen Bereich 32
zu entgehen, indem man Personalität formal definiert, nicht gelingen kann. In dem Augenblick, in dem das Prinzip angewandt werden muß, bestimmen auf der einen Seite Traditionen, Konventionen und Autoritäten, auf der anderen Seite kritisches Urteil und persönliches Wagnis die moralische Entscheidung darüber, wem volle Personalität zugeschrieben werden kann. Und dodi gibt es Anzeichen dafür, daß sich die essentielle Natur des Menschen auch unter dieser Ungewißheit selbst zu Gehör bringt. Obwohl das Christentum die Sklaven nicht befreite, gab es ihnen doch den Status potentieller Personalität, indem es sie in ihrer Beziehung zu Gott als anderen Mensdien gleich auffaßte. Und die Stoiker, die mehr als das Christentum für die politische Emanzipation zustandebrachten, handelten dabei im Namen des universalen logos, an dem jedes menschliche Wesen teilhat. Beide Bewegungen und sogar Gesetzgeber früherer Zeiten, die der Mißhandlung der Sklaven Beschränkungen auferlegten, müssen wohl bemerkt haben, daß der, der ein menschliches Wesen (im psychophysischen Sinne) in ein bloßes Objekt verwandelt, in seinem eigenen personalen Zentrum Schaden erleidet. Dasselbe gilt auch für den Mann, der die Frau als Objekt behandelt, oder für Eltern, die mit ihren Kindern wie mit Dingen umgehen, oder für einen Tyrannen, der seine Untergebenen in Werkzeuge für seine Zwecke verwandelt. Sie alle werden entpersönlicht. Die populäre Aufklärung hat den Kreis derer, die als Person anerkannt werden, erweitert. Er schließt im Prinzip alle menschlichen Wesen ein, obwohl in Wirklichkeit nicht danach gehandelt wird, selbst da nicht, wo das allumfassende Prinzip anerkannt ist, wie z. B. im heutigen Rassenkampf. Diese Erörterung hat uns zu den tiefsten Wurzeln dessen geführt, was gewöhnlich Gerechtigkeit genannt wird, denn Gerechtigkeit ist die Bejahung der Person als Person. Alle Konsequenzen der Idee der Gerechtigkeit, besonders die versdiiedenen Ideen von Gleichheit und Freiheit, sind mit der Forderung gegeben, jeden, der potentiell Person ist, als Person anzuerkennen. Hier ist auch der Punkt, wo jedes Rechtssystem und die aus ihm folgende Gesetzgebung, bewußt oder unbewußt, von einer bestimmten Auffassung der Gerechtigkeit im ethischen Sinn abhängig ist. Jedoch erweist sidi die bisherige Formulierung des Prinzips der Gerechtigkeit als unzureichend. Die Anerkennung eines Menschen als Person bleibt ein äußerlicher Akt, der mit juristischer Distanz und kühler Objektivität vollzogen werden kann. Es kann der Gereditigkeit Genüge getan werden, ohne daß eine menschliche Beziehung ge33
schaffen wird. Unter gewissen Umständen ist das der einzige Weg, Gerechtigkeit zu verwirklichen, besonders zwischen sozialen Gruppen. Aber zwischen Menschen besteht niemals reine Objektivität. Die „reine" Distanz ist immer begleitet von einem Element der Partizipation. Durch die Begegnung von Person mit Person innerhalb einer Gemeinschaft von Personen erhält auch die Gemeinschaft den Charakter gegenseitiger Partizipation, die Vereinigung stiftet. Und der Wunsch nach Vereinigung des Getrennten, die letztlich Wieder-Vereinigung ist, heißt Liebe. Alle Gemeinschaften sind Verkörperungen der Liebe, d. h. des Dranges, am anderen teilzuhaben. Gerechtigkeit ist nicht das letzte Prinzip der Gemeinschaft. Sie ist in die Liebe aufgenommen, wenn die Person des Anderen nicht in objektiver Distanz, sondern in subjektiver Teilnahme anerkannt ist. Auf diesem Wege wird die Liebe das letzte moralische Prinzip, sie umschließt die Gerechtigkeit und transzendiert sie gleichzeitig. An diesem Punkt ist es notwendig, gegen einige Mißverständnisse des „Prinzips der Liebe" anzugehen. Als erstes muß betont werden, daß die Liebe, wenn sie die Gerechtigkeit in sich aufnimmt, die Gerechtigkeit nicht vermindert, sondern steigert. Sie wird zur schöpferischen Gerechtigkeit im Sinne des alttestamentlichen Begriffs zedaquah und des neutestamentlichen Begriffs dikaiosyne, der bedeutet, daß Gott zugleich richtet und errettet. Die häufige Forderung der Juden (die in den 2000 Jahren der Geschichte der Kirche ein unvorstellbares Maß an Ungerechtigkeit erlitten haben): „Wir wollen keine Liebe, wir wollen Gerechtigkeit" beruht auf einem Mißverständnis der biblischen Idee der Liebe. Liebe im Sinne des biblischen Begriffs der agape enthält in sich Gerechtigkeit als ein unbedingtes Element und als Abwehr gegen das Abgleiten in Sentimentalität. Es ist bedauerlich, daß das Christentum oft nicht willens war, Gerechtigkeit zu üben oder für sie zu kämpfen; statt dessen stellte es die Liebe gegen die Gerechtigkeit und schuf „Werke der Liebe" (im Sinne von Caritas), anstatt für die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit zu kämpfen. Einer der Gründe für das Mißverständnis dessen, was Liebe ist, ist die Identifikation von Liebe mit Gefühl. Wie in jedem menschlichen Erleben ist auch in der Liebe ein emotionales Element enthalten, das in der Liebe sogar vorherrschend sein kann. Aber dieses Element ist nicht das Ganze der Liebe. Ebensowenig wie sich die Liebe im Gefühl erschöpft, ist sie mit Mitleid identisch, obwohl in einer besonderen Situation Elemente des Mitleids in der Liebe vorhanden sein können. Nietzsche griff die christliche Idee der Liebe an, weil er Liebe mit Mitleid verwechselte. Sein Mißverständnis sollte die christliche Kirche 34
davor warnen, in Unterricht, Predigt und Liturgie die unbedingte Forderung der Gerechtigkeit zu vernadilässigen, wenn sie von der agape* spricht. Agape ist eine Qualität der Liebe, und zwar diejenige, die die Selbst-Transzendenz oder das religiöse Element** in der Liebe repräsentiert. Wenn die Liebe die letzte Norm aller moralischen Gebote ist, dann weist ihre /Igapi-Qualität auf die transzendente Quelle des Inhalts des moralischen Imperativs hin. Denn agape transzendiert die endlichen Möglichkeiten des Menschen. Paulus drückt das in seinem großen Hymnus auf die Liebe (1. Kor. 13) aus, in dem er die agape als das höchste Werk des göttlichen Geistes und als ein Element des ewigen Lebens beschreibt, das sogar höher als Glaube und Hoffnung steht. Agape als die selbsttranszendierende Qualität der Liebe ist nicht von den anderen Qualitäten der Liebe getrennt. Gewöhnlich werden sie als epithymia - die LiWo-Qualität der Liebe - , als philia - die Freundschaft-Qualität der Liebe - und eros - die mystische Qualität der Liebe - beschrieben. In allen dreien ist das, was wir „den Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten" genannt haben, wirksam, aber die agape ist ihrer aller Kriterium. Die Liebe ist eine, ¿elbst wenn eine ihrer Qualitäten vorherrscht. Keine ihrer Qualitäten fehlt jemals vollständig. So ist z. B. das Element des Mitleidens (compassio) in der philia und das Element des eros in der agape und das Agape-Element im echten Mitleiden vorhanden (ein Faktum, das von Bedeutung für den Dialog zwischen Christentum und Buddhismus ist). Es ist das -i4g«/>e-Element, das die Partizipation am anderen niemals zur völligen Identifizierung mit ihm werden läßt. Und es ist das Element des Mitleidens, das die agape davor bewahrt, als ein distanzierter Akt des Gehorsams gegenüber dem „Gesetz der Liebe" aufgefaßt zu werden. Es ist das £roi-Element in der agape und das Agape-Element im eros, die es dem Christentum möglich machen, die eroj-bestimmte klassische Kultur, sowohl die rationale wie die mystische, in sich aufzunehmen. Es ist das Agape-Element im eros, das die Kultur davon abhält, zu einer unernsthaften, rein vergänglichen Angelegenheit zu werden. Ebenso bewahrt das £rcw-Element in der agape davor, daß man agape als moralistische Abwendung von den schöpferischen Potentialitäten in der Natur und im Menschen versteht und als ausschließliche * Idi würde es für heilsam halten, wenn das Wort „Liebe" im Sinne von agape auf lange Zeit vermieden und statt dessen das Wort agape gebraucht würde. ** Siehe Anmerkung Nr. 5 auf S. 82.
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Zuwendung zu einem Gott, den man fürditen und dem man gehordien muß, den man aber nicht lieben kann. Denn ohne eros für das letzte Gute gibt es keine „wahre" Liebe zu Gott. Selbst die libidinöse Qualität der Liebe ist in den höchsten Formen von eros, philia und agape gegenwärtig. Der Mensch ist eine multidimensionale Einheit und kein Kompositum von Teilen*. Deshalb nehmen alle Elemente des menschlichen Seins an jedem moralischen Entscheiden und Handeln teil. Auf Grund des Besprochenen können wir die Askese** einer Beurteilung im Lidit des Prinzips der agape unterziehen. Als erstes muß gesagt werden, daß nidits Geschaffenes an sich schlecht ist. Die Materie ist kein anti-göttliches Prinzip, von dem die „Seele" befreit werden müßte. Der Wunsch nach Vereinigung mit der materiellen Wirklichkeit durch die Sinne ist ein Ausdruck der Liebe als libido. Und in der libido sind Elemente von eros, philia und agape gegenwärtig, wie auch libido in den drei anderen enthalten ist. Da die agape das Kriterium der anderen Qualitäten der Liebe ist, so ist das Problem auch hier, wie stark agape in dem Libido-Element der Liebe - dem Wunsch nach Nahrung, Trank, Sexus und ästhetischem Genuß - wirksam ist. Wenn die Libido-Qualität gegenüber dem Agape-Element überwiegt, und damit auch gegenüber dem Eros- und /'¿¿/»«-Element, so ist Widerstand im Namen der agape notwendig und unter gewissen Bedingungen teilweise oder sogar totale Askese gegenüber Dingen, die an sich gut sind. Diese „Askese der Disziplin" ist etwas ganz anderes als die „ontologisdie" Askese, die sich von den Dingen wegen des materiellen Elementes in ihnen fernhält. Die erste wird von der agape bejaht, die letzte wird von ihr verneint. Diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Elementen der Liebe ist auch wichtig für das Verständnis der Ekstase, die eine definitive psychosomatische Dimension in Einheit mit ihrer geistigen Dimension hat. Die Vereinigung dieser beiden Faktoren charakterisiert jede echte Ekstase, auch jedes ernsthafte Gebet, das sich zum göttlichen Geist erhebt. Das Libido-Element in der Liebe schützt die agape davor, zur rationalen Überlegung zu werden, wie dem anderen am besten geholfen werden kann. In gleicher Weise bewahrt das Agape-Element der Liebe die libido davor, die anderen Elemente zu überwuchern und die zentrierte Person zu zerstören und mit ihr die Macht des eros und der philia. * Diese Gedanken sind ausführlicher ausgearbeitet im l.Teil des 3. Bandes meiner Systematischen Theologie, „Das Leben und der Geist". ** Siehe Anmerkung Nr. 6 auf S. 83.
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Die Liebe ist eine. Ihre verschiedenen Qualitäten gehören zusammen, obwohl sie sich verselbständigen und einander bekämpfen können. Bei allen Entscheidungen sollte die agape das ausschlaggebende Element sein, weil sie mit Gerechtigkeit verbunden ist und die Endlichkeit der menschlichen Liebe transzendiert. Deshalb ist in jedem Konflikt der Qualitäten der Liebe die agape das bestimmende Element. N u r auf dieser Grundlage kann die Liebe der letzte Ursprung der moralischen Gebote genannt werden. Wenn Liebe so verstanden wird, ergibt sich eine zweite Antwort auf die Frage der Beziehung von Religion und Moralität. Die erste Antwort ist in dem Unbedingtheits-Charakter des moralischen Imperativs enthalten. Die zweite ist in dem transzendierenden Charakter des letzten Ursprungs der moralischen Gebote - der Liebe unter der Vorherrschaft der agape - enthalten. Audi dies zeigt, d a ß Moralität eine religiöse Qualität hat, selbst wenn sie von keinem ethischen System abhängt, das Teil einer Religion im engeren Sinne des Wortes ist. Indem wir die Liebe als den Ursprung der moralischen Normen bezeichnen, haben wir die erste Frage dieses Kapitels beantwortet, nämlich die Relativität der Ethik. Denn die Liebe ist ihrer N a t u r nach sowohl absolut wie relativ. Sie ist ein unveränderliches Prinzip, und doch paßt sie sich jeder konkreten Situation an. Sie „hört" auf die besondere Situation. Die abstrakte Gerechtigkeit könnte dies nicht, aber Gerechtigkeit, die in die Liebe hineingenommen wird und schöpferische Gerechtigkeit oder agape geworden ist, ist dazu imstande. Agape handelt, indem sie die konkreten Forderungen der Situation berücksichtigt - ihre Bedingungen, ihre möglichen Folgen - , die innere Verfassung des Anderen, seine verborgenen Motive, seine Grenzen und seine unbewußten Wünsche und Ängste. Die Liebe gewahrt dies alles, und um so tiefer je stärker, das v4gii/>e-Element in ihr ist. Die christliche Theologie hat das Problem der konkreten moralischen Entscheidung im Zusammenhang mit der Lehre vom göttlichen Geist behandelt. Die „Gegenwart des Geistes", die Gegenwart des göttlichen Grundes des Seins im menschlichen Geist, öffnet dem Menschen Augen und Ohren f ü r die moralische Forderung einer konkreten Situation. Gesetze können niemals völlig auf eine einzelne Situation angewandt werden. Das gilt sowohl von den Zehn Geboten, von den Geboten der Bergpredigt, wie von den moralischen Vorschriften der paulinischen Briefe. „Der Buchstabe" tötet nicht nur, weil er den verurteilt, der das Gesetz nicht erfüllen kann, sondern auch, weil er die schöpferischen Möglichkeiten des einzigartigen Momentes, der niemals vorher war und nie wiederkommen wird, unterdrückt. Der göttliche Geist aber 37
öffnet den menschlichen Geist für diese Möglichkeiten und bestimmt in einer besonderen Situation die Entscheidungen der Liebe. Auf diese Weise ist das Problem des absoluten und des relativen Charakters der moralischen Gebote im Prinzip gelöst. Liebe als das letzte Prinzip der Moralität bleibt sidi immer gleidi. Liebe, die in der Macht des göttlichen Geistes auf die besondere Situation eingeht, ist wandelbar, da sie sich der jeweiligen Situation anpaßt. Deshalb befreit uns die Liebe von der Knechtschaft absoluter ethischer Traditionen, konventioneller Moralforderungen und von Autoritäten, die den Ansprudi erheben, die rechte Entscheidung zu wissen, auch ohne auf die Forderung des einzigartigen Momentes gehört zu haben. Der göttliche Geist ist der Geist des Neuen. Er durchbricht das Gefängnis aller absoluten moralischen Gesetze, selbst wenn ihnen die Autorität einer geheiligten Tradition verliehen ist. Die Liebe kann jede moralische Tradition verwerfen, und sie kann sie sidi audi nutzbar machen, aber immer prüft sie die Gültigkeit einer moralisdien Konvention. Aber die Liebe kann nicht sich selbst in Frage stellen, und sie kann durch nidits anderes in Frage gestellt werden. Das Problem dieses Kapitels - die Frage nach dem religiösen Ursprung der moralischen Gebote - ist bisher mit drei Thesen, das letzte Prinzip der ethischen Normen betreffend, beantwortet worden. Die erste These zog die Idee der Gerechtigkeit heran, die Bejahung einer jeden Person als Person. Die zweite These besdirieb die Liebe, die die Gerechtigkeit in sidi einbezieht, als das letzte Prinzip der moralisdien Gebote. Und die dritte These wies auf die Abhängigkeit der moralischen Gebote von der konkreten Situation in ihrer Einzigartigkeit hin. Eine Frage ist jedoch offen geblieben, nämlidi die Frage: Welche Funktion haben die Gesetze für das moralische Handeln? Sie erscheinen in großer Fülle in den heiligen Texten, die ihnen Weihe und eine beinahe unbedingte Gültigkeit verleihen. Wir müssen darum fragen: Was ist ihre Bedeutung in der Struktur der Moralität, die wir bis jetzt aufgezeigt haben? Die Antwort ist mit dem Wort „Weisheit" gegeben. Sie repräsentieren die Weisheit der Vergangenheit, das, was wir über den Menschen, seine Beziehung zum Anderen und zu sidi selbst, seine Situation in der zeitlichen Existenz und über das telos oder das innere Ziel des menschlichen Seins wissen. In der Spätantike wurde die Weisheit (wie der logos) zu einer göttlichen Madit erhoben, die zwischen Gott und der Welt und zwischen Gott und den Menschen vermittelt. Sie galt (ebenso wie der logos) als ein Prinzip der göttlichen Selbst-Manifestation in der Natur und in der Geschichte. Nadi 38
dem Buche der Spruche schuf Gott die Welt, während er auf die Weisheit schaute, die neben ihm stand. In der Geschichte hat die Weisheit den Menschen inspiriert und ihm den rechten Weg gezeigt. Sie hat offenbarende Macht und hat sich in Jesus als dem Christus inkarniert. In diesem Sinne ist die Weisheit in vielen Religionen und Kulturen als Ursprung der Gebote betrachtet worden. Vom Menschen aus gesehen sind die Gebote, die von der Weisheit vermittelt werden, das Resultat von Erfahrungen und offenbarungsartigen Visionen. Als solche sind sie von ungeheurem Gewicht, besitzen aber keine unbedingte Gültigkeit. Sie leiten das Gewissen in konkreten Situationen, aber keines von ihnen hat als Gesetz absolute Geltung. Selbst die Zehn Gebote sind nicht nur Ausdruck für die essentielle Natur des Menschen, sondern auch für die Weisheit und Begrenztheit einer früheren feudalen Kultur. Zwar ist es immer ein Wagnis, aus der Weisheit einer konkreten Tradition auszubrechen, aber es ist ebenso ein Wagnis, eine Tradition kritiklos anzunehmen. Das erste ist ein äußeres und ein inneres Wagnis, das letztere nur ein inneres. Das eine hat Isolation und Anfechtung im Gefolge, das andere Sicherheit und Lob. Aber Annahme wie Ablehnung der traditionellen Moral sind geistig nur gerechtfertigt, wenn sie mit Selbstprüfung, die oft die Qual eines gespaltenen Gewissens auf sich nehmen muß, verbunden sind, und mit dem Mut zur Entscheidung, der um die Möglichkeit des Irrtums weiß.* Die meisten Menschen folgen der moralischen Tradition, wenn sie dem moralischen Imperativ gehorchen. Jeder Mensch bedarf einer solchen Führung im täglichen Leben mit seinen unzähligen kleinen und großen moralischen Fragen. In vielen Fällen muß die Gewohnheit entscheiden, wenn die Forderungen eines Durchsdinittslebens erfüllt werden sollen. Daher sind die Gesetze, die die Gebote der göttlichmenschlichen Weisheit aller Generationen enthalten, ein Geschenk der Gnade. Aber sie können zerstörerisch wirken, wenn sie zu absoluter Geltung erhoben werden und an die Stelle der agape und ihrer Fähigkeit, auf die Stimme des »Jetzt" zu hören, treten. Man könnte fragen: Ist die Liebe auch das letzte Prinzip der Sozialethik? Wir müssen diese Frage bejahen, weil die Begegnung sozialer Gruppen eine Begegnung ist, die ebenso wie die Begegnung von Person mit Person die Wiedervereinigung des Getrennten zum Ziel hat. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Soziale Gruppen sind Machtgruppen ohne ein personales Zentrum. Sie haben ein wechselndes * Siehe auch Kapitel IV: „Das transmoralisdie Gewissen".
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Organisationszentrum in Form ihrer Regierungen, aber kein personales Zentrum. Das bedeutet, daß die Liebe in der Sozialethik auf eine ganz andere Art wirksam ist. Jeder Versuch, die Probleme der personalen Ethik mit denen der sozialen Ethik zu identifizieren (wie z. B. im legalistischen Pazifismus) ignoriert die Realität der Madit im sozialen Bereich und verwediselt das Organisations-Zentrum einer geschiditlidien Gruppe mit der Zentriertheit der Person. Eine Behandlung der hiermit angedeuteten Probleme bedarf der Entwicklung einer Philosophie der Madit, auf die wir hier verzichten müssen."' Die Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassend können wir sagen: Der religiöse Ursprung der moralischen Gebote ist die Liebe unter der Vorherrschaft ihrer -/igape-Qualität in Einheit mit der Forderung der Gerechtigkeit, jedes Wesen mit potentieller Personalität als Person anzuerkennen; es ist die Liebe, die durch die göttlidi-mensdiliche Weisheit geleitet ist, wie sie sich in den moralischen Gesetzen der Vergangenheit verkörpern; es ist die Liebe, die auf die konkrete Situation hört und auf Grund all dieser Prinzipien mutig handelt. Aus solchen Entscheidungen aus der Macht der Liebe können neue Einsichten wachsen. Und sie können die alten Gebote in neue verwandeln, die unserer Situation besser angepaßt sind, sowohl unserer Gesamtsituation wie zahllosen Einzelsituationen. Damit wäre die Liebe als das letzte Prinzip der moralischen Gebote machtvoll gerechtfertigt. I I I . D A S RELIGIÖSE ELEMENT IN DER M O T I V A T I O N ZUM MORALISCHEN H A N D E L N * *
Nachdem wir die religiöse Dimension in der Unbedingtheit des moralischen Imperativs und den religiösen Ursprung der moralischen Gebote in der agape entdeckt haben, müssen wir jetzt fragen, ob es ein religiöses Element in der moralischen Motivierung gibt. Die Frage führt unmittelbar zu dem Begriff des Gesetzes. Der unbedingte moralische Imperativ tritt uns als heiliges Moral-Gesetz entgegen. Die Heiligkeit des Gesetzes sdieint die einzig berechtigte Motivation zum moralischen Handeln zu sein. Jede andere sdieint Bedingungen einzuführen, die den Unbedingtheits-Charakter der Moralität verletzen. Dieses ist die Grundposition in Kants rigoristisdier * Sie ist in meiner Schrift »Liebe, Macht, Gerechtigkeit" enthalten. Tübingen, 1953. ** Der Titel des englischen Originals lautet: „The Religious Element in Moral Motivation".
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(aber weder puritanischer noch pietistischer) ethischer Theorie. Damit wäre aber das religiöse Element in der Moralität auf den Unbedingtheits-Charakter des moralischen Imperativs reduziert. Wir haben gegen diese Kantsdie Beschränkung bereits verstoßen, als wir die Liebe als den Ursprung der moralischen Gebote bezeichneten, ohne jedoch die formale Strenge des Kantschen Prinzips aufzugeben. Wir müssen jetzt dasselbe in bezug auf die moralische Motivation* tun. Wie das Wort besagt, hat der moralische Imperativ die Form eines Gebots und - wenn verallgemeinert - die Form des Gesetzes. Wir haben den Begriff Gesetz bereits erörtert, als wir das moralische Naturrecht von den physikalischen Naturgesetzen unterschieden. Diese Unterscheidung trägt etwas Wesentliches zur Lösung des Problems der moralischen Motivation bei. Das moralische Gesetz wird nur deshalb als Gesetz erfahren, weil der Mensch vom Strukturgesetz seines essentiellen Seins entfremdet ist - nämlich dem Gesetz, eine zentrierte Person zu werden. Dieses Strukturgesetz gehört zu ihm. Es ist seine wahre Natur. Und es würde niemals zu einem gebietenden Gesetz wenden, wenn der Mensch nicht ständig versuchte, es zu durchbrechen. Weil er von ihm entfremdet ist, weil er ihm in seiner Existenz widerspricht, wird es für ihn zum Gebot. Und da alle menschlichen Wesen sich in diesem Zustand des Widerspruchs befinden, stehen sie alle unter dem Gesetz als einem Gebot. Sogar die Liebe wird für sie zum Gebot: „Du sollst lieben!" Wenn die Liebe unser ganzes Sein bestimmte, wenn sie ein Strukturgesetz für uns wäre, mit dem wir eins wären, dann könnte sie nicht zum gebietenden Gesetz oder zu einem Ausdruck des moralischen Imperativs werden. Sie wäre ein Ausdruck unseres Seins, mit dem wir eins wären und gegen das wir nicht im Widerspruch stünden. Wir können diese Interpretation des Gesetzes als Schlüssel zum Verständnis von zwei biblischen Erzählungen** von großer Symbolkraft benutzen, - die eine ist die Erzählung von der Versuchung Adams und die andere die von der Versuchung Jesu. In der Sündenfallgeschichte verbietet Gott Adam, von den Früchten des Baumes der Erkenntnis (die gleichzeitig Macht ist) zu essen. Das legt uns die Frage nahe: Warum ist dieses Verbot notwendig? Wäre Adam mit seinem wahren Wesen eins gewesen, so wäre das Verbot (ein negatives Gebot) nicht nötig gewesen. Aber als Mensch hatte er die Freiheit, seinem wahren * Wenn im Folgenden die abgekürzte Form „moralische Motivation* gebraucht wird, ist sie stets im Sinne der „Motivation zum moralischen H a n deln" zu verstehen. D . Hrsg. * * Siehe Anmerkung N r . 7 auf S. 82. 41
Wesen zu widersprechen. Im Zustand der Versuchung hatte er das zwar noch nicht getan, aber die Tendenz war in ihm, und das bedeutet, daß er bereits von der natürlichen Einheit mit Gott geschieden war. Das Gesetz erschien, als die ersten Symptome der Trennung von Gott erschienen und die Unschuld des ursprünglichen Schöpfungszustandes, des Ruhens in Gott, erschüttert war. Das Gesetz war eine Warnung, eine Aufforderung, zur ursprünglichen Unschuld zurückzukehren. Aber eben diese Tatsache zeigt, daß die Unschuld keine Unschuld mehr war. Es bestand jedoch auch noch keine Schuld. Adam stand auf der Grenze zwischen beiden, und diese Grenze heißt: »Begehren". Diese Analyse der Unschuld, des Begehrens und des Gesetzes kann auch auf eine der problematischsten Geschichten des Evangeliums, auf die Geschichte von Jesu Versuchung, angewandt werden. Einige Theologen leugnen die Ernsthaftigkeit der Versuchungen, andere bejahen sie, bemerken aber nicht, welche Konsequenzen diese Bejahung hat. Wenn man mit dem Neuen Testament und beinahe der ganzen klassischen Theologie an der Ernsthaftigkeit der Versuchungen festhält, muß man anerkennen, daß sie Kennzeichen der wahren Menschlichkeit Jesu sind. Sie hätten sein Bild gegen die scheinbar unwiderstehlichen monophysitischen Tendenzen in allen christlichen Kirchen, d. h. gegen die falsche Theologie, schützen sollen (die allerdings durch die populäre Frömmigkeit weitgehend unterstützt worden ist), in Jesus einen auf Erden wandelnden Gott zu sehen. Aber wenn die Versuchungen ernst genommen werden, erhebt sich die Frage, ob damit eine Trennung von jener Einheit mit Gott impliziert ist, die Jesu ganzes Leben bestimmt und ihn zum erwählten „Sohn" macht. Die Frage kann beantwortet werden, wenn man sich auf die Geschichte von Adam bezieht. Ernsthafte Versuchungen setzen Begehren nach dem voraus, wovon man versucht wird. Jesus steht ebenso wie Adam auf der Grenze zwischen Unschuld und Schuld, wo das befehlende Gebot erscheint. In dieser Situation gebraucht Jesus gegen Satan Gebote aus dem Alten Testament. Mit dieser Einsicht in die zwei verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Gesetz" - Gesetz als Struktur und Gesetz als Gebot, diese Struktur zu aktualisieren - kommen wir zu der Frage: Hat das Gesetz in der zweiten Bedeutung motivierende Kraft für die Erfüllung des moralischen Imperativs und seiner konkreten Forderungen? Die Antwort muß ebenso wie die Antwort auf die Frage nach dem letzten Prinzip des moralischen Inhalts auf verschiedenen Ebenen entwickelt werden. Denn sie ist komplex, sie repräsentiert die tiefsten Spannungen in der religiösen Erfahrung und in der Geschichte der Christenheit. 42
Die allgemeine Frage ist: Kann das gebietende Gesetz, das die Kluft zwischen unserem essentiellen und unserem aktuellen Sein voraussetzt, uns dazu bewegen, daß wir uns in Richtung auf die Wiedervereinigung unseres aktuellen Seins mit unserem essentiellen Sein verwandeln? Die logisch zwingende Antwort muß lauten: Das Gesetz kann es nicht. Denn das gebietende Gesetz beruht auf eben diesem Zwiespalt. Das Gesetz (das im folgenden nur im Sinne des gebietenden Gesetzes gebraucht wird) ist ein Ausdruck der Entfremdung des Menschen von seinem wahren Wesen. Wie kann es also diese Entfremdung überwinden? Diese logisch zwingende Antwort wird auch durch die psychologische Erfahrung gestützt. Der Befehl, daß wir gut sein sollen, macht uns nidit gut, er treibt uns im Gegenteil zum Bösen. Wir wollen diese Antwort in verschiedenen Erfahrungsbereichen verfolgen. Die moderne Psychoanalyse hat entdeckt, daß man einen Menschen von einem zerstörerischen Zwang - z. B. vom Alkoholismus - nicht befreien kann, wenn man ihm mit dem moralischen Befehl begegnet: „Höre endlich auf zu trinken!" Kein Psychoanalytiker, der diesen Namen verdiente, würde einen solchen unheilvollen Fehler begehen. Das Gesetz würde, wie der Analytiker weiß, einen ungeheuren Widerstand im Patienten erzeugen, und berechtigterweise. Der Patient würde sich auf seine Freiheit besinnen, auf die Freiheit, sich zu widersetzen, auch auf die Gefahr hin, daß er sich damit zerstören könnte. Er verteidigt auf diese Weise ein entscheidendes Element in der menschlichen Freiheit. Wenn die Psychoanalytiker, besonders die der modernsten Richtung, erneut versuchen, ihren Patienten moralisch zu beeinflussen, sollten sie sich daran erinnern, daß gerade das krankhafte Unvermögen, die moralischen Gebote zu befolgen, das ist, was diese Menschen zu Patienten macht. Die meisten Analytiker sind sich dieser Tatsache noch bewußt, sie haben eine der tiefsten Einsichten der Psydiotherapie bewahrt, "die Einsicht, daß das Gesetz Zwänge nicht brechen kann, daß das „Du sollst" nicht befreit. Statt auf das Gesetz zu stoßen, findet der Patient bei einem guten Analytiker „Annahme". Er wird angenommen, so wie er ist, und es wird ihm nicht gesagt, daß er sich ändern müsse, bevor er angenommen werden kann. In gewissen Fällen, besonders in der „voranalytischen Beratung", kann die „Annahme" so vor sich gehen, daß der Psychotherapeut beschreibt, wie er sich selbst in einer ähnlichen Situation befand oder noch befindet, so daß in der Beziehung von Arzt und Patient der Arzt nicht mehr nur das handelnde Subjekt und der Patient nur das behandelte Objekt ist. Man hat der Psydiotherapie vorgeworfen, daß sie dem Libertinismus 43
Tor und Tür öffne. Das stimmt zwar in manchen Fällen, besonders in der älteren Psychotherapie, aber es trifft nicht auf die psychotherapeutische Methode als solche zu. Man verwechselt in primitiver Weise das, was ich als „Angenommensein" bezeichnet habe, mit Libertinismus. Statt von Gesetzlichkeit und ihrem Gegenteil, dem moralischen „laisser-faire", sollte man in bezug auf die Psychotherapie von Annahme und Heilung sprechen. Wenn die Macht des Zwanges gebrochen ist, kann es zwischen dem Heilenden und dem Geheilten zu einem Gespräch auf gleicher Ebene kommen, und dann kann die Frage aufgeworfen werden, was der Patient mit seiner wiedergewonnenen Freiheit tun solle. Erst dann sollte die Aufmerksamkeit wieder auf das Problem der Moralität gerichtet werden, sowohl auf ihren Inhalt wie auf die moralische Motivation. Dann kann der Analytiker dem Patienten zum Freund oder Seelsorger werden. Aber dann erhebt sich für beide die Frage: Besitzt das moralische Gesetz, das sich an ihre Freiheit wendet, motivierende Kraft, oder ist es machtlos, solange es kein religiöses Element in sich hat - nämlich das Element der Annahme, das den Unterschied von Heilendem und Geheiltem transzendiert? Ein anderes Gebiet, in dem die Frage der moralischen Motivation entscheidend ist, ist das Gebiet der Erziehung"' in der Familie, in der Schule und schließlich überall, wo das Element der Erziehung eine Rolle spielt. Es gibt viele Probleme in der Erziehung, die mit der motivierenden Kraft des Gesetzes verknüpft sind. Als erstes ist es notwendig, zwischen Forderungen, die sich auf Autorität stützen, und Forderungen, die sich auf die Vernunft berufen, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist selten absolut, weil hinter jeder pädagogischen Forderung Autorität steht und die Autorität stets beansprucht, rational zu sein. Trotzdem besteht ein großer Unterschied für das Kind, ob es eine elterliche Erziehungsmaßnahme als der Situation angemessen verstehen kann, oder ob es sie als bloße Ausübung einer unverständlichen Autorität empfindet. In beiden Fällen kann es vorkommen, daß das Kind Widerstand leistet. Aber im ersten Fall ist der Widerstand keine Rebellion, sondern eine primitive Form der Selbstbehauptung, abgeschwächt durch die unbewußte Einsicht, daß die elterliche Anordnung berechtigt war. Dann ist die essentielle Natur des Kindes teilweise mit dem Inhalt des Befehls geeint, und bis zu dem Grade, in dem es mit ihm geeint ist, erweist sich die Anordnung nicht als ein fremdes Gesetz, das dem Kinde durch die Autorität der Erwachsenen auferlegt ist, sondern als eine praktische Forderung der Situation, wie * Siehe Anmerkung Nr. 8 auf S. 82.
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beispielsweise die Notwendigkeit der Tageseinteilung im Hause und in der Schule. Deshalb ist es von großer Wichtigkeit für den Erziehungsprozeß, dem Kinde die objektive Berechtigung der erteilten Anordnungen verständlich zu machen. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird oder wenn die Anordnungen mehr Ausdruck einer willkürlichen Autorität als der Erfordernisse der Situation sind, wird das Kind zu echter Auflehnung getrieben, und dann kann sich dreierlei ereignen: Die Auflehnung kann erfolgreich sein, und es kann sich daraus eine schöpferische Selbständigkeit entwickeln; oder die Auflehnung kann äußerlich zum Erfolg führen, aber innerlidi mißlingen, dann ist das Resultat ein aufsässiger Charakter; oder die Auflehnung kann äußerlich und innerlich mißlingen, und ein gebrochener, unterwürfiger Charakter ist die Folge. An diesen Beispielen zeigt sich die Problematik des Gesetzes in einem Bereich, in dem es täglich erfahren wird. Daher haben sich Eltern, Pädagogen und sogar Philosophen der Pädagogik entschlossen, das Gesetz fallen zu lassen und es durch eine Art von organisiertem „laisser-faire" zu ersetzen. Das hat jedoch Folgen nach sich gezogen, in denen sich die „Dialektik des Gesetzes" deutlich gezeigt hat. Nach einer gewissen Zeit (gewöhnlich in der reiferen Jugend) wird die Mehrzahl der Jugendlichen zu gut angepaßten Konformisten, und zwar auf oberflächliche Weise. Viele von ihnen empfinden diese Oberflächlichkeit als Leere und beklagen sich, daß sie niemals ernsthaft mit dem Gesetz konfrontiert wurden und ohne Führung geblieben sind, die ihnen geholfen hätte, ihre eigene essentielle Natur und ihre Möglichkeiten zu entwickeln. Im Hinblick auf diese Situation muß man mit dem Apostel Paulus, dem großen Kritiker des gebietenden Gesetzes, sagen: „Das Gesetz ist gut", denn es ist Ausdruck der geschaffenen Gutheit des Mensdien, die dem Menschen gezeigt werden muß, weil er von ihr entfremdet ist. Die Erwähnung des Paulus führt zu dem Bereich, in dem das Problem der moralischen Motivation und folglich der motivierenden Kraft des Gesetzes am tiefsten erfahren und am eingehendsten erörtert worden ist - dem Bereich der Religion und der Theologie. Es ist nicht die allgemeine Frage des religiösen Elementes in der moralischen Motivation, die uns jetzt beschäftigen soll, sondern die Haltung einiger der größten religiösen Männer zum Gesetz. Ihre Erfahrung beschränkt sich nicht auf den Bereich der Religion im engeren Sinne des Wortes, sondern ist typisch für die menschliche Erfahrung überhaupt. Weder in der Theologie und der Philosophie noch in der Psychologie gibt es einen Text, der sich in tiefgründigerer Weise mit dem Problem des 45
Gesetzes befaßt als das 7. Kapitel des Römerbriefes. Paulus preist das Gesetz als an sich heilig und das Gebot als „heilig, gerecht und gut". Er nennt es „geistlich", und er fährt fort: „Denn ich habe Lust an Gottes Gebot nach dem inwendigen Menschen . . . Also diene ich denn mit meinem Gemüte dem Gesetz Gottes." „Aber die Sünde erkannte ich nicht außer durchs Gesetz." Das ist die eine Seite der paulinischen Bewertung des Gesetzes. Das Gesetz ist Ausdruck dessen, was der Mensdi essentiell ist und daher sein sollte, aber aktuell nicht ist, wie ihm das Gesetz zeigt. Die andere Seite gründet sich auf seine Erfahrung, daß das Gesetz uns befiehlt, das Gute zu tun, das wir nicht tun können, weil wir von ihm entfremdet sind und unter einer Macht stehen, die unserem wahren Wesen widerspricht. „So tue nun ich dasselbe nidit, sondern die Sünde, die in mir wohnt." - Aber das Gesetz tut mehr, als uns nur unsere essentielle Natur und unsere Entfremdung von ihm zu zeigen. Das Gesetz weckt die schlafende Sünde auf: „Da nahm aber die Sünde Ursache am Gebot und erregte in mir allerlei Lust, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot", „da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig." „... auf daß die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot." Aus dem Gesagten geht klar hervor, daß Paulus dem Gesetz nidit die Kraft zuschreibt, uns zum moralischen Handeln zu bewegen. Seine eigene* Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß das Gesetz „allerlei Lust erregt" und uns nicht dazu bewegt, unsere falschen Wünsche zu töten und die Wiedervereinigung unseres aktuellen mit unserem essentiellen Wollen herbeizuführen, „denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich". Die Erfahrung des Paulus ist nidit an die damalige religiöse Situation gebunden. So wie er könnte ein Humanist, der genügend Einsicht in seine eigene menschlich-geistige Verfassung besitzt, auch heute sprechen. Und dodi war es kein Zufall, daß das Problem des Gesetzes als motivierende Kraft in seiner ganzen Tiefe und mit seiner explosiven Kraft in der Reformation wieder auftauchte. Alle Reformatoren bekämpften den Gedanken, daß die „guten Werke", d. h. die Erfüllung des Gesetzes, zur Erlösung des Menschen oder zur Annahme des Menschen durch Gott beitragen könne. Nicht die Erfüllung von Geboten (die im Zustand der Trennung von Gott unmöglich ist), sondern die Annahme der Botschaft, daß wir angenommen sind, ist der Beweggrund für das moralische Handeln. Trotzdem halten die Reformatoren an der Nützlichkeit des Gesetzes in drei seiner Funktionen fest: erstens an dem Wert seiner juristischen Funktion als Prinzip des positiven Redits in der Gesetzgebung der Völker; zweitens an dem Wert seiner Funktion als Kraft, unser Gewissen wachzurufen, 46
so daß es den Widerspruch zwischen unserem essentiellen und unserem aktuellen Sein erkennt; und drittens an dem Wert seiner Funktion als Spiegel, der uns zeigt, was im christlichen Leben gut und was schlecht ist. Luther verneinte die dritte Funktion des Gesetzes, und Calvin bejahte sie. Aber in einem waren sich alle Reformatoren einig: sie alle sprachen dem Gesetz die Kraft der moralischen Motivation ab. Wiederum war es eine persönliche Erfahrung, die zur Wiederentdeckung der paulinisdien Erfahrung und ihrer theologischen Konsequenzen führte. Luther erfuhr die ganze Tiefe der Zweideutigkeit des Gesetzes und gab ihr in Worten des Hasses Ausdruck - des Hasses nicht nur gegen das Gesetz, sondern auch gegen die Vorstellung von einem Gott, der den Menschen ein Gesetz auferlegt, das sie nicht erfüllen können, und der diejenigen straft, die gegen das Gesetz verstoßen. Die erschütternde Angst, die aus dieser Erkenntnis folgte, und der versteckte Haß gegen Gott brachen in Luther immer wieder auf, sogar noch in seinen späteren Jahren. In einer solchen Gemütsverfassung - wie Luther sie zuzeiten hatte - ist der Mensdi nicht in der Lage, das Gesetz als Ausdruck seines essentiellen Seins anzuerkennen, er erlebt es einzig als fremden und tyrannischen Befehl. Aber wie Paulus kennt audi Luther noch eine andere Bewertung des Gesetzes. Luthers Erklärung der Zehn Gebote im Kleinen Katechismus zeigt, daß er im Gesetz den rechten Ausdruck des Verhältnisses des Menschen zu Gott und zu den Mitmenschen zu sehen vermochte: dem rechten Verhältnis zu Gott - Liebe und Furcht - entspringt der Antrieb zum moralischen Handeln. Außerdem ist seine Auffassung vom Gesetz wie jede Haltung dem Gesetz gegenüber - Ausdruck einer bestimmten Situation, in diesem Fall der patriarchalischen bäuerlichen Gesellschaft, in der er lebte.* Die Zweideutigkeit des gebietenden Gesetzes, wie Luther sie erlebte, war das entscheidende Problem für die ganze Reformationszeit. Die Akzentsetzung war bei den einzelnen Reformatoren verschieden, aber die grundlegende Auffassung war dieselbe. Die ungeheure Spannung, die diese Zweideutigkeit erzeugt hatte, verebbte jedoch allmählich, und der Protestantismus wurde weitgehend zu einer Gesetzesreligion religiös wie moralisch. Alle Systeme, die auf ein Moralgesetz aufgebaut sind - gleich ob religiös oder profan - , sind Kompromiß-Systeme. Das gilt für Gruppen wie für Einzelne, und es gilt für die große Mehrheit der Menschen * Vergleiche diese Gedankengänge mit Kapitel 2.
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wie für menschliche Situationen zu allen Zeiten. Zum Kompromiß muß es kommen, weil das moralische Gesetz sich in Staatsgesetzen, konventionellen Regeln und Erziehungsprinzipien (mit oder ohne Unterstützung einer bestimmten Religion) verkörpert und durch Tradition, öffentliche Meinung, persönliche Gewohnheit und die mit all diesem verbundenen Drohungen und Versprechen das moralische Handeln beeinflußt. Auf diese Weise hat das gebietende Gesetz die Macht, moralisches Handeln in institutionalisierter Form zu bewirken. Es ist, allgemein gesprochen, das, was die Reformatoren den „ersten Brauch des Gesetzes" nannten, nämlich seine Kraft, „bürgerliche Gerechtigkeit" zu schaffen, weil der Gehorsam gegen die Gesetze die Existenz der Gesellschaft ermöglicht. Vom Standpunkt des unbedingten moralischen Imperativs und vom Standpunkt der Liebe als letztem Prinzip der moralischen Gebote sind diese Motivationen für moralisches Handeln Kompromisse, die angesichts der menschlichen Situation zwar unvermeidlich sind, aber weit entfernt davon, wahre Moral zu sein. Der eine Grund dafür liegt in der universal menschlichen Entfremdung, dem Kampf zwischen der essentiellen und der existentiellen Natur des Menschen, der Zweideutigkeit von Gut und Böse in jedem Lebensprozeß und der Mischung von moralischen und amoralischen Motiven in jedem moralischen Akt. Der andere Grund liegt in der Tatsache, daß gesellschaftliche Institutionen wie persönliche Gewohnheiten eine beinahe unwiderstehliche Tendenz haben, sich zum Selbstzweck zu machen, unter Mißachtung der schöpferischen Gerechtigkeit, die jede neue oder einmalige Situation, sowohl im Leben der Gemeinschaft wie im Leben des Einzelnen, erfordert. Um kurz zusammenzufassen: Das Gesetz hat motivierende Kraft nur, wenn es sich mit außermoralischen Kräften und Motiven verbindet. Die ehrliche Selbsteinschätzung und die aus ihr folgende Selbstbescheidung verlangen vom Menschen, daß er diesen Aspekt der menschlichen Situation erkennt. Aber gerade dieser Forderung widersetzen sich die meisten Menschen. Sie sehen die große Zweideutigkeit ihrer moralischen Errungenschaften nicht ein, sondern halten diese für zureichend, und einige halten sie sogar für den Ausdruck einer nahezu oder ganz vollkommenen Erfüllung der moralischen Gebote. Sie betrachten sich als „moralische Menschen" oder als „Menschen guten Willens" und sehen auf die herab, die nach ihrer Meinung „unmoralische Menschen" sind oder zumindest nicht zur auserwählten Gruppe der „Menschen guten Willens" gehören. Sie sehen die Zweideutigkeit ihrer „guten Handlungen" nicht und nicht, wie gemischt ihre Motive sind. Sie sind zwar keine Heuchler, aber sie sind von ihrem hohen 48
moralischen Niveau überzeugt. Deshalb merken sie nicht, daß sie der Vergebung bedürfen, gleichgültig ob die Vergebung christlich oder humanistisch verstanden wird. So verteidigen sie das Gesetz als Motivation zum moralischen Handeln und zeigen auf sich selbst als lebendigen Beweis. Aber einige von diesen „moralischen Menschen" und einige von den „unmoralischen Menschen" werden einmal in ihrem Leben von dem Ernst der Unbedingtheit des moralischen Imperativs getroffen. Dann erkennen sie, daß er in tiefem Gegensatz zu ihnen steht, auch noch zu ihren besten Eigenschaften. Diese Erfahrung verbindet Paulus, den „gerechtfertigten Pharisäer", Augustin, den „Sünder", und Luther, den „asketischen Mönch". Sie machten gegenüber dem moralischen Imperativ keine Kompromisse, sie täuschten sich nicht über sich selbst und kamen zu dem Schluß, daß das „nackte" Moralgesetz nicht die Kraft besitzt, den Menschen zum moralischen Handeln zu bewegen. Sie suchten nach etwas, das diese Kraft in sich hat, und sie fanden es in dem religiösen Element, das sie „Gnade" nannten - ein Wort, das der näheren Erklärung bedarf, um auch für uns als Antwort verstanden zu werden. Aber bevor wir die Gnade als die Kraft der moralischen Motivation erörtern, möchte ich auf zwei Begriffe hinweisen, die zusammengehören und die die höchste Stufe repräsentieren, die der griechische Humanismus in dem Versuch erreichte, das Problem der moralischen Motivation zu lösen. Sie sind noch immer entscheidend für die Verbindung der Moral mit der Kultur. Der eine Begriff erscheint in klassischer Formulierung bei Sokrates, wenn er davon spricht, daß das Erkennen des Guten zum Tun des Guten führt. Die Frage ist jedoch: Welche Art der Erkenntnis kann moralisches Handeln bewirken? Offensichtlich kann weder die distanzierte Erkenntnis, zu der das wissenschaftliche oder vorwissenschaftliche Forschen führt, noch das praktische Geschick im täglichen Umgang mit Dingen und Menschen gemeint sein, selbst wenn es zu technischen oder psychologischen Kenntnissen entwickelt ist. Denn sowohl dieses wie jene kann anti-moralischen Handlungen dienstbar gemacht werden. (Das treffendste Beispiel dafür in unserer Zeit ist das nazistische System.) Da wir nicht - wie einige seiner Kritiker - annehmen dürfen, daß Sokrates sich dieser Gefahr nicht bewußt war, müssen wir nach einer anderen Art von Erkenntnis suchen, die er gemeint haben könnte. Vielleicht kommen wir ihr am nächsten mit dem heutigen Begriff „Einsicht". Wenn Sokrates dies meinte, stände er in einer gemeinsamen Linie mit seinen großen Vorgängern - z. B. Heraklit und Parmenides. Heraklits Kampf gegen die „Narren" ist keine Kritik 49
an den Ungebildeten, sondern an denjenigen, die nicht von der Kraft des logos bewegt werden - des logos als des universalen Gesetzes in den Dingen und in der Vernunft, des Ursprungs der physikalischen wie der moralischen Gesetze. Die nicht vom logos ergriffen sind, sind Narren, gegen die er seinen prophetisch-philosophischen Zorn richtet. So stellte er das Ideal des Weisen auf, der Erkenntnis mit persönlicher Teilhabe am universalen logos vereint - ein Gedanke, der in der humanistisch-religiösen Philosophie der Stoiker ungeheure praktische Bedeutung gewann. Weisheit wurde in der spätantiken Welt zur ersten Tugend, und zwar Weisheit, die Erkenntnis und Moral verbindet. Erkenntnis im Sinne von Weisheit darf nidit nur in ihrer Funktion als Ursache des moralischen Handelns betrachtet werden, denn sie ist selbst zum Teil ein Ergebnis moralischen Handelns. Da man gut sein muß, um weise sein zu können, kann Gutheit nicht eine Folge von Weisheit sein. Daher ist in der Sokratisdien Behauptung, daß Erkenntnis zur Tugend führe, eine Erkenntnis gemeint, bei der die ganze Person in den Erkenntnisakt einbezogen ist (Einsicht). Das bedeutet, daß im Erkenntnisakt ein kognitiver Akt mit einem moralischen Akt geeint ist und weitere moralische Akte (und weitere Erkenntnis) bewirken kann. Nicht nur die heraklitisdi-stoische Tradition, sondern auch die des Parmenides und des vierten Evangeliums sind für unser Problem von Bedeutung. In seinem philosophischen Gedicht über Sein und Nichtsein beschreibt Parmenides das visionäre Erlebnis, in dem die Göttin der Gerechtigkeit (!) ihm die Augen für den wahren Weg zu den letzten Fragen öffnet. Er gewinnt seine Einsicht aus einem Offenbarungsakt, der ihn von der Blindheit für die Wahrheit befreit, ihn aber nicht etwa zu einer besseren Methode des Forschens führt (obwohl das eine wichtige Folge seiner Einsicht ist), sondern zu einer Änderung seiner Lebensweise im allgemeinen. Im vierten Evangelium finden wir ebenfalls Stellen, in denen Wahrheit und Sein miteinander identifiziert werden. Jesus sagt: „Ich bin die Wahrheit". Und es gibt andere Stellen, die sagen, daß Wahrheit getan werden kann; diejenigen, welche die Wahrheit tun, werden die Wahrheit erkennen. Hier ist die Kluft zwischen dem erkennenden und dem moralischen Akt überwunden, und es liegt offen zutage, daß diese Art Einsicht dem moralischen Akt nicht vorausgehen und ihn begründen kann, da sie selbst zum Teil ein moralischer Akt ist. Eine Analogie zu diesen Gedanken hat die heutige psychotherapeutische Erfahrung geliefert. Sie hat den Unterschied zwischen distanzierter Erkenntnis und partizipierender Einsicht sehr klar heraus50
gearbeitet: Keinem Menschen kann durch die genaue Kenntnis der psychoanalytischen Literatur zur Lösung seiner persönlichen Probleme verholfen werden. Im Gegenteil, der Analytiker weiß, daß ein Patient, der auf der Basis eines solchen Wissens Einsicht in seinen eigenen pathologischen Zustand zu haben meint, sich täuscht und der wirklichen Einsicht über sich oft einen fast unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt. Nur der, der sich mit seinem ganzen Sein dem Heilungsprozeß hingibt - sowohl erkennend als auch moralisch - und daher emotional an dem ganzen Prozeß und seinen verschiedenen Elementen teilnimmt, hat Aussicht, Heilung zu erlangen. Das aber ist nicht möglich ohne einen »Gang durch die Hölle", d. h. nicht ohne das Leiden, das mit der Erkenntnis der dunklen und gewöhnlich unterdrückten Elemente unseres Seins verbunden ist. Auch hier ist die moralische Wandlung nur zu einem Teil Folge der Einsicht, wie die Einsicht selbst nur zum Teil Folge des moralischen Willens ist, befreit zu werden. Noch mit einem zweiten Begriff hat der klassisch-griechische Humanismus versucht, die Frage nach der moralischen Motivation zu beantworten. Es ist der Begriff des eros, wie er von Plato gebraucht wird. Im vorhergehenden Kapitel definierten wir den eros als die mystische Qualität der Liebe. Diese Definition beruht einerseits auf der platonischen Bedeutung des Wortes im „Symposion" und andererseits auf der Wiedereinführung des Begriffs in die christliche Mystik durch Dionysius Areopagita. Eros ist für Plato eine vermittelnde Macht, die den menschlichen Geist aus der existentiellen Knechtschaft in das Reich der reinen Essenzen erhebt und schließlich zu der Essenz aller Essenzen - der Idee des Guten, die gleichzeitig die Idee des Schönen und Wahren ist. Wie bei den anderen Beispielen aus der griechischen Tradition sind auch hier Moral und Erkenntnis nicht voneinander getrennt. Der eros schafft beides: die Einsicht und die moralische Motivation, und es gibt ein drittes Element, das ästhetische Verlangen nach dem Schönen, das im Guten enthalten ist. Dieses Ziel kann durch den eros erreicht werden, eros als göttlich-menschliche Macht verstanden, die das moralische Gebot transzendiert, ohne es zu verneinen. Der eros ist die „transmoralische Motivation" des moralischen Handelns. Durch den eros getrieben sein, kann auch beschrieben werden als „Ergriffensein durch das, zu dem der eros treibt". Damit kehren wir zu dem Prinzip der Liebe zurück, wie wir es im vorangegangenen Kapitel erörtert haben. Es ist die eine Qualität der Liebe, die uns hier beschäftigt - die mystische Qualität, das Streben nach Wiedervereinigung mit dem essentiellen Sein in allem, was ist, letztlich mit 51
dem Guten als dem letzten Prinzip des Seins und Erkennens (in Platonischer Terminologie). Die Liebe strebt in all ihren Qualitäten nach Wiedervereinigung, aber eros, im Unterschied zu philia und libido, strebt nach Wiedervereinigung mit Dingen und Menschen in ihrer essentiellen Gutheit und nach Wiedervereinigung mit dem Guten selbst. In der mystischen Theologie sind Gott und das Gute identisch, daher ist die Liebe zum Guten - religiös gesprochen - Liebe zu Gott. Diese Liebe kann auf zweierlei Weise symbolisiert werden: Bei Plato ist es die göttlich-menschliche Macht des eros, die den menschlichen Geist zum Göttlichen erhebt, und bei Aristoteles ist es die Macht des Göttlichen, die alles Endliche anzieht und durch diese Anziehung die Bewegung der Sterne, des Universums und des menschlichen Geistes erzeugt. Nach beiden Auffassungen ist nicht der moralische Imperativ in seiner gebietenden Majestät und Fremdheit die Motivation zum moralischen Handeln, sondern die treibende und anziehende Macht dessen, was Ziel des moralischen Gebotes ist - das Gute selbst. Die Griechen wußten davon, daß das Moralische im Sinne persönlicher und gemeinschaftlicher Gerechtigkeit keine Motivation zum moralischen Handeln gibt, es sei denn, daß es als eine Station auf dem Wege zu etwas Letztem in Sein und Sinn - zu dem Göttlichen - verstanden wird. Und es ist das Ziel alles Endlichen, am Leben des Göttlichen teilzuhaben. Das Moralische ist eine Station auf diesem Wege. Seine Motivation hängt von der Motivation des transmoralischen Ziels ab, von der Teilnahme am göttlichen Leben, wie Aristoteles es begriiflidi und symbolisch ausdrückt. Auf diese Art hat der griechische Humanismus und hat die Ethik dieses Humanismus in mystisch religiösen Ausdrucksformen die transmoralische Motivation der Moralität beschrieben.*' Auch hier findet sich eine moderne Analogie im Bereich der psychotherapeutischen Psychologie. Die Frage ist, ob die libido an sich unbegrenzt ist, oder ob sie es nur unter der Bedingung der menschlichen Entfremdung ist. Nach unserer Auffassung müssen wir das Letztere annehmen und stehen damit im Gegensatz zu Freud und seiner Lehre von der wesentlichen Notwendigkeit des „Unbehagens an der Kultur" und des „Todestriebes". Es besteht ein Unterschied zwischen der essentiellen libido (nadi Nahrung oder Sexus z. B.), die auf ein bestimmtes Objekt gerichtet und nach der Einigung mit diesem befriedigt ist, und der existentiell entstellten libido, die auf die Lust ausgerichtet ist, die sich aus der Begegnung mit einem beliebigen Objekt ergibt. Das treibt die * Siehe Anmerkung Nr. 9 auf S. 82. 52
existentielle libido grenzenlos weiter von Objekt zu Objekt, während die essentielle libido sich erfüllt, sobald die Einigung mit einem bestimmten Objekt erreicht ist. Hierin liegt der Unterschied zwischen dem „Liebenden" und dem „Don Juan" und zwischen der agapebestimmten libido und der riditungslosen libido. Der moralische Imperativ wird nicht durch die Unterdrückung der libido befolgt, sondern nur durch die Macht der agape, die die libido beherrscht und sie als eines ihrer Elemente in sich hineinnimmt. Der eros ist eine göttlich-menschliche Macht, die nicht willkürlich erzeugt werden kann, sie hat den Charakter der charis, gratia, Gnade einer Gabe, die ohne vorherige Verdienste verliehen wird und den „gnadenvoll" macht, dem sie gegeben wird. Für das Verständnis der Gnade ist es nützlich, an den Ursprung des Wortes zu denken, denn es spielt eine ungeheure Rolle in der christlichen Religion und Theologie, obwohl sein Sinn und seine Bedeutsamkeit für die meisten modernen Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirche unverständlich geworden sind. Gnade ist ein göttliches Geschenk, unabhängig von menschlichem Verdienst, aber abhängig von der menschlichen Bereitschaft, es anzunehmen. Und die Bereitschaft selbst ist das erste Geschenk der Gnade, das bewahrt oder verloren werden kann. Die Theologie hat zwischen zwei Arten der Gnade unterschieden: gratia universalis und gratia specialis (allgemeiner und besonderer Gnade). Die gratia universalis wirkt in allen Lebensbereichen und in allen menschlichen Beziehungen, und die gratia specialis wird denen zuteil, die von dem in Christus erschienenen Neuen Sein ergriffen sind. Beide Arten der Gnade sind entscheidend für das Problem der moralischen Motivation. Was sie vollbringen, ist die Erlangung eines Zustandes der Wiedervereinigung, in dem die Kluft zwischen unserem wahren und unserem wirklichen Sein fragmentarisch überwunden und die Herrschaft des gebietenden Gesetzes gebrochen ist. Wo Gnade ist, ist weder Gebot noch Widerstand gegen das Gebot. Das gilt für alle Lebensbereiche. Der, der die Gnade erfährt zu lieben gleich ob ein Ding, eine Aufgabe, eine Person, eine Idee - , braucht nicht zur Liebe aufgefordert zu werden, welche Form der Liebe auch in seiner Liebe vorherrschend ist. Eine Wiedervereinigung dessen, was getrennt war, hat bereits stattgefunden und mit ihr eine teilweise Erfüllung des moralischen Imperativs. Diese Erfüllung ist eine Gabe der Gnade und nichts, was durch unseren Willen und unsere Bemühungen geschaffen wird. Wir empfangen es einfach als Geschenk. In diesem Sinne können wir sagen: In jeder Wiedervereinigung eines Wesens mit einem anderen Wesen ist Gnade, sofern es wirklich Wiedervereinigung 53
ist und nicht Mißbrauch des einen durdi den anderen und sofern nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßen wird. Elemente der Gnade durchdringen das Leben eines jeden Menschen. Man könnte sie auch als heilende Kräfte bezeichnen, die den Zwiespalt zwischen unserem essentiellen und unserem aktuellen Sein überwinden und mit dem Zwiespalt die Entfremdung des Lebens vom Leben und die verborgene oder offene Feindschaft des Lebens gegen das Leben. Wo Elemente der Gnade erscheinen, ist das moralische Gebot erfüllt. Was gefordert war, ist jetzt gegeben. Aber was gegeben wurde, kann wieder verloren werden. Und es wird in der Tat verloren werden, wenn man vergißt, daß die Gnade erfüllt, was der moralische Imperativ fordert, und daß sie den unbedingten Ernst der moralischen Forderung bejaht und nicht verneint. Sobald daher die Gnade verloren ist, herrscht wieder das gebietende Gesetz und mit ihm die qualvolle Erfahrung, unfähig zu sein, das zu werden, was man sein könnte und sein sollte. Dieses Leiden unter dem moralischen Gesetz treibt uns schließlich zu der Frage nach dem Sinn unserer Existenz im Lichte der unbedingten moralischen Forderung, die in unsere endliche und entfremdete Situation einbricht. Wir empfinden, daß die vielen Gaben der allgemeinen Gnade nicht ausreichen, und verlangen nach einer Gnade, die so unbedingt ist wie der moralische Imperativ und so unendlich wie unser Verfehlen. Wir verlangen nach dem religiösen Element in der moralischen Motivation direkt, nachdem wir es in der allgemeinen Gnade in den verschiedenen Bereichen des Lebens indirekt erfahren haben. Die christliche Botschaft ist in erster Linie eine Botschaft der Gnade. Es gibt keine Religion ohne dieses Element. Selbst das Alte Testament, in dem das Gesetz eine so entscheidende Rolle spielt, beruft sich ständig auf den göttlichen Bund zwischen Gott und dem auserwählten Volk und auf die Verheißungen, die über Drohung und Gericht stehen. Audi in anderen Religionen können wir Ahnliches finden. Aber das Christentum hat, besonders unter dem Einfluß der Reformation, den Gedanken der Gnade mehr als irgendeine andere Religion betont. Im christlichen Denken enthält der Begriff der Gnade eine Polarität zwischen dem Element der Vergebung und dem Element der Erfüllung. Das erste kann als Vergebung der Sünden oder - in paradoxer Ausdrucksweise - als „Annahme des Unannehmbaren" bezeichnet werden, das zweite als Gabe des Heiligen Geistes oder als die Eingießung der Liebe unter der Vorherrschaft der agape. Das erste überwindet das Leid der moralisch unerfüllten Existenz, und das zweite gewährt die 54
Seligkeit einer zumindest fragmentarischen Erfüllung. Keines ist ohne das andere möglich, denn nur der, der vom göttlichen Geist ergriffen ist, kann das überwältigende Paradox annehmen, daß er angenommen ist. Nichts ist schwieriger, als das eigene Bild im Spiegel des Gesetzes zu sehen und „ja" dazu zu sagen im Sinne des „trotzdem". Es bedarf großer Gnade, um diesen Zustand zu erreichen. Und andererseits kann die fragmentarische Erfüllung durch die Gnade nur dann Seligkeit schenken, wenn das Paradox der Vergebung den Schmerz über die versäumte Erfüllung oder über die verlorene Gnade besiegt. Hier kann die skeptische Frage entstehen, ob das Paradox der Gnade die K r a f t zum moralischen Handeln in denen vermindert, die annehmen, daß sie angenommen sind, obwohl sie unannehmbar sind. Es ist eine sehr alte Frage, die von Humanisten und Schwärmern gegen Paulus wie gegen Augustin, gegen Luther wie gegen Calvin und gegen die gesamte Reformation erhoben wurde. Die Frage ist insofern berechtigt, als sie auf die Möglichkeit hinweist, daß das Paradox der Gnade als Deckmantel für Gesetzlosigkeit gebraucht werden kann. Aber prinzipiell ist sie nicht berechtigt, denn sie zeigt, daß man nicht verstanden hat, daß der Mut, sich anzunehmen, obwohl man unannehmbar ist, selbst ein Werk der Gnade, eine Schöpfung des Heiligen Geistes ist. Nur wenn die Annahme des Unannehmbaren ais rein intellektueller Akt mißverstanden wird, bleibt sie ohne moralische Motivationskraft. Die Orthodoxie (im Gegensatz zum frühen Luther) ist weithin verantwortlich für diese intellektuelle Entstellung des Paradoxes von der „Annahme des Unannehmbaren" und folglich auch für die Angriffe auf die paulinischen Prinzipien im Namen der Moral. Die Frage der moralischen Motivation kann nur transmoralisdi beantwortet werden. Denn das Gesetz gebietet, kann aber nicht vergeben; es richtet, kann aber nicht annehmen. Deshalb müssen die Bedingungen für die Erfüllung des Gesetzes - Vergebung und Annahme von etwas kommen, das über dem Gesetz steht, oder genauer, von einer Wirklichkeit, in der der Zwiespalt zwischen unserem essentiellen Sein und unserer Existenz überwunden und heilende Kraft erschienen ist. Es ist der Kern der christlichen Botschaft, daß dieser Sieg in dem Christus, in dem eine neue Wirklichkeit jenseits des Zwiespaltes erschienen ist, vollzogen ist. Deshalb ist es eine moralistische Entstellung der christlichen Botschaft, die sogenannten „Lehren Jesu" als ein neues Gesetz zu verstehen, das im Grunde noch schwerer zu erfüllen ist als das Gesetz des Moses. Seine Worte (nicht seine „Lehre") weisen auf die neue Wirklichkeit hin, in der das Gesetz nicht beseitigt ist, aber aufgehört hat, Befehl zu sein. 55
Die drei ersten Kapitel dieser Aufsatzreihe haben zu zeigen versucht, daß die Beziehung zwischen Religion und Moralität keine äußerliche ist, sondern daß die religiöse Dimension, der religiöse Ursprung und die religiöse Motivation in aller Moral enthalten sind, ob zugegeben oder nicht. Die Moralität hängt von keiner Religion im engeren Sinne des Wortes ab. Sie ist religiös in ihrem eigentlichen Wesen. Der unbedingte Charakter des moralisdien Imperativs, die Liebe als der letzte Ursprung der moralisdien Gebote und die Gnade als die Kraft der moralischen Motivation sind die Begriffe, die die Frage nach der Beziehung von Religion und Moralität grundlegend beantworten. I V . D A S TRANSMORALISCHE GEWISSEN
Richard Rothe hat in seiner „Christlichen Ethik" den Vorschlag gemadit, das Wort „Gewissen" aus allen wissenschaftlichen Abhandlungen über Ethik zu entfernen, da es mit so mannigfaltigen und widerspruchsvollen Assoziationen verbunden ist, daß der Begriff zu einer brauchbaren Definition nidit verwendet werden kann. Wenn wir nicht nur den populären Gebrauch des Wortes und dessen völligen Mangel an Klarheit betrachten, sondern auch seine verworrene Geschichte, ist dieser Vorschlag verständlich. Aber obwohl er verständlich ist, sollte man ihn dodi nicht aufnehmen, denn das Wort Gewissen weist auf eine bestimmte Wirklichkeit hin, die trotz ihres komplexen Charakters adäquat besdirieben werden muß und kann, zumal die Geschichte der Gewissensidee trotz ihrer verwirrenden Vielfalt einige klare Typen und bestimmte Tendenzen aufweist. Der komplexe Charakter des Phänomens „Gewissen" wird offenbar, wenn wir auf die mannigfachen Probleme blicken, die es dem Denken gestellt hat. Immer und überall manifestiert sich im Menschen so etwas wie Gewissen, aber seine Inhalte sind ständigem Wechsel unterworfen. Was für ein Verhältnis besteht zwischen Form und Inhalt des Gewissens? Das Gewissen weist auf eine Struktur objektiver Forderungen hin, die durch das Gewissen wahrnehmbar werden und zugleich eine höchst subjektive Deutung des persönlichen Lebens zulassen. Daraus entsteht die Frage: Was für ein Verhältnis besteht zwischen der objektiven und der subjektiven Seite des Gewissens? Und weiter erhebt sich das Problem, daß das Gewissen zwar ein ethisdier Begriff ist, daß es aber auch für die religiöse Sphäre grundlegende Bedeutung hat. Was für ein Verhältnis besteht zwischen dem ethischen und dem religiösen Charakter des Ge56
wissens? Und weiter: Das Gewissen hat verschiedene Funktionen: Es zeigt an, was gut und böse ist, es befiehlt oder warnt, es lobt oder verdammt. Es ist bereit, für etwas zu kämpfen, oder es verhält sich gleichgültig. Welche dieser Funktionen sind grundlegend, welche abgeleitet? Diese Fragen beziehen sich nur auf die Beschreibung des Phänomens, nicht auf seine Erklärung oder Wertung. Sie zeigen den komplexen Charakter und die Ursache der verworrenen Geschichte des Gewissens. I. Die Entstehung des Gewissens Der Begriff des Gewissens ist eine Schöpfung des griechischen und römischen Geistes. Wo immer dieser Geist Einfluß gewonnen hat sicherlich im Christentum - , ist „Gewissen" ein wichtiger Begriff. Das zugrundeliegende griechische Wort, syneidenai („mitwissen", nämlich wissen mit sich selbst, Zeuge seiner selbst sein), wurde im populären Sprachgebrauch lange, bevor sich die Philosophen seiner bemächtigten, verwendet. Es beschrieb den Akt des Sich-selbst-Beobachtens, meinte aber häufig auch ein Sidi-selbst-Beurteilen. In der philosophischen Terminologie erhielt es die Bedeutung von Selbst-Bewußtsein, zum Beispiel bei den Stoikern in den abgeleiteten Substantiven syneidesis, synesis. Philo von Alexandrien betont unter dem Einfluß des Alten Testamentes die moralische Selbst-Beobachtung in syneidesis und schreibt ihr die Funktion des elenchos zu, das heißt Anklage und Uberführung. Die lateinische Sprache, die dem populären griechischen Sprachgebrauch folgte, verbindet das theoretische Moment des SelbstBewußtseins mit dem praktischen Moment der Selbstbeurteilung in dem Wort conscientia, während Philosophen wie Cicero und Seneca es nur auf die ethische Sphäre anwenden und es als Selbstgericht deuten, sowohl in Anklage als auch in Verteidigung. In den modernen Sprachen werden die theoretische und die praktische Seite gewöhnlich durch verschiedene Worte ausgedrückt. Das Englische unterscheidet consciousness von conscience, das Deutsche Bewußtsein von Gewissen, das Französische connaissance von conscience, obgleich das letztere Wort auch für die theoretische Seite verwendet wird. Die Entstehung sowohl des Phänomens als auch des Begriffs des Gewissens war ermöglicht durch die Auflösung des Konformismus primitiver Gesellschaften, die das Individuum zwingt, sich als Individuum zu erleben. Im Bereich eines ungebrochenen Kollektiv-Bewußtseins kann kein individuelles Gewissen entstehen. Erscheinungen wie die griechische Tragödie, bei der die persönliche Schuld und die persönliche Läuterung im Zentrum stehen, oder wie die starke Beto57
nung der persönlichen Verantwortung des Einzelnen vor Gott im späten Judentum, schufen ein individualisiertes Idi-Bewußtsein und bereiteten damit die Entstehung des Gewissens vor. Das Selbst, sagt ein moderner Philosoph, wurde durch die Sünde entdeckt. Das rein theoretische Selbst-Bewußtsein hat diese Macht nicht. Ohne eine praktische Selbst-Kenntnis, die auf der Erfahrung von Gesetz und Sdiuldigwerden beruht, hätte sich kein praktisches Selbst-Bewußtsein, kein Gewissen, entwickeln können. Dem Mensdientyp, der eine ausschließlich theoretische Mentalität hat, fehlt die Reife des Selbst. Sogar Nietzsche, der leidenschaftlicher als irgend jemand das richtende Gewissen angreift, leitet die Geburt des inneren Menschen von ihm ab. Während er auf den unterpersönlichen Charakter von Schuld und Strafe in primitiven Kulturen hinweist, preist er das Gewissen als die Erhebung der Menschheit auf eine höhere Ebene. Die Tatsache, daß Selbst-Werdung und Gewissen von der Erfahrung persönlicher Schuld abhängig sind, erklärt die Vorherrschaft des „schlechten Gewissens" in Leben, Literatur und Theorie. Das stützt die Behauptung, daß das unruhige, anklagende und richtende Gewissen das Urphänomen ist, daß das »gute Gewissen" nur die Abwesenheit des „schlechten Gewissens" und das fordernde und warnende Gewissen nur die Vorwegnahme des „schlechten Gewissens" ist. Da das Ich und das Gewissen sich in gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt haben und da das Selbst sich dadurch entdeckt, daß es die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, erfährt, manifestiert sich der grundlegende Charakter des Gewissens als Schuldbewußtsein. Shakespeare gibt in „Richard III." der Verbindung von individuellem Selbstbewußtsein, Schuld und Gewissen klassischen Ausdrudk: O feig' Gewissen, wie du mich bedrängst!... Was fürcht' ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand. Ridiard liebt Richard; das heißt, Idi bin Ich. Ist hier ein Mörder? Nein. - Ja, ich bin hier. So flieh. - Wie, vor mir selbst? Mit gutem Grund: Ich möchte rächen. Wie? Mich an mir selbstf Ich liebe ja mich selbst. Wofür? Für Gutes, Das je ich selbst hätt' an mir selbst getan? O leider, nein! Vielmehr hass' ich midi selbst... H a t mein Gewissen dodi viel tausend Zungen . . . , . . . rufend: Schuldig! Schuldig! Im nächsten Augenblick jedoch taucht Ridiard in das Kollektivbewußtsein der Schlacht unter, schiebt Selbst und Gewissen beiseite: 58
. . . Gewissen ist ein Wort für Feige n u r . . . Uns ist die Wehr Gewissen, Schwert Gesetz. Rückt vor! dringt ein! recht in des Wirrwarrs Völle, Wo nidit zum Himmel, Hand in Hand zur Hölle! II. Das Gewissen in der Bibel Während sich im Alten Testament das Erlebnis, aber nidit der Begriff des Gewissens findet (Adam, Kain, David, Hiob), hat das Neue Testament, besonders Paulus, sowohl das Wort als auch die Wirklichkeit. Unter Paulus' Einfluß, der in diesem wie in anderen Fällen Elemente der hellenistischen Ethik in das Christentum einführte, wurde das Gewissen ein allen Völkern gemeinsamer Begriff im religiösen wie im profanen Gebrauch. Im Neuen Testament hat das Gewissen nur mittelbar religiöse Bedeutung. Primär hat es ethisdie Bedeutung. Die Annahme der Botschaft des Evangeliums zum Beispiel ist keine Forderung des Gewissens. Das gleiche gilt von der Annahme des mosaischen Gesetzes oder der Bergpredigt. Das Gewissen gibt kein Gesetz, aber es klagt den an und verdammt ihn, der das Gesetz nidit erfüllt. Infolgedessen wird das Gewissen nicht als eine besondere Eigenschaft des Christen angesehen, sondern als ein Element der menschlichen Natur als solcher. Paulus betont das im Römerbrief: „Denn so die Heiden, die das Gesetz nidit haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werke, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen." (Rom. 2, 14-15.) Nach diesen Worten bezeugt das Gewissen das Gesetz - entweder das mosaische oder das natürliche - , aber es enthält nicht das Gesetz. Deshalb kann sein Urteil falsch sein. Paulus spricht von einem „schwachen", das heißt traditionsgebundenen, ängstlich konformistischen Gewissen, wenn er die Haltung von Christen beschreibt, die sich fürchten, Fleisch auf dem Markt zu kaufen, weil es möglicherweise von Opfertieren heidnischer Kulte stammen könnte. Paulus kritisiert eine solche Haltung, aber er betont, daß sogar einem irrenden Gewissen gehorcht werden muß, und er warnt diejenigen, die „stark", das heißt frei und autonom im Gewissen sind, die Schwachen nicht durch ihr Beispiel zu verleiten, daß sie Dinge tun, die ihnen ein beunruhigtes Gewissen geben würden. Eine größere Anerkennung des Gewissens als Leitstern ist nicht denkbar. Paulus sagt nidit, daß wir ihm folgen müssen, weil 59
es recht hat, sondern weil Ungehorsam ihm gegenüber den Verlust des Heils bedeutet (Rom. 14). Man kann das Heil verlieren, wenn man etwas, das objektiv richtig ist, mit einem schlechten Gewissen tut. Die Einheit und Konsequenz der moralischen Persönlichkeit sind wichtiger als ihre Unterwerfung unter eine Wahrheit, die diese Einheit bedroht. Im Prinzip hat das Christentum immer die unbedingte moralische Verantwortlichkeit der individuellen Person, wie sie die paulinisdie Gewissenslehre darstellt, aufrechterhalten. In diesem Punkt stimmen Thomas von Aquino und Luther überein. Thomas behauptet, daß er dem Befehl eines Vorgesetzten, dem er Gehorsam gelobt hat, den Gehorsam verweigern muß, wenn der Vorgesetzte etwas gegen sein Gewissen verlangt. Und Luthers berühmte Worte vor dem Kaiser in Worms, mit denen er darauf besteht, daß es nicht recht ist, etwas gegen das Gewissen zu tun, nämlich eine theologische Einsicht zu widerrufen, fußen auf dieser traditionellen christlichen Lehre vom Gewissen. Aber weder bei Paulus noch bei Thomas oder Luther ist das Gewissen eine religiöse Instanz. Sie sehen die Autorität des Gewissens innerhalb des ethisdien Bereichs. Luthers Weigerung, seine Reditfertigungslehre zu widerrufen, ist ein Ausdrude seiner Gewissenhaftigkeit als eines Doktors der Theologie. Er erklärt, daß er widerrufen werde, wenn er widerlegt würde durch Beweise aus der Schrift oder der Vernunft, der positiven Quelle und dem negativen Kriterium der Theologie. Aber er sagt nicht, wie es oft von liberalen Protestanten behauptet wurde, daß sein Gewissen die Quelle seiner Lehre sei. Bevor die Sektenbewegungen der Reformationszeit aufkamen, gibt es weder im Neuen Testament noch im klassischen Christentum eine Gewissensreligion. Im Neuen Testament wird das Verhältnis des moralischen Gewissens zum Glauben als der Grundlage des religiösen Lebens nur in zwei Zusammenhängen behandelt. In Hebr. 9,9 wird die rituelle Religion kritisiert, weil „Gaben und O p f e r . . . können nicht vollkommen machen, nach dem Zeugnis des Gewissens den, der in dieser Weise Gottesdienst tut". Deshalb, so sagt der Autor später (10, 22), „lasset uns hinzugehen mit wahrhaftigem Herzen in völligem Glauben, besprengt in unseren Herzen und los von dem bösen Gewissen". Nur das vollkommene Heil kann den moralischen Zustand verleihen, aus dem ein gutes Gewissen folgt. Aber der „völlige Glaube" ist keine Angelegenheit des Gewissens. - Das andere Verbindungsglied zwischen Glaube und Gewissen wird in der Kritik der Häresie gegeben. Häresie hat ein unreines Gewissen zur Folge, weil sie mit moralischer Verderbnis verbunden ist. In 1. Tim. 1, 19 und 4, 2 werden Libertinisten 60
und Asketen, beide Repräsentanten einer heidnischen dualistischen Moral, verworfen. Gegen sie sagt der Autor: „ . . . und habest den Glauben und gut Gewissen, welches etliche von sich gestoßen und am Glauben Schiffbruch erlitten haben." Sie haben „ein Brandmal in ihrem Gewissen". Das Urteil, daß man nicht ein Häretiker mit einem guten Gewissen sein kann, ist von der Kirche angenommen worden. Sie hat immer - wenn auch oft nicht zu Redit - die moralischen Folgen der Häresie betont. Häresie ist nicht falsches Urteil oder abweichende Erfahrung, sondern dämonische Besessenheit, die das moralisdie Selbst zerreißt und daher ein schlechtes Gewissen sdiafft. Auf dieser Grundlage hat die Kirche zu allen Zeiten den Kampf gegen die Häretiker geführt. III. Die Auffassung des Gewissens in der mittelalterlichen und in der Sekten-Theologie Die Scholastik stellte die Frage: Nach welchen Normen richtet das Gewissen und wie werden diese Normen von ihm erkannt? Die Antwort wurde mit Hilfe des künstlich erfundenen (oder korrupten) Wortes synteresis gegeben, das heißt einer Qualität unserer Vernunft, die uns die Erkenntnis des Guten ermöglicht. Sie kann unmittelbares und unfehlbares Zeugnis geben, da sie ein Ausdruck des göttlichen Lichtes in uns ist: des „ungesdiaffenen Lichtes" in der Tiefe der Seele, wie die Franziskaner behaupteten, des geschaffenen Lichtes unseres intuitiven Intellekts, wie die Dominikaner sagten. Grundprinzipien, die durch die synteresis gegeben werden, sind: 1. Das Gute muß getan werden, das Böse muß vermieden werden. 2. Jedes Wesen muß seiner Natur gemäß leben. 3. Jedes Wesen strebt nach Glück. Das Gewissen ist das praktische Urteil, das diese Prinzipien auf die konkrete Situation anwendet. Das Gewissen übt einen syllogismus practicus aus. Wir müssen unserem Gewissen folgen, ob der syllogismus richtig ist oder nicht. Zugleich sind wir dafür verantwortlich, daß wir das Gute nidit wissen. Aber wir dürfen nicht gegen unser Gewissen handeln, selbst wenn es objektiv richtig wäre, es zu tun. Der Mensch hat eine unfehlbare Kenntnis der moralischen Prinzipien des Naturrechts durch die synteresis; aber er hat ein Gewissen, das sich bei jeder konkreten Entscheidung irren kann. Um gefährliche Irrtümer zu vermeiden, geben die kirchlichen Autoritäten dem Christen Ratschläge, besonders im Zusammenhang mit der Beichte im Buß-Sakrament. Von den Priestern wurden summae de casibus conscientiae (Sammlungen von Gewissenskasualien) herausgegeben. Auf diesem Wege geriet das Gewissen mehr und mehr in die Abhängigkeit der Kirche. Die unmit61
telbare Kenntnis des Guten wurde dem Laien abgesprochen. Die Jesuiten entfernten die Idee der synteresis und damit jedes autonome Element in der Ethik und ersetzten es durch den kirchlichen, insbesondere den jesuitischen Ratgeber. Aber der Ratgeber hatte die Wahl zwischen verschiedenen Autoritäten, deren Urteile oft den gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad hatten. Heteronomie und Probabilismus zerstörten die Autonomie des Gewissens. Trotz dieser Verzerrungen hat die mittelalterliche Ethik eine ungeheure Aufgabe in der Erziehung und Verfeinerung des Gewissens der europäischen Völker im allgemeinen und der mönchischen und halbmönchischen Gruppen im besonderen geleistet. Die Tiefe und Breite des schlechten Gewissens im späten Mittelalter ist das Ergebnis dieser Erziehung und der Boden für neue Deutungen des Sinnes und der Funktion des Gewissens. Wenn wir uns dem Verständnis des Gewissens unter den Spiritualisten zuwenden, finden wir zunächst die franziskanische Idee des unmittelbaren Wissens um die Normen des Naturrechts, die in der Tiefe der menschlichen Seele verwurzelt sind. Aber zwei neue Elemente unterstützen und wandeln diese Tradition: die „deutsche Mystik" mit ihrer Betonung des göttlichen Funkens in der menschlichen Seele und das spirituale Sdiwärmertum, das durch die Reformation erweckt wurde und verkündete, daß jeder einzelne Christ im Besitz des Geistes sei. Thomas Münzer und seine Anhänger lehrten, daß der Heilige Geist zu uns aus der Tiefe unserer eigenen Seele spricht. Nicht wir sprechen zu uns, sondern Gott in uns. „Aus dem Abgrund unseres Herzens, der vom lebendigen Gott ist" (Münzer), empfangen wir die Wahrheit, wenn wir ihr durch Leiden aufgeschlossen sind. Da die Spiritualisten diese göttliche Stimme in uns in einem sehr konkreten Sinn verstanden, identifizierten sie sie mit dem Gewissen. Auf diese Weise wurde das Gewissen eine Quelle religiöser Einsicht und nicht nur Richter moralischer Handlungen. Das Gewissen als der Ausdruck des „inneren Lichtes" hat Offenbarungscharakter. Aber sofort erhob sich die Frage: Was ist der Inhalt einer solchen Offenbarung durch das Gewissen? Luther fragte Münzer und Cromwell fragte Fox: Was ist der Unterschied zwischen praktischer Vernunft und „innerem Licht"? Beide konnten antworten: der ekstatische Charakter des Heiligen Geistes. Aber sie konnten weiter gefragt werden: Welchen Bezug hat die ekstatische Form der Offenbarung zu ihrem Inhalt? Und dann war die Antwort schwierig. Münzer bezog sich auf praktische Entscheidungen in seinem täglichen Leben, die er unter dem Einfluß des Heiligen Geistes traf, und Fox entwickelte eine 62
Ethik der unbedingten Ehrlichkeit, der bürgerlichen Rechtlichkeit und des Pazifismus. Es war leicht, weiter zu fragen, ob vernunftgemäße Einsicht und Gehorsam gegenüber dem Naturrecht nicht die gleichen Ergebnisse erzielen können. Das „offenbarende Gewissen" ist eine Verbindung von Mystik mit moralischer Rationalität. Aber es offenbart nichts über die biblische und ursprüngliche diristliche Tradition hinaus. Ein wichtiges Ergebnis dieser Veränderung des Gewissensbegriffes ist der Toleranzgedanke und sein Sieg im liberalen Zeitalter. Die Forderung der „Gewissensfreiheit" bezieht sich nicht auf die konkrete ethische Entscheidung, sondern sie bezieht sich auf die religiöse Autorität des „inneren Lichtes", die sich durch das individuelle Gewissen ausdrückt. Und da das „innere Lidit" kaum von der praktischen Vernunft unterschieden werden kann, bedeutet Gewissensfreiheit tatsächlich die Freiheit, seiner eigenen autonomen Vernunft zu folgen, nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Religion. Die Gewissensreligion und die daraus folgende Toleranzidee sind kein Ergebnis der Reformation, sondern des Schwärmertums und der Mystik. IV. Moderne philosophische Lehren vom Gewissen Die moderne philosophische Deutung des Gewissens folgt drei Hauptlinien: einer emotional-ästhetischen Linie, einer abstrakt-formalistischen Linie und einer rational-idealistisdien Linie. Shaftesbury säkularisiert den Glauben der Sekten an die offenbarende K r a f t des Gewissens und deutet es als die emotionale Reaktion auf die Harmonie zwischen Selbstbezogenheit und Bezogenheit auf andere - in allen Wesen und im Universum als Ganzem. Das Prinzip des moralischen Handelns ist das Gleichgewicht zwischen den guten, universal gültigen, und den schlechten, selbstsüchtigen Absichten - ein Unterschied, der vom Gewissen angezeigt wird. Das Gewissen spricht umso wahrer und klarer, je stärker das Gefühl f ü r das Universum und seine H a r monie entwickelt ist. Das durchgeformte Gewissen hat ein vollkommenes sittliches Gefühl. Nicht die Harmonie mit dem Universum, sondern die Sympathie mit dem anderen Mensdien ist nach Hume und Adam Smith die Grundlage des Gewissens; wir identifizieren uns mit dem anderen und empfangen seine Zustimmung oder Ablehnung unseres Handelns wie unser eigenes Urteil. Dies setzt eine verborgene Harmonie zwischen den Individuen und die Möglichkeit einer gegenseitigen Identifizierung voraus. Es setzt ein universales Harmonieprinzip voraus, an dem die Individuen teilhaben und das sich dem Gewissen offenbart.
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Die harmonistisdie Deutung des Gewissens führte oft zum Ersatz der ethischen durch ästhetische Prinzipien. Die Haltung der ehemaligen Aristokratie, des Großbürgertums und der Boheme am Ende des letzten Jahrhunderts war dadurch gekennzeichnet, daß in der Sphäre der Moralität der gute Geschmack zum obersten Richter erhoben und gleichzeitig Religion durch Kunst ersetzt wurde. Es war der Versuch, ein transmoralisches Gewissen zu erreichen, aber er erreichte nidit einmal ein moralisches, und er wurde durch die revolutionäre Moral (oder Unmoral) des 20. Jahrhunderts hinweggefegt. Die zweite Methode, das Gewissen philosophisch zu deuten, ist die abstrakt-formalistische. Sie wurde am klarsten durch Kant formuliert und in die Theologie durch Ritsehl eingeführt. Kant wollte den unbedingten Charakter der ethischen Forderung gegen allen emotionalen Relativismus aufrechterhalten, gegen Furcht- und Lust-Motive wie gegen göttliche und menschliche Autoritäten. Dadurch aber wurde er zu einem völligen Formalismus getrieben. Gewissen ist das Bewußtsein des „kategorischen (unbedingten) Imperativs", aber es ist nicht das Bewußtsein eines speziellen Inhalts dieses Imperativs. „Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist." Es ist Pflicht, Gewissen zu haben, gewissenhaft zu sein. Der Inhalt ist nach Ritsehl abhängig von einer besonderen Berufung, einer besonderen gesdiichtlidien Situation in Raum und Zeit. Nur Gewissenhaftigkeit wird immer verlangt. Dies entspricht der protestantischen, insbesondere der lutherischen Wertung der Arbeit. Es ist der Ausdruck des aktivistischen Elements des Bürgertums und ist identisch mit der bürgerlichen Anpassung an die technischen und psychologischen Forderungen des ökonomischen Systems. Pflicht ist das, was der bürgerlichen Selbsterhaltung dient. Dies ist der verborgene Sinn auch der Philosophie des „Absoluten Ichs" bei Fichte, der Gewissen als die Gewißheit der reinen Pflicht beschreibt, das von nichts außer dem Gebot freier Selbstverwirklichung des reinen „Ich" bestimmt ist. In dem Augenblick jedoch, in dem die transzendente Freiheit konkretes Handeln wird, entsteht Gehorsam gegenüber einem wohlberechneten System ökonomischer Dienste. Es ist verständlich, daß der Verlust einer konkreten Richtung der Gewissenhaftigkeit den Weg bahnte für sehr unmoralische Inhalte in dem Augenblick, in dem sie zum Beispiel von einem totalitären Staat befohlen wurden. In der modernen Philosophie wurden sowohl gegen die ästhetischemotionale als auch gegen die abstrakt-formalistische Gewissensbestimmung Versuche unternommen, Rationalität und Inhalte zu vereinen. Die commonsense-Theorie von Thomas Reid und der schot64
tischen Schule ist der einflußreichste dieser Versuche. Danach ist der moralische Sinn allen gemeinsam, weil er eine natürliche Gabe der menschlichen Natur darstellt (wie die synteresis der Scholastiker). Entscheidend für die praktische Ethik ist die Bedeutung des Wohlwollens gegenüber anderen Menschen (Hutcheson). Diese Theorie ist der adäquate Ausdrude für die Wirklichkeit des britischen und bis zu einem gewissen Grade auch des amerikanischen Konformismus und für das natürliche Wohlwollen in einer Gesellschaft, in der die konvergierenden Tendenzen stärker sind als die divergierenden und in der noch eine säkularisierte christliche Moral vorherrsdit. Ein anderer Versuch, rationale Inhalte für das Gewissen zu finden, wurde von Hegel unternommen. Er unterscheidet das formale und das wahre Gewissen. Über jenes sagt er: „Das Gewissen ist die unendliche formale Sicherheit des Selbst - es drückt das absolute Redit des subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich zu wissen, was Recht und Pflicht ist, sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner selbst, und nur das anzuerkennen, was es auf diese Weise als das Gute erkennt." Aber diese Subjektivität ist trügerisch und kann sich in Irrtum und Schuld verkehren. Daher bedarf sie eines Inhalts, um zum wahren Gewissen zu werden. Dieser Inhalt ist die Wirklichkeit der Familie, der Gesellschaft und des Staates. Mit dem Staat als der Organisation der geschichtlichen Vernunft wird das formale Gewissen in das wahre Gewissen verwandelt. Es ist ein geschichtliches Fehlurteil, diese Gedanken mit der totalitären Auffassung des Staates und der heidnischen Verzerrung des Gewissens durch den Nationalsozialismus zu verknüpfen. Hegel war ein Rationalist, kein Positivist. Seine Idee des Staates vereint christlich-konservative und bürgerlich-liberale Elemente. Seine berühmte, obwohl selten verstandene Idee des Staates als des „Gottes auf Erden" fußt auf der Identifikation des Staates mit der Kirche als des „Leibes Christi", ausgedrückt in profanen Begriffen. Das Gewissen, das vom Staat in diesem Sinne bestimmt wird, wird nicht durch bürokratische Befehle, sondern durch das Leben eines halbreligiösen, halbprofanen Organismus bestimmt - dem Gegenstück zum diristlichrationalistischen commonsense der angelsächsischen Gesellschaft. Ist die schottische Lösung weitgehend abhängig von der gesellschaftlichen Haltung des westlichen Christentums und Hegels Lösung vom lutherischen Protestantismus, so hat der Geist des Katholizismus einen neuen philosophischen Ausdruck in der jüngeren philosophischen Entwicklung erhalten, für die Max Sdieler als Repräsentant genannt sei. In seiner Lehre vom Gewissen wendet sich Sdieler gegen den populären Begriff des Gewissens als der „Stimme Gottes". Er nennt dies, wie die 65
Forderung nach „Gewissensfreiheit", ein Prinzip des Chaos. Statt Gewissensfreiheit fordert er Unterwerfung unter die Autorität als den einzigen Weg, die intuitive Evidenz der moralischen Prinzipien zu erfahren. Eine solche Evidenz ohne persönliche Erfahrung zu erreichen, ist unmöglich, und es ist unmöglich, eine soldie Erfahrung zu haben, ohne unter der Führung einer Autorität zu handeln, die auf früherer Erfahrung beruht. In dieser Hinsicht ist die ethische - wir würden sagen: „existentielle" - Erfahrung von der theoretischen, das heißt „uninteressierten" Erfahrung unterschieden. Obwohl dies völlig der Situation der Katholiken entspricht, ist damit doch nidit die Errichtung einer äußeren Autorität gemeint. „Alle Autorität hat es immer mit dem allgemeingültig einsichtig Guten zu tun, niemals mit dem individualgültig einsichtig Guten." Ethische Autorität fußt auf der allgemeinen ethischen Evidenz. Aber gibt es eine solche allgemeine ethische Evidenz? Oder muß eine philosophische Evidenz entweder allgemein und abstrakt oder konkret und abhängig von wechselnden geschichtlichen Bedingungen sein? Kann, wenn dies die Alternative ist, das Gewissensproblem überhaupt in Begriffen eines moralischen Gewissens ausgedrückt werden? V. Die Idee eines transmoralischen
Gewissens
Man könnte mit dem Wort „transmoralisch" ein Gewissen bezeichnen, das nicht aus Gehorsam gegenüber einem moralischen Gesetz urteilt, sondern auf Grund der Partizipation an einer Wirklichkeit, die den Bereich moralischer Gebote transzendiert. Ein transmoralisdies Gewissen verleugnet nicht den moralischen Bereich, aber es wird durch die unerträglichen Spannungen in der Sphäre des Gesetzes darüber hinausgetrieben. Luther ist es, der einen neuen Gewissensbegriff aus der Erfahrung der Rechtfertigung durch den Glauben ableitet. Wir finden ihn weder bei Paulus noch bei Augustin. Luthers Erfahrung erwuchs aus der mönchischen Gewissenserforschung und der Drohung des Jüngsten Gerichts, die er in ihrer vollen Tiefe und ihrem ganzen Schrecken fühlte. Solche Erfahrungen nannte er „Anfechtungen", nämlich Versuchungen, die vom Satan, der als Werkzeug des göttlichen Zornes verstanden wird, stammen. Diese Anfechtungen sind das Schrecklichste, was ein menschliches Wesen erfahren kann. Sie erzeugen eine tiefe Angst, ein Gefühl, in einem engen Raum eingeschlossen zu sein, aus dem es kein Entrinnen gibt. Angst ist, wie Luther mit Recht sagt, abgeleitet von angustiae, die Enge. „Du treibst mich von dem Angesicht 66
der Erde", sagte er von Gott in Verzweiflung, ja sogar in H a ß . Luther beschreibt diesen Zustand auf mancherlei Weise. Er vergleicht das ers t r e c k t e Gewissen, das zu fliehen versucht und nicht entkommen kann, mit einer Gans, die, vom Wolf verfolgt, nicht, wie es natürlich ist, ihre Flügel gebraucht, sondern ihre Füße und gefangen wird. Oder er berichtet uns, wie ihn das Rascheln von trockenem Laub als der Ausdruck des Zornes Gottes erschreckte. Sein Gewissen bestätigt den göttlichen Zorn und das göttliche Urteil. Gott sagt zu ihm: „Du kannst nicht anders über didi richten." Solche Erfahrungen sind nicht von besonderen Sünden abhängig. Das Selbst als soldies ist sündhaft vor jeder T a t , es ist von G o t t getrennt, nicht willens, ihn zu lieben. Wenn das schlechte Gewissen so in einen Zustand völliger Verzweiflung hineingetrieben wird, kann es nur durch die Annahme von Gottes sich selbst opfernder Liebe besiegt werden, wie sie anschaubar ist im Bilde Jesu als des Christus. Gott unterwirft sich sozusagen selbst den Folgen seines Zornes, nimmt sie auf sich und stellt so die Einheit mit uns wieder her. Der Sünder wird trotz seiner Sündhaftigkeit angenommen. Der Zorn Gottes ersdireckt uns nicht länger, ein fröhliches Gewissen erhebt sidi so weit über den moralisdien Bereich, als das verzweifelte Gewissen unter dem moralischen Bereich war. „Rechtfertigung durch Gnade" im Sinne Luthers bedeutet die Schöpfung eines transmoralisdien Gewissens. Während Gott in der Anfechtung der Ankläger ist und unser H e r z sich zu entschuldigen trachtet, klagt uns in der Rechtfertigung unser H e r z an, und Gott verteidigt uns gegen uns selber. In psychologischen Begriffen bedeutet dies: Insoweit wir auf uns selber sehen, müssen wir ein verzweifeltes Gewissen bekommen, insoweit wir auf die Macht einer neuen Schöpfung jenseits unserer selbst sehen, können wir ein fröhliches Gewissen erlangen. N i d i t wegen unserer moralischen Vollkommenheit, sondern trotz unserer moralisdien Unvollkommenheit kämpfen und triumphieren wir auf der Seite Gottes, wie in dem berühmten Dürerschen Bilde „Ritter, Tod und Teufel" der Ritter durch die Engpässe reitet in der H a l t u n g eines siegreichen Trotzens gegen Angst und Versuchung. Eine Analogie zu diesem „triumphierenden Gewissen", das von Luther sowohl persönlich als auch theologisch entwickelt wurde, finden wir in der ekstatischen Ethik des Giordano Bruno. Das moralische Gewissen wird überwunden durdi den „heroischen Affekt" zum Universum und die H i n g a b e an seine Unendlichkeit und unerschöpfliche Schöpferkraft. Partizipation an der Schöpferkraft des universalen Lebens befreit vom moralischen Gewissen - sowohl vom guten als audi vom schlechten. Der Mensch, der in der Mitte des Seins steht, ist i
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aufgerufen, sein vorgegebenes Leben in ein höheres zu verwandeln. Er nimmt die tragisdien Konsequenzen auf sich, die mit der zerstörerischen Seite des endlichen Schöpfertums verbunden sind, und darf nicht versudien, ihnen um eines guten moralischen Gewissens willen zu entfliehen. Ist bei Bruno das transmoralische Gewissen in seinem mystischen Naturalimus begründet, so ist Nietzsches Transmoral eine Folge seines dramatisch-tragischen Naturalismus. Nietzsche gehört zu jenen Empiristen, die die Genesis des moralischen Gewissens in einer Weise zu analysieren versucht haben, daß dessen Autonomie zerstört wird: Hobbes und Helveticus auf dem Boden einer materialistischen Metaphysik; Mandeville und Bentham auf dem Boden einer utilitaristischen Psychologie; Darwin und Freud auf dem Boden eines evolutionären Naturalismus - sie alle leugneten jede objektive Gültigkeit der Stimme des Gewissens, gemäß ihrer Ablehnung jedes universalen natürlichen (rationalen) Gesetzes. Wie der Titel und Inhalt seiner „Genealogie der Moral" zeigt, hat Nietzsche diese Ideen weiterentwickelt. Er sagt: „Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen..., aber eine Krankheit, wie die Sdiwangersdiaft eine Krankheit ist." Es ist eine schöpferische Krankheit. Die Menschheit mußte gezähmt werden, und dies mußte durdi ihre Eroberer und herrschenden Klassen geschehen. Im Interesse dieser Klassen lag es, durch schwere Strafen die naturhaften Instinkte der Aggressivität, des Willens zur Macht, der Zerstörung, der Grausamkeit, der Revolution zu unterdrücken. Sie erreiditen es, diese Triebe zu unterdrücken, aber sie erreiditen es nicht, sie zu vernichten. So wurden die aggressiven Instinkte verinnerlicht und in selbstzerstörerische Tendenzen verwandelt. Der Mensch kehrte sich gegen sich selbst in der Form der Selbstbestrafung, er ist von seiner animalisdien Vergangenheit, aus der er Kraft, Freude und Schöpfertum zog, getrennt. Aber er kann nicht verhindern, daß seine Instinkte lebendig bleiben. Sie erfordern ständige Unterdrückungsakte, deren Ergebnis das schlechte Gewissen ist, etwas Großes in der Entwicklung des Menschen, etwas Häßliches, wenn es mit dem wirklichen Ziel des Menschen verglidien wird. Nietzsche beschreibt dieses Ziel in Worten, die an Luthers Beschreibung des transmoralisdien Gewissens erinnern: „Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als es diese morsdie, selbstzweiflerisdie Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferisdie Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt." Nietzsche nennt ihn den Menschen, „der durch Kriege und Siege gekräftigt, dem die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der 68
Schmerz sogar zum Bedürfnis geworden ist." Dieser Mensch ist „jenseits von Gut und Böse" im moralischen Sinn. Zugleich ist er gut im metaphysischen (oder mystischen) Sinn, da er in Einheit mit dem Leben als solchem ist. Er hat ein transmoralisches Gewissen, nicht auf der Grundlage einer paradoxen Einheit mit Gott (wie Luther), sondern auf der Grundlage einer enthusiastischen Einheit mit dem Leben in seiner schöpferischen und zerstörerischen Madit. Auch die Existenzphilosophie hat eine Lehre des transmoralischen Gewissens entwickelt, die den allgemeinen Linien Luthers, Brunos und Nietzsches folgt. Heidegger, der Hauptvertreter der Existenzphilosophie, sagt: „Der Ruf des Gewissens hat den Charakter der Forderung, daß der Mensch in seiner Endlichkeit seine eigensten Möglichkeiten verwirkliche, und das bedeutet einen Aufruf zum Schuldigwerden." Das Gewissen ruft uns zu uns selbst, ruft uns zurück vom Gerede des Marktes und dem konventionellen Benehmen der Massen. Es hat keine besonderen Forderungen, es spricht zu uns „im Modus des Schweigens". Es ruft uns nur zum Handeln und zum Schuldigwerden durch das Handeln, denn jedes Handeln ist bedenkenlos. Der, der handelt, erfährt den Ruf des Gewissens, und zugleich hat er die Erfahrung des seinem Gewissen Widersprechens, des Schuldigseins. „Existenz als solche ist schuldig." N u r Selbsttäuschung kann ein gutes moralisches Gewissen verleihen, da es unmöglich ist, nicht zu handeln, und da jede Tat Schuld in sich schließt. Wir müssen handeln, und die Haltung, in der wir handeln können, ist „Entschlossenheit". Entschlossenheit transzendiert das moralische Gewissen, seine Argumente und Verbote. Sie bestimmt eine Situation, statt von ihr bestimmt zu werden. Das gute, transmoralische Gewissen besteht in der Annahme des bösen, moralischen Gewissens, das unvermeidlich ist, wo immer Entscheidungen getroffen und Taten getan werden. Der Weg von Luthers Idee eines transmoralischen Gewissens zu der Heideggers ist gefährlich. „Transmoralisdi" kann die Wiederherstellung der Moral aus einem Punkt oberhalb der Moral bedeuten, oder sie kann die Zerstörung der Moral aus einem Punkt unterhalb der Moral bedeuten. Die Empiristen von Hobbes bis Freud haben das moralische Gewissen analysiert, aber sie haben es nicht zerstört. Entweder waren sie in ihrer konkreten Ethik vom angelsächsischen common sense abhängig, oder sie identifizierten Nützlichkeit mit den sozialen Konventionen eines wohlsituierten Bürgertums, oder sie kultivierten einen feinen Sinn für Gewissenhaftigkeit sowohl in der wissenschaftlichen Sauberkeit als auch in der Erfüllung von Pflichten, aber sie wagten es nicht, unbewußt oder bewußt, die radikalen moralischen Konsequenzen aus ihrer Auf69
lösung des Gewissens zu ziehen. Bei Nietzsche und Heidegger ist von diesen Hemmungen nichts mehr übriggeblieben. Nicht ganz zu unrecht werden diese Namen mit den antimoralischen Bewegungen des Faschismus oder Nationalsozialismus verknüpft. Sogar Luther ist damit in Verbindung gebracht worden, ebenso wie Machiavelli und Bruno. Hier erhebt sich die Frage: Läßt sich die Idee eines transmoralischen Gewissens aufrecht erhalten? Oder ist sie so gefährlidi, daß sie nicht aufrecht erhalten werden darf? Muß aber die Idee aufgegeben werden, dann müssen Religion wie analytische Psydiotherapie aufgegeben werden, denn in beiden ist das moralische Gewissen transzendiert - in der Religion durch die Annahme der göttlichen Gnade, die durch die Sphäre des Gesetzes hindurch bricht und ein fröhliches Gewissen schafft, in der Tiefenpsychologie durch die Annahme der eigenen Konflikte, wenn man auf sie sieht und unter ihrer Häßlichkeit leidet, ohne einen Versuch zu machen, sie zu unterdrücken und sie vor sich selbst zu verbergen. Tatsächlich ist es unmöglich, das moralische Gewissen nicht zu transzendieren, weil es unmöglich ist, ein empfindliches und ein gutes Gewissen miteinander zu vereinen. Diejenigen, die ein empfindliches Gewissen haben, können der Frage des transmoralischen Gewissens nicht entrinnen. Das moralische Gewissen treibt aus dem Bereich, in dem es gilt, hin zu dem Bereich, aus dem es seine bedingte Geltung erhalten muß. V . E T H I K IN EINER SICH W A N D E L N D E N W E L T
I In dem Titel dieses Aufsatzes bedeutet der Ausdruck „sich wandelnde Welt" nicht den allgemeinen Wandel, in dem alles begriffen ist, was existiert, er bedeutet auch nicht den ständigen Wandel, der mit der Natur und mit der Geschichte - mit dieser aber fundamentaler verbunden ist, sondern er weist auf die Tatsache hin, daß wir in einer geschichtlichen Periode leben, die durch eine radikale und revolutionäre Umwandlung eines geschichtlichen Zeitalters in ein anderes gekennzeichnet ist. Niemand, der auch nur ein Mindestmaß an gesdiichtlidiem Verständnis besitzt, kann diese Tatsache ernstlich bezweifeln nach all dem, was in den letzten Jahren geschah. Wir stehen in der Mitte einer Weltrevolution, die jeden Bereich der menschlichen Existenz ergreift und uns eine neue Deutung des Lebens und der Welt aufdrängt. Welche Rolle spielt die Ethik angesichts dieser Situation? Stellt sie einen Bereich jenseits allen Wandels dar? Ist sie in ihrer Grundlage, in ihren Werten und Geboten übergesdiichtlich? Oder 70
folgt sie dem Strom des geschichtlichen Werdens und wird sie so schnell wie die anderen Lebensbereiche in unseren Tagen verwandelt werden? Wenn das letztere der Fall ist, welche Autorität, welche Macht, menschliches Leben zu formen, verbleibt ihr noch? Kann der unbedingte Anspruch, mit dem sich jede moralische Forderung an das menschliche Gewissen richtet, aufrechterhalten werden, wenn die Inhalte des Anspruches in jeder geschichtlichen Epoche verschieden sind? Aber sollte das erstere der Fall sein - stellte die Ethik einen Bereich jenseits der Geschichte dar, unbeweglich und unbetroffen durch geschichtlidien Wandel - , wie kann sie den Menschen, der in der Geschichte lebt und von ihr geformt wird, beeinflussen? Bildete sie dann nicht einen Fremdkörper innerhalb des Gesamtzusammenhangs der menschlichen Erfahrung, von ihr in unerreichbarer Entferntheit getrennt, vielleicht in ehrfürchtiger Scheu gewürdigt, aber ohne wirklichen Einfluß auf den Lebensprozeß? Um diese Frage beantworten und auf unsere jetzige Situation beziehen zu können, beabsichtige ich, zunächst einige Lösungen zu behandeln, die in der Geschichte des menschlichen Denkens erscheinen und die noch von ungeheuer aktueller Bedeutung sind; zweitens möchte ich meine eigene Lösung geben, und drittens will ich diese Lösung auf die jetzige Weltsituation anzuwenden versuchen, indem ich einige praktische Beispiele gebe. Drei große Typen des Lebens und Denkens repräsentieren die drei Lösungen des Problems der Ethik im geschichtlichen Wandel: erstens die statisch-supranaturalistische Lösung, vertreten durch die katholische Kirche und fixiert in der Ethik des Thomas von Aquino; zweitens die dynamisch-naturalistische Lösung, vertreten durch die nationalsozialistische Bewegung und fixiert in der Ethik der Lebensphilosophen; drittens die rationalistisch-fortschrittliche Lösung, vertreten durch den angelsächsischen common sense und fixiert in der Ethik der rationalistischen Philosophie. Mit außerordentlicher psychologischer Kraft erhält die statischsupranaturalistische Lösung den ewigen und unbeweglichen Charakter der ethischen Normen und Gebote aufrecht. Philosophie und Theologie arbeiten in dieser Richtung zusammen. Die Welt wird als ein System ewiger Strukturen aufgefaßt, die im göttlichen Geist vorgeformt sind, die Substanz und Essenz von allem sind und die die Normen und Gesetze für die persönliche und soziale Praxis des Menschen geben. Die Philosophie deckt diese Strukturen und Gesetze auf, die Offenbarung bestätigt und verbessert sie. Und die Offenbarung fügt einige Superstrukturen von sich aus hinzu - neue und höhere Gesetze - , aber ebenso ewig und unwandelbar. Die beiden Strukturen - die na71
türlidien und die übernatürlichen - bilden zusammen eine Hierarchie der Mächte und Werte, welche die Natur beherrschen und das menschliche Handeln bestimmen sollen. Die Kirche, selber ein hierarchisches System, lehrt dieses System, erzieht zu diesem System, kämpft für seine politische Verwirklichung und verteidigt es gegen neue Systeme. Aber indem die Kirche das tut, kann sie die tatsächliche Situation und die geschichtlichen Wandlungen nicht außer acht lassen. Die Kirche muß ihr ethisches System den neuen Problemen und Forderungen anpassen. Die katholische Kirche war fähig, dies in einer bewunderungswürdigen Weise jahrhundertelang zu tun, und die lebendige Autorität des Papstes ist immer noch ein wunderbares Instrument zur Erzielung von Anpassungen, ohne daß die unwandelbare Basis verlorengeht. Trotzdem ist es offensichtlich, daß die katholische Kirche nicht völlig erfolgreich war, mit den Voraussetzungen und Forderungen des bürgerlichen Zeitalters fertig zu werden. Protestantismus und Aufklärung schufen neue Systeme der Ethik, die im Gegensatz zum angeblich ewigen System der mittelalterlichen Kirche standen. Und als die Kirche versuchte, mit dem Strom des aufsteigenden Bürgertums zu gehen, wie z. B. in den Moralpredigten der Jesuiten des 17. und 18. Jahrhunderts und in den Lehren des Modernismus im 19. Jahrhundert, verlor sie entweder ihren Ernst und ihre Autorität oder lieferte den schlechten Eindruck eines Rückzugsgefechtes, in dem jede ihrer Positionen so lange wie möglich verteidigt und schließlich aufgegeben wurde. Und die wichtigen Äußerungen des Heiligen Stuhles während des 19. Jahrhunderts zu sozialen und politischen Problemen setzen, um anwendbar zu sein, die ungebrochene Einheit und Autorität der christlichen Kirche voraus, die nicht mehr existieren. Deshalb hatten sie keinen Einfluß auf den Geist der modernen Ethik und die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Der Preis, der von der statisch-supranaturalistischen Antwort auf unsere Frage gezahlt wurde, war der Verlust des bestimmenden Einflusses auf die sich wandelnde Welt der letzten Jahrhunderte. Die entgegengesetzte Lösung, unter anderem vertreten durch den Nationalsozialismus, wurde auf zwei Hauptwegen vorbereitet: durch die kontinentale vitalistische Philosophie und durch den anglo-amerikanisdien Positivismus und Pragmatismus, wobei der letztere nur eine andere Form der vitalistischen Philosophie ist. Der Nationalsozialismus hat die philosophischen Motive der Lebensphilosophie gebraucht und mißbraucht, besonders die von Nietzsche, Pareto und Sorel. Wahrheit ist nach Nietzsche diejenige Form des Irrtums, durch die ein lebendiges Wesen sich selber verwirklicht. Im dynamischen 72
Lebensprozeß werden durch den Willen des Stärksten Werte gesetzt und verworfen - biologisch gesprochen; durch die eruptive Gewalt einer revolutionären Gruppe - politisch gesprochen. Der Wechsel, das Hauptkennzeichen des Lebens, ist auch der Hauptcharakter der Ethik. Es gibt keine unabhängigen Normen über dem Leben, keine Maßstäbe für ein vollkommenes Leben. Vollkommenes Leben ist starkes Leben oder gewalttätiges Leben oder das Leben einer herrschenden Aristokratie oder das Leben einer erobernden Rasse. Daraus folgt, daß das Individuum, statt durch die ethischen Normen, die sich in seinem Gewissen offenbaren, geleitet zu sein, sein Gewissen dem Gruppengewissen einzuverleiben hat. Es muß seine Maßstäbe mit den Maßstäben der Gruppe gleichschalten, wie sie von deren Führern vertreten werden. - Der dynamisdi-naturalistisdie Typ der Antwort auf die Frage nach der Ethik in einer sich wandelnden Welt entspricht der Ethik des primitiven Stammes. Er ist, geschichtlich gesprochen, zugleich die jüngste und älteste aller Lösungen des ethischen Problems. In diesem Zusammenhang betrachte ich auch den angelsächsischen Positivismus und Pragmatismus. Eine wichtige Aufgabe dieses Aufsatzes ist es, deutlich zu machen, daß der Pragmatismus und die Lebensphilosophie zum gleichen Typ der dynamistischen Ethik gehören. Wenn der Pragmatismus von Erfahrung spricht, so gibt er die Kriterien der Wahrheit und des Guten nicht weniger preis als die Lebensphilosophie. Für diesen Standpunkt gibt es keine Normen, die über die wechselnde Erfahrung hinausgehen. Die Frage, welche Art von Leben zu ethischen Erfahrungen führt und welches die Maßstäbe einer echten ethischen Erfahrung sind, werden nicht beantwortet und können innerhalb des pragmatischen Denkens auch nicht beantwortet werden. Deshalb nehmen die Pragmatisten und Positivisten ihre Zuflucht zu einem ethischen Instinkt, von dem angenommen wird, daß er zu einem ethischen common sense führt. Diese Zuflucht ist so lange sicher, als es eine Gesellschaft mit einem starken gemeinsamen Glauben und einer konventionellen Moral gibt, die von den führenden Gesellschaftsgruppen aufrechterhalten werden. Das war die Situation auf der Höhe der bürgerlichen Entwicklung, z. B. im Viktorianisdien Zeitalter. Aber der ethische Instinkt erfüllte seine Funktion nicht mehr, als die Harmonie einer saturierten Gesellschaft langsam verschwand und unbefriedigte Gruppen, Massen und Völker nach einer neuen Lebensordnung fragten. Der ethische Instinkt dieser Gruppen unterschied sich stark von den ethischen Instinkten des aufsteigenden, viktorianisdien Bürgertums, und die Zuflucht zum ethischen Instinkt und common 73
sense wurde unwirksam. Pragmatismus und Positivismus waren unfähig, dieser Gefahr zu begegnen, weil sie in ihren Grundideen mit den Prinzipien der Lebensphilosophie übereinstimmen. Daher ist die intellektuelle Verteidigung der angelsächsischen Kultur gegen die faschistische Ideologie außerordentlich schwach. Die Philosophie des common sense und der Pragmatismus sind nicht fähig, Kriterien gegen den dynamischen Irrationalismus der neuen Bewegungen zu liefern und die moralische Widerstandskraft zu wecken, die zur Aufrechterhaltung der humanistischen Werte notwendig ist. Nicht Positivismus und Pragmatismus, sondern Reste der rationalistisch-fortschrittlichen Lösung des ethisdien Problems sind es, auf denen die Zukunft der bürgerlichen Kultur beruht. Diese Lösung ist für ein ungebrochenes bürgerliches Denken die natürlichste und wurzelt noch tief im Unterbewußtsein der zeitgenössischen Philosophen und Laien. Nach dieser Auffassung gibt es einige ewige Prinzipien, abgeleitet aus dem sogenannten Naturrecht, aber ohne die übernatürliche Weihe, die das katholische System dafür in Anspruch nimmt. Diese Prinzipien, wie sie in der Bill of Rights verkörpert sind, gleichen Sternen, die immer sehr fern von jeder menschlichen Verwirklichung bleiben werden, die aber wie Sterne die Richtung zeigen, in der die Menschheit gehen muß. Einmal entdeckt, können sie nicht wieder verschwinden, wenngleich ihre theoretische und praktische Verwirklichung immer in einem Prozeß auf eine weitere Vervollkommnung hin begriffen ist. Auf diese Weise können sie jeder menschlichen Situation angepaßt werden. Ist dies die Lösung des Problems der Ethik in einer sich wandelnden Welt? In mancher Hinsicht ja, in anderer nein. Es zeigt die Richtung an, in welcher die Lösung gesucht werden muß: Jedes ethische Prinzip muß etwas Unwandelbares enthalten - ein Kriterium, einen Maßstab, der dem Wandel der ethischen Auffassungen nicht unterworfen ist - , und es muß in sich die Kraft zur Veränderung haben. Das eine darf nicht ohne das andere sein. Aber die rationalistischfortschrittliche Lösung ist weit davon entfernt, die Einheit beider zu erreichen. Sie gibt im Namen des absoluten Naturrechts einige Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit, die in der Natur und in der menschlichen Vernunft jederzeit und an jedem Ort gefunden werden können. Die Menschheit soll diese Prinzipien in einem Prozeß der Annäherung theoretisch und praktisch verwirklichen. Sie nähert sich der Verwirklichung ihrer Prinzipien oder entfernt sich von ihnen; sie schafft mehr oder weniger Freiheit, mehr oder weniger Gleichheit, aber keine neue Freiheit und keine neue Gleichheit. Es ist das gleiche 74
Naturredit, es sind die gleichen Prinzipien, die immer mehr oder weniger gewußt, mehr oder weniger in die Wirklichkeit umgesetzt werden. „Mehr oder weniger" - das weist auf einen quantitativen Unterschied hin, nicht auf qualitative Veränderung, nicht auf neue Schöpfungen im ethischen Bereich. Die „Ethik in einer sich wandelnden Welt" verändert sidi nur quantitativ. Die Prinzipien, auf denen die rationalistisch-fortschrittliche Lösung f u ß t , repräsentieren eine bestimmte Art, einen bestimmten T y p von Freiheit und Gleichheit - den des spätantiken oder den des modernen bürgerlichen Zeitalters. Sie stellen keine Prinzipien dar, umfassend genug, um alle Zeitalter zu umfangen, und schöpferisch genug, um neue Verkörperungen ihrer selbst hervorzubringen. Sie sind nicht hinreichend „ewig", um letzte Prinzipien zu sein, und nicht hinreichend „zeitlich", um einer sich wandelnden Welt gerecht zu werden. So wenig das katholische System fähig war, sich ernstlich an das moderne Zeitalter des aufkommenden Bürgertums anzupassen, so wenig war der bürgerlich-fortschrittliche Rationalismus dem Zusammenbruch der bürgerlichen Welt gewachsen. Supranaturalistischer und rationalistischer Absolutismus in der Ethik erwiesen sich beide als unfähig, sich einem fundamentalen Wandel der geschichtlichen Situation anzupassen. II Gibt es eine Lösung, die der Alternative von Absolutismus und Relativismus entgeht: einem Absolutismus, der bei jedem radikalen Wandel in der Geschichte zusammenbricht, und einem Relativismus, der den Wandel selbst zum letzten Prinzip erhebt? Ich glaube, es gibt eine Lösung, und ich denke, sie ist in den Grundlagen der christlichen Ethik enthalten, nämlich im Prinzip der Liebe im Sinne des griechischen Wortes agape. Ich sage dies nicht aus apologetischem Interesse f ü r das Christentum, sondern unter dem Druck des aktuellen Problems in unserer heutigen Weltsituation. Liebe, agape, als Prinzip der Ethik, enthält einerseits ein ewiges unveränderliches Element, andererseits ist ihre konkrete Anwendung abhängig von schöpferischer Intuition. Liebe steht über dem Gesetz, auch über dem Naturrecht der Stoa und dem supranaturalen Gesetz des Katholizismus. Wir können Liebe zwar fordern, wir können sie in die Form des Gesetzes bringen und wie Jesus und die Apostel sagen: „Du sollst lieben", aber wenn wir so reden, müssen wir wissen, d a ß dies eine paradoxe Redeweise ist, die zeigt, daß das letzte Prinzip der Ethik zwar ein unbedingtes Gebot, zugleich aber die Macht ist, die alle Gebote durch75
bricht. Und gerade dieser zweifache Charakter der Liebe befähigt sie, die Lösung des Problems der Ethik in einer sich wandelnden Welt zu sein. Wenn man die Prinzipien des Naturrechts betrachtet, wie sie in der Bill of Rights verkörpert sind, wird man finden, daß sie, als konkrete Verkörperung des Prinzips der Liebe in einer besonderen Situation verstanden, groß und wahr und mächtig sind. Sie bringen die Liebe zum Ausdruck, indem sie Freiheit und gleiche Rechte gegen Willkür und Unterdrückung und gegen die Zerstörung der Würde menschlicher Wesen geltend machen. Aber als ewige Gesetze aufgefaßt und legalistisch auf bestimmte Situationen angewandt (z. B. auf das frühe Mittelalter oder den Niedergang und die Wandlung des ökonomischen Kapitalismus), werden sie zu schlechten Ideologien, die zur Aufrechterhaltung untergehender Institutionen und Mächte benutzt werden. Das ist der Grund für den außerordentlich heftigen Kampf von Paulus und Luther gegen das Gesetz und für ihren nachdrücklichen Hinweis auf die todbringenden Konsequenzen des Gesetzes und die lebenspendende Macht der Liebe. N u r die Liebe kann sich den konkreten Forderungen jeder individuellen und sozialen Situation entsprechend wandeln, ohne ihre Ewigkeit und Würde und unbedingte Gültigkeit zu verlieren. Die Liebe kann sich jeder Phase einer sich wandelnden Zeit anpassen. Ich möchte an dieser Stelle ein anderes griechisches Wort einführen: kairos, die rechte Zeit. Dieses Wort, das im alltäglichen Griechisch gebraucht wurde, hat eine besondere Bedeutung im Neuen Testament gewonnen, es bezeichnet dort die Erfüllung der Zeit in der Erscheinung des Christus. Kairos ist im Religiösen Sozialismus neu interpretiert worden als der Augenblick einer besonderen Gabe oder einer besonderen Aufgabe, der aus dem Ewigen in die Geschichte einbricht. Kairos in diesem Sinne ist der geschichtliche Augenblick, in welchem etwas Neues, ewig Bedeutsames sich in zeitlichen Formen, nämlich in den Möglichkeiten und Aufgaben einer besonderen Zeitepoche offenbart. Es ist die Macht des prophetischen Geistes in allen geschichtlichen Zeiten, das Kommen eines solchen Kairos zu verkünden, seine Bedeutung zu enthüllen, die Kritik an dem, was gegeben ist, und die Hoffnung auf das, was kommen soll, auszudrücken. Alle großen Wandlungen in der Geschichte wurden von dem starken Bewußtsein eines nahe bevorstehenden Kairos begleitet. Deshalb muß die Ethik in einer sich wandelnden Welt als eine Ethik des Kairos verstanden werden. Aber nur die Liebe kann sich jedem Kairos anpassen. Das Gesetz kann es nicht, weil das Gesetz der Versuch ist, allen Zeiten etwas aufzuerlegen, was nur zu einer 76
besonderen Zeit gehört: Ein Ideal, das zur rechten Zeit erschien und für diese Zeit gültig war, wird als das Ideal für die Geschichte als ganze angesehen, als diejenige Lebensform, die das Ziel der Geschichte sein soll. Das Ergebnis einer solchen Haltung ist notwendig Enttäuschung und leistet ethischem Libertinismus und Relativismus Vorschub. Das ist der Punkt, an dem die dynamisch-naturalistische Lösung trotz ihrer zerstörerischen Konsequenzen gegen die katholische und bürgerliche Ethik recht hatte und immer noch recht hat. Oder, um in Begriffen der Kirchengeschichte zu sprechen, das ist der Punkt, an dem Luther recht hat gegen Thomas und Calvin. - Die Liebe, die sich von Kairos zu Kairos verwirklicht, schafft eine Ethik, die über der Alternative von absoluter und relativer Ethik steht. III Diese Lösung soll näher erläutert und durch einige Beispiele konkretisiert werden. Als erstes Beispiel sei die Idee der Gleichheit betrachtet, eine der Grundlagen der rationalistisch-fortschrittlichen Ethik. Im Lichte des Prinzips der Liebe und des Kairosgedankens kann folgendes gesagt werden: Die Liebe schließt Gleichheit in gewisser Hinsicht ein. Der, der liebt, und der, der geliebt wird, sind für einander gleich, weil jeder der Liebe des anderen würdig ist. Aber nur diese Art von Gleichheit gehört wesensmäßig zur Liebe. Jede andere Form ist eine geschichtliche Verkörperung des Prinzips der Gleichheit - auf bestimmte Situationen bezogen und mit Liebe und Entstellung der Liebe gleichzeitig verbunden. Betrachten wir einen griechischen Stadtstaat, so sehen wir, daß es dort eine politische Gleichheit zwischen den Individuen einer speziellen Gruppe und bis zu einem gewissen Grade zwischen all denen gab, die frei waren, aber es bestand absolute Ungleichheit zwischen den Freien und den Sklaven. Die Liebe war nicht das beherrschende, unbedingte Prinzip, aber, da sie aller Ethik zugrunde liegt, wirkte sie sich sogar in der von Apoll und Dionysos bestimmten Religion und Kultur aus. Sie wirkt sich aus in der Art der Gleichheit, die der Stadtstaat denen verlieh, die zu ihm gehörten, also nicht den Sklaven und Barbaren. Die Liebe war sogar in dieser beschränkten Gleichheit wirksam, aber es war eine begrenzte, nicht voll erfüllte Liebe - Liebe innerhalb der Grenzen von Nationalstolz und Rassenabsonderung. Der zentrale Kairos, in welchem die Liebe als das offenbar wurde, was sie wirklich ist, war noch nicht erschienen. Sie erschien auch nicht, als die Stoa im Zeitalter des römischen
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Imperiums die Gleichheit auf alle menschlichen Wesen ausdehnte Männer und Frauen, Kinder und Sklaven. In der stoischen Gleichheitsidee durchbricht der Liebesgedanke die Begrenzungen nationaler und sozialer Arroganz, aber als allgemeines rationales Gesetz, und nicht als Liebe. Die stoische Gleichheit ist allgemein, aber kalt und abstrakt, ohne die Wärme und das Gemeinschaftselement der begrenzten Gleichheit im griechischen Stadtstaat. Im besten Falle ist es die Teilhabe an der römischen Bürgerschaft und an der Möglichkeit, ein Weiser zu werden. Im Christusgeschehen jedoch wird die Liebe offenbar in ihrer Universalität und zugleich in ihrer Konkretheit: der Nächste ist der unmittelbare Liebesgegenstand, und jeder kann Nächster werden. Alle Ungleichheiten unter den Menschen werden insoweit überwunden, als die Menschen potentiell Kinder Gottes sind. Aber dieser Gedanke führte das Christentum nicht zur stoischen Idee der Gleichheit aller: sogar die Ungleichheit zwischen Herren und Sklaven blieb unangetastet, außer im Bereich des Glaubens und der Liebe. Später unterstützte die christliche Kirche das hierarchische (und nicht das totalitäre) Prinzip, wie es der spätantiken und mittelalterlichen Situation entsprach. Die sozialen und psychologischen Ungleichheiten der Feudalordnung schienen dem Element der Gleichheit, das im Prinzip der Liebe eingeschlossen liegt, nicht zu widersprechen. Im Gegenteil, die gegenseitige Abhängigkeit aller Stufen der Hierarchie, die Solidarität aller Glieder einer mittelalterlichen Stadt und die patriarchalische Sorge der Feudalherren für „ihre Leute" wurden als die höchste Form der Gleichheit angesehen, die durch das Liebesprinzip gefordert wurde. Jahrhunderte später, im bürgerlichen Liberalismus, wurde Gleichheit wiederum im Sinne des Naturrechtes, des Vernunftgesetzes oder der Menschenrechte interpretiert. Gleichheit wurde zur Gleichheit vor dem Gesetz und zur Forderung nach gleichen wirtschaftlichen Chancen. Das stand zwar im Einklang mit dem Prinzip der Liebe, das sich gegen die Tyrannei und Ungerechtigkeit richtet, wie sie sich in den Systemen der Vergangenheit entwickelt hatten. Aber in dem Maße, in dem die gleiche Chance für jedermann zur Ideologie wurde, um die ausschließliche Chance einiger weniger zu sichern, geriet die liberale Idee der Gleichheit in Widerspruch zur Liebe. Eine neue Idee der Gleichheit kam auf: gleiche Sicherheit für jedermann - auch dann, wenn viel politische Gleichheit geopfert werden muß. Es wäre falsch, die daraus entspringenden kollektivistischen und autoritären Formen der Gleichheit zu verdammen, nur weil sie die Negation der liberalen und demokratischen Formen sind, denn es könnte sein, daß die Liebe eine Wandlung der 78
Idee der Gleichheit in unserer Periode fordert. Eine neue schöpferische Verwirklichung des Elements der Gleichheit, das als solches zum Prinzip der Liebe gehört, mag sich zur Zeit anbahnen. Es kann dabei etwas Gutes entstehen, dann, wenn es im Einklang steht mit der konkreten Forderung unserer Zeit, vielleicht etwas Besseres als die liberalen und feudalen Formen der Gleichheit, oder es kann etwas Schlechteres dabei herauskommen, dann, wenn es dem Prinzip der Liebe widerspricht; denn Liebe ist ewig, obgleich sie in jedem Kairos etwas Neues schafft. Ich könnte noch auf viele andere ethische Probleme Bezug nehmen, um ihre doppelte Abhängigkeit, einerseits vom Prinzip der Liebe und andererseits vom wechselnden Kairos, zu zeigen. Ich könnte z. B. auf die Bewertung der Arbeit und des Aktivismus in den verschiedenen Geschichtsepochen hinweisen und ihr Verhältnis zu Muße und Meditation. Es ist offensichtlich, daß der kommende Kollektivismus die Betonung von Arbeit und Aktivismus durch die Beschränkung des Konkurrenzprinzips beträchtlich herabmindern wird. Wie im Zeitalter des ausgehenden Mittelalters und in dem Augenblick, als die Menschheit ihre Herrschaft über die Natur begann, der Kampf gegen einige Formen feudaler und kirchlicher Muße und meditativen Lebens eine Forderung der Liebe war, so ist es jetzt eine Forderung der Liebe und unseres Kairos, daß Muße und Meditation auf der Basis einer neuen kollektivistischen Struktur der Gesellschaft gegenüber einer selbstzerstörerischen Anbetung von Arbeit und Aktivismus wiederkehre. Weitere Beispiele sind die Probleme des Verhältnisses von Askese und Weltlichkeit, von Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung, von Zucht und Schöpfertum. Beide Seiten dieser Gegensätze folgen aus dem Prinzip der Liebe. Die Verneinung der ersten Seite würde die Selbsthingabe, die zur Liebe gehört, verhindern; die Verneinung der zweiten Seite würde das Leben soweit verstümmeln, daß es nicht mehr der Liebe wert wäre. Es hängt vom Kairos ab, welche dieser Seiten, in welcher Form und in welchem Gleichgewicht mit der anderen Seite sie betont werden soll. Für unsere heutige Zeit kann weder die supranaturalistische Askese des katholischen Systems noch die rationalistische Selbstbeherrschung der bürgerlichen Gesellschaft, noch die naturalistische Kriegs- und Staatsdisziplin des Faschismus die Lösung bringen. Und das gleiche gilt vom feudalen Erosgedanken, dem bürgerlichen Ästhetizismus und der faschistischen Anbetung der Vitalität. Von der Liebe und unserem heutigen Kairos wird eine andere Lösung gefordert. 79
Einige Elemente der Lösung werden durch die Psychoanalyse beigebracht, obgleich die bloße psychotherapeutische Psychologie- nicht fähig ist, aus sich allein ein neues System der Ethik zu schaffen; andere Elemente der Lösung werden beigebracht durch die Wiederentdeckung der klassischen Bedeutung des eros und durch die verschiedenen Versuche, ihn zur agape in Beziehung zu setzen. Die pädagogischen Bewegungen und die Kritik am bürgerlichen Ideal der Familie haben ein gut Teil zur Lösung beigetragen. Aber noch ist alles in Bewegung, und das Kriterium f ü r eine echte Lösung ist der Grad, in dem beide Seiten der eben behandelten Gegensätze durch die Liebe geformt sind. Noch eine letzte Frage muß beantwortet werden. Wenn die Liebe das Prinzip der Ethik u n d der Kairos der Weg ihrer Verkörperung in konkreten Inhalten ist - wie k a n n dann eine dauernde Ungewißheit, eine dauernde Kritik, die den Ernst der ethischen Forderung zerstört, vermieden werden? Ist nicht das Gesetz und sind nicht Institutionen notwendig, um den ethischen Prozeß aufrechtzuerhalten? Gewiß, Gesetz und Institutionen sind gefordert. Sie werden durch die Liebe selbst gefordert: jedes Individuum, auch das schöpferischste, bedarf gegebener Strukturen, die die Erfahrung und die Weisheit der Vergangenheit verkörpern und die den Einzelnen von der Notwendigkeit unzähliger eigener Entscheidungen befreien und ihm in den meisten Fällen einen sinnvollen Weg des Handelns weisen. In dieser Hinsicht war der Katholizismus sowohl dem Protestantismus wie dem Liberalismus in der Liebe überlegen. U n d das ist der Grund, weshalb die jüngere Generation in vielen Ländern eifrig Gesetze und Institutionen fordert, die geeignet sind, sie von der untragbaren Last der ständigen eigenen Entscheidung zu befreien. Eine Ethik kann ohne Gesetze und Institutionen nicht zu einer wirksamen Macht werden. Luther vergaß diese Notwendigkeit in seiner starken Betonung der schöpferischen K r ä f t e der Liebe. Das ist einer der Gründe, weshalb die moralische Erziehung der deutschen Massen weniger durchgreifend ist als die in den calvinistischen Ländern. Andererseits ist in Deutschland mehr Aufnahmebereitschaft f ü r einen Kairos vorhanden als in den moralisch mehr und gleichmäßiger entwickelten westlichen Ländern. - Die Liebe fordert Gesetze und Institutionen, aber die Liebe ist immer in der Lage, sie in einem neuen Kairos zu durchbrechen und neue Gesetze und neue Systeme der Ethik zu schaffen. Ich habe das W o r t Gerechtigkeit nidit erwähnt. In der gegenwärtigen Diskussion würde es irreführen, da es allgemein im Sinne des abstrakten Naturrechtes der Stoa und des Rationalismus verstanden 80
wird. Als solches ist es entweder leer, oder es ist das konkrete Gesetz einer besonderen Epoche und daher ohne Allgemeingültigkeit. Das platonische Ideal der Gerechtigkeit war die konkrete Harmonie des Stadtstaates. Die jüdische Auffassung der Gerechtigkeit war der fromme Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes. Im mittelalterlichen Feudalismus war Gerechtigkeit die Form der gegenseitigen Verantwortlichkeit aller Stufen der Hierarchie für einander. Im Liberalismus war sie gleichbedeutend mit den Gesetzen, die formale Privilegien abschafften und die Gleichheit vor dem Gesetze einführten. In der stärker kollektivistischen Gesellschaft der Zukunft wird Gerechtigkeit jenes Systems der Gesetze und Formen sein, durch das eine genügende Sicherheit des Ganzen und aller Glieder entwickelt und aufrechterhalten werden kann. Daraus folgt, daß die Gerechtigkeit ein sekundäres und abgeleitetes Prinzip ist, während die Liebe, die von Kairos zu Kairos verwirklicht wird, das schöpferische und grundlegende Prinzip ist. Ich habe keine Definition der Liebe gegeben. Das ist unmöglich, weil es kein höheres Prinzip gibt, durch das sie definiert werden könnte. Sie ist das Leben selbst in seiner verwirklichten Einheit. Die Formen und Strukturen, in denen die Liebe sich selbst verkörpert, sind die Formen und Strukturen, in denen Leben möglich ist, in denen es seine selbstzerstörerischen Kräfte überwindet. Und das ist der Sinn der Ethik: die Weisen auszudrücken, in denen die Liebe sich verkörpert und das Leben erhalten und gerettet wird. A N M E R K U N G E N Z U „DAS R E L I G I Ö S E FUNDAMENT DES MORALISCHEN HANDELNS" 1.
FRAGE: Ist die Person immer zentriert, oder gibt es Grade der Zentriertheit? ANTWORT: Person ist immer zentriert (hat ein zentriertes Selbst), aber sie kann mehr oder weniger integriert sein, sogar völlig desintegriert. Man müßte also sagen: „eine integrierte Person in einer integrierten Gemeinschaft".
2.
FRAGE: Ist in diesem Zusammenhang „essentielles Sein" und „PersonSein" identisdi? ANTWORT: Für den Menschen ist „essentielles Sein" gleich „Person-Sein". FRAGE: Wie stehen die Begriffe „essentielles Sein" und „Person-Sein" zueinander? ANTWORT: Alles Essentielle ist potentiell in bezug auf Aktualisierung. In dieser Hinsicht sind sie identisdi. Sie sind unterschieden in dem, was das englische Wort possible ausdrückt; possible ist das in der Existenz aktuell Mögliche. 81
3.
FRAGE: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Ausführungen über das Ziel des moralischen Handelns und dem zentralen Gedanken des Kapitels, nämlich der These, daß der moralische Imperativ eine religiöse Dimension habe? ANTWORT: Der Zusammenhang ist in der Frage gegeben: Was ist die zu verwirklichende Potentialität und darum der religiöse Charakter des moralischen Imperativs? FRAGE: Entsteht hier nicht ein neuer Relativismus? ANTWORT: „ J a " in manchen, „nein" in anderen Antworten.
4.
FRAGE: Die Absicht des Kapitels ist, den religiösen Charakter des moralischen Imperativs zu beweisen, ohne ihn auf einen gebietenden Gott zurückzuführen. Wird diese These nicht durch die Bezugnahme auf Gott abgeschwächt? ANTWORT: Die Bezugnahme auf Gott soll den Begriff eudaimonia auch da rechtfertigen, wo er scheinbar am schärfsten negiert ist: im Calvinismus. Sie hat hier nichts mit meiner Analyse zu tun.
5.
FRAGE: Welches ist das religiöse Element in der agape} ANTWORT: Das Schwanken zwischen dem abstrakt Absoluten und dem konkret Relativen kann nur vom Unbedingten her, das den Gegensatz transzendiert, überwunden werden. Genau das ist der religiöse Charakter der agape. Sie ist unbedingt, menschlich unmöglich, Werk des „Geistes".
6.
FRAGE: ANTWORT:
7.
FRAGE: ANTWORT:
8.
FRAGE: ANTWORT:
9.
Weshalb wird im vorliegenden Gedankengang auf die Askese Bezug genommen? Das Problem der Askese ist die Verneinung der anderen Qualitäten der Liebe zugunsten der agape. Darauf beruht die mönchische Askese, die hier durch den Gedanken der disziplinären Askese ersetzt wird. In welchem Zusammenhang stehen die herangezogenen biblischen Erzählungen zum Thema des Kapitels? Beide Geschichten sollen den Charakter von Gesetz im Unterschied zu Unschuld (Adam) oder Geist-Besitz (Jesus) zeigen. Zu Adam: „The law appeared when the first Symptom of Separation appeared." - Jesus zitiert Gebote Gottes gegen den Teufel, weil in ihm „the desire for Separation" war. In welchem Zusammenhang steht das Erziehungsbeispiel zum Thema des Kapitels? Das ganze Kapitel behandelt das Religiöse als ein Element (die conditio sine qua non), aber nicht als das einzige! Die erzieherische Funktion des Gesetzes ist immer anerkannt worden. Ohne sie gäbe es nicht einmal den Versuch, „gut" zu sein! - Für diese Abschnitte ist eine gewisse Bekanntschaft mit der reformatorischen Debatte über die drei Funktionen des Gesetzes vorausgesetzt.
FRAGE: H a t außer dem v4gape-Element der Liebe auch das £ro$-Element der Liebe und die „Einsicht" im sokratischen Sinne motivierende K r a f t zum moralischen Handeln? 82
ANTWORT":
Eros ist im Christlichen ein Element der Liebe, dasjenige, das unter dem Kriterium der agape die Liebe zu Gott schafft. Piatos eros ist ein Halbgott, der aus dem Unerfüllten zum Erfüllten treibt. Der Mythos beschreibt die Anziehungskraft der Fülle, nämlich des »Göttlichen in der Mystik". Der Unterschied von Getriebensein und Angezogensein hört hier auf. - Einsicht und eros sind Analogien zum Gnadenbegriff.
DES
2. D I E O B E R W I N D U N G PERSÖNLICHKEITSIDEALS 1. Der
Persönlicbkeitsbegnjf
Persönlichkeit ist dasjenige Seiende, das seiner selbst mächtig ist. Das Seiende hat in jeder seiner Gestalten eine bestimmte Seinsfülle und eine Ausdruckskraft für die Tiefe, den Abgrund, dem es entstammt; und es hat in der Wirkung auf anderes Seiendes eine Mächtigkeit, durch die es einen bestimmten Rang im Zusammenhang der Dinge einnimmt. Diese Ausdruckskraft, diese Mächtigkeit hat es zunächst unmittelbar; die Form, in der sich seine Seinsfülle darstellt, ist ihm aufgeprägt, ist, wie es selbst, unmittelbar gegeben. Auch der ontologische Ort, auf dem Persönlichkeit entsteht, hat zunächst eine unmittelbare Prägung, eine ihm natürlich gegebene Mächtigkeit; eine solche freilich, die es von allem anderen Seienden unterscheidet. Der soziale Ausdruck dafür ist die Anerkennung eines Wesens als Person. Sie besagt, daß an diesem Ort Persönlichkeit möglich und gefordert ist. Persönlichkeit ist also Verwirklichung dessen, was in der Person und nur in ihr möglich ist: daß das Seiende seiner selbst mäditig werde. Wir können das gleiche auch so ausdrücken: Persönlichkeit ist das Seiende, das frei ist. Frei sein heißt, seiner selbst mächtig sein. Das Freiheitsproblem hat seine reale Wurzel darin, daß die Freiheit sich erhebt auf einem individuellen, bestimmten, natürlichen Seinsgrund, der als solcher Unmittelbarkeit hat und unterworfen ist unter das Gesetz; und daß eben dieses Sein als freies nicht nur mächtig, sondern auch seiner selbst mächtig ist, sich erhebt über seine Unmittelbarkeit, seine Unterworfenheit. Diese Spaltung des Identischen in bloßes Sein und Sidi-dieses-Seins-Bemächtigen ist die Tiefe des Freiheitsproblems. Aus ihr erklärt sich, daß die Erfassung der Freiheit nur möglich ist in einem Akt der Selbstbemächtigung. Die Schuldebatte über die Willens83
freiheit arbeitet mit abstrakten, von der Wirklichkeit der Selbstbemächtigung losgelösten Reflexionsgebilden, die geistesgeschichtlich nur in einer Zeit möglich sind, wo sich die Vergegenständlichung und Vergewaltigung der Seinsmächtigkeiten völlig durchgesetzt hat, also in einer Zeit des rationalen Dinggedankens. Die Sache selbst, um die es sich in der Freiheit handelt, kann in jenen Verhandlungen gar nicht erfaßt werden, weil sie von beiden Seiten im voraus verneint ist. Die Freiheit verwirklicht sich in jedem A k t vollkommener Selbstbemächtigung eines Seienden. Sie kann in der Selbstanschauung eines solchen Aktes jederzeit angetroffen und erkennend aufgefaßt werden. Ein anderer Ausdruck für die gleiche Sache ist es, wenn wir sagen: Persönlichkeit ist dasjenige individuelle Sein, das sich zum universalen Sein erhebt. Das Seiende wird ja dadurch frei, daß es sich über seine unmittelbar gegebene Form erhebt. Aber das wäre noch keine Freiheit, keine Selbstmächtigkeit, wenn es die eigene Form mit einer anderen vertauschte. Freiheit ist nicht Verwandlungsfähigkeit. Persönlichkeit ist nicht Möglichkeit unbegrenzten Formwechsels, wie die Romantiker zum Teil meinten. Sie übersahen, daß sie damit den Ort aufgaben, auf dem sich allein Persönlichkeit erheben kann, das individuelle Sein. Die romantische Persönlichkeit gerät darum in die Entleerung und E r mächtigung unbegrenzter Einfühlungsfähigkeit, sofern dieser keine übergreifende, allem Wechsel gegenüber freie Einheit die Waage hält. Eine solche aber kann es in der Konsequenz des romantischen Verhaltens nicht geben, da die romantische Persönlichkeit des zufälligen Seins, auf dem sie ruht, niemals wirklich mächtig wird, sondern in der Absicht, sich einzufühlen, sich in anderes zu verwandeln, in Wirklichkeit sich selbst ungeformt, unbemächtigt mit sich führt. Aus der mangelnden Einheit folgt dann die Sehnsucht nach einer übergreifenden Einheit, etwa einer autoritativen Kirche. Zur Persönlichkeit aber kommt es so nicht. - Die Erhebung des Individuellen zum Allgemeinen bedeutet nicht Wechsel der Form, sondern Erhebung zur universalen Form, die jedem Einzelnen innewohnt, also Erhebung zur Welthaftigkeit. Der Weltbegriff ist das notwendige Korrelat zum Persönlichkeitsbegriff. Dadurch daß das Seiende als universale Form dem Einzelnen gegenübertritt, wird dieser seiner selbst mächtig. Der die Welt setzende Akt ist die T a t , in der das Seiende sich von seiner Unmittelbarkeit losreißt, in der es sich auf sich selbst stellt und alles Seiende sich gegenüberstellt. Am Makrokosmos wird der Mikrokosmos sich seines Charakters als Kosmos bewußt, wie umgekehrt die Erfassung der Welt als Welt nie möglich wäre, wenn das Erfassende nicht die Qualität hätte, Mikrokosmos zu sein. - Durch die Erfassung der Welt als Welt entsteht die Abge84
schlossenheit des Persönlichen, die es zu einem Selbst-Seienden, Freien, seiner selbst Mächtigen macht. Die Voraussetzung der geschlossenen Persönlichkeit ist die Geschlossenheit der Welt als Gegenstand. Und doch weiß die Persönlichkeit sich in die Welt einbezogen. Sie hat eine Seite, nach der sie der Welt gegenüber offen ist. Eine völlige Abschnürung von dem kosmischen Mutterleib würde das Seiende der Seinsfülle berauben, der es sich doch als Persönlichkeit bemächtigen soll. Die Einheit von Abgeschlossenheit und Offenheit charakterisiert das seiner selbst mächtige Sein. Die Möglichkeit zu dieser Spannung aber ist dadurch gegeben, daß die Freiheit dem zur Persönlichkeit bestimmten Einzelwesen als unbedingte Forderung entgegentritt, daß das Seiner-selbst-mächtig-Werden nicht der Willkür überlassen bleibt, sondern als unbedingter Anspruch jede Willkür verneint. Wäre es anders, so würde der Akt, in dem die Persönlichkeit sich gegen die Welt stellt, jederzeit zurückgenommen werden können. Das All würde, wie es im echt dämonischen Kronos-Mythos geschieht, seine Kinder verschlingen. Aber der unbedingte Anspruch, der aus der Tiefe des eigenen und des fremden Seins an die Persönlichkeit ergeht, sich als Persönlichkeit dem Kosmos gegenüber zu behaupten, zeigt dem entdämonisierten Blick, daß die letzte, tragende Tiefe des Seienden und ihr letzter, unbedingter Sinn Selbstmächtigkeit ist. Damit ist der Punkt erreicht, wo die Persönlichkeit ihr Fundament hat: Das Seiner-selbst-mächtig-Sein ist die eigentliche, die letzte Macht des Seins; und diese setzt sich existentiell, erscheinend in der Persönlichkeit durch. Dies ist der Ort, an dem es notwendig wird, die demonstrative Fassung des Themas zu begrenzen: Eine Überwindung der Persönlichkeitsidee hieße eine Überwindung dessen, was vom tragenden Grund unseres Seins als unbedingter Anspruch über uns steht, hieße Widerspruch gegen unser Wesen und, wenn es religiöse Weihe erhalten wollte, Dämonie. Eine Überwindung der Persönlichkeitsidee wäre nicht Überwindung, sondern Überwundensein. Die unbedingte Anerkennung der Persönlichkeitsidee oder des seiner selbst mächtigen Seins als Tiefe des Seins ist ein Ausdruck für die Überwindung dämonischer Persönlichkeitszerstörung und mit der christlichen Verkündigung unlöslich verbunden. Hier liegen die Wurzeln für die personifizierende Symbolik, die Mythos und Dogma dem Unbedingten gegenüber anwenden. Sie ist notwendig und durch keine rationale, mystische oder pantheistische Kritik aufzuheben. Diese religiösen Haltungen sind vielmehr ständig von der Dämonie der Entpersönlichung und Rückkehr in die primitive 85
Weltgebundenheit bedroht. Unerträglich im religiösen und geistigen Sinne wird die personifizierende Symbolik nur dann, wenn sie aus einem Urteil über Wesen und Tiefe des Seins zu einem Existenzurteil über ein höchstes Seiendes wird, dem wir gegenüberstehen, dessen Existenz oder Personhaftigkeit wir beweisen oder widerlegen können. Denn in diesem Augenblick wird der tragende, immer jenseitige Grund des Seins zu einem Stück Welt, gegen das sich die Abgeschlossenheit unserer Persönlidikeit entweder behauptet - mit dem Willen, selbst Gott zu sein - , oder dem sie sich unterwirft - mit dem Verzicht auf Selbstmächtigkeit und Persönlichkeitscharakter. In dieser Alternative ist ein wichtiges Stück religiösen Lebens als Spannung von Autonomie und Heteronomie erfaßt. Das richtige Verständnis für die Selbstmäditigkeit als Sinn und Tiefe des Seienden befreit von jenem verhängnisvollen Widerstreit. Damit ist das prinzipielle Material beschafft, die Persönlidikeitsidee in ihrer Unbedingtheit umschrieben und anerkannt. Nun ergeben sidi zwei Möglichkeiten: Wenn Persönlidikeit das seiner selbst mäditige Sein ist, so kann die unmittelbare Mächtigkeit des Seins so überwiegen, daß die Bemächtigung, der Akt der Freiheit geschwächt, unterdrückt wird. Oder es kann der Akt des Sidi-Bemächtigens ein solches Übergewicht erlangen, daß die unmittelbare Mächtigkeit des Seins verlorengeht. Im ersten Fall entsteht Fülle, Verbundenheit mit dem Sein, Bewegtheit, Ungeformtheit, Unabgeschlossenheit, im zweiten Fall entsteht Konzentration, Abgeschlossenheit, Festigkeit, Durchformung, Unoffenheit. Das zweite ergibt das Persönlichkeitsideal, von dessen Oberwindung geredet werden soll. Aus der Fülle möglicher Gesichtspunkte für den Aufweis und die Bewertung des Persönlichkeitsideals wählen wir einige zentrale Anliegen unserer gegenwärtigen Geisteslage. Die Gliederung der Gedanken richtet sidi naturgemäß nadi den Seinsbeziehungen, die das Leben der Persönlichkeit darstellen. Sie können nach drei Richtungen hin herausgehoben werden: Die Dingbeziehung: Persönlichkeit und Dingwelt; die Persönlichkeitsbeziehung: Persönlichkeit und Gemeinschaft; und eine dritte Beziehung, die beiden gegenübersteht und zugleidi die Voraussetzung beider ist: Die Beziehung der Persönlichkeit zu dem Sein, das unmittelbar ihr Sein ist, aus dem sie sich erhebt und dessen sie sich bemächtigt: Persönlichkeit und Seele. In allen drei Beziehungen stellen wir die Frage nach dem unbedingten, also religiösen Sinn des Persönlichkeitsideals. Dieser kann nicht Gegenstand einer besonderen Frage werden, hier wie nirgends; denn das Unbedingte ist nie ein Besonderes. 86
2. Persönlichkeit und
Dingwelt
Diese Frage ist im Unterschied von der zweiten verhältnismäßig selten behandelt worden. Und doch ist sie gleich wichtig und erfordert in unserer Geisteslage stärkste Aufmerksamkeit. Das primitiv mythologische Dingerlebnis ist Erlebnis der numinosen Mächtigkeit der Dinge. Ihre Seinsfülle, ihr Teilhaben am unbedingten Sein verleiht ihnen für das Bewußtsein sakrale Qualität. Infolgedessen haben sie eine ungeheure, jeden Augenblick des Lebens erfüllende, erschütternde, tragende Bedeutung. Das gesamte praktische Leben, der gesamte Umgang mit der Dingwelt hat rituellen Charakter. Die Persönlichkeit ist gebunden an die Dingmächtigkeit. Sie steht unter der ständigen Auswirkung und Ausstrahlung der Seinsfülle in den Dingen. Sie selbst ist der Dingwelt eingeordnet, die freilich ihrerseits nicht Dingwelt in unserem Sinn, sondern Welt von Mächtigkeiten ist. Mit der Erhebung der Persönlichkeit oder mit der Weltwerdung des unmittelbaren Seins ändern sich die Beziehungen, die Objekte werden der Einheit „Welt" eingeordnet und dadurch vergegenständlicht, verdinglicht. Nicht mehr ihre Seinsfülle, ihre sakrale Ausstrahlung ist entscheidend, sondern ihre Zugehörigkeit zu dem gegenständlichen Sinnzusammenhang „Welt". Dadurch verlieren sie ihren sakralen Charakter, ihre erfüllende und tragende, aber auch ihre erdrückende und zerbrechende Gewalt. Die Dinge werden entmächtigt. Das kann auf verschiedene Weise geschehen, je nach der Art, in der die Welt als Einheit erfaßt wird. Bei den Juden ist es die Unterwerfung der Dinge unter den Schöpfergott, der identisch ist mit dem die Persönlichkeit unbedingt beanspruchenden sittlichen Gott. Die Dinge verlieren vor diesem Anspruch jedwede sakrale Mächtigkeit; ihnen bleibt der ästhetische Widerschein der unbedingten Mächtigkeit des schöpferischen Geistes und die Aufgabe, Material der Gesetzeserfüllung zu sein. Bei den Griechen sind die Dinge Glieder des intellektuellen und ästhetisch anzuschauenden, in sich ruhenden Kosmos. Ihre Mächtigkeit wandelt sich in ihr begriffliches Wesen und die Zusammenhänge ihrer kosmischen Verknüpfung. Die Persönlichkeit als Trägerin der rationalen Intelligenz erhebt sich über die Dingwelt und nimmt teil an der Selbstanschauung der höchsten Intelligenz, der reinen, in sich ruhenden Form. Die sakrale Mächtigkeit entschwindet den Dingen, wie die Geschichte der späteren griechischen Plastik ebenso deutlich zeigt wie die Philosophie. - Im Protestantismus ist es das zentrale religiöse Angesprochensein, durch das mit den Sakramenten die sakrale Mächtigkeit der Dinge verkümmert. Es bleibt auf lutherischem Boden ein 87
gehorsames Sich-Einfügen in die sachliche Notwendigkeit. Nur diese Haltung: Gehorsam, Pflichterfüllung, mehr profanisiert: Tüchtigkeit, hat im Dingverhältnis Bedeutung, nidit die innere Mächtigkeit der Dinge. Die Natur als das „sinnliche Materiale der Pflicht" ist die extreme Fichtesche Formulierung dieser Tendenz, die bei Luther selbst infolge seines starken Eindrucks von dem in der Natur waltenden irrationalen Gott noch fehlt. Die Hermannsche Theologie, in der der Naturlauf nur als Hemmnis des persönlichen Lebens erscheint und die Apologetik ganz auf diese Situation aufgebaut ist, gibt der Tendenz einseitigen, aber höchst symbolkräftigen Ausdruck. - Im Calvinismus ist es mehr die Beherrschung der Dinge, ihre Rationalisierung im Dienst der Reich-Gottes-Ziele, ihre Ernüchterung, der Kampf gegen ihre Rausch- und Ekstasequalität, durch die die Natur entmächtigt wird. Jedes J a zu ihrer Mächtigkeit wird hier als Kreaturvergötterung empfunden und verabscheut. Extremer Antisakramentalismus und darum extreme Dingentwertung verbindet sich mit eindrucksvollster Erhebung der herrschaftlichen Persönlichkeit. - Profanisiert stellt sich diese Haltung dar in der modernen wissenschaftlich-technischen Bewegung. Nidit die Erkenntnis des Kosmos an sich, sondern die Erkenntnis der Mittel zu seiner Beherrschung ist das Ziel der rationalen Entwicklung des Abendlandes. Sie schafft die technische Ding-Entmächtigung. Die Welt im Sinne der Maschine ist ihr Mythos und die Erhebung der herrschaftlichen Persönlichkeit über die technisch beherrschte Dingwelt ihr Ethos. - All diese Entwicklungen und Entmächtigungsformen der Dinge haben sich in der gegenwärtigen Lage auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft vereinigt, gegenseitig abgeschliffen und die geistige Haltung durchweg bestimmt. Der erste und anschaulichste Ausdruck dieser Lage ist die künstlerisch-handwerkliche Form, die den Dingen aufgeprägt wird, reell und ideell. Statt einer Gestaltung, die aus dem Eingehen in die innerste Fülle und Mächtigkeit stammt, wird ihnen eine äußerliche, ästhetische Form aufgezwungen. Nicht die Mächtigkeit der Sachen drückt sich in der künstlerischen Naturanschauung und der handwerklichen Formung der Dinge aus; nicht Symbole der sie tragenden Seinstiefe sind ihre Linien und Farben, sondern Zeichen eines subjektiven, willkürlichen, die Dinge vergewaltigenden und darum schlechten Geschmakkes. Die Straßen und Zimmer unserer Städte sind Dokumente der Vergewaltigung der entmächtigten Dinge. Ebenso die sentimentale Naturpoesie. Aus jedem Ornament, aus jedem Vers, die dieser Geisteslage entstammen, springt uns die Lüge, die Fassade, der Kitsch entgegen, die Vergewaltigung der Dinge durch das willkürliche Subjekt. 88
Umgekehrt üben die Dinge nun ihrerseits Herrschaft über die herrschaftliche Persönlichkeit aus. Die Dinge waren zum Spiel ihrer Willkür geworden, und nun wird sie selbst zum Spielball der verzerrten Dingwelt, in der sie lebt. Der Widersinn unserer Dingauffassung ist die Rache der vergewaltigten Dinge, ist das Gericht über die eroslose Erhebung der Persönlichkeit und die Entmäditigung der Dingwelt. Der gegenwärtige Ruf nach Sachlichkeit ist der Kampfruf gegen jenen Zustand. Er geschah zunächst im Namen dessen, worin die Vergegenständlichung der Dinge sich vollzogen hatte, der Technik. Der technische Zweck verbietet weithin eine der reinen Zweckbeziehung widersprechende Gestaltung. Der Maschinenkolben duldet keine Ornamente. Er hat seine rationale Mächtigkeit, die höchste Hingabe erfordert. Die tiefsten und feinsten Gestalter der Dinge und der Naturanschauung gehen nun von hier aus weiter, um den Dingen ihre innere Macht wiederzugeben. Sie suchen die Seinsgrundlage, über der sie sich als Persönlichkeit erhoben haben, wieder in sich aufzunehmen. Sie suchen sich mit den Dingen zu einen, nicht herrschaftlich, sondern hingebend, eroshaft. Sie suchen einen Person-Ding-Zusammenhang zu schaffen, der nicht auf Vergewaltigung beruht. Dieser Kampf gegen Lüge und Verzerrung ist aber durchaus nicht eine Angelegenheit einzelner Führer; er ist ein gemeinsamer, nicht moralischer, sondern schöpferisch-produktiver Kampf. Er führt in Wesensschichten der Dinge, die nicht mehr nur durch die technische Zweckbestimmung bestimmt sind, wie überhaupt kein Ding, auch nicht Eisen und Beton, dadurch restlos bestimmt sind. Er gibt die Möglichkeit, Symbole zu schaffen für das Getragensein des Seienden vom Unbedingten, für die Schau, die auch in jedem Ding etwas sieht von jener Tendenz, die in der Persönlichkeit durchbricht, der Tendenz, seiner selbst mächtig zu werden. Die ästhetische Vergewaltigung der Dinge ist die eine Seite des wesenswidrigen Verhältnisses von Persönlichkeit und Dingwelt. Die andere Seite ist im Gegensatz dazu die völlige Unterwerfung der Persönlichkeit unter die mechanischen Notwendigkeiten, die Voraussetzung der Dingbeherrschung sind und die nun ihrerseits die Persönlichkeit entmächtigen. Sie wird durch diese Unterwerfung zu einem Element des maschinellen Vorganges, das heißt, sie wird einbezogen in den Weltzusammenhang der reinen Zwecke, dem sie sich ursprünglich um ihrer Erhebung willen gegenübergestellt hatte. - Freilich ist diese Mechanisierung des Persönlichen durch das Maschinelle kein unentrinnbares Verhängnis, denn auch die Maschine hat wie jedes Ding Elemente der Selbstmächtigkeit, und diese werden oft aufs stärkste von ihren 89
Dienern empfunden, gelegentlich ebenso stark wie bei einem lebendigen Wesen. Die Durchführung dieser Tendenz im Gesamtprozeß des maschinellen Arbeitens, die Ermöglichung zahlreicher Erosbeziehungen dieser Art, die Schaffung eines Mythos, in dem der lebendige Sinn der maschinellen Dingbeherrschung sich ausdrückt, all dieses würde die Mechanisierung überwinden können. Und in dem Maße, in dem das grundsätzlich geschehen ist, könnte auch die Entäußerung der Persönlichkeit zugunsten des Maschinellen gelegentlich Opfer im Sinne höchster Freiheit, Ausdruck stärkster Selbstmäditigkeit sein. - Gegen diese Entwicklung aber stehen Kräfte, die nicht im Maschinellen selbst liegen und die jenes Opfer für Unzählige zu einem endgültigen und erzwungenen machen. Die sachgemäße Entwicklung der Technik, die die Neigung hat, jedes ganz mechanisierte Moment des Arbeitsprozesses der Maschine zu übergeben, wird durch ökonomische Herrschaftstendenzen gehemmt. Die soziale Machtverteilung führt dazu, daß die teilweise immer notwendige Mechanisierung des Arbeitsprozesses zu einem einseitigen, unverständlichen, sozial erzwungenen Opfer wird. Hier greift das Gemeinschaftsverhältnis maßgebend in die Formung des Dingverhältnisses ein. Persönlichkeit und Dinggestaltung stehen wesensmäßig so zueinander, daß im Werk-die Persönlichkeit mit der Wesenstiefe der Dinge, mit ihrer geformten Seinsfülle in Verbindung kommt. Diese Verbindung ist erfüllend für die Persönlichkeit und erlösend für das Ding. Denn es geschieht dabei ein Zusammenschluß der verwirklichten Freiheit mit der gebundenen, aber zur Verwirklichung drängenden Freiheit, der Selbstmächtigkeit mit der bloßen Mächtigkeit. Das ist der Reichtum der Werkhingabe, der sogar das Opfer vielseitiger Persönlichkeitsformung rechtfertigt. Nur von hier aus darf auch das Opfer beansprucht werden, das jedem Ding auferlegt wird, wenn es um der Einordnung in umfassendere Mächtigkeiten willen in seiner Eigenmächtigkeit beschränkt wird. Diese Form der Herrschaft über das Ding ist zugleich Dienst am Ding und Anerkennung seiner Seinstiefe. Das wahre Werk ist ein Wechseldienst von Persönlichkeit und Ding, das falsche Werk ist gegenseitige Vergewaltigung von Ding und Persönlichkeit. Ganz allgemein gilt für das Verhältnis von Persönlichkeit und Dingwelt: Die Persönlichkeit als das freie, seiner selbst mächtige Sein bedarf um ihrer selbst willen eines Dingzusammenhanges wechselseitiger Seinserfüllung. Durch die Erhebung der Persönlichkeit über das Ding und die Unterdrückung der Dingmächtigkeit wird das Ding zum Objekt der Willkür des zufälligen persönlichen Seins; es wird ver90
gewaltigt, und es rächt diese Vergewaltigung mit Verzerrung und Mechanisierung des Persönlichen. N u r eine solche Erhebung der Persönlichkeit ist wesensgemäß, in der die Mächtigkeit der Dinge gewahrt bleibt, in der sie einbezogen werden in den Persönlidikeitsprozeß und zu Symbolen werden f ü r das unbedingt tragende Sein. Die Persönlichkeit nicht als Vergewaltiger, sondern als Sinnerfüller des Seienden und darum in Hingabe und Eros verbunden mit dem Ding - das ist der Sinn des wesenhaften Dingverhältnisses. 3. Persönlichkeit und Gemeinschaft Unterpersönlidies wird, wenn auch eroshaft, von der Persönlichkeit angeeignet, denn es kann ihr nicht den Widerstand der Selbstmäditigkeit entgegensetzen. Persönlichkeit kann nicht angeeignet werden; sie wird zerbrochen oder sie wird aufgenommen in Gemeinschaft, denn in ihr lebt der unbedingte Widerstand, der aus der vollendeten Selbstmächtigkeit folgt. Dieser Widerstand aber ist die Bedingung dafür, daß Persönlichkeit entstehen kann. N u r durch ihn bekommt das Werden zur Persönlichkeit den Charakter unabweisbarer Forderung. N u r an der fremden Persönlichkeit geht der Persönlichkeit ihr eigenes Wesen auf. N u r in der Gemeinsdiaft von Ich und Du kann Persönlichkeit werden. Die Gemeinschaft aber greift über die Persönlichkeit hinaus. Sie hat eine eigene Seinsfülle, die nidit aus der Summe der Persönlichkeiten stammt. Sie hat ein Eigenleben, das die Persönlichkeit tragen, aber auch vergewaltigen kann. Daraus ergibt sich in der Gemeinschaftsbeziehung der Persönlidikeit eine der Dingbeziehung entsprechende Lage. In der primitiv-rituellen Auffassung des sozialen Lebens haben die sozialen Gestalten, Familie, Stand, Ort, Volk, Kultgemeinschaft, eine sakrale Mächtigkeit, die den Einzelnen unbedingt einordnet, seine Selbstmächtigkeit in die Grenzen der übergreifenden Einheit zwingt, sie dadurch hemmt, bricht, ja zerbricht und ihr doch zugleich Leben, Fülle, Tiefe, Sinn und Gehalt gibt. Nicht der Einzelne, sondern die Tradition, der Lebensstrom, der durch die Geschlechter hindurchgeht, die heilige Sitte, das sakrale Recht tragen die Gemeinschaft. Der Einzelne ist getragen und nur als Glied auch mittragend. U n d nidit das persönliche Leben des Einzelnen, sondern das Leben des Ganzen, das vergangene und zukünftige eingeschlossen, ist das Ziel dfer Gemeinsdiaft. Der Einzelne ist Mittel und nur als Glied des Ganzen auch Ziel. Die Erhebung der Persönlidikeit zu reiner Selbstmächtigkeit ist Erhebung über die sozialen Bindungen und Einordnungen. Sei es die 91
unbedingte Forderung der Gesetzesreligion, die jeden Einzelnen zur Verantwortung zieht, sei es die rationale Auflösung der alten Bindungen in der autonomen Kultur, sei es die nominalistische Kritik an den übergreifenden Seinsmächten, sei es die protestantische Stellung des Einzelnen allein auf sein mit Gott ringendes Gewissen, sei es die von aller Gemeinschaft unabhängige individuelle Prädestination, sei es der demokratisch-revolutionäre Versuch, eine neue Gesellschaft rational vom Einzelnen her aufzubauen - auf all diesen Wegen wird die Gemeinschaft entmäditigt. Die Persönlichkeit wird Träger und Ziel des sozialen Lebens. Sie unterwirft sich die sozialen Zusammenhänge ihren Zwecken entsprechend, genau wie die Dingwelt. Die übergreifenden Einheiten werden profanisiert, entleert. Die sozialen Gruppen verlieren ihre Macht, die Persönlichkeit zu zerdrücken und zu zerbrechen, aber auch ihre Macht, sie zu tragen. In dem Maße, in dem die Loslösung der Persönlichkeit fortschreitet, tritt eine Seinsentleerung ein, die zu einem Zusammenbruch der Selbstmächtigkeit führt und zu der Unterwerfung von Persönlichkeit und Gesellschaft unter naturhafte Gesetze ökonomischer und psychologischer Art, die die Persönlichkeit formal gewährleisten, inhaltlich zerstören. Das kann gegenwärtig sowohl an den sozialpolitischen wie an den sozialpädagogischen Tatsachen aufgezeigt werden. Jede Gemeinschaft ist gegründet auf eine Rangordnung von Mächtigkeiten. In der sakralen Auffassung des Gemeinschaftslebens ist die sozial mächtige Persönlichkeit Repräsentant der Mächtigkeit, die dem Ganzen innewohnt. Ihre Gewalt stammt nicht von ihr. Sie ist genau begrenzt durch den Sinn, den sie für das Ganze hat, sie macht persönliche Entwicklungsmöglichkeiten zunichte, aber sie ist auch geschützt durch ihren Ort, den jeder anerkennt und der teilhat an der Heiligkeit des Ganzen. Es fehlt grundsätzlich (anders als grundsätzlich kann all dieses nicht behauptet werden) der private, mit der einzelnen Persönlichkeit verbundene Charakter der Gewalt und damit der Widerspruch fremder gleichfalls privater Gewaltsstrebungen. Darum beugt man sich vor dieser Gewalt, im Innersten von ihr überzeugt, auch bei mangelnder Eignung des Trägers. Mit der Erhebung der Persönlichkeit fallen die heiligen Machtstufen fort. Jeder hat zunächst die Mächtigkeit, die das Persönlichkeit-Sein als solches gibt, und diese ist bei allen gleich. Daraus folgt die Forderung der Gleichheit vor dem Recht und der Freiheit von den die Selbstmächtigkeit bannenden Rechten anderer. Es folgt die Zwecksetzung, die jede Einzelpersönlichkeit zum Ziel des Gesamtlebens macht und der Rechtsform nach jedem die gleichen Mittel in die Hand gibt. Aber 92
das Herrschaftsverhältnis kann nicht aufhören. Es gehört zum Wesen des gesellschaftlichen Aufbaus. Und so entsteht eine Herrsdiaftsstellung, die allein begründet ist auf dem naturhaften Machtwillen des Einzelnen, ohne repräsentative Bedeutung, ohne Verantwortlichkeit. Ihr gegenüber steht die Entmächtigung der Masse, die Objekt dieser Herrschaft ist, auch nur naturhaft, nicht innerlich getroffen,' nicht auf Grund innerer Beugung vor einer Mächtigkeit, die das Ganze trägt. Das Herrschaftsverhältnis, das so entsteht, ist privat, unsakral, außerpersönlich, aber nicht minder zwingend für Herrscher und Beherrschte. Es ist die vornehmlich in der Wirtschaft sich durchsetzende Herrschaftsform, deren Grundlage der freie Vertrag ist, also die Unantastbarkeit der selbstmäditigen Persönlichkeit. Doch gilt das gleiche auch weithin für die politische Herrschaft, insofern diese vermittelt ist durch die überlegene Handhabung des psychologisch-publizistischen Apparates. Die Folgen dieser Erhebung der Persönlichkeit über die seinshaften Mächtigkeiten der Gemeinschaft sind das Verhängnis unserer gesellschaftlichen Lage. Für die Inhaber der Wirtschaftsmacht bedeutet diese Lage den Zwang, im Dienst der Wirtschaftsgesetze und im Kampf mit allen anderen gleich Mächtigen ihr persönliches Leben einzusetzen. Sie werden in diesem Naturprozeß der Wirtschaft zu einem ungeformten, von höheren Gewalten getriebenen Stück Naturdynamik. Die persönliche Ärmlichkeit zahlreicher Wirtschaftsführer ist umgekehrt proportional der ungeheuren naturhaft machtvollen Stoßkraft und Herrschaftlidikeit, die sie unverantwortlich und unrepräsentativ in der Hand haben. Audi darin kann Opfer liegen. Gewöhnlich aber ist es Verbindung von Zwang und Herrschaftswille. Für die Objekte ihrer Herrschaft bedeutet diese Sachlage völlige Entmächtigung, Unterwerfung unter die unentrinnbaren Gesetze der Konjunktur, Existenzunsicherheit als Korrelat der Vertragsfreiheit, Entleerung des persönlichen Lebens durch das Ringen um Existenz gegen den ständig aufsitzenden Dämon der Sorge. Vielleicht am schwersten wiegt dabei, daß die Arbeit zur Ware wird, die beliebig an jede Person und für jede Sache verkäuflich ist, daß also die Seinsbeziehung, die durch das Werk gewonnen werden kann, unmöglich gemacht wird und die ganze Werksphäre aus dem Sinn des Lebens herausfällt. Unter diesen Umständen ist natürlich die vorher betrachtete Arbeitsmechanisierung, das erzwungene Opfer des persönlichen Lebens, besonders bitter. Die Arbeit kann weder getragen sein von der Werkfreude, noch von dem sozialen Bewußtsein, wesenhafte Güter zu produzieren. Denn dieser Gesichtspunkt ist durch die herr93
schaftliche Verteilung des Konsums und durch den Geist der bloßen Warenproduktion zu Profitzwecken auch dann für den Arbeiter verhüllt, wenn er tatsächlich vorliegt. Der sozialpolitischen entspricht die sozialpädagogisdie Lage. In der sakralen Auffassung des Gesellschaftslebens ist die geistige Formung bedingt durch die Stufe der Mächtigkeit, auf der einer steht. Diese Formung ist begrenzt, aber konkret und aus der Lebenswirklidikeit geboren, sie deutend und ordnend. Ihr Ziel ist die Einfügung des Einzelnen in den Lebenssinn und die Lebenswirklichkeit des Ganzen. Die Grenzen des Ganzen, seine Traditionen und heiligen Symbole werden dabei nach keiner Seite überschritten. Welthafte Zusammenhänge erscheinen so wenig wie Ideale persönlicher Formung. Der Geist der Gemeinsdiaft trägt, gibt Sinn und Form, und begrenzt, schneidet ab von universaler Formung. Mit der Erhebung der Persönlichkeit fallen die Grenzen der Gemeinschaft, zugleich aber die sinngebenden konkreten Formen. Die neue Form kann nur abstrakt sein, und zwar nach zwei Richtungen hin, entsprechend der Polarität von Persönlichkeit und Welt. Die sidi erhebende Persönlichkeit erklärt eben dieses, daß sie sich erhebt, für das Ziel der Persönlichkeitsformung. Das ist formal; aber dieses Formale hat gegenüber der vorhergehenden Geisteslage ein ungeheures Pathos und hat es mit Recht. Denn es ist der Ausdruck für die Erfassung der Persönlichkeitsidee in ihrer unbedingten Geltung. Dieses ist der Kern und die Größe des humanistischen Persönlidikeitsideals. Darum ist es unangemessen, wenn von theologischer Seite Humanismus und Christentum in einen einfachen Gegensatz gebracht werden. Auch die Berufung auf Luthers Kampf mit Erasmus kann das nidit rechtfertigen. Das servum arbitrium ist als theologische Aussage nur sinnvoll bei dem seiner selbst mächtigen Wesen, nur dann hat es die paradoxe Tiefe, die in dem logisch widerspruchsvollen Begriff gemeint ist und die der Humanist, der nichts ist als dieses, freilich nicht verstehen kann. Aber ein seiner selbst unmäditiges Wesen hat überhaupt kein arbitrium; die theologische Aussage würde ihm gegenüber nur die ganz unparadoxe Feststellung der Gebundenheit an den Naturprozeß bedeuten. Wo nun das Ideal der Persönlichkeit in dieser Weise zum Ziel der geistigen Formung gemacht wird, entsteht notwendig die Frage nadi den Inhalten, in unseren Begriffen: nach dem Sein, dessen man sich bemächtigen, das man zur zentralen, geschlossenen Formung bringen soll. Die Antwort kann aber nur sein: die Welt als universale Seinsform. Das folgt aus der Gegenüberstellung von Persönlichkeit und 94
Welt im Akt der Persönlichkeitserhebung. So lautet denn auch die humanistische Antwort. Es entsteht das Ideal der allseitig geformten Persönlichkeit, das unser ganzes Bildungswesen bestimmt. So groß und bedeutungsvoll diese Durchbrechung aller grundsätzlichen Grenzen der geistigen Formung ist, so eindrucksvoll auch einzelne durch sie gestaltete Persönlichkeiten, insonderheit der deutschen Klassik, für uns sind, so unverkennbar ist doch die verhängnisvolle Auswirkung, die dieses Ideal sozialpädagogisch gehabt hat. Sein entscheidender, in der Sache begründeter Mangel ist der, daß die Formung der Persönlichkeit nicht aus der konkreten Wirklichkeit geboren ist, in der der Einzelne steht. Infolgedessen bleibt die Formung trotz einer Fülle von Seinsübermittlung immer relativ abstrakt. Alles interessiert, nichts geht unbedingt an. Nidits ist imstande, mit der Kraft unbedingter Forderung Lebenssinn und Lebensrichtung zu geben. - Das hat nun die verschiedensten Auswirkungen. Zunächst die, daß diese Persönlichkeitsformung Privatbesitz Einzelner oder einer Klasse wird, die die äußeren Vorbedingungen für einen solchen abstrakten und ideellen Universalismus hat. Ferner, daß es innerhalb dieser Klasse nur wenige sind, für die eine wirkliche Wesensgestaltung erreicht wird, daß die meisten diese Bildung als Bedingung zur Klassenzugehörigkeit sich aneignen, ohne daß Persönlichkeiten geformt werden. Für die eigentliche Masse aber ergibt sich, daß sie aus dieser Art Formung grundsätzlich ausgeschlossen ist und daß sie ihre Elemente nur als Sensation oder wirkungsloses Interesse durch Film und Zeitung aus aller Welt zugeführt bekommt. Audi darin liegt noch etwas Positives, denn jede Durchbrechung einer Schranke der Selbstmächtigkeit ist von der Persönlidikeitsidee her positiv zu werten, aber die Art der Verwirklichung ist fast nur zerstörerisch, löst die Persönlichkeit auf in lauter abstrakte Relationen und schafft ein allgemeines Niveau, über das sich selbst stärkere Geister nur mit Mühe erheben können und das in einem vollen Gegensatz zu dem ursprünglichen Persönlichkeitsideal steht. Das ist das Verhängnis: Dem Persönlichkeitsideal entspricht die Massentatsache. Das sogenannte höchste Glück der Erdenkinder bleibt ein Privileg. Der humanistischen Formung einzelner entspricht die menschenunwürdige Deformierung der meisten. Und auch die wenigen, die durch den Universalismus immer mehr von ihren Seinsgrundlagen losgerissen werden, verfallen notwendig einer wachsend formalen, zugespitzten, raffinierten und schließlich sich zersetzenden Formung. Ein leidenschaftlicher Wille zur Primitivität um jeden Preis bedeutet das Ende des humanistischen Ideals. So zeigt sich im Sozialpolitischen und Sozialpädagogischen das 95
gleiche Bild: Das Persönlichkeitsideal zerbricht an Seinsentleerung und Aufkommen naturhaft zwingender Mächte, sei es im ökonomischen, sei es im Politischen, sei es im Geistigen. Der Erhebung über die Gemeinschaft folgt der Fall unter die Gemeinschaft, unter das Naturgesetz, das soziologisch feststellbar und sozial zwingend ist. - Viele Bewegungen lehnen sich gegen diese Herrschaft auf: Sozialismus, Jugendbewegung, nationale Bewegung, um nur die wichtigsten zu nennen. Durch sie ist das Wort „Gemeinschaft" längst zu einem Programm und Schlagwort geworden. Sie alle aber scheitern ständig an der Unentrinnbarkeit der Gesetze, unter die wir durch die Katastrophe des Persönlichkeitsideals im Sozialen und Geistigen geraten sind. Entweder haben sie, wie vielfach der Sozialismus und ein machtpolitischer Nationalismus, den Geist zu ungebrochen in sich, aus dem unsere Lage geworden ist. Oder sie haben, wie die Jugendbewegung und alle romantischen Strömungen und auch die katholische Kirche, die ungeheure Größe und Unzuriicknehmbarkeit der Befreiung der Persönlichkeit nicht verstanden. Zwischen beiden Abwegen geht der Weg, der in den sachlichen Zusammenhängen des sozialen Lebens die Tiefe und Seinsfülle wieder entdeckt, die an sidi in ihnen liegt. Nur die Vergewaltigung ihrer Strukturen und lebendigen Tendenzen durch die herrschaftliche und schließlich naturgesetzlich beherrschte Persönlichkeit hat dem sozialen Leben in allen Beziehungen diese Mächtigkeit und Symbolkraft unterbunden. Um ihre Befreiung und damit in ganz neuem Sinne auch um Befreiung der Persönlichkeit ringen die besten Kräfte unserer Zeit, ganz in der Stille, ganz im Vorläufigen, aber mit dem klaren Ziel neuer Einordnung der Persönlichkeit in übergreifende, tragende, geheiligte, Seinsmächtigkeit ausstrahlende Gestalten. 4. Persönlichkeit
und Seele
Unter Seele soll hier dasjenige Sein verstanden werden, aus dem sich unmittelbar das persönliche Zentrum erhebt. Dazu gehört natürlich auch das Leibliche - nicht insofern es Gegenstand im Raum ist, sondern insofern es unmittelbare Ausdrucks- und Existenzform des Seelischen ist. - Die Lage ist nun die, daß überall da, wo das Persönlichkeitsideal sich durchsetzt, das seelische Sein allmählich seiner Mächtigkeit beraubt wird, teils durch Ausschaltung und Profanisierung, teils durch Verdrängung aus dem Zentrum des Bewußtseins. Auf diese Weise wird aber die Persönlichkeit einer Überlastung ausgesetzt, die zu einem Zusammenbruch und zu einem zerstörerischen Hervorbrechen der verdrängten seelisch-vitalen Mächte führt. - Sowohl die Geschichte des 96
Protestantismus wie auch die des Idealismus könnten von dieser Auffassung aus neu verstanden werden. Hier sind nur kurze Andeutungen möglidi. Im Katholizismus der vorreformatorischen Geisteslage sind alle Seiten des seelischen Seins in die Beziehung zum Heiligen hereingezogen. Eine überaus differenzierte Psychologie betrachtet jede seelische Regung sub specie aeterni. Die Gnadenlehre mit ihren zahlreichen Abstufungen gibt jedem Typus eine bestimmte Beziehung zum Unbedingten. Der Gedanke der Stellvertretung jedes Gliedes der Gemeinschaft für jedes andere bezieht alle inneren Mächtigkeiten unmittelbar auf das Ganze. Freilidi verdunkelten diese Stufen mehr und mehr die zentrale Beziehung des Einzelnen zum Unbedingten, seine persönliche, unübertragbare Verantwortung. Die unabweisliche Frage nach dem eigenen Heil wurde nidit beantwortet. Demgegenüber wendet sich die Reformation an das persönliche Zentrum, an Gewissen und Entscheidung. Sie schiebt die Stufen, die Psychologie, die Stellvertretung, die Gnaden beiseite. Sie stellt alles auf die zentrale persönliche Hinwendung zum Unbedingten, auf den Glauben. Das Relative, der weite Umkreis des seelischen und leiblichen Lebens, wird bedeutungslos und verfällt der Profanisierung. Nun aber war der Durchbruch, der sich in Luther vollzog, hervorgewachsen aus jahrhundertelanger Kultur der seelischen Selbstbeobachtung, aus einer reichen Fülle seinshafter seelischer Mächtigkeiten. In bezug auf sie hatte die Paradoxie seiner Gotteserfahrung ihre Schärfe, ihren Sinn. Nur weil der älteste Protestantismus noch erfüllt war von jener Allseitigkeit und Unmittelbarkeit des religiösen Bewußtseins, konnte er die heroischen und doch erfüllten Persönlichkeiten des reformatorischen Zeitalters schaffen. Mit dem Schwinden dieser Unmittelbarkeit, dieser Breite und Substanz des religiös-seelischen Lebens traten Intellekt und Moral an Stelle des ursprünglichen paradoxen, durdibruchhaften Erlebens. Der heroischen Persönlichkeit des Reformationszeitalters folgte die rationale der Aufklärung und die humanistisch-romantische der Klassik. Dadurch aber wurde die Paradoxie der persönlichen Gnade zum Gesetz und zwar immer mehr zum Gesetz der bürgerlichen Konvention. Aus dem unbedingten Ergriffenwerden der Persönlichkeit in Gericht und Gnade wurde das allgemeinvernünftige Gesetz einer bürgerlich-diristlidien Gesellschaft. Niemand aber ist imstande, den zentralen und unbedingten Anspruch des Göttlichen zu ertragen, außer im Durchbruch der Gnade. Wird der Versuch gemacht, den Heroismus des Persönlichen als Dauerhaltung zu fordern, sei es von einer Kirche, sei 97
es von einer Gesellschaft, so entsteht mit Notwendigkeit, solange diese Gemeinschaften die Kraft haben, ihre Forderung durchzusetzen, eine Verdrängung der seelisch-vitalen Kräfte und ihre heimliche Opposition. Nach einer Zeit aber bricht dieser persönliche Zentralismus zusammen. In diesem Zusammenbruch stehen wir in ungeheuerstem Ausmaße. Das Oberhandnehmen der psychopathischen Erscheinungen, die sich unter anderem daraus ergaben, führte zur Entdeckung der Psychoanalyse und eröffnete damit einen Weg, das psychische System der Verdrängungen zu durchschauen. Schon Nietzsche und die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts hatten die Lüge des bürgerlichen Personalismus durch Aufweis der Verdrängungen, auf denen er ruht weitgehend enthüllt. Damit war gezeigt, daß der so selbstsichere personalistische Aufbau seiner eigenen Grundforderung nicht gerecht werden konnte: seiner selbst mächtig zu werden. Verdrängung ist nicht Selbstbemächtigung. Verdrängung führt zu dem Bau eines seelischen Untergrundes, der entweder zur Lüge zwingt oder zur Erstarrung führt oder sich in bürgerlich erlaubten Ventilen wie zum Beispiel dem wirtschaftlichen Machtwillen Luft schafft, oder die Seele pathologisch zerstört, ein zur Zeit häufiger Ausweg, oder schließlich - und das ist der Weg zur Rettung, den unsere letzte Entwicklung zu gehen scheint sich offen darstellt und den systematischen Kampf gegen den ganzen Aufbau beginnt. Es ist verständlich, daß dieser Kampf zunächst zu Auflösungserscheinungen führte, die der bürgerlichen Gesetzlichkeit recht zu geben schienen. Dieser Obergang war unvermeidlich. Sein Ziel aber ist neue Formung; eine Formung freilich, die nicht aus dem Gesetz geboren ist - das Gesetz treibt zum Widerspruch - , sondern aus der Gnade. Dabei wird es notwendig sein, den Begriff der Gnade weiter zu fassen, als es vom protestantischen Rechtfertigungsgedanken her geschehen ist. Nicht als dürfte das protestantische Prinzip angetastet werden, aber es muß die Stellung bekommen, die es im Neuen Testament hat und durch die es vor Vergesetzlichung geschützt wird: die Stellung eines Korrektivs gegen das Gesetz. Die Substanz des religiösen Lebens aber muß alle Seiten der seelischen und vitalen Wirklichkeit in ihrer Fülle und Differenziertheit einbeziehen. In der Tiefenpsychologie findet sich gegenwärtig oft mehr wirkliches Bewußtsein um den Sinn der Gnade und darum mehr heilkräftige Seelsorge als in der kirchlichen Seelenpflege. Diese versucht immer wieder, den Menschen die religiöse Erfahrung der Reformatoren als Gesetz aufzuerlegen. Das ist einer der Hauptgründe ihrer Wirkungslosigkeit, ja ihrer Mitwirkung zum allgemeinen seelischen Zusammenbruch. 98
In all dem wird offenbar, wie unwirklich der Begriff der geschlossenen Persönlichkeit ist. Es wird offenbar, wie sehr dieser Begriff von der Scheinformung lebt, die die Verdrängung schafft. Das bewußte, scheinbar so geschlossene Persönlichkeitsleben ist offen für die vitalen Kräfte, die aus dem allgemeinen Lebensprozeß in jedes Einzelleben dringen und die aus der Tiefe unserer eigenen lebendigen Substanz und ihrer frühesten Prägung heraus das Bewußtsein lenken und oft da die schwersten Belastungen bewirken, wo wir glauben, am freiesten zu sein. - Ergänzt wird diese Erfahrung durch die Einsichten, die sich aus der Psychologie der Idizerspaltung auch für das normale Seelenleben ergeben haben: die Tatsachen der Zwiespältigkeit und Vielfältigkeit des persönlichen Zentrums. Sie waren dem Neuen Testament und der alten Kirche unter dem Begriff der Besessenheit wohlbekannt. Man stellte ihnen aber nicht die Persönlichkeit, sondern die Begnadetheit, gleichsam die Besessenheit von oben entgegen. Zwischen Besessenheit und Begnadetheit steht jede Persönlichkeit, offen nach beiden Seiten. Die Persönlichkeit ist der offene Schauplatz dieses Kampfes, und das Ideal der geschlossenen Persönlichkeit ist eine Täuschung. Das Persönlidikeitsideal ist ein heroischer Versuch, die Klarheit Gottes in der Welt der Zweideutigkeit zu verwirklichen, darum zerbricht es. Das Seiner-selbst-mächtig-Werden ist nur Wirklichkeit als Bemächtigtsein von der göttlichen Tiefe. Das führt zu der Aufhebung des Begriffs der religiösen Persönlichkeit. Er ist eine harmlose Redeform, wenn er nichts weiter bezeichnen soll als einen dem religiösen Akt hingegebenen Menschen. Mit Persönlichkeitsideal hat das nidits zu tun. Auch dann nicht, wenn die religiöse Haltung das gesamte Leben eines Menschen erfüllt, wenn er homo religiosus im engeren Sinne wird, auch dann nicht, wenn er zu den Stiftern und Führern der Religion gehört oder zu ihren Heiligen. Religiöse Persönlichkeiten im prägnanten Sinne sind das alles nicht, ist weder Jesus nodi Paulus, weder Augustinus noch Franziskus noch Luther. Zur religiösen Persönlichkeit gehört dieses, daß die Religion als tragendes Element des Aufbaus der Persönlichkeit gewertet wird, daß also das Ziel die Persönlichkeit und ihre Entfaltung, das entscheidende Mittel die Religion ist. Die reine Form des Seiner-selbstmächtig-Werdens unterwirft sich auch den religiösen Akt, dessen Wesen es ist, diese Form zu sprengen. Um ihn unterwerfen zu können, muß sie ihn in die Grenzen der Persönlichkeitsformung, der Humanität oder bloßen Vernunft bannen. Sie muß das Transzendente, Überschwengliche, Formzerbrechende der Gnade abwehren. Die religiöse Persönlichkeit ist dasjenige Sein, das seiner selbst in bezug auf das 99
unbedingte Sein mächtig ist. In diesem Satz liegt die letzte und entscheidende Kritik des Persönlidikeitsideals; denn es ist das Wesen des unbedingten Seins, daß wir ihm gegenüber nie und in keiner Form unserer mächtig sind. Wohl aber ist das Unbedingte unser mächtig, ob wir es wollen oder nicht, zur Zerstörung oder zur Begnadigung.
3. I S T E I N E W I S S E N S C H A F T VON DEN WERTEN MÖGLICH? I Ich möchte zunächst einen knappen Überblick über die Entstehung der Wertphilosophie im modernen Denken geben und kurz beschreiben, wo idi selbst dieser Philosophie begegnet bin. Ich tue das, weil auch ich zu den Opfern des europäischen „Lasters" gehöre, einen jeden Gedanken im Lichte seiner Gesdiidite zu sehen. Manche Historiker nennen Lotze den Erben der klassischen deutschen Philosophie. Das ist richtig, falls man einen General, der nach einer verlorenen Schlacht das geschlagene Heer in der letzten noch verbliebenen Widerstandsstellung sammelt, den Nachfolger einst siegreicher Generale dieses Heeres nennen kann. Nichts anderes als ein solches Rückzugsgefecht war es aber, als Lotze in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausdrücklich den Wertbegriif in die damalige philosophische Diskussion einführte. Er machte damit den Versuch, die menschliche Würde vor der Zerstörung durch den materialistischen Naturalismus zu bewahren. Er harte Erfolg, und deshalb gebührt ihm in der Geschichte der Philosophie ein besserer Platz, als ihm gewöhnlich zugestanden wird. Zahlreiche Schulen der Wertphilosophie übernahmen sein Prinzip, und wie diese Versammlung zeigt, hat er seinen Einfluß selbst in mehr als einhundert Jahren noch nicht verloren. Aber Lotze und alle, die ihm folgten, mußten einen hohen Preis zahlen: Sie mußten die Welt, der wir begegnen, radikal von der Welt der Werte trennen. Für sie haben Sein und Wert nichts gemein: Wert hat kein Sein, und Sein ist kein Wert. Zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte - zwischen dem, was ist, und dem, was gut ist - , klafft ein Abgrund. Der gemeinhin anerkannte Zusammenbruch der Metaphysik habe gezeigt, so argumentierten sie, jeder Versuch, die Kluft zwischen Sein und Wert dadurch zu überbrücken, daß man Wert im Sein entdeckt, müsse scheitern. Die Führer des geschlagenen philosophischen Heeres machten keinen Versuch mehr, die verlorenen Stellungen wie100
derzuerobern, sie blieben ausschließlich in der Verteidigung. Doch diese Verteidigung der menschlichen Würde machte ihre Größe aus, das muß gerechterweise anerkannt werden. (Hier sei erwähnt, daß während meiner Studienjahre der deutsche Philosoph Münsterberg nach Harvard berufen und dort zum einflußreichsten Vermittler der Wertphilosophie in Amerika wurde.) Doch nicht im philosophischen, sondern im theologischen Bereich begegnete ich selber der Wertphilosophie und verwarf sie leidenschaftlich. Albrecht Ritsehl, nach Schleiermacher der größte Systematiker der Theologie im 19. Jahrhundert, hatte die Aussagen der klassischen Theologie auf Werturteile reduziert. Wie Lotze, von dem er weitgehend beeinflußt war, in der Philosophie, so lieferte er in der Theologie ein Rückzugs- und Verteidigungsgefecht. Vor und zum Teil auch noch während seiner Zeit herrschte an den europäischen Universitäten eine philosophische Theologie, die sich auf Schelling und Hegel stützte. Ihre Vertreter verloren jedoch ihre Vormachtstellung nach dem sogenannten Zusammenbruch des Hegeischen Systems, genauer seit der Wendung des abendländischen Denkens zum naturwissenschaftlichen, politischen und religiösen Positivismus. Sie wurden an den meisten europäischen Fakultäten und später auch an vielen amerikanischen protestantischen Seminaren durch Ritschlianer ersetzt, das heißt durch Theologen, die ihre Theologie auf eine Werttheorie gründeten. Als ich im Jahre 1904 anfing, Theologie zu studieren, waren die Ritschlianer an allen wichtigen theologischen Fakultäten führend. Doch wir, als Studenten und jüngere Generation, revoltierten dagegen aus theoretischen und gefühlsmäßigen Gründen. Wir wollten die Niederlage der Metaphysik und die Flucht in die Verteidigungslinien der Werttheorie nicht als endgültig hinnehmen. Wir wollten das Sein. Und die Erfahrung des Seins als Seins-Macht wurde die existentielle Erfahrung, aus der der größte Teil meines späteren Denkens erwuchs. Heute findet man an den philosophischen und theologischen Fakultäten Europas nur noch wenige Spuren der alten Werttheorie. II An diesem Punkt möchte ich die geschichtliche und autobiographische Darstellung verlassen und zur Sache selbst kommen. Es ist fast erschütternd zu sehen, wie sich die Wertphilosophen bemüht haben, eine der Hauptschwächen der Werttheorie - ihren subjektiven und relativen Charakter - zu überwinden. Sie erfaßten durchaus, daß sich der Wertbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung auf ein wertendes Subjekt 101
bezieht. Dann aber kann eine Werttheorie nichts anderes sein als eine Lehre von den faktischen Wertungen. Um dieser eindeutigen Konsequenz zu entgehen, postulierte man Grundwerte mit apriorischem und absolutem Charakter, die die Kriterien für die Rangordnung der Werte abgeben sollten. Die psychologischen und soziologischen Bedingungen des Wertens wurden nur als Kanäle angesehen, unsere Anerkennung der objektiven Werte zu erzwingen. Werte werden also nidit geschaffen, sondern entdeckt. Nach Münsterberg ist der Wert der Welt selbst absolut. Sämtliche Wertungen können abgeleitet werden von dem „Willen, daß es eine Welt gibt". Am aufschlußreichsten sind in dieser Hinsicht Max Scheler und Nicolai Hartmann, die die Wertphilosophie zu einem Punkt trieben, an dem die ontologisdie Frage nicht mehr vermieden werden konnte. Keiner von beiden verneinte die anthropologischen Bedingungen, denen das Wertgefühl und die Rangordnung der Werte unterliegen. Aber beide betonen ausdrücklich, daß nicht das Gefühl oder auch der Mensch, der fühlt, die eigentliche Ursache ist; sie sind vielmehr der Ort und die Gelegenheit für die Manifestation der Werte und ihrer Rangordnung. Nach Sdieler und Hartmann kann man die Wahrheit der Werte aber auch nidit von ihrer Beziehung zum Leben abhängig machen, denn das Leben ist selber in die Hierarchie der Werte eingeordnet und steht nidit einmal an der Spitze. Ein höherer Wert kann das Opfer des Lebens fordern. Nach Hartmann sind Werte Mächte mit eigenen Gesetzen. Sie haben Seinsdiarakter und stehen gegen die Wünsche und Interessen des Subjekts, das sie als Werte erfährt. Sie haben ein ideales Sein an sich. Wenn idi die Bemühungen der Wertphilosophen betrachte, so komme ich zu dem Schluß, daß die ganze Theorie gescheitert ist an der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen relativen Werten, die zu Wertungen reduziert werden können, und absoluten Werten, die eine andere Begründung brauchen, weil sie die Wertungen regieren. Der Pragmatismus kann diese Begründung offensichtlich nicht geben. Denn der Begriff „absolute Werte" kann von einem konsequenten Pragmatismus überhaupt nicht akzeptiert werden, weil er jeden Wert der nie endenden „Kontrolle durch die Erfahrung" unterwirft - was auch immer diese „Kontrolle durch die Erfahrung" bedeuten mag. Allerdings ist der Pragmatismus meist inkonsequent und gestattet sich eine verborgene Metaphysik, zum Beispiel die des Lebens als Wachstum (Dewey), oder die eines fast mystischen Bereichs jenseits von Subjektivität und Objektivität (James), oder die einer universalen Selbstbejahung des Willens (Nietzsche). Doch es ist vielleicht nidit ganz fair zu sagen, daß sie sich eine ihnen selbst verborgene Metaphysik „ge102
statteten". Sie konnten gar nicht anders, weil man der Metaphysik nicht entgehen kann. Um gültige Werte von bloßen Wertungen zu unterscheiden, gibt es keinen anderen Weg, als die Wurzeln eines Wertes in der Struktur des Seins-Selbst aufzuzeigen. Die Kontrollen durch die Erfahrung führen in einen circulus vitiosus, sobald die Kriterien der Kontrollen selber pragmatisch geprüft werden. Aber sie führen zur Ontologie, sobald die Kriterien von einem nichtpragmatischen Grund abgeleitet werden. Unsere Ausgangsfrage: „Ist eine Wissenschaft von den Werten möglich?" ist gleichbedeutend mit der Frage: „Ist ein ontologisdier Zugang zu den Werten möglich?" Meine Antwort lautet: Er ist möglich und innerhalb der Grenzen der Ontologie als solcher immer mit Erfolg beschritten worden. Vielleicht ist es unangebracht, diesen Zugang „Wissenschaft" zu nennen, und es mag wohl sein, daß in dieser semantischen Frage schon die ganze Sachfrage enthalten ist. Deshalb möchte ich mit ein paar Worten auf diesen Punkt eingehen. Wenn Wissenschaft wie in den meisten Diskussionen der letzten Jahre nach dem deutschen Sprachgebrauch aufgefaßt wird, dann ist eine Wissenschaft der Werte möglich in dem Sinn, in dem auch Ontologie eine Wissenschaft ist. Wird jedoch Wissenschaft wie meistens im englischen Sprachgebrauch als eine Erkenntnismethode nach dem Muster der Physik verstanden, dann ist nur eine Wissenschaft von Wertungen, aber nicht von den Werten möglich. III Was ist nun - so fragen wir - die ontologisdie Grundlage der Werte? Wohin müssen wir innerhalb der uns begegnenden Wirklichkeit blikken, um die Quellen des Sollens im Sein zu entdecken? - Die erste Antwort ist negativ: Werte können nicht von der Existenz abgeleitet werden. Das hat der Pragmatismus vergeblich versucht. Werte müssen von den Essentialstrukturen des Seins abgeleitet werden, die - wenn auch verzerrt - innerhalb der Existenz erscheinen. Wenn wir den Wert eines Baumes nicht im Hinblick darauf beurteilen, welchen Wert er für uns als Holz oder Schatten hat, sondern im Hinblick auf seine Potenzen als Baum an sich, dann vergleichen wir seinen tatsächlichen Zustand mit einem Bild, einem eidos oder einer Idee, die wir von seiner essentiellen Natur haben. Wir nennen ihn ein armes, krankes oder verstümmeltes Exemplar dessen, was zum Beispiel eine Kiefer sein kann. Die Weise, in der dies eidos oder diese Essenz der Baumheit, die mehr ist als ein Begriff, erfaßt und geprüft wird, ist aber nichts anderes als die Erkenntnis des objektiven Wertes 103
eines Baumes. Dieses Vorgehen verbindet ein ideierendes mit einem empirischen Element. Das ideierende Element, die Schau der Essenz an einigen existierenden Exemplaren, wurde von der phänomenologischen Schule wiederentdeckt, nachdem es die ganze antike und mittelalterliche Philosophie beherrscht hatte, aber im positivistischen Typus des Nominalismus verlorengegangen war. Obgleich die Methode der Ideation (Husserl) von den Philosophen, die sie ablehnten, in der Praxis ständig angewandt wurde, hatte sie in der offiziellen Philosophie nur begrenzten Erfolg, weil die, die sie gebrauchten, nicht fähig oder willens waren, sie zur empirisch-wissensdiaftlichen Methode der Forschung in Beziehung zu setzen. Die essentielle Natur eines Baumes kann auch für die empirisdi-wissenschaftliche Forschung zum Problem werden, indem diese nämlich die biologischen Bedingungen für einen vollkommenen Baum aufstellt und gegebenenfalls durch ihre Forschungsergebnisse das intuitive Bild der essentiellen Natur des Baumes umformt. Das Bild eines vollkommenen Baumes selbst aber kann die empirische Analyse nicht schaffen. Verlassen wir nun dies Beispiel und wenden wir uns dem Menschen und dem Bereich der ethisdien Werte zu. Der Mensch ist das wertende Subjekt. Aus unseren Voraussetzungen folgt aber, daß der Mensch auch zu dem Ort werden muß, an dem die einzelnen Werte ihre ontologisdie Fundierung finden. Ethisdie Werte sind Forderungen, die aus der essentiellen Natur des Menschen abgeleitet sind. Ihr ontologischer Ort ist die menschliche Natur. Deshalb möchte ich sagen: Unser Wissen von den Werten ist identisch mit unserem Wissen vom Menschen, und zwar nicht dem Wissen von seiner existentiellen, sondern seiner essentiellen Natur. Wenn das richtig ist, dann reduziert sich die ethisdie Werttheorie auf Anthropologie im Sinne einer philosophischen Lehre vom Menschen. Das Sollen, das im objektiven Wert enthalten ist, wurzelt in der essentiellen Natur des Menschen. Einige Beispiele mögen dies beleuchten. Sagt man, seiner essentiellen Natur nach sei der Mensdi aus Leib und Seele zusammengesetzt und diese Zusammensetzung sei für keinen der beiden Teile notwendig, dann folgt daraus ein asketisches System der Werte, denn die Seele, die in dieser Verbindung stets als das Höhere angesehen wird, kann ihre Rolle nur spielen, wenn sie eine selbständige Entwicklung der leiblichen Werte unterbindet. Wie jedem Studenten der Ethik und Geschichte bekannt ist, hat eine solche Auffassung von der essentiellen Natur des Menschen außerordentliche geschichtliche Bedeutung. Sagt man andererseits mit dem Alten Testament und dem echten Protestantismus, der Mensch sei eine Einheit von Leib und Seele, 104
so folgt notwendig ein System der Werte, dessen Nadidruck auf der Vitalität und der Befreiung des Menschen aus dem puritanischen System der asketischen Werte liegt. Wird hingegen die Funktion des Unbewußten in der Dynamik der Persönlichkeit betont, dann wird die Bewertung seiner Verstandes- und Willenskräfte herabgesetzt zugunsten einer höheren Bewertung eines Lebens in Symbolen, die das Unbewußte beeinflussen. In der entgegengesetzten Auffassung wieder gilt das bewußte Zentrum als letztlich verantwortlich für alles; die Kräfte des Bewußtseins werden beherrschend, und die Dynamik des Unbewußten wird vernachlässigt. Ein weiteres Beispiel: Man kann das Verhältnis der Werte des Individuums zu den Werten der Gemeinschaft nidit abschätzen, ohne daß man ein Bild von dem hat, was der Mensch in beiderlei Hinsicht ist. Der Wert der individuellen Einzigartigkeit, der in bestimmter Hinsicht gültig ist, wird durch die Tatsache eingeschränkt, daß der Einzelne Person wird nur durch die Begegnung mit anderen Personen. Die Spannung in dieser Polarität wird an Konflikten offenbar wie dem heutigen Konflikt zwischen einer konformistischen und einer antikonformistischen Lösung des Problems von Individuum und Gemeinschaft. Ferner: Eine Werttheorie, der die ontologische Grundlage fehlt, ist außerstande, den Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit zu lösen, wie er nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Theologie erscheint. Stellt man die Frage: Welcher Wert steht höher, Liebe oder Gerechtigkeit? - dann zerstört man die eigentliche Bedeutung beider Werte. Fragt man jedoch: Was ist deren Wurzel im Sein-Selbst? - dann kann man antworten: Die Dynamik der Liebe und die Form der Gerechtigkeit bedingen einander. Wenn man unter „Liebe" diejenige universale Dynamik des Lebens versteht, die zur Wiedervereinigung des Getrennten hindrängt, dann kann „Gerechtigkeit" verstanden werden als die Form, in der sidi die Wiedervereinigung vollzieht. Diese Idee der Gerechtigkeit transzendiert die Idee der proportionalen Gerechtigkeit, die nach quantitativem Maßstab straft und belohnt. Sie ist schöpferische Gerechtigkeit, die verwandelt, indem sie das Unannehmbare annimmt. Und schöpferische Gerechtigkeit ist Liebe. Natürlidi setzt dies voraus, daß die Idee der Liebe von all ihren emotionalen Nebenbedeutungen und ihrem bloß subjektiven Charakter befreit wird. N u r sofern Liebe im Sein wurzelt, ist ihre Vereinigung mit Gerechtigkeit möglidi. Die ontologische Grundlage der Werte gewährleistet die Autonomie des Prozesses, in dem sie entdeckt werden. Wert ist das essentielle Sein 105
des Menschen, das ihm als Forderung entgegentritt. Die sittlichen Imperative sind weder willkürliche Befehle eines transzendenten Tyrannen, noch bestimmt durch Nützlichkeitserwägungen oder Konventionen von Gruppen. Sie sind bestimmt durch das, was der Mensch essentiell ist. Das moralische Gesetz ist die essentielle Natur des Menschen, die als fordernde Autorität erscheint. Wäre der Mensch mit sich und seinem essentiellen Sein geeint, gäbe es keine Forderung. Aber der Mensch ist si«h selbst entfremdet, und die Werte, die er erfährt, erscheinen als Gesetze, als natürliche oder positive, fordernd, drohend, verheißend. Trotzdem ist es nicht eine fremde, heteronome Macht, die dem Gesetz Autorität verleiht, sondern das eigene essentielle Sein des Menschen. Und weil dieses die letzte Quelle des Gesetzes ist, hat das Gesetz trotz seiner wechselnden Inhalte unbedingte Gültigkeit. Hieraus ergibt sich eine abschließende Betrachtung zur Frage der Werterkenntnis: Die Erkenntnis der Werte ist identisch mit der Erkenntnis des eigenen essentiellen Seins. Sie geschieht auf zwei einander ergänzende Weisen, durch Intuition und durch Erfahrung. Intuitiv sieht der Mensch den Gegensatz zwischen dem, was er essentiell, und dem, was er wirklich ist. Dieses Gewahrwerden hat einen vorwiegend negativen Charakter, das heißt, die unmittelbare Grundfunktion des Gewissens ist: richten; das Gewissen billigt und bestätigt nur mittelbar. Aber die intuitive Seite der Erkenntnis der Werte, einschließlich der „Stimme des Gewissens", ist Irrtümern ausgesetzt und muß der ständigen Kritik der Erfahrung unterworfen werden, nidit nur der individuellen Erfahrung, sondern auch der Erfahrung der Menschheit, wie sie sich in den ethischen Traditionen verkörpert. Diese sind die Manifestationen der Weisheit, die die Menschheit in positiven und negativen Erfahrungen erworben hat. Für die Gültigkeit der Normen gibt es kein äußeres Kriterium, das nach Belieben angewendet werden kann. Vielmehr existiert eine ständige Spannung zwischen dem Element der Erfahrung und dem der Intuition in der Erkenntnis der Werte. Keine Methode der Berechnung und des Messens kann diese Situation überwinden. Wir können dem existentiellen Wagnis in der Erkenntnis der Werte nicht entrinnen. Einen sicheren Ort außerhalb des Wagnisses, das dem Leben in allen seinen Dimensionen eigentümlich ist, gibt es nicht.
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B. Sozialethik 4. D I E B E D E U T U N G D E R K I R C H E FÜR D I E G E S E L L S C H A F T S O R D N U N G IN EUROPA U N D AMERIKA Unser Thema stößt auf die Schwierigkeit, daß sich kein allgemeiner Vergleich zwischen den europäischen und den amerikanischen Kirchen anstellen läßt. Das ist aus zwei Gründen unmöglich: erstens, weil die einzelnen Kirchen innerhalb einer jeden Gruppe sich in den verschiedenen Ländern oder Staaten, zu verschiedenen Zeiten und auf Grund ihrer jeweiligen Eigenart auf verschiedene Weise entwickelt haben, zweitens, weil die amerikanischen Kirchen in ihrer Herkunft und ihrer Entwicklung von den europäischen Kirdien abhängig sind. Dies hält die Grenze zwischen beiden Gruppen fließend und madit eine prinzipielle Unterscheidung unmöglich. Wo sollte man rein geographisch die Grenze ziehen? Man kann eine Linie von der russisch-orthodoxen Kirche entweder über das Luthertum und den Katholizismus Mitteleuropas oder über den Calvinismus Westeuropas und die Denominationen Englands und Neu-Englands zu den neuen Strömungen des amerikanischen mittleren und fernen Westens ziehen. Wo liegt der Einschnitt in dieser Entwicklung, der einen Vergleich zwischen Europa und Amerika ermöglichen würde? Liegt er zwischen England und Neu-England, und gehört England in eine Gruppe mit Rußland? Und weldie Epochen sollte man miteinander vergleichen? Die Zeit des Puritanismus, das Aufkommen der Toleranzidee, das Zeitalter der Aufklärung, der Nationalisierung der Kirchen, des Rationalismus, des Fundamentalismus oder des gesellschaftlichen Utopismus? Von den sozialen Funktionen welcher Kirchen sollen wir sprechen? Und schließlich: Welche besonderen Kirchen in Europa und in Amerika sollte man miteinander vergleichen? Die großen Kirchen Europas, die Denominationen Englands, die Bekenntnis- und Denominationskirchen Amerikas? Audi hier erhebt sich die Frage, ob man England von Amerika trennen und als Teil Europas behandeln kann. Und wie stellen wir uns zu dem Unterschied zwischen europäischem 107
und amerikanischem Luthertum, europäischem und amerikanischem Katholizismus? Einen Vergleich zwischen europäischen und amerikanischen Kirchen können wir nur ziehen, wenn wir uns auf einen besonderen Gesichtspunkt beschränken. Sobald wir uns auf die sozialen Funktionen der Kirchen konzentrieren, bemerken wir einen deutlichen Unterschied zwischen Europa und Amerika. Hier nimmt auch England keine Zwischenstellung mehr ein, sondern gehört eindeutig zu Europa. Wir wollen unseren Vergleich deshalb auf die verschiedenen sozialen Funktionen der europäischen und amerikanischen Kirchen beschränken; dabei wollen wir nur die gegenwärtige Situation betrachten und historische Tatsachen nur heranziehen, wenn sie zum Verständnis der Gegenwart beitragen. Wenn wir uns außerdem mehr mit der praktischen Seite unseres Problems als mit seiner theoretischen Fundierung befassen, können wir die amerikanische Kirche als Einheit mit der europäischen Kirche als Einheit vergleichen. Dabei dürfen wir weder die Unterschiede innerhalb jeder der beiden Gruppen noch die Rolle Englands als geistigen Vermittler zwischen den beiden Gruppen übersehen. Die protestantischen Kirchen Amerikas sind mit wenigen Ausnahmen in »The National Council of the Churdies of Christ in America" zusammengeschlossen. Eine solche Bezeichnung wäre in Europa unmöglich. Für das christliche Empfinden in Europa - das protestantische wie das katholische - gibt es keine verschiedenen Kirchen Christi, sondern nur die „Eine christliche Kirche" trotz des Vorhandenseins verschiedener empirischer christlicher Kirchen. In Amerika dagegen ist der Begriff der einen Kirche unbekannt. Dieser Unterschied in der Terminologie offenbart den fundamentalen Unterschied im Denken. In Europa ist die Einheit der „Einen christlichen Kirche" die mystische Voraussetzung für die Eigenart und Wirksamkeit jeder geschichtlichen Kirche. Die Kirche als der Leib Christi ist eine Realität, allerdings keine soziologische, sondern eine mystische Realität; dabei hat eine mystische Realität keinen geringeren, sondern einen höheren Grad von Realität als die empirische Wirklichkeit. Deshalb wird die Spaltung innerhalb der Kirdie nach römisch-katholischer Auffassung als das Werk dämonischer Mächte angesehen, und die Uberzeugung einer Kirche, daß sie die „Eine christliche Kirche" repräsentiere, erlaubt ihr keine Toleranz anderen (abtrünnigen) Kirchen gegenüber. Denn die transzendente Einheit des Leibes Christi kann nicht aufgelöst werden: sie ist das Kriterium für jede empirisdie Kirdie. In Amerika ersetzt der Föderationsgedanke den Glauben an die mystische Einheit. Hier 108
sind die Kirdien soziale Gruppen mit gewissen gemeinsamen Interessen und Zielen. Keine Kirche wird prinzipiell verworfen, die Berechtigung einer jeden wird anerkannt, und ein zunehmender Zusammenschluß aller Kirdien wird erstrebt, wenn auch nicht gefordert. N u r der römische Katholizismus lehnt diese Haltung ab. Man kann sagen, daß abgesehen von dieser Ausnahme in Amerika der soziologische und empirische Begriff der Kirche ausschlaggebend ist, während in Europa die theologische und mystische Idee der Kirche vorherrscht. Diese Gegensätze sind aus der verschiedenen Bedeutung zu erklären, die Realismus und Nominalismus in der europäischen und der amerikanischen Entwicklung gehabt haben. Europa hat lange Zeit unter dem Einfluß des (mystischen) Realismus gestanden, während die amerikanische Geschichte erst begann, als der Nominalismus herrschend geworden war. Amerika hat niemals eine Periode des „realistischen" Denkens und Empfindens durchgemacht wie Europa in seiner „archaischen" Periode. Die Auffassung, daß die universalen Begriffe mehr Realität haben als empirische Gegenstände, kann einem Volk schwer begreiflich gemacht werden, das jahrhundertelang in der Oberzeugung gelebt hat, daß Universalien bloße Worte seien und daß Realität nur empirischen Gegenständen zukomme. Für diese Art des Denkens hat die Idee der „unsichtbaren Kirche" keine Bedeutung. Man kann den Gegensatz zwischen Europa und Amerika auf folgende kurze Formel bringen: In Europa steht Die Kirche an erster Stelle und hat die größere Realität, während in Amerika die empirischen Kirchen von größerer Bedeutung sind und Die Kirdie nur Realität hat, soweit ein Zusammenschluß der Kirchen gelungen ist. Es ist leicht zu verstehen, welche Folgen diese fundamentalen Gegensätze für die Beziehung der Kirchen zueinander haben müssen. In Europa hält jede Kirche alle anderen Kirchen für ketzerisch und versucht, die Mitglieder dieser abtrünnigen Kirdien zu ihrer eignen Lehre zu bekehren. In Amerika gibt es zwar unzählige Splitterkirchen, aber keine von ihnen erhebt den Anspruch auf den alleinigen Besitz der Wahrheit. Charakteristisch für das Verhalten der amerikanischen Kirchen zueinander ist der Geist des Wettbewerbs und der Zusammenarbeit. Es kann geschehen, daß eine Gruppe die praktische Überlegenheit ihrer Kirche, ihrer Einrichtungen und Persönlichkeiten propagandistisch anpreist; aber das hindert sie nicht daran, gleichzeitig für die verschiedensten Zwecke mit den anderen Kirchen zusammenzuarbeiten. Die Kirchen sind eben soziale Gruppen und nicht Verkörperungen einer mystischen Realität. Die Verschiedenartigkeit der europäischen und
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amerikanischen
Kirchen ist in der Verschiedenartigkeit der religiösen Typen begründet, denen sie zugehören. Während die europäischen Kirchen ursprünglich und wesentlich den sakramentalen Typ verkörpern, repräsentieren die amerikanischen Kirchen ursprünglich und wesentlich den theokratischen Typ. „Sakramental" ist eine religiöse Haltung, die einer gegebenen Wirklichkeit, einem Ding oder einem Mensdien, Heiligkeit zuspricht, unabhängig von seinem individuellen Charakter oder seinem moralischen Wert. Im Katholizismus stellt die Hierarchie im Besitz der Gnaden, der unzerstörbar und unabhängig von dem moralischen Wert ihrer Träger ist, einen heiligen Bereidi dar. Im Luthertum haben die Bibel und die „rechte Lehre" sakramentalen Charakter, jedoch einen weniger wirksamen als die Hierarchie im Katholizismus. Im Anglikanismus wird durch die apostolische Sukzession die Gegenwart mit dem ursprünglichen sakramentalen Geschehen, dem Erscheinen des Christus in der Geschichte, verbunden. Der Sakramentalismus ist von den Handlungen des Mensdien und der Gesellschaft unabhängig: das Heilige besteht vor dem Beginn der menschlichen Geschichte. Die sakramentalen Kirchen sind wie eine Mutter, die ihre Kinder hält und umfängt. Einer solchen Kirche gehört der Mensch, ohne gefragt zu sein, von Geburt bis zum Tod an. Nicht der Wille des Mensdien bestimmt die Kirche, sondern die Kirche bestimmt den Menschen, seinen Willen und sein Handeln. Das Heilige ist in erster Linie Realität, gegenwärtiges Sein; erst in zweiter Linie ist es auch Forderung, Seinsollendes. Sünde und Schuld trennen den Mensdien ebensowenig von ihm, wie ihn moralische und gesellschaftliche Vollkommenheit mit ihm vereinen. Es ist die gleiche Beziehung wie die zwischen Mutter und Kind, die durch kein Verhalten des Kindes zerstört werden kann. Eine sakramentale Kirche hat keine direkte, nur eine indirekte soziale Funktion. Die heilige Sphäre strahlt Heiligkeit auch in die verschiedenen Sphären des sozialen Lebens aus. Dies ist eine Art unbewußten Ausströmens, keine bewußte Aktivität. Die Madit des Heiligen wirkt vor allem durch einzelne Mensdien, die nach dem Gebot der Liebe handeln, soweit die Struktur der Gesellschaft dies zuläßt. Aber die sakramentale Kirdie als solche macht keinen Versudi, das soziale Leben dem Gebot der Liebe anzunähern. Heiligkeit und soziale Reform werden nicht in Verbindung gebracht. Eine politische Revolution als religiöse Forderung wäre für den religiösen Sakramentalismus undenkbar. Dagegen sind Sakramentalismus und Konservatismus eng miteinander verbunden. Eine gewisse Art von Feudalismus und Konservatismus geht mit einer sakramentalen Haltung in der Religion zusammen. Im Gegensatz zum Sakramentalismus befaßt sich die Theokratie
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mit dem Versuch, den Willen Gottes zu verwirklichen. Man darf Theokratie nicht mit Hierarchie verwechseln. Letztere bedeutet „Herrschaft der Priester" und gehört zum sakramentalen Religionstyp. Erstere gebraucht politische Macht, um soziale Institutionen und persönliche Moral in Ubereinstimmung mit den göttlidien Geboten zu bringen. In der Religion des Alten Testaments hat die Theokratie ihren größten Versuch unternommen, ein Volk in seiner gesellschaftlichen und persönlichen Moral unter das Gericht Gottes zu stellen. Innerhalb des Christentums war der Puritanismus der bedeutendste Versuch, eine Theokratie aufzurichten, das heißt, eine Gesellschaft zu schaffen, die auf allen Gebieten die Gebote des Reiches Gottes zu erfüllen sucht. Deshalb maß der puritanische Calvinismus dem Alten Testament überragende Bedeutung zu. Die Verordnungen zur Heilighaltung des Sonntags, die Trinkverbote, die Gesetze gegen Spiel und Müßiggang, die genaue Regelung des Geschlechts- und Familienlebens entstammen diesem Bemühen. Die Bibel wird zur Richtschnur für das politische und soziale Leben gemacht. Die Heilige Schrift stellt eine vollkommene und maßgebende Anleitung für die Angelegenheiten aller Menschen dar. Nur Mitglieder der Kirche dürfen politisches Stimmrecht haben. Ein kirchlicher Beamter muß dafür sorgen, daß die religiösen Vorschriften im privaten und sozialen Leben eingehalten werden. Das Gemeindehaus dient zugleich als Ort für den Gottesdienst, für politische Diskussionen und als gesellschaftlicher Treffpunkt. Obwohl der echte Puritanismus in Amerika schon lange verschwunden ist, spürt man seine Auswirkungen noch heute in dem Streit um das Alkoholverbot, in dem Kampf gegen die Prostitution, in der Ablehnung des Krieges im allgemeinen und der Befürwortung des Krieges in dem besonderen Fall, in dem er als Kampf für das Reich Gottes gilt. Außerdem zeigt sich der Einfluß des Puritanismus in dem nodi immer starken Kirchenbesuch und in der Art der Predigt, die sich mit allen Angelegenheiten des politischen und sozialen Lebens befaßt (mit dem New Deal, dem schweren Leben der Matrosen, der chinesischen Revolution, dem mexikanischen Bürgerkrieg, der Wahl in New York und der Milchversorgung in Chicago). Die theokratischen Kirchen haben weniger den Charakter einer hegenden und umfassenden Mutter als den eines herrschenden und befehlenden Vaters. In ihnen wird das Heilige gesucht, es ist nidit gegeben, sondern hängt von der Entscheidung und Vervollkommnung des Menschen ab. - Eine Kirche, d. h. eine bestimmte Gemeinde, wurde von einer Gruppe von Christen gegründet, die sich in freiwilligem Einvernehmen zusammengeschlossen hatten. Die Mitgliedschaft wurde 111
von einer Prüfung abhängig gemacht, die einen gewissen Grad von moralischer und religiöser Vollkommenheit verlangte. Die Frage, ob Geburtsredit oder Wahl die Mitgliedschaft bestimmen soll, wurde ernsthaft diskutiert. Sie ist entscheidend für den religiösen Typ, zu dem eine Kirche gehört: Mitgliedschaft, die durch Geburtsrecht erworben ist, beruht auf der sakramentalen Realität der Taufe und weist auf den sakramentalen Typ hin; freie Entscheidung und Streben nadi Vollkommenheit als Bedingung für die Aufnahme in die Kirche ist bezeichnend für den theokratisdien Typ. Die europäischen Kirchen gehören fundamental und überwiegend zum sakramentalen Typ, die amerikanischen zum theokratisdien Typ. Ersterer hat soziale Funktionen nur indirekt, letzterer direkt und per definitionem. Es ist offensichtlich, daß der sakramentale Religionstyp ein autoritäres System in Staat und Kirche begünstigt, während die Theokratie zum Prinzip des demokratischen Führertums neigt. Der sakramentale Charakter macht die Autorität eines Menschen unabhängig von seinen intellektuellen und moralischen Eigenschaften. So kann der katholische Priester seine sakramentale Autorität selbst durch völlige persönliche Minderwertigkeit nicht verlieren. Nicht die persönliche Qualität, sondern die Stellung innerhalb der Hierarchie verleiht Autorität. Das gilt nicht nur für die Kirche, sondern auch für das gesellschaftliche und politische System, da dies ursprünglich nicht von dem religiösen getrennt war. So wurde das Feudalsystem in Europa dank einer besonderen göttlichen Vorsehung als heilig betrachtet. Der Kaiser ist „Kaiser von Gottes Gnaden", was besagt, daß er nicht seiner hervorragenden Eigenschaften wegen Kaiser ist, sondern weil die Vorsehung ihm diesen Platz zugewiesen hat. Infolgedessen ist er erhaben über alle menschliche Kritik, Meinung und Wahl. Seine Stellung beruht auf einem sakramentalen Fundament, und daran hat auch der Protestantismus nichts geändert. Im Gegenteil, die lutherische Sozialethik bestärkte den Glauben an eine irrationale, göttliche Vorsehung, die die irdischen Machthaber nach ihrem Willen beruft und verwirft, unabhängig von der Zustimmung des Volkes. Für ein deutsches Kind hatten Gott, König, Herr, Vater, Lehrer, Beamter und Polizist die gleiche Art Autorität; denn jede Autorität ist im Grunde heilige Autorität. Persönlicher Ungehorsam bedeutet noch nicht Kritik. In Amerika erfreuten sich nur die Kolonialgouverneure als Repräsentanten des englischen Königs einer solchen sakramentalen Autorität; aber das theokratische Prinzip des demokratischen Führertums stellte sich ihnen bald entgegen. Man darf das demokratische Führerprinzip nicht mit der egalitären Demokratie verwechseln. Das Presbyterium in der alten presbyteria112
nischen Kirche ist eine der eindrucksvollsten Verkörperungen des demokratischen Führerprinzips. Diese Gruppe von Geistlichen und Ältesten, die die Kirchengemeinde verwalten und dadurch in starkem Maße auch das gesellschaftliche Leben und sogar den Staat beherrschen, hat keine sakramentale Autorität. Persönliche Eignung ist die einzige Bedingung für die Aufnahme. Das Amt schützt den Geistlichen oder den Presbyter nicht vor Kritik und Angriff. Seine Stellung ist von der persönlichen Eignung und nicht von der durch das Sakrament verliehenen Gnade abhängig. Andererseits wird das Presbyterium nicht durch allgemeine Wahl bestimmt, sondern durch Zuwahl. Mit der Zugehörigkeit zum Presbyterium ist das Recht verbunden, für die Nachfolge zu sorgen. Die alten Presbytergemeinden, besonders in Massachusetts, lehnten den Liberalismus und die Demokratie in Kirche und Staat ab. Die Demokratie kann nicht vom echten Calvinismus abgeleitet werden. Trotzdem kann das Prinzip des demokratischen Führertums als Ubergang zur Demokratie dienen. Es ist ein unbeständiges Prinzip, das von der Richtung der Zeit abhängig ist. Es kann entweder als Protest gegen sakramentale Autoritäten auftreten oder als Protest gegen die egalitäre Demokratie. Im ersten Fall führt es mit dialektischer Notwendigkeit zur wirklichen Demokratie: denn das Prinzip der Kritik macht, wenn es sich einmal durchgesetzt hat, vor keiner führenden Gruppe halt. Im zweiten Fall führt es mit dialektischer Notwendigkeit zu einer neuen sakramentalen Autorität. Denn das Prinzip der Autorität, einmal im Kampf gegen die Demokratie eingeführt, muß um seiner Selbsterhaltung willen sakramentale Würde annehmen. Hier liegt der Grund für die überraschende Ähnlichkeit des puritanischen Calvinismus mit dem modernen Faschismus. Beide repräsentieren das Prinzip des demokratischen Führertums und sind unbeständig wie dieses, aber sie führen in entgegengesetzte Richtungen. Die amerikanische Demokratie entstand als Gegenbewegung gegen das presbyterianische Prinzip der demokratischen Führerschaft. Ihre geistige Macht beruht auf dem religiösen Individualismus, der wiederum zwei Quellen hat: die Lehre vom Naturrecht und den religiösen „Spiritualismus". Letztlich aber gehen diese beiden auf eine gemeinsame Quelle zurück, nämlich das Prinzip der Identität von göttlichem und menschlichem Geist. Die Identität kann entweder als Identität in der Vernunft verstanden werden, wie im Stoizismus, oder als Identität im Geist, wie in der Mystik. Um die Beziehung von Mystik und Demokratie zu verstehen, müssen wir zwei verschiedene Arten von Mystik unterscheiden: die Mystik, in der der Einzelne untergehen soll, 113
und die Mystik, in der der Einzelne sich verwirklichen soll. Die erste ist neuplatonisch und ist in den Katholizismus eingegangen; die zweite ist sektiererisch und ist vom Protestantismus übernommen worden. Nur die zweite Form der Mystik konnte offensichtlich Einfluß auf das soziale Leben gewinnen, während die erste Form über die soziale Sphäre hinausführt. Im Jahre 1717 erklärte John Wise, daß das Naturredit, in dem sich der Wille des göttlichen Schöpfers ausdrücke, in der christlichen Gemeinde verwirklicht sei. Seine Behauptung, daß die Gewalt vom Volke ausgehe und daß durch das Naturrecht alle Menschen frei geboren seien, wurde zuerst auf die Kirche angewandt, um den Kongregationalismus zu rechtfertigen, dann aber auch auf das soziale Leben im allgemeinen. Der Kongregationalismus wurde die eigentliche Stütze der demokratischen Partei, während der Presbyterianismus sich der republikanischen Partei verband. Der Gedanke, daß der ursprüngliche Schöpfungszustand in der christlichen Gemeinde wiederhergestellt sei, ist „spiritualistisch" und hat eine Analogie im Sektierertum des späten Mittelalters und der Reformation. Die Gedanken dieser Gruppen wurden in Amerika zuerst von Roger Williams und den Baptisten von Rhode Island eingeführt. Sie verteidigten den Gedanken der Toleranz gegen die religiöse Diktatur des Puritanismus. In dem Verlangen nach Erwachsenentaufe an Stelle der Kindertaufe spricht sich der Wunsch aus, selbständig und frei über die Zugehörigkeit zu einer Religion zu entscheiden. Der religiöse Individualismus fand seinen radikalsten Ausdruck bei den Quäkern und ihrer Lehre vom „inneren Licht", das jeden richtig lenkt, der dem göttlichen Geist offen ist. Durch ihre Identifizierung des inneren Lichts mit der Stimme des Gewissens stellen die Quäker in sehr eindrucksvoller Weise den Ubergang von der mystischen zur rationalen Form des Identitätsprinzips dar. Dieser Haltung entspringen absolute Toleranz, Pazifismus und Demokratie, die alle sowohl mystische wie rationale Elemente enthalten. Vielleicht dürfen wir einen Zusammenhang sehen zwischen der absoluten Toleranz, wie sie die Quäker als „heiliges Experiment" üben, und dem dynamischen Liberalismus, der selbst erfolglose Experimente der Sicherheit eines stabilisierten Systems vorzieht. Der religiöse Individualismus empfing eine gewaltige Unterstützung durch die Ausbreitung des Methodismus, vor allem in den neu gewonnenen westlichen Gebieten Nordamerikas. Sein Drängen auf persönliche Bekehrung, seine Kritik an der Prädestinationslehre, seine Lehre von der Willensfreiheit und sein Glaube an die allgemeine Fähig114
keit des Menschen, sich von der Vernunft leiten zu lassen, gaben dem demokratischen Empfinden neue und entscheidende Impulse. Obwohl die Methodisten innerhalb der Kirche am religiösen Führerprinzip festhielten, haben sie weitgehend die demokratische Ideologie der „Grenze" (der sich dauernd verschiebenden Siedlungsgrenze gegen Natur und Eingeborene) begründet. Verwandt mit den Quäkern, wenn auch weniger individualistisch, sind kirchliche Gruppen, wie die sogenannte „Church of Christ" und die „Disciples", die jede spezifische Konfession ablehnen und auf die ursprüngliche christliche Lehre zurückgehen wollen. Ein solcher Versuch bedeutet eine Rationalisierung des Christentums, denn die Kritik an den spezifischen Konfessionen läßt schließlich nur noch ein allgemeines religiöses Prinzip bestehen, eine rationale Religion, die eine rationale Moral, die Demokratie und den Fortschrittsglauben unterstützt. Die europäische Haltung zu Toleranz und Demokratie ist völlig verschieden von der amerikanischen. Die sakramentalen Autoritäten, die religiösen wie die säkularen, die Protestanten wie die Katholiken, sahen im aufkommenden Spiritualismus und im religiösen Individualismus eine große Gefahr. Deshalb wurden die Baptisten-Gemeinden und die anderen Gruppen der spiritualistischen Bewegung so heftig verfolgt, daß sich nur wenige Reste nach England retten konnten und es ihnen nur in Amerika gelang, große Gemeinden zu gründen. Dies erklärt die wichtige Tatsache, daß in Europa die Demokratie keine religiöse Fundierung hat. In Amerika konnte die Erklärung der Menschenrechte Bezug nehmen auf die ursprünglichen Ideen seiner großen Kirchen, während in Europa die gleichen politischen Manifeste betont antireligiös waren und bis heute von keiner Kirche sanktioniert worden sind. Die Schwäche der europäischen Demokratie ist zum großen Teil auf diesen Mangel an religiöser Fundierung zurückzuführen. N u r in England haben die sozialen Tendenzen des Anglikanismus und der Einfluß der liberalen Sekten eine andere Situation geschaffen. Wenn wir die religiösen Grundlagen für die verschiedenen Formen des Nationalismus untersuchen, finden wir, daß der aggressive Nationalismus Europas eine Transformation und Säkularisierung seines aggressiven Konfessionalismus ist, während der amerikanische Nationalismus vorwiegend den Charakter einer nationalen Befriedung hat, die der konfessionellen Befriedung in der neuen Welt entspricht. Die Idee einer religiösen Berufung steht in Verbindung mit dem aggressiven Nationalismus in Europa. England glaubte sich zur Zeit Cromwells dazu berufen, den Protestantismus zu verteidigen und zu ver115
breiten und dadurdi der wahren Kirche und dem Reich Gottes zur Herrschaft zu verhelfen. Spanien, sein großer Feind, fühlte sidi berufen, die Einheit des Christentums wiederherzustellen und die Ketzerei auszurotten. Frankreich fühlte sidi berufen, die höchste und fortschrittlichste Zivilisation zu entwickeln und zu verbreiten, zunächst auf dem Boden des Katholizismus, dann in Verbindung mit der Aufklärung und der Revolution. Der russische Nationalismus erwudis aus dem Gefühl, dazu berufen zu sein, Europa durch das Christentum des Ostens und später durdi die Botschaft von der sozialen Gerechtigkeit zu retten. Der deutsche Nationalismus vereinigte Elemente des protestantischen Widerstandes gegen Rom mit der neuen Heilsbotschaft von „Blut und Boden". Die Meinung ist verbreitet, daß der Puritanismus zum Aufkommen des Kapitalismus beigetragen habe. Das ist aber nur in sehr beschränktem Sinne richtig. Es ist wahr, daß durdi den Puritanismus Arbeitsfreude und Sparsamkeit angeregt werden. Aber das bedeutet noch keine Förderung des Kapitalismus, denn nach alten calvinistischen Grundsätzen muß das ersparte Geld für die Gemeinde ausgegeben werden, mindestens in dem Maße, daß eine kapitalistische Anhäufung unmöglich gemacht wird. Dazu kommt eine starke Opposition gegen die Zinswirtschaft, die in der von Salmasius befürworteten Form von den calvinistisdien Kirdien abgelehnt wurde. Nicht der Puritanismus, sondern der radikale Liberalismus, wie er in der Proklamation der Menschenrechte zum Ausdruck kam, bestärkte die kapitalistische Haltung und ist verantwortlich dafür, daß die Warnung vor der Annahme von Zinsen aus dem kongregationalistischen Programm verschwand. Der Kapitalismus setzte sidi im neunzehnten Jahrhundert innerhalb der Kirchen durch, als er moderpe Geschäftsmethoden in die Kirchenverwaltung einführte. Der Einfluß der Laien wurde immer stärker, und die Kuratorien wurden in zunehmendem Maße zu einer wirtschaftlichen Madit. Kostspielige Kirchenbauten erhöhten die Abhängigkeit der Gemeinden von ihren reichen Mitgliedern. In dieser Entwicklung glaubte man eine „Sanktionierung des Wohlstandes" zu sehen. Sie setzte sich zuerst in den ursprünglich liberalen Kirchen durch, bei den Baptisten und Methodisten. In der Opposition gegen sie wurden dann neue Kirchen gegründet, zum Beispiel die „holiness churches", vor allem auf dem Land und in Kleinstädten, aber auch in gewissen Stadtteilen der Großstädte. Man kann sagen, daß Kapitalismus und Technik von der Religion sanktioniert wurden, weil man in ihnen die Mittel sah, mit deren Hilfe Amerika seine Sendung in Staat und Kirche erfüllen könnte. 116
In Europa hat die Kirche, besonders die lutherische und die katholische, der Technik, der Wissenschaft und der kapitalistischen Wirtschaft ein starkes Mißtrauen entgegengebracht. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ideale dieser Kirdien blieben im Grunde unberührt von dem aufkommenden Kapitalismus und der Technik. Der Katholizismus hielt an dem Ideal einer organischen Ordnung fest im Gegensatz zu dem Atomismus der bürgerlichen Ideen; und das Luthertum betonte im Sinne von Luthers Lehre die patriarchalische Ordnung der Gesellschaft. Andrerseits mußten katholische Parteien und Regierungen moderne Staaten unterstützen, und lutherische Nationen gingen zum Kapitalismus über, wobei die patriarchalischen Lebensformen immer mehr verschwanden. Aus dieser Situation ergab sich die Spaltung der großen europäischen Kirchen in ihrer Haltung zum Kapitalismus. Nur die reformierten Kirchen Westeuropas konnten sich ohne große Schwierigkeit den modernen Gesellschaftsformen anpassen, ohne den Kapitalismus zu verherrlichen oder zu sanktionieren. Man muß sich klarmachen, daß der religiöse Sozialismus in diesen Kirchen, in England, Holland und der Schweiz, als theokratische Reaktion gegen die zerstörerischen Folgen des Liberalismus begann. Im Grunde ist der Kapitalismus in Europa von der Religion niemals sanktioniert worden; es gibt hier keinen „religiösen Kapitalismus", wie wir ihm immerhin als Tendenz in Amerika begegnen. Der marxistische Sozialismus in Europa stand von Anfang an in Opposition gegen die Kirchen. Marx hatte die Religion als „Opium fürs Volk" bezeichnet, das heißt als ein Mittel, den revolutionären Geist der Massen durch Vertröstung auf das Jenseits zu beruhigen. Tatsächlich ist die Kritik an dem sakramentalen Religionstyp bis zu einem gewissen Grade berechtigt. Wenn die Gegenwart als heilig betrachtet wird, liegt kein Grund vor, sie in eine bessere Zukunft zu verwandeln. Weder die griechisch-orthodoxe, noch die römisch-katholische, noch die lutherische Kirche hatten eine Sozialethik geschaffen, die der Marxismus als Grundlage für die proletarische Revolution übernehmen konnte. Und der Calvinismus hatte sich dem Kapitalismus insofern angepaßt, als das liberale Element in ihm das theokratische unterdrückt hatte. Die Ablehnung des marxistischen Sozialismus durch die Kirche schuf die ungeheure Kluft zwischen Christentum und Arbeiterbewegung, durch die sich die Lage Europas mit Ausnahme Englands kennzeichnet. Der religiöse Sozialismus, der diese Kluft zu überbrücken suchte, mußte sowohl gegen den Sakramentalismus wie gegen den Liberalismus kämpfen. Zwischen diesen beiden Gegnern wurde er aufgerieben, und der Sozialismus steht vor dem gleichen Schicksal. 117
Um die Haltung der amerikanischen Kirchen zum Sozialismus zu verstehen, tut man gut, einen Blick auf die Einstellung der Kirchen zum Sklaven-Problem zu werfen. Während der Katholizismus und die anglikanische Kirche als sakramentale Kirchen der Auffassung waren, daß die Sklaven-Frage nicht ihr Problem sei, da sie das zeitliche und nicht das ewige Leben betreffe, spalteten sich die anderen Kirdien in dieser Frage. Das Christentum vertritt keinen eindeutig ablehnenden Standpunkt der Sklaverei gegenüber, auch nicht das Neue Testament, das überhaupt in allen sozialen Fragen konservativ ist. Wenn die christliche Theologie ganz allgemein auch zugibt, daß Sklaverei sowie Krieg, Strafe, Gewalt und Armut ein Übel seien, so glaubt sie doch, daß dieses Obel als unabänderlich hingenommen werden müsse, als Folge und Strafe für begangene Sünden. Die göttliche Vorsehung mache einige Menschen zu Herren und andere zu Sklaven; in jedem Fall sei das geschichtliche Schicksal des Menschen ohne Bedeutung für seine transzendente Bestimmung. Die Schwierigkeit, diese Gedanken vom christlichen Standpunkt zu widerlegen, macht die zweideutige Haltung der Kirchen verständlich. Schließlich haben weder der Sakramentalismus noch die Theokratie die Sklaverei abgeschafft, sondern der Glaube an die Menschenrechte. Die Quäker waren die ersten, die die Sklavenhalter aus ihren Gemeinden auswiesen. Die egalitäre Ideologie, die sich aus der Lehre vom „inneren Licht" entwickelte, das alle Menschen gleichmäßig erleuchtet, gab den entsdieidenden geistigen Antrieb für den Kampf gegen die Sklaverei. Aber die gleiche Haltung, die zur Befreiung der Sklaven führte, verhinderte die Emanzipation der Arbeiter aus ihrem Klassenschicksal und die Organisation der Produktion zum Nutzen aller Menschen. Sie verhinderte den Sozialismus, der als Massenbewegung einerseits ein demokratisches Führertum, andrerseits sakramentale Symbole brauchte. Deshalb ist die Vereinigung von sakramentalen und theokratischen Elementen eine bessere Basis für den religiösen Sozialismus als der Liberalismus der ursprünglich spiritualistischen Kirchen und Bewegungen. In der episkopalen Kirche gibt es Tendenzen, die den Sozialismus begünstigen. Dies gilt aber mehr für England als für Amerika, wo trotz der Entwicklung, die der Kapitalismus durchgemacht hat, die soziale und wirtschaftliche Lage der liberalen Ideologie mehr entspricht als in Europa. Die Verbindung des Katholizismus mit dem Sozialismus in Deutschland ist bekannt, und das deutsche Luthertum schuf die ideologische Grundlage für ein soziales Fürsorgesystem, wie es sich in Deutschland und in den letzten Jahren auch in Amerika herausgebildet hat. Aus allen diesen Gründen glaube ich, daß der Sozialismus, der 118
religiöse wie der nicht-religiöse, durch die europäischen Kirchen nicht weniger begünstigt worden ist als durch die amerikanischen. Andrerseits muß man zugeben, daß weder vom Sakramentalismus noch von der Theokratie ein unmittelbarer Weg zum Sozialismus führt. Ohne die Idee der Menschenrechte und ihre religiösen Grundlagen ist kein Sozialismus möglich, weder in Theorie noch Praxis. Erst durch diese Idee erhält die sozialistische Bewegung ihr Ziel, nämlich das Streben nach Gerechtigkeit für alle. So finden wir sowohl in den europäischen wie den amerikanischen Kirchen Elemente, die den Sozialismus fördern, aber von keiner der Kirchen führt ein direkter Weg zum Sozialismus. Im allgemeinen kann man sagen, daß die amerikanischeil Kirchen viel offensichtlicher und bewußter als die europäischen Kirchen an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligt sind. Die soziale Funktion der europäischen Kirchen ist - ihrer sakramentalen Wesensart entsprechend - latenter und indirekter Art. Infolgedessen werden die europäischen Kirchen Europa kaum vor der drohenden Selbstzerstörung retten können; aber sie bewahren inmitten der Katastrophe ein Reich, in das sich Einzelne und Gruppen aus dem unlösbaren Konflikt der Zeit zurückziehen können. Die Kirchen in Amerika dagegen können zwar ihre religiöse Aufgabe im sozialen und politischen Leben erfüllen, aber in ihrem gegenwärtigen Zustand verkörpern sie keinen Wert, der das soziale Leben transzendiert, und es ist fraglich, ob sie der neuen Gesellschaftsordnung, die nach der endgültigen Krise des Kapitalismus zu erwarten ist, eine religiöse Grundlage zu geben vermögen. Ich bin mit Absicht nicht auf die soziologischen und wirtschaftlichen Probleme eingegangen, die mit meinem Thema zusammenhängen, obwohl ich weiß, daß die sozialen Funktionen der Kirchen nicht vollkommen verstanden werden können, ohne ihre soziale Struktur und ihre wirtschaftliche Grundlage zu erwägen und auf die Gesellschaftsordnung einzugehen, der sie angehören. Diese wiederum können nicht verstanden werden, ohne daß man die Ideen und Symbole, die Haltungen und Tätigkeiten kennt, in denen eine soziale Gruppe ihr Wesen verwirklicht und zum Ausdruck bringt. Auf diese Aufgabe habe ich mich hier beschränkt.
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5. D E R A N G R I F F DES DIALEKTISCHEN MATERIALISMUS AUF DAS C H R I S T E N T U M Es ist weder wichtig noch interessant, über den Angriff des undialektischen Materialismus oder des populären Marxismus auf das Christentum zu sprechen. Der erste - den man auch als metaphysischen Materialismus bezeichnen kann - hat nicht nur jeden philosophischen und wissenschaftlichen Kredit verloren, sondern ist auch als populäre Gedankenform im Verschwinden begriffen. Der zweite hat nicht nur in Rußland, sondern auch überall sonst eine starke agitatorische K r a f t im K a m p f gegen das Christentum behalten, aber er zieht diese K r a f t weniger aus seinen sachlichen Argumenten als aus einer ererbten, kaum noch reflektierten Feindschaft der radikalen Bewegungen gegen die Kirchen. Der ursprüngliche tiefe Sinn dieser Gegnerschaft klingt zwar in den Angriffen, zum Beispiel der kommunistischen „Gottlosenbewegung" noch durch, ist aber so überdeckt durch Propaganda und politischen Haß, daß es sinnlos ist, auf diesem Boden zu argumentieren. Ernst zu nehmen und von höchstem Interesse ist dagegen der Angriff des „dialektischen Materialismus" auf das Christentum. Obgleich er zur Zeit im öffentlichen Bewußtsein durch die neuheidnisch-nationalistischen Bewegungen zurückgedrängt ist, hat er sachlich viel größere Bedeutung für das Christentum als jene, weil seine Wurzeln tiefer und dem Christentum näher liegen. Unter „dialektischem Materialismus" ist hier diejenige philosophisch-soziologische Theorie verstanden, die im Anschluß an Marx' dialektische Analyse des Kapitalismus gesellschaftliche und geistige Strukturen vom Wirtschaftlichen her zu verstehen sucht, dabei theoretische Analyse und praktischen Willen zur Umgestaltung vereinigt und sich in letzter Zeit durch Elemente aus der psychoanalytischen Theorie bereichert hat. Der Verfasser dieses Aufsatzes schreibt nicht als ein Vertreter des Christentums, der die Angriffe des dialektischen Materialismus abzuwehren hat, sondern als jemand, der Christentum und dialektischen Materialismus in sich zu vereinigen sucht und für den der Gegensatz beider ein dynamisches Element seiner eigenen Gedankenbewegung ist. Zur Klärung der Begriffe sei noch gesagt, daß „Materialismus" in diesem Zusammenhang eine Theorie bedeutet, die auf die menschlichen Produktivkräfte und ihre gesellschaftliche Formung als „Materie" des geschichtlichen Prozesses zurückgeht und damit eine idealistische Geschichtsdeutung ausschließt. „Dialektisch" ist dieser Materialismus, wenn er erstens die Ganzheit einer gesellschaftlichen Struktur mit ihren 120
inneren Widersprüchen und Tendenzen in Betracht zieht und damit einen primitiven Positivismus ausschließt; wenn er zweitens die Freiheit des menschlichen Wirkens auf das natürlich und gesellschaftlich Gegebene gegenüber einem primitiven Naturalismus aufredit erhält; und wenn er drittens, in kritischer Haltung gegen die herrschenden Mächte, den gestaltenden Willen in die Theorie aufnimmt und damit eine schein-wissenschaftliche Uninteressiertheit ablehnt. Mit einem solchen Gegner - der zugleich Kampfgenosse in vielen Richtungen ist zu kämpfen, ist von entscheidender Wichtigkeit für die christliche Theologie. Ein Sieg an dieser Stelle schließt grundsätzlich den Sieg über alle gröberen, popularisierten und propagandistischen Formen des marxistischen Angriffs auf das Christentum ein. I. Der Angriff in der politischen
Sphäre
Der dialektische Materialismus behauptet, daß das kirchlidie Christentum sich mit den jeweils herrschenden politischen Mächten verbinde und sich dadurch in Gegensatz zu den revolutionären Bewegungen stelle, die im Namen der Gerechtigkeit eine auf Klassengegensätzen beruhende Gesellschaftsstruktur ändern wollen. Das gelte von der feudalen Periode mit ihrer kirchlich sanktionierten Ausbeutung der Bauern wie von der kapitalistischen Periode mit ihrer kirchlich sanktionierten Ausbeutung der Arbeiter und der Kolonialvölker. Als Tatsachenbeweis aus der neueren Geschichte wird auf die zaristische Orthodoxie einerseits, den bürgerlichen Calvinismus andererseits und den Kampf beider gegen die Arbeiterbewegung hingewiesen. In der Gegenwart wird als Bestätigung aufgefaßt die einseitig profaschistische Haltung des Vatikans im spanischen Bürgerkrieg, der österreichische Austrofaschismus mit seiner blutigen Unterdrückung der österreichischen Arbeiterbewegung, die Konkordate mit den faschistischen Diktaturen, die Schwäche des deutschen Episkopats, der jahrelang auf ein antisozialistisches Bündnis mit den Nationalsozialisten gewartet hat. Es wird ferner die völlige Gleichgültigkeit aller deutschen Kirchen gegenüber der Sozialisten- und Judenverfolgung als Beweis benutzt für die Interessensolidarität der Kirchen und des Nationalsozialismus (außer in innerkirchlichen Dingen). Der Hinweis auf die soziale Struktur von Kirchen wie der anglikanischen, die jeden ernsthaften Willen zu sozialer Umstrukturierung ausschließt, mag diese Reihe von Argumenten beschließen. Es wird aus ihnen gefolgert, daß - ganz gleich, wie das Christentum ursprünglich und grundsätzlich zur Idee der sozialen Gerechtigkeit steht - das kirchliche Christentum notwendig die Partei 121
der jeweils herrschenden politischen Mächte gegen die revolutionären Bewegungen von unten nimmt. Es ist nicht ausreichend, wenn das Christentum demgegenüber auf die antichristlidie und antikirchliche Haltung der revolutionären Bewegungen hinweist. Denn erstens trifft es nicht zu, daß alle diese Bewegungen antireligiös waren. Sie wurden es erst im 19. Jahrhundert, teils aus Gründen, die in der Entwicklung des bürgerlichen Geistes liegen, teils wegen der einseitigen Stellungnahme der Kirchen gegen diese Bewegungen. Zweitens besagen kirchenfeindliche Ausbrüche und Brutalitäten, wie sie die bürgerlichen und kommunistischen Revolutionen begleitet haben, sehr viel für die Vergangenheit, aber sehr wenig für die Zukunft. Jedenfalls würden sie nur dann grundsätzliche Ablehnung rechtfertigen, wenn die Prinzipien unvereinbar wären, was durch Gewalttaten an sich noch nicht bewiesen ist. - Unzulänglich ist auch die Verteidigung des Christentums durch Hinweise auf seine soziale Tätigkeit, zum Beispiel die Werke der Inneren Mission. Demgegenüber kann nämlich immer gesagt werden, daß solche Tätigkeit zwar den Opfern der gesellschaftlichen Ausbeutung Hilfe gewährt, aber die Ausbeutung selbst bestehen läßt, ja daß solche - unumgänglich notwendige - Hilfe das System festigt, "indem es in vielen Fällen seine schlimmsten Konsequenzen abwendet. Die Verteidigung des Christentums gegen die erwähnten Angriffe ist nur möglich, wenn die Tatsachen, auf denen die Angriffe beruhen, anerkannt, verurteilt — und aus der Struktur jeder geschichtlichen Religion verständlich gemacht werden. Sobald eine Religion über ihre sektenhaften Anfangsstadien hinauswächst, entsteht ein bewußter und unbewußter Assimilationsprozeß, durch den die Kirche - und jede Sekte wird Kirche, wie jede Kirche einmal Sekte war - in die gegebene Gesellschaftsstruktur und ihre Herrschafts Verhältnisse eingeht. Dieser Vorgang an sich kann weder dem Christentum noch irgendeiner anderen weltanschaulichen Gruppe zur Last gelegt werden. Die Frage ist nur, wie stark die kritischen Kräfte bleiben, die sich im Namen der ursprünglichen Prinzipien gegen die soziologischen und politischen Folgen der „ Verkirchlichung" wenden. Nicht die Assimilation und die gesellschaftlichen Verhältnisse einer Epoche, sondern der Mangel an prophetischem Protest gegen die Folgen dieser Assimilation sind Gegenstand eines begründeten Angriffs gegen das Christentum. Dieser Angriff aber ist selbst ein christlicher Angriff, ganz gleich, ob er von innen oder außen kommt. Schließlich kann das Christentum zum Gegenangriff übergehen und 122
zeigen, daß auch die Bewegungen für soziale Gerechtigkeit ihr „Sekten"- und ihr „Kirchenstadium" haben und darum notwendigerweise den gleichen Spannungen und Verzerrungen unterliegen - das russische Beispiel sagt hier alles - wie die christlichen Kirchen. II. Der Angriff in der psychologischen
Sphäre
Der Angriff des dialektischen Materialismus in der politischen Sphäre hat größtes praktisch-propagandistisches Gewicht, da er sich auf immer neue Tatsachen stützen kann, theoretisch dagegen ist er leicht widerlegbar. Umgekehrt ist es mit dem Angriff in der psychologischen Sphäre. Der Begriff der „Ideologie" ist die stärkste geistige Waffe, die der dialektische Materialismus gegen das Christentum wie gegen die bürgerliche Weltanschauung geschmiedet hat. Eine Theologie, die nicht imstande ist, dieser Waffe zu widerstehen, ist verloren, besonders seitdem der ursprünglich rein soziologische Begriff durch die Psychoanalyse seine psychologische Fundierung gefunden hat*. Der Grundgedanke der Ideologie-Lehre ist, daß sich bestimmte seelische und gesellschaftliche Strukturen einen Ausdrude verschaffen, dem keinerlei objektive Gültigkeit zukommt, sondern nur subjektive Überzeugungskraft. So wird der Begriff der Transzendenz als utopischer Ausdruck einer unbefriedigenden seelischen oder einer unbefriedigenden gesellschaftlichen Lage gedeutet, der Gott-Vater-Gedanke wird als Symbolisierung der autoritativen Tendenzen in Gesellschaft, Familie und Einzelnen gedeutet, der Wunsch nach „Frieden der Seele" als Ausdruck einer Flucht aus der geschichtlichen Wirklichkeit, die Ruhe und Befriedigung nicht gewähren kann. Besondere Schärfe nimmt die antiideologische Kritik gegenüber religiösen Begriffen an, die unmittelbare soziale und politische Konsequenzen haben und darum von Machtgruppen unbewußt - oder gelegentlich auch bewußt - benutzt werden, * Es ist interessant zu bemerken, daß der dialektische Materialismus sich hier auf den dialektischen Idealismus berufen kann, nämlich auf Hegel, der in seinen Jugend-Fragmenten zu zeigen versucht, wie die sozialen und politischen Verhältnisse im späten Rom die Transzendenz des Göttlichen, das Sündengefühl und das Gnadenbedürfnis geschaffen haben. D a ß Hegels späteres System die christliche Transzendenz aufhob, machte den Versuch Feuerbachs möglich, die transzendenten Elemente des Christentums psychologisch zu erklären und zu beseitigen. Marx ging dann wieder auf den Ansatz des jungen Hegel zurück und verdrängte die psychologische durch die soziologische Auflösung der transzendenten Symbole. Aber das psychologische Element ist unentbehrlich und hat sich im gegenwärtigen Stadium des dialektischen Materialismus wieder Geltung verschafft.
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um ihre Madit zu fundieren. Das gilt von der Lehre vom göttlichen Segen, der sich in wirtschaftlichem Erfolg ausdrückt und als ein Zeichen gewertet wird, daß einzelne Völker oder Rassen von Gott erwählt seien. Das trifft besonders auf die calvinistischen Länder zu, während im Luthertum die Gehorsamspflicht gegen jede Obrigkeit und unter allen Umständen außer im Religiösen dem politischen Absolutismus und den ihn stützenden Wirtschaftsmäduen ideologische Dienste leistet. Was die Lehre von der himmlischen und irdischen Hierarchie zur Stützung des Feudalismus geleistet hat, scheint den polemischen Gebrauch des Ideologie-Begriffs ebenso zu rechtfertigen wie die Uberdeckung der Greuel der wirtschaftlichen Ausbeutung durch den liberalidealistischen Humanismus des Bürgertums. Der Angriff auf das Christentum in der psychologischen Sphäre vollzieht sich also, in spezieller und in allgemeiner Form, gegen bestimmte Ideen, die als ideologisch denunziert werden, und gegen das Religiöse überhaupt als Ideologie. In Verteidigung gegen diesen Angriff darf das Christentum den Ideologie-Begriff selbst nicht in Frage stellen. Die Berufung auf religiöse Erfahrung hilft ihm gegenüber gar nichts, da er ja gerade behauptet, daß die Art, wie und was „erfahren" wird, von bestimmten seelischen und gesellschaftlichen Strukturen abhängig ist. Die christliche Theologie darf auch nicht meinen, das Problem der Ideologie-Bildung wäre durch Selbstprüfung des christlichen oder kirchlichen Bewußtseins zu lösen. Denn nicht der Zynismus ist gefährlidi, der Ideologien bewußt gebraudit, sondern der gute Wille und die ehrliche Uberzeugung, die Werkzeuge unbewußter Mächte sind. Es ist darum nötig, den Begriff der Ideologie nicht nur anzunehmen, sondern ihn noch zu vertiefen im Sinne der prophetischen Verkündigung, daß jeder „selbstgemachte" Gott ein Götze ist und jede Lehre, die im Dienste eines Machtwillens steht, falsche Prophetie ist. Der Ideologiebegriff wurzelt in den tiefsten Schichten der christlichen Lehre vom Menschen. Darum muß er selbst benutzt werden, um das Christentum gegen ihn zu verteidigen. Es muß zunächst gezeigt werden, daß nur der spezielle Ideologiebegriff sinnvoll ist, da der allgemeine sich selbst aufhebt: Wenn alles nur Ideologie ist, dann kann die Frage mit Recht (und nicht nur als logischer Trick) gestellt werden, Ausdruck welches gesellschaftlichen und seelischen Seins die Ideologie-Lehre sei. Um so ernster muß die spezielle Ideologielehre genommen werden, und es muß in jedem einzelnen Fall untersucht werden, ob es sich um den bewußten oder unbewußten Mißbrauch einer wahren Idee als Ideologie handelt, ob die Idee Elemente hat, die in sich selbst ideologisch sind 124
und ausgestoßen werden müssen, ob die Idee als ganze ideologischen Charakter hat und vom Christentum ausgeschieden werden muß. Die einzige wirksame Waffe gegen den Vorwurf der Ideologie ist der konstante Ideologie-Verdacht des Christentums gegen sich selbst. Audi in dieser Sphäre ist ein Gegenangriff möglich: Der IdeologieVerdadit muß auch gegen den dialektischen Materialismus gerichtet werden, sobald er die Überzeugung Einzelner oder einer Gruppe geworden ist. Die Entstehung von Ideologien im schlechtesten Sinne des Wortes ist in den sozialistischen Bewegungen nicht weniger offensichtlich als im Christentum. Alles menschliche Bewußtsein steht unter diesem Verhängnis. III. Der Angriff in der philosophischen
Sphäre
Der dialektische Materialismus ist im allgemeinen geneigt, Religion überhaupt als Ideologie zu bezeichnen. Der Grund dafür ist weder eine allgemeine Ideologie-Lehre, in deren Ablehnung Christentum und dialektischer Materialismus einig sind. Der Grund liegt auch nicht in dem speziellen ideologischen Mißbrauch, dem die Religion wie jede andere Idee ausgesetzt ist. Sondern er liegt in der philosophischen Kritik der Möglichkeit religiöser „Gegenstände", worin der dialektische Materialismus den kritischen und positivistischen Bestreitungen der Religion folgt. Sind aber die Inhalte des religiösen Bewußtseins als gegenstandslos erwiesen, so bleibt nur die subjektiv-ideologische Erklärung der Religion übrig. Es ist unmöglich, an dieser Stelle auf die philosophische Kritik der religiösen Inhalte einzugehen, zumal diese Kritik sich immer auch gegen die Metaphysik richtet und eine durchgeführte Erkenntnistheorie voraussetzt. Der Erfolg dieser Kritik liegt vor aller Augen in dem Säkularisierungsprozeß nicht nur der christlichen Völker, sondern der ganzen Menschheit. Andererseits kann auch der Erfolg der christlichen und allgemein-religiösen Verteidigung nicht bezweifelt werden: Die religiösen Gruppen erweisen sich immer wieder als überraschend stark und sind an vielen Stellen zur Offensive übergegangen. Das ist die allgemein-philosophische Lage, in der der dialektische Materialismus auf der kritischen Seite steht. Was uns hier allein beschäftigen kann, ist die Frage, ob diese Stellungnahme mit Notwendigkeit aus den Prinzipien des dialektischen Materialismus folgt. Die christliche Theologie würde sich jeder Möglichkeit eines Gespräches mit dem dialektischen Materialismus berauben, wenn sie diese Frage einfach bejahte. Sie würde dem Gespräch die Ernsthaf125
tigkeit nehmen, wenn sie die Frage einfach verneinte. Sie muß anerkennen, daß folgende drei Forderungen des dialektischen Materialismus an die christliche Theologie unerläßlich sind: Die christliche Theologie muß ihr Bündnis mit einer idealistischen Metaphysik lösen, die das Dasein als Erscheinung des Wesens oder der Idee deutet und damit der Idealisierung des Gegebenen und einem antirevolutionären Konservativismus Vorschub leistet. Die christliche Theologie muß weiter jede Fassung der Transzendenz aufgeben, die das unbedingte Gewicht der geschichtlich sozialen Verwirklichung abschwächt zugunsten einer jenseitigen „Utopie" und einer individuellen Erlösung. Dies schließt die dritte und grundsätzlichste Forderung ein: Die christliche Theologie muß deutlidi machen, daß sie nicht eine zweite Welt neben oder über der Erfahrungswelt postuliert, sondern daß ihre Inhalte Symbole für den transzendenten Sinn der einen Erfahrungswelt sind; daß darum die Glaubensinhalte nicht als Gegenstände mit besonderem Seinscharakter, sondern als Repräsentanten des erlebten Sinnes unseres Daseins verstanden werden müssen. Wenn das geschieht, ist dem Angriff auf die metaphysisch-mythische „Hinterwelt" der Religion der Boden entzogen und an seine Stelle die Frage nadi dem erlebten Sinn und seinem zutreffenden symbolischen Ausdruck getreten. Das Gespräch ist aus der metaphysischen auf die religiöse Ebene übergegangen. Auf dieser Ebene aber kann die christliche Theologie wieder die Gegenoffensive ergreifen und zeigen, daß solche Sinn-Erlebnisse und Sinn-Symbole im dialektischen Materialismus - seinem Pathos, seiner Kritik, seinem Gestaltungswillen und seinen Grundbegriffen - enthalten sind. Sie könnte weiter zeigen, daß ein offenes Eingeständnis und bewußte Durcharbeitung dieser Elemente für die Wahrheit und Wirksamkeit des dialektischen Materialismus ebenso notwendig sind wie die Überwindung der metaphysisch-mythisdien Elemente in der christlichen Theologie. IV. Der Angriff in der religiösen Sphäre Der Fortschritt des Gedankens von einer relativ oberflächlichen zu einer relativ tieferen Schicht hat vom Politischen zum Psychologischen, vom Psychologischen zum Philosophischen und schließlich im Philosophischen selbst zum Religiösen getrieben. Der Angriff des dialektischen Materialismus auf das Christentum erweist sich letztlich als ein religiöser Angriff. Nach den vorhergehenden Bemerkungen bedeutet „religiös" nicht die Postulierung transzendenter Gegenstände, sondern die Erfahrung des transzendierenden Sinnes unserer Existenz und den Ausdruck dieser Erfahrung in Symbolen und Handlungen. Ein reli126
giöser Angriff auf das Christentum kann demnach nur bedeuten die Entgegensetzung einer anderen letzten Sinnerfahrung gegen die christliche und demgemäß eine Ablehnung der Symbole und Handlungen, in denen das Christentum seine Erfahrung ausdrückt. Ein solcher Angriff wird vom dialektisdien Materialismus im Namen eines „sozialen Heroismus" unternommen, der heute als der einzige gleichwertige Gegner des Christentums angesehen werden muß. Der „soziale Heroismus" vereinigt zwei Elemente: Er ist Heroismus, aber nicht um seiner selbst, sondern um der sozialen Gerechtigkeit willen. Als Heroismus geht er auf stoische Wurzeln zurück, als sozialer Heroismus entstammt er der altprophetischen Verkündigung. Der soziale Heroismus stellt das soziale Glück, das Glück der vielen als Ziel menschlichen Handelns hin. Für dieses Ziel aber verlangt er eine Hingabe, die unter bestimmten Umständen völligen Glücksverzicht in sich schließt und unter allen Umständen eine jenseitige Erfüllung ablehnt. Daher wird das Streben nach einer Sinnerfüllung, die den Einzelnen von der sozialen Wirklichkeit loslöst, abgelehnt. Die christliche transzendente Erlösungsidee, asketische Erhebung über die Existenz, Seelenpflege und Unsterblichkeitserwartung, aber auch humanistische Selbstformung werden abgelehnt: Glück, das ein bestimmtes Maß materiellen Glückes voraussetzt, kann und soll gesucht werden, aber immer im Zusammenhang mit der Glücksforderung für die vielen und unter der Bedingung, unter Umständen das eigene Glück voll zu opfern. Daß diese Haltung keine bloße Theorie ist, zeigt die lange und ständig sich fortsetzende Geschichte des sozialistischen und kommunistischen Märtyrertums. Das Christentum kann nicht behaupten, daß diese Haltung hoffnungslos und darum nihilistisch sei. Heroismus ist auch dann nicht Nihilismus, wenn er ohne transzendente Hoffnung ist. Vor allem mit einer Unsterblichkeits- oder Reinkarnationsmythologie kann der soziale Heroismus nicht überwunden werden. Dazu hat er zu viele christliche Elemente in sich, sowohl als Heroismus wie als sozialer Heroismus. Dazu hat er zu viel Glauben in sich, Glauben nämlich an den aufopfernden Kampf für das Glück der vielen, der Kommenden, als Lebenssinn. Es ist audi falsch zu sagen, daß hier nur Ethik und nicht Religion vorläge. Abgesehen davon, daß diese Trennung nirgends möglich ist, enthält der Heroismus des Sozialen offenbar die Beziehung auf einen letzten Lebenssinn, also das Religiöse, in sich. Es ist endlich nicht möglich, den sozialen Heroismus als Eudämonismus abzulehnen. Er ist Eudämonismus, aber für die „anderen"; für den Einzelnen nur durch Einschluß in die soziale Einheit, sofern er nicht durch den Kampf 127
für das Glück der anderen gerade vom eigenen Glüdk ausgeschlossen ist. Nur dieses kann von der christlichen Theologie in Verteidigung und Angriff gegen den sozialen Heroismus des dialektischen Materialismus gesagt werden: Der Glücksbegriff ist unvollständig, wenn er nicht ein überzeitliches (nicht nachzeitliches) Element einschließt, das auch individuell in Lagen völliger sozialer Trostlosigkeit verwirklicht werden kann. Die soziale Gerechtigkeit ist unvollständig und mechanistisch, wenn die Liebe ihr nicht Leben und schöpferische Kraft gibt. Der Heroismus täuscht sich über sich selbst, wenn er nicht sieht, daß in seiner Hingabe an das Kommende, das er nicht erlebt, ein überzeitliches Element enthalten ist und daß diese Überzeitlichkeit dem Heroischen die Würde des Persönlichen, Freien, Erfüllenden gibt. Endlich hat die christliche Theologie zu sagen, daß ohne solche Überzeitlichkeit der soziale Heroismus zwischen Utopismus und Resignation zu schwanken verurteilt ist, daß er seinen Sinn nur in Einheit mit dem Christlichen finden kann. Doch wenn die christliche Theologie das sagt, muß sie wissen, daß letzte Entscheidungen nicht durch Apologetik verändert werden können und daß die Einheit von Christentum und dialektischem Materialismus nur durch Einheit des Erlebens, vielleicht nur durch ein gemeinsames Märtyrertum geschaffen werden kann.
6. D I E J U D E N F R A G E - E I N C H R I S T L I C H E S UND EIN DEUTSCHES PROBLEM 1 Das Thema, das mir gestellt ist, heißt: die Judenfrage, ein christliches und ein deutsches Problem. Die Behandlung dieses Themas hat große Schwierigkeiten. Mit den Schwierigkeiten möchte ich anfangen, weil ihre Besprechung zugleich etwas über den Gegenstand aussagt, der zu besprechen ist, und zwar möchte ich mit den sachlichen Schwierigkeiten des Problems beginnen. Für einen Vortrag und für jemand, der gewohnt ist, mit geklärten Begriffen zu arbeiten, ist das gestellte Thema zunächst wegen der Unbestimmtheit der drei entscheidenden Begriffe schwierig. Der Begriff „Judenfrage" ist unbestimmt. Welches ist die „Judenfrage"? Bezieht sie sich auf die soziologische Funktion der Juden als Minorität, eine Funktion, die das Judentum seit Tausenden von Jahren erfüllt hat 128
die aber auch andere Gruppen erfüllt haben - , oder bezieht sich die »Judenfrage" auf die religiöse Funktion der Juden als einer sakramentalen Gemeinsdiaft? Und wenn so, welches ist die Beziehung des Soziologischen und des Sakramentalen? Die Vielfältigkeit des Begriffes »Jude" macht weitere Schwierigkeiten: Was ist gemeint? Sind die Juden in den anderen Völkern gemeint, in denen sie als Gäste oder Unterdrückte oder Vertriebene leben, oder sind die Mitglieder des Staates Israel gemeint? Und was ist die Relation dieser beiden Gruppen? Ist der Jude derjenige, der aktiv der sakramentalen Gemeinschaft des Judentums angehört, oder ist es derjenige, dessen Ahnen oder der selbst einmal dem Judentum angehörten und sich von ihm getrennt haben, ist es derjenige, der getauft ist oder sich zu einem überkonfessionellen Humanismus bekennt? Reden wir vom Judentum als einer religiösen Wirklichkeit oder reden wir von ihm als einer Rasse? Und wenn es so etwas gäbe wie eine jüdische Rasse (was ich nicht glaube, wie ich ebensowenig glaube, daß es eine arische Rasse gibt), so wäre die Frage: Ist unser Thema das Rassenproblem oder handelt es sidi in der jüdischen Frage um etwas Besonderes - , um eine Rasse, die noch etwas anderes ist als eine Rasse? Ist der Jude als Vertreter einer der großen elf Religionen gemeint, die universalen Charakter haben, oder sprechen wir von ihm als Vorbereiter des Christentums? Das sind Probleme, die mit dem Wort „Jude" in unserem Thema gegeben sind. Aber auch die anderen Worte sind nicht eindeutig. Da ist das Wort „christlich". Es kann das christliche Prinzip bedeuten, das, was jenseits des historisdien Christentums steht, sei es in der Form der katholischen oder in der Form der protestantischen Fassung dieses Prinzips. Oder »christlich" kann die christlichen Kirchen in Vergangenheit und Gegenwart bedeuten, die Wirklichkeit der Kirdiengeschichte und die Beziehung der Kirchen zu den christlichen Prinzipien. Oder „christlich" kann die Völker bedeuten, in denen eine sogenannte christliche Kultur herrscht; ich nenne sie „sogenannt", weil sie eine sehr abgeleitete und überaus unvollkommene Form diristlicher Verwirklichung ist. All das kann das Wort „christlich" bedeuten. Auch das Wort „deutsdi" ist vieldeutig. Es kann zweierlei bedeuten. Es kann bedeuten, daß im Wesen des deutschen Charakters etwas liegt, das positiv oder negativ das Judentum zu einem deutschen Problem macht, wobei es gleichgültig ist, ob man den deutsdien Charakter von irgendwelchen biologisdien Faktoren ableitet oder ob man ihn als das Ergebnis der deutsdien Geschidite betrachtet. Jedenfalls ist es dann der deutsdie Charakter, der das Problem stellt. Oder ist es ganz etwas anderes? Ist es eine einmalige Situation, ist es eine Katastrophe in der deutschen Geschichte, die das 129
Problem „Judentum und deutsche Politik" begründet? Selbst das Wort „deutsch" in unserem Thema ist zweideutig. In welchem Sinn sollen dann die Begriffe: Judenfrage, christlich und deutsch gebraucht werden? Ich glaube, daß wir keine der erwähnten Deutungen ausschließen können. Sie gehören zusammen und sind voneinander abhängig. Letztlidi sind nicht die semantischen Schwierigkeiten entscheidend. Sie können durch klare Definitionen bis zu einem gewissen Grade überwunden werden. Entscheidend sind die menschlichpersönlichen Schwierigkeiten, die der Behandlung des mir gestellten Themas entgegenstehen. Man nimmt nicht an allem, über das man zu sprechen hat, in gleichem Maße teil. Die Distanz des Redners von seiner Sache kann kleiner und größer sein. In meinem Fall ist sie so klein wie nur möglich. Ich habe schicksalsmäßig an den Fragen, die in diesen Vorlesungen behandelt werden sollen, teilgenommen. Sie sind existentielle Fragen für mich. Als christlicher Theologe habe idi seit Jahrzehnten an der jüdisdi-diristlichen Diskussion teilgenommen und die ganze Last der Probleme erlebt, die heute, wie im Beginn der diristlichen Ära, das theologische Denken bewegen. Ich spreche nicht von den vielen Torheiten, die in diesen Debatten vorkommen, sondern von den Fragen, die den Menschen als Menschen unbedingt angehen und um die ich mit meinen jüdischen Gesprächspartnern gerungen habe. - Ein weiterer Grund für meine existentielle Teilnahme an den Problemen meines Themas ist, daß ich von Geburt Deutsdier bin und durch Emigration im Jahre des Unheils 1933 auf der Seite der Gegner all dessen stand, was seit diesem Jahr in Deutschland gesdiehen ist, vor allem alles dessen, was von deutsdier Seite den Juden Europas angetan worden ist. - Ein dritter Grund meiner existentiellen Teilnahme ist, daß seit vielen Jahren Juden zu meinen intimsten Freunden gehören. In solcher Situation ist das Sprechen über ein Thema wie dieses schwer. Aber es wird dadurch noch schwerer, daß ja auch die Hörer existentiell teilnehmen. Es sind Juden und Deutsdie in diesem Raum, und das deutsche Problem tritt vom ersten Augenblick an in seiner ganzen Radikalität in das Bewußtsein von jemand, der zu Deutschen über das Thema „Deutschtum und Judentum" sprechen muß. Es treibt zu der Frage, der ich nidit ausweidien möchte, obgleich die Versuchung, es zu tun, sehr groß war, nämlich der Frage der Kollektivschuld. Ich schulde Ihnen ein offenes Wort über dieses Problem. Ohne es würde etwas im Hintergrund meiner Rede bleiben, das Sie fühlen würden und das, wenn unausgesprochen, Sie beunruhigen würde. Darum will idi offen darüber reden. Was bedeutet Schuld, individuell und kollektiv? Schuld kann den 130
Sinn haben, daß man die direkte und unmittelbare Ursache eines schuldig machenden Aktes ist. Ich weiß, daß in diesem Sinne nur einzelne Gruppen im deutschen Volk schuldig sind, und der Widerstand gegen den Begriff der Kollektivschuld ist verständlich - wenn Schuld in dem Sinne gebraucht wird, daß man die unmittelbare Ursache für das Geschehene ist. Darum würde ich sagen: Schuld im Sinne von unmittelbarer Ursache kann dem deutschen Volk als ganzem nicht zugesprochen werden; es ist die Schuld begrenzter Gruppen und einzelner. Dann gibt es einen zweiten Begriff von Schuld, nämlich Schuld im Sinne von mangelnder Ausübung von Verantwortlichkeit. Schuld in diesem Sinne liegt auf jedem Deutschen, auch auf denen, die Opfer geworden sind, auch auf denen, die emigriert sind. Ich habe nie meine Freunde in Amerika darüber im unklaren gelassen, daß ich mich im Sinne der Verantwortlichkeit mitschuldig fühlte für das, was geschah. Warum? Weil wir in den Jahren, die die Herrschaft derer, die diese Verbrechen ausgeübt haben, vorbereiteten, nicht stark genug waren, sie zu verhindern, nicht opferwillig genug, selbt wenn wir protestierten und dadurdi Emigranten oder Opfer wurden. Seit der Mitte der zwanziger Jahre ahnten wir, was kommen würde. Oft erzählte ich meinen Freunden, daß ich wie in einer Vision die deutschen Städte in Trümmern sähe - ganz wie ich heute, nach 25 Jahren, Berlin in Ruinen sehe. Das Gefühl des Kommenden wurde stärker, je unwiderstehlicher die Mächte erschienen, die dahin drängten. Aber was heißt unwiderstehlich in der Gesdiichte? Es heißt, daß wir nicht stark genug waren zu widerstehen, obgleich wir ahnten, was kam. Das ist Schuld im zweiten Sinne des Wortes, und das ist die Schuld aller Deutschen vor 1933, ganz gleich, was aus ihnen wurde. Dann gibt es Schuld in einem dritten Sinne, nämlich die Schuld der Unterdrückung des Wissens. Das ist ein tiefes psychologischen Problem; denn es handelt sich dabei nicht um bewußte Akte, aber auch nicht um völlig Unbewußtes, sondern es handelt sich um Akte, die zwischen Bewußtem und Unbewußtem schweben. Man wußte, was geschah, und wußte es doch nicht. Ich glaube allen, die mir sagen, sie wußten nicht, und ich glaube doch keinem. Denn ich weiß, daß man genug wußte, um Wissen unterdrücken zu müssen, wenn man nicht wissen wollte. Und das ist eine Schuld, die psychologisch und ethisch schwere Probleme aufgibt. Wenn jemand gesagt hätte, ich will nicht wissen, ich kehre mich ab, dann wäre das ganz simpel „Schuld"; das haben sicher Menschen getan, aber die sind nicht interessant, sondern interessant sind die vielen, die wissen wollten und doch nicht imstande waren, das Wissen, das an sie herandrängte, in sich hereinzulassen. Das 131
ist die dritte Art von Schuld. Es ist die Schuld, die erst nadi 1933 entstand und an der die, die nicht hier waren, keinen Anteil haben. Wir richten sie nidit, denn auch wir unterdrücken ja Dinge, die zu wissen wir nicht ertragen würden. Wer ist imstande, wenn er auch nur ein wenig sensitiv ist, sich selbst im Spiegel zu sehen? Man blickt weg von dem eigenen Spiegelbild. Das ist der Mechanismus, von dem idi rede, und diesen Mechanismus soll man nicht leugnen, weder in sich noch in anderen. Ich komme zu einem vierten Begriff der Schuld, der ähnlich ist, nämlich Schuld im Sinne des Vergessens. Das ist die der Zukunft zugewendete Seite desselben Medianismus. Man will nicht wissen, d. h. man will sich nicht erinnern, man will vergessen. Das ist die Schuld, die seit 1945 eine Macht geworden ist, die zum Verhängnis führen kann. Vergessen heißt hier auch wieder nicht in dem äußerlidien Sinne, daß man es wirklich vergißt, daß man im täglichen Leben nidit daran denkt. Wer denkt an vergangene Schuld im täglidien Leben? Aber „vergessen" bedeutet, daß man das, was gesdiehen ist, für die Gestaltung der Zukunft nicht mehr wirksam werden läßt, daß man es als Faktor für die Zukunft auslöscht. Und das ist entsdieidend für die Schuld des Vergessens. Max Sdieler hat einen Aufsatz über die Reue geschrieben, einen seiner schönsten, und darin hat er klar gezeigt, daß Reue nicht ein sentimentales Schmerzgefühl über die Vergangenheit ist, sondern daß Reue das Ausstoßen von etwas Falschem aus dem Haushalt des Innern ist. Inwieweit findet dieses Ausstoßen statt, inwieweit hat es stattgefunden? Alles kommt darauf an, daß diejenigen Elemente, die zu dem antisemitischen Wahn geführt haben, aus der Seele ausgestoßen werden, daß sie nicht vergessen, nicht verdrängt, nicht versteckt, sondern erkannt und unter den Schmerzen der Reue verbannt werden. Die beiden letzten Formen der Schuld haben teilweise unbewußte Ursadien. Darum sind sie tragisch, und doch sind sie „Schuld", denn man kann um sie wissen. Zuletzt möchte idi darum von einer fünften Form der Schuld reden, die ganz im Bewußtsein liegt, nämlidi dem kalkulierenden Abwägen, auf Grund dessen man sagt, wir haben übel gehandelt, aber wir haben auch entsprechend gelitten. Die anderen haben durch uns gelitten, aber nun haben wir durch sie gelitten, und nun sind wir quitt. Demgegenüber möchte idi ein theologisches Wort sagen: Es gibt zwei Formen der Gerechtigkeit, das eine ist die Gereditigkeit der Proportion, die berechnende: „Idi habe soviel getan, idi verdiene soviel, ich habe für das, was idi getan, bekommen, was ich verdient habe." Es gibt eine Sdiidit, in der dieses proportionale Denken unvermeidlich ist, im täglidien Leben 132
wie in der Justiz. Wir alle wägen, was wir und andere verdient haben. Der Jurist tut es systematisch und sudit die rechte Proportion zwischen Schuld und Strafe zu finden. Keine Gerechtigkeit ist möglich ohne das Element der Proportion, das Aristoteles als das Wesen der Gerechtigkeit bestimmt. Aber es gibt eine andere Bestimmung des Begriffs der Gerechtigkeit. Sie verneint das proportionale Element nicht, aber sie übersteigt es: ich denke an den alt- und neutestamentarischen Begriff der Gerechtigkeit. In ihm sind die Verletzung des Rechtes und die damit verbundenen Konsequenzen anerkannt. Aber das ist nicht das letzte Wort. Das Ziel der Gerechtigkeit ist die Wiedervereinigung dessen, was durch Ungerechtigkeit getrennt ist, Gott und Mensch, Mensdi und Mensch, Gruppe und Gruppe. Rechtfertigung des Ungegerechten ist das Ziel dieser Idee von Gerechtigkeit. Aber solche Gerechtigkeit und die dadurch ermöglichte Wiedervereinigung ist nur möglich, wenn die Verletzung des Rechtes anerkannt und weder vergessen nodi durch Berechnung als erledigt betrachtet wird. Wiedervereinende Gerechtigkeit setzt Anerkennung des Unrechts und Ausstoßung seiner Ursadien voraus. Dagegen widerspricht die berechnende Abwägung „wir haben entsprechend gelitten, nun ist alles in Ordnung" einem Grundsatz des Lebens, das in der biblischen Gereditigkeitsidee ausgedrückt ist. Die wahre Frage ist: Ist Wiedervereinigung möglich und was ist nötig, damit Wiedervereinigung wirklich wird? Das erste Kapitel der sachlichen Arbeit kann überschrieben werden »Antijudaismus und Antisemitismus". Idi glaube, daß die Unterscheidung dieser beiden Begriffe für das Verständnis unseres Problems von größter Bedeutung ist. Ich will darum einen kurzen historischen Überblick über das Verhältnis dieser beiden Begriffe geben. Antijudaismus ist ein Wort, das ich gefunden habe, als ich mit einer Studie über den Antisemitismus den Auftrag bekam, die Haltung der "katholischen und protestantischen Kirchen Zur Judenfrage darzulegen. Jeder, der als Theologe, als Kirchengeschiditler oder als Profangesdiichtler diesem Problem nachgeht, wird Überraschungen erleben. Er wird zur Unterscheidung von Antisemitismus und Antijudaismus gezwungen werden. Das Wort „Antisemitismus kommt aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es stammt aus der Periode des philosophischen Naturalismus und ist eine Umformung des fundamentaleren Begriffes Antijudaismus. Es existierte früher nicht, weil die rassentheoretischen Gedankengänge erst um diese Zeit, und zwar zunächst nicht in Deutschland, sondern in England und Frankreich ausgesprochen wurden. Man kann zwei Rassenbegriife unterscheiden, den vertikalen und 133
den horizontalen. Man spricht von „rassig", wenn man auf Eigenschaften hinweisen will, die sidi im Laufe von Generationen in gewissen Familien entwickelt haben. Das Wort rassig, das immer im positiven Sinn gebraudit wird, kann auf Tiere wie auf Menschen, auf Einzelne wie auf Geschlechter angewandt werden. Im letzteren Fall kann es mit aristokratisch gleichgesetzt werden und schließt sowohl biologisch entwickelte wie kulturell erworbene Eigensdiaften ein. Gegen einen solchen Rassenbegriff kann weder vom humanistischen noch vom religiösen Standpunkt etwas eingewendet werden. Es muß nur klar bleiben, daß weder eine ethische noch eine religiöse Wertung damit verbunden ist. Der sittliche, reife und der religiöse, begnadete Mensch decken sich nicht mit dem rassisch hochwertigen. - Ein anderer Begriff von Rasse ist der deskriptiv-biologische Begriff von Menschenrassen, die durch bestimmte körperliche Merkmale evident unterschieden sind. Auch gegen ihn ist humanistisch und christlich nichts einzuwenden, solange er nicht mit dem vertikalen Rassenbegriff identifiziert oder mit ethischen und religiösen Werten verbunden wird. Eben das aber ist von den naturalistischen Rassentheoretikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan worden und hat zu den antisemitischen Greueln des 20. Jahrhunderts geführt. - Völlig verschieden von dem horizontalen Rassenbegriff und von dem Antisemitismus, der aus ihm abgeleitet wurde, ist der christliche Antijudaismus. Antijudaismus findet sich in der ganzen Kirchengesdiidite und stellt eine tragische Schuld der Kirche dar. Wenn wir auf die frühesten Schichten der Evangelien blicken, so finden wir, daß Jesus sich als zu den Juden gesandt fühlte, daß er nur durch besondere Ereignisse über diese Grenze hinausgetrieben wurde. Die Wahl der zwölf Apostel durch Jesus und die Wiederherstellung der Zwölf-Zahl nach dem Weggang des Judas ist keine zufällige, sondern eine absichtlich symbolische Handlung. Sie bedeutet, daß Jesus nadi dem Urteil der Urgemeinde die jüdisdie Tradition fortführen wollte. Die Kirche ist vorgebildet in den zwölf Stämmen Israels, sie ist nidit die Aufhebung, sondern die Vollendung der alttestamentlichen Gemeinde, freilich nicht auf nationaler, sondern auf universaler Grundlage. In diesem Gedankengang ist kein Antijudaismus enthalten. - Er findet sich auch nicht bei Paulus trotz seines radikalen Bruches mit dem Judentum und seines Kampfes mit den „Judaisten" in den christlichen Gemeinden. Das Judentum war und blieb das Problem seines Lebens, das Problem seiner eigenen Existenz als Judendirist. Seine Theorie, die er im 9. und 11. Kapitel des Römerbriefs gab, ist ein tiefsinniger Beitrag zur Deutung der Geschichte. Das Judentum 134
hat eine bleibende Funktion, auch im neuen Äon. Es wird nicht aufhören, solange es noch Heidentum auf der Erde gibt. Es ist meine Oberzeugung, daß dies die christliche Antwort auf die Judenfrage überhaupt ist. Jedenfalls enthält diese Antwort nichts Antijudaistisches. Sie ist das Nein und J a des Christentums zum Judentum in der christlichen Welt. Paulus selbst wäre, wie er schreibt, bereit gewesen, das Heil seiner Seele für die Rettung des jüdischen Volkes herzugeben. Aus diesen und anderen Gründen wird er von vielen antijudaistischen und antisemitischen Christen als zu jüdisch beurteilt, während von jüdischer Seite niemand mehr als er bekämpft wurde und noch bekämpft wird. Antijudaismus entsteht in dem Augenblick, in dem das Christentum in die heidnische Welt kommt und sich dem Heidentum verständlich machen muß. Das geschieht im Johannesevangelium, das, wie bekannt, Jesus Worte in den Mund legt, in denen das Urchristentum auf die Fragen und Probleme, die ihm von der heidnischen Welt entgegengebracht wurden, zu antworten versucht. Der Verfasser des Johannesevangeliums versucht zu zeigen, daß nicht Pilatus, der römische Prokurator, sondern die Führer des Judentums am Tode Jesu schuld waren. Historisch gesehen ist Pilatus allein für die Verurteilung Jesu verantwortlich. Keine jüdische Behörde hatte das Recht über Leben und Tod. Im Johannesevangelium erscheint Pilatus als der Skeptiker, der ebensowenig von der Botschaft Jesu wie von der Anklage der Juden überzeugt ist und darum alles versucht, um Jesus zu retten. Pilatus wird als schwächlich hingestellt, als unfähig, dem Druck der Juden zu widerstehen, aber nicht als eigentlich schuldig. Die Schuld liegt bei den Juden, und bei ihnen allein. In der weiteren Entwicklung der Pilatuslegende wird der Sinn dieser Auffassung deutlich. Man erzählt von der Bekehrung des Pilatus zum Christentum, von seiner Buße, die ihn schließlich zum Heiligen werden läßt. In der ägyptischen Pilatuslegende erscheint er dann als richtiger Heiliger. Obgleich diese Legende keinen historischen Wert hat, zeigt sie doch die Geisteshaltung, die sich mehr und mehr durchsetzte und für die wir keinen anderen Namen haben können als Antijudaismus. Ich überspringe die nächsten Jahrhunderte bis zum Jahre 1215, in dem das vierte Laterankonzil stattfand unter Innozenz III., dem mächtigsten der Päpste. Es ist das Jahr, das den Höhepunkt der mittelalterlichen Entwicklung repräsentiert. Auf diesem Konzil wurden vom Papst Judengesetze gegeben, die zwei Seiten hatten. Auf der einen Seite wurde betont, daß die Päpste Protektoren der Juden sind und sich verpflichtet fühlten, die Juden gegen die brutale Ausbeutung durch die Aristokratie zu schützen. Das entsprach schon einer längeren Tradi135
tion. Auf der anderen Seite begann Innonenz III. den Kampf gegen die neu aufkommenden Ketzereien wie Albigenser und Waldenser und gegen ältere manichäische Unterströmungen, wie sie von den Katharern repräsentiert wurden. Die römische Kirche fühlte sich bedroht. Sie fürchtete, daß die Einheit der Tradition verloren ginge, daß andere als ihre eigene Tradition in das Bewußtsein der abendländischen Menschheit treten würden. Alle autoritären Systeme sind von dieser Furdit erfüllt. Sie fühlen sich sidier, solange diejenigen, die ihre Autorität anerkennen, von jeder anderen Tradition abgeschnitten sind. Sobald aber andere Möglichkeiten erscheinen, ist die Einheit des Bewußtseins und damit die Sicherheit der Autorität bedroht. Die Juden repräsentieren eine andere Tradition, und von dieser Tradition war nicht nur das Christentum, sondern auch der Islam abhängig. Das ist der Hintergrund für die Separationsgesetze, die von Innozenz III. und von seinen Nachfolgern gegeben wurden. Nicht Antisemitismus hat sie diktiert, sondern Antijudaismus, noch genauer: die Angst der Kirche vor jüdischen Einflüssen auf ihre Mitglieder. Wenn man diese Gesetze mit den sogenannten Nürnberger Judengesetzen Hitlers vergleicht, findet man, daß sie in vielen Punkten eine Nachahmung der päpstlichen Verordnungen sind. Das Tragen der Binde, die die Juden als Juden kennzeichnet, das Verbot, daß Juden christliche Hausangestellte haben, die strengere Abschließung der Ghettos und manches andere findet sich in den päpstlichen Bullen des 13. Jahrhunderts. Die Begründung dieser Gesetze wurde immer in dem Fluch gesehen, den die Juden nach biblischer Auffassung durch die Kreuzigung Jesu auf sich und alle ihre Nachkommen gebracht haben. Das ist reinster Antijudaismus, aber es ist nicht Antisemitismus. Wieder überspringe ich einige Jahrhunderte und komme zu Luther und der Reformation. Beim Beginn der Reformation war Luther der Überzeugung, daß die Reinigung des Christentums von heidnischen Elementen, die er vornahm, es den Juden ermöglichen würde, in die christliche Kirche einzutreten. Für die Juden war der katholische Sakramentalismus einschließlich seiner christologischen Voraussetzungen Götzendienst und dämonischer Greuel. Es war insonderheit die Messe, die dieser Beurteilung unterlag. Nichts konnte dem jüdisch prophetischen Bewußtsein mehr widersprechen als die Vergegenständlichung des Göttlichen durch die priesterliche Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut des menschgewordenen Gottes. Luthers Beurteilung der Messe und ihrer theologischen Voraussetzungen war dem sehr ähnlich und hatte denselben prophetischen Hintergrund. Darum glaubte Luther, daß nach Beseitigung dieses fundamentalen Anstoßes am 136
Christentum die Juden bereit sein würden, zum Christentum überzutreten. In einer seiner Frühschriften urteilte er sehr positiv über das Judentum seiner Zeit. Aber seine Hoffnung wurde enttäuscht. Es waren Elemente im Christentum, die Katholiken und Protestanten gemeinsam sind, die es den Juden unmöglich machten, Christen zu werden. Es war aber mehr als nur eine Enttäuschung, die Luther zu seinen späteren antijudaistischen Aussprüchen bewog. Luther glaubte mit Paulus, daß nach Bekehrung der Juden das Ende der Geschichte erreicht sei. Er hoffte auf den Jüngsten Tag. Er wollte nicht, daß die Geschichte weiterginge, da er die zerstörerischen Konsequenzen der Maditpolitik seiner Zeit durchschaute und ständig selbst unter ihnen litt. Er sprach von dem „lieben Jüngsten Tag" und wartete auf Zeichen, daß er kommen würde. Aber ein entscheidendes Zeichen, die Bekehrung der Juden, erfolgte nicht. Das brachte ihn zu seinen zornigen Angriffen auf die Verstocktheit des jüdischen Volkes, woraus dann der christliche Antijudaismus auch in den Kirchen der Reformation Fuß faßte. In allen christlichen Kirchen werden die Juden aller Generationen mit der Schuld an der Verwerfung Jesu belastet. Es lohnt sich, diesen Vorwurf einmal im Lichte unserer Analyse des Sdiuldbegriffs zu betrachten. Man sieht dann sofort die Absurdität dieser Anschuldigung. Keiner der Schuld'begriife, die ich genannt habe, kann auf dieses Phänomen angewandt werden. Man kann kaum sagen, daß das ganze jüdische Volk der Zeit Jesu für die Kreuzigung verantwortlich war. Aus den Berichten geht keineswegs hervor, daß dieselben Menschen, die ihn mit Hallelujah begrüßten, als er in Jerusalem einzog, das „Kreuzige" riefen. Wahrscheinlich waren es Gruppen, die von den Führern des Volkes aufgewiegelt waren, Mob, der immer willig ist, sich für solche Aktionen gebrauchen zu lassen. Aber wie dem audi historisch sei, das Höchste, was wir sagen können, ist, daß das Volk als ganzes Jesus nicht unterstützte und damit indirekt dafür verantwortlich ist, daß das geschah, was geschah. Aber, muß man fragen: Was hat diese sehr indirekte Verantwortung mit denen zu tun, die damals Kinder waren oder noch nicht geboren waren und mit all denen, die seitdem als Juden geboren wurden. Und doch wird dieser absurde Gedanke in Katechismen und im Unterricht beider Konfessionen immer wieder vorgebracht. Wir hatten in Amerika eine Kommission, die die Textbücher für den Sonntagsunterricht auf Antijudaismus durchsehen sollte. Überall fanden sich antijudaistische und in manchen Fällen sogar antisemitische Aussagen. Das ist eine ständige tragische Schuld der christlichen Kirche. Es wäre wünschenswert, daß auch die deutschen Kirchen einmal eine solche Untersuchung vornehmen würden und daß, 137
wenn es, wie ich höre, schon an manchen Stellen geschieht, es sehr gründlich geschieht. An den Eindruck, den der antijudaistische Unterricht auf die christliche Jugend macht, erinnere ich mich selbst lebhaft aus meiner eigenen Jugend. Man empfand das Jüdische als unheimlich und war geneigt, in jedem Juden einen Mithelfer der Kreuzigung Jesu zu sehen. Aus diesem oft unbewußten Antijudaismus der christlichen Kirchen hat der bewußte Antisemitismus der letzten hundert Jahre seine Nahrung gezogen. Die Dinge scheinen in Amerika sehr viel günstiger zu liegen. Liberaler Protestantismus und liberales Judentum arbeiten in vieler Beziehung zusammen. Man kann ohne große Bedenken einen Rabbi bitten, in einer christlichen Kirche zu reden, und ich selbst habe in Synagogen gesprochen, und zwar gelegentlich in liturgischer Umrahmung. Vom Standpunkt der menschlichen Gemeinschaft und des gegenseitigen Verstehens ist das erstaunlich reif. Aber es ist keine Lösung des christlich-jüdischen Problems. Die Voraussetzung ist, daß beide Religionen so vieles von ihren konkreten Lehren und Kultformen aufgeben müssen, daß etwas verhältnismäßig Dünnes und unbefriedigend Moralistisches übrig bleibt. Das Problem der verschiedenen Religionen und ihres Verhältnisses zueinander kann in keinem Fall durch Subtraktion gelöst werden. Ein Kriterium für die Stellung zum Antijudaismus ist die Stellung der Christen zur Judenmission. Eine Gruppe führender Theologen in Amerika, die zweimal jährlich auf drei Tage zusammenkommen, hatte während einer dieser Zusammenkünfte eine interessante und für mich sehr wichtige Diskussion über die Frage der Judenmission. Man war sehr zweifelhaft, ob es so etwas geben könne, und wenn, unter welchen Umständen. Man war geneigt, die Judenmission auf Menschen zu beschränken, die innerlich mit dem Judentum gebrochen haben und nun einen Weg zum Christentum finden sollen. Auf jeden Fall gab es keine klare Antwort auf die Frage des Sinnes der Judenmission. Ich selbst schloß mich denjenigen Theologen an, die sagten, daß eine aktive missionarische Tätigkeit seitens der Christen, die auf gläubige Juden gerichtet ist, in den meisten Fällen psychologisch und soziologisch unmöglich ist. Möglich ist dagegen seitens der Christen eine Aufnahmebereitschaft in Fällen, wo dem jüdischen Menschen seine existentiellen Grenzen sichtbar geworden sind und er nun die Frage nach etwas erhebt, was darüber hinausgeht. In solchen Fällen kann der Christ zu zeigen versuchen, daß die christlichen Symbole eine Antwort auf die inneren Konflikte des Judentums geben können. Das ist nicht aktive, sondern aufnehmende Judenmission, und darüber hinaus würde ich 138
nicht gehen. Die Erfahrungen der Bibel und der Kirchengeschichte zeigen, daß es nur in den seltensten Fällen sinnvoll ist, darüber hinauszugehen. Ich möchte nun diese Übersicht über das Verhältnis der christlichen Kirchen zur Judenfrage mit einem Hinweis auf die Erfahrung schließen, die die Kirchen unter Hitler gemacht haben. Im Nationalsozialismus war aus dem religiösen Antijudaismus ein rein rassenmäßiger Antisemitismus geworden. Die Christen, die zuerst verwirrt waren und sich nicht zu einer klaren Stellungnahme gegen die frühen antisemitischen Akte Hitlers aufraffen konnten, erlebten bald, daß ein Angriff auf das Judentum als Judentum auch ein Angriff auf das Christentum ist. Man begriff nicht nur in Deutschland, sondern überall in den christlichen Kirchen, daß ein grundsätzlicher Angriff auf das Christentum mit einem grundsätzlichen Angriff auf das Judentum beginnen muß. Geschichtlich gesehen war das die Erneuerung einer uralten Erfahrung der Kirchen. Der gefährlichste Angriff auf das frühe Christentum waren nicht die Christenverfolgungen, sondern die gnostisch-synkretistisdie Religion der Spätantike. Sie versuchte, Elemente vieler Religionen in sich zu vereinigen, und nahm auch den Christus als eine zentrale Figur in sich auf. Aber sie schied das Alte Testament aus und schnitt damit das Christentum von seinen historischen Wurzein ab. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, den die Kirche damals zu kämpfen hatte. Sie entschied, daß das Neue Testament nicht ohne das Alte bestehen kann, daß der Christus, der von dem Geist der alttestamentlidien Prophetie losgelöst ist, zu einem unter vielen heidnischen Mysteriengöttern wird. Darum handelte es sich in der gnostischen Bewegung, darum handelte es sich im Nationalsozialismus, darum handelte es sidi in allem religiösen Nationalismus, der ja keineswegs auf Deutschland beschränkt ist. Um Jesus in einen Kultgott neben anderen oder einen nationalen Führer und Propheten zu verwandeln, muß man ihn aus dem Zusammenhang der alttestamentlichen Prophetie herausheben. Denn diese Prophetie war ja immer noch ein ständiger Kampf gegen den religiösen Nationalismus ihrer Zeit. In der Kontinuität dieses Kampfes steht das Neue Testament. Wenn die Kontinuität unterbrochen wird, fällt das Neue Testament. Das wußte die Kirche, als sie entschied, daß das Alte Testament das Fundament ist, auf dem das Neue steht. In der Entscheidung gegen den Nationalsozialismus hat die Kirche wieder erlebt, was sie in der Entscheidung gegen die Gnosis im dritten Jahrhundert erlebt hat: daß der Geist des prophetischen Judentums der Geist ist, der allein die Kirche davor behüten kann, in eine nationale Religion, und d. h. ins Heidentum, zurückzusinken. 139
II Während wir in der ersten Vorlesung zunächst die sachlichen und persönlichen Schwierigkeiten des Themas herausgearbeitet und dann einen gesdiiditlichen Überblick über die Haltung der christlichen Kirchen zum Judentum gegeben haben, wollen wir nun von der Judenfrage als deutschem Problem reden. Ich erinnere mich an eine Episode im Januar 1933, kurz vor der Machtergreifung Hitlers. Der Rektor der Universität Frankfurt, an der idi als Professor der Philosophie lehrte, bat midi, den Vortrag für die Jahresfeier der Universität zu übernehmen. In diesem Vortrag zog ich eine geistesgeschichtliche Linie, die von dem Juden Spinoza über die klassische deutsche Dichtung und Philosophie zu dem Juden Marx führte. Idi zeigte, wie der rationale jüdisdie Mystiker Spinoza auf die größte Periode deutschen Schaffens in Dichtung und Philosophie eingewirkt hat und wie der rationale jüdisdie Ethiker Marx als Kritiker am Ende dieser Periode stand. Man hörte solche Fakten im Januar 1933 nicht gern. Beim Ausgang aus der Aula hörte idi Kollegen miteinander spredien und sagen: »Nun will man uns audi noch zu Juden machen." Diese törichte Bemerkung enthält ein ernsthaftes Problem, nämlich die Frage: „Gibt es Strukturanalogien zwischen dem jüdischen und dem deutschen Charakter?" Idi bin überzeugt, daß solche Strukturanalogien existieren. In dieser Überzeugung bin ich durch Erfahrungen in der Emigration bestärkt worden. Es war erstaunlich, wie viele meiner jüdisdien Freunde und wie viele Juden überhaupt sich audi nach der Katastrophe mit der deutschen Kultur identifizierten. In ihnen allen war eine Sehnsucht nadi dem Deutschland zu spüren, in dem sie aufgewachsen waren und das sie geformt hatte. Selbst unter dem Haß verletzter Liebe war diese Sehnsucht lebendig. Demgegenüber empfanden viele der mir bekannten niditjüdischen Emigranten, ich eingeschlossen, die Emigration viel mehr als ein sachlich politisdies Ereignis, mit dem sie sich abzufinden hatten. Man hätte das Gegenteil erwarten sollen. Und doch ist die Tatsache, von der idi rede, verständlich. Seit der Emanzipationsperiode hatte eine innige Verbindung zwisdien deutscher Kultur und Judentum stattgefunden. Die Aufklärung hatte Mendelssohn als ihren Philosophen, die Romantik hatte Spinoza als ihren Heiligen und Rahel Varnhagen als Quelle ihrer Inspiration. Das junge Deutschland fand in Heinrich Heine seinen poetischen Ausdruck. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts in ihrer neukantischen Form stand unter dem Einfluß des Philosophen Cohen, die soziale Revolution fand ihren geschichtlich wirksamen Ausdruck in Marx. Viele andere Beispiele könn140
ten angeführt werden. Es ist erstaunlich, wie schnell die Juden nach ihrer Emanzipation der deutschen Kultur schöpferische Kräfte zuführten, wie auf Grund einer tiefen Affinität eine fruchtbare gegenseitige Durchdringung stattfand. Es ist schwer, eine Erklärung dafür zu finden, ohne auf Ähnlichkeiten in der geistigen Struktur beider Kulturen hinzuweisen. Die erste Tatsache, auf die ich hinweisen möchte, ist, daß beide Gruppen, die Deutschen wie die Juden, einmal in ihrer Geschichte eine prophetisch-reformatorische Bewegung erlebt haben: die Juden in ihrer Prophetie, die Deutschen in der Reformation. Beide Bewegungen bedeuten einen Bruch in der unmittelbaren nationalen Selbstverwirklichung der Betroffenen. In beiden Fällen, im Prophetismus wie in der F-eformation, bricht ein Unbedingtes als Gericht und Forderung in die Relativitäten und Zweideutigkeiten der nationalen Selbstverwirklichung ein. In beiden Fällen ist die nationale Selbstverwirklichung nie mehr gelungen, der Bruch nie geheilt worden. Er bestimmt die Geschichte beider Völker. Für das Judentum hatte der Bruch zur Folge, daß das Judentum aufhörte, ein Volk des Raumes zu sein. Das Judentum wird zum Volk der Zeit. Der Bruch, den die Reformation über das deutsche Volk brachte, schuf die räumliche Ungesichertheit und das weltgeschichtliche Zuspätkommen der räumlichen Selbstverwirklichung der Deutschen. Daher finden wir in beiden Völkern eine überraschende, einzigartige Betonung des Raumes als metaphysisches Problem. Es handelt sich nicht um die Tatsache, daß der Raum als Basis nationaler Selbstverwirklichung überall ein aktuelles Problem der Politik ist, sondern es handelt sich darum, daß in beiden Völkern das Raumproblem als metaphysisches Problem, als Problem der letzten Sinndeutung der nationalen Existenz empfunden wird. Eine zweite Strukturanalogie, die mit der ersten innig zusammenhängt, ist die seelische Zerrissenheit, die sich in beiden Völkern findet. Sie drückt sich oft aus in einer Mischung von Selbsthaß und Selbstüberschätzung. Ich glaube, daß, wenn ich dies sage, es bei Deutschen wie bei Juden eine Resonanz findet. Selbstverständlich versuchen wir so stark wie möglich, es uns selbst zu verheimlichen, aber jeder Deutsche, der viel mit Juden, insonderheit liberalen Juden, umgegangen ist, und jeder Ausländer, der Deutsche objektiv zu betrachten imstande ist, wird jene seltsame und widerspruchsvolle Mischung finden. Sie ist in beiden Fällen sowohl Schicksal wie Charakter. „Sein Charakter ist dem Menschen Schicksal", sagt Heraklit, und wir können hinzufügen: Sein Schicksal gibt dem Menschen Charakter. Es ist eine bekannte Tatsache, daß mit wenigen Ausnahmen alle großen Deutschen eine vernichtende Kritik an den Deut141
sehen geübt haben. Diese Kritik ist etwas anderes als die natürliche Selbstkritik, die wir in allen Völkern finden und die ein notwendiges und gesundes Korrektiv ihrer Selbstbejahung ist. Die großen Deutschen, die diese Kritik üben, tun es nicht in der Hoffnung, dadurch den deutschen Charakter zu ändern, sondern ihre Kritik hat den Charakter der Verzweiflung. Auf der anderen Seite haben wir im gegenwärtigen Judentum jenen Antisemitismus, der selbst bei den klügsten und analytisch durchgeformten Juden immer wieder in Ersdieinung tritt. Er kommt mit besonderer Schärfe zum Ausdruck in Marxens Schrift über die Juden, und er ist der Hintergrund dessen, was dem jüdischen Witz seinen besonderen Charakter verleiht. Auf der anderen Seite hat sich in beiden Völkern ein Gegengewicht gegen dieses negative Gefühl entwickelt. In gewisser Beziehung haben alle Völker ein Berufungsbewußtsein, aber sowohl in den Juden wie in den Deutschen ist es stärker entwickelt als irgendwo anders und hat besondere Formen angenommen. Lassen Sie mich, um das zu zeigen, auf das Berufungsbewußtsein der wichtigsten Völker des Abendlandes hinweisen. In Aristoteles' „Politik" finden wir eine Begründung der Tatsache, daß die Griechen die einzigen sind, die Kultur haben, während alle anderen Völker Barbaren sind. Aristoteles sudit das in räumlich-klimatischen Begriffen zu begründen. Die Griechen sind weder im Osten noch im Westen, weder im Norden noch im Süden, sie sind das Volk der Mitte. Und wenn wir vom Volk der Mitte reden, werden wir an das chinesische Berufungsbewußtsein erinnert. Bekannt ist das Berufungsbewußtsein der Römer, die nicht sagten: „Wir haben ein Land erobert", sondern die sagten: „Wir haben es in die Botmäßigkeit des römischen Volkes zurückgebracht." Die Römer fühlten, daß sie das Recht vertraten, und dieses Bewußtsein gab ihnen die Gewißheit, daß ihr Imperialismus schicksalsmäßig berechtigt war. Bei den Italienern der Renaissance finden wir das Gefühl, daß das ganze Zeitalter wiedergeboren wird, und zwar auf dem Boden des alten römischen Reiches. Renascimento heißt nicht Wiedergeburt einzelner oder Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften, sondern es heißt Wiedergeburt der Menschheit eines bestimmten Zeitalters. Wieder anders ist das Berufungsbewußtsein der Franzosen, die sich als die Träger der Kultur der modernen Zeit fühlten und von da aus den Imperialismus ihrer Revolution und ihres Napoleonischen Zeitalters rechtfertigten. Das Berufungsbewußtsein der Engländer kann beschrieben werden als das eines Volkes, das erst das gereinigte Christentum, nämlich den Protestantismus, und dann einen christlichen Humanismus den zurückgebliebenen Völkern der Erde zu bringen bestimmt ist. Das amerikanische 142
Berufungsbewußtsein bezieht sich auf den neuen Anfang, der in Amerika gemacht ist, nachdem die Dämonien und Konflikte des alten Europa vergessen sind. Es gab im Mittelalter auch ein deutsches Berufungsbewußtsein, nämlich das Bewußtsein, das nationale Zentrum der einheitlichen Christenheit zu sein. Und unter den deutschen Kaisern des Mittelalters war das keine Ideologie, sondern eine Realität. Wenn wir aber zur modernen Zeit kommen, findet sich kein echtes Berufungsbewußtsein der Deutschen. Infolgedessen war es für Hitler möglich, die Absurditäten des rassischen Berufungsbewußtseins zu verkünden, und, da er in einen leeren Raum stieß, Erfolg zu haben. Die andere Möglichkeit, verwirklicht in der sogenannten Realpolitik des 19. Jahrhunderts, war der machtpolitische Nationalismus der Wilhelminischen Periode, dessen Häßlichkeit und Brutalität nur dadurch zu verstehen ist, daß er mit keinem Berufungsbewußtsein geeint war. Es ist nicht meine Absicht, zu behaupten, daß die anderen Völker besser sind als die Deutschen. Es handelt sich vielmehr um historisches Schicksal. Wenn Macht und Berufungsbewußtsein geeint sind, hört die Macht auf, brutale Macht zu sein. Es entsteht eine Einheit, die in die tiefsten Wurzeln des Seins zurückgeht, in die Einheit von Sein und Wert im Grunde des Seins selbst. Wo diese Einheit verloren ist, entsteht auf der einen Seite die Selbstverachtung, auf der anderen Seite der brutale, unideologische Machtwille. Im Judentum liegen die Dinge etwas verschieden. Wir haben das religiös begründete Berufungsbewußtsein, das sich im Alten Testament erst auf das Volk als ganzes, dann auf den „Rest, der gerettet werden soll", bezieht. Auf diese Weise steht das Berufungsbewußtsein unter der prophetischen Kritik. Gefährlich wird das jüdische Berufungsbewußtsein nur da, wo es seine religiösen Wurzeln und damit sein religiöses Korrektiv verloren hat, wo es infolgedessen in einen Nationalismus ohne Selbstkritik übergeht. Aus dem falschen Berufungsbewußtsein der Deutschen wie der Juden folgt der innere Zwiespalt und die Verzweiflung, die er erzeugt. Verzweiflung ist der Ausdrude eines unüberwindlichen Zwiespalts. Aus der Verzweiflung folgt der Wunsch, sich selbst loszuwerden. Eine der harmlosesten und merkwürdigsten Formen dieses Wunsches, sich selbst loszuwerden, ist die Sehnsucht nach der Fremde. Wir finden sie in den Deutschen mehr als in irgendeinem mir bekannten Volk. Wir alle wissen um die Sehnsucht der klassischen Periode der Deutschen nach Griechenland, die immer lebendige Sehnsucht nach Italien, den Wunsch, es den Franzosen oder den Engländern gleich zu tun, die Hoffnung auf Rußland und auf Asien. Sobald diese Sehnsucht erfüllt ist und der 143
Deutsche sidi in einem dieser Völker niederläßt, verschwindet er als Deutscher in ihnen schneller als die Vertreter irgendeines anderen Volkes. Das kann nur verstanden werden aus dem heimlichen Wunsch der Deutschen, sich selbst als Deutsche zu verneinen. - Eine Analogie dazu ist die Anpassungsfähigkeit der Juden an jede gegebene Situation. Es ist falsch, diese Anpassungsfähigkeit rein pragmatisch zu erklären. Andere Minoritäten, die sie viel nötiger gehabt hätten, haben sich davon fern gehalten. Hinter der Anpassung steht als tiefste Wurzel der Mangel an Selbstbejahung. Ein interessanter Beweis dafür ist die Erscheinung des konservativen Juden, eines Mannes wie Stahl, der einzige große Theoretiker der konservativen Partei. Die Konservativen fanden als ihren wissenschaftlichen Verteidiger einen Juden, der die natürlich liberalkritische Haltung der Juden aufgegeben hatte und in seiner Staatstheorie für Gesellschaftsformen kämpfte, die ihn als Juden von jeher unterdrückt hatten und von denen er in jedem Moment einen Angriff auf seinen emanzipierten Status zu erwarten hatte. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die christlichen Theologen jüdisdier Herkunft. Nach ihrer Bekehrung zum Christentum sind sie radikaler in der Kritik des Judentums als irgendein christlicher Theologe. Sie negieren das, von wo sie kommen. Sie sind oft von größtem Wert für die christliche Theologie, weil sie Dinge sehen, die der christlich geborene Theologe nicht sieht. Sie selbst aber sind in einem Zwiespalt: sie müssen etwas in sich unterdrücken, und sie werden deswegen fanatisch. Audi hier finden wir Analogien zwischen der jüdischen und der deutschen Existenz. In beiden Fällen sucht die Selbstnegierung Wege, sich zu verwirklichen. Der prophetische Bruch, den beide Völker in ihrer nationalen Selbstverwirklichung erlebt haben, hat nicht nur psychologische, sondern auch soziologische Konsequenzen. Was ich meine, ist die Kluft zwischen einzelnen, die weit über den Durchschnitt nicht nur ihres eigenen, sondern auch anderer Völker hinausragen, und der Masse, die oft den Durchschnitt anderer Völker nicht erreicht. In einer ungebrochenen nationalen Gruppe geht die repräsentative Persönlichkeit aus der Substanz des Volkes hervor. Sicherlich, sie ist nicht einfach ein Spiegel dieser Substanz, sie geht darüber hinaus in der Richtung des Neuen, das Geschichte macht, aber nur so weit, daß das Darüber-Hinausgehen für den Durchschnitt verständlich bleibt. Man kann das auch heute noch in England beobachten. Die großen Führer sind in ihrer Substanz nicht von den Massen getrennt. In Deutschland sind die Großen immer einsam gewesen. Die Massen haben sie nie als Ausdruck ihres eigenen Bewußtseins verstanden. Daraus wird die Verzweiflung so vieler 144
großer Deutscher, von der ich vorher sprach, verständlich. Daher die Neigung der größten Kulturträger in Deutschland, sich abzuschließen und sich dem Durchschnitt entgegenzustellen. Ich denke zum Beispiel an die deutschen Klassiker, vor allem an Goethe, ich denke an die revolutionären Gruppen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ich denke an die Verzweiflung der prophetischen Geister des 19. Jahrhunderts, wie z. B. Nietzsche. Wenn aber die führenden Einzelnen nicht symbolisch sind für das, was in den Massen vor sich geht, wenn sie nicht das unbewußte Wunschziel des Durchschnittsmenschen repräsentieren, dann bleiben die Massen selbst ungeformt. - Wenn wir auf andere europäische Völker blicken, so beobachten wir in England die Wirkung des Gentleman-Ideals auf jeden einzelnen Engländer, des Citoyen-Ideals auf jeden einzelnen Franzosen, des Menschenrechtsideals auf jeden einzelnen Amerikaner. Diese Ideale waren von einer kleinen Gruppe führender Persönlichkeiten geschaffen, aber da sie Ausdruck dessen waren, wonach das Volk als ganzes strebte, hatten sie eine außerordentliche Formkraft. Als ich als junger Mensch zum erstenmal französischen Arbeitern in den Straßen von Paris begegnete, war ich erstaunt über die Zivilisiertheit dieser Menschen. In Deutschland hatten wir das Beamten-Ideal, und darüber als das höchste, aber für die meisten unerreichbare, das Offiziers-Ideal. Aber das Beamten-Ideal hat nicht die Möglichkeit, die menschlichen Beziehungen zu formen, soweit sie nicht innerhalb des offiziellen Verkehrs zwischen Beamten und Bürgern liegen. Das Beamten-Ideal formt sachliche Beziehungen, aber die unmittelbar menschlichen Beziehungen, die Begegnungen von Person mit Person, fallen aus. Darum entstand in dieser Beziehung eine Lücke, die menschlichen Beziehungen blieben ungeformt, und sie sind es auch heute noch, wenn man sie mit der Formung in anderen Ländern vergleicht. Und in diese entscheidende Lücke brach der N a tionalsozialismus ein. Denn er fand keinen Widerstand an einer geformten Realität menschlicher Beziehungen. Diese Tatsache wird nicht dadurch geändert, daß einzelne Beziehungen in Deutschland eine Tiefe erreichen, die durch die allgemeine Geformtheit dieser Beziehungen in anderen Völkern oft unmöglich gemacht wird. Die Analogie in der jüdischen Situation ist folgende: Wir haben auf der einen Seite die einzelnen Träger des prophetischen Geistes und kultureller Höchstformung, auf der anderen Seite den Durchschnitt, der sich niemals ganz den Formen anpaßt, die von der übrigen Welt geschaffen sind, und in der der größte Teil der Juden leben muß. Die ganze Geschichte des jüdischen Volkes zeigt, daß es unmöglich ist, ein ganzes Volk dem absoluten Ideal der prophetischen Verkündigung 145
dienstbar zu machen. Daraus folgt dann eine ähnliche Spaltung zwischen den Trägern der unbedingten Forderung und den Massen, die dieser Forderung in keiner Weise gewachsen sind. Die Strukturähnlichkeiten zwischen dem deutschen und dem jüdischen Wesen, auf die ich hingewiesen habe, führen zu beidem: zu stärkster Anziehung und schärfster Abstoßung. Es wird manchem unter Ihnen schwer sein, die Werturteile anzunehmen, die in dieser Analyse enthalten liegen, und doch müssen solche Analysen versucht werden. Idi weiß, daß die Analyse nicht vollständig ist, aber ich glaube dennoch, daß aus ihr das Verhältnis beider Völker zueinander besser verstanden werden kann als aus den Ursachen, auf die ich nun kommen mödite, die sicher wirksam, aber vielleicht nicht letztlich entscheidend waren. Es gibt eine reiche Literatur über die politischen, ökonomischen und sozialen Ursachen der letzten Ereignisse in Deutschland. Was die wirtschaftliche Seite der Frage betrifft, so bin ich von fachmännischen Analysen abhängig. Es scheint mir aber zutreffend zu sein, daß im Hochkapitalismus das Judentum den Schutz der herrschenden Klasse fand, weil es eine unentbehrliche Funktion als Träger der Kapitalvermittlung hatte. Je mehr durch die monopolistische und staatskapitalistische Entwicklung die freie Kapitalvermittlung an Bedeutung verlor, desto geringer wurde die Rolle der Juden, desto mehr verloren sie den Schutz der herrschenden Klasse. Aber die Frage ist: Warum braucht das Judentum solchen Schutz? Und warum setzen die Angriffe und Verfolgungen in dem Augenblick ein, in dem die schützenden Gruppen nicht mehr daran interessiert sind, ihre Funktion auszuüben? Wir hatten in der ersten Vorlesung den religiösen Antijudaismus in seiner Entstehung und seiner Entwicklung beschrieben. Für die gegenwärtige Situation ist es wichtig zu verstehen, warum aus dem religiösen Antijudaismus politischer Antijudaismus und aus dem politischen Antijudaismus politischer Antisemitismus wurde. Bekanntlich ist Deutschland in dieser Entwicklung nicht vorangegangen. Theoretisch gingen die Franzosen und Engländer voran. Die soziale (niemals aber politische) Ausschließung der Juden in Amerika war viel wirksamer als im Vor-Hitler-Deutschland. Auf der anderen Seite ist in Amerika die freiwillige Absonderung der Juden viel stärker, als sie seit den Zeiten der Emanzipation irgendwo in Westeuropa war. Die Stadt New York enthält die größten und einflußreichsten jüdischen Siedlungen der Welt. Es ist die größte jüdisdie Stadt, die es gibt. Aber diese Siedlungen sind in bestimmten Gegenden konzentriert, und diese Absonderung ist gewollt, nidit erzwungen. Ein Problem entsteht erst in dem Augenblick, wo einzelne aus diesen abgesonderten Gruppen heraustreten und einen 146
Platz in der übrigen Gesellschaft sudien und größere Schwierigkeiten haben, ihn zu finden, als in Deutschland etwa im Jahre 1900. All das kann natürlich in keiner Weise mit dem verglichen werden, was in Deutschland unter Hitler geschah. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert wurde in Europa der religiöse Antijudaismus in allen Ländern benutzt, um die Kritik von den herrschenden Klassen auf eine Minorität abzulenken. Die Verzweiflung der Massen in ökonomischen Krisen wurde auf diese Weise erfolgreich zur Abreaktion gebracht, und zugleich konnten die herrschenden Klassen sich auf Kosten der Juden bereichern. Dieser Ablenkungs-Antijudaismus hat grauenvolle, aber immer nur gelegentliche Verfolgungen der Juden produziert. Der systematische Antisemitismus ist eine Erfindung der naturalistischen Anthropologie des späten 19. Jahrhunderts. Die biologische Rassentheorie, die auf bestimmte Beobachtungen gegründet war, wurde in einer dilettantischen und verzerrten Weise für politische Zwecke mißbraucht. Diese Entwicklung spielte in die Hände der totalitären Diktatur, die einen absoluten Feind nötig hat, und ihn schaffen müßte, wenn er nicht gegeben wäre. Es gibt nichts Absurderes, nichts Irrationaleres als den politischen Antisemitismus. Die Gründe, die man angibt, um ihn zu rationalisieren, heben sich gegenseitig auf. Wenn man jemanden kritisiert, hat man normalerweise die Absicht, das, was man kritisiert, zu ändern. Aber nichts wäre für einen Antisemiten unangenehmer als die Vorstellung, daß „der Jude" sich unter dem Einfluß seiner Kritik ändern würde. Normalerweise werden einzelne für eine falsche Haltung oder für ein Verbrechen verantwortlich gemacht. Der Antisemit macht keinen Einzelnen verantwortlich, sondern er etabliert das Bild einer Gruppe von Menschen, die durch ihr bloßes Dasein schuldig sind, und wo die persönliche Verantwortung und damit die Forderung, eine Person als Person zu behandeln, verschwindet. Im Falle eines Verbrechens wird der Verbrecher als Verbrecher für schuldig erklärt, wenn es sich um einen Nichtjuden handelt; er wird als Jude für schuldig erklärt, wenn es sidi um einen Juden handelt. Wenn man sich diese Absurditäten vergegenwärtigt, möchte man an der stoischen Lehre zweifeln, daß jeder Mensch von der Natur an der universalen Vernunft teilhat. Oder man muß annehmen, daß Massenpsychosen scheinbar vernünftige Leute in einen Zustand versetzen können, in dem sie aufhören, an der allgemeinen Vernunft teilzuhaben. Im Mittelalter klagte man ein Kollektiv an, das als solches existierte, das Ghetto, in den meisten Fällen mit Unrecht, aber doch noch mit einem Schein von Vernunft. Heute klagt man einen Typ an, nidit ein Kollektiv und nidit einen Einzelnen. Das hängt zusammen mit der 147
naturalistischen Entmenschlichung des Menschen, mit der fortschreitenden Versachlichung des Persönlichen in der industriellen Gesellschaft. Die Absurdität des Ganzen wird besonders deutlich, wenn der instinktive Antisemit einem wirklichen Juden begegnet. Dieser wirklidie Jude wird dann immer als die Ausnahme von der Regel angesehen. In der Begegnung mit dem wirklichen Juden bricht das Bild des Typus zusammen. Es kann nicht verifiziert werden. Aber der Antisemit will, daß es wahr ist, und darum wird der einzelne Jude als Ausnahme angesehen. Das typologische Denken ist unhistorisch. Es darf nicht anerkennen, daß Persönlichkeiten und Gruppen geschichtlichem Wandel unterworfen sind. Es kann nicht glauben, daß der Typus, den es angreift, sich ändern kann, und darum muß er ausgerottet werden. Das biologische Denken betont die Vererbung des Typus, freilich ohne wissenschaftliches Recht. Erworbene Eigenschaften werden nicht vererbt, und die meisten Eigenschaften, die im Bild des typischen Juden vorkommen, sind erworbene Eigenschaften. Sie sind das Resultat spezieller soziologischer Bedingungen, und sie ändern sich mit diesen Bedingungen. Die moderne Tiefenpsychologie zeigt aufs deutlichste, daß es Kindheitseinflüsse sind, die den Charakter bestimmen, Einflüsse, die abhängig sind von der allgemeinen und speziellen Umgebung, in der das Kind aufwächst. Aber solche Argumente haben keine Wirkung auf den Antisemiten. Das Dogma steht fest, und das Dogma sagt, daß „der Jude" ein Typ ist. Typ steht gegen Geschichte, Natur steht gegen Persönlichkeit, Ererbtes steht gegen Erworbenes. Aber wenn der Typ der Geschichte vorgeordnet ist, wird der Mensch nicht mehr als Mensch gewürdigt. Der Antisemitismus beruft sich darauf, daß vom Standpunkt der übrigen Völker das Jüdische als etwas Fremdes empfunden wird. Zweifellos liegt etwas Fremdes vor. Aber wenn ich das Wort „das Fremde" höre, und zwar in einem negativen Sinn, dann denke ich an die Antwort, die Hamlet dem Soldaten gibt, der sagt: „Bei Gott, dies ist erstaunlich fremd" . . . nämlich: „So heißt als einen Fremden es willkommen." Es gibt willkommenes und unwillkommenes Fremdes. Das Fremde ist unwillkommen, wenn es ein Teil des Eigenen ist, das nicht in das Ganze aufgenommen werden kann. Es ist das, was wir den Fremdkörper nennen, der in einen biologischen Organismus eindringt und den der Organismus entweder einkapseln oder ausscheiden muß, und an dem er, wenn ihm beides nicht gelingt, zugrunde geht. Jede soziale Minorität zerbricht das selbstverständliche Insichsein der sozialen Gruppe. Das ist der Unterschied zwischen dem Fremden, das innerhalb, und dem Fremden, das außerhalb der Gruppe liegt. Wir hatten 148
gesehen, daß die Deutschen das Fremde lieben, zum Teil weil sie sidi selbst loswerden und im Fremden verlieren wollen. Aber das Fremde, das sie unter sich selber haben, können sie nicht ertragen, weil es sie aus der Selbstverständlichkeit ihrer Selbstbejahung herausreißt und weil diese Selbstverwirklichung so schwach ist, daß sie nichts Fremdes in sich aufnehmen kann. Daraus entsteht ein Gefühl der Angst. Das Fremde, das mitten unter ihnen ist, schafft Angst über die eigene Selbstverwirklichung. Vielleicht kann man sagen: Für das deutsche Unterbewußtsein ist „der Jude" zu nahe, um als Fremder willkommen geheißen zu werden, und nicht nah genug, um als Eigener erlebt zu werden. Das hat nun umgekehrt zur Folge, daß „der J u d e " in eine Situation gebracht wird, in der das, was im Typus beschrieben wird, sich in der Wirklichkeit verstärkt. Wenn man von den grauenhaften Karikaturen einer pervertierten Typologie, wie sie z. B. „Der Stürmer" gebracht hat, absieht, bleibt doch übrig, daß gewisse Charakterzüge dadurch, daß ihre Träger als Fremde behandelt werden, sich verstärken. Darum kann man sagen: Ideell wie real schafft der Antisemitismus das, wogegen er kämpft. Und er muß es ja schaffen, da er es in der Wirklichkeit nicht finden kann. Der Antisemit - das ist ein weiterer Beitrag zu seiner Analyse - ist erschreckt von dem Spiegel, den ihm der Jude vorhält. Es gibt Momente, in denen wir eine Abneigung, ja einen Ekel vor uns selbst haben, wenn wir uns im Spiegel sehen. Der Spiegel sagt uns, was wir für die anderen sind, die auf uns blicken. In vielen Äußerungen jüdischer Kulturträger findet sich etwas, was für den Deutschen „Spiegel" ist. Der Deutsche weiß, daß der Spiegel die Wahrheit sagt, aber er kann das Bild nicht ertragen, und darum reagiert er gegen den, der es ihm vorhält. Das bedeutet nicht, daß der, der den Spiegel schafft, nicht selbst eines Spiegels bedarf und gegen ihn wahrscheinlich ähnlich reagieren würde. Ich spreche weder philosemitisch noch antisemitisch, sondern analytisch. Damit sind wir an einen Punkt gekommen, an dem das theologische Problem anfängt. Denn der Spiegel, den das Judentum dem Deutschen vorhält, kommt aus der prophetischen Tradition und hat darum eine besondere Bedeutung und eine besondere Vollmacht. III Das zentrale Thema des heutigen Vortrags ist die Judenfrage als religiöses Problem. Die Bemerkungen des zweiten Vortrags über den Bruch in der Geschichte Israels und Deutschlands durch eine prophe149
tische Bewegung deuteten schon darauf hin, daß das jüdische Problem letztlich nur vom Religiösen her verstanden werden kann. Es ist nicht ausreichend, soziologische und sozialpsychologische Analysen zu geben, wie wir es im zweiten Vortrag getan haben. Der Grund dafür ist, daß in der Geschichte des jüdischen Volkes etwas Einmaliges und Einzigartiges vorliegt, das nur durch eine religiöse Analyse begriffen werden kann. Die soziologische Frage selbst drängt zur religiösen Frage. Denn obgleich es möglich ist, alle bekannten soziologischen Kategorien auf die Geschichte des jüdischen Volkes anzuwenden, nachdem diese Geschichte einmal gegeben ist, bedarf es doch einer tiefergehenden Erörterung der Frage, warum es eine solche Geschichte geben konnte. Sicherlich kann eine Gruppe wie das Judentum, nachdem sie einmal da ist und sich durch eine dreitausendjährige Geschichte hindurch erhalten hat, für die Mechanik der Ablenkung benutzt werden. Sie kann typologisdi karikiert werden, es können in ihr selbst psychologische Konflikte entstehen. Aber die entscheidende Frage ist: Wie kommt es, daß solch eine Gruppe da ist? Wir haben vom christlichen Antijudaismus gesprochen, der von den Zeiten des Neuen Testaments an durch die ganze Kirdiengeschichte geht. Aber auch das gibt keine ausreichende Erklärung der fundamentalen Tatsache. Das Christentum hat auch andere Minoritäten bekämpft. Aber in keinem Fall ist etwas entstanden, was dem christlichen Antijudaismus auch nur ähnlich wäre. Damit kommen wir zu dem fundamentalen Problem der gesamten Vorlesung, und das ist ein theologisdies Problem. Darum möchte ich heute eine theologische Analyse geben und in der letzten Vorlesung die Einsichten, die dabei gewonnen werden, auf die jüdische und die deutsche Situation anwenden. Vielleicht sind manche unter Ihnen der Meinung, daß die philosophischen und theologischen Gedankengänge, denen wir heute nachgehen wollen, abseits des eigentlichen Themas liegen. Aber ich hoffe, Ihnen zeigen zu können, daß diese abseitsliegenden Gedankengänge das Thema im Zentrum treffen. Wo immer die Erfahrung des Heiligen gemacht wird, ist es die Erfahrung von etwas, das uns unbedingt angeht, weil in ihm der Grund und Sinn unseres Seins beschlossen liegt. Das Heilige ist das, was uns unbedingt angeht, was wir nicht abschieben können. Wir können es nicht begrenzen, weder zeitlich noch räumlich. Es kommt mit unbedingtem Anspruch auf uns zu. - Wo immer das, was uns unbedingt angeht, sich manifestiert, zeigt es zwei Seiten. Auf der einen Seite manifestiert es sich als das, was ist, was Gegenwart hat, was uns ergreift, was allem Handeln und Denken vorangeht. Das Heilige kann 150
nicht von etwas anderem abgeleitet werden, auch nicht von dem moralisch Vollkommenen oder von dem erkenntnismäßig Wahren. Das Heilige schließt das Gute und Wahre in sich, aber es ist nicht von ihnen geschaffen - es ist ihre letzte Wurzel. Die andere Seite des Heiligen ist, daß es nie vollendet ist, daß es immer fordert, daß es Vollkommenheit verlangt und Erfüllung verheißt. Das Heilige enthält in sich die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, eine Spannung, die bis in die tiefsten Wurzeln alles Seins hinunterreicht. Die Spannung der beiden Elemente des Heiligen hat polaren Charakter. Der eine Pol bedingt den anderen. Sobald aber diese wechselseitige Abhängigkeit in Frage gestellt wird, entstehen Konflikte. Das, was zusammengehört, wird zerrissen, und die Teile bewegen sich gegeneinander. Sein und Sein-sollen kämpfen miteinander. Freilich kann dieser Kampf nie zu einer totalen Trennung führen, da die Sphäre des Heiligen selbst aufhören würde, wenn einer der beiden Pole ganz verschwände. - Das Heilige, sofern es gegenwärtig ist, hat sakramentalen Charakter und wird vom Priester bewahrt und verwirklicht. Das Heilige, sofern es gefordert ist, hat prophetischen Charakter und macht das Geforderte zum Maßstab des Bestehenden. Beide Pole finden sich in der gesamten Religionsgeschichte, im persönlichen religiösen Leben wie in der öffentlichen, organisierten Religion. Wir haben überall entweder einen mehr sakramental-priesterlichen oder einen mehr sozialprophetischen Typ. Wenn der priesterliche Pol allein übrigbleibt, wird das Sakramentale zur Magie, wenn das Prophetische allein übrigbleibt, wird die Verkündigung zum Gesetz. In beiden Fällen ist die Wahrheit des Heiligen verdunkelt. Nur wenn beide Pole in irgendeiner Weise wirksam sind, ist das Heilige real. Das schließt aber nicht aus, daß Konflikte zwischen beiden Polen stattfinden, wie sie immer und überall in der Geschichte der Religion stattgefunden haben. Auch die Geschichte des Verhältnisses von Judentum und Christentum und von beiden zum Deutschtum ist durch diese Polarität bestimmt. Wir versuchen nun, jeden dieser beiden Pole näher zu beschreiben. Wo das Heilige als gegenwärtig erlebt wird, haben wir es mit einer sakramentalen Form der Religion zu tun. Das Wort sakramental umfaßt viel mehr als die sogenannten Sakramente im engeren Sinn. Es umfaßt alle Dinge und alle Vorgänge, in denen das Heilige als gegenwärtig angeschaut wird. Daraus können sich dann Sakramente im spezifischen Sinn des Wortes entwickeln. Diese sind zuweilen nur Überbleibsel einer universalen sakramentalen Haltung der Wirklichkeit gegenüber. Wo eine solche Auffassung des Heiligen vorliegt, wird die heilige Gemeinschaft zur Mutter jedes Einzelnen, der ihr angehört. Die 151
Mutter geht dem Kind voraus, sie ist immer schon da, wenn das Kind da ist. In derselben Weise geht die Kirche dem einzelnen Gläubigen voraus. Sie ist ein heiliges Sein, von dem der Einzelne Heiligkeit nehmen mag, aber es ist nicht er, der das Ganze heilig macht. In einer sakramentalen Kirdie gibt es heilige Gegenstände, heilige Vorgänge, heilige Funktionen und heilige Personen. Heilig in diesem Sinne heißt nicht: moralisch vollkommen, sondern es heißt: geweiht, dem zugehörig, was uns unbedingt angeht. Der sakramentale Typ der Religion ist abhängig von der Tradition, durch die die mütterliche Substanz von einer Generation zur anderen weiter gegeben wird. In diese Tradition, in diese Substanz ist man hineingeboren, und die priesterlidien Träger dieser Tradition sind Vermittler des Heiligen für jeden, der zu ihr gehört. Das gibt den Trägern der Substanz einer solchen religiösen Gruppe Autorität. Priesterliche Autorität ist die Autorität dessen, in dem das Heilige gleichsam substantiell verkörpert ist. Die Autorität dessen, der der Träger des Heiligen ist, madit ihn unantastbar, gibt ihm die Unverletzlichkeit des Tabus und schließt religiöse Kritik aus. Es gibt Stufen der Autorität des Heiligen: die Träger der religiösen Substanz sind hierarchisch gegliedert. Es gibt Stufen der Heiligkeit: die sakramentale Mächtigkeit der höheren Stufen ist größer als die der niederen, ganz unabhängig von den persönlidien Qualitäten des Trägers. Das vollendete Bild eines solchen sakramentalen Systems ist die römisch-katholische Kirche. In der Lehre von der Unfehlbarkeit des Stellvertreters Gottes auf Erden hat die Betonung des gegenwärtigen Heiligen einen unüberbietbaren Ausdruck gefunden. Und dodi fehlt in einem solchen Gebilde das Element der Forderung nicht ganz. Sie ist lebendig als das Gesetz der Lehre und des Lebens, das durch die Hierarchie vermittelt wird. Aber im sakramentalen System bewegt sidi die Forderung innerhalb des Systems. Sie kann nie gegen das System als solches geriditet sein. Ganz anders auf dem entgegengesetzten Pol: die Forderung bleibt nicht innerhalb der sakramentalen Bindung, sondern bricht aus ihr heraus und richtet sich gegen das System selbst. Audi in diesem Falle sind es Elemente des Systems, in deren Namen das System kritisiert wird. Der Träger dieser Kritik ist der Prophet. Er kritisiert nicht von außen wie der Aufklärer, sondern er kritisiert von innen als der Vertreter des Willens Gottes gegen das priesterlich fixierte, sakramentale System, z. B.: er verkündet die sozialen Folgerungen aus dem Liebesgebot gegenüber der mechanischen und sozial indifferenten Ausübung ritueller Frömmigkeit. Der Prophet ist nicht ein Mantiker, das heißt, er ist nidit dadurch charakterisiert, daß er die Zukunft voraus152
sagt. Als Prophet sprechen heißt, den Willen Gottes sagen, Drohungen und Verheißungen aussprechen, aber nicht, wie der Mantiker, aus irgendwelchen Anzeichen zukünftige Schicksale voraussagen. Der Prophet ist der, der am schärfsten das angreift, was im Namen des gegenwärtigen Heiligen gegen die unbedingte Forderung getan wird. Das bedeutet nicht, daß der Prophet das Sakramentale als solches angreift. Es gehört nicht zu seinem Wesen, die priesterliche Frömmigkeit zu verneinen. Er selbst kommt ja aus der sakramentalen Substanz der Kirche. Er kehrt in sie zurück, und aus seiner Verkündigung, wenn sie erfolgreich ist, folgt eine umgeformte sakramentale Frömmigkeit. Aber der Prophet verneint das Sakramentale, sobald es als solches einen Anspruch erhebt, durch sidi selbst heilig zu machen unter Absehung von der Heiligkeit des Geforderten. Er bekämpft den magischen Mißbrauch der Gegenwart des Heiligen. Er blickt auf die soziale Situation und die Ungerechtigkeiten, die der priesterliche T y p entweder übersieht oder gar selber ausübt. - Der prophetische T y p ist im Gegensatz zum sakramentalen Muttertyp Vatertyp. In ihm wendet sich die Tradition gegen sich selbst und zerbricht ihre eigene Unmittelbarkeit und Sicherheit. Der einzelne Mensch wird direkt mit Gott und seiner unbedingten Forderung konfrontiert. Das Priestertum verliert seine Mittlerstelle. Die Autorität der Hierarchie zerbricht. Die Stufen der Heiligkeit verlieren ihren Sinn, da jeder in gleicher Weise unfähig ist, vor der absoluten Forderung zu bestehen. Das Tabu, das die Kirche und ihre Vertreter vor Kritik schützte, verschwindet. Der Prophet kritisiert jeden, der sidi hinter das sakramentale Tabu verstecken will. Und doch ist auch hier die Gegenwart des Heiligen nidit ausgelöscht. Der Prophet erhebt seine Forderung nicht auf Grund eines abstrakten moralischen Gesetzes, sondern auf Grund des Bundes, den Gott mit dem Volk geschlossen hat, oder auf Grund des Geschehens, auf dem die Kirche ruht. Diese beiden Typen, die wir in Kürze beschrieben haben, betonen jeder ein anderes Element des Wesens des Heiligen. Auf beiden Polen aber findet sidi ein besonderes Verhältnis zu den Kategorien von Raum und Zeit. Und das ist von entscheidender Wichtigkeit für unser Problem: das Sakramentale als das gegebene Heilige kann man greifen und sehen. Man kann mit ihm umgehen, es ist hier an diesem Ort, es ist raumgebunden. Das Heilige ist gegeben, man kann es sehen und hören und schmecken, es ist gegenwärtig in diesem Ding, diesem Vorgang, dieser Person, dieser Gruppe. Alles, was ist, muß sich einen Raum schaffen. Dasein heißt, sich einen Raum schaffen. Raumlosigkeit ist Daseinslosigkeit. Das ist zunächst im einfadien geographischen Sinne 153
gemeint: um da zu sein, muß man einen Platz im Weltenraum oder im irdischen Raum haben. Aber es gibt darüber hinaus auch einen seelischen, sozialen und politischen Raum, einen Platz, in dem man zuhause ist, der einen abgrenzt und schützt gegen die verschlingende Unendlichkeit unendlicher Möglichkeiten. Man muß irgendwo nicht nur Möglichkeit, sondern auch Wirklichkeit haben. Wirklichkeit haben heißt Gegenwart haben, und Gegenwart haben heißt etwas gegenüber haben, einen Platz, auf dem man steht und von dem aus man auf das Gegenüber blickt. Diese Analyse des Verhältnisses von Raum und sakramentaler Heiligkeit macht den Polytheismus, dieses rätselhafte Gebilde in der Geschichte der Menschheit, verständlich. Die Götter des Polytheismus sind die raumgebundenen Götter. Das ist ihre Macht, und das ist ihre Grenze. Nicht die Vielzahl charakterisiert den Polytheismus, sondern das Nebeneinander. Und das Nebeneinander macht den Raum zum Raum. Im Polytheismus werden die Räume, die nebeneinanderliegen, zu unbedingter Gültigkeit erhoben, sie erhalten Heiligkeit, symbolisiert in Göttern, die einen bestimmten Raum beherrschen, sei es ein geographischer Raum, dem ein Gott zugeordnet ist, sei es ein sozialer Raum, den ein Gott regiert, sei es ein Wertgebiet, das von einem Gott repräsentiert wird. - Die Raumgebundenheit des Heiligen im Polytheismus führt zu den Konflikten zwischen Gott und Gott, die den Polytheismus charakterisieren. Das Heilige, das, was uns unbedingt angeht, hat selbst unbedingten Charakter. Daraus folgt, daß jeder polytheistische Gott universalen Anspruch erhebt. Er dringt über den Raum, dem er zugeordnet ist, hinaus, und will alle Räume erobern. Der politische Imperialismus ist nur eine Seite des Imperialismus der polytheistischen Götter. Es ist der Imperialismus dessen, was auf der einen Seite absolut ist und auf der anderen Seite räumlich gebunden ist, aus dem der Kampf um den universalen Raum folgt. Die Leidenschaft, der Impetus, die Hingabe, ohne die nie ein Imperium geschaffen worden wäre, folgt aus dem Gefühl eines absoluten Anspruchs, den der eigene Raum und der ihn repräsentierende Gott erheben muß. Selbstverständlich steht hinter jedem Imperialismus der Wille zur Madit und das volle Gewicht der ökonomischen Interessen. Aber die Geschichte hat auch gezeigt, daß ohne den Schwung, den der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Gottes oder des eigenen Wertsystems gibt, der Imperialismus keine Aussicht hat, sich zu verwirklichen. Aus dieser Struktur ergibt sich der Konflikt der Götter und mit ihm der Konflikt der Imperien und ihre gegenseitige Zerstörung. Es ist wie im Einzelleben, wo der Konflikt unbedingter Wertungen zur Zerstö154
rung der Einzelpersönlichkeit führt. Entweder zerbricht die Einheit des persönlichen Zentrums, oder eine Wertung unterwirft alle anderen, aber so, daß die anderen nur unterdrückt und nicht in die Einheit aufgenommen werden. In beiden Fällen ist die Persönlichkeit in ihrer Existenz bedroht. Genauso liegt es in der Struktur der Imperialismen und ihres polytheistischen Hintergrundes. Polytheismus ist nicht etwas Vergangenes. Polytheismus ist eine immer gegenwärtige Möglichkeit. Es ist die Tendenz in jedem Volk und jeder Gruppe, den eigenen Raum im Namen des Heiligen absolut zu setzen und allen anderen Räumen entgegenzustellen. Aus diesem polytheistischen Urkonflikt entsteht die Rechtfertigung der sozialen und politischen Ungerechtigkeit. Die sakrale Ungerechtigkeit ist der Hintergrund aller anderen Ungerechtigkeit, weil sie der Ungerechtigkeit eine religiöse Weihe gibt. Das gilt sowohl für die Unterdrückung der sakral niederen durch die sakral höheren Klassen in einer feudalen Ordnung, wie für die Unterdrükkung einer Nation oder einer Rasse durch eine andere, die sich selbst an die Spitze einer polytheistischen Wertordnung stellt. Das ist die Welt, gegen die die Propheten zu kämpfen hatten und der prophetische Geist in allen anderen Zeitaltern kämpfen muß. In der Sphäre des Prophetischen ist nicht der Raum, sondern die Zeit entscheidend, und da die Zukunft der maßgebende Modus der Zeit ist, ist das Prophetische der Zukunft verbunden. Sicherlich, da alles, was ist, einen Raum haben muß, entsteht auch das Prophetische in einem bestimmten Raum, aber es durchbricht die Gebundenheit an diesen Raum, nicht zugunsten eines universalen Raumes wie der Imperialismus, sondern zugunsten der Zeit. Es gibt keine Geschichte, die für diese Situation so charakteristisch wäre, wie die Geschichte von der Berufung Abrahams. Hier findet sich in klassischer Symbolik alles, was wir über den Kampf von Raum und Zeit gesagt haben. Abraham wird herausgerufen aus der Raumgebundenheit, in der er stand, aus den sozialen, kulturellen und religiösen Bindungen, die ihm sein Dasein gaben. Er wird herausgerufen aus dem Raum in die Zeit. Die sakral geweihte Raumgebundenheit, die er mit allen gemeinsam hatte, wird durchbrochen. Das bedeutet nicht, daß der Raum als Raum verneint wird. Er soll ja in ein Land gehen, das Gott ihm zeigen will. Aber dieser Raum der Zukunft wird unbestimmt gelassen. Es ist ein Raum, der durch den Modus der Zukunft bestimmt ist, und Zukunft ist der Modus der Zeit, ihr entscheidender Modus. D a s Ereignis, das in Abrahams Berufung symbolisiert ist, hat sich in der jüdischen Geschichte immer wiederholt. Das Ereignis, durch das Israel als geschichtliche Wirklichkeit geschaffen wurde, heißt traditio155
nell Exodus, das Hinausgehen aus einem Raum, nämlidi aus Ägypten, in dem das Volk Dasein hatte, wenn auch kein selbständiges Dasein. Die weitere Geschichte ist eine Geschichte fortwährender Exile, das heißt Vertreibungen aus dem Raum, zu dem man gehört. Sie wird zu einer Geschichte der Diaspora, das heißt der Zerstreuung in anderen Nationen und neuer Exile, nämlich Vertreibungen aus diesen Nationen. Auch das jüdisdie Volk hat einen Raum, ohne ihn hätte es ja kein Dasein. Aber es ist nicht sein eigener Raum. Es ist Gastraum, und der Gastraum ist ungesichert, da er jederzeit verweigert werden kann und verweigert worden ist. All das bedeutet den Obergang des jüdischen Volkes aus der Raumgebundenheit zu dem Verhaftetsein an die Zeit, und das hat eine dreifache Konsequenz: Die Zeitlinie ist die Linie der Geschichte, sie ist die Linie des Monotheismus, und sie ist die Linie der Gerechtigkeit. - Geschichte als Geschichte ist determiniert durch die Zukunft. Geschichtsschreibung hat mit der Vergangenheit zu tun, aber das Leben in der Geschichte ist Leben, das in die Zukunft hineingeht. Der Historismus des späten 19. Jahrhunderts verwechselte Geschichtsschreibung und Geschichtsleben, und er schuf das Spätbürgertum, das ein ungeheures geschichtliches Wissen und keinerlei Geschichtsbewußtheit hatte. Geschichte geht auf etwas zu, etwas Unbestimmtes, etwas Neues, etwas anderes als das, von wo man herkommt. Geschichte wiederholt sidi nicht. In ihr ist das Neue geschaffen. Darum ist geschichtliche Zeit unumkehrbar. Physikalische Zeit ist umkehrbar, nicht aber geschichtliche Zeit. Darum ist Geschichte immer eine Geschichte des Kampfes mit den Ansprüchen der Raumgötter, und darum ist das Volk, das die Zeit gegen den Raum vertritt, notwendig der Feind aller raumgebundenen Nationalismen und Imperialismen. Es gab schon einen römischen Antijudaismus noch ehe es einen christlichen gab. Im römischen Pantheon waren die Götter aller Räume versammelt, aber dem Gott des römischen Raumes unterworfen. Und die Römer fühlten, daß die Juden durch den Gott der Zeit, dem sie dienten, den Raum des Imperiums angriffen. Er war nidit das Letzte, Unbedingte, das er für die Römer war und für die unterworfenen Völker zu sein beanspruchte. Das Gefühl der Römer war berechtigt. Das Judentum ist Angriff auf das Pantheon der Götter, weil es seinem Wesen nach als Zeitgebundenheit Monotheismus ist. Polytheismus ist nicht Vielheit von Göttern an und für sich, Monotheismus bedeutet nicht, daß ein Gott gegen die vielen steht. Sondern Polytheismus ist Gebundenheit an die Götter der Räume, und Monotheismus ist Gebundenheit an den Gott der Zeit. Solange der jüdische Gott als jüdischer Nationalgott gegen andere 156
Nationalgötter steht, ist er ein raumgebundener polytheistischer Gott wie alle anderen, auch wenn er nur einer ist. Erst als durch die prophetische Kritik die Gebundenheit Jahwes an sein Volk zerschnitten war, wurde der Gott Israels zum Gott des Monotheismus. Er wurde es, als er zum Gott der Zeit wurde. Die Universalität des Gottes der Zeit ist die Universalität des Gottes der Gerechtigkeit. Gott ist nicht an Israel gebunden, wenn Israel den Bund bricht, den Gott mit ihm geschlossen hat und der auf Gerechtigkeit gegründet ist. Es ist eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit, als Arnos, der erste der großen Propheten, Israel mit Zerstörung bedrohte und den Schnitt zwischen Gott und dem Raum, dem er zugeordnet war, madite. Die heidnischen Götter leben von der Zugehörigkeit zu ihrem Raum. Sie leben von den Opfern, die eine geschichtliche Gruppe ihnen bringt. Der Gott, von dem Arnos spricht, erklärt, daß jede Berufung auf Auserwähltheit und priesterlichen Kultus umsonst ist, wenn die Gerechtigkeit zerstört wird. Diese Verkündigung des Arnos, die von allen Propheten aufgenommen wurde, war die Geburtsstunde des echten Monotheismus, eines Monotheismus, der etwas anderes ist als ein Polytheismus, der nur einen Gott kennt. Der Gott des echten Monotheismus steht gegen jede sakral geweihte Ungerechtigkeit. Er verneint alle sakramental begründeten Vorrechte, er stellt die Träger des Heiligen unter das Sollen, unter das Gericht und unter die Verheißung, die in die Zukunft greift. Er ist der Gott der Geschichte und der Zeit. Die Geschichte des Judentums ist ein ständiger Konflikt zwischen der Macht des Raumes, dem alles, was Dasein hat, unterworfen ist, und der Forderung der Zeit, die aus den Sicherungen des Raumes herausreißt. Auf der einen Seite steht die Bundesschließung, die Erwählung Israels, die Gegenwart Gottes in Israel, die Gabe des Gesetzes, die Zusammengehörigkeit von Gott und Volk. Auf der anderen Seite steht der Bruch des Bundes durch Israel, der Schnitt zwischen Gott und dem Volk, das Gericht und die Verwerfung. Aber die Verwerfung hebt die Erwählung nicht auf. Es ist immer ein Rest da, der dem Gott der Zeit gehorsam bleibt und die Funktion des Judentums, das Volk der Zeit zu sein, weiterführt. Darum bleibt das Judentum für alle Zeiten ein Stachel im Fleisch aller Raumvergottung, aller Nationalismen und Imperialismen. In den Zusammenhang dieser Geschichte gehört auch das Christentum. In der Verkündigung Johannes des Täufers findet sich in radikaler Weise der Angriff auf die partikulare raumgebundennationalistische Tendenz in der jüdischen Geschichte. Jesus führt diese Verkündigung fort. Darum haben sich die ersten Christen als Erfüller 157
der prophetischen Tradition des Judentums gefühlt. Sie glaubten, daß erst in dem Ereignis, das sie die Erscheinung des Christus nannten, die volle Universalität erreicht und die Prinzipien des Monotheismus und der Gerechtigkeit durchgeführt seien. Das Christentum war berechtigt, diesen Glauben zu haben, da es die Raumgebundenheit des Jüdischen durchbrach und Erwählte aus allen Völkern sammelte. Aber auch das Christentum entging nidit dem Konflikt zwischen Raum und Zeit. Der Glaube, daß der Messias schon erschienen ist, konnte zu einer neuen räumlichen Bindung führen. Nicht der Berg Sinai, nicht der Berg Zion, sondern der Berg Golgatha ist die Mitte des Raumes für christliches Denken. Was auf diesem Berg etwa im Jahre 30 unserer Zeitrechnung geschah, bestimmt alle Zukunft. In diesem Ereignis ist das Heilige erschienen. Es hat Gegenwart und sakramentale Realität gewonnen. Christus kann das Ursakrament des Christentums genannt werden. Er ist die Quelle alles Sakramentalen in der Kirche. Und auf dieser Basis hat sich die frühkatholisdie Kirdie entwickelt mit ihren stark kultisch-sakramentalen Elementen, und es hat sich die mittelalterliche Kirche entwickelt mit Rom als ihrem heiligen Raum. - Und doch ist das prophetische Element im Christentum nicht verlorengegangen. Das Christentum spricht von einem zweiten Kommen des Christus. Es kennt die Grenzen der Erfüllung innerhalb der Kirche, es weiß, daß die Erfüllung noch kommen muß. So steht das Christentum in der Spannung zwischen dem Heiligen, das gegeben ist, und dem Heiligen, das noch kommen soll, zwischen dem „schon" und dem „noch nicht" der Erfüllung. Die Frage ist immer, welches der beiden Elemente betont wird. Wenn das „schon" betont wird, erhält das Sakramentale ein starkes Übergewicht. Das religiöse Leben wendet sich der Vergangenheit zu, der Tradition und der Autorität und all dem, worin das gegebene Heilige erscheint: Personen, heiligen Schriften, unwandelbaren Lehren, liturgischen Formen. Polytheistische Tendenzen machen sich bemerkbar, und die Gerechtigkeit leidet Schaden. Das ist der Hintergrund aller theologischen Angriffe von Juden auf das Christentum. In einem Gespräch sagte mir ein jüdischer Freund, daß er unmöglich jemanden den Christus nennen könne, der die Wirklichkeit nicht verändert habe. Als historische Realität sei das zwanzigste Jahrhundert nicht vollkommener als das erste. Die Weltgeschichte als solche gebe kein Argument für die Anerkennung Jesu als des Christus. Und wie könne man, sagte er, jemanden den Christus nennen, dessen Werk gescheitert sei? Solche Gesprädie enthüllen den Kampf zwischen Raum und Zeit, der sowohl ein Kampf zwisdien Judentum und Christentum als auch ein Konflikt innerhalb des Judentums und des Christentums ist. 158
Der Konflikt innerhalb des Christentums wird dadurch verschärft, daß die christlichen Nationen ihrer eigenen nationalen Kultur die sakramentale Weihe des Christentums geben lassen. Das Heilige, das in der Kirche als gegenwärtig gesehen wird, wird dazu benutzt, der nationalen Wirklichkeit Weihe und dadurch Absolutheit zu geben. Aus diesem Versuch ergibt sich die Einheit von Staat und Kirche, die sich verhältnismäßig früh in den christlichen Völkern durchsetzte und die die prophetische Kritik sowohl am Staat wie an der Kirche fast unmöglich machte. Das christliche Staatskirchentum bedeutet einen fast völligen Sieg des Sakramentalen über das Prophetische. Und doch war das Prophetische auch im Christentum nidit tot. Die Kirchengeschichte zeigt ständige innerkirchlich-prophetische Reaktionen gegen die sakramental-hierarchische Realität. Die Träger dieser Reaktionen waren häufig das, was man für gewöhnlich Sekten nennt, und sie wurden vom Standpunkt der großen Kirchen verächtlich behandelt. Aber nicht nur sind viele dieser Sekten selbst große Kirchen geworden, sondern die Sekte, auch wenn sie von der Kirche unterdrückt wurde, bedeutet einen Angriff auf die mit Staat und Gesellschaft identische Kirche. Die Kritik der Sekte steht dem Versuch der sakramentalen Religion entgegen, sich jeder prophetischen Kritik zu entziehen. In diesem Sinne setzten die Sekten fort, was die Propheten begonnen hatten, sie halten das Heilige als Forderung lebendig und den Blick in die Zukunft gerichtet. Audi die Reformation war eine solche prophetische Reaktion. Das Prinzip des Protestantismus ist das prophetische Prinzip, nämlich die Verneinung jedes Anspruchs eines Endlichen, durch sakramentale Weihe an die Stelle Gottes zu treten. Diesen Anspruch hat die sakramentale Kirche des Mittelalters erhoben, und er ist fortgeführt und verschärft worden im mödernen Katholizismus. Darum besteht eine enge Beziehung zwischen Protestantismus und Judentum, darum glaubte Luther, daß es möglich sei, auf Grund der Gemeinsamkeit des prophetischen Protests das Judentum in die protestantische Bewegung hereinzunehmen; darum war er aufs tiefste enttäuscht, als es nicht dazu kam. Es gibt prophetische und quasi-prophetische Bewegungen nicht nur innerhalb der religiösen Sphäre, sondern auch im Kulturellen. Der Kampf der Aufklärung gegen die Tyrannei der Kirchen, gegen den Aberglauben und die Verzerrungen des Christentums in allen seinen Formen bedeutete einen prophetischen Angriff in säkularer Terminologie. Die bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts und die antibürgerlich-sozialen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts haben als Hintergrund den prophetischen Protest. Die Sekten der Reformationszeit sind die Väter vieler moderner Revolutionen, und hinter 159
den Sekten der Reformationszeit stehen die Sekten des Mittelalters, das Urchristentum und der jüdische Prophetismus. Das gilt auch von Revolutionen, die antichristliche und antireligiöse Schlagworte gebrauchten. Sie sind zu dieser Haltung durch die Tatsache gedrängt worden, daß die sakramentalen Kirchen den herrschenden Gruppen verbunden waren und politischer Ungerechtigkeit die religiöse Weihe gaben. Trotz des säkularen, antireligiösen Charakters und trotz der totalitären Perversion, zu der einige der revolutionären Bewegungen geführt haben, war ursprünglich prophetischer Geist in ihnen wirksam. Unsere Analyse der Struktur des Religiösen, vor allem der Polarität des Sakramentalen und des Prophetisdien, macht es möglidi, die Hauptfragen des Themas dieser Vorlesung zu beantworten. Wir können von da aus die Frage des Zionismus, die Frage des Verhältnisses von Judentum und nationaler Selbstverwirklidiung, die Frage des Verhältnisses von Judentum und Christentum beantworten. Vor allem können wir sagen, was die Funktion des Judentums in aller absehbaren Geschichte ist. Es ist seine Funktion, den Geist des Prophetismus wachzuhalten, sidi selbst gegenüber, gegenüber den nationalen Gruppen und gegenüber den christlichen Kirdien, wenn sie der Bindung an den Raum verfallen. Die Juden sind und müssen das Volk der Zeit bleiben. IV Die Frage, die in der heutigen Vorlesung beantwortet werden muß, ist: Was bedeutet die fundamentale religiöse Analyse, die in der dritten Vorlesung gegeben wurde, für die drei Gruppen, mit denen sich die Gesamtvorlesung beschäftigt, für die jüdische, die deutsche und die christliche Problematik? Wenn ich als erstes das Judentum in seiner Beziehung zu Raum und Zeit im Lichte der grundlegenden religiösen Analyse betrachte, fühle ich als Niditjude eine gewisse Unsicherheit. Und diese Unsicherheit wird noch dadurch vermehrt, daß, wie in der letzten Vorlesung gezeigt, die gewöhnlichen soziologischen Kategorien für eine Beschreibung des Judentums unzulänglich sind. Zunächst muß festgestellt werden, daß das Judentum nicht in dem Sinne eine Religionsgemeinschaft ist, wie wir es in den meisten anderen Weltreligionen finden. Man kann die Juden nicht mit einer Gruppe von Buddhisten oder Mohammedanern vergleichen, die in der abendländischen Welt leben und die Religion ihrer Väter bewahrt haben. Die Stellung des Judentums innerhalb des Christentums ist qualitativ anders als die irgendeiner anderen religiösen Minorität. Und doch ist das Judentum eine Religionsgemein160
Schaft. Die Kategorie „religiöse Gemeinschaft" ist auf die Juden anwendbar und zugleich nicht anwendbar. Das gleiche gilt von dem Wort Volk. Im 18. Jahrhundert sprach man von einer jüdischen Nation, aber das Judentum ist nicht eine Nation wie andere Nationen. Es ist nicht durch „natus", durch Geburt, entstanden und durdi geschichtliches Schicksal erhalten geblieben. Es ist, im Unterschied von anderen Nationen, ein Volk, dessen Wesen und Dasein durch die Religion bestimmt ist. Das ist etwas Einzigartiges, Einmaliges. Aber jede Betrachtung geschichtlicher Phänomene muß solche Erscheinungen anerkennen und darf sie nicht in allgemeine Kategorien auflösen. Man könnte sagen, daß in der jüdischen Geschichte die Geschichte ihr Geheimnis ausgesprochen hat. In der griechischen Geschichte zum Beispiel hat die Geschichte ihr Geheimnis verborgen gehalten. Die Geschichte bleibt der Natur, die Zeit dem Raum untergeordnet. Wenn wir von da aus an die jüdische Geschichte herangehen, so müssen wir sagen: Das Judentum ist Volk, aber es ist Volk in einem einzigartigen Sinne. Es ist zugleich Volk und Nicht-Volk in demselben Sinne, in dem es zugleich Kirche und Nicht-Kirche ist. Die Situation des Judentums, Volk und zugleich Nicht-Volk zu sein, kommt darin zum Ausdrude, daß der Jude immer wieder aus seinem gegebenen Raum herausgetrieben wird. Blicken wir schärfer auf den Begriff der Diaspora, der Zerstreuung, auf den wir in der vorigen Vorlesung aufmerksam gemacht haben: Für das Judentum ist Diaspora nicht ein geschichtlicher Zufall, sondern ein Begriff, der das Wesen des Juden selbst ausdrückt. Vom Raum her gesehen lebt das Judentum notwendig in der Zerstreuung. Wenn sonst ein Volk unter anderen Völkern zerstreut wird, geht es in ihnen auf. D a s Problem der Diaspora wird durch Anpassung beantwortet. D a s ist nicht so im Judentum, für das die Diaspora echtes Schicksal ist. Es ist das gleiche, ob man sagt „Volk der Zeit" oder „Volk, das Nicht-Volk ist". Die Mehrheit der Juden, wenn sie diese Situation fühlt oder erkennt, versucht ihr auszuweisen. Das ist kein moralischer Mangel, sondern es ist eine fast unvermeidliche Folge der widerspruchsvollen Situation, in der sich das Judentum befindet. Es gibt zwei Wege, auf denen man ausweichen kann. Der erste Weg ist die Assimilation. Man vermeidet den Zustand der Diaspora dadurch, daß man diejenige Seite der jüdischen Existenz, nach der es ein Volk ist, aufgibt. Man identifiziert sich mit dem fremden Raum, in dem man lebt, nicht nur geographisch, sondern auch psychologisch, soziologisch und kulturell. Die Aufgabe des Volk-Elements bedeutet nicht notwendigerweise eine Aufgabe des religiösen Elements. Man kann sich assimilieren, ohne ein Christ zu 161
werden. Ich denke an gewisse Gruppen des amerikanischen Judentums, insonderheit des liberalen. Hier hat eine erstaunlich weitgehende kulturelle Assimilation stattgefunden, ohne daß die entsprechenden Gruppen ihre religiöse Sonderexistenz aufgegeben haben. Das religiöse Element ist nicht durch Assimilation an die christliche Kultur zerstört. Wo aber die Assimilation gelingt, ist der Sinn der Diaspora verlorengegangen, nämlich die spezielle Sendung, die das Judentum in der Zerstreuung hat. Und dann geht oft auch die religiöse Sonderung verloren, und ein totales Versinken in der christlichen Kultur findet statt. Obgleich die Assimilation in Europa Schiffbruch erlitten hat, gibt es (besonders in Amerika) noch jüdische Kreise, die diese Lösung versuchen. Im großen und ganzen aber hat das Judentum einen anderen Weg eingeschlagen und ihn mit erstaunlicher Energie verfolgt. Es ist der Versuch des Judentums, sidi einen neuen Raum zu schaffen, der sein eigener Raum ist. Das geschieht in der zionistischen Bewegung. Der Erfolg des Zionismus, die Schaffung eines jüdischen Staates und die Besiedlung von Palästina, bedeutet für einen wichtigen Teil der Juden das Ende der Diaspora. Das gilt nicht nur von der Funktion des Judentums, von den soziologischen Kategorien, auf die wir hingewiesen haben, es gilt auch von der seelischen Struktur. Eigenschaften, die den Juden in der Diaspora charakterisieren, verschwinden. Die eigene Verantwortung für das eigene Land und Volk produziert Ideen und Ideale, die dem ähnlich sind, wogegen das Judentum in den Gastländern gekämpft hat. Die Haltung der fundamentalen Volksschichten, z . B . der landwirtschaftlichen Bevölkerung, wird der Haltung der gleichen Schichten in anderen Ländern ähnlich. Die Träger des Judentums als echter Nation sprechen und handeln wie die Träger des nationalen Bewußtseins in anderen Nationen. Das ist denjenigen Juden nicht verborgen, die an dem Judentum als Volk der Zeit und an der Diaspora als ihrem Symbol festhalten. Daraus ergeben sich scharfe Konflikte in der neuen Nation wie auch in der zahlenmäßig weit überlegenen Diaspora. Man ist kritisch gegenüber der Errichtung des jüdischen Staates, ein Ereignis, das weit über das hinausgeht, was frühere Zionisten gewollt haben. Oder man versucht, nachdem der jüdische Staat einmal existiert, ihn theokratisdi zu organisieren, das heißt, das gesamte nationale Leben dem religiösen Ideal unterzuordnen. Das ist der Weg gewisser orthodoxer Gruppen innerhalb des jüdischen Staates. In den täglichen Konflikten, die aus dieser Struktur der nationalen Existenz Israels folgen, zeigt sich die alte Paradoxie des Volkes, das kein Volk, der Religionsgemeinschaft, die keine Religionsgemeinschaft ist. Wenn man das Ziel dieser Gruppen theokratisdi nennt, so darf 162
man dabei theokratisdi nicht mit hierokratisdi verwechseln. Hierokratie ist Priesterherrschaft, Theokratie ist die Herrschaft Gottes, ausgeübt durch Laien und Theologen. Ein säkularer Staat kann theokratisch, aber er kann nicht hierokratisdi sein. Er ist theokratisch, wenn die Gesetze seiner Existenz, die Gesetze der Familie, der Schule, des Rechts dem religiös fundierten Gesetz unterworfen werden. In einer Theokratie ist der Wille Gottes die Grundlage des politischen Aufbaus. Es ist aber durchaus fraglich, ob es möglich ist, einen modernen Nationalstaat auf theokratischer Grundlage aufzubauen. Die bisherige Entwicklung Israels spricht zweifellos dagegen. Dies sind die beiden Wege, in denen viele Juden dem metaphysischen Schicksal der Diaspora ausweichen wollen. Man fragt sich, ob es berechtigt ist, dieses Ausweichen moralisch oder religiös zu verurteilen. Ein Blick auf die Geschichte Israels in der alttestamentlidien Zeit macht es leidit, eine Antwort zu finden. Jeder Versuch, das Reich Gottes mit einer Nation zu identifizieren, muß scheitern. Das war das Problem, mit dem alle führenden Männer des Alten Testaments gerungen haben. Sie erfuhren, daß das berufene Volk ständig dem widersprach, für das es berufen war, daß es ständig seine Sendung und den Bund, auf dem die Sendung beruhte, verriet. Auf der anderen Seite konnten diese Männer nicht glauben, daß göttliche Berufung durch menschliche Schuld zunichte gemacht wird. Die Lösung, zu der sie getrieben wurden, war der Gedanke des „heiligen Restes", der Träger von Forderung und Verheißung ist. Es ist ein Gedanke, in dem Verzweiflung über das Menschliche und Vertrauen auf das Göttliche eine Synthese eingegangen sind. Wenn wir nun im Hinblick auf diese Lösung auf die Masse des jüdischen Volkes blicken, so muß man sich fragen: H a t es einen Sinn, den Durchschnittsjuden in aller Welt dafür zu verurteilen, daß er dem Schicksal der Diaspora entgehen will, daß er es nicht auf sich nehmen will, Volk der Zeit (Volk ohne eigenen Raum) zu sein? Das Problem war einfacher in der Zeit, in der die soziale Form des Ghettos, die den Juden aufgezwungen war, ein Entweichen unmöglich machte. Es gab nur einen Weg dazu, nämlich Bekehrung zum Christentum, und dieser Weg war fast durchweg psychologisch unmöglich. Diese Situation existiert nicht mehr. Ein Entweichen, sei es durch Anpassung, sei es durch Auswanderung nach Palästina, ist möglich. Darf man sagen, daß die Juden, die einen dieser beiden Wege gingen, damit etwas getan haben, was uns das Recht gibt, sie zu verurteilen? Kann man von dem Durchschnittsjuden, der ja Durchschnittsmensch ist, nur wegen seiner Geburt als Jude verlangen, daß er zu dem „heiligen Rest" gehört? Offenbar kann man das nicht. Und man kann es vor allem 163
dann nicht, wenn man außerhalb der jüdischen Gemeinschaft steht und etwas verlangt, was man nidit selbst auf sich nimmt. Wenn man das aber anerkennt, muß man die Frage stellen: Ist es möglich, daß der Raum, den Israel als seinen eigenen Raum gefunden hat, zu neuen Verkörperungen des prophetischen Geistes führt und daß von dort neue Impulse für Israel wie für die Diaspora kommen? Dafür spricht, daß dieser Raum psychologisch und soziologisdi ganz von jüdischem Geist erfüllt ist. Dagegen sprechen die Gefahren, die mit der Raumgebundenheit jeder Nation gegeben sind. Geschichte kann nicht berechnet werden. Meine Frage ist eine Frage an die Zukunft und eine Hoffnung auf die Zukunft. Es ist aber auch möglidi, daß der moderne Nationalismus ganz triumphiert, daß Israel ein Volk wird, das nur noch „Volk" ist, und daß das Element der religiösen Gemeinschaft verlorengeht. Audi für diese Befürchtung gibt es Gründe und Gegengründe, und auch hier gibt es keine Gewißheit. Das sind die Gedankengänge, die sich aus der grundlegenden religiösen Analyse der letzten Vorlesung für das Judentum ergeben. Wir kommen nun zu der zweiten Frage, zu der Frage: Was ergibt sidi daraus für die Situation der Deutschen? Man könnte sagen: Uber eine solche Lösung braucht man nicht mehr nachzudenken, weil die Juden fast völlig aus der deutschen Wirklichkeit verschwunden sind. Aber dies ist keine Lösung. Denn es sind ja nicht individuelle Juden, die Objekt des Antisemitismus sind, sondern das typisierte Bild des Juden, von dem wir in der zweiten Vorlesung gesprochen haben. Und dieses typisierte Bild würde bleiben, wenn kein einziger Jude mehr im Erfahrungsbereich der Deutschen lebte, ja, es würde bleiben, wenn alle Juden vom Erdboden verschwänden. Nur würde es sich dann ein anderes Objekt suchen und etwas andere Züge annehmen. Das typische Bild des Juden ist determiniert nicht durch die Realität, die es beschreibt, sondern durch die Funktionen, die es auszuüben hat. Eine dieser Funktionen ist die der Ablenkung der Unzufriedenheit der Massen mit den herrschenden Klassen auf eine Minorität. Eine andere ist die Ablenkung des Selbsthasses auf ein Objekt, das man hassen kann. Eine dritte Funktion ist die Möglichkeit, andere, und zwar eine bestimmte Gruppe, für den eigenen Mangel an äußerem Erfolg anzuklagen. Diese Funktionen sind konstant. Und sie schaffen den Antisemitismus, oder, wenn es keine Juden mehr gäbe, eine andere AntiBewegung, die die gleichen Funktionen übernehmen würde. Das Versdiwinden der Juden wäre keine Lösung des antisemitischen Problems. Es ist aber auch keine Lösung, wenn man die negativen Seiten, die im Bilde des typisierten Juden überbetont sind, entfernt und sie durch 164
eine Überbetonung des Positiven ersetzt. Viele Deutsche sind zur Zeit durch schlechtes Gewissen zu einem solchen Philosemitismus getrieben, aber er hilft nichts, da er unehrlich ist, auch wenn subjektiv ehrlich gemeint. Er ist ohne Bestand, da er Antisemitismus mit umgekehrtem Vorzeichen ist. Viele Juden empfinden das übertriebene Preisen des Jüdischen nicht weniger unangenehm als die verzerrte Verunglimpfung der Juden. Sie fühlen, daß beide aus derselben Quelle kommen, nämlich aus einer Aggression, die sich überschlagen hat und nun in ihr Gegenteil verkehrt wird, im Grunde aber Aggression bleibt. Es ist auch keine Lösung, daß man eine patronisierende Freundlichkeit zu den Juden annimmt und versucht, den Antisemitismus mit Aufklärung zu bekämpfen. Aufklärung wäre nur dann sinnvoll, wenn der Antisemitismus rationale Wurzeln hätte. Da er die aber nicht hat, kann man jeden einzelnen Vorwurf, der gegen die Juden gemacht wird, rational widerlegen. Es wird im nächsten Augenblick ein anderer Vorwurf sich einfinden, den man sachlich ebenso leicht widerlegen kann, um nur einen neuen Vorwurf zu hören. Dieses Spiel kann ins Unendliche weitergehen, da das Bild des Typus ja feststeht und der Antisemitismus durch seine Funktion und nicht durch seinen Sachgehalt determiniert ist. Dennoch sind Versuche der Aufklärung nicht völlig wertlos, auch wenn sie nichts anderes bewirken, als daß man einander kennenlernt. Ein Teil aller Feindschaft zwischen Menschen beruht darauf, daß sich ein verzerrtes Bild vor die Realität des anderen stellt. Als ich etwa fünf Jahre nach dem ersten Weltkrieg nach Italien reisen wollte, wurde ich von empörten Marburger Kollegen kritisiert, da ein Deutscher nicht in ein Land gehen könne, das dem „Feindbund" angehört. Diese Menschen hatten ein instinktives Gefühl dafür, daß man sidi abschließen muß, damit das Bild von so etwas wie dem „Feindbund" nicht durch die Realität der wirklichen Feinde gestört wird. Das ist der Grund, warum der Antisemitismus fast immer erschüttert wird, wenn der noch nicht völlig fanatisierte Antisemit einem wirklichen Juden begegnet. Und doch ist auch das kein durchschlagendes Mittel, denn da der Antisemitismus eine pervertierte Funktion im Haushalt der Seele hat, stellt er sich sofort wieder her mit der Behauptung, daß der Betreifende eine Ausnahme ist. Darum kann man zwar durch Aufklärung und durch Begegnung einzelne Menschen stutzig machen, oder einzelne, die der pervertierten Struktur noch nicht verfallen sind, davor schützen. Und doch würde ich sagen, auch das ist noch keine wirkliche Lösung des Verhältnisses von Deutschen und Juden. Es ist wichtig in einzelnen Fällen, aber es führt nicht zu einer fundamentalen Änderung der Situation. Darum müssen wir fragen: 165
Gibt es eine Lösung, die tiefer geht, die das grundsätzliche Verhältnis zwischen Deutschen und Juden umgestalten kann? Diese Frage führt uns zurück auf das, was ich in der ersten Vorlesung als die fünffache Form der deutschen Schuld ausgeführt habe. Die erste Lösung der „Judenfrage als deutsches Problem" ist, daß das Vergangene bereinigt wird. Und zwar nicht dadurch, daß man Schuldbekenntnisse ausspricht, sondern, daß man innerlich die Verantwortung übernimmt für das, was geschehen ist, ohne es durch quantitative Abrechnungen von Schuld und Strafe zu überdecken. Wenn das nicht geschieht, wenn dieses Reinigungsopfer, das ein wirkliches Opfer ist, nicht stattfindet, sehe ich keine Lösung der Judenfrage als deutsches Problem. Ich denke nicht an öffentliche Erklärungen, ich denke nicht, daß Menschen eine Schuld im kausalen Sinne auf sich nehmen, die im Sinne des ersten Begriffes von Schuld nicht ihre Schuld ist; sondern ich denke an die Verantwortung, die notwendig von jedem Deutschen anerkannt werden muß für das, was geschehen ist. Wenn man tiefenpsychologische Begriffe auf Gruppen anwenden könnte, würde man sagen, daß das deutsche Volk in bezug auf das Judenproblem eine kollektive Analyse durchmachen müßte. Es müßte, wie es in einer echten Analyse geschieht, die eigene Vergangenheit ins Bewußtsein erheben, es müßte sich dem eigenen Unbewußten nähern und zu verstehen suchen, was unbewußt hinter der Typisierung des Juden als Juden steht. Eine solche Kollektivanalyse würde die irrationalen und pervertierten Strukturen aufdecken, die dem Antisemitismus der letzten Periode in der Geschichte des deutschen Volkes zugrunde liegen. Ich glaube kaum, daß ohne eine solche kollektive Analyse das Problem „Juden und Deutsche" gelöst werden kann. Es ist selbstverständlich, daß eine Kollektivanalyse nicht dadurch zustande kommt, daß jeder Einzelne den analytischen Prozeß für sich durchmacht, sondern so, daß diejenigen, die'das öffentliche Bewußtsein formen, sich diesem schmerzhaften Prozeß unterwerfen. Lassen Sie mich, wie es ein Analytiker tun würde, von einem Symptom reden, das an und für sich unwichtig, aber als Symptom bedeutungsvoll ist. Als ich nach 15 Jahren Abwesenheit zum erstenmal nach Deutschland zurückkehrte, fiel mir auf, daß die Deutschen von Völkern immer im Singular sprachen. Man sagte und sagt heute noch „der J u d e " , „der Russe", „der Engländer", „der Deutsche". Vor der HitlerPeriode gab es das noch nicht. Ich habe mich oft gefragt: Was ist da geschehen? Zu meiner Zeit sprach man von „den Juden", „den „Deutschen", „den Russen". Heute gebrauchen auch Menschen, denen man keineswegs nachsagen kann, daß sie bewußt typisieren wollen, den 166
Singular. Ich glaube, was hinter dieser Tendenz steckt, ist eine allgemeine Neigung zur Typisierung. Der individuelle Mensch, der einem Volk oder einer Rasse angehört, wird nicht mehr als Einzelner gesehen. Man sieht den Einzelnen nur noch durch das Bild des Typus hindurch. Wenn man sagt, „der Amerikaner", dann abstrahiert man von allem, was der einzelne Amerikaner an Besonderem hat, und sieht nur etwas Allgemeines, dessen faktische Widerlegung durch jeden einzelnen Amerikaner man nicht zur Kenntnis nehmen will. Soldi eine Typisierung ist verhängnisvoll für das Verhältnis der Völker und der Rassen zueinander. Es war verhängnisvoll für das Verhältnis der Deutschen zu den Juden. Und es war und ist um so verhängnisvoller, als es im Unbewußten geschehen ist und sich in der Sprache verkörpert hat. Ein dritter Gesichtspunkt für die Lösung der Judenfrage als deutsches Problem ist etwas, was die Deutschen von den Angelsachsen lernen können, nämlidi Nüchternheit in der Beurteilung einer realen Situation. Es ist nicht nüchtern, die Juden oder irgendeine andere Gruppe im Bilde des abstrakten Typus zu sehen, zumal wenn dieser Typus durch Feindseligkeit geformt ist. Ebensowenig ist es nüchtern, die Juden durdi einen Idealtyp hindurch zu sehen. Nüchtern ist es zu sagen, daß sie weder schlechter noch besser sind als der durchschnittliche Mensch, nüchtern ist es zu sagen, daß sie bestimmte gesdiiditlidi bedingte Eigenschaften haben, für die zum Teil der christliche Antijudaismus verantwortlich ist. Ein vierter Gesichtspunkt, der für die Lösung der Judenfrage als deutsches Problem in Frage kommt, ist die Notwendigkeit, daß der Deutsche seinen Minderwertigkeitskomplex überwindet und mit ihm die Kompensation durch Arroganz. Arroganz, die über die nüchterne Anerkennung des Selbstwertes eines jeden Lebenden hinausgeht, ist immer das Resultat eines Minderwertigkeitsgefühls. Wer seiner selbst gewiß ist, wer auch seine Schuld und seine Verantwortlichkeit mutig auf sich genommen hat, fühlt sich weder minderwertig, noch ist er arrogant. Es scheint mir entscheidend zu sein, daß das deutsche Volk auf Grund einer Kollektivanalyse gegen sich selbst nüchtern wird und damit imstande sein wird, auch gegen Juden und andere Völker nüchtern zu sein. Ein fünfter Gesichtspunkt für die Lösung des Problems ist die Einordnung der Deutschen in die westliche Kulturwelt. Nicht wegen der militärischen Notwendigkeiten, die zur Zeit vorliegen, sondern wegen der Einheit der christlich-humanistischen Kultur, die aufs tiefste bedroht ist, vielleidit mehr, als wir es wissen. Ich denke dabei nidit so 167
sehr an die gegenwärtige politische Konstellation, als an zwei Ereignisse der deutschen Vergangenheit, die Deutschland daran gehindert haben, sich dem christlichen Humanismus voll zu öffnen. Das erste Ereignis war die Niederlage der Römer in ihrem Versuch, Mittel- und Norddeutschland zu erobern und ihm mit der Eroberung die Werte der griechisch-römischen Antike zu bringen. Das zweite Ereignis, an das ich denke, ist die Art, in der Nordwestdeutschland sich gegen das Christentum wehrte und von Karl dem Großen mit Gewalt bekehrt wurde, dadurch aber niemals innerlich sich den christlichen Werten in dem Maße geöffnet hat wie der deutsche Westen und Süden. Darum war Nordwestdeutschland der beste Boden für die heidnischen Elemente des Nationalsozialismus. Das deutsche Volk kann ein Verständnis für den prophetisch-humanistischen Charakter des Judentums nur dann gewinnen, wenn es sich selber dem diristlich-humanistisdien Charakter des Westens einordnet. Damit komme idi auf das letzte Problem dieser Vorlesung, nämlich die Frage: Was bedeutet die in der vorigen Vorlesung gegebene Lösung des religiösen Grundproblems für das Verhältnis von Christentum und Judentum? Auf den ersten Punkt meiner Antwort hatte idi schon hingewiesen, nämlich die Notwendigkeit, daß das Christentum das Alte Testament als einen integrierenden Bestandteil der christlidien Bibel und die Religion des Alten Testaments als einen integrierenden Bestandteil der christlichen Existenz bejaht. Idi wies darauf hin, daß schon in den ersten Jahrhunderten der antike religiöse Synkretismus in das Christentum eindrang und sich gegen das Alte Testament wandte. Das Alte Testament repräsentiert den Gott der Zeit, der Schöpfung, der Gerechtigkeit, der Erlösung, den Gott des prophetischen Urteilens und Verheißens. Wo das fehlt, wird die christliche Gemeinde in eine heidnische Sekte mystisch-okkulter Art zurückverwandelt. Die Kirche hat dieser Versuchung widerstanden. - Aber das Alte Testament hat noch eine andere Funktion, eine Funktion, die in den letzten Jahrzehnten mit dem Erwadien des sozialen Gewissens in den christlidien Kirchen sichtbar geworden ist. Das Alte Testament, insonderheit die prophetische Botschaft, spricht von Völkern, sozialen Sdiiditen, politischen Formen im Verhältnis zur religiösen Botschaft. Im Neuen Testament finden wir sehr wenig darüber. Das Neue Testament wurde in einer Zeit geschrieben, in der die nationalen Gruppen aufgelöst waren, in der das römische Imperium alles in sich hineingesogen hatte, in der die römischen Herrscher als Schicksal über Ländern und Einzelnen standen, ein Schicksal, von dessen Gestaltung der Einzelne ausgeschlossen war.. Darum ist die neutestamentliche Frömmigkeit zunächst die Frömmig168
keit Einzelner. Aus ihr entsteht eine neue Gemeinschaft, die der Kirdie, aber die Kirche hatte keine innere Beziehung zu den nationalen Gemeinschaften und Schicksalen. Es war die Funktion des Alten Testaments, insonderheit für die religiös-sozialen Bewegungen der letzten hundert Jahre, daß es half, Völkerschicksale im Lichte der prophetischen Botschaft zu sehen. Die zweite Forderung, die an das Christentum zu stellen ist, ist die Bekämpfung seines eigenen Antijudaismus. Die judaistischen Äußerungen gehen zurück bis in die späteren Bücher des Neuen Testamentes. Von da aus gab es Antijudaismus in allen Perioden der Kirchengeschichte. Um gegen diese Tendenz anzukämpfen, sollte der kirchliche Unterricht darauf hinweisen, daß im vierten Evangelium alles Individuelle immer zugleich typisch-symbolische Bedeutung hat. Die Juden im vierten Evangelium, mit denen Jesus kämpft, repräsentieren den einen Typus von Frömmigkeit, der in allen Religionen vorliegt und auch im Christentum wiederkehrt. Es ist die Frömmigkeit des Gesetzes, die sich auf den Besitz der absoluten Wahrheit beruft und auf dieser Basis immer wieder den Christus verwirft. Wenn die Kirchen das deutlicher gesagt hätten, hätten sie die antijudaistisdie Kritik nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen sich selbst angewandt. Und wenn die Kirche gegen sich selbst antijudaistisdie Kritik übt, dann kann ihr Antijudaismus nicht in Antisemitismus ausarten. Das führt schon zu dem Dritten, was die Kirche in ihrem Verhältnis zum Judentum tun muß. Sie muß das Judentum als Repräsentanten der prophetischen Kritik an sich selbst verstehen. Ich hatte schon auf den Paulinischen Gedanken hingewiesen, daß erst die Fülle der Heiden zum Christentum gekommen sein muß, ehe auch Israel in diese universale Einheit eingehen kann. Dieser Gedanke ist eine tiefsinnige Vorwegnahme aller folgenden geschichtlichen Entwicklung. Er besagt, daß das Judentum notwendig ist, solange es Heidentum innerhalb und außerhalb des Christentums gibt. Schon im Mittelalter wurde die Existenz des Judentums als Warnung gegen die Paganisierung des Christentums empfunden. Und der moderne Nationalismus macht diese Warnung noch viel notwendiger. Es gehört zur Funktion des Judentums, dem Christentum den Spiegel seines eigenen Rückfalls ins Heidnische vorzuhalten. Es gibt einen Punkt, wo Christentum und Judentum auseinandergehen und meiner Erfahrung nach nicht zusammenkommen können. Das ist der Glaube des Christentums, daß Jesus der Christus ist, und die Frage des Judentums, wie jemand „Christus" sein kann, der nicht die Funktion des Christus erfüllt hat, nämlich die Wirklichkeit zu ver169
wandeln und eine neue Wirklichkeit herbeizuführen. Ist nicht der Jesus, der an seinem Werk verzweifelnd am Kreuz gestorben ist, das Gegenteil von dem, was der Christus bedeutet? Damit sind wir am tiefsten Punkt der Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum. Die Frage ist: Ist der Messias gekommen oder wird er kommen? Der Gegensatz scheint absolut. Und dodi gibt es auch in ihm konvergierende Linien. Auch das Judentum hat ja etwas, was schon gekommen ist, nämlich den Bund, den Gott mit ihm geschlossen hat, und zwar in der Vergangenheit. Und ebenso hat das Christentum etwas, was nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liegt, nämlich das Symbol des zweiten Kommens des Christus. Darin drückt das Christentum das Gefühl aus, daß das Werk des Christus nicht abgeschlossen ist. Das sind konvergierende Linien, und doch bleibt der fundamentale Unterschied, nämlich die Hinwendung zum Christus, der gekommen ist, im Christentum und die Hinwendung zum Messias, der erwartet wird, im Judentum. Und damit bin ich an den Punkt gekommen, wo die Analyse aufhört und wo man nur noch predigen kann. Der Inhalt einer solchen Predigt wäre, den Christen zu sagen: Das einzige Argument, was Ihr gegen das jüdische Argument habt, ist zu zeigen, daß durch das Kommen des Christus wirklich eine neue Realität erschienen ist, fragmentarisch zwar und vieldeutig und doch fähig, Konflikte der menschlichen Existenz zu überwinden. Die christliche Antwort ist keine argumentierende Antwort. Sie ist eine aufweisende Antwort. Sie ist eine Antwort des Seins. Vielleicht ist die Hoffnung nicht unberechtigt, daß aus dem christlichen Sein die K r a f t hervorgehen wird, die die Dämonie des Antisemitismus zerbricht und eine neue Gemeinschaft zwischen Christentum und Judentum nicht nur im deutschen Volk, sondern in allen Völkern herstellt.
7. C H R I S T E N T U M
UND
MARXISMUS
Es hätte wenig Sinn, über Christentum und Stalinismus zu reden, denn das „und" würde ja bedeuten, daß sie nicht nur negativ, sondern auch positiv zueinander stehen. Das ist aber nicht der Fall. Das Christentum bejaht und der Stalinismus verneint den Wert und die Würde der Persönlichkeit, und von da aus folgen sich ausschließende Gegensätze auf allen Lebensgebieten. Es folgt der Gegensatz zwischen der christlichen Bejahung und der stalinistischen Verneinung der Gerechtigkeit des Richters und der Wahrhaftigkeit des Zeugen. Es folgt 170
der Gegensatz zwischen dem christlichen Willen, jeden Einzelnen in seinem innersten Sein zu heilen, und der stalinistischen Bereitschaft, jeden Einzelnen in seinem Persönlichkeitszentrum durch Terror zu zerstören, ihn in ein Ding zu verwandeln. Es folgt der Gegensatz zwischen der christlichen Bejahung der Freiheit als Voraussetzung allen geistigen Schaffens und der stalinistischen Kollektivisierung des Geistes und seiner Bindung an vorherbestimmte Schemata. Ich könnte fortfahren; aber unser Thema ist ja nicht „Christentum und Stalinismus", sondern „Christenum und Marxismus", und der Unterschied von Marxismus und Stalinismus ist das nächste, über das ich sprechen muß. Stalinismus ist die östlich-totalitäre Form der marxistischen Bewegung, genauer: ihre radikale Umformung unter den Bedingungen russisch-asiatischer Tradition. Umformung ist nicht Beseitigung, und es ist deutlich, daß auch im Stalinismus Motive des ursprünglichen Marxismus nachwirken; und doch ist der Unterschied fundamental. Um ihn zu verstehen, muß man nicht nur den Stalinismus vom Marxismus unterscheiden, sondern man muß auch auf die Entwicklung achten, die der vor-stalinistische Marxismus durchgemacht hat - in Marx selbst und in der marxistischen Bewegung. Man kann dann mehrere Entwicklungsstufen unterscheiden: zuerst und vor allem die Frühschriften von Marx, dann sein späteres Werk und die Einwirkung von Engels, weiter das Werden und die inneren Spannungen der deutschen Sozialdemokratie, den deutschen und russischen Kommunismus bis zu Lenin. All das ist Marxismus, und jede dieser Phasen ist wichtig für einen Vergleich von Christentum und Marxismus. Es ist aber meine Absicht, mich in meiner Untersuchung auf eine Phase zu beschränken, und zwar auf die erste. Das bedarf einer Rechtfertigung, denn es ist die Phase, die von den Dogmatikern des Marxismus vernachlässigt und oft absichtlich im Dunkel gehalten wird. Und doch sind in ihr, wie nirgends sonst, die Motive sichtbar, die für Marx selbst und für die Massen seiner Anhänger entscheidend waren und ohne die seine unvergleichliche geschichtliche Auswirkung unverständlich bleiben muß. Es sind zwei Grundmotive, die in Marx' Frühentwicklung entscheidend sind: seine Auffassung vom Menschen und seine Auffassung von der Geschichte, und beide zeigen deutlich Analogien mit der christlichen Auffassung von Mensch und Geschichte. Zugleich aber zeigen sie den Gegensatz zum Christentum, der zu jenen Entwicklungen im Marxismus und Stalinismus geführt hat, die das Analoge fast zum Verschwinden gebracht haben. Die Menschenauffassung von Marx, die nicht nur in seinen Früh171
Schriften zum Ausdruck kommt, sondern hinter all seinen Schriften, auch den spätesten, steht, ist im Begriff der Entfremdung des Mensdien von sich selbst, der Entmenschlichung, zu schärfstem Ausdruck gebradit. Der Mensch ist nicht, was er dem Wesen nadi ist und darum sein könnte und sein sollte; er ist sich selbst wesensfremd geworden. Wahres Menschentum ist unter den Bedingungen der frühkapitalistisdien Gesellschaftsordnung unmöglich. Das gilt insonderheit vom Proletariat, in dessen Existenz Entfremdung und Entmenschlichung am meisten fortgeschritten sind. Es gilt aber audi von den herrschenden Klassen, die die Fragwürdigkeit ihrer Existenz durch Reichtum und Kultur überdecken können und die Ideologien schaffen, um die Ausbeutung der übrigen Klassen zu rechtfertigen. Entfremdung ist nach Marx das Schicksal aller Gruppen in der industriellen Gesellschaft. Wahres Menschentum ist nur als Protest gegen die Entfremdung wirksam, und da dieser Protest am stärksten im Proletariat vorliegt, so zeigt das Proletariat ein doppeltes Gesicht: es ist der Ort der tiefsten Entfremdung und zugleich des Protestes wahren Menschentums gegen die Entfremdung. Das Proletariat ist beides: der Erlöser und der, der am meisten der Erlösung bedarf. Der innere Widerspruch dieser Position hatte weittragende Konsequenzen. Er führte teils zu einer unrealistischen Verherrlichung des Proletariats, teils zu einer ebenso realistischen wie gefährlichen Scheidung des Proletariats in Massen und Avantgarden. Zu den. Avantgarden können auch Niditproletarier, wie Marx selbst, gehören. Sie wurden der Kern der Bürokratie, die sich nach der erfolgreichen Revolution in Rußland das Proletariat und durch dieses das ganze Volk unterwarf. Dies ist eine der Linien, die von Marx zum Stalinismus führen. So haben wir also bei Marx den Menschen, wie er wesentlich ist, den durch den Kapitalismus entfremdeten und entmenschlichten Mensdien, den gegen seine Entmenschlichung rebellierenden Mensdien und den Menschen der kommenden klassenlosen Gesellschaft, der wieder das ist, was der Mensch wesentlich ist und sein soll. All das ist zusammengefaßt in dem von Hegel entnommenen und der prophetisch-christlidien Tradition entstammenden Begriff der Entfremdung. Es ist nicht sdiwer, die Analogien und die Gegensätze der christlichen zu dieser marxistischen Menschenauffassung zu sehen. Was Marx Entfremdung nennt, ist in christlicher Begriffsbildung der Fall des Menschen von seiner wesenhaften Unschuld in eine Situation des Widerspruchs mit sich selbst und mit seinem schöpferischen Grund. Der Mensch ist nicht, was er sein könnte und sein sollte. Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, und es gilt für das Universum, das 172
am Schicksal des Menschen teilnimmt. Mensch steht gegen Mensch, Gruppe gegen Gruppe, Wesen gegen Wesen. Zerspaltung charakterisiert alles, was existiert, in der Seele des Einzelnen, in der Menschheit, im Universum. Der Gegensatz zur marxistischen Menschenauffassung ist trotz aller dieser Analogien deutlidi. Der „Fall" in christlicher Auffassung ist universal; die „Entfremdung" in marxistischer Auffassung ist zeitlich gebunden. Das christliche Symbol des Paradieses ist übergeschichtlich; das marxistische Symbol des Urkommunismus ist geschichtlich. Im Marxismus kann eine geschichtliche Gruppe, das Proletariat oder die Avantgarden, die Entfremdung überwinden; im Christentum ist jede soziale Gruppe erlösungsbedürftig und unfähig, sich selbst oder andere Gruppen zu erlösen. Die Kraft der Erlösung bricht senkrecht in den geschichtlichen Prozeß und ist nicht sein Produkt. Das hat eine entscheidende praktische Konsequenz. Das Christentum stellt jede menschliche Gruppe unter das Gericht, von dem im Marxismus das Proletariat ausgenommen ist. Das Christentum kennt keine Ausnahmen, es klagt sich selbst an, daß es Ideologien produziert, und es stellt sich ständig unter diesen Verdacht. Die marxistische Elite identifiziert sich mit der Wahrheit selbst und gewinnt daraus das gute Gewissen, jeden Gegner zu verfolgen und, wenn möglich, auszurotten. Wo der Marxismus absolute Macht erreicht hat und an seinem messianisdien Anspruch festhält, entwickelt er die Methoden des Terrors, deren Zweck es ist, nicht nur jeden wirklichen, sondern auch jeden möglichen Gegner unschädlich zu machen. Selbst wenn das Christentum in manchen Momenten seiner Geschichte dieser Haltung nahegekommen ist, hat es doch Gegenkräfte entwickelt, die totalitäre Ansprüche immer wieder zerbrochen haben. Solche inneren Gegenkräfte hat der Stalinismus, d. h. die totalitäre Form des Marxismus, nicht entwickelt, und das ist zum Teil darin begründet, daß Marx' Lehre von der Entfremdung nicht universal menschlich gemeint, sondern auf die Situation im Kapitalismus seiner Zeit beschränkt war. Marx sieht eine „historisch-reparable" Entfremdung, wo das Christentum einen „transhistorischen" Fäll sieht, der nur transhistorisch geheilt werden kann durch die Erscheinung des Messias, der weder mit dem Proletariat noch mit einer anderen menschlichen Gruppe identisch ist. Wie überall entscheidet bei Marx und im Marxismus die Menschenauffassung über die Geschichtsauffassung. Die Geschichtsauffassung von Marx ist dadurch gekennzeichnet, daß er die Natur von der Geschichte her und nicht die Geschichte von der Natur her zu verstehen sudit. Die Geschichtsauffassung von Marx ist eine historische und nicht 173
eine naturalistische. Seine Betonung der Geschichtlichkeit des Menschen ist so stark, daß er den Charakter dessen, was für den Menschen Natur ist, aus seiner geschichtlichen Situation ableitet. Er kennt keine Natur an sich, sondern nur eine Geschichte an sich, nämlich die Geschichte der menschlichen Produktion, durch die der Mensch sich zu dem macht, was er ist. Marx ist darum weit entfernt von der zirkulären Geschichtstheorie der Griechen mit ihrer Lehre von der Wiederholung des Gleichen. Er steht der jüdischen, prophetisch-apokalyptischen Geschichtsauffassung näher. Für ihn ist Geschichte ein einmaliger Prozeß mit einem einmaligen Ziel. Der Anfang des weltgeschichtlichen Prozesses ist das, was Marx in gelegentlichen Andeutungen den Übergang vom Urkommunismus zur Klassengesellschaft nennt. Dieser Ubergang ist eine Voraussetzung, kein feststellbares Ereignis. Die uns bekannte Geschichte ist eine Geschichte der Klassenkämpfe, von Marx in einem berühmten Satz audi Vorgeschichte genannt. Sie führt zu der klassenlosen Gesellschaft, mit der die eigentliche Geschichte der Menschheit beginnt. Genauer wäre es vielleicht gewesen, wenn Marx diese dritte Periode die der ungestörten Entwicklung des Menschen in seinem „wieder mit sich geeinten Wesen" genannt hätte. Die Entfremdung der zweiten Periode ist überwunden. Die Klassenspaltung mit ihren verhängnisvollen Wirkungen, nicht nur auf die gesellschaftliche, sondern auch auf die seelische Existenz des Menschen, ist beseitigt. All das aber liegt in der Zukunft, und man kann nichts Konkretes darüber sagen. Wie der Mensch aussieht, der im Wesen steht, kann man im Zustand der Entfremdung nicht wissen. Man weiß nur, daß es das Gegenteil von dem sein wird, was im Zustand der Klassengesellschaft den Menschen zum Konflikt mit sich selbst, den anderen Menschen und Menschengruppen treibt. Marx hat weder ein vergangenes noch ein zukünftiges Paradies ausgemalt, sondern die Gesdiidite, soweit sie Gegenstand der Erfahrung ist, in den Rahmen von drei Perioden eingespannt. Dabei sind die erste und die dritte Periode mehr Orientierungslinien für das Verständnis der zweiten Periode als konkret beschriebene Wirklichkeiten. Entscheidend ist dagegen die Analyse der Gegenwart, in der die ungeheure Spannung erlebt wird zwischen dem Ende der zweiten und dem erwarteten Beginn der dritten Periode. Es ist diese Spannung, die vielen früheren Revolutionen, so auch den revolutionären Bewegungen, die von Marx entfadit wurden, die siegreiche Schwungkraft gegeben hat. Die Analogien zwischen diesen Gedanken und der prophetisch-urdiristlidien Verkündigung liegen auf der Hand. Die christlichen Symbole des Paradieses, der fluchbeladenen Menschheitsgeschichte, der Fülle 174
der Zeit, in der das Himmelreich nahe herbeigekommen ist, der neuen Erde, auf der die Herrschaft Gottes aufgerichtet wird, all das zeigt eine der marxistischen ähnliche, ja - historisch gesehen — ursprünglichere Geschichtsdeutung. Sie hat im neutestamentlidien Zeitalter die gleiche ungeheure Spannung und den siegreichen Schwung erzeugt wie der Marxismus, und doch gilt auch hier, was von dem Verhältnis der christlichen und marxistischen Menschenauffassung gilt. Die Analogie ist mehr und mehr verschlungen durch den Gegensatz. Die drei Perioden der Weltgeschichte sind im Marxismus linear gedacht. Alle drei Perioden liegen auf der horizontalen Ebene in Raum und Zeit. Die christliche Auffassung dagegen kann mit einer flachen Kurve verglichen werden, die aus dem Übergeschichtlichen kommt und ins Übergeschichtliche zurückkehrt. Die Prophetie kennt die vertikale Dimension, die vom Marxismus als Ideologie verworfen wird. Dieser Gegensatz hat tiefgehende praktische Konsequenzen. Wenn die dritte Periode, das Zeitalter der Erfüllung, innerhalb der Geschichte erwartet wird, enttäuscht die wirkliche Geschichte jede dieser Erwartungen und enthüllt sie als Utopien. Das kann psychologisch und politisch zwei entgegengesetzte Wirkungen haben. Entweder wird eine ins tiefste gehende Enttäuschung hervorgerufen und mit ihr eine oft zynische Abwendung von jeder geschichtlichen Erwartung, oder es wird der Wille erzeugt, mit allen Mitteln an der Erwartung festzuhalten. Wenn das geschieht, wird eine Periode des Uberganges festgelegt, und es werden alle Methoden totalitärer Herrschaft benutzt, um diese Periode, nämlich die Zeit nach der siegreichen Revolution, gegen Kritik und Übergang zu etwas Neuem zu verteidigen. Die stärkste Waffe dieser Verteidigung des angeblichen Überganges ist der Terror. Das ist eine zweite Linie, die vom Marxismus zum Stalinismus führt. Das Christentum wartet auf eine Vollendung der Geschichte, die aus der Vertikalen kommt und unter deren Gericht jede historische Epoche steht. Das schließt Utopie, Enttäuschung und Terror aus und schafft eine Haltung, in der man immer zugleich nach oben sieht, wenn man nach vorn sieht. Das führt zu der Frage nach den Kräften, die den historischen Prozeß bestimmen. Man faßt die marxistische Antwort gewöhnlich in dem Begriff „dialektischer Materialismus" zusammen. Das ist möglich, aber nur dann der Wahrheit entsprechend, wenn die beiden vieldeutigen Worte „materialistisch" und „dialektisch" im marxistischen Sinne verstanden und eindeutig definiert sind. Materialismus bedeutet für Marx die Abhängigkeit aller Seiten des geschichtlichen Prozesses von der Art, in der der Mensch seine Existenz schafft. Das geschieht grundlegend durch die wirtschaftliche Produk175
tion, die daher für die Gesamtentwicklung der Geschichte maßgebend ist. Diese Definition zeigt, daß der marxistische Materialismus kein metaphysischer ist. In seinen Thesen gegen Feuerbadi hat Marx den metaphysischen Materialismus ausdrücklich bekämpft. Es wäre auch sonst für ihn nicht möglich gewesen, seinen Materialismus „dialektisch" zu nennen. Es ist eine der Tragödien der westlichen Geistesgeschichte, daß die dialektische Methode, an der von Plato bis Hegel die meisten führenden Philosophen gearbeitet haben, teils zu einem politischen Schlagwort herabgesunken ist, teils mit angeblich unentrinnbaren gesellschaftlichen Mechanismen gleichgesetzt wird. Für Marx war die Dialektik kein klappernder Mechanismus, sondern eine Methode, gesellschaftliche Kräfte, Widersprüche und Tendenzen zu beschreiben. Er war sich aber bewußt, genau wie Hegel, daß ohne die Leidenschaft menschlichen Handelns nichts in der Geschichte verwirklicht werden kann, daher seine leidenschaftsgetragenen Appelle an das Proletariat und seine ebenso leidenschaftlichen Kampfansagen an die Bourgeoisie. Beide sind sinnlos, wenn die Geschichte ein automatischer Prozeß und Dialektik die theoretische Beschreibung unentrinnbarer Mechanismen ist. Wenn Marxismus und Christentum zum Vergleich stehen, ist es oft der dialektische Materialismus, in dem man den Gegensatz am deutlichsten zu sehen glaubt. Aber das ist nur bedingt richtig. Im historischen Materialismus steckt etwas von der realistischen Mensdienauffassung des Christentums, und in der historischen Dialektik stedkt etwas vom christlichen Vorsehungsgedanken, und in beiden ist die unlösliche Verflechtung von Freiheit und Schicksal ausgedrückt, die der christlichen wie der marxistischen Weltbetrachtung zu eigen ist. Beide verlieren ihre Tiefe, sobald die Einheit von Freiheit und Schicksal zerrissen wird und aus der Freiheit politische Willkür und aus dem Schicksal mechanische Notwendigkeit wird. Bis zu diesem Punkt reicht die Analogie von Christentum und Marxismus, selbst in der Frage des dialektischen Materialismus. Aber die Analogie reicht nicht weiter. Vielmehr ist sie, wie in den übrigen Punkten, mehr und mehr von dem Gegensatz verschlungen worden. Der entscheidende Gegensatz zwischen dialektischem Materialismus und christlichem Vorsehungsglauben ist weder das dialektische noch das materialistische Element, sondern der Gegensatz der rein innerhistorischen Faktoren, die nach Marx die Geschichte bestimmen, und der Vereinigung inner- und übergeschichtlicher Faktoren, die im christlichen Denken die Geschichte lenken. Es ist das völlige Fehlen des Über176
geschichtlichen im Marxismus, das ihn nicht nur in Gegensatz zum Christentum bringt, sondern im Stalinismus ihn selbst zu Konsequenzen treibt, die seinen ursprünglichen Impulsen widersprechen. Nicht der gedankliche Gegensatz zwischen Christentum und Marxismus ist schließlich entscheidend, sondern der praktische: die Verwirklichung zweier Lebensmöglichkeiten. Das Christentum sieht die menschliche Situation einschließlich der menschlichen Geschichte in einem Stehen zwischen Ewigkeit und Zeit, es sieht die unendliche Würde des einzelnen Menschen, die aus dieser Ewigkeitsbeziehung folgt, es sieht die Grenzen alles Mensdilichen in Raum und Zeit unter den Bedingungen von Endlichkeit und Schuld, und es stellt die Frage nach einer Versöhnung, in der das Zeitliche in das Ewige erhoben und das Ewige im Zeitlichen wirksam wird. Der Marxismus sieht die menschliche Situation einschließlich der mensdilichen Geschichte in völliger Gebundenheit an die Zeit. Er kann darum nur auf eine Organisation der Gesellschaft in der Zeit hinarbeiten, und er muß, insoweit er von der Wahrheit seiner eigenen Konzeption überzeugt ist, sie mit allen Mitteln zu verwirklichen suchen, auch solchen, in denen die Menschenwürde mißachtet wird. Er erwartet eine Versöhnung, die in Raum und Zeit stattfindet, und er ist darum der Utopie, der Enttäuschung, die jeder Utopie folgt, und schließlich dem Terror zugänglich. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Lebensmöglichkeiten ist weder eine ökonomische noch eine politische, sie ist eine religiöse.
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ZUM M E N S C H E N B I L D
8. D A S C H R I S T L I C H E M E N S C H E N B I L D I M 20. J A H R H U N D E R T Der christliche Mensch im 20. Jahrhundert ist der Mensch ohne Utopien, der dennoch gläubig ist. Diese beiden Seiten und ihre Einheit sind das Thema. Der christliche Mensch des 20. Jahrhunderts ist ohne die Erwartung, die der Mensdi des 19. Jahrhunderts, auch der christliche Mensch des 19. Jahrhunderts, hatte. Und doch ist er nicht ohne Hoffnung. Wäre er es, so könnte man ihn nicht den „christlichen Menschen" nennen. Es gibt kein Christentum ohne Hoffnung, aber es gibt viele Formen, in denen sidi die Hoffnung ausdrückt, und eine dieser Formen ist das, was wir Utopie genannt haben, eine Hoffnung, die nie real werden kann, die keinen Platz hat im Ganzen der Welt. Eine soldie Hoffnung war bezeichnend für den Mensdien des 19. Jahrhunderts. Er glaubte, daß der wissenschaftliche und technische Fortschritt, den er täglich erlebte, gleichsam das Modell wäre für den Fortschritt auf allen Gebieten. Er glaubte, daß mit der Beherrschung der Natur der Mensch auch zu einer immer vollkommeneren Selbstbeherrschung gelangen würde. Es wären vor allem zwei Dinge, die ihm dazu helfen würden: Erziehung und soziale Umgestaltung. Da der Mensch nach dem Glauben des 19. Jahrhunderts gut ist, kommt es nur darauf an, Hemmungen zu beseitigen, die seine Entwicklung stören. Es ist die Aufgabe einer fortschrittlichen Erziehung, in Kindern und Erwachsenen Störungen zu beseitigen, die von elterlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Einflüssen stammen. Das Kind, das seine wahre, wesenhafte Natur entwickeln kann, wird der Träger einer neuen, vollkommenen Gesellschaft sein. Gleichzeitig wird die Gesellschaft umgestaltet werden, sei es durch Revolutionen, sei es durch beständigere Formen. Der Klassencharakter der ursprünglichen bürgerlichen Gesellschaft wird verschwinden. Die Entwicklungsbedingungen werden für jeden einzelnen ähnlich sein. Die Zerstörungen, die Elend und soziale Ausbeutung geistig und physisch anrichten, werden aufhören. Mag die Verwirklichung dieses Ideals näher oder ferner sein, es ist das, worauf man hofft und an dessen Möglichkeit man glaubt. Dabei war es in Amerika vor allem die Erziehung, von der man Großes erwartete und auch heute noch erwartet, in Europa die soziale 181
Umgestaltung. Die Trennung von Europa und die Befreiung von europäischen Traditionen und Formen der Unterdrückung sind für die Amerikaner die soziale Grundlage, die verbessert, aber nicht verändert werden soll, während für den Europäer die soziale Grundlage für menschliche Erfüllung erst gelegt werden muß. Nicht alle christlichen Menschen des 19. Jahrhunderts, wohl aber diejenigen, die typisch sind für das Jahrhundert, waren tief beeinflußt von diesem Glauben. Die protestantische Theologie in beiden Erdteilen gab ihm vollen Ausdruck. Das Reich Gottes wurde nicht länger als eine jenseitige Größe verstanden, sondern als das Reich sittlicher Erfüllung, das auf Erden aufgerichtet werden soll. Der christliche Mensch des 19. Jahrhunderts vertraute auf die Macht eines gotterfüllten Menschentums, wie es in Jesus von Nazareth erschienen sei. Dort ist der Anfang gemacht, von dem aller Fortschritt abhängt. Dort ist das Reich Gottes auf Erden gestiftet worden. Es ist die Aufgabe aller folgenden Generationen, an dieser Grundlage weiterzuarbeiten, der Ausbreitung und Verwirklichung des Reiches gotterfüllter Vernunft zu dienen. Das 20. Jahrhundert beginnt in Europa im August 1914 mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Es beginnt in Amerika im November 1929, ein halbes Menschenalter später, mit dem Ausbruch der großen wirtschaftlichen Krise. Der Mensch in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat nicht nur eine Reihe schwerster Katastrophen hinter sich, er lebt auch weiter in einer Situation, die mit möglichen Katastrophen geladen ist. Statt von Fortschritt spricht er von Krise. Philosophen und Historiker, Dichter und Schriftsteller sprechen in vielerlei Formen davon. Und die herrschende protestantische Theologie unserer Zeit nennt sich „Theologie der Krise". Was das Wort Krise ausdrücken soll, ist eine Realität, an der ein jeder teilhat, die jeder Einzelne bewußt erlebt oder halbbewußt fühlt. Es ist die Situation des Menschen in unserer Zeit und vielleicht - das ist es, was die Theologie der Krise sagt - des Menschen in jeder Zeit. Der christliche Mensch sollte mehr als jeder andere fühlen, was in der Zeit vor sich geht. Er sollte seine Zeit verstehen, wie die Propheten ihre Zeit verstanden haben. Und wie sie sollte der christliche Mensch seine Zeit verändern dadurch, daß er verstehend an ihr teilnimmt. So aber ist es nicht. Große Gruppen von Menschen, die sich nicht nur Christen nennen, sondern denen es ernst um ihr Christentum ist, sind weit entfernt von dem, was in ihrer Zeit vor sich geht. Sie glauben, über ihrer Zeit zu stehen. Sie rühmen sich des Besitzes ewiger Wahrheiten, und sie wissen nidit, daß die ewigen Wahrheiten Wahrheit nur für die sind, denen sie Antworten geben auf ihre wirklichen Fragen, auf die Fragen, die der Tiefe ihrer Zeit ent182
Sprüngen sind. Diese Menschen mögen im 20. Jahrhundert leben, aber sie repräsentieren nicht den christlichen Menschen des 20. Jahrhunderts. Sie sind christliche Menschen des 16. oder des 13. oder des 3. Jahrhunderts. Aber auch das sind sie nicht wirklich, denn die wahren christlichen Menschen dieser Jahrhunderte antworten auf die Fragen ihrer Periode. Und darum sind ihre Antworten beides: unvergeßlich und unwiederholbar. Das bedeutet, daß der christliche Mensch des 20. Jahrhunderts nicht der Christ ist, der im 20. Jahrhundert lebt, sondern der Christ, der teilnimmt an dem, was in den Tiefen und Höhen dieses Jahrhunderts geschieht. Der christliche Mensch des 20. Jahrhunderts nimmt teil an der Erschütterung der Grundfesten, die in den. vorhergehenden Jahrhunderten als unerschütterlich galten. Er hat das Nichtsein erlebt, das wie ein drohender Ozean alles Seiende umspült. Er hat sein Schicksal erlebt mit seinen plötzlichen, unberechenbaren Einbrüchen in alles, was sicher schien, in seinem Leben und im Leben der Völker. Er hat den Tod erlebt als das Sterben Unzähliger, denen die Natur ein volleres Leben versprochen hatte, und er hat den Tod erlebt als ständige Bedrohung seines eigenen Seins. Er hat Schuld erlebt, in ihren Ausmaßen unvorstellbar für menschliche Phantasie, und er hat erlebt, daß er selbst unentschuldbar ist, wenn er auch nur durch Schweigen schuldig geworden ist. Dem christlichen Menschen des 20. Jahrhunderts sind außerdem Spiegel vorgehalten worden, die ihn oft in Selbsthaß und Selbstverachtung treiben. Er hat gelernt zu zweifeln, nicht nur an den Urteilen der anderen, sondern auch an dem, was ihm selbst das Sicherste war. Da ist keine Festung des Glaubens geblieben, in die nicht Elemente des Zweifels eingedrungen sind. Und wenn die Frage in ihm auftaucht, was der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Abgrund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt: der Abgrund der Sinnlosigkeit. Aber, wird man fragen, ist das alles nicht die Schilderung des nichtchristlichen Menschen unserer Zeit? Ist das nicht die Verzweiflung dessen, dem die Utopien zerbrochen sind und der keinen Ausweg weiß? Steht nicht der christliche Mensch jenseits solcher Verzweiflung? Er steht jenseits von ihr, aber nur, weil er an ihr teilhat, weil er nicht fern von alledem ist, was der Mensch des 20. Jahrhunderts erlebt hat, was in ihm ist und in ihm blieb. Auch der christliche Mensch kann sein Nichtsein nicht beseitigen. Es umspült auch ihn und dringt in ihn ein und mit dem Nichtsein die Angst des Nichtseins. Er weiß um sie wie jeder andere. Aber er hat den Mut, sie auf sich zu nehmen. Das Nichtsein auf sich zu nehmen heißt nicht, es zu beseitigen. Niemand kann Tod, Schuld und Zweifel beseitigen. Es heißt auch nicht, dem Nichtsein zu entfliehen; das Nicht183
sein ist wie die Luft - allgegenwärtig. Es heißt auch nidit, das Nichtsein zu vergessen; das Nichtsein bringt sidi in Erinnerung mit elementarer Gewalt. Sondern das Nichtsein - den Tod, die Schuld, den Zweifel - auf sich nehmen heißt, sie in sich tragen als das, was immer da ist, aber immer als Überwundenes da ist. Der diristlidie Mensch des 20. Jahrhunderts hat den Mut, Ja zu sagen, weil er das Nein kennt und weil er das Nein auf sich genomen hat. Und er kann das, weil er an einem Sein teilhat, das stärker ist als Nichtsein. Er nennt es Gott, den Grund und den Sinn alles Seins. Und er sieht es gegenwärtig in Jesus, den er den Christus nennt. Er unterscheidet sich darin nicht von den Christen vergangener Jahrhunderte. Er gehört zu der Gemeinschaft derer, die in allen Jahrhunderten Ja gesagt und das Nein auf sich genommen haben, weil sie von dem ergriffen waren, was in dem Bild des Christus ersdiienen ist. Vielleicht kannten viele von ihnen nicht einmal den Namen Jesus. Aber sie hatten teil an seiner Kraft. Vielleicht zweifelten sie an ihm, aber sie hatten den Mut, den Zweifel auf sich zu nehmen und Ja zu sagen. Der christliche Mensch des 20. Jahrhunderts hat das Nein tiefer erlebt als viele seiner Vorfahren, eben darum aber ist sein Ja kühner, mutiger und bedeutungsvoller als das ganzer Generationen von ihm. Er hat das Kreuz anders erlebt als Christen anderer Jahrhunderte, aber er hat es erlebt, und es ist auch für ihn das Zeichen des Sieges und eines neuen Seins geworden. 9. T Y P I S C H E F O R M E N DES SELBSTVERSTÄNDNISSES BEIM MODERNEN MENSCHEN Das Thema, das mir gestellt ist, „Typische Formen des Selbstverständnisses des heutigen Menschen", wäre zu groß, selbst für ein umfangreiches Buch, wenn das Wort „heutig" im Sinne von zeitgenössisch zu fassen wäre. Zeitgenossen sind alle, die in unserer Zeit leben; aber nicht alle, die heute leben, sind heutige Menschen. Und nur über die Menschen, die heutige Menschen sind, will ich reden. Diese Begrenzung ist notwendig, aber sie ist auch gefährlich. Sie kann zu einer sehr subjektiven Bestimmung dessen, was „heutig" ist, führen, wobei schließlich der Redner den heutigen Menschen als das Bild seiner selbst beschreibt. Um das zu vermeiden, möchte ich das Heute ausdehnen in das Gestern, von dem es kommt, und das Morgen, zu dem es führt. Der heutige Mensdi ist der Mensch, der sidi in dieser Bewegung vom 184
Gestern durdi das Heute zum Morgen befindet und je nach seinem historischen Schicksal und seinem geistigen Charakter sich näher bei dem Gestern oder bei dem Morgen befindet oder gerade in der Mitte steht. Das ergibt drei mögliche Typen des Selbstverständnisses des heutigen Menschen: der Mensdi, der noch im Gestern steht, sich aber aus ihm herausbewegt; der Mensdi, der ganz im Heute steht, aber Elemente des Gestern bewahrt hat und Elemente des Morgen vorwegnimmt, und der Mensch, der ganz auf das Morgen zulebt, aber noch im Heute steht und das Morgen vorausnehmen muß. Jeder dieser Typen zeigt besondere Züge in seinem Versuch, den Menschen zu verstehen. Nidit jeder unter uns freilich hat den Willen oder die Möglichkeit, sich seiner selbst bewußt zu werden, sei es philosophisch, sei es dichterisch, sei es religiös. Aber diejenigen unter uns, die diese Möglichkeit haben, vertreten die anderen und beeinflussen sie dadurch, daß sie sie vertreten. Darum kann man von ihren Schöpfungen die typischen Formen menschlichen Selbstverständnisses in unserer Zeit ablesen. Und doch ist auch das nicht ohne Gefahr. Nur zu leicht beschreibt der bewußt schaffende Mensdi den heutigen Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde dessen, was Intelligenzschidit genannt wird. Aber da dies nur eine kleine Schicht ist, darf sie nicht mit dem Menschen von heute gleichgesetzt werden. Aus dieser Verwechslung, die der Intellektuelle oft begeht, folgt dann der Widerstand der übrigen Gruppen gegen seine Art, menschliches Sein zu verstehen. Das rechtfertigt freilich nidit die zur Zeit weit verbreitete Feindschaft gegen die Intellektuellen, eine Feindschaft, die von Demagogen verschärft und mißbraucht wird. Aber es ist eine Warnung gegen intellektuelle Arroganz, die die menschliche Situation mit der Situation der Intelligenzschicht gleichsetzt. Und nun die verschiedenen Typen des Selbstverständnisses des heutigen Menschen: der erste Typ kommt aus der Vergangenheit und bleibt der Vergangenheit nahe; er ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er steht auf dem Boden des Entwicklungsgedankens, des Glaubens an einen universalen Fortschritt nach dem Modell des unleugbaren technischen Fortschritts; er glaubt an die Erziehung des Menschengeschlechts zu höheren Formen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Hinter all dem steht sein Glaube an die wesenhafte Gutheit des Menschen, an die unbegrenzten Möglichkeiten seiner sittlichen Vervollkommnung, und es steht dahinter die Ablehnung des tragischen Weltbildes, wie es vor allem das griechische Heidentum ausgebildet hat, und die Ablehnung des Glaubens an die gefallene Welt, wie das Christentum ihn von Anfang an entwickelt hat. Der vernünftige Mensch, 185
der Mensch, der Natur, Gesellschaft und sein eigenes Unbewußtes, seine Triebe und Sehnsüchte, beherrscht, dieser Mensch ist das Ideal, an dessen möglicher Verwirklichung man nicht zweifelt. Der heutige Mensch freilich hat angefangen, daran zu zweifeln; aber noch sind Unzählige trotz aller Enttäuschungen von diesem Zweifel kaum berührt. Und in vielen, die davon berührt sind, kämpft der alte Glaube an die Ideale des 19. Jahrhunderts mit den Zweifeln, die das 20. Jahrhundert ihnen aufgezwungen hat. Die Stärke dieses Glaubens in weiten Kreisen sollte von denen, die an ihm zweifeln, nidit unterschätzt werden. Das gilt von Amerika mehr als von Europa, weil Amerika den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts weniger ausgesetzt war. Aber es gilt auch für Europa - ich gebe ein Beispiel dafür: Als in der Vorbereitung der diesjährigen Weltkirchenkonferenz in Evanston in Amerika europäische und amerikanische Theologen das Zentralthema der Konferenz, den Begriff der Hoffnung, debattierten, ergab es sich, daß trotz aller Spannung eine Einigung erzielt werden konnte. Obwohl die Europäer die Hoffnung, die in die Ewigkeit reicht, und die Amerikaner die Hoffnung, die sich auf das Morgen richtet, betonten, verwarf keine Seite die Auffassung der anderen Seite ganz. Auch Europa hat den Fortschrittsglauben nicht ganz aufgegeben, und Amerika hat in den letzten Jahrzehnten den Zweifel an diesem Glauben in sich aufgenommen. Das führt mich zu dem zweiten Typus des Selbstverständnisses des heutigen Menschen: dem Typus derer, die fundamental am Menschen zweifeln und die Ideale des 19. Jahrhunderts preisgegeben haben. Es ist eine Auffassung menschlichen Daseins, die nicht auf das ideale Wesen des Menschen blickt, sondern auf seine vergängliche, tragisdizerrissene, schuldbeladene Existenz und insonderheit auf seine Existenz in der gegenwärtigen industriellen Gesellschaft. Man nennt diese Auffassung, wenn sie philosophisch vertreten wird, Existentialphilosophie und stellt sie in Gegensatz zu der Essentialphilosophie des ersten Typus. Aber es handelt sich keineswegs nur um einen philosophischen Gegensatz. Alle Seiten menschlichen Lebens und menschlichen Schaffens sind durch diesen Gegensatz bestimmt. Vielleicht die tiefsten Einblicke in die inneren Widersprüche menschlicher Existenz verdanken wir dem gegenwärtigen Roman und der gegenwärtigen Dichtung, und auch die bildende Kunst muß mit einbezogen werden. Die Zerrissenheit und Gegenstandsfremdheit der modernen Malerei ist ein Ausdruck dieses existentialistischen Typus* menschlicher Selbstinterpretation. Nur wer das verstanden hat, kann moderne Kunst würdigen und lieben. N u r wer das verstanden hat, kann den Mut bewundern, mit dem die großen 186
Künstler unserer Zeit das zum Ausdruck bringen, was sie sehen, wenn sie in die Tiefen der menschlichen Existenz blicken, in die eigene Tiefe und in die der Mitmenschen. Wenn wir fragen, wie weit verbreitet dieser Typus menschlichen Selbstverständnisses ist, so müssen wir antworten, daß er in seiner bewußten Form auf verhältnismäßig kleine Kreise beschränkt ist, daß aber ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit, der inneren Leere, der Angst durch die Massen geht. Das Gefühl der inneren Leere ist besonders verbreitet an den Stätten höherer Bildung in beiden Kontinenten. Und es treibt die junge Generation zu Gleichgültigkeit, zu Zynismus oder zu der Frage nach einem neuen Inhalt, einem neuen Ideal und damit zu dem dritten Typus des Selbstverständnisses des heutigen Mensdien, Zum dritten Typus gehören diejenigen, die durch den Zweifel und das Nein, wie es im zweiten Typus beschrieben war, hindurchgegangen sind und sidi einem neuen Ja, einer neuen Sicherheit zugewandt haben. Es scheint, daß die jüngste Generation in wachsendem Maße zu diesem Typus übergeht; aber es ist ein gefährlicher Obergang. Als in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die europäischen und in den dreißiger Jahren die amerikanischen Intellektuellen sich radikalen Antworten zuwandten, war der Wille nach einem neuen Inhalt und einer neuen Sicherheit die treibende Kraft. Aber die Antworten waren keine dem wahren Wesen des Mensdien entsprechende Antworten. Um den Mensdien Sicherheit zu geben, machten sie die Systeme, die sie vertraten, zu einem Ding, zum Teil eines großen, von wenigen Machthabern dirigierten Gesellschaftsmedianismus. Ein neues Bild vom Mensdien war das nicht. Es war nur die letzte und zum Teil furchtbarste Konsequenz der alten naturwissenschaftlichen Auffassung vom Mensdien, die seine Person und alle Äußerungen seiner Person in physikalische, berechenbare Prozesse auflöst. Wenn nadi der schweren Enttäuschung über diese Antworten sich heute viele innerhalb dieses dritten Typus den alten oder neuen religiösen Symbolen zuwenden, so ist auch das nicht ohne Gefahr. Religion, die um der seelischen Sicherheit willen bejaht und daher der Kritik entzogen wird, muß fanatisch werden. Und doch - trotz all dieser Gefahren - ist der dritte Typus der Typus der Zukunft. An seiner Formung zu arbeiten ist die Aufgabe der jüngsten Generation. Er kann nicht „gemacht" oder durdi Nachahmung vergangener Typen gewonnen, er muß - wie die beiden anderen Typen - aus schöpferischer N o t geboren werden. Die Anfänge dazu sind vielfach schon sichtbar. Die Frage nach einer neuen Klassik, die Frage nach etwas, was uns unbedingt angeht, nach einem letzten 187
Lebenssinn, nadi letzter Realität ist allenthalben zu hören; aber die wirkliche Antwort, auf die der dritte Typ des Selbstverständnisses des heutigen Menschen hindrängt, ist noch nicht gefunden. Die Hoffnung der Menschheit ist, daß sie gefunden werde.
10. DAS C H R I S T L I C H E V E R S T Ä N D N I S DES M O D E R N E N M E N S C H E N Es ist üblich zu fragen, wie der moderne Mensch das Christentum versteht oder - weitaus häufiger - mißversteht. Es ist eine notwendige und für Theologie und Predigt gleich wichtige Frage. Denn es ist der moderne Mensch, zu dem beide sprechen wollen und den sie nur erreichen können, wenn sie wissen, wo er steht. Heute aber wollen wir die umgekehrte Frage stellen: Wie sieht der moderne Mensch aus, wenn er mit christlidiem Maßstabe gemessen wird? Was hat das Christentum über den modernen Menschen zu sagen? Solch eine Frage führt freilich zu weiteren Fragen. Man fragt sofort: Was ist gemeint, wenn man vom modernen Menschen spricht, und wie sieht das Christentum aus, das den modernen Menschen mit christlichen Maßstäben messen soll? Zunächst die erste Frage: Was heißt modern, wenn man vom modernen Menschen spricht? Ohne viele Umschweife möchte ich antworten: Der Mensch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sicherlich, der Mensch unserer Tage ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist das Resultat einer langen Vergangenheit, innerhalb derer man überall Punkte findet, in die man den Anfang des modernen Menschen zurückverlegen kann. Die üblichste und wahrscheinlich richtigste Datierung der Geburt des modernen Menschen ist die Renaissance. Man kann auch mit dem 17. und 18. Jahrhundert anfangen. Aber in jedem Fall kommt man schließlich zu dem Bild des Menschen, der heute lebt und über den das Christentum etwas aussagen soll. Nun entsteht die Frage: Welches Christentum soll die Aussage machen? Diese Frage ist viel schwieriger, aber sie muß beantwortetwerden. Jede christliche Theologie hat eine besondere Weise, in der sie über den modernen Menschen spricht. Was ich sage, ist in einem Protestantismus verwurzelt, der so viele moderne Elemente in sidi aufgenommen hat, daß er über sich selbst spricht, wenn er über den modernen Menschen spricht. Und doch nicht ganz: Als protestantischer Christ ist man fähig, eine Dimension menschlichen Seins zu sehen, die dem Blick de: moder188
nen Menschen, der nur moderner Mensch ist, entschwunden ist. Es ist die Dimensiön des Unbedingten, des Letzten in Sein und Sinn. Es ist die Dimension, die sich zeigt, wenn die Fragen gestellt werden: Wofür bin ich da? Warum ist irgend etwas da? Was ist der Grund, was ist der Sinn allen Seins? Was ist der Sinn meines Seins? Auf diese Frage gibt die Religion Antworten. Es sind keine Antworten, die auf der Ebene wissenschaftlicher Forschung liegen. Es sind Antworten, die unmittelbar und persönlich zu dem gesprochen sind, der fragt, es sind Antworten, die mit dem ganzen Sein des Fragenden aufgenommen werden müssen und deren Sprache das Symbol ist. Das Christentum, d. h. viele Vertreter des gegenwärtigen christlichen Denkens, wie auch ich selbst, glauben nun zu sehen, daß diese Dimension, die Dimension des Religiösen, dem typisch modernen Menschen verlorengegangen ist. Und es ist die Aufgabe des Theologen, der sidi um ein Verständnis des modernen Menschen bemüht, zu zeigen, warum dieser Verlust eingetreten ist, was er bedeutet und wie das Verlorene wiedergewonnen werden kann. Es sind drei Prinzipien, die das Bewußtsein des modernen Menschen bestimmen und deren jedes zum Verlust der Dimension des Unbedingten oder, um eine Metapher zu gebrauchen, der Dimension der Tiefe beigetragen hat. Wir können sie das Prinzip der Innerweltlichkeit, das Prinzip der Vergegenständlichung und das Prinzip der Umgestaltung nennen. Jedes dieser drei hat in der gleichen Richtung gewirkt und das geschaffen, was man als den modernen Menschen bezeidinen kann. Wir wollen diese drei Prinzipien der Reihe nach betrachten und auf diese Weise dem christlichen Verständnis des modernen Menschen näherkommen. Dabei muß von vornherein bemerkt werden, daß diese Prinzipien in ihrer ursprünglichen Bedeutung keineswegs antireligiös waren, es aber im Laufe ihrer Entwicklung geworden sind. Das Prinzip der Innerweltlidikeit hatte ursprünglidi den Sinn, daß das Göttliche seinen Sitz nicht in einer Überwelt hat, sondern daß es in jedem Teil dieser Welt, in der Sonne wie im Sandkorn, im Tier wie im Menschen, ganz gegenwärtig ist. Man braucht nicht in eine Oberwelt zu steigen, um Gott zu haben, man kann ihn hier und jetzt haben, ganz und wirklich, obgleich kein Endliches ihn umschließen und begreifen kann. Es war eine religiös gesättigte Innerweltlichkeit, aus der das moderne Prinzip der Innerweltlichkeit geboren wurde. Im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geschah es jedodi, daß das religiöse Element, die Dimension der Tiefe, verschüttet wurde. Der Geist der industriellen Welterkenntnis und Weltbeherrschung ist auf 189
die Dimension des Horizontalen gerichtet. Alles, was aus der Vertikalen einbrechen könnte, stört ihn. Er braucht eine berechenbare Welt, aus der alles Unberechenbare verbannt ist. Die Vertikale hat zwei Richtungen, die nach oben und die nach unten. Die Richtung nach oben steht symbolisch für das Schöpferisch-Göttliche, die Richtung nach unten für das Zerstörerisdi-Dämonische. Es fiel dem modernen Bewußtsein nicht schwer, mit der Richtung nach oben fertig zu werden. Man brauchte sie nidit zu verneinen, im Gegenteil, es war oft nützlich, sie für innerweltliche Zwecke zu gebrauchen. Man konnte soziale Herrsdiaftsverhältnisse als gottgewollt rechtfertigen. Man konnte politischen Zielen eine religiöse Weihe geben, man konnte nationale Bestrebungen religiös begründen. Allerdings war das alles nur möglich, nachdem das Religiöse verharmlost, die Linie nach oben unschädlich gemacht worden war. Für Erschütterungen, wie sie vom prophetischen Erlebnis des Göttlichen ausgehen, ist in dem typischen Denken der industriellen Gesellsdiaft kein Platz, und ebensowenig für die Botschaft von einem Neuen Sein, das in die Welt eingebrochen ist und ständig einbricht. Aber schwieriger als mit der Vertikalen nach oben fertig zu werden, war es für den modernen Menschen, die Vertikale nach unten, das Dämonisch-Zerstörerische, auszuscheiden. Schon früh im 18. Jahrhundert versuchte man es, und nicht ohne Erfolg. Das extremste Symbol der Richtung nach unten, die Hölle, wurde leicht beseitigt, und das Wort selbst erhielt sidi nur als populäres Fluchwort. Bald folgte der Begriff der Sünde, vor allem der Erbsünde. Er schien einen tiefen Pessimismus über die menschliche Situation auszudrücken und unvereinbar zu sein mit der freudigen Bejahung des Innerweltlichen. Endlich folgte die Verbannung des Todes aus dem öffentlichen Bewußtsein, aus dem Gespräch und aus der Sicht. Es wurde als taktlos angesehen, vom Tode zu reden. Und mit all dem ging nidit nur der Teufelsaberglaube mit seinen furchtbaren Folgen, sondern audi das Bewußtsein um die dämonisdi-zerstörerischen Kräfte im Leben des Einzelnen und der Gesellsdiaft verloren. Das ist der moderne Mensch, geformt durdi das Prinzip der Innerweltlichkeit. Und doch ist er es nidit. Er war es nie ganz, und er ist es nicht mehr. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat erlebt, daß die Vertikale nach unten nicht abgeschnitten werden kann, er hat erlebt, daß er endlich ist. Und er rennt an gegen die Welle der Endlichkeit, gegen das Gefängnis, in das ihn das Prinzip der Innerweltlichkeit eingeschlossen hat. Die Innerweltlichkeit, die im Anfang Befreiung war von einem immer drohenden Jenseits, wird von vielen Menschen unserer Tage als Gefangenschaft erlebt. Die Angst der Endlichkeit hat auch die Träger und 190
Beweger der industriellen Gesellschaft ergriffen. Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts sind ein überwältigendes Zeugnis dafür. Ihr Stil, der Stil der Zerrissenheit und des Rückgangs auf die Urelemente des Universums und des Menschen, zeigt, daß die Dämonen - um dieses Symbolwort zu gebrauchen - , die verbannt zu sein schienen, zurückgekehrt sind. Man weiß wieder um die tragische Verfallenheit des Menschen, um Schuld, Entleertheit und Verzweiflung. Aber das heißt noch nicht, daß die Mauern der Endlichkeit durchbrochen sind. Kein nüchterner Beobachter wird behaupten, daß die religiöse Welle, die sich in der westlichen Welt, in Amerika wie in Europa, erhoben hat, die Antwort auf die Frage nach der Dimension der Tiefe ist. Sie zeigt an, daß viele Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine solche Antwort suchen. Aber oft hat man das Gefühl, daß diese Wiederkehr des religiösen Interesses eine Gefahr für die Ehrlichkeit und Radikalität des Fragens werden kann. Sie wird es immer dann, wenn die Symbole der Vertikalen selbst in den Dienst der Horizontalen gestellt werden, mit anderen Worten, wenn die Hinwendung zur Religion von den Mächten der Propaganda, der Reklame, des Geschäfts für ihre sehr endlichen Zwecke benutzt wird. Dadurch wird das Gefängnis der Innerweltlichkeit nur unentrinnbarer. Eng verbunden mit dem Prinzip der Innerweltlichkeit ist das der Vergegenständlichung. Auch dieses Prinzip war ursprünglich religiös gemeint. Hinter ihm steht die Würdigung des Menschen, jedes Menschen, als eines individuellen Spiegels des Universums, als einer Welt im Kleinen, aber doch erhoben über alle anderen Schichten des Daseins. Der Mensch, begabt mit Vernunft, ist dazu bestimmt, alles, was ihm begegnet, erkennend zu spiegeln und handelnd zu beherrschen. Er ist das Subjekt, demgegenüber alles andere zum Objekt wird. In Wissenschaft und Technik kommt dieses Ziel zur Erfüllung. Sie befreien von Aberglauben und magischer Angst, von der Knechtschaft unter mechanische Verrichtungen, die von den Mechanismen der durch die Technik regulierten Natur selbst übernommen werden können; sie entmächtigen alles Wirkliche zugunsten dessen, dem durch seine Vernunft Macht über die Dinge gegeben ist. Die Dinge haben aufgehört, Mächte zu sein, sie sind Objekte geworden. Aber sie haben sich an dem gerächt, der sie unterworfen hat. Sie haben den Menschen in sich hineingezogen, ihn selbst zu einem Ding gemacht. In dem Gefängnis der bloßen Endlichkeit wird der Mensch zum Ding. Die Gefahren dieser Situation sind von prophetischen Geistern des 19. Jahrhunderts beschrieben worden, und in unserem Jahrhundert sind sie in aller Mund. Wir sehen heute, was es heißt, ein Teil der gesellschaftlichen Maschine zu sein, die pro191
duziert und konsumiert und den Einzelnen zwingt, sich ihren Gesetzen anzupassen. Das kam zuerst zum Bewußtsein in der Reaktion des industriellen Proletariats gegen sein Schicksal, eine Ware im Wirtschaftsprozeß und ein Maschinenteil im Produktionsprozeß zu sein. Es wurde dann deutlich in der Lebenssituation der unteren Angestellten und Beamten mit der Mechanisierung ihres täglichen Lebens in Arbeit und Freizeit. Gegenwärtig zeigt es sich vor allem in dem Zwang einer bis ins einzelne gehenden Konformität, die von den mittleren und höheren Angestellten der großen industriellen Unternehmungen sowie von den mittleren und höheren Beamten des bürokratischen Apparats erwartet wird. Vor allem aber zeigt es sich in der Art, wie die ganze westliche Welt unter dem ständigen Druck der Mächte steht, die die öffentliche Meinung schaffen: Radio und Fernsehen, Presse und Kino, Reklame und Propaganda. Der halbunbewußte Einfluß dieser Mittel macht sie um so gefährlicher für die geistige Freiheit, auch da, wo die politische Freiheit garantiert ist. Der moderne Mensch steht zwischen der Angst, sich gegen die Forderungen der Konformität zu vergehen, und der Angst, der Konformität zu verfallen und sein menschliches Selbst darin zu verlieren. Der Ausdruck der Revolte gegen die Vergegenständlichung ist am sichtbarsten in den gleichen Formen der Kunst, Literatur und Philosophie, die aus dem Gefängnis der Endlichkeit auszubrechen suchen. Der expressive Stil des 20. Jahrhunderts ist ein einziger großer Protest gegen die Vergegenständlichung des Menschen, aber er führt nicht weiter als bis zu dem gleichen Fragezeichen, das wir hinter die Hinwendung zur Religion setzten. Es kann auch hier dazu kommen und ist schon zum Teil so, z. B. in der Bildreklame, daß die Ausdrucksformen des Protestes gegen die Vergegenständlichung des Menschen als Mittel in ihren Dienst gestellt werden. Sie werden dadurch, so revolutionär sie auch zuerst erschienen, zu Elementen der Konformität, in die unsere Zeit auch die extremsten Ideen zu pressen versucht. Hier muß hinzugefügt werden, daß in dieser Beziehung der Unterschied zwischen der westlichen und der östlichen Welt immer geringer wird. Nun noch einen kurzen Blick auf das dritte der Prinzipien, die den modernen Menschen bestimmen, das Prinzip der Umgestaltung, nämlich der Umgestaltung von Natur und Gesellschaft durch den Menschen. Auch hier ist der religiöse Hintergrund deutlich. Es ist der Wille, die Erde zum Schauplatz eines Reiches des Friedens, der Gerechtigkeit und des Glückes für alle zu machen, religiös gesprochen, zum Schauplatz des Reiches Gottes. Aber bald wurde der religiöse Hintergrund verstellt durch die tatsächliche Beherrschung und Dienstbarmachung 192
der Natur sowie durch die Organisation der Gesellschaft für diesen Zweck. Unter dem „Symbol" des Fortschritts wird mehr und mehr produziert. Die unbegrenzte Möglichkeit zu produzieren wird zur unwiderstehlichen Versuchung, es zu tun. Und so wird produziert, weil Produktion möglich ist. Und sie ist möglich, auch Uber die Grenzen des irdischen Raumes hinaus. Es wird produziert, immer neue Möglichkeiten tun sich auf, man stößt grenzenlos vorwärts in die Horizontale, bis plötzlich aus der verstellten vertikalen Dimension sich die Frage erhebt: Wofür? Ist Glück erreicht, Gerechtigkeit, Friede? Oder ist die Q u a l der Rastlosigkeit, die Spaltung der Welt, die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Macht und Besitz zwisdien den Völkern, die Möglichkeit der Selbstzerstörung durch die Werkzeuge der Naturbeherrschung das Ergebnis des Vorwärtsdrängens in der Horizontalen? Ekel, Leere, das Gefühl der Sinnlosigkeit haben viele moderne Menschen, besonders in der jüngeren Generation, ergriffen. Das seelische Gleichgewicht Unzähliger ist ins Wanken geraten. Der Fortschrittsgedanke hat seine Faszination verloren. Der Glaube an das Reich Gottes auf Erden ist verschwunden. Man sucht Heilung in der vertikalen Richtung, vielfach in mystischen Formen. Aber auch hier erscheint der modernisierte religiöse Medizinmann und biegt die vertikale Linie zurück ins Horizontale, indem er dem seelisch Verwirrten verspricht, ihn wieder fähig zu machen zum Leben - im Konkurrenzkampf, in der Horizontalen. Das ist das Bild des modernen Menschen, gesehen in christlich-protestantischer Sicht. Es ist nicht das Bild des Menschen ohne Gott. Im Grunde gibt es das überhaupt nicht, weil Gott den Menschen nie aus der H a n d läßt. Aber es ist das Bild eines Menschen, der nicht mehr weiß, daß und wie er in der H a n d Gottes ist. Es ist das Bild des modernen Menschen, dem die Prinzipien seiner Modernität zerbrochen sind, der um die vertikale Dimension ringt, die er verloren hat, der gegen die Mauern der Endlichkeit anrennt, zwischen denen er gefangen ist, der verzweifelt das Selbst verteidigt, das ihm die Verdinglichung der Welt zu rauben droht, der sich aus der sinnlos gewordenen Horizontalen in die sinngebende Vertikale retten will. Wenn das der moderne Mensch ist, dann ist er eine Frage, nodi ehe er selbst eine Frage stellt, eine Frage, die das christliche Gewissen hören und unter die es sich selbst stellen muß, in der Hoffnung, daß die christliche Botschaft Antworten enthält, die der moderne Mensch vernehmen kann, wenn sie ihm in seiner Situation und in seiner Sprache gesagt werden.
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11. D E R M E N S C H I M C H R I S T E N T U M U N D IM M A R X I S M U S I Es ist meine erste Aufgabe, darüber zu sprechen, in welchem Sinne die drei Begriffe des Themas - Christentum, Marxismus und Mensch - in diesem Vortrag gebraucht werden sollen. Christentum im Sinne unseres Themas bedeutet nicht den tatsächlichen Bestand der christlichen Kirchen, ihre Einrichtungen und Dogmen, sondern es bedeutet die christliche Botschaft, wie sie in der klassischen Tradition verstanden worden ist. Trotz aller Spannungen und Konflikte innerhalb dieser Tradition, die mit der biblischen Literatur beginnt und sich bis zur Gegenwart weiterentwickelt hat, zeigt die Lehre vom Menschen innerhalb dieser Tradition eine starke Einheitlichkeit. Man kann von einer christlichen Auffassung des Menschen reden, trotz der Gegensätze z. B. zwischen der katholisdien und der protestantischen Auffassung, die innerhalb des Christentums wirksam wurden. Das, was wichtig ist für einen Vergleich der Menschenauffassung in Christentum und Marxismus, findet sich fast in allen christlichen Gruppen und Konfessionen. Es ist im Augenblick vielleicht schwieriger zu sagen, was man unter Marxismus versteht. Seit seiner Entstehung vor mehr als hundert Jahren sind mindestens drei Formen des Marxismus in Erscheinung getreten. Die erste Form ist die, die im ursprünglidien und vor allen Dingen im jüngeren Marx bis zum Kommunistischen Manifest vorliegt. Die zweite Erscheinungsform des Marxismus ist der von Marx selbst in seinen späteren Schriften vorbereitete wissenschaftliche Marxismus. Die dritte Erscheinungsform ist die von Lenin vorbereitete und von Stalin durchgeführte Zerstörung der ursprünglichen Impulse von Marx und die Benutzung seiner Gedanken zur Fundierung eines Systems totalitärer Herrschaft. Wenn man daher heute von Marxismus spricht, muß man angeben, welche der drei Erscheinungsformen man meint. Wenn man, wie es viele sozialdemokratische Gruppen tun, Marx im Sinne des sogenannten wissenschaftlichen Marxismus versteht, so muß man sich darüber klar sein, daß man damit nicht nur viele Motive des ursprünglichen Marx verloren hat, sondern auch gezwungen ist, an Ideen festzuhalten, die der gegenwärtigen Situation nicht mehr gerecht werden. Es ist darum meine Überzeugung, daß eine sozialistische Bewegung, die sich heute auf Marx berufen will, sidi nicht nur in scharfen Gegensatz zu der stalinistischen Zerstörung des urspriing194
liehen Marxismus stellen muß, sondern auch fragen muß, ob und wieweit es nötig ist, die zweite Form der marxistischen Bewegung zugunsten einer Neuorientierung aus den Quellen des ursprünglichen Marx aufzugeben. Was gefordert werden muß und wofür ich im folgenden sprechen möchte, ist eine Rüdewendung zu den ursprünglichen Quellen der modernen sozialistischen Bewegung. Der alte Ruf der Renaissance: „Zurück zu den Quellen" ist heute für alle sozialistischen Gruppen, die nicht in den Stalinismus aufgegangen sind, notwendig. Wenn man aber zu den Quellen, in unserem Fall zu dem frühen Marx zurückgeht, dann darf man diese Quelle nicht mehr isoliert sehen. Man muß Marx in einem größeren Zusammenhang sehen, nämlich im Zusammenhang jener Bewegung, die man heute existentialistisch nennt und die nichts ist als eine über hundert Jahre alte Bewegung der Rebellion gegen die Entmenschlichung des Menschen in der industriellen Gesellschaft. Viele neben Marx haben an dieser Rebellion teilgenommen. Und vielleicht wäre manches an kleinbürgerlicher Enge im. Sozialismus und an zerstörerischem Machtwillen im Kommunismus vermieden worden, wenn die soziale Revolution sich als ein Teil der geistigen Rebellion verstanden hätte. Man hätte prophetische Persönlichkeiten wie Soeren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche vom Sozialismus her ernst genommen. Man hätte auf die Entwicklung in Literatur und Kunst am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts geblickt, und man würde heute in den führenden Geistern der gegenwärtigen Literatur, Philosophie und Kunst den gleichen K a m p f finden, den Marx gegen die Entmenschlichung des Menschen im Zeitalter der Herrschaft der Maschine geführt hat. Der dritte Begriff, der in unserem Thema vorkommt, ist „Mensch". In dem, was ich über Christentum und Marxismus sagte, war von der Situation des Menschen die Rede, teils im Sinne des Menschen als Menschen, teils im Sinne des Menschen in der gegenwärtigen Epoche der Geschichte. Es ist nicht möglich, diese beiden Dinge zu trennen. Der Blick in die allgemeine menschliche Situation ist immer mitbestimmt durch die Erfahrungen, die in einer konkreten geschichtlichen Situation gemacht werden. Und andererseits ist das, was in einer bestimmten Situation mit den Menschen geschieht, nur möglich, weil im Wesen des Menschen selbst die Möglichkeiten seiner mannigfaltigen historischen Verwirklichungen gegeben sind. Die beiden Seiten gehören zusammen und dürfen nicht getrennt werden. Aber die genaue Bestimmung ihres Verhältnisses ist eine der schwierigsten Aufgaben jeder Lehre vom Menschen. Ich möchte nun zuerst die Analogien zwischen der marxistischen 195
und der christlidien Menschenauffassung herausarbeiten und dann die Differenzen zeigen. Es ist meine Oberzeugung, daß die grundlegende Abweichung des Marxismus vom Christentum die wichtigste Ursache für die tragische Entwicklung der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist. II Es gibt einen Begriff, den Marx in allen Perioden benutzt und der die fundamentale Struktur der marxistischen Menschenauffassung sichtbar macht, nämlich der Begriff „Entfremdung". Nadi Marx ist der Mensdi im Zeitalter des Kapitalismus sich selbst entfremdet. Das Wort „Entfremdung" schließt eine Doppelbeurteilung des Menschen ein. Es besagt auf der einen Seite, daß der Mensch etwas hat, das ihn zum Menschen macht, etwas Wesenhaftes, das Humane, auf dem seine Würde als Mensdi beruht. Zugleich aber besagt der Begriff Entfremdung, daß der Mensch nicht in seinem Wesen steht, daß er entfremdet ist von dem, was er wesentlich ist und darum sein sollte, daß ein Bruch vorliegt zwischen seinem Wesen und seiner Existenz. Diese Scheidung von Wesen und Existenz, die eine große Geschichte in der westlichen Philosophie hat, ist das fundamentale Problem der marxistischen und, wie wir später sehen werden, auch der christlidien Menschenauffassung. Wenn man nun fragt, wie Marx das Wesen des Menschen definiert, wie er einen Menschen beschreibt, der in seinem Wesen steht, so findet man, daß Marx kaum etwas darüber sagt. Marx' Auffassung vom Wesen des Menschen ist nirgends ausdrücklich entwickelt, aber sie ist in jedem Wort enthalten, das Marx über die Entmenschlichung des Menschen schreibt. Es ist nidit schwer zu zeigen, daß das Wesensbild des Menschen, das Marx voraussetzt, das des klassischen Humanismus ist. Dies ist ein Punkt, in dem Marx trotz aller Kritik an dem „Elend der deutschen Philosophie" fundamentale Voraussetzungen mit ihr teilt. Für jemanden, der durch Hegels Philosophie hindurchgegangen ist, ist das nicht gut anders möglich. Marx spricht, wie die idealistischen Philosophen, von dem Menschen als einem Wesen, das trotz aller Sinnengebundenheit Vernunft hat, daß diese Vernunft ihn im Prinzip frei macht und daß er in der Wirklichkeit zur Freiheit bestimmt ist. An dieser potentiellen Vernünftigkeit nimmt jeder Einzelne teil. Weder Marx noch die klassische Menschenauffassung haben jemals behauptet, daß alle Menschen, empirisch gesehen, gleich sind. Wohl aber haben sie behauptet, daß alle Menschen potentiell vernünftig sind und daß darin ihr gleiches Recht auf Freiheit und Würde begründet ist. In einigen nur ganz selten verfolgten Gedankengängen hat Marx die 196
Möglichkeit erwogen, daß das, was der Mensch wesentlich ist, in Form einer Art von Urkommunismus einmal wirklich gewesen ist. Er folgt darin der Rousseauschen Idee der primitiven Unschuld des Menschengeschlechtes. Aber er hat im Unterschied zu manchen späteren Marxisten diesen Gedanken nicht durchgeführt. Das, was man aus seiner Beschreibung des gegenwärtigen entfremdeten Zustandes der Menschheit entnehmen kann, ist das Bild des freien schöpferischen Menschen, der die Welt der Dinge formt und nicht selbst zum Ding geworden ist. Die Tatsache, daß Marx diese im Grunde humanistische Mensdienauffassung nicht entwickelt hat, ist eine der Ursachen dafür, daß ihre Wirkung auf die sozialistische Bewegung schwach geblieben ist. Marx gibt kein positives Bild vom Menschen. Er gibt kein Bild des Menschen, wie er wesenhaft ist und darum sein sollte. So konnte es geschehen, daß die sozialistische Bewegung einem Ideal menschlicher Existenz verfiel, das man nur als kleinbürgerlich, unschöpferisch bezeichnen kann. Marx hat keine Sicherungen dagegen geschaffen, daß der mehr oder weniger saturierte Kleinbürger zum Ideal des Menschen erhoben wurde. Es war darum möglich, daß gegen die verharmloste Form dessen, was als „wesenhaft menschlich" angesehen wurde, der Kommunismus sein radikal revolutionäres Menschenbild stellte. Der Mensch im Idealbild des Kommunismus unterwirft sich total einer Idee, opfert für sie sein Selbstsein als Individuum, zeigt eine unbedingte und totale Hingabebereitschaft, beraubt sich jeder persönlichen Freiheit und macht sich zu einem Werkzeug von etwas, das größer ist als er. Die Kraft dieses Menschenbildes hat sich in dem Sieg der kommunistischen Revolution in weiten Gebieten der bewohnten Erde gezeigt. Es war an Stoßkraft dem unentwickelten Menschenbild des Sozialismus überlegen. Von marxistischer Seite wurde die Zurückhaltung gegenüber dem Wesensbild des Menschen damit verteidigt, daß man sagte, vom Wesen des Menschen könne man erst etwas wissen, wenn der Mensch im Wesen steht. Philosophische Anthropologie, so argumentierte man in diesen Kreisen, ist aber nicht nur nicht möglich, sondern sie ist auch verwerflich, weil sie geneigt ist, den gegenwärtigen Zustand des Menschen zu verabsolutieren. Anthropologie wirkt reaktionär. Erst am Tage nach der gelungenen Revolution können wir mit einer Lehre vom Menschen beginnen. Dann erst werden wir wissen, was der Mensch ist. Es ist nicht schwer, die Schwäche dieses Gedankenganges aufzuweisen. Wenn man fragt, wer den Charakter der nachrevolutionären Situation bestimmt, so kann die Antwort nur lauten: die Träger der Revolution. Es muß also schon vor der aktuellen Revolution eine Gruppe von 197
Menschen geben, die selbst am Wesen des Menschen teilhaben, und zwar nicht nur potentiell, sondern aktuell, und die bestimmen, wie eine Gesellschaft aussieht, in der der Mensch im Wesen steht. So ist es auch bei den sozialistischen Revolutionen gewesen. Die Revolutionäre von gestern haben als Sieger von heute ihr Menschenbild der nachrevolutionären Periode aufgeprägt. Und dieses Bild war nicht anders, als sie selber vor ihrem Siege waren: kleinbürgerlich die einen, kämpferisch die andern. Die einen ließen die sozialistische Bewegung versanden, die anderen stürzten sich mit ihr in den Abgrund des totalitären Kommunismus. In all dem rächte sich der Mangel eines bewußten Wesensbildes des Menschen in der marxistischen Bewegung. Aber, wird man fragen, woher wissen wir etwas von einem Wesensbild des Menschen? Die Voraussetzung, die Marxismus und Christentum machen, ist doch, daß wir in einer Welt leben, in der der Mensch sich selbst entfremdet ist. Woher kann die entfremdete Menschheit wissen, was die nicht-entfremdete, die wesenhafte Menschheit ist? Um die Antwort auf diese Frage, die vom wissenschaftlichen Marxismus nicht ernst genommen wurde, hat sich der Religiöse Sozialismus bemüht. Er hat die Frage nach einem sozialistischen Menschenbild überaus ernst genommen, allerdings erst in einem Moment, wo es sdion zu spät war, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Der Religiöse Sozialismus zeigte, daß auch in der Entfremdung der Mensch noch Mensch bleibt. N u r weil das der Fall ist, weiß er um seine Entfremdung. Solche Erwägungen waren dem politischen Denken des Marxismus in seiner zweiten Erscheinungsform fremd. Die politische Polemik sah in dem Gegner nur die Negation des Menschlichen und bemerkte nicht, daß nach der Grundvoraussetzung Freunde und Feinde unter dem gleichen Fluch der Entfremdung stehen und daß bei beiden das Menschsein sich darin zeigt, daß man um die Entfremdung weiß. In der Sprache der klassischen Philosophie hat man die Stimme des Gewissens von diesem Wissen abgeleitet. Man hat das Gewissen verstanden als den Ruf des Menschen zu sich selbst, zu seiner wahren Natur. - Weiter hat der religiöse Sozialismus auf Perioden der Geschichte hingewiesen, in denen sich die Entfremdung des Menschen anders zeigte als in der Form der Verdinglichung, wie sie in der industriellen Gesellschaft vorliegt. Der Blick auf solche Perioden hat von jeher Gesellschaftsstrukturen gezeigt, die zwar nicht wiederholt werden können, die aber doch auf menschliche Möglichkeiten jenseits des gegenwärtigen Zustandes hinweisen. Die Menschen in solchen Perioden, wie z. B. im frühen Mittelalter, waren weder besser noch glücklicher als die Menschen der Gegenwart, aber sie hatten Lebensformen, die auf menschliche Möglichkeiten hin198
weisen, von denen man im gegenwärtigen Zeitalter nichts mehr weiß. Aus der Anschauung solcher Momente in der Geschidite der Menschheit lassen sich Symbole gewinnen, durch die etwas vom Wesen des Mensdien sichtbar wird. III Die Gedankengänge des Religiösen Sozialismus, die den letzten Erwägungen zugrunde liegen, führen unmittelbar zu der Frage nach dem Wesensbegriff des Menschen im Christentum. Die fundamentale Analogie zwischen marxistischer und christlicher Mensdienauffassung ist die Scheidung, die das Christentum zwisdien der geschaffenen und der gefallenen Welt vornimmt. Was im Marxismus entfremdete Existenz ist, ist im Christentum gefallene Existenz. Wenn man aber von einem Fall spricht, so setzt man eine Wesensstruktur voraus, von der der Mensch abgefallen ist. Es ist eine Grundlehre des Christentums, daß das Sein als Sein gut ist, daß die Schöpfung und mit ihr der geschaffene Mensch gut ist. Adam ist das Symbol für die ursprüngliche Gutheit oder Unschuld des geschaffenen Mensdien. Das bedeutet nicht, daß Adam vollkommen ist (nur eine irregeleitete Theologie hat so etwas behauptet), sondern es bedeutet, daß der Mensch in Adam als potentiell gut symbolisiert ist. Adam ist das Symbol für das Element träumender Unschuld und schöpferischer Möglichkeiten, das in jedem Menschen vorliegt. Der Mythos vom Paradies ist der Mythos vom Wesen des Menschen in seiner unentfalteten Unschuld und Potentialität. Wenn die christliche Theologie von Adam spricht, so gibt sie eine Wesenslehre vom Menschen. Sie sieht den Menschen in seiner Endlichkeit und in seiner Freiheit. In der Einheit dieser beiden Qualitäten liegt die Möglichkeit des Falles. Der Mensch als endliche Freiheit kommt in Widerspruch mit seinem Wesen, wenn er in die Wirklichkeit übertritt. Er löst sich von seinem göttlichen Ursprung, wenn er die Möglichkeiten seines Wissenkönnens und seiner Mächtigkeit zu verwirklichen beginnt. Er verliert das Paradies der träumenden Unschuld und mit ihm die Einheit mit der Natur und mit sich selbst. Er ist im Zustand der Entfremdung - und nicht nur als Einzelner, sondern auch als Gruppe. Philosophen haben darüber gestritten, wie die soziale Beziehung der Menschen zueinander im goldenen Zeitalter war. Theologen haben diese Gedanken übernommen und auf den Paradiesmythos angewandt. Sie folgten entweder den Stoikern, die eine egalitäre Wesensordnung der menschlichen Beziehungen behaupteten, eine Gleichheit aller ohne mehr oder weniger Mächtigkeit, ohne Uber- und Unterordnung, ohne 199
Macht und Autorität. Andere folgten dem Aristotelisdi-neuplatonischen Stufendenken, nach dem es schon im Paradies, d. h. in der Wesensstruktur der menschlichen Gesellschaft, eine Hierarchie gibt, ein Mehr oder Weniger, ein Über und Unter. Folgt man der stoischen Auffassung, so wird der vorhandene Gesellschaftszustand innerhalb der gefallenen Welt an egalitären Maßstäben gemessen, und die Konsequenz ist eine radikale Demokratie. Folgt man der hierarchischen Form der Beschreibung der essentiellen Gesellschaft, so kommt man zu einer konservativ-organologisdien Auffassung des Gesellschaftsideals. In beiden Fällen liegt hinter der Gesellschaftskritik ein ausgesprochenes oder unausgesprochenes Wesensbild des vergesellschafteten Menschen. Das entspricht dem im Marxismus zum Vorschein kommenden Idealbild des Urkommunismus. In der Theologie wiederholt sich, was wir im Marxismus beobachteten - die Schwierigkeit, eine Wesenslehre des Menschen zu entwikkeln. Weise Theologen haben von jeher gezögert, über das Paradies Aussagen zu madien, d. h. eine ausführliche Wesenslehre des Menschen zu geben. Und doch haben sie es nicht vermeiden können, da man die gegenwärtige Welt nicht als gefallene verstehen kann, ohne ihr eine andere, wesenhafte, von der sie abgefallen ist, entgegenzustellen. Etwas von dieser Notwendigkeit erscheint nicht nur im Marxismus und in der Theologie, sondern schon in den Mythen aller Völker, die den gegenwärtigen Zustand der Menschen als wesenswidrig empfinden und ein, wenn auch noch so vages, Wesensbild in eine mythische Vergangenheit hineinprojizieren. Ob Mythos, ob Theologie, ob Sozialphilosophie, man kann diesem Problem des menschlichen Selbstverständnisses nicht ausweidien. IV Wir müssen uns nun einer schärferen Analyse des Begriffs der Entfremdung zuwenden. Er ist einer der interessantesten und tiefsinnigsten der Begriffe von Marx. Er hat wie so viele seiner Ideen Wurzeln in Hegels Philosophie, und zwar in der Philosophie der Liebe, die der junge Hegel in seinen Fragmenten entwickelte und die er später in seiner „Phänomenologie des Geistes" monumental durchgeführt hat, wenn auch in wachsender Rationalisierung. Man kann Hegel zum mindesten bis zur „Phänomenologie des Geistes" einen Lebensphilosophen nennen. Die Begriffe Leben und Liebe spielen auch da noch eine indirekte Rolle, wo sie als Bewegung des Begriffes dargestellt sind. Es ist insonderheit der Begriff der Entfremdung, der auf diese Weise verständlich wird. Vergegenständlichung, Entfremdung und Wiederver200
einigung gehören zum Prozeß des Lebens. Liebe ist nicht real, wo Trennung und Wiedervereinigung fehlen. In dieser Bewegung sieht Hegel die innerste Natur des Lebens, und darum fordert er, daß der absolute Geist in die Selbstentfremdung geht, um zu sich zurückkehren zu können. Schon in seinem frühen Fragment über die Liebe beschreibt Hegel die Entfremdung als Vergegenständlidiung und weist auf die Vergegenständlichung hin, die durch das Recht und das Geld in die menschlichen Beziehungen kommt. Er nimmt damit Ideen voraus, die in Marx' Durchführung des Begriffs der Entfremdung ihre volle Entwicklung erfahren. Wo der Begriff der Entfremdung gebraucht wird, erhebt sich die Frage, wie es zu ihr gekommen ist. Warum ist das Wesen in die Existenz übergegangen? Welches ist die Ursadie des Falls? Marx antwortet: das Privateigentum. Es sind nicht nur einzelne, die diesen Schritt gemacht haben, sondern die Menschheit als ganze ist zu dieser Stufe übergegangen. Aus der Verschiedenheit des Privateigentums haben sich die Klassenspaltung und der Klassenkampf entwickelt. Durdi sie ist die bisherige Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen geworden. Das war unvermeidlich, denn nur auf diesem Wege konnte der Mensch seine höchstmögliche Produktivkraft entwickeln, und doch war es tragisch, indem es Mensch gegen Mensch und Klasse gegen Klasse aufbrachte und den Menschen von sich selbst entfremdete. Die Klassenkampfsituation ist Schicksal und Schuld zugleich. Sie ist beides: Erfüllung und Entfremdung, Verhängnis und Hoffnung. Es ist eine der Charakteristika der Entfremdung, daß der Mensch das Bewußtsein seiner Entfremdung zu überdecken versucht. Er kann seinen Zustand nur dadurch ertragen, daß er ihn ideologisch verhüllt. Das behauptet Marx insonderheit von denen, die in der Klassenkampfsituation auf der siegreichen Seite stehen. Sie erzeugen Ideologien, mit deren Hilfe sie die Ausbeutung der Unterworfenen rechtfertigen. Ideologien, die wirksam sind, werden nicht erfunden. Sie wachsen im Unbewußten und gewinnen dadurch ihre Kraft, im Klassenkampf ein gutes Gewissen zu schaffen. Als Beispiel einer Ideologie greift Marx den christlichen Jenseitsgedanken an. Er deutet ihn als einen Versuch der herrschenden Klassen, die Unterworfenen von dem Willen zur Weltgestaltung abzulenken. Vollkommenheit gibt es nur in der Transzendenz, die Welt bleibt, wie sie ist. Jeder ernsthafte Versuch, sie zu ändern, zeitigt schlimmere Folgen. Darum ist es am richtigsten, sie stehen zu lassen und sich der Transzendenz zuzuwenden. Auf Grund solcher Analysen verurteilt Marx alle Religion und große Teile der Philosophie, vor allem ihre metaphysischen und anthropologischen 201
Lehren, als Versudie ideologischer Verschleierung der Wirklichkeit. Entfremdung ist vor allem Verdinglichung. Der Mensch wird zum Ding gemacht. Er wird eingeordnet in den umfassenden Prozeß der Produktion und Konsumption. Jeder einzelne ist ein kleiner Teil einer universalen Masdiine, die der Mensch geschaffen hat und der der Mensch nun unterworfen ist. In diesem Zustand verliert er seine Subjektivität und seine schöpferische Freiheit. Er wird zum Objekt. Das gilt vor allem von der Art, wie im frühen Kapitalismus auf dem Arbeitsmarkt der Arbeiter als Arbeitskraft verkauft und gekauft wurde. Entfremdung zeigt sich in der Naturentfremdetheit der menschlidien Existenz, in den Massenquartieren der großen Städte, sie zeigt sich in der Atomisierung der Familien und aller anderen sozialen Gruppen, in der Unterwerfung unter die Gesetze der Massenpsychologie, im Verlust von Symbolen und Traditionen. Die herrschenden Klassen sind teilweise fähig, diesen Zustand durch Teilnehmen an der kulturellen Existenz zu überdecken. Und dodi schlummert unter der Decke einer Kultur, die ohne gemeinsame Symbole ist, die Selbstentfremdung der menschlichen Existenz, die in jedem Augenblick zerstörerisch hervorbrechen kann. V Es gibt im Christentum von seinen Anfängen an eine theologische Existentialanalyse. Allenthalben in der frühen christlichen Theologie finden wir Begriffe, die in der gegenwärtigen Existentialphilosophie wiederkehren. In manchen Arbeiten von Heidegger z. B. kann man die Sprache der Erweckungspredigt des 18. und 19. Jahrhunderts finden. Das christliche Verständnis der menschlichen Situation ist dem marxistischen Verständnis, wie es im Begriff der Entfremdung zum Ausdruck kommt, weithin analog. Das gilt zunächst von der Beantwortung der Frage, wie es zur gegenwärtigen menschlichen Existenz gekommen ist. Ganz ähnlich wie im Marxismus wird der „Fall" zugleich ethisch und tragisch gedeutet. Er ist beides: persönliche Schuld und allgemeines Verhängnis. Alle Geschlechter der Mensdien stehen unter diesem Verhängnis. Und dodi ist jeder einzelne mitverantwortlich. Man hat oft bemerkt, wie bei Marx der Gedanke der Unvermeidbarkeit der Klassenspaltung in scheinbarem Widerspruch steht zu dem ungeheuren ethischen Pathos, mit dem er das Proletariat anredet und die Gegner des Proletariats angreift. In ähnlicher Weise hat die Doppelbeurteilung der menschlidiem Situation im Christentum immer wieder zu theologisdien und kirchlichen Konflikten geführt. Augustin vertrat gegen den Ethiker Pela202
gius das tragische Element und die universale Unentrinnbarkeit der menschlichen Situation. Das gleiche tat Luther in seinem Kampf mit Erasmus um die religiöse Freiheit des Menschen. Und doch setzten sich in der Kirche immer wieder Pelagianisdie und Erasmisdie Tendenzen durch. Es ist insonderheit die erzieherische Aufgabe der Kirche, die die Betonung des Ethischen nötig madit und oft bis an die Grenze der Auflösung des Tragischen führt. Der „Fall" wird im christlichen Mythos als der Obergang aus der träumenden Unschuld des Nichtwissens in das Schuldigwerden des Wissens beschrieben. Der Mensch - das ist der Sinn des hebräischen Textes - wünscht die guten und schädlichen Mächte, die in den Dingen wirken, kennenzulernen, um sie zu beherrschen. Sein Wunsch wird erfüllt, der Mensch wird wissend, und wird, wie Gott in der Geschichte sagt, „wie unsereiner". Eben dies aber macht ihn schuldig und führt zu seiner Vertreibung aus dem Paradies. Der Zustand der träumenden Unschuld ist verschwunden. Die Weltgeschichte beginnt. Die Analogie zu der marxistischen Beschreibung des Uberganges aus dem Urkommunismus in die Situation der Klassenspaltung ist deutlich. Noch wichtiger ist die Analogie des christlichen Sündenbegriffes und der marxistischen Lehre von der Entfremdung. In der populär-religiösen Sprache, die auch die Sprache vieler Prediger und selbst Theologen ist, wird das Wort Sünde vor allem im Plural gebraucht. Man spricht von Sünden als einzelnen Akten und setzt Sünde mit sittlicher Verfehlung gleich. Auf diese Weise ist Sünde zu einem moralischen Begriff geworden, während er im klassischen Christentum ein religiöser Begriff ist, der unter anderen auch moralische Konsequenzen hat. Die moralistische Mißdeutung des Sündenbegriffs ist in Amerika noch weiter verbreitet als in Europa. Unter dem Einfluß der großen, aus den Sektenbewegungen hervorgegangenen Kirchen wird Sünde gleichgesetzt mit gewissen konventionell verbotenen Vergnügungen wie Rauchen, Trinken, Tanzen, Spielen. Demgegenüber kann der Marxsche Begriff der Entfremdung der Theologie einen wichtigen Dienst leisten. Viele Menschen, für die das belastete Wort „Sünde" unbrauchbar geworden ist, verstehen es sehr gut, wenn man auf ihre Selbstentfremdung und auf den entfremdeten Zustand der Menschheit als ganzer hinweist. Der Widerspruch, in dem der Mensch zu sich selbst und seinem wahren Wesen steht, ist eine persönliche Erfahrung, an der jeder teilhat. Und damit ist ein Element des christlichen Sündenbegriffs zum Ausdruck gebracht, das in dem traditionellen Gebrauch des Wortes fast verlorengegangen ist. Auch der marxistische Ideologiebegriff hat ein Gegenstück im christ203
liehen Denken, nämlich den Begriff der Idolatrie, das heißt des Götzendienstes. Idolatrie ist nidit der Glaube an irgendwelche mythische Götter, sondern Idolatrie ist der Versuch des Menschen, seine eigene Endlichkeit dadurch zu verhüllen, daß er sich und Teilen seiner Welt Unendlichkeit zuspricht. Calvin hat einmal gesagt, daß der menschliche Geist eine ständig arbeitende Götzenfabrik sei. Das entspricht genau dem marxistischen Gedanken, daß der Mensch ständig Ideologien produziert, um zu rechtfertigen, was er im Zustand der Entfremdung tut. Und in ganz ähnlicher Weise, wie Marx versucht hat, Ideologien zu enthüllen, fordert das prophetische Christentum von den Kirchen wie von jedem einzelnen Christen ständigen Idolatrieverdadit gegen sich selbst. VI Diese Analogie zwischen marxistischer und christlicher Menschenauffassung ist auch sichtbar in der Art, wie beide von der Rüdswendung des Menschen aus der existentiellen Entfremdung zum wahren Wesen menschlichen Seins sprechen. Genau wie der Übergang aus der ursprünglichen Unschuld in die Klassensituation bei Marx sowohl Schicksal wie Tat ist, so ist es die Einheit von geschichtlichem Schicksal und politischem Handeln, was die Rückkehr zum Wesen möglich macht. Ohne das geschichtliche Schicksal, das den revolutionären Akt vorbereitet, würde es nie zur Tat kommen. Ohne die Tat würde das geschichtliche Schicksal eine Möglichkeit bleiben und vorübergehen, ohne Wirklichkeit geworden zu sein. Für Marx ist die geschichtliche Möglichkeit der Rückwendung des Menschen aus seiner existentiellen Entfremdung in dem Augenblick gegeben, wo die Klassenspaltung ihre radikalste Form angenommen hat, nämlich in der bürgerlichen Gesellschaft. In ihr ist es diejenige Gruppe, in der das Phänomen der Entfremdung am stärksten verwirklicht ist, nämlich das Proletariat, durch das die Rüdekehr sich vollziehen wird. Wo das Äußerste der Entfremdung erreicht ist, ist die Umkehr der einzige Weg, der bleibt. Und doch wußte Marx, daß es nicht die Masse der Proletarier ist, die den revolutionären Akt tragen, sondern eine Avantgarde, eine kleine Gruppe, die über die Situation der Entfremdung hinausblicken kann und zu der auch einzelne aus anderen sozialen Gruppen stoßen können. Die Beschreibung dieser tragenden Gruppen bei Marx hat überraschende Ähnlichkeit mit der Beschreibung des „rettenden Restes" in der alttestamentlichen Prophetie. Während Marx in seinem ursprünglichen Verständnis der Dialektik geschichtliches Schicksal und revolutionäre Tat als Einheit sah und 204
dem entsprechend gleichzeitig die Situation wissenschaftlich analysierte und aus dieser Analyse politische Appelle von leidenschaftlichstem Ethos ableitete, wurden im späteren Marxismus Schicksal und T a t auseinandergerissen. Diese Tatsache zeigte sidi besonders bei gewissen Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie. Sie deuteten die Dialektik als einen berechenbaren Prozeß, der die Notwendigkeit mechanischer Prozesse innerhalb der Natur hat. Wissenschaftlicher Marxismus wurde verstanden als eine wissenschaftliche Methode sozialer Analysen. Und da diese Analysen die Unvermeidbarkeit des Sozialismus zeigten, erschien die ethisch-politische Seite, die bei Marx selbst so stark ist, als relativ unwichtig. Das dialektische Schicksal schien eine universale politische Strategie überflüssig zu machen. Man konnte zusehen und brauchte nur die Entscheidungen zu treffen, die von Tag zu Tag erforderlich waren, während der Aufruf zur T a t schwächer und schwächer wurde. Im Gegensatz zu dieser Haltung warf sich die kommunistische Gruppe ganz auf das Element der T a t und des politischen Aktivismus. Die dialektische Terminologie hatte mehr theoretische und traditionelle als praktische Bedeutung. Auch im heutigen Kommunismus wird die Dialektik mehr zur Analyse von Entwicklungen benutzt, die außerhalb des eigenen Tatbereiches liegen und bei denen eine Zuschauerhaltung wenigstens teilweise unvermeidlich ist. Sobald es sich aber um den eigenen Tatbereich handelt, ersetzt das Handeln die Analyse. Es gehört zur Tragik der marxistischen Gesamtbewegung, daß die ursprüngliche Einheit von Schicksal und T a t , die dem Geiste der Hegel-Marxschen Dialektik angemessen ist, zerrissen wurde und daß die beiden großen Gruppen, die sich in der Theorie an Marx orientierten, das eine der beiden Elemente dem anderen so sehr unterordneten, daß es um seine praktische Wirksamkeit gebracht wurde. Audi im Christentum liegt der Gedanke eines „geschichtlichen Augenblicks" vor. Es gibt eine „Fülle der Zeiten", in der das entscheidende Ereignis der Geschichte möglich wird, das vorher nicht möglich gewesen wäre. Es gibt eine „rechte Zeit", einen „Kairos", der einmalig ist und in dem sich die Wendung aus existentieller Verfallenheit in den Zustand der Erlöstheit vollzieht. Träger dieser Wendung ist im Alten Testament zuerst das erwählte Volk als ganzes, dann der „rettende Rest" und dann der Eine, der für den „rettenden Rest" steht, der Messias. An diesem Punkt nimmt das Neue Testament die alttestamentliche Entwicklung auf. In der ganzen Bibel ist die Einheit von geschichtlichem Schicksal und sittlicher T a t vorausgesetzt. Sehr scharf ist das ausgedrückt in der Predigt Johannes' des Täufers, die Jesus aufnimmt: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!"
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Das Kommen des Reiches Gottes ist geschichtliches Schicksal, aber es ist nicht ein Schicksal, dem man zusehen kann, sondern es ist ein Schicksal, das höchste Aktivität verlangt. Schicksal und Tat gehören zusammen. Auch im Christentum ist diese Einheit nicht immer verstanden worden. Kirchentheologen haben die gegebene Kirche mit dem Reidi Gottes identifiziert. Und liberale Theologen haben das Reich Gottes dem sittlichen Fortschritt des Menschengeschlechtes gleichgesetzt. Für die Geschidite des Christentums war und ist dieses Auseinanderreißen genauso verhängnisvoll wie die Trennung von dialektischem Schicksal und revolutionärer Tat im Marxismus für die politische Geschichte unserer Zeit. Wenn man eine biographische Erklärung dieser vielfachen Strukturähnlichkeiten zwischen marxistischer und christlicher Menschenauffassung geben will, so muß man wohl sagen, daß Marx in der prophetischen Tradition steht, ganz gleich, auf welchem Wege das geschehen ist. Es ist hier wie in allen großen Schöpfungen der Kultur: sie wachsen aus einer religiösen Substanz, die auch dann wirksam ist, wenn die kulturelle Form völlig selbständig geworden ist. Das Humanum kann in seinen letzten Wurzeln nur aus dem Divinum verstanden werden, in das es hinabreicht, auch dann, wenn es sich bewußt von seinem Grund losgerissen hat. VII Den Analogien zwischen marxistischer und christlicher Menschenauffassung stehen Unterschiede gegenüber, die alle auf einen fundamentalen Unterschied zurückgehen. Im Marxismus fehlt die vertikale Transzendenz, die jede Religion charakterisiert. Es handelt sich nidit um die Etablierung eines ideologischen Himmels, oder, wie Nietzsche es genannt hat, einer Hinterwelt jenseits der Welt. Sondern es handelt sich um die Ewigkeits-Dimension im Selbstverständnis des Menschen in seiner Welt. Das Fehlen dieser Dimension im Marxismus macht den Marxismus in all seinen Formen utopisch. Wenn ich vom Utopismus der marxistischen Bewegung spreche, so bedarf das einer Rechtfertigung. Denn Marx hat ja das, was er den utopischen Sozialismus nannte, bekämpft und besiegt. Aber was Marx utopisch nannte, ist etwas anderes als das, wovon wir reden. Utopisch ist für ihn der optimistische Glaube an den guten Willen der herrschenden Klassen, die Situation der sozialen Entfremdung zu überwinden. Solchen Glauben verwirft Marx im Einklang mit seiner existentiellen Analyse der menschlichen Natur. Marx' Ideologienlehre macht solchen ethischen Optimismus unmöglich. Und doch bleibt ein utopisches Element im Marxismus. Es 206
ist der Glaube, daß wir auf eine Periode der Geschichte zugehen, in der die Entfremdung überwunden und der Mensdi wieder in sein Wesen gekommen sein wird. Die „klassenlose Gesellschaft" ist das Symbol, das dem Glauben der christlichen Sekte an das tausendjährige Reidi entspricht. Wo aber ein solcher utopischer Glaube vorliegt, kommt es notwendig zu einer ins Religiöse reichenden Enttäuschung. Diese „metaphysische Enttäuschung" über die utopischen Elemente des Marxismus ist einer der verhängnisvollen Züge unserer Zeit. Die vielen, die einmal begeisterte Anhänger des Marxismus waren und an ihm in seinen verschiedenen Formen irre geworden sind, zeigen oft eine tiefe Bewußtseinsspaltung und einen Fanatismus im Kampf gegen den entthronten Götzen, der sich nur aus solcher metaphysischen Enttäuschung erklären läßt. Viele persönliche und politische Tragödien der Gegenwart sind durch den Bruch mit dem Marxismus auf Grund metaphysischer Enttäuschung verursacht worden. All das hängt mit dem Fehlen der vertikalen Dimension im Marxismus zusammen. Eine der Folgen davon war, daß die marxistische Bewegung sich selbst nicht mehr unter den Ideologieverdacht stellte, den sie allen anderen gegenüber jederzeit bereit hatte. Die revolutionären Gruppen vermieden es, sich selbst im Spiegel zu sehen, sie rechtfertigten sich selbst ideologisch, sie vergötzten ihre Klasse und ihr Werk, den kommunistischen Staat. Sie hatten keinen Punkt jenseits der horizontalen Entwicklung, von dem sie den Teil der Entwicklung, der sie selbst waren, unter ein Urteil hätten stellen können. Eine weitere Folge des Fehlens der vertikalen Dimension im Marxismus ist die Entwertung der Persönlichkeit gegenüber der objektiven dialektischen Bewegung. Obgleich Marx selbst das Ideal der klassischhumanistischen Persönlichkeit aufrechterhalten hat, war er doch nicht imstande, seinen Nachfolgern die entscheidende Bedeutung der Persönlichkeit zu vermitteln. Er stellte nicht die Frage - und die meisten seiner Nachfolger noch weniger - , wie es möglich ist, daß aus der Situation der Entfremdung Träger des Kampfes gegen die Entfremdung hervorgehen sollen. Das Auffinden und die Erziehung solcher Persönlichkeiten war für ihn kein Problem. Und so blieb es lange in der sozialistischen Bewegung. Erst der religiöse Sozialismus hat die Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt. Es hängt auch mit dem Fehlen der vertikalen Dimension zusammen, daß im Marxismus niemals eine systematische Entwicklung der Probleme des menschlichen Seins als solchem stattgefunden hat. Man unterschied nicht scharf zwischen der Entfremdungssituation, die in der bürgerlichen Situation einmalig vorliegt, und der Entfremdung, die zu 207
allen Zeiten sichtbar ist und die zur Existenz des Menschen selbst gehört. Man glaubte und glaubt heute noch, vor allem im Kommunismus, daß mit der Änderung der Gesellschaftsstruktur die Struktur der menschlichen Existenz selbst sich ändern wird. Die Wirklichkeit hat in erschreckender Weise gezeigt, daß das nicht nur nicht der Fall ist, sondern daß die zerstörerischen Elemente der menschlichen Entfremdung mit besonderer Gewalt dann hervorbrechen, wenn man sie nur in den anderen und nicht in sich selbst sieht. Auf christlichem Boden ist eine solche Entwicklung nur möglich, wenn die fundamentalen Prinzipien des Christentums aufgegeben sind. Der ständige Ideologieverdacht der Christen gegen sich selbst ist auf jeder Seite der Bibel, in jedem Stück der Liturgie, in jedem Kirchenlied und in jeder christlichen Predigt ausgedrückt. Ein Christ, der nicht imstande ist, sich selbst in dem Spiegel zu sehen, den er den anderen vorhält, ist eine Karikatur. Auch wenn das Christentum immer wieder von diesem fundamentalen Prinzip abgefallen ist und in seiner kirchlichen Verwirklichung Götzendienst getrieben hat, so sind doch jederzeit Persönlichkeiten und Bewegungen aufgetreten, die den prophetischen Kampf dagegen aufgenommen haben. Weil das Christentum die vertikale Dimension der menschlichen Existenz kennt, hat es die Möglichkeit, sich selbst unter das Gericht zu stellen und zu sehen, daß die Macht der Entfremdung auch die Botschaft von der Versöhnung verzerren kann. Darum ist das Christentum frei von der Gefahr, die Lehre von der Entfremdung auf eine spezielle historische Situation zu beschränken. Es sieht die Entfremdung als ein universales menschliches Schicksal an, das innerhalb der geschichtlichen Existenz zwar gebrochen, aber niemals aufgehoben werden kann. Und das Christentum weiß auch, daß der fragmentarische Sieg über die existentielle Entfremdung niemals durch historische Dialektik allein möglich ist, sondern von persönlichen Entscheidungen abhängig bleibt, die in der vertikalen Dimension menschlicher Existenz wurzeln. Daraus ergibt sich schließlich ein christlicher Humanismus, der in schroffstem Gegensatz steht zu den totalitären Formen der Entmenschlichung des Menschen, wie sie sich auf dem Boden des Stalinismus gegen die marxistischen Anfänge entwickelt haben. Diese Widersprüche zwischen dem vertikalen Denken des Christentums und dem horizontalen Denken des Marxismus müssen ebenso anerkannt werden wie die Analogien in der Menschenauffassung beider Bewegungen. Nur aus einer Würdigung beider Seiten kann ein Verständnis des spannungsreichen Verhältnisses von Christentum und Marxismus gewonnen werden. Der Sinn der Analysen, die ich gegeben habe, ist nicht der einer 208
interessanten historischen Untersuchung. Der Sinn und die Bedeutung eines solchen Versuches ist es vielmehr, die Tragödie des Marxismus, der westlichen Menschheit und der gesamten Menschheit zu verstehen. Wenn wir die Frage stellen, was der letzte Grund dieser menschheitlichen Tragödie ist, so finden wir, daß es Gegensätze und Irrtümer in der Auffassung des Menschen sind. Es gehört zum Wesen des Menschen, daß er immer wieder versuchen muß, sich selbst zu verstehen. Er ist diejenige Kreatur, die die Fähigkeit hat, nach sich selbst zu fragen. Alle Irrungen und Tragödien wurzeln darin, daß der Mensch sich und seine Situation verkennt. Diese Verkennung ist das Thema der griechischen Tragödie. Es ist das Thema der christlichen Lehre vom Menschen. Der Mensch versucht, die Angst seiner Endlidikeit zu überdecken. Aber er kann die Angst nur überwinden, wenn er sie nicht überdeckt, sondern auf sich nimmt. Dann kann er einen Mut gewinnen jenseits der Verzweiflung, den viele Existentialisten unserer Zeit ausdrücken, und jenseits der Utopie, die schließlich dem Marxismus zum Verhängnis geworden ist.
12. W I E H A T D I E W I S S E N S C H A F T I M L E T Z T E N J A H R H U N D E R T DAS S E L B S T V E R S T Ä N D N I S DES M E N S C H E N GEWANDELT? Als erstes möchte ich fragen, was unter den zentralen Begriffen des Themas zu verstehen ist. Zuerst das Wort Wissenschaft: Idi verwende es in dem Sinne, daß es jede Form von methodisdi-erkenntnismäßigem Ergreifen der Wirklichkeit umfaßt. Nicht nur alle Naturwissenschaft und Soziologie, sondern audi Elemente der Geschichtsschreibung und der Philosophie sind miteingeschlossen. Darüber hinaus entsteht die Frage, ob audi die praktische Anwendung der Wissenschaft in allen Bereichen menschlicher Kultur noch zur Wissenschaft zählen kann, also auch die durdi die Wissenschaft entwickelte Technik. Ich glaube, daß im Zusammenhang unserer Frage der Einfluß der von der Wissenschaft geschaffenen technischen Wirklichkeit nicht unbeachtet bleiben kann, sicherlich nidit bei der Jahrhundertfeier eines großen Instituts für Technologie. Eine dritte Frage bezieht sich auf den Ausdruck „Selbstverständnis des Menschen". Man muß fragen: welcher Menschen oder welches Menschen? Die Antwort darauf lautet: der wenigen Menschen, die in ihrem Selbstverständnis von den Wissenschaften direkt, und weiter: der vielen Menschen, die durch die technische Anwendung der Wissenschaften indirekt beeinflußt sind. Wenn wir das Thema so weit 209
fassen, dann ist unmittelbar deutlich, daß es sich um Mensdien in allen sozialen Klassen und heute auch in allen Kulturen und Nationen handelt, sowohl der kultiviertesten, zum Beispiel in Asien, als auch der primitivsten, zum Beispiel in Afrika. Oberall hat die Realität der technischen Welt das Verständnis, das der Mensch von sich selber hatte, ins Wanken gebracht oder bereits fundamental verändert. Aber es muß audi eine Einschränkung gemacht werden: Es gehören keineswegs alle Menschen zu dem in unserem Thema genannten Menschen, nicht einmal die Mehrzahl der Mensdien. Schließlich muß ich Bezug nehmen auf die einschränkenden Worte im Titel „im letzten Jahrhundert', die sidi auf den Anlaß unserer Versammlung beziehen. Aber das Jahr 1961 und selbst einige Jahrzehnte vorher oder nachher haben nur eine begrenzte Bedeutung innerhalb der gesamten Wirkung der Wissenschaft auf das Selbstverständnis des Mensdien in der Geschichte der westlichen Kultur gehabt. Dennoch beabsichtige ich, einige der wichtigsten Beiträge der Wissenschaft aus den letzten hundert Jahren zu nennen, wenn auch innerhalb eines umfassenden Rahmens. Und weiter: Was bedeutet das Wort „Selbstverständnis des Menschen"? Es ist die Antwort auf die Frage nach dem telos, dem inneren Ziel jedes Lebensprozesses. Ich werde das griechische Wort telos gebrauchen und meine damit die innere Geriditetheit alles menschlichen Seins. Es ist nicht Willkür, daß ich dieses in der klassischen und vor allem spätantiken Welt wichtige Wort hier einführe, um unsere eigene Situation verständlich zu machen. Ich tue es, um die Mißverständnisse zu vermeiden, die mit den deutschen Worten „Ziel" und „Zweck" unausweichlich verbunden wären. Zweck hat den Beiklang von einem Ziel, das über den Lebensprozeß hinausgeht, das nicht unmittelbar im Lebensprozeß selbst enthalten ist. Telos jedoch ist das mit dem Sein selbst gegebene innere Ziel, das vielleicht am klarsten in der Aristotelischen Neubildung entelechia zum Ausdruck kommt. Telos ist das, was jedem einzelnen Ding die Geriditetheit seines Seins und seines Lebensprozesses gibt, das, wohin die gegebene Natur eines Dinges führt oder zum mindesten treibt. Jeder Baum zum Beispiel wird, angefangen vom Stadium des Samens und weiter während seines ganzen Lebensprozesses zu jener inneren Seinsmächtigkeit geleitet, die der verwirklichte Baum in sich trägt, eine Mächtigkeit, die uns beeindruckt, wenn immer wir einen Baum als Baum anblicken. Was aber ist in analoger Weise das telos des Menschen? Mit dieser Frage soll sich unsere heutige Betrachtung beschäftigen. Es ist die Frage, um die sidi in der westlichen Welt Philosophie und Theologie von Anbeginn an bemüht haben. Drei grundlegend verschiedene Antworten 210
sind darauf'gegeben worden. Alle drei sind heute nodi wirksam, aber nur die dritte stammt aus der modernen Zeit, das heißt aus den letzten 500 Jahren innerhalb der Geschichte des Westens. Es ist die Zeit, in der im Westen Wissenschaft und Technik vorherrschend wurden. Die erste Definition des Begriffs telos ist die klassisch-griechische: das innere Ziel des Menschen ist die Aktualisierung seiner Potentialitäten, die Verwirklichung des ihm wesenhaft Möglichen. Um das zu erreichen, muß er jene Entstellungen seiner Natur überwinden, die Folgen von Irrtum und Leidenschaften sind. Diese Definition des telos des Menschen war lebendig seit Heraklit und Sokrates, sie blieb wirksam bis zu den Stoikern und Epikuräern. Sie ist auch heute noch lebendig, von neuem belegt durch die Renaissance und durch die klassische deutsche Philosophie und Dichtung, und sie ist noch wirksam in Menschen, die im klassischen Sinne des Wortes als Humanisten bezeichnet werden können. Der Sinn dieses 7£/