Gesammelte Schriften: Grundfragen revisionsgerichtlicher Rechtsprechung und Beiträge zum Gesellschaftsrecht [Reprint 2019 ed.] 9783110869828, 9783110099614


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German Pages 358 [360] Year 1985

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Vorwort der Herausgeber
Inhalt
Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre, 1960
2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe
3. Zur Methode revisionsrichterlicher Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, 1969
4. Das Entscheidungsmaterial in seiner Bedeutung für die höchstrichterliche Rechtsprechung
5. Höchstrichterliche Rechtsprechung heute - am Beispiel des Bundesgerichtshofes-, 1978
6. Das obiter dictum - aus revisionsrichterlicher Sicht, 1981
Beiträge zum Gesellschaftsrecht
7. Die Grenzen bei der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte
8. Die Personalhandelsgesellschaft im Prozeß
9. Die personalistische GmbH als rechtspolitisches Problem
10. Die Stellung des vermeintlichen Erben in der OHG
11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht, auch unter Berücksichtigung der Handelsgesellschaften
12. Gedanken über einen Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften
13. Der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§22 GWB) in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
14. Zur Anwendung von § 181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts
15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften? Eine Besprechung des Buches „Die Personengesellschaft" von Werner Flume, 1979
16. Die GmbH in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
17. Das Entsendungs- und Weisungsrecht öffentlich-rechtlicher Körperschaften beim Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft
18. Die Verantwortung des Aufsichtsrats bei Interessenkollisionen
Anhang
Rede zur Übergabe der Festschrift an Robert Fischer
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Gesammelte Schriften: Grundfragen revisionsgerichtlicher Rechtsprechung und Beiträge zum Gesellschaftsrecht [Reprint 2019 ed.]
 9783110869828, 9783110099614

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Robert Fischer Gesammelte Schriften

Robert Fischer GESAMMELTE SCHRIFTEN Grundfragen revisionsgerichtlicher Rechtsprechung und Beiträge zum Gesellschaftsrecnt

Herausgegeben von

Marcus Lutter Walter Stimpel Detlev Fischer

w DE

G_

1985

Walter de Gruyter • Berlin • N e w York

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Fischer, Robert: Gesammelte Schriften : Grundfragen revisionsgerichtl. Rechtsprechung u. Beitr. zum Gesellschaftsrecht / Robert Fischer. Hrsg. von Marcus Lutter . . . - Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. ISBN 3-11-009961-6 N E : Fischer, Robert: [Sammlung]

© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61

Vorwort der Herausgeber Der Präsident des Bundesgerichtshofes braucht nicht notwendig sein erster Richter zu sein. Mit Robert Fischer, der von 1950 bis 1977 dem Bundesgerichtshof angehörte und am 4. März 1983 in Karlsruhe verstorben ist, hat jedoch ganz gewiß eine Richterpersönlichkeit höchsten Formats das Präsidentenamt verwaltet. Sein richterlicher Rang spiegelt sich in einem umfangreichen wissenschaftlichen Werk wider; es läßt erkennen, welche Impulse er nicht nur den von ihm geführten Senaten, sondern auch dem Gerichtshof als Ganzem zu geben vermocht hat. Vielfältig hat sich Robert Fischer in seinen Aufsätzen, Urteilsbesprechungen, Kommentaren und Vorträgen von den aktuellen Rechtsproblemen seiner Zeit „freigeschrieben" und die leitenden Entscheidungssätze seiner Senate über die Einzelfälle hinaus weitergedacht. Seine Gedanken haben aber auch immer wieder um die zentrale Frage gekreist, wie das Revisionsgericht in einer Zeit, in der der Gesetzgeber die verfassungsmäßige Führungsaufgabe nur noch schwer und unvollkommen bewältigen kann, die Lücken schließen und das Recht den sich wandelnden Lebensverhältnissen aus eigener Kraft und Zuständigkeit anpassen darf und kann. Diese Überlegungen sind der Zeit seines Lebens nicht verhaftet. Sie gelten auch für die Zukunft und schienen uns daher wert, zusammengefaßt in einer Sammlung festgehalten zu werden. Soweit wir Arbeiten über engere Rechtsprobleme hinzugefügt haben, kam es uns darauf an, beispielhaft die praktische Nutzanwendung der übergreifenden Überlegungen Robert Fischers und seine ihm eigentümliche juristische Denkweise aufzuzeigen. Die Herausgeber danken allen Verlagen, die bereitwillig der Übernahme der bei ihnen erschienenen Arbeiten Robert Fischers zugestimmt haben. Besonders danken wir dem Verlag Walter de Gruyter, der den Band hergestellt und ihm eine würdige Ausstattung gegeben hat. Möge die Sammlung auch dazu dienen, die Erinnerung an einen großen Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Richter und Wissenschaftler zu bewahren. Karlsruhe und Bonn, im Juni 1984 Marcus Lutter

Walter Stimpel

Detlev Fischer

Inhalt Vorwort der Herausgeber

V

Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung 1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre, 1960

3

2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe, 1968

11

3. Zur Methode revisionsrichterlicher Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, 1969

23

4. Das Entscheidungsmaterial in seiner Bedeutung für die höchstrichterliche Rechtsprechung, 1976

37

5. Höchstrichterliche Rechtsprechung heute - am Beispiel des Bundesgerichtshofes-, 1978

51

6. Das obiter dictum - aus revisionsrichterlicher Sicht, 1981

79

Beiträge zum Gesellschaftsrecht 7. Die Grenzen bei der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte, 1954 109 8. Die Personenhandelsgesellschaft im Prozeß, 1958

121

9. Die personalistische G m b H als rechtspolitisches Problem, 1959

139

10. Die Stellung des vermeintlichen Erben in der offenen Handelsgesellschaft, 1965 157 11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht, auch unter Berücksichtigung der Handelsgesellschaften, 1973 173 12. Gedanken über einen Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften, 1974 193 13. Der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§22 GWB) in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1978 209 14. Zur Anwendung von §181 B G B im Bereich des Gesellschaftsrechts, 1978 225 15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften? Eine Besprechung des Buches „Die Personengesellschaft" von Werner Flume, 1979 247 16. Die G m b H in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1980

269

VIII

Inhalt

17. D a s Entsendungs- und Weisungsrecht öffentlich-rechtlicher K ö r p e r schaften beim Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft, 1982 301 18. D i e Verantwortung des Aufsichtsrats bei Interessenkollisionen, 1982. . . 323

Anhang MARCUS LUTTER, R e d e anläßlich Robert Fischer am 22. J u n i 1979

der

Übergabe

der

Festschrift

für 343

Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre*

Die besonderen Aufgaben, die dem Bundesgerichtshof als dem obersten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit obliegen, sind naturgemäß für seine Rechtsprechung von wesentlicher Bedeutung. Diese besonderen Aufgaben bestehen darin, die Einheit des Rechts zu wahren und einer gesunden Fortbildung des Rechts zu dienen. Diese Aufgaben erfordern verschiedenes. Zunächst muß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einen bestimmten konservativen Grundzug aufweisen und sich davor hüten, durch einfallsreiche Originalität zu glänzen und damit notwendigerweise Rechtsunsicherheit und Rechtsverwirrung hervorzurufen. Das gilt in einer Zeit wie der unsrigen in einem besonderen Maß, da heute alle Erscheinungen unseres gesellschaftlichen, sozialen und rechtlichen Zusammenlebens eine bemerkenswerte Typisierung aufweisen, da die arbeitsteilige Wirtschaft unserer Zeit sich immer mehr von dem individuell ausgehandelten Vertrag abwendet und aus Gründen der Rationalisierung, aus Gründen einer gesicherten Kalkulation und einer durchgreifenden organisatorischen Beaufsichtigung des Personals die Leistungen des Massenverkehrs nach allgemeinen Richtlinien und allgemeinen Gesichtspunkten abwickelt'. Bei dieser Gestaltung der Dinge kommt dem Gedanken der Rechtssicherheit eine besondere Bedeutung zu. Aber auch dort, wo die individuelle Vertragsgestaltung noch heute im Vordergrund steht, wie etwa im Gesellschaftsrecht, im Grundstücksrecht oder im Testamentsrecht ist ein bestimmter konservativer Grundzug der höchstrichterlichen Rechtsprechung ungemein wichtig. Denn die notarielle Vertragspraxis, die sich mit der Gestaltung und Ordnung von Rechtsbeziehungen für längere Zeit oder für einen späteren Zeitpunkt befaßt, ist darauf angewiesen, mit gefestigten Rechtsauffassungen zu arbeiten. Dieser notwendige konservative Grundzug der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfordert bei der Rechtsfindung Behutsamkeit und Zurückhaltung. Das kann nur dadurch geschehen, daß sich das Urteil im Einzelfall sorgsam auf den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt beschränkt und davon absieht, durch rechtstheoretische Ausführungen über den so gesteckten Rahmen hinauszugreifen. Die Aufgabe des * Aus: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre. Vortrag, gehalten auf der Feier anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 15. Oktober 1960. - C . F . Müller, Karlsruhe, 1960, 35 S. - Von der Wiedergabe der Ausführungen S. 5-9, 18-35 wurde abgesehen. 1 Vgl. dazu Rob. Fischer BB 1957, 481.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Revisionsgerichts besteht darin, an Hand des jeweiligen Einzelfalles im stetigen Fortgang seine Rechtsauffassung zu entwickeln und dabei das besondere Augenmerk auf die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Rechtswirklichkeit zu richten, um so der Rechtswirklichkeit bei der rechtlichen Beurteilung gerecht zu werden. Diese Zurückhaltung zu wahren, ist oft nicht einfach, aber dringend erforderlich. Das gilt namentlich gegenüber solchen Rechtstheorien, deren Tragweite bei der Entscheidung eines Einzelfalles noch gar nicht zu übersehen ist oder die - etwa auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts oder des Strafrechts allgemeine und seit langem bewährte Rechtsgrundsätze beiseite zu schieben suchen. Die Zurückhaltung, die das Reichsgericht z . B . gegenüber den zahlreichen - klugen, aber zum Teil auch reichlich überspitzten zivilprozessualen Theorien stets eingehalten hat, ist kein Zufall, sondern beruht auf der Erkenntnis der eigenen Aufgabe. Der Revisionsrichter ist kein Wissenschaftler, ihm obliegt die Beobachtung und Beurteilung der Rechtswirklichkeit an Hand der einzelnen zur Entscheidung gestellten Tatbestände, er trägt die Verantwortung für die Stetigkeit der Rechtsprechung und hat dabei zugleich einer gesunden Fortbildung des Rechts zu dienen. N u r durch eine behutsame Zurückhaltung ist es möglich, sicherzustellen, daß diese beiden Aufgaben nicht zu einem Widerspruch werden. D a das Revisionsgericht sein Augenmerk stets der Rechtswirklichkeit zuwenden muß, muß diese sich in der Rechtsanwendung widerspiegeln und damit auch in den jeweiligen Änderungen, denen die Rechtswirklichkeit ihrerseits selbst unterliegt. Bei einer solchen Handhabung der Rechtsanwendung werden die Stetigkeit der Rechtsprechung und die Fortbildung des Rechts keinen Widerspruch darstellen. Von hier aus wird auch der grundlegende Unterschied ersichtlich, der zwischen den Aufgaben des Revisionsgerichts und den Aufgaben der Instanzgerichte besteht. Die Aufgabe der Instanzgerichte ist es in erster Linie, eine gerechte Entscheidung des Einzelfalles herbeizuführen, durch eine sachgerechte Aufklärung den tatsächlichen und sodann auch den rechtlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalles gerecht zu werden. Das Instanzgericht steht in einer größeren Nähe zu dem jeweiligen Einzelfall, zu den Parteien und auch zu den Zeugen des Rechtsstreits. Dadurch wird das Urteil der Instanzgerichte in sehr viel stärkerem Maße von der individuell-persönlich-menschlichen Gestaltung des Einzelfalles beeinflußt. Die Aufgaben des Revisionsgerichts hingegen weisen über die Entscheidung des Einzelfalls hinaus und erschöpfen sich keineswegs in der Entscheidung des einzelnen Rechtsstreits. Der einzelne Rechtsstreit ist hier der Anknüpfungspunkt für die Aufgabe, ganz allgemein Rechtsfragen zu klären und damit auf die rechtlichen Verhältnisse unserer Gegenwart einen ordnenden und gestaltenden Einfluß zu nehmen. Das Revisionsgericht muß daher stets die

1. Die Rechtsprechung des B G H - die ersten zehn Jahre

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rechtliche Auswirkung seiner Rechtsauffassung auf alle gleichgelagerten Tatbestände im Auge haben, sich fragen, ob die für einen Einzelfall einmal vertretbare Beurteilung auch generell vertretbar ist und ob sie auch dann noch eine sachgerechte und sinnvolle Lösung darstellt. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. In einem Rechtsstreit zwischen einem Versicherungsnehmer und einem Versicherer wird ein Instanzgericht in einem echten Zweifelsfall geneigt sein, sich eher den Rechtsstandpunkt des Versicherungsnehmers als den des Versicherers zu eigen zu machen, namentlich dann, wenn der Versicherungsfall eine Notlage des Versicherungsnehmers herbeigeführt hat. Das Revisionsgericht dagegen muß bei seiner Entscheidung auch die Frage ins Auge fassen, welche Auswirkungen der Rechtsstandpunkt des klagenden Versicherungsnehmers auf die Masse aller Versicherungsnehmer dieses Versicherungszweiges hat, und sich fragen, ob damit nicht in unerwünschter Weise das versicherte Risiko in dieser Versicherung ausgeweitet wird, mit der Folge, daß die Versicherungsprämie erhöht werden muß, obwohl die Masse der Versicherungsnehmer an der Deckung dieses weiteren Risikos kein sinnvolles Interesse hat 2 . Das Revisionsgericht ist im Unterschied zu den Instanzgerichten zu einer solchen generellen Beurteilung auch sehr viel mehr in der Lage, weil dem einzelnen Fachsenat auf seinem Sachgebiet ein sehr viel größeres Erfahrungsmaterial zur Verfügung steht. Das gilt namentlich für die Rechtsgebiete, die im Laufe der Zeit eine besondere Formung und Gestaltung durch die Rechtsprechung erfahren haben, wie z. B. das Urheberrecht oder das Gesellschaftsrecht. Immer nötigt die Erfüllung dieser Aufgabe zu einer aufmerksamen Beobachtung und Beurteilung der Rechtstatsachen. So wird z. B. die Beobachtung, daß bei der Gestaltung allgemeiner Geschäftsbedingungen in zunehmendem Maß sich ein Mißbrauch wirtschaftlicher Macht bemerkbar macht, ein entsprechendes Eingreifen des Revisionsgerichts erfordern, um einen gerechten Interessenausgleich für die Zukunft sicherzustellen. Die von der Kautelarjurisprudenz benutzten Rechtsformen dürfen dabei den wirklichkeitsnahen Blick des Revisionsrichters nicht trüben, sofern diese Rechtsfiguren nur Mittel zur Erreichung eines rechtlich nicht vertretbaren Zwecks sind3. Eine besondere Aufgabe des Revisionsgerichts ist es, dem Zwiespalt zwischen der Rechtssicherheit und der notwendigen Berücksichtigung von Treu und Glauben Rechnung zu tragen. Die Rechtssicherheit ist ein Rechtsgut, dessen Bedeutung für den allgemeinen Rechtsfrieden ohne weiteres klar zutage tritt. Sie muß daher in der Rechtsprechung des Revisionsgericht eine besondere Beachtung finden. Die Rechtseinheit ist zu einem guten Teil auch Rechtssicherheit. Das Recht darf durch die 2 Vgl. dazu auch B G H LM Nr. 4 z. Allg. Bed. d. Elektr.Vers.Untern.; andererseits aber auch B G H Z 22, 98. 3 Vgl. dazu etwa B G H Z 22, 90.

Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

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Rechtsprechung des Revisionsgerichts nicht aufgeweicht und aufgelöst werden, der Zusammenhang des Rechts muß gewahrt und bewahrt werden. Das darf aber andererseits nicht bedeuten, daß die Rechtsanwendung sich im Rahmen einer wertfreien Jurisprudenz zu vollziehen hat. Die Rechtsanwendung ist nicht Mathematik, sondern wirklichkeitsbezogene Bewertung tatsächlicher Verhältnisse nach rechtlichen Gesichtspunkten. Für eine solche Bewertung spielt das Judiz, das gesunde Urteil, der gesunde Menschenverstand eine besondere Rolle, die für den Revisionsrichter ebenso wichtig wie für den Instanzrichter ist. Offenbar unrichtige Ergebnisse, die mit dem gesunden Menschenverstand oder mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl nicht zu vereinbaren sind, muß das Revisionsgericht vermeiden, aber es muß zugleich den Gründen nachspüren, warum die Anwendung der bisher anerkannten Rechtsgrundsätze oder Rechtsregeln in einem Einzelfall zu einem offenbar unrichtigen oder unbilligen Ergebnis zu führen scheint. Der Hinweis auf Treu und Glauben allein genügt nicht. Bei einer solchen Prüfung werden sich - jedenfalls im Laufe der Zeit an Hand des sich häufenden Rechtsprechungsmaterials - allgemeine Grundsätze entwikkeln lassen, deren die Rechtsprechung des Revisionsgerichts im Interesse der Rechtssicherheit nicht entraten kann. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 2 4 2 B G B gibt hierfür ein eindrucksvolles und vorbildliches Beispiel, vor allem, wenn man diese Rechtsprechung heute in der systematischen Darstellung bei Siebert oder bei Wieacker betrachtet. Auch die vom Bundesgerichtshof im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsgerichts entwickelten Grundsätze zur gesellschaftlichen Treuepflicht oder zur faktischen Gesellschaft zeigen das. Auch hier hat die rechtliche Beurteilung an Hand einer wirklichkeitsbezogenen Bewertung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben nicht zur Aufweichung und Auflösung des Rechts, sondern zur Ausbildung neuer Rechtsgrundsätze geführt, die der Rechtssicherheit vollauf Rechnung tragen. Für die Beurteilung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es schließlich von wesentlicher Bedeutung zu wissen, welche Aufgaben der Rechtsprechung heute im allgemeinen obliegen. Die Rechtstheorie ist in der letzten Zeit gerade dieser Frage wiederholt nachgegangen und hat dabei den entscheidenden Wandel während der letzten 100 Jahre dargelegt. Es ist der Weg vom wissenschaftlichen Positivismus der Pandektenzeit über den Gesetzespositivismus am Ausgang des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts zur Richterrechtsbildung der heutigen Zeit. „Das nomokratische Ideal der Gesetzesexekution" 4 ist heute längst verblaßt, die Gesetzesanwendung ist nicht mehr allein Vollzug des Gesetzes, 4

Schröder, Gesetz und Richter im Strafrecht 1953 S. 14.

1. Die Rechtsprechung des B G H - die ersten zehn Jahre

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sondern zugleich eigene Entscheidung, „Wertverwirklichung", „die Wahl zwischen mehreren möglichen Bewertungen - an welchen Prinzipien auch immer diese Wahl sich orientiert" 5 . Dieser Wandel in den Aufgaben der Rechtsprechung ist dadurch herbeigeführt worden, daß die Gesetzgebung in zunehmendem Maß die Entscheidung von Bewertungsfragen beim Ausgleich sozialer und anderer Konflikte dem Richter durch Einführung von Generalklauseln übertragen hat. Bei dieser Sachlage ist Urteilen nicht mehr bloße Normanwendung, sondern immer neue Entscheidung zum Rechten 6 ; „der Richter ist (damit) zum Mittler eines sozialen Ausgleichs geworden" 7 . Es scheint mir völlig richtig, wenn Baur an diesen Strukturwandel in den Aufgaben der Rechtsprechung die Mahnung knüpft: „Der Richter muß sich bewußt werden, daß er wesentliches Element eines Versuchs ist, Spannungen, die in einem unausgeglichenen und zerrissenen Volkskörper mit besonderer Heftigkeit auftreten, zu mildern, Gegensätze auszugleichen und damit einem Bereich gesellschaftlichen Lebens ein Höchstmaß von innerer Stabilität zu geben 8 ." Es ist selbstverständlich, daß diese Aufgaben der Rechtsprechung sich in der Judikatur des Bundesgerichtshofs widerspiegeln. Das zeigt sich in erster Linie in der Stellungnahme des Bundesgerichtshofs zu Fragen der Gesetzesauslegung. Hier ist der Standpunkt aus der Zeit des Gesetzespositivismus völlig verlassen. Schon in einer Entscheidung aus dem Jahre 1951' findet sich die Aufnahme des bereits vom Reichsgericht aufgestellten Programmsatzes: „Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Zweck und Sinn. Diesen im Einzelfall der Rechtsanwendung nutzbar zu machen und danach unter Berücksichtigung von Treu und Glauben den Streitfall einer vernünftigen und billigen Lösung zuzuführen, ist die Aufgabe des Richters 10 ." In der Entscheidung eines anderen Senats aus demselben Jahre heißt es im gleichen Sinn: „Die richtige, d.h. dem Recht gemäße Anwendung des positiven Rechts, gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinn seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert 11 ". Etwas später heißt es in einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1953: „Das Recht hat dem Leben zu dienen und muß die entsprechenden Formen zur Verfügung stellen. Ein pflichtbewußter 5

Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des §242 BGB 1956 S. 14/15. Vgl. dazu Wieacker, Gesetz und Richterkunst 1958 S. 11. 7 Baur J Z 1957, 193. 8 A . a . O . S. 197. ' B G H Z 2, 184. 10 R G Z 142, 40/41. " B G H Z 3, 315. 6

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Richter kann sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen 12 ." Diese grundsätzliche Auffassung hat sodann auch in einem Beschluß des Großen Senats für Zivilsachen ihren Ausdruck gefunden. Es heißt dort: „Umfaßt die Verbotsvorschrift... Fallgestaltungen, die ersichtlich nicht bedacht sind und vernünftigerweise nicht so geregelt werden können, wie es der Wortlaut nahelegt, wirkt sich vielmehr die Verbotsvorschrift bei wortgetreuer Befolgung gerade zu Lasten desjenigen aus, den sie schützen will, so darf dem Richter eine Einschränkung nicht verwehrt sein, wenn er dabei dem Erfordernis der Rechtssicherheit Rechnung trägt und durch die Einschränkung eine Rechtsfolge herbeiführt, die mit den Wertungen und Interessenabwägungen des geltenden Rechts in Einklang steht 13 ." Angesichts der Aufgaben, die der Rechtsprechung heute obliegen, ist es die entscheidende Frage, nach welchen Prinzipien sich die Richterrechtsbildung auszurichten hat, welche Grundsätze für die Wertverwirklichung maßgeblich sind, die jedes richterliche Urteil darstellt. Zu dieser Frage haben sich in der Rechtstheorie neuerdings namentlich Wieacker und Esser geäußert und die Meinung vertreten, daß hierfür nicht sittliche Grundsatzwertungen wie die Menschenwürde und die freiheitliche Grundordnung, sondern die „Summe der praktischen Regeln guter richterlicher Urteilskunst 1 4 ", die anerkannten Regeln richterlicher Billigkeit, bewährte Rechtslehre und anerkannter Gerichtsgebrauch 15 maßgeblich sein müßten. Ich persönlich halte diese Meinung für unbefriedigend und bin überzeugt, daß die Summe der praktischen Regeln guter richterlicher Urteilskunst kein ausreichender Bewertungsmaßstab für die Richterrechtsbildung der heutigen Zeit darstellt. Wenn Wieacker sagt: „Der unmittelbarste Orientierungsfaktor ist für angewandte Richterkunst die Judikatur selbst: sie ist nichts anderes als die eigene Selbsterfahrung des Richterstandes 16 ", dann wird deutlich, daß damit dem Richter überhaupt kein Bewertungsmaßstab an die Hand gegeben wird und daß sich die Richterrechtsbildung, die als Wertverwirklichung eine Ordnungsfunktion hat, rein formal ohne eine materiale Wertvorstellung und Wertordnung vollziehen müßte. Der Bundesgerichtshof steht in entscheidenden Urteilen auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt. Nach der heutigen Verfassungslage ist der Gesetzgeber an die Wertvorstellungen des Grundgesetzes, an die obersten Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gebunden. Diese Bindung muß sich auch bei der Rechtsanwendung 12 13

14 15 16

B G H Z 9, 164. B G H Z 13, 367. Wieacker, Gesetz und Richterkunst 1958 S. 12. Vgl. auch a . a . O . S. 14. A . a . O . S. 15.

1. Die Rechtsprechung des BGH - die ersten zehn Jahre

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durch die Gerichte bewähren und aktualisieren. Auch die Rechtsprechung muß sich an den entscheidenden Grundvorstellungen unseres freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates ausrichten und die Gerichte müssen den alleinigen Maßstab für die Wertverwirklichung ihres Urteilens in der sittlichen Idee des Menschen finden, dessen Würde unantastbar ist und der nicht zum bloßen Objekt eines Machtwillens - welcher Art auch immer - depraviert werden darf 17 . Hier liegt die Wertvorstellung und Wertordnung, die für die Richterrechtsbildung allein maßgeblich und verbindlich ist, an sie ist die Rechtsanwendung in den entscheidenden Grundsatzfragen unseres Rechts gebunden.

17 Vgl. dazu auch Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit 1951 S. 196; Eb. Schmidt, Gesetz und Richter, Wert und Unwert des Positivismus 1952 S. 19; Scheuner, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1 8 6 0 - 1 9 6 0 II. Band S.259.

2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe* Mit dem Rechtsmittel der Revision hat es seine besondere Bewandtnis. Einerseits findet es allgemeine Anerkennung und Billigung; man meint, es sei in seiner Grundkonzeption besonders geeignet, der Stellung und der Aufgabe des Bundesgerichtshofs gerecht zu werden, ja es wird als ein Rechtsmittel bezeichnet, das auf das großartigste geeignet sei, dem Revisionsgericht die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen 1 . Andererseits weist die gesetzliche Ausgestaltung dieses Rechtsmittels Unklarheiten darüber aus, in welcher Weise die Abgrenzung zwischen revisionsrichterlicher und tatrichterlicher Tätigkeit vorzunehmen ist2. Diese Abgrenzung ist, wie schon die Erfahrung mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts lehrt, für die Stellung des Revisionsgerichts von grundlegender Bedeutung. Greift das Revisionsgericht auf diesem Grenzgebiet zu weit in den Bereich tatrichterlicher Beurteilung über, so verfängt es sich allzu leicht in eine unübersehbare Einzelfallrechtsprechung und verliert durch seine eigene Sachferne von der individuellen Besonderheit des Einzelfalls an innerer Überzeugungskraft. Zieht sich hingegen das Revisionsgericht auf diesem Grenzgebiet zu stark auf eine rein abstrakte Normenkontrolle zurück, dann nimmt das seiner Rechtsprechung die Lebensnähe und die beispielhafte Ausstrahlungskraft auf die Rechtsprechung der Instanzgerichte und setzt es außer Stand, insoweit die Rechtseinheit bei der Anwendung des Rechts durch die Gerichte zu wahren. Daher ist eine sinnvolle und sachgerechte Abgrenzung der revisionsrichterlichen Tätigkeit von der tatrichterlichen Tätigkeit für die Stellung des Bundesgerichtshofs als Revisionsgericht von einer wesentlichen Bedeutung. Nach der gesetzlichen Regelung hat das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nur daraufhin zu überprüfen, ob das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Das hat nach der Vorstellung des Gesetzgebers seinen Grund darin, daß das Revisionsgericht durch seine Rechtsprechung namentlich die einheitliche Rechtsanwendung seitens der Gerichte gewährleisten soll. Dabei dient aber das Revisionsgericht zugleich auch den Interessen der am jeweiligen Rechtsstreit beteiligten Personen, weil es jeden betroffenen Menschen unmittelbar berührt, Aus: Ansprachen zur Verabschiedung des Präsidenten des Bundesgerichtshofes Dr. Dr. h. c. Bruno Heusinger und zur Amtseinführung des Präsidenten des Bundesgerichtshofes Dr. Robert Fischer am 30. März 1968. - C. F. Müller, Karlsruhe, 1968, 47-64. - Von der Wiedergabe der Begrüßungs- und Schlußworte S. 47—49, S. 64 wurde abgesehen. 1 Möbring NJW 1962, 2. 2 In diesem Sinn kritisch gegenüber der gegenwärtigen Regelung des Revisionsrechts Baur ZZP 71, 171: diese Regelung mache das Revisionsgericht unsicher und die Rechtsprechung zwiespältig.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

w e n n er b e i d e r R e c h t s a n w e n d u n g d u r c h d i e G e r i c h t e n i c h t e b e n s o w i e ein a n d e r e r b e h a n d e l t w i r d 3 . D i e Schwierigkeiten f ü r eine sachgerechte A b g r e n z u n g der revisionsr i c h t e r l i c h e n T ä t i g k e i t e r g e b e n s i c h n a m e n t l i c h in d e m w e i t e n A n w e n d u n g s b e r e i c h d e r s o g . u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f e u n d bei d e r F r a g e der A u s l e g u n g v o n E r k l ä r u n g e n u n d G e d a n k e n ä u ß e r u n g e n . D i e vielfachen

Bemühungen

im

rechtswissenschaftlichen

Schrifttum

um

eine

A b g r e n z u n g auf d i e s e m G e b i e t 4 h a b e n m . E . e r g e b e n , daß eine logisch klar erfaßbare, gedanklich mit Sicherheit vollziehbare A b g r e n z u n g nicht m ö g l i c h ist, d a ß hier v i e l m e h r lediglich eine w e r t e n d e , u n d z w a r letzten E n d e s n u r eine v o n Fall z u Fall w e r t e n d e B e u r t e i l u n g d e s R e v i s i o n s g e richts selbst die n o t w e n d i g e A b g r e n z u n g über den Z u s t i m m u n g s b e r e i c h d e s R e v i s i o n s g e r i c h t s h e r b e i f ü h r e n k a n n . D a b e i ist h i n z u z u f ü g e n , d a ß insoweit i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum nicht einmal Einigkeit d a r ü b e r besteht, nach w e l c h e m M a ß s t a b dabei das Revisionsgericht die B e w e r t u n g v o r z u n e h m e n h a t 5 . D a s ist k e i n s e h r b e f r i e d i g e n d e s E r g e b n i s f ü r d e n B u n d e s g e r i c h t s h o f , z u m a l es s i c h d a b e i u m e i n e F r a g e h a n d e l t , die für die G ü t e u n d die U b e r z e u g u n g s k r a f t der revisionsrichterlichen R e c h t s p r e c h u n g v o n h o h e r B e d e u t u n g ist. 3 Von jeher hat man sich im Schrifttum darüber gestritten, worin in erster Linie die Aufgabe des Revisionsgerichts besteht, in der Wahrung der Rechtseinheit im Interesse der Allgemeinheit oder in der Gewährleistung einer fallgerechten Entscheidung im Interesse der am Prozeß beteiligten Parteien (vgl. dazu Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960 S. 26 ff mit Nachweisen aus früherer Zeit). In neuerer Zeit hat dieser Streit im Zusammenhang mit einer Reform des Revisionsrechts und der notwendig gewordenen Entlastung des Bundesgerichtshofs besondere Bedeutung gewonnen (vgl. dazu die Verhandlungen auf dem 44. Deutschen Juristentag in Hannover). Die Anhänger der sog. Streitwertrevision stützen ihre These darauf, daß das Revisionsgericht wie jedes Gericht in erster Linie den Interessen der am Prozeß beteiligten Parteien an einer gerechten Entscheidung zu dienen habe, während die Anhänger der sog. Zulassungsrevision ihre These damit begründen, daß das Revisionsgericht vornehmlich die Wahrung der Rechtseinheit zu gewährleisten habe. Ich habe den Eindruck, daß der Streit über die Aufgabe des Revisionsgerichts im Zusammenhang mit der notwendigen Entlastung des Bundesgerichtshofs in absehbarer Zeit seine praktische Bedeutung verlieren wird. Denn einmal sind der Erhöhung des Streitwerts aus allgemeinen rechtspolitischen Gründen Grenzen gezogen, andererseits führt jede Erhöhung des Streitwerts - wie bereits die Erfahrung mit der Erhöhung des Streitwerts auf 15 000 DM gelehrt hat - zu einem nicht unwesentlichen Ansteigen der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revisionen und führt damit auf diesem Weg zu einer Verwässerung der Streitwertrevision, hierbei zudem mit der Folge, daß diese Zulassung der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen ist. Bei dieser Sachlage wird die Streitwertrevision auf die Dauer nicht mehr geeignet sein, den Bereich für die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs sinnvoll festzulegen. 4 Vgl. dazu aus neuerer Zeit Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960; Scheuerle ZivA 157, 1 ff; Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellungen in der Revisionsinstanz 1964; Henke, Die Tatfrage 1966; Latenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 1960. 5 Vgl. dazu namentlich die Ausführungen bei Henke a. a. O. S. 20 ff.

2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe

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Wenn ich mich im folgenden einer näheren Betrachtung zuwende, welche rechtliche Beurteilung die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in der revisionsrichterlichen Rechtsprechung gefunden hat, so muß ich mich schon aus Zeitgründen auf einige Beispiele aus dem Zivilrecht beschränken, möchte aber hervorheben, daß Entsprechendes auch für die revisionsrichterliche Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs zu gelten hat. 1. Für die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie z.B. bei der Frage nach einem Verstoß wider die guten Sitten, ist es zunächst von wesentlicher Bedeutung, daß bei ihr für die Ausübung eines tatrichterlichen Ermessens kein Raum ist, daß bei ihrer Anwendung vielmehr nur eine einzige Entscheidung im Sinne des Gesetzes richtig sein kann und daß demzufolge dem Richter insoweit auch nicht die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten zu Gebote steht6. Die unbestimmten Rechtsbegriffe unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von den bestimmten Rechtsbegriffen; in beiden Fällen ist ihre Anwendung auf einen konkreten Tatbestand eine Frage bewertender Gesetzesauslegung, die dem Richter keinen irgendwie gearteten Ermessensspielraum einräumt 7 . Es kann daher die Nachprüfung der Anwendung solcher unbestimmten Rechtsbegriffe durch das Revisionsgericht auch nicht deshalb verneint werden, weil es sich bei dieser Anwendung um eine Ausübung tatrichterlichen Ermessens handelt. 2. Die Besonderheit der unbestimmten Rechtsbegriffe besteht darin, daß sie nach der Vorstellung des Gesetzgebers zur Anwendung auf eine Vielzahl verschiedenartiger Einzelfälle bestimmt sind und daß es mit Rücksicht auf die Vielgestaltigkeit des Lebens dem Gesetzgeber notwendig erscheint, einen weiten Begriff zu verwenden, der erst durch seine Anwendung oder Nichtanwendung im Einzelfall seine nähere inhaltliche Bestimmung erhält. Für die Rechtsanwendung bedeutet das zweierlei, einmal ist der unbestimmte Rechtsbegriff im allgemeinen auszulegen, wie es z.B. das Reichsgericht bei den guten Sitten mit seiner bekannten Formel vom Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden getan hat. Sodann bedarf es für die Rechtsanwendung der Beurteilung, ob der unbestimmte Rechtsbegriff nach seiner allgemeinen Auslegung auf den zur Entscheidung stehenden Einzelfall angewendet werden kann oder nicht. Daß die allgemeine Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt, ist zweifelsfrei; zweifelhaft hingegen ist die Frage, ob und in welchem Umfang auch die Anwendung dieses Begriffs auf den jeweils zu entscheidenden Fall 6 7

Larenz a . a . O . S.231, 223f. Schwinge a. a. O . S. 120; Henke a. a. O . S. 226.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

revisibel ist. E s h a n d e l t sich dabei im G r u n d e g e n o m m e n u m die F r a g e , o b die A n w e n d u n g des u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f s auf den j e w e i l i g e n , individuell meist b e s o n d e r s gestalteten Einzelfall als R e c h t s f r a g e o d e r als T a t f r a g e i m Sinn des R e v i s i o n s r e c h t s z u qualifizieren ist. 3.

F ü r die u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f e ist es k e n n z e i c h n e n d , d a ß ihre

allgemeine A u s l e g u n g ü b e r den I n h a l t u n d ihre sachliche T r a g w e i t e n u r sehr w e n i g b e s a g t , daß sie i m G r u n d e g e n o m m e n n u r eine r e c h t vage U m s c h r e i b u n g ihres g e s e t z g e b e r i s c h u n b e s t i m m t gebliebenen

Gehalts

darstellt u n d d a m i t den G e r i c h t e n f ü r ihre A n w e n d u n g i n s o w e i t n u r w e n i g z u g e b e n v e r m a g . I h r e nähere A u s g e s t a l t u n g und K o n k r e t i s i e r u n g erhalten diese B e g r i f f e erst d u r c h ihre A n w e n d u n g o d e r N i c h t a n w e n d u n g in d e m j e w e i l i g e n Einzelfall. D a b e i liegt es im W e s e n

dieser

B e g r i f f e , d a ß ihr Inhalt i m m e r klarer und i m m e r b e s t i m m t e r w i r d , je umfangreicher

das

Anschauungsmaterial

Nichtanwendungsfälle

dieser

Anwendungs-

i m L a u f e der Zeit w i r d , u n d je stärker

und sich

s o d a n n an H a n d dieser Beispielsfälle R i c h t l i n i e n und einzelne F a l l g r u p p e n f ü r ihre A n w e n d u n g e n t w i c k e l n lassen. F ü r den

unbestimmten

R e c h t s b e g r i f f gibt s o m i t das einzelne U r t e i l „im P r i n z i p ein B e i s p i e l für k ü n f t i g z u b e u r t e i l e n d e F ä l l e " 8 und es e r m ö g l i c h t damit, allmählich z u einer gewissen O b j e k t i v i e r u n g zu gelangen. D i e beispielhafte V e r d e u t l i c h u n g des u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f s ist also die G r u n d l a g e f ü r ihre n ä h e r e A u s l e g u n g , für ihre K o n k r e t i s i e r u n g s o w i e f ü r die B e s t i m m u n g v o n I n h a l t u n d G r e n z e n dieses B e g r i f f s ' . F r e i l i c h w i r d es d u r c h eine n o c h so u m f a n g r e i c h e niemals

möglich

Rechtsbegriffs

sein, den A n w e n d u n g s b e r e i c h

so b e s t i m m t

eines

Verdeutlichung unbestimmten

a b z u s t e c k e n , daß er gedanklich klar

zu

erfassen u n d festzulegen ist. E s b l e i b t i m m e r ein m e h r o d e r w e n i g e r g r o ß e r R e s t , der einer K o g n i t i o n n i c h t zugänglich ist und d u r c h eine b e w e r t e n d e r i c h t e r l i c h e B e u r t e i l u n g ausgefüllt w e r d e n muß 1 0 . D a s gilt f ü r u n b e s t i m m t e R e c h t s b e g r i f f e wie den V e r s t o ß w i d e r die guten Sitten, den G e b o t e n des lauteren W e t t b e w e r b s , d e m V e r h a l t e n nach T r e u u n d G l a u b e n in e i n e m b e s o n d e r e n M a ß . 4. F r a g t m a n sich u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g dieser B e s o n d e r h e i t e n , o b das R e v i s i o n s g e r i c h t die A n w e n d u n g der u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f e auf den k o n k r e t e n E i n z e l f a l l n a c h z u p r ü f e n hat, so k a n n die B e j a h u n g dieser F r a g e n i c h t z w e i f e l h a f t sein. E s ist f ü r uns heute r ü c k b l i c k e n d k a u m .vorstellbar, w i e die R e c h t s e n t w i c k l u n g in d e m weiten A n w e n d u n g s b e reich

8

der

Larenz

unbestimmten

a . a . O . S.222.

Rechtsbegriffe

' Larenz a. a. O. S. 220 f; Henke a. a. O. S. 227. 10

Larenz

a . a . O . S.221, 226.

verlaufen

wäre,

wenn

das

2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe

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Reichsgericht auf seinem ursprünglich vertretenen Standpunkt einer unbedingten Beschränkung des Revisionsgerichts auf eine rein abstrakte Normenkontrolle 11 in diesem Bereich verharrt hätte. Es wäre dann nicht zu der umfangreichen Rechtsprechung des Reichsgerichts zur näheren Präzisierung des §242 BGB gekommen, auch würde es bei einer rein schablonenhaften Anwendung des §138 BGB durch das Revisionsgericht verblieben sein, ohne daß hier eine wertende und wertausfüllende Rechtsprechung durch das Revisionsgericht möglich gewesen wäre. Man kann nach den Erfahrungen, die seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit der revisionsrichterlichen Rechtsprechung im Anwendungsbereich unbestimmter Rechtsbegriffe gemacht worden sind, sagen, daß es sich hierbei geradezu um eines der klassischen Gebiete der Rechtsfortbildung durch das Revisionsgericht handelt, auf die unsere Rechtsordnung und unser Rechtswesen nicht verzichten können' 2 . Auch vom Standpunkt der Wahrung der Rechtseinheit erscheint es nicht vertretbar, daß sich das Revisionsgericht in diesem Bereich auf eine im Grunde genommen nichtssagende Normenkontrolle beschränkt und von einer Prüfung absieht, ob die im allgemeinen zutreffend ausgelegte unbestimmte N o r m auf den konkreten Einzelfall mit Recht auch angewendet worden ist oder nicht13.

11 RG Bolze 3, Nr. 1432, wonach es eine in der Revisionsinstanz nicht nachprüfbare Tatfrage sei, ob ein Vertrag gegen die guten Sitten verstoße. Diese Entscheidung hat später Boyens (Grenze zwischen Tat- und Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Zivilsenate des Reichsgerichts in: Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts 1904 S. 171) nicht mit Unrecht als „eine überwundene historische Merkwürdigkeit" bezeichnet. Demgegenüber wird in der Entscheidung RGZ 58, 220 die Aufgabe des Revisionsgerichts im Anwendungsbereich des §138 BGB klar erkannt: „Die Nachprüfung dieser Frage (sc. Sittenwidrigkeit) in der Revisionsinstanz ist durch §561 Z P O nur insoweit eingeschränkt, als diejenigen festgestellten Tatsachen, in denen der Berufungsrichter die konkrete Betätigung des verwerflichen Handelns des Klägers gefunden hat, auch für das Revisionsgericht als feststehend gelten müssen. Dagegen ist die andere Frage, ob diese Tatsachen die Begriffsmerkmale eines Verstoßes wider die guten Sitten erfüllen, keine Frage der Tatsachenwürdigung, sondern eine Rechtsfrage; die Sachlage unterliegt daher insoweit der freien Beurteilung des Revisionsgerichts." In dieser Stellungnahme des Reichsgerichts tritt die Erkenntnis zutage, die später Mezger treffend mit den Worten gekennzeichnet hat: „Es wäre durchaus verkehrt zu meinen, als sei alles Konkrete, Individuelle des Falls tatsächlicher und nur das Abstrakte, generell Gültige rechtlicher Natur." (Der psychiatrische Sachverständige, 1918, S. 188). 12 Vgl. dazu etwa Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des §242 BGB 1956; Gesetz und Richterkunst 1957; Esser, Grundsatz und N o r m in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts 2. Aufl. 1964. 13 So haben die Erfahrungen des Bundesgerichtshofs mit unbestimmten Rechtsbegriffen aus der Gesetzgebung der neueren Zeit gelehrt, daß die Konkretisierung solcher Begriffe durch die Rechtsprechung des Revisionsgerichts im Interesse der Rechtseinheit besonders dringlich ist (vgl. dazu etwa Gelhaar Anm. zu B G H LM N r . 2 zu §18 l . B M G ) .

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

5. Angesichts dieser Beurteilung kann es sich nur fragen, ob das Revisionsgericht bei einer solchen Nachprüfung irgendwelchen sachlichen Beschränkungen unterliegt, ob es insbesondere eine solche Nachprüfung nur in bestimmten, besonders gelagerten Fällen vorzunehmen hat. Diese Frage wirft die eigentlichen Schwierigkeiten auf, die sich bei der Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe zeigen. Denn man hat das Gefühl, daß sich das Revisionsgericht bei der Beurteilung individuell gelagerter Einzelfälle nicht zu weit vorwagen sollte, um sich nicht in eine unübersehbare Einzelfall-Rechtsprechung zu verlieren und um sich nicht den Nachteilen seiner eigenen Sachferne von der individuellen Besonderheit des jeweiligen Einzelfalls auszusetzen. Schwinge 14 hat wohl aus diesem Grunde versucht, eine sachliche Einschränkung für die Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe vorzunehmen. Er ist der Meinung, daß sich das Revisionsgericht bei den unbestimmt gehaltenen Rechtsbegriffen nur mit den rechtlichen Gesichtspunkten genereller Natur zu befassen und demgemäß an Hand der einzelnen Beispielsfälle lediglich allgemeine Richtlinien herauszuarbeiten habe, die eine über den jeweiligen Einzelfall hinausreichende Bedeutung besitzen. So sehr diese Einschränkung zunächt auch einleuchtend erscheinen mag, so scheitert diese Meinung nach meiner Uberzeugung einfach an der Rechtswirklichkeit. Diese Meinung beruht m. E. auf einer Verkennung der Gestaltungsformen, unter denen sich die Verdeutlichung und Klarstellung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt und fortbildet 15 , und sie beruht zugleich auf einer Uberschätzung der Möglichkeiten des Revisionsgerichts. Es ist an Hand der höchstrichterlichen Rechtsprechung wiederholt dargestellt worden, wie sich häufig langsam, zuweilen von allen Beteiligten unbemerkt, an einzelnen Beispielsfällen Ansätze einer sich später als fruchtbar erweisenden Rechtsprechung zur Ausbildung A . a . O . S. 121 f. Aus eigener unmittelbarer revisionsrichterlicher Erfahrung kann ich hierzu auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Konkretisierung der gesellschaftlichen Treuepflicht verweisen (vgl. dazu meine Zusammenstellung im G r o ß - K o m . H G B § 1 0 5 Anm. 31 a ff). Ich bin überzeugt, es wäre nicht gut gewesen, wenn sich der Bundesgerichtshof in diesem Bereich nicht auf die Beurteilung des konkreten Einzelfalls beschränkt, sondern versucht hätte, schon anhand der ersten Entscheidungen allgemeine Grundsätze über die Behandlung der gesellschaftlichen Treuepflicht aufzustellen. Mit dieser Beurteilung hängt es auch zusammen, daß der Bundesgerichtshof im Laufe der Zeit immer mehr dazu übergegangen ist, bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe einen Leitsatz mit der schlichten Wendung „zur Anwendung" oder dergleichen aufzustellen und von einem Aussagesatz abzusehen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die konkrete Einzelentscheidung für die Auslegung der unbestimmten Rechtsnorm von beispielhafter Bedeutung sein kann, ohne daß der Entscheidung schon eine bestimmte Richtlinie allgemeiner Art beigelegt werden soll. 14

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2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe

17

und Fortbildung des Rechts herausbilden und wie sodann diese Ansätze Grundlage und Ausgangspunkt einer systematisierenden Betrachtung durch die Rechtswissenschaft werden 16 . Bei dieser Sachlage bin ich der Überzeugung, daß der verständliche Versuch von Schwinge, zu einer Einschränkung der Revisibilität bei unbestimmten Rechtsbegriffen zu gelangen, nicht der geeignete Weg ist, um eine sachgerechte Abgrenzung zwischen tatrichterlicher und revisionsrichterlicher Tätigkeit herbeizuführen 17 . Man sollte das Revisionsgericht in diesem Bereich nicht herausfordern oder gar nötigen, vorschnell allgemeine Richtlinien für die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe aufzustellen. Damit wird das Revisionsgericht überfordert oder die Möglichkeit gerade einer behutsamen, allmählichen, sich langsam bewährenden Rechtsentwicklung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung beeinträchtigt. 6. Unter welchen Gesichtspunkten soll aber dann die gerade im Interesse des Revisionsgerichts wünschenswerte Einschränkung der Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe vorgenommen werden? Den unbestimmten Rechtsbegriffen ist es eigentümlich, daß sie bei ihrer Anwendung vom Richter in verschiedener Weise und nach verschiedenen Maßstäben ein Werturteil verlangen. So ist der Maßstab bei dem Verbot eines Verstoßes wider die guten Sitten oder den Geboten des lauteren Wettbewerbs im wesentlichen ein solcher allgemeiner Art, der zwar bei jeweils verschiedenen Verkehrskreisen eine besondere Ausgestaltung erfahren kann, der aber nicht auf besondere individuell gelagerte Verhältnisse abgestellt werden kann. Denn für die Beurteilung dieser Rechtsbegriffe kommt es auf die Grundsätze an, die im allgemeinen Rechtsbewußtsein lebendig sind, während eine konkret festgestellte Übung, die sich als Unsitte oder als unlauter darstellt, insoweit keine Berücksichtigung finden kann 18 . Ich meine, daß man bei solchen nach geregelten generellen Bewertungsmaßstäben angelegten Rechtsbegriffen die Revisibilität uneingeschränkt bejahen muß, auch soweit es sich um die Frage handelt, ob in dem angefochtenen Urteil die Anwendung dieer Rechtsnorm für den individuell festgelegten Sachverhalt zutreffend bejaht oder verneint worden ist. Bei dem unbestimmten Rechtsbegriff Treu und Glauben können neben den auch hier im Vordergrund stehenden objektiven Bewertungsmaßstäben im Einzelfall auch individuelle Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die von den Besonderheiten des persönlich, örtlich oder sonst-

Vgl. dazu etwa die in Anm. 12 genannten Autoren. Vgl. dazu auch Henke a. a. O. S. 36. " BGHZ 10, 228, 232; 16, 4, 12; LM Nr. 13 zu § 138 (Cb) BGB; GRUR 1955, 541. 16 17

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

wie gestalteten Einzelfalls abhängig sind19. Hier sollte sich die Nachprüfung des Revisionsgerichts bei der Berücksichtigung dieser individuellen Gesichtspunkte m . E . darauf beschränken, ob in einem Einzelfall wie dem zur Entscheidung gestellten Fall eine Berücksichtigung solcher individuellen Gesichtspunkte nach Treu und Glauben in Betracht kommt und ob diese Frage im angefochtenen Urteil zutreffend entschieden worden ist. Ist danach diese Frage zutreffend bejaht worden, so sollte es m. E. für das Revisionsgericht als Tatfrage angesehen werden, in welcher Weise das angefochtene Urteil diese individuellen Gesichtspunkte im einzelnen gewertet und gewürdigt hat. Der unbestimmte Rechtsbegriff „wichtiger Grund" als Auflösungstatbestand bei der Kündigung von Dauerschuldverhältnissen hat in der revisionsrichterlichen Rechtsprechung von jeher Schwierigkeiten bereitet20. Dabei ist dem Reichsgericht vom Schrifttum vielfach der Vorwurf gemacht worden, daß es sich insoweit eine zu große Beschränkung bei der revisionsrichterlichen Prüfung des wichtigen Grundes auferlegt habe, und daß es nicht ausreichend sei, im konkreten Fall nur die rechtliche Möglichkeit der Annahme eines wichtigen Grundes zu bejahen21. An dieser Kritik mag einiges berechtigt sein. So ist nicht zu verkennen, daß das Reichsgericht zur Konkretisierung des wichtigen Grundes bei den einzelnen Dauerschuldverhältnissen verhältnismäßig wenig beigetragen hat und daß seine Rechtsprechung in mancher Hinsicht einiges an Lebensnähe des Anschauungsmaterials vermissen läßt. Es mag daher richtig sein, daß sich das Revisionsgericht insoweit stärker um eine Verdeutlichung der für den wichtigen Grund maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte bemühen sollte22. Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, daß gerade hier die Verquickung genereller Bewertungsgrundsätze und rein individueller Maßstäbe, wie sie sich " Darauf weist m. E. Henke a. a. O . S. 236 ff mit Recht hin. Ich habe den Eindruck, daß das Revisionsgericht in diesem Anwendungsbereich mit besonderer Sorgfalt darauf achten sollte, inwieweit die Beurteilung des Berufungsgerichts auch individuelle (tatrichterliche) Gesichtspunkte enthält und nach allgemeiner rechtlicher Beurteilung auch enthalten darf. 20 Vgl. zur Rechtsprechung des Reichsgerichts R G Z 78, 22; 110, 300; JW 1919, 309, 504; 1925, 945; 1938, 2833. 21 Vgl. zur Kritik aus früherer Zeit Titze Anm. JW 1919, 504; 1925, 945; ferner Hueck Anm. ArbRSam 17, 77; aus neuerer Zeit Henke a. a. O . S. 301 ff. 22 Es scheint deshalb zutreffend, daß das Reichsgericht und ihm folgend der Bundesgerichtshof in seiner gesellschaftsrechtlichen Rechtsprechung zum wichtigen Grund (vgl. §723 BGB, §§117, 127, 133, 140, 142 HGB) dazu übergegangen sind, in diesem Zusammenhang namentlich auf eine erschöpfende Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände seitens des Berufungsgerichts zu achten und dabei auch auf die rechtlichen Gesichtspunkte für die Beurteilung des wichtigen Grundes hinzuweisen. Auf diese Weise ist es dem Revisionsgericht möglich geworden, manches zur Konkretisierung des wichtigen Grundes im Anwendungsbereich der gesellschaftlichen Bestimmungen beizutragen, wie die zahlreichen Beispielsfälle aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu diesen

2. Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe

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in der Zumutbarkeitsfrage zeigen, eine besonders enge ist und daß deshalb eine gewisse Zurückhaltung des Revisionsgerichts gerade bei diesem unbestimmten Rechtsbegriff m. E. nicht unverständlich erscheinen sollte 23 . Ein Wort ist in diesem Zusammenhang noch zu dem zivilgerichtlichen Fahrlässigkeitsbegriff zu sagen. Dieser hat in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine überaus eingehende, an zahlreichen Beispielgruppen näher erläuterte Verdeutlichung gefunden. Das kann angesichts der hier in Betracht kommenden, im wesentlichen objektiven Beurteilung auch nicht anders sein. So ist dieser Verschuldensbegriff nicht nur für die im allgemeinen Verkehr erforderliche Sorgfalt anhand von Einzeltatbeständen näher konkretisiert worden, so etwa für die im Straßenverkehr oder die in einfachen Vertragsverhältnissen des täglichen Lebens erforderliche Sorgfalt, sondern auch für besondere Verhältnisse im einzelnen verdeutlicht worden, so etwa für die von einem Kaufmann, einer Bank oder dem Kapitän eines Schiffes zu fordernde Sorgfalt. Dagegen hat der Bundesgerichtshof gemeint, die Abstufung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit im konkreten Fall dem Tatrichter überlassen zu sollen, wenn dieser die für diese Abstufung allgemein aufgestellte Regel seiner Beurteilung zugrunde gelegt hat24. Diese Faustregel hat sich im allgemeinen bewährt, und zwar offenbar deshalb, weil es sich bei dieser Abstufung im wesentlichen um die Berücksichtigung individuell gelagerter Gesichtspunkte handelt, deren Beurteilung Aufgabe des Tatrichters ist und einer selbständigen Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen ist25. Aber das kann m. E. nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei diesem Grundsatz doch nur um eine Faustregel handelt. Denn auch für die Annahme einer groben Fahrlässigkeit kann unter Umständen eine objektive Bewertung, unabhängig von den individuell gelagerten Verhältnissen des Einzelfalles, die entscheidende Bedeutung haben. Der Hinweis auf die Annahme grober Fahrlässigkeit beim Erwerb eines gebrauchten Kraftwagens ohne Vorlage des Kraftfahrzeugscheins mag das belegen 26 . Bestimmungen erweisen; vgl. dazu R G Z 153, 275, 279; B G H Z 4, 108, 111; 6, 113, 117; 18, 350, 359; 31, 295, 302; 46, 392; L M N r . 4 zu §133 H G B ; N r . 2 zu §140 H G B ; N r . 5, 6, 9 zu §142 H G B . 23 Immerhin lehrt die Erfahrung, daß es möglich und auch angebracht ist, für bestimmte Fälle allgemeine Richtlinien für die Anerkennung eines wichtigen Grundes aufzustellen (vgl. etwa B G H B B 1967, 731). 24 B G H Z 10, 14, 17. 25 Meine eigenen Beobachtungen im Rahmen der versicherungsrechtlichen Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs - im Versicherungsrecht spielt die Abgrenzung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit bei einer Obliegenheitsverletzung (§ 6 W G ) sowie im Fall des § 61 W G eine praktisch wichtige Rolle - haben ergeben, daß hierbei bisher mit dieser Faustregel immer auszukommen war. 26 B G H L M N r . 12 zu §932 B G B .

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

7. Zum Schluß möchte ich noch einige Worte darüber anfügen, welche Anforderungen sich aus dieser Beurteilung über die Aufgaben des Revisionsgerichts im Anwendungsbereich unbestimmter Rechtsbegriffe für das Revisionsgericht selbst ergeben. Die Konkretisierung und Verdeutlichung unbestimmter Rechtsbegriffe an Hand einzelner Beispielsfälle setzt ein hohes Maß an Sachkunde und Erfahrung sowie ein sicheres Gefühl für die Beurteilung einzelner Tatbestände nach den insoweit in Betracht kommenden allgemeinen Bewertungsmaßstäben voraus. Dabei erfordern Sachkunde und Erfahrung, namentlich auf besonderen Spezialgebieten, auch Kenntnis der insoweit in Betracht kommenden Rechtstatsachen, weil ohne eine solche Kenntnis ein sicheres Urteilsvermögen nicht möglich ist. In einem gewissen Umfang können diese Sachkunde und Erfahrung, auch auf einzelnen Spezialgebieten, durch die Tätigkeit in einem eingearbeiteten Fachsenat erworben werden, wenn dem betreffenden Senat ein entsprechend dichtes Entscheidungsmaterial jeweils vorgelegt wird. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in weiten Bereichen neben den richterlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen sonstige Kenntnisse auf besonderen Gebieten erforderlich sind. So ist nach meiner Uberzeugung eine sachgerechte Beurteilung in einem Abfindungsprozeß eines ausgeschiedenen Gesellschafters nicht möglich, ohne daß der betreffende Fachsenat Kenntnis über moderne Unternehmensbewertungen hat; auch liegt es auf der Hand, daß das Revisionsgericht keine Maßstäbe über die Sorgfaltspflichten einer Bank aufzustellen vermag, ohne über entsprechende Sachkenntnisse auf dem Gebiet des Bankwesens zu verfügen, Dabei hat das Fehlen solcher für das Revisionsgericht notwendigen Sachkenntnisse nach meiner Überzeugung wohl weniger sachliche Falschbeurteilungen zur Folge; es wird vielmehr in der Regel dazu führen, daß sich das Revisionsgericht im Anwendungsbereich unbestimmter Rechtsbegriffe bei der eigenen Bewertung der konkreten Einzelfälle allzu stark zurückhält und manches als Tatfrage ansieht, was bei entsprechender Sachkunde eigener Beurteilung zugänglich hätte sein sollen 27 .

27 Interessant ist insoweit die schon lange zurückliegende Beobachtung von Boyens (Grenze zwischen Tat- und Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Zivilsenate des Reichsgerichts in: Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts 1904 S. 160), daß das Reichsgericht in seiner seerechtlichen Rechtsprechung geneigt ist, die Frage der nautischen Vorsicht als rein tatsächlich zu behandeln und nur die Rüge von Verstößen gegen die gesetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Regeln bei der Schiffahrt zuzulassen. Ich möchte nach meinen Erfahrungen in der revisionsrechtlichen Rechtsprechung annehmen, daß diese Rechtsprechung des Reichsgerichts wahrscheinlich auf eine zu geringe Erfahrung und Kenntnis der Verhältnisse in der Seeschiffahrt zurückzuführen ist.

2. Z u r Revisibilität u n b e s t i m m t e r Rechtsbegriffe

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Die hohen Anforderungen, die an den einzelnen Revisionsrichter zu stellen sind, müssen sich alle Stellen vor Augen halten, die für die Auswahl der Revisionsrichter verantwortlich sind. Dabei sollten sie sich nach meiner Uberzeugung noch in weit stärkerem Maße die Erfahrungen nutzbar machen, die das Revisionsgericht selbst hat, sowie die Kenntnis darüber, welche Sachkenner das Revisionsgericht im einzelnen Fall benötigt. Aber noch etwas anderes ist über die Anforderungen zu sagen, die an den Revisionsrichter bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zu stellen sind. Die Anwendung dieser Rechtsbegriffe enthält in mehr oder minder starkem Umfang stets ein Werturteil, und zwar je nachdem, in welchem Maße der betreffende Rechtsbegriff in der Rechtsprechung seine nähere inhaltliche Ausgestaltung erfahren hat. Dieses Werturteil, das das Revisionsgericht ohne irgendwelche Hilfsmittel letzten Endes aus seiner eigenen Uberzeugung treffen muß, drückt dem Gericht eine hohe Verantwortung und eine große Bürde auf. Jeder Revisionsrichter weiß davon und trägt an dieser Last. Er empfindet in manchen Zweifelsfällen, die bei Bewertungen dieser Art niemals ausbleiben können, die für ihn unausweichliche Forderung einer klaren Entscheidung. Er beugt sich dieser Pflicht, die mit seinem Amt verbunden ist, aber er findet daran kein leeres Gefallen. Er weiß aus eigener Erfahrung zu gut, daß er vor menschlichem Irrtum nicht gefeit ist und er kann nur hoffen und wünschen, daß seinem Bemühen und Streben im Dienste des Rechts Segen zuteil wird.

3. Zur Methode revisionsrichterlicher Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts dargestellt an Hand der Rechtsprechung zu den Stimmrechtsbindungsverträgen*

I. Die Fortbildung des Gesellschaftsrechts hat in der Zeit seit den großen Kodifikationen am Ende des vergangenen Jahrhunderts eine Entwicklung genommen, die m. E. die ihr gebührende Beachtung und Würdigung noch nicht gefunden hat. Diese Entwicklung fällt in eine Zeitspanne, die durch eine umfassende Veränderung unseres wirtschaftlichen Lebens gekennzeichnet ist und zu unternehmerischen Gestaltungsund Organisationsformen geführt hat, wie sie am Ausgang des vergangenen Jahrhunderts noch von niemandem vorausgesehen oder vorausgeahnt werden konnte. Diesen tiefgreifenden, das gesamte Wirtschaftsleben erfassenden Veränderungen konnten Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bei der rechtlichen Würdigung und Beurteilung im wesentlichen ausreichend Rechnung tragen, ohne daß es - vom Aktienrecht abgesehen - bisher besonderer gesetzgeberischer Maßnahmen bedurft hätte. Das erscheint aus heutiger Sicht außerordentlich bemerkenswert und beleuchtet auf diesem Teilgebiet zugleich in einer bezeichnenden Form das Verhältnis, in das auf diese Weise Rechtsprechung, Rechtswissenschaft und Gesetzgebung in diesem Jahrhundert zueinander geraten sind und in dem sie sich jetzt befinden. Bemerkenswert erscheint mir diese Entwicklung vor allem deshalb, weil sie sich ganz allmählich vollzogen, im Grunde genommen bei allen Beteiligten niemals Widerspruch gefunden hat und heute als ziemlich selbstverständlich empfunden wird. Fragt man nach den Gründen, die diese besondere Entwicklung bei der Fortbildung des Gesellschaftsrechts möglich gemacht haben, so ist dabei in erster Linie auf das einzigartige und vorzügliche Zusammenwirken von Vertragspraxis, Rechtwissenschaft und Rechtsprechung hinzuweisen. Auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts hat von jeher die Vertragspraxis eine hervorragende Rolle gespielt. Beste Vertreter des Anwaltsstandes haben als rechtliche Berater von Unternehmen mit * Aus: Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie. Festgabe für Otto Kunze zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Ballerstedt, Ernst Friesenhahn, Oswald v. NellBreuning. - Duncker und Humblot, Berlin, 1969, 95-108.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

einem erfahrenen Blick für die Bedürfnisse der Wirtschaft die erforderlichen Verträge entworfen und dabei von jeher eine lebhafte Phantasie, aber auch ihre große Kenntnis gesellschaftsrechtlicher Probleme bei der Gestaltung der einzelnen Vertragsbestimmungen bewiesen. Hand in Hand damit ging die systematische Erfassung des Rechtsstoffs, der sich durch die Vertragspraxis ständig erweiterte und sich den neu auftretenden Bedürfnissen der Wirtschaft anpaßte, durch vorzügliche Vertreter der Rechtswissenschaft, die meist ebenfalls in einer engen Verbindung mit der Wirtschaftspraxis standen und sich infolgedessen bei ihren Arbeiten auch nicht in unfruchtbare und rein rechtstheoretische Auseinandersetzungen verstrickten. Mit diesem vorzüglichen Rüstzeug, wie es wohl kaum während der langen Zeitspanne für ein anderes Rechtsgebiet zur Verfügung stand, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Entscheidung gesellschaftsrechtlicher Fragen arbeiten können und sich auch ihrerseits bemüht, bei ihren Entscheidungen den Blick für die Rechtswirklichkeit möglichst offen zu halten und demgemäß die Fortbildung des Rechts an den sich weiter entwickelnden tatsächlichen Verhältnissen in der Wirtschaft auszurichten. Auf diese Weise gelang es der Vertragspraxis, der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung, in einem fruchtbaren Zusammenwirken das Gesellschaftsrecht so fortzubilden, daß es noch heute den Erfordernissen der modernen Wirtschaft im wesentlichen gerecht zu werden vermag. Dabei oblag der Rechtsprechung die besondere Aufgabe, mit großer Behutsamkeit die Tragfähigkeit neuer gesellschaftsrechtlicher Gestaltungs- und Erscheinungsformen zu prüfen und sich dabei in hohem Maß der Verantwortung bewußt zu sein, die gerade sie gegenüber der Rechtssicherheit im Sinn einer steten und weiter fortschreitenden Rechtsentwicklung zu erfüllen hat und die angesichts des großen Einfallreichtums von Vertragspraxis und Rechtswissenschaft auf diesem Gebiet nicht immer leicht zu meistern ist. Für die höchstrichterliche Rechtsprechung ergab sich aus dieser Entwicklung im Laufe der Zeit in zunehmendem Maß eine höchst eigenartige Lage, der sie sich heute bei der Rechtsfortbildung m. E. stets bewußt sein muß. Die Anerkennung und Ausbildung neuer Rechtsformen und Rechtsgestaltungen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts drängt bei der sich vollziehenden Rechtsentwicklung in einem besonderen Maß zu einer Verfestigung, da nur so die Aufgabe einer stetigen Anpassung des lebenden Rechts an die Erfordernisse unseres Rechts- und Wirtschaftslebens bewältigt werden kann. Dabei spielt es auf diesem Gebiet eine ganz wesentliche Rolle - und das ist ein Umstand, den ein Richter bei der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts sich m. E. stets vor Augen halten muß daß es die Rechtsprechung hier mit Verträgen zu tun hat, die auf lange Zeit geschlossen werden und die für eine lange Zeit die Grundlage der jeweiligen gesellschaftsvertraglichen Unterneh-

3. Zur Methode höchstrichterlicher Rechtsprechung

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mensform bilden sollen. Die Vertragschließenden müssen sich darauf verlassen können, daß sie in den folgenden Jahren in ihren Vorstellungen und Erwartungen nicht getäuscht werden, die sie im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bei ihrer Vertragsgestaltung gehegt haben und die für sie dabei maßgeblich waren. Die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts ist daher genötigt, im Interesse der Rechtssicherheit die Stetigkeit einer sich fortbildenden Rechtsentwicklung besonders im Auge zu behalten. Sie ist daher hier in einem sehr viel stärkerenMaße als auf anderen Rechtsgebieten an die Ergebnisse ihrer eigenen Rechtsprechung gebunden; sie darf also nach Möglichkeit die Erwartungen einer von ihr selbst eingeleiteten Entwicklung nicht enttäuschen. Sie muß Entwicklungstendenzen, die sich in der modernen Vertragspraxis abzeichnen und die zumeist von einem neu auftretenden Bedürfnis oder Zweck bestimmt werden, aufmerksam beobachten und auf ihre allgemeine Bedeutung für alle Beteiligten und damit auf ihre Schutzwürdigkeit prüfen. Sie wird dabei gut tun, bei der etwaigen Anerkennung solcher neuen Gestaltungsformen zunächst eine besondere Zurückhaltung zu üben und auf die Besonderheit des zu entscheidenden Einzelfalles abzustellen, also allgemeine, namentlich systematisierende Ausführungen zu unterlassen. Sie sollte die systematische Einordnung der von ihr entschiedenen Einzeltatbestände vielmehr der kritischen Prüfung durch die Rechtswissenschaft überlassen und erst mit Hilfe dieser Prüfung die Tragfähigkeit ihrer Einzelentscheidungen innerhalb eines allgemeinen rechtlichen Rahmens untersuchen. Denn es ist eine Erfahrungstatsache, daß es im Grunde für einen Richter in den meisten Fällen unmöglich ist, schon an Hand eines Einzelfalles zu beurteilen und zu entscheiden, welche Bedeutung und Tragweite seine erste Entscheidung für eine sich anbahnende neue Rechtsentwicklung haben wird. Andererseits muß die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts bemüht sein, die von ihr eingeleitete Rechtsentwicklung an Hand ihres eigenen Rechtsmaterials zu gegebener Zeit, nämlich dann, wenn sich die Folgen und die Tragweite ihrer Entscheidungen übersehen lassen und etwa zunächst bestehende Zweifel überwunden werden können, zu einem irgendwie gearteten Abschluß zu bringen. Dabei muß sie sich darüber im klaren sein, daß sie im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit an diese so zum Abschluß gebrachte Rechtsentwicklung in Zukunft selbst gebunden ist. Daher sollte die Rechtsprechung bestrebt sein, die von ihr anerkannte und bestätigte Rechtsentwicklung in eine rechtlich möglichst einfache Form zu kleiden, damit sie für die Rechtsanwendung und Rechtspraxis auch praktikabel ist. D a s ist nach meinem Eindruck eine besondere Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts. Die Bedeutung dieser Aufgabe für unser ganzes Rechtsleben tritt offen

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Beiträge zur B e d e u t u n g der höchstrichterlichen Rechtsprechung

zutage, wenn man sich einzelne, in stetiger Rechtsentwicklung anerkannte Rechtsfiguren wie die Einmanngesellschaft, die fehlerhafte Gesellschaft oder die G m b H und Co. vergegenwärtigt, die die Rechtsprechung hinfort als auch für sie verbindliches Recht hinnehmen muß und die deshalb in ihrer rechtlichen Ausgestaltung für die Rechtsanwendung praktikabel sein müssen. II. Im folgenden möchte ich an Hand eines einzelnen Rechtsinstituts dartun, wie sich nach meinem Eindruck und nach meiner eigenen revisionsrichterlichen Erfahrung eine solche Entwicklung zur allmählichen Ausbildung und Anerkennung eines neuen Rechtsinstituts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung vollzieht und wie dabei die einzelnen Abschnitte dieser Entwicklung nach meiner Uberzeugung zu beurteilen sind. Diese Beurteilung möchte ich an Hand der Behandlung, die die Abstimmungsvereinbarung im Rahmen des Gesellschaftsrechts durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfahren hat, vornehmen, nachdem diese Entwicklung nach meiner Ansicht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. Mai 1967' einen gewissen Abschluß gefunden hat. Die erste Entscheidung des Reichsgerichts aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zu dieser Frage läßt recht deutlich erkennen, wie stark die Ablehnung des Revisionsgerichts gegenüber dieser neuen Erscheinungsform in der Gestaltung der Willensbildung innerhalb der Aktiengesellschaften und der Gesellschaften m b H damals gewesen ist, eine Ablehnung, die sich im Grunde genommen m. E. nur damit erklären läßt, daß dem Gericht solche Abstimmungsvereinbarungen noch ziemlich fremd und in ihrer Tragweite von ihm auch nicht zu übersehen waren. N u r so sind die starken, reichlich emotional anmutenden Worte zu verstehen, mit denen in dieser Entscheidung die Wirksamkeit solcher Vereinbarungen verneint wird, Worte, die zwar recht kategorische Sätze, aber doch wohl keine rechtliche Begründung in einer jener Zeit gemäßen Art enthalten 2 . Diese gefühlsmäßig begründete Ablehnung und das ihr zugrunde liegende Mißtrauen erscheinen aus heutiger Sicht deshalb auffallend, weil solche Abstimmungsvereinbarungen wohl schon damals im Wirtschaftsleben eine ziemliche Verbreitung und im Schrifttum eine ausgesprochen sachliche und zudem positive Beurteilung gefunden hatB G H Z 48, 163. R G Z 57, 205, 2 0 8 : E s „widerspricht der Idee der Gesellschaft, des Vertrauensamtes und der R e c h t s o r d n u n g , durch private A b k o m m e n einzelner Gesellschafter eine rechtliche B i n d u n g u n d z w a n g s w e i s e Verpflichtung eines Gesellschafters des Inhalts zuzulassen, den hier die Kläger in A n s p r u c h nehmen. . . . In solcher Weise darf niemand einen anderen und sich selbst in der Betätigung seines freien Willens hindern". 1

2

3. Zur Methode höchstrichterlicher Rechtsprechung

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ten3. M a n w i r d dieser E n t s c h e i d u n g m . E . n u r dann gerecht können,

wenn

man

sie in e i n e n

anderen

Zusammenhang

werden

stellt,

sie

n ä m l i c h in V e r b i n d u n g b r i n g t m i t d e r sich d a m a l s a b z e i c h n e n d e n E n t wicklung,

mit

der

das

Reichsgericht

begann,

der

Bildung

und

der

A u s ü b u n g der Mehrheitsherrschaft innerhalb der Aktiengesellschaft mit e i n e r g r ö ß e r e n K r i t i k z u b e g e g n e n u n d ihr eine b e w e r t e n d e B e u r t e i l u n g z u t e i l w e r d e n z u l a s s e n . I c h g l a u b e , d a ß n u r v o n h i e r aus das o f f e n s i c h t liche M i ß t r a u e n Entscheidung

z u e r k l ä r e n ist, d a s das R e i c h s g e r i c h t

dieser

„neuen"

Erscheinungsform

in d e r

ersten

bei d e r B i l d u n g

der

M e h r h e i t s m e i n u n g entgegengebracht hat. D i e s o d a n n f o l g e n d e E n t s c h e i d u n g des R e i c h s g e r i c h t s liegt n o c h a u f d e r s e l b e n L i n i e 4 ; sie ist a b e r d e s h a l b g l e i c h w o h l b e m e r k e n s w e r t , weil sie in i h r e n W o r t e n

s e h r viel v e r h a l t e n e r u n d p r a g m a t i s c h e r klingt

und

ü b e r d i e s s c h o n die M ö g l i c h k e i t e i n e r E i n s c h r ä n k u n g des z u n ä c h s t allgem e i n a u f g e s t e l l t e n S a t z e s ü b e r die U n w i r k s a m k e i t v o n

Abstimmungs-

v e r e i n b a r u n g e n a n z u d e u t e n s c h e i n t 5 . F e r n e r ist bei d i e s e r E n t s c h e i d u n g hervorzuheben,

daß

sie z u r A n n a h m e

der Sittenwidrigkeit

nur

eine

A u s s a g e u n d n i c h t eine B e g r ü n d u n g e n t h ä l t u n d d a ß sie i n s o f e r n v e r h ä l t nismäßig farblos wirkt. Z u d e m enthält der einschränkende Z u s a t z einen a n d e r e n R e c h t s g e d a n k e n , d a die A n n a h m e e i n e r e t w a i g e n

Umgehung

d e s V e r ä u ß e r u n g s v e r b o t s n i c h t eine F r a g e d e r S i t t e n w i d r i g k e i t , s o n d e r n 3 Vgl. dazu Jordan, Die Strafbarkeit des Stimmenkaufs im Aktienrecht, 1897, S. 55/56; Risse, Die Neuerungen im deutschen Aktienrecht, 1899, S. 81; Staub, Komm. z. H G B , 6./ 7.Aufl., 1900, §317, Anm.8 (m.w.N.). 4 R G Z 69, 134, 137: „Gegen die guten Sitten verstößt die vertragliche Bindung des Gesellschafters einer GmbH, seine Rechte als Gesellschafter und insbesondere sein Stimmrecht unter Hintansetzung seines eigenen Willens nur nach dem Willen eines Dritten auszuüben, und zwar jedenfalls dann, wenn in dem Gesellschaftsvertrag die Übertragung der Geschäftsanteile von der Genehmigung eines Gesellschaftsorgans abhängig gemacht wird. (Betrifft also einen Fall der Umgehung eines Veräußerungsverbots.) 5 Wenn das Revisionsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils von einem allgemeinen Rechtssatz ausgeht und seine Anwendung sodann entsprechend der vorliegenden Fallgestaltung auf den gegebenen Sachverhalt einschränkt oder die Möglichkeit einer solchen Einschränkung ausdrücklich andeutet, dann sollte das Revisionsgericht das m. E. nur dann tun, wenn es an Hand des zu entscheidenden Falles bereits irgendwelche Bedenken oder sogar ernsthafte Bedenken gegen eine Anerkennung des Rechtssatzes in seiner allgemeinen Wirksamkeit hat. Das gilt auch für allgemeine Formulierungen wie „es kann hier offen bleiben, o b . . . " oder „es braucht hier nicht entschieden zu werden, o b . . . " , da solche Formulierungen nach ihrem gesamten Zusammenhang in der juristischen Öffentlichkeit den Eindruck erwecken können, daß sie zugleich eine irgendwie geartete Aussage zur Sache zum Ausdruck bringen sollen. Das gilt namentlich dann, wenn die Entscheidung auf einen allgemeinen Rechtssatz aus einer früheren Entscheidung desselben oder auch eines anderen Senats des Revisionsgerichts zurückgreift. Will sich also das Revisionsgericht entsprechend der vorliegenden Fallgestaltung nur auf diesen Fall beschränken, so ist es angemessen, wenn es den allgemein gehaltenen Rechtssatz überhaupt nicht erwähnt oder in den Kreis seiner rechtlichen Betrachtungen nicht ausdrücklich einbezieht.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

eine solche des Verstoßes gegen den Gesellschaftsvertrag ist. So gesehen stellt diese Entscheidung m. E. nicht eine einfache Fortsetzung der mit R G Z 57, 205 eingeleiteten Rechtsprechung dar, sondern läßt in ihrer knappen Formulierung erkennen, daß die allgemeine Frage nach der Wirksamkeit von Abstimmungsvereinbarungen offenbar noch irgendwie in der Schwebe gehalten werden sollte 6 . Mit der Entscheidung R G Z 107, 67, 70 wird gegenüber der Beurteilung von Abstimmungsvereinbarungen eine neue Entwicklung eingeleitet. Diese Entscheidung stellt in meinen Augen in mancherlei Hinsicht einen Neubeginn dar. Das ist zunächst in der Sache ganz offensichtlich, da hier die Wirksamkeit von Stimmrechtsverträgen unter den Aktionären bejaht wird. Ebenso bedeutsam ist aber auch die Form der Begründung, die für diese Ansicht gegeben wird. Die Entscheidung sieht davon ab, das Problem der Stimmrechtsverträge in ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Tragweite aufzuwerfen oder an bisherige Entscheidungen des Reichsgerichts zu dieser Frage in irgendeiner Form anzuknüpfen. Die Begründung wirkt in ihrer nüchternen und schlichten Form fast beiläufig. Das ist für die höchstrichterliche Rechtsprechung typisch, wenn sie vorsichtig und abwartend rechtliches Neuland betritt und deshalb bewußt davon absieht, in irgendeiner Hinsicht die Grenzen für die Tragweite dieser Entscheidung abzustecken. Dabei ist hervorzuheben, daß die überaus anspruchslos wirkende Entscheidung R G Z 107, 67, 70 bereits die entscheidenden Gesichtspunkte für die spätere Rechtsprechung enthält, nämlich den Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit, der insoweit durch die Besonderheiten des Aktienrechts keine Einschränkungen erleidet, sowie den Hinweis, daß eine vereinbarungswidrig abgegebene Stimme die Stimmabgabe selbst nicht ungültig macht. Schließlich ist zu bemerken, daß sich die Entscheidung - im Unterschied zu vorausgegangenen Entscheidungen - jeder bewertenden Beurteilung gegenüber Stimmrechtsverträgen enthält. Das ist offenbar durch die veränderte Wirtschaftslage in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, aber auch durch die Besonderheit des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts bedingt, bei der die Stimmrechtsbindung der damals vom Reichsgericht als notwendig empfundenen Stärkung der Verwaltung gegen Uberfremdungsgefahren von außen diente. In der Folgezeit verfestigte sich die Rechtsprechung auf der Grundlage der soeben genannten Entscheidung. Dabei ist hervorzuheben, daß anfangs die grundsätzliche Frage, ob Abstimmungsvereinbarungen ' Wieweit hierbei die Tatsache von Bedeutung gewesen ist, daß zwischen dem Urteil R G Z 57, 2 0 5 und dem Urteil R G Z 69, 134 die Entscheidung gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten auf den II. Zivilsenat des Reichsgerichts übergegangen war, kann heute nur schwerlich noch beurteilt werden.

3. Zur Methode höchstrichterlicher Rechtsprechung

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überhaupt wirksam sind, gar nicht besonders aufgegriffen 7 , sondern erst allmählich wieder erwähnt und näher erörtert wird 8 . Durch diese Art der Behandlung vollzieht sich die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarungen fast problemlos, ohne daß sich das Reichsgericht genötigt sah, in einer umfassenden rechtlichen Begründung zu den Fragen Stellung zu nehmen, die es selbst in seinen ersten Entscheidungen aufgeworfen hatte. Das hatte zur Folge, daß es der Rechtswissenschaft allein überlassen blieb, die rechtssystematische Einordnung dieses Rechtsprechungsergebnisses vorzunehmen, eine Lösung, die m. E. das rechte Verhältnis zwischen den Aufgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft deutlich macht. Diese Rechtsprechung war m. E. nur dadurch möglich, daß der gesellschaftsrechtliche Senat des Reichsgerichts in der Zeit, in der sich diese Rechtsprechung verfestigte, offenbar genügend Erfahrungen mit der Bedeutung und der tatsächlichen Tragweite der in der Rechtswirklichkeit weit verbreiteten Abstimmungsvereinbarung gemacht hatte und dabei wohl zu der Überzeugung gekommen war, daß solche Vereinbarungen als Mittel des Machtmißbrauchs doch nicht so gefährlich seien, wie es das zunächst angenommen hatte, und daß die inzwischen verfeinerte Rechtsprechung zur Annahme eines Machtmißbrauchs genügend rechtliche Möglichkeiten bot, um unvertretbaren Vorkommnissen auf diesem Gebiet zuvorzukommen'. So gesehen ermöglichte es die inzwischen erworbene Erfahrung des Fachsenats auf diesem Gebiet, die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarungen durch die Rechtsprechung herbeizuführen. Wie hoch eine solche Erfahrung des jeweiligen Fachsenats des Revisionsgerichts einzuschätzen ist, und wie sehr gerade dadurch der einzelne Fachsenat des Revisionsgerichts in die Lage versetzt wird, auf seinem Gebiet einer gesunden Fortentwicklung des Rechts zu dienen, macht im Bereich der Abstimmungsvereinbarungen die Entscheidung des VII. Zivilsenats des Reichsgerichts in RGZ 131, 179 deutlich, eines Senats, der mit gesellschaftsrechtlichen Rechtsfragen nicht befaßt war. Diese Entscheidung zeigt nichts von der nüchternen und pragmatischen Art der seit dem ersten Weltkrieg ergangenen Entscheidungen des II. Zivilsenats, sondern greift auf die stark tönenden 7

Vgl. R G Z 112, 273. RGZ 119, 386; 133, 95; JW 1927, 2992. 9 Typisch dafür ist die Entscheidung RG H R R 1936 Nr. 747, in der mit einer großen Sicherheit dargelegt wird, daß man Mißbräuchen bei Abstimmungsvereinbarungen in ausreichendem Maße auf anderem Wege begegnen könne. Mit dieser Entscheidung ist das Reichsgericht, so hat man den Eindruck, zu der gefestigten Uberzeugung gelangt, daß man der Abstimmungsvereinbarung wegen etwaiger Mißbräuche nicht grundsätzlich selbst die rechtliche Anerkennung zu versagen brauche und daß andererseits diese rechtliche Anerkennung auch geboten sei, weil sie in vielen Fällen schutzwerten Interessen der Abstimmungsberechtigten diene. 8

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Beiträge zur B e d e u t u n g der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Worte der Entscheidung R G Z 57, 205 zurück und läßt sich von einer allgemein gehaltenen Abneigung und einem dadurch genährten Mißtrauen gegenüber einer Abstimmungsvereinbarung leiten. Diese Entscheidung enthält im Grunde genommen nur ein pauschal gehaltenes Unwerturteil und läßt gerade darin die fehlende Erfahrung des erkennenden Senats auf diesem Gebiet deutlich werden. Mit der neuen Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Abstimmungsvereinbarungen, die insoweit den Gegebenheiten in der Rechtswirklichkeit gerecht wurde und sich damit auf den Boden der Tatsachen stellte, trat eine neue Frage in den Vordergrund der Betrachtung, nämlich die Frage, ob eine solche Vereinbarung dem Berechtigten einen im Wege der Klage durchsetzbaren Anspruch auf Erfüllung der Abstimmungsverpflichtung gewähre. Auch bei der Beantwortung dieser Frage zeigte das Reichsgericht eine ausgesprochene Zurückhaltung, nach meinem Empfinden auch hier aus dem Gefühl heraus, daß das Gericht vorläufig noch nicht recht abzusehen vermochte, welche Folgerungen sich aus einem solchen Erfüllungszwang im einzelnen ergeben könnten. Für die Behandlung dieser Frage ist die Entscheidung R G J W 1927, 2992 m. E. besonders kennzeichnend. Denn in dieser Entscheidung treten die Beweggründe sehr deutlich zutage, die für die zurückhaltende Beurteilung des Reichsgerichts in diesem Zusammenhang maßgebend sind. Diese Beweggründe sind weniger solche rein juristischer Art als solche, die von der Sorge bestimmt werden, die Anerkennung eines durchgreifenden Vollstreckungszwangs könne den Charakter der Abstimmung und die vorausgehende Beratung der einzelnen Beschlußgegenstände tiefgreifend verändern, ohne daß im einzelnen abzusehen sei, wohin eine solche Entwicklung führen könne. N u r so läßt sich m. E. erklären, daß das Reichsgericht hier in einer gleichsam idealisierend anmutenden Betrachtung ausführt, in welcher Weise es sich den Verlauf einer Gesellschafterversammlung bis zur eigentlichen Abstimmung vorstellt, und daß es sodann im Anschluß an diese Ausführungen der Sorge Ausdruck gibt, der Ablauf der Versammlung in dem gekennzeichneten Sinn könnte durch die Anerkennung eines durchgreifenden Vollstreckungszwangs beeinträchtigt und sogar wesentlich verändert werden 10 . Der eigentliche Beweggrund für diese Stellungnahme verflüchtigt sich in den folgenden Entscheidungen in zunehmendem Maß und findet sodann nur noch in einer recht allgemein gehaltenen, im Grunde ziemlich nichtssagenden Bemerkung seinen Ausdruck, die selbst einen recht geringen 10 D i e lehrhafte Entscheidung versucht, die Verhältnisse in der Rechtswirklichkeit idealisierend, o f f e n b a r einen erzieherischen Einfluß auf die Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse a u s z u ü b e n , ein Unterfangen, auf das sich der Revisionsrichter nicht einlassen sollte.

3. Zur Methode höchstrichterlicher Rechtsprechung

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juristischen Gehalt aufweist, aber immerhin den anfangs klar herausgestellten Beweggrund für diese Stellungnahme noch erkennen läßt. Es handelt sich dabei um die anschließend immer wiederkehrende Formel, ein solcher Erfüllungszwang stelle einen unzulässigen Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversammlung dar". Dabei muß sich der sachkundige gesellschaftsrechtliche Senat des Reichsgerichts nach meiner Uberzeugung über die Fragwürdigkeit gerade dieser Begründung im klaren gewesen sein, da sie als solche ganz deutlich erkennen läßt, daß sie letzten Endes einen Widerspruch in sich darstellt und auf lange Sicht nicht aufrechterhalten werden konnte 12 . Denn die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung und namentlich die Zubilligung eines Schadenersatzanspruchs wegen Nichterfüllung sowie die Zulässigkeit einer Sicherung solcher Vereinbarungen durch Festsetzung einer Vertragsstrafe 13 sind im Rechtssinn bereits ein Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversammlung; dabei kann unter diesem Gesichtspunkt die unmittelbare oder nur mittelbare Wirkung eines solchen Eingriffs nicht von entscheidendem Gewicht sein. Man wird m. E. aus der Art dieser nur noch formelhaften Begründung den Schluß ziehen müssen, daß das Reichsgericht einfach noch nicht das Wagnis auf sich nehmen zu können glaubte, die letzten Schritte zur vollen Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung zu gehen, und daß es das Gericht daher für richtiger hielt, vorläufig noch auf dem eingeschlagenen Weg stehen zu bleiben. Dabei mag es für diesen Entschluß des Reichsgerichts auch eine Rolle gespielt haben, daß die im Schrifttum lebhaft behandelte Frage nach einer Anerkennung des Vollstreckungszwanges noch keine Klärung gefunden hatte und daß es nach den im Schrifttum vertretenen Ansichten bis dahin noch offen geblieben war, ob ein Vollstreckungszwang unter Anwendung des § 887, des § 888 oder des § 894 Z P O zu geschehen habe14. Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts, die sich zur Begründung ihrer Stellungnahme auf eine formelhafte, in ihrem juristischen Gehalt fragwürdige Begründung zurückgezogen hatte und sodann auf ihr beharrte, erweckt den Eindruck, als ob das Revisionsgericht der lebhaft geführten Auseinandersetzung des Schrifttums über die Frage nach einem unmittelbaren Vollstreckungszwang keine Beachtung geschenkt 11 Vgl. R G Z 133, 90, 95/96; 160, 257, 262; 170, 358, 372. Die in den früheren Entscheidungen R G Z 112, 273; 119, 386 des weiteren angeführten Gesichtspunkte für die vom Reichsgericht vertretene Meinung sind wohl mit Rücksicht auf die Gegenargumente des Schrifttums im Laufe der Zeit fallengelassen worden. 12 In dieser Hinsicht ist namentlich die Entscheidung RGZ 133, 90, 95/96 besonders aufschlußreich. ,J So schon seit R G Z 112, 273, 280 und seit RGZ 133, 90, 95. H Vgl. dazu die Nachweise bei Peters, Ziv. A. 156, 311 ff.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

hat. Dieser Eindruck ist m. E. jedoch falsch. Aus meiner eigenen revisionsrichterlichen Erfahrung möchte ich vielmehr aus diesem auffallenden Schweigen den Schluß ziehen, daß das Reichsgericht aus seiner eigenen Sicht noch nicht die Zeit für gekommen hielt, in eine umfassende und klärende Auseinandersetzung zu den verschiedenen im Schrifttum geäußerten Meinungen zu treten. Denn eine solche Auseinandersetzung setzt eigene Klarheit und Sicherheit über den künftig einzuschlagenden Weg voraus und kann von dem Revisionsgericht sinnvoll erst dann vorgenommen werden, wenn es zu der Uberzeugung gelangt ist, diese Voraussetzungen für seine eigene Meinungsbildung zu besitzen. Das mag für den Außenstehenden eigenartig oder auch unbefriedigend erscheinen, ist aber nach meiner Erfahrung im Interesse einer sich stetig vollziehenden Rechtsentwicklung nicht zu umgehen. Ich meine, daß es doch wohl besser ist, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung sich so lange eine Zurückhaltung bei der Rechtsfortbildung auferlegt, solange sie noch nicht mit der erforderlichen Sicherheit absehen zu können glaubt, ob eine Fortbildung in einem Einzelfall möglich oder sogar geboten ist. Zu dieser Zurückhaltung gehört es gegebenenfalls auch, vorerst von einer umfassenden Auseinandersetzung mit den im Schrifttum geäußerten Gegenstimmen Abstand zu nehmen, weil eine solche Auseinandersetzung allzu leicht abschließenden Charakter annimmt und überdies zu einer — vielleicht nicht oder noch nicht gewollten - Verfestigung der bisher vertretenen Rechtsprechung für die Zukunft führt.

III. Im Zuge dieser ganzen, viele Jahrzehnte währenden Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 29. Mai 1967' 5 zu verstehen, die nunmehr einen gewissen Abschluß bei der rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarungen für die Rechtsprechung gebracht hat. Für das rechte Verständnis dieser Entscheidung sind m. E. mehrere Gesichtspunkte von Bedeutung. Die erste Frage war die, ob an einer rechtlichen Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung, so wie sie sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts durchgesetzt hatte, festgehalten werden sollte. Die Beantwortung dieser Frage erschien dem Senat verhältnismäßig leicht. In der zurückliegenden Zeit waren keinerlei durchschlagende Gründe hervorgetreten, einer solchen im Wirtschaftsleben weit verbreiteten und allgemein anerkannten Vereinbarung die rechtliche Anerkennung zu versagen. Sie hatte sich in den Jahrzehnten dieses Jahrhunderts so sehr eingebürgert und war so sehr ein fester Bestandteil unseres Rechtslebens geworden, daß sogar die Frage hätte aufgeworfen werden 15

B G H Z 48, 163.

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können, ob nicht der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung überhaupt gebunden war, dieser in den beteiligten Wirtschaftskreisen allgemein vertretenen, bis dahin auch rechtlich anerkannten Uberzeugung Rechnung zu tragen 16 . Jedenfalls lag aus den zurückliegenden Jahren ein so umfangreiches Erfahrungsmaterial über die Abstimmungsvereinbarungen vor, daß es für den erkennenden Senat ohne besonderes Wagnis möglich war, die rechtliche Anerkennung dieser Vereinbarungen zu bestätigen. Diese rechtliche Anerkennung findet ihre Grundlage in der den Vertragschließenden eingeräumten Vertragsfreiheit und setzt damit voraus, daß ihr irgendwelche Besonderheiten der gesellschaftsrechtlichen Zusammenschlüsse nicht entgegenstehen. Denn nur unter diesem Gesichtspunkt könnte die Vertragsfreiheit irgendwelchen Beschränkungen unterliegen, die für die Abstimmungsvereinbarung von rechtlicher Bedeutung sein würden. Solche Beschränkungen sind hier jedoch nicht zu erkennen, im Gegenteil, die Erfahrung aus der zurückliegenden Zeit hat gezeigt, daß für die Abstimmungsvereinbarung durchaus triftige sachliche und wirtschaftliche Gründe angeführt werden können 17 . Bei dieser Rechtslage muß für die Frage nach der rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarungen im Rahmen der Zwangsvollstrekkung von dem allgemeinen Grundsatz ausgegangen werden, daß rechtlich anerkannte Vereinbarungen auch einem Erfüllungszwang im Wege der Zwangsvollstreckung zugänglich sind und daß für besondere Ausnahmen von diesem Grundsatz, wie sie den sogenannten Naturalverbindlichkeiten eigentümlich sind, hier mangels hinreichender rechtlicher Anknüpfungspunkte kein Raum ist. Das nötigt schon nach allgemeinen rechtlichen Grundsätzen zu der Anerkennung eines Erfüllungszwangs auch bei der Abstimmungsvereinbarung. Unter diesem Gesichtspunkt wird der innere Widerspruch deutlich, unter dem die abweichende Stellungnahme und Begründung des Reichsgerichts zu dieser Frage leiden. Denn wenn, wie das Reichsgericht gemeint hatte, ein Eingriff in die freie Willensbestimmung der Gesellschafterversammlung nicht statthaft und deshalb bei der Abstimmungsvereinbarung ein Erfüllungszwang im Wege der Zwangsvollstreckung nicht zulässig ist18, dann richtet sich diese Begründung gegen die rechtliche Anerkennung der Abstimmungsvereinbarung selbst. Denn diese rechtliche Anerkennung stellt in jedem Fall einen irgendwie gearteten äußeren Eingriff in die freie Willensbildung der Gesellschafterversamm16 Vgl. insoweit auch die Regelung in § 136 Abs. 3 A k t G , aus der entnommen werden kann, daß Abstimmungsvereinbarungen, soweit sie nicht einen in dieser Bestimmung besonders aufgeführten Fall erfassen, rechtlich wirksam sind. 17 So schon R G Z 133, 90, 96; R G H R R 1936 N r . 747.

'» Vgl. zuletzt R G Z 170, 358, 372.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

lung dar, weil sie eine Sanktionswirkung auslöst, die auf die Willensbildung der verpflichteten Gesellschafter nicht ohne Einfluß sein kann, und weil das Reichsgericht diese Sanktion zudem durch die Zubilligung von Schadenersatzansprüchen und Vertragsstrafen noch besonders betont hatte. In Wirklichkeit hatte sich das Reichsgericht bei seiner widersprüchlichen Begründung in einer wirklichkeitsfremden Betrachtung selbst verfangen. Es hat sich nicht zu der Erkenntnis durchringen können, daß seine Annahme von der freien Willensbildung in der Gesellschafterversammlung sich nicht mit den praktischen Erfahrungen und Gepflogenheiten in der Rechtswirklichkeit vereinbaren ließ und daß deshalb seine Annahme ein wirklichkeitsfremdes Postulat darstellte, dem nur bestimmte, aber der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstellungen zugrunde lagen. Bei dieser Sachlage mußte der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung zur Anerkennung auch eines positiven Erfüllungszwangs bei der Abstimmungsvereinbarung gelangen und damit der rechtlichen Anerkennung solcher Vereinbarungen die ihr gebührende rechtliche Wirksamkeit verleihen. Schwieriger war die sich daran anknüpfende Frage, in welcher rechtlichen Form dieser positive Erfüllungszwang anzuerkennen sei. Bei der Beantwortung dieser Frage boten sich die drei im Schrifttum bereits eingehend erörterten und geprüften Vollstreckungsmöglichkeiten an, nämlich der Erfüllungszwang nach §888 ZPO, der nach §887 Z P O sowie der nach § 894 Z P O . Bei der Auswahl unter diesen drei hier in Betracht kommenden Möglichkeiten hat sich der Bundesgerichtshof für den Erfüllungszwang nach der Vorschrift des § 894 Z P O entschieden. Diese Vorschrift enthält in ihrer rechtlichen Ausgestaltung die klarste und einfachste Regelung des Vollstreckungszwangs, weil durch sie das mit der Vollstreckung bezweckte Ziel unmittelbar erreicht wird. Die Vorschriften der §§ 888, 887 Z P O geben demgegenüber eine Lösung, die nur mittelbar und damit in einer weniger wirksamen Weise dem Vollstreckungszwang genügen kann, weil in ihrem Anwendungsbereich eine andere Gestaltung nicht möglich ist. Bei dieser Sachlage lag die Entscheidung für den Erfüllungszwang nach § 894 Z P O m. E. nahe, ja sie war im Interesse eines wirksamen Vollstreckungsschutzes geboten, wenn sich keine durchschlagenden rechtlichen Bedenken gegen eine Anwendung des §894 Z P O bei der Abstimmungsvereinbarung ergeben. Diese Bedenken könnten, wie auch im Schrifttum dargelegt wird, lediglich aus den Besonderheiten des Abstimmungsvorgangs, und hier wohl auch nur bei einer Abstimmung in einer Gesellschafterversammlung, hergeleitet werden. Solche Bedenken gründen sich letzten Endes auf der idealisierenden Betrachtungsweise des Reichsgerichts und damit auf einer Beurteilung, die nur schwerlich der Rechtswirklichkeit entspricht. Der Bundes-

3. Zur Methode höchstrichterlicher Rechtsprechung

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gerichtshof hat geglaubt, diesen Bedenken keine entscheidende Bedeutung beimessen zu können, weil sie wohl auf einem Restbestand des alten Mißtrauens gegenüber der Abstimmungsvereinbarung beruhen, das in der höchstrichterlichen Rechtsprechung erst in einer langen Entwicklung abgebaut werden konnte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Anerkennung eines Vollstreckungszwangs nach § 894 Z P O für die Abstimmungsvereinbarung wohl als die abschließende Lösung dieser langen Entwicklung, die zu der Institutionalisierung einer voll wirksamen und vollstreckungsfähigen Abstimmungsvereinbarung in unserem Rechtsleben geführt hat. Für manchen Kritiker mag dabei vielleicht ein Rest von Zweifel bleiben, ob sich diese Lösung auch im Rechtsleben praktisch bewähren wird. Das wird sich erst in Zukunft mit Sicherheit beurteilen lassen. Einen solchen Rest von Unsicherheit wird die Rechtsprechung bei der Rechtsfortbildung wohl stets in Kauf nehmen müssen; der Rechtsprechung erwächst daraus die besondere Verpflichtung, die Bewährung ihrer eigenen Entscheidung im praktischen Rechtsleben kritisch im Auge zu behalten.

IV. Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rechtlichen Behandlung der Abstimmungsvereinbarung vermittelt m . E . ein recht anschauliches Bild davon, in welcher Weise die Rechtsprechung zur Anerkennung neuer Rechtsfiguren gelangt, welche Beweggründe sie dabei im einzelnen leiten können und wie sie langsam Mißtrauen, Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber einer vorerst noch nicht zu übersehenden Entwicklung abbaut. Dabei sind Vorsicht und Mißtrauen m. E. durchaus gerechtfertigte Beweggründe einer sich zunächst zurückhaltend zeigenden Rechtsprechung, wenn sie sich anschickt, rechtliches Neuland zu betreten. In diesen Fällen hat es sich nach meiner Erfahrung bewährt, wenn die Rechtsprechung ohne besondere Erörterung der rechtlichen Problematik mit dem Versuch beginnt, die im Einzelfall sinnvolle und gerechte Entscheidung zu finden und die Begründung möglichst einfach und anspruchslos zu gestalten 19 . Weiterhin lehrt die Entwicklung, daß Entscheidungen, die belehrend auf die Gestaltung der Rechtswirklichkeit einzuwirken suchen, ihre Aufgabe verfehlen. In dieser Hinsicht beschränkt sich die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung darauf, über ihre Beachtung gesetzlicher Verbote oder über die Berücksichtigung schutzwerter Interessen der etwa Betroffenen zu wachen. Nur in diesem Bereich sollte die Rechtsprechung etwaigen Übergriffen oder Mißbräuchen entgegentreten und insoweit auf die " In diesem Sinne halte ich die Entscheidung R G Z 107, 67 für vorbildlich.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

tatsächlichen Verhältnisse in der Rechtswirklichkeit Einfluß nehmen 20 . A m Ende wird die Rechtsprechung die Aufgabe, eine eingeleitete Rechtentwicklung in einer möglichst klaren und einfachen Form zum Abschluß zu bringen, nicht aus dem Auge verlieren dürfen; das wird nach aller Erfahrung ohne ein gewisses, freilich möglichst gering zu haltendes Wagnis nicht möglich sein21. Ich habe dieses Wagnis bei einer anderen Rechtsfortbildung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, nämlich bei der rechtlichen Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft und ihrer näheren rechtlichen Ausgestaltung, in den ersten zehn Jahren seit Bestehen des Bundesgerichtshofes als Revisionsrichter wiederholt empfunden, und von einem solchen Wagnis wird sich der Revisionsrichter nach meiner Uberzeugung niemals völlig frei halten können.

20 21

In diesem Sinne halte ich die Entscheidung R G J W 1927, 2992 für verfehlt. In diesem Sinne muß m. E. die Entscheidung B G H Z 48, 163 verstanden werden.

4. Das Entscheidungsmaterial in seiner Bedeutung für die höchstrichterliche Rechtsprechung"" Für die Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist das Entscheidungsmaterial, das dieser von den Prozeßparteien vorgelegt wird, in mancherlei Hinsicht und unter verschiedenen Gesichtspunkten von großer Bedeutung. Dabei ist zunächst hervorzuheben, daß dieses Entscheidungsmaterial, wie etwa ein Rückblick auf die Zeit seit den großen privatrechtlichen Kodifikationen am Beginn dieses Jahrhunderts deutlich macht, einem ständigen Wechsel unterliegt, der seinerseits den Wandel unserer wirtschaftlichen, sozialen und technischen Verhältnisse, aber auch unserer rechtlichen Auffassungen widerspiegelt. Sodann spielt in diesem Zusammenhang für die Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Tatsache eine gewichtige Rolle, daß das Revisionsgericht keinen Einfluß auf die Auswahl des ihm vorgelegten Entscheidungsmaterials nehmen kann. Das gilt sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht; in positiver Hinsicht insofern, als das Revisionsgericht wie jedes Gericht innerhalb einer angemessenen Zeit einem Entscheidungszwang unterliegt, auch wenn das Revisionsgericht es aus sachlichen Erwägungen für wenig glücklich hält, die ihm vorgelegte Rechtsfrage schon jetzt oder überhaupt zu entscheiden. In negativer Hinsicht wirkt sich diese fehlende Auswahlmöglichkeit namentlich darin aus, daß das Gericht unter Umständen nicht in der Lage ist, eine einmal geäußerte Rechtsansicht zu ergänzen, zu modifizieren oder auch aufzugeben, weil ihm ein dafür geeigneter Rechtsfall nicht wieder zur Entscheidung vorgelegt wird. Diese fehlende Auswahlmöglichkeit begründet einen wesentlichen Unterschied zwischen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft, die bei der Beurteilung niemals außer Acht gelassen werden sollte. Die Vertreter der Rechtswissenschaft haben diese freie Auswahlmöglichkeit in jeder Hinsicht. Sie können das Thema ihrer Arbeiten entsprechend ihrer Neigung und ihrem Wissen frei bestimmen und es jederzeit wieder aufgreifen, wenn sie es zur Ergänzung oder Korrektur ihrer bereits geäußerten Meinung für richtig oder für notwendig halten. Auch unterliegen die Vertreter der Rechtswissenschaft nicht einem irgendwie gearteten Zwang, sich zu bestimmten Rechtsfragen zu äußern, wenn sie die Zeit zu einer solchen * A u s : Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Verhandlungen der Fachgruppe für Grundlagenforschung anläßlich der deutsch-österreichischen Tagung für Rechtsvergleichung in München 1975. Mit Beiträgen von Robert Fischer u. a., Arbeiten zur Rechtsvergleichung Band 80. - Metzner Verlag G m b H , Frankfurt a. M., 1976, 11-22.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Äußerung noch nicht für gekommen halten oder einen anderen Grund für ihre Zurückhaltung haben. Wie sich die Tatsache, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung keinen Einfluß auf die Auswahl des ihr vorgelegten Entscheidungsmaterials nehmen kann, auf die Rechtsprechung selbst auswirkt, möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen. Der Große Senat für Strafsachen hat im Jahre 1954 den Tatbestand einer schweren Kuppelei bejaht, wenn die Eltern den geschlechtlichen Verkehr ihrer verlobten Kinder in der elterlichen Wohnung dulden 1 . Diese Entscheidung ist seinerzeit im Schrifttum und später auch in der breiten Öffentlichkeit außerordentlich stark angegriffen worden und war, wie ich hinzufügen möchte, von Anfang an auch unter den Richtern des Bundesgerichtshofes sehr umstritten. Seit Ende der 50er Jahre war, wie ich weiß, in einigen Strafsenaten der Wunsch lebendig, den Großen Senat für Strafsachen nochmals mit dieser Frage zu befassen, jedoch war eine solche erneute Vorlage an den Großen Senat nicht möglich, weil ein entsprechender Sachverhalt nicht mehr zur Entscheidung vor einen dieser Strafsenate kam. So blieb es denn bis zur Gesetzesänderung bei der formal nicht unbegründeten Meinung, daß der Bundesgerichtshof seine Auffassung, in dem genannten Fall liege schwere Kuppelei vor, beibehalten habe, weil er diese zwischenzeitlich nicht aufgegeben hatte, obwohl, wie ich weiß, die Mehrheit der Richter seit langem anderer Meinung war. Den anderen Fall, den ich hier anführen möchte, habe ich als Berichterstatter selbst unmittelbar erlebt. Es handelt sich um die Entscheidung des II. Zivilsenats aus dem Jahre 1956, in der dieser zur Erbfolge innerhalb einer Offenen Handelsgesellschaft, also zu den schwierigen Rechtsfragen aus dem Grenzgebiet von Erbrecht und Gesellschaftsrecht Stellung genommen hat 2 . Ich entsinne noch aus der Beratung, daß es dem Senat bei diesem Urteil entscheidend darauf ankam, der in der gesellschaftsrechtlichen Vertragspraxis aufkommenden Tendenz zur Ausbildung eines Höferechts im Bereich der mittelständigen Wirtschaft - ein Sohn als Nachfolger des Vaters im Geschäft zu Lasten von Pflichtteilsansprüchen der übrigen Kinder - entgegenzutreten, und daß der Senat glaubte, eine nähere Konkretisierung dieser für ihn entscheidenden Auffassung in dieser oder jener Richtung späteren Entscheidungen überlassen zu können. Der Senat ließ sich dabei von der Uberzeugung leiten, er werde in den kommenden Jahren noch oft Gelegenheit erhalten, zu den Rechtsfragen aus dem Grenzgebiet zwischen Erbrecht und Gesellschaftsrecht Stellung zu nehmen. Es kam jedoch, und wie ich gestehe für mich überraschend, anders. Obwohl in 1 2

BGHSt. 6, 46 ff. B G H Z 22, 90, 95 ff.

4. Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung

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der Zwischenzeit an Hand dieser Entscheidung geradezu eine Flut von wissenschaftlichen Äußerungen veröffentlicht worden ist3, die auch für die Rechtsprechung manche Anregung vermittelte und vielleicht auch Anlaß zu einigen Korrekturen, Ergänzungen oder Klarstellungen gab, hat der II. Zivilsenat in der Zwischenzeit, und es sind seitdem fast 20 Jahre vergangen, nicht mehr die Gelegenheit erhalten, zu seiner Entscheidung aus dem Jahre 1956 an Hand der inzwischen veröffentlichten wissenschaftlichen Äußerungen Stellung zu nehmen. Die Art des Entscheidungsmaterials, wie es dem Revisionsgericht vorgelegt wird, ist noch unter einem anderen Gesichtspunkt für die höchstrichterliche Rechtsprechung selbst von Bedeutung. Im Rahmen der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung macht es einen großen Unterschied, ob dem Revisionsgericht auf einem bestimmten Rechtsgebiet im Laufe der Jahre zahlreiche und vor allem tatsächlich verschieden gelagerte Sachverhalte zur Entscheidung vorgelegt werden oder ob es plötzlich in einem einzelnen Fall zu einer wichtigen Frage an Hand neuer Erkenntnisse grundlegend Stellung nehmen muß. Aus revisionsrichterlicher Sicht ist die Rechtsfortbildung an Hand eines umfangreichen Entscheidungsmaterials ungleich sicherer; sie ermöglicht eine vorsichtig tastende, am Judiz ausgerichtete Rechtsanwendung, die auch bei gewissen Unebenheiten Korrekturen anzubringen vermag und zuweilen auch für den Revisionsrichter unbewußt einer Rechtsentwicklung ohne starke Zäsuren dienen kann. Demgegenüber besteht bei einer einzelnen Entscheidung, bei der das Revisionsgericht zu einer bewußten Rechtsfortbildung veranlaßt oder auch genötigt wird, immer die latente Gefahr, daß diese Entscheidung zu weit greift, in eine falsche Richtung weist oder auch eine zu große Zurückhaltung übt und von der ihr gegebenen Möglichkeit nicht den gebotenen Gebrauch macht. Fehlentscheidungen sind nach meiner revisionsrichterlichen Erfahrung in diesem Bereich eher möglich als in dem anderen Bereich, in dem außerdem noch die Gelegenheit zu Korrekturen oder Ergänzungen meist gegeben sein wird. Auch in dieser Hinsicht ist also das Entscheidungsmaterial, wie es dem Revisionsgericht vorgelegt wird, für die Ergebnisse und, wie ich meine, auch für die Beurteilung seiner Rechtsprechung von Bedeutung. Sodann erhält die Tatsache, ob dem Revisionsgericht auf einem bestimmten Sach- und Rechtsgebiet eine Fülle von Entscheidungsmaterial vorliegt, auch dadurch Gewicht, daß das Revisionsgericht bei einem geringen Entscheidungsmaterial nicht die notwendigen Sachkenntnisse auf diesem Gebiet erlangen kann und sich sodann erfahrungsgemäß, etwa im Anwendungsbereich unbestimmter Rechtsbegriffe, bei der eige5

Vgl. statt anderer die Nachweise bei Ulmer GroßKomm H G B 3. Aufl. §139 vor Anm. 1.

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nen Bewertung des konkreten Einzelfalles zu stark zurückhält und manches als Tatfrage ansieht, was bei entsprechender Sachkunde eigener Beurteilung zugänglich sein würde 4 . Diese wenigen Hinweise darauf, welche wichtige Rolle das dem Revisionsgericht vorgelegte Entscheidungsmaterial für die Beurteilung seiner Rechtsprechung spielt, mögen vorerst genügen. Sie machen m. E. hinreichend deutlich, wie sehr es sich lohnt, ein besonderes Augenmerk auf dieses Entscheidungsmaterial zu richten und es auch in seinem Wandel während der zurückliegenden Zeit näher zu analysieren. Die letzten 25 Jahre seit Errichtung des Bundesgerichtshofes zeigen erhebliche Schwankungen beim Anfall von Rechtsstreitigkeiten auf verschiedenen Rechtsgebieten, während auf anderen Rechtsgebieten ein zahlenmäßig ziemlich gleichmäßiger Anfall zu beobachten ist. Ein weit über das Normale hinausgehender und zwar stetiger Anstieg ist während dieser Zeit bei den Werkverträgen (also den Bauprozessen) zu beobachten. Hier ist der prozentuale Anteil dieser Rechtsstreitigkeiten von 2 °/o der Eingänge im Jahre 1951 auf über 1 0 % gestiegen. Damit liegt in diesem Bereich dem zuständigen Senat jetzt ein außerordentlich umfangreiches Entscheidungsmaterial vor, das dem Senat auch eine entsprechend hohe Sachkunde auf dem Gebiet des Bauwesens vermittelt und sich in den Entscheidungen des Senats nach meinem Eindruck entsprechend widerspiegelt. In einem inneren Zusammenhang mit dem starken Ansteigen der Bauprozesse während der letzten 25 Jahre steht das Ansteigen der Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet der Grundstücksverträge. Hier hat sich der prozentuale Anteil von zunächst 5 % auf jetzt knapp 10 % erhöht. Der Grund für die zahlenmäßige Entwicklung in diesen beiden Bereichen liegt auf der Hand; sie spiegelt die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet des Bauwesens während der letzten 25 Jahre getreulich wider. Eine umgekehrte Entwicklung ist bei dem Eingang der Amtspflichtverletzungen zu beobachten. Auf diese Rechtsstreitigkeiten entfiel in den ersten Jahren ein prozentualer Anteil von 11 % , der sodann in der Mitte der 60er Jahre auf etwa 4 % zurückging und jetzt nur noch knapp 2,5 % ausmacht. Diese Entwicklung läßt wohl eine erfreuliche Stabilisierung der Verhältnisse in der Verwaltung erkennen. Bei den etwas turbulenten Verhältnissen in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch, in denen die Verwaltung, ohne zu improvisieren, vielfach nicht auskam, häuften sich offenbar auch die Amptspflichtverletzungen. Sie gingen dann immer mehr zurück, als die Verwaltungen in den verschiedenen Bereichen wieder neu aufgebaut worden waren und die Kenntnisse und Erfahrungen bei den Verwaltungsbeamten sich wieder festigten. Auch mag der Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit 4

Robert Fischer, Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe S. 62 [hier S. 20],

4. Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung

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in dieser Hinsicht eine segensreiche Wirkung gehabt haben. Bei den Rechtsstreitigkeiten aus Verkehrsunfällen ist der Anstieg von 7 % im Jahre 1951 auf etwa 9 % in der zweiten Hälfte der 50er Jahre und sodann ein fortlaufender Rückgang zu beobachten, der sich in den letzten Jahren auf etwa 5 % stabilisiert hat. Das ist im Grunde eine erfreuliche Entwicklung, zumal wenn man die starke Zunahme des Verkehrs auf unseren Straßen berücksichtigt. Diese Entwicklung mag damit zusammenhängen, daß auf dem Gebiet des Verkehrsrechts nur noch wenige für die Praxis wichtige Streitfragen bestehen und demgemäß der Anfall von Leitsatzentscheidungen zum Straßenverkehrsgesetz und zur Straßenverkehrsordnung in der zweiten Hälfte der Berichtszeit um mehr als 50 % gegenüber den ersten 12 Jahren (von 144 auf 67) zurückgegangen ist. Der rechtliche Schwerpunkt in diesem Bereich hat sich jetzt auf die Schadensberechnung, auf die Anrechnung von Leistungen der Sozialversicherungsträger sowie auf Ersatzpflichten bei Körperverletzungen oder Tötung von Hausfrauen verlagert. Im Bereich der versicherungsrechtlichen Streitigkeiten ist bis zur Mitte der 60er Jahre ein leichtes, aber stetiges Ansteigen der Eingänge zu bemerken, die sich seitdem auf gleicher Höhe gehalten haben. Bei anderen Rechtsgebieten, etwa dem Miet- und Pachtrecht, dem Recht der unerlaubten Handlungen (außer den Verkehrsunfällen), dem Erbrecht, dem Gesellschaftsrecht, aber auch dem gewerblichen Rechtsschutz ist ein ziemlich gleichbleibender Anteil an Eingängen in den zurückliegenden 25 Jahren festzustellen, während auf dem Gebiet des Kaufrechts in den einzelnen Jahren starke Schwankungen zwischen 13 % und 5 % zu beobachten sind, ohne daß hier ein bestimmter Trend in dieser oder jener Richtung zu beobachten wäre. Einige absolute Zahlen mögen die oben gemachten Angaben noch ergänzen, um das Bild über die zahlenmäßige Entwicklung der Eingänge zu vervollständigen. Die Zahl der Scheck- und Wechselsachen hat in den zurückliegenden Jahren jährlich 10 bis 20 betragen, während die Rechtsstreitigkeiten über Kontokorrentverhältnisse - abgesehen von den ersten Jahren, in denen die Zahl erheblich höher lag - im Durchschnitt jährlich nur 5 Eingänge und in den letzten Jahren noch weniger Eingänge ausmachten. Diese Zahlen sind bisher im allgemeinen nicht hinreichend beobachtet worden, obwohl sie bei der Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf diesen Gebieten m. E. nicht außer Acht gelassen werden können. Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, welche Faktoren es sind, die den Anfall des Entscheidungsmaterials bei dem Revisionsgericht beeinflussen und welche Strukturveränderungen dadurch im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte in einzelnen Bereichen eingetreten sind. Als ersten Faktor dieser Art möchte ich den Erlaß neuer Gesetze nennen. Es liegt auf der Hand, daß der Erlaß eines neuen Gesetzes das

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Bedürfnis nach Rechtseinheit und Rechtssicherheit in einem besonderen Maß weckt. Mit jedem neuen Gesetz ist die Notwendigkeit einer Klarstellung von Auslegungszweifeln verbunden, die zu einer der wesentlichen Aufgaben des Revisionsgerichts im Dienst von Rechtseinheit und Rechtssicherheit gehört. Es ist daher nicht verwunderlich, daß je nach Bedeutung des in Frage stehenden neuen Gesetzes der Umfang des anfallenden Entscheidungsmaterials steigt. Dabei läßt sich nach meiner Erfahrung aus dem Umstand, wie lange das Ansteigen der Eingänge in diesem Bereich anhält, in manchen Fällen ein Schluß auf die Qualität des betreffenden Gesetzes ziehen. Als typisches Beispiel für ein Gesetz, das immer wieder zu rechtlichen Zweifeln Anlaß gibt und die Parteien immer wieder zu Prozessen vor dem Bundesgerichtshof herausfordert, ist das Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbuches (Recht der Handelsvertreter) vom 6. Juni 1953 zu nennen. Allein zu der Einzelbestimmung über die Ermittlung des Ausgleichsanspruchs sind bis zum Jahre 1974 47 Leitsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofes ergangen und die Zahl der jährlichen Eingänge ist in diesem Bereich immer erstaunlich hoch geblieben. Als Gegenbeispiel sind hier, ich erwähnte es bereits, die Straßenverkehrsgesetze zu nennen, die sich aus der Sicht des Revisionsgerichts bei der Rechtsanwendung bewährt und trotz zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen immer weniger zu höchstrichterlichen Leitsatzentscheidungen Anlaß gegeben haben. Ein Sonderfall in diesem Zusammenhang stellten die Umstellungsgesetze anläßlich der Währungsreform im Jahre 1948 dar. Diese Gesetze haben alle Zivilsenate des Bundesgerichtshofes in der Anfangszeit ungemein stark beschäftigt. Das lag daran, daß diese Gesetze aus währungspolitischen Gründen nur eine ganz pauschale Regelung geben konnten, weil man die währungspolitische Entwicklung bei Erlaß der Gesetze schlechterdings noch nicht absehen konnte. Ich würde es daher nicht für richtig halten, aus der Tatsache, daß diese Gesetze zu sehr vielen Zweifeln bei der Auslegung Anlaß gaben, den Schluß auf eine mangelhafte Qualität dieser Gesetze zu ziehen. Im Gegenteil, hier war die Zurückhaltung des Gesetzgebers mit seinen sehr allgemein gefaßten Bestimmungen das geeignete Mittel, um den wirtschaftlichen Erfolg der Währungsreform nicht zu gefährden, indem man es den Gerichten überließ, entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung die einzelnen Bestimmungen der Gesetze näher zu konkretisieren. Das Entscheidungsmaterial, das seinerzeit dem Bundesgerichtshof vorgelegt wurde, vermittelt darüber ein anschauliches und eindrucksvolles Bild 5 . 5 Vgl. dazu etwa die bei § 16 U m s t G , bei § 18 U m s t G und bei § 2 1 U m s t G veröffentlichten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes im Nachschlagewerk Lindenmaier-Möhring.

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Als zweiten Faktor, der den Anfall des Entscheidungsmaterials beim Revisionsgericht wesentlich bestimmt, ist die Herausbildung neuer Vertragstypen in der Wirtschaft durch die Kautelarjurisprudenz zu nennen. In diesem Bereich zeigt sich meist als besonderes Problem, daß die Kautelarjurisprudenz in der Regel im Auftrag einer Vertragsseite einen neuen Vertragstyp entwickelt und dabei die Interessen ihres Auftraggebers bei der Vertragsgestaltung zu einseitig berücksichtigt. Beispielhaft für Fälle dieser Art mag aus jüngster Vergangenheit der Reise-Veranstalter-Vertrag genannt werden, der in den letzten Jahren den zuständigen Senat des Bundesgerichtshofes wiederholt beschäftigt hat 6 . Die höchstrichterliche Rechtsprechung vermag in einem solchen Falle bei einem entsprechenden Anfall von Entscheidungsmaterial in befriedigender Form ausgewogene Vertragsregeln aufzustellen, die den Interessen beider Vertragsparteien Rechnung tragen und als Richtschnur für neue Vertragsabschlüsse benutzt werden können. Im Hinblick auf die bisher vorliegenden Entscheidungen zu diesem Vertragstyp, bei dem die Entwicklung nach meinem Eindruck recht günstig verlaufen ist, könnte ich mir vorstellen, daß in absehbarer Zeit in diesem Bereich eine gewisse Beruhigung eintreten wird und die herausgebildeten Vertragsregeln eine vernünftige Vertragsausgestaltung auf diesem Gebiet sicherstellen. Das wird dann auch dazu führen, daß der Anfall von Prozessen in diesem Bereich wieder zurückgeht. Als weiteres Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhang den Abzahlungskauf anführen. Hier war die Kautelarjurisprudenz in den zurückliegenden Jahren aus wirtschaftlich häufig verständlichen Erwägungen zu einer Aufspaltung des Vertrages in den eigentlichen Kaufvertrag und einen Finanzierungsvertrag durch Einschaltung eines Kreditinstituts gelangt. Diese Aufspaltung hat die Rechtsprechung zu der Entscheidung genötigt, ob dadurch die Anwendung der Schutzvorschriften des Abzahlungsgesetzes abgewendet werden kann. Der Bundesgerichtshof hat sich vornehmlich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in zahlreichen Entscheidungen mit jeweils unterschiedlichen Sachverhalten mit diesem Problem befaßt und die Anwendung des Abzahlungsgesetzes auch in diesen Fällen im wesentlichen bejaht 7 . Seitdem ist es in diesem Bereich wieder ruhig geworden und die Rechtssicherheit wieder hergestellt worden. Anders liegt es bei Verträgen über Fernschulkurse der verschiedensten Art, die heute die Praxis der Gerichte beschäftigen und bei denen mit Rücksicht auf die Vertragsausgestaltung häufig ein besonderes Schutzbedürfnis für die Kursusteilnehmer besteht. Nach meiner Kenntnis hat der Bundesgerichtshof noch in keinem dieser Fälle selbst eine Entscheidung getroffen, obwohl aus 6 7

B G H Z 60, 14; 61, 275; 63, 98; LM N r . 2 9 zu § 6 3 1 BGB. B G H Z 47, 207; 2 1 7 ; 224; 233; 2 4 1 ; 248; 253.

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diesem Bereich eine Reihe von Oberlandesgerichtsurteilen vorliegt und hier durch Zulassung der Revision eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes hätte ermöglicht werden können 8 . Ob das im jeweiligen Einzelfall an der Zulassungspraxis der Oberlandesgerichte gelegen hat, kann ich nicht sagen. Möglich ist auch, zumal in den mir bekannten Fällen die Oberlandesgerichte bis auf einen Fall gegen die Fernschulunternehmen entschieden haben, daß die unterlegene Partei mit Vorbedacht von der ihr gegebenen Möglichkeit zur Einlegung der Revision keinen Gebrauch gemacht hat, um es vorerst noch nicht zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes mit der ihr anhaftenden Signalwirkung für die Rechtsprechung der Landesgerichte kommen zu lassen. Denn es ist eine nicht ganz seltene Beobachtung, die wir am Bundesgerichtshof machen können, daß es die beteiligten Wirtschaftskreise bei bestimmten Rechtsfragen, etwa auf dem Gebiet des Kartellrechts und des Urheberrechts oder anderswo, vorziehen, lieber eine für sie nachteilige Entscheidung der Vorinstanz hinzunehmen, als den Bundesgerichtshof anzurufen und eine höchstrichterliche Entscheidung herbeizuführen. Einen besonders gelagerten Fall, in dem die Herausbildung eines neuen Vertragstyps durch die Kautelarjurisprudenz eine umfangreiche höchstrichterliche Rechtsprechung herbeigeführt hat, stellt das Rechtsinstitut der GmbH & Co. dar. Obwohl dieses Rechtsinstitut schon seit langer Zeit, und zwar unmittelbar vor und nach dem ersten Weltkrieg durch die Gerichtspraxis anerkannt worden war, hat dieses Institut eine lange Zeit im Dornröschenschlaf gelegen. Erst im Verlauf der letzten 20 Jahre hat die GmbH & Co. ihren Siegeslauf angetreten, weil sie von der Kautelarjurisprudenz gewissermaßen neu entdeckt wurde und ihre vielfachen Vorteile, nicht etwa nur steuerlicher Art, gegenüber den anderen Gesellschaftstypen erkannt wurden. Die Fülle des hier anfallenden Rechtsprechungsmaterials ist noch gar nicht abzusehen, weil dieser Vertragstyp nach allen Seiten sehr komplexe Rechtsfragen aufwirft. Aber auch bei der GmbH & Co. bestätigt sich eine Erfahrung, die die Rechtsprechung bei der Herausbildung neuer Vertragstypen durch die Kautelarjurisprudenz immer wieder gemacht hat, nämlich die Erfahrung, daß es in diesem Bereich die vornehmliche Aufgabe der Rechtsprechung ist, die schutzwerten Interessen solcher Verkehrskreise entsprechend zu berücksichtigen, denen die Kautelarjurisprudenz im Hinblick auf die Interessen ihrer Auftraggeber nicht die notwendige Aufmerksamkeit zugewendet hat. Das sind bei der GmbH & Co. nach den vorliegenden Erfahrungen das Klarstellungsinteresse der Öffentlichkeit, 8 O L G Celle, M D R 1970, 841; O L G Hamm, M D R 1970, 841; O L G Celle, NdsRpfl. 1970, 13; O L G Stuttgart, M D R 1971, 216.

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das Sicherungsinteresse der Gläubiger und gegebenenfalls auch das Interesse von solchen Gesellschaftern, die nicht unmittelbar an der Geschäftsführung beteiligt sind. Bei dieser Sachlage wird es bis zu einer gesetzlichen Regelung dieses Vertragstyps, die im Augenblick noch gar nicht abzusehen ist, Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung sein, durch Einzelfallentscheidungen zu einem ausgewogenen Interessenausgleich in diesem Bereich zu kommen. Das bedeutet zugleich, daß sich die Rechtsprechung noch längere Zeit in einem besonderen Maß mit der G m b H & Co. zu befassen haben wird. D e r Anfall von Entscheidungsmaterial in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird des weiteren in einem wesentlichen Umfang durch die wirtschaftlichen, soziologischen und technischen Verhältnisse und ihren Wandel bestimmt. Ich erwähnte bereits, daß sich der ungemein große Aufschwung der Bauwirtschaft nach der Währungsreform in einem Anschwellen der Bauprozesse bis hin zum Bundesgerichtshof niedergeschlagen hat. Die Eingänge in Rechtsstreitigkeiten aus Werkverträgen, die bis zum Jahre 1955 beim Bundesgerichtshof jährlich noch unter 40 gelegen haben, sind im Jahre 1974 auf 250 angestiegen. Auch in anderen Bereichen lassen sich solche tiefgreifenden Veränderungen feststellen. Kennzeichnend ist insoweit etwa die Entwicklung auf dem Gebiet des Hypothekenrechts. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und in einem etwas geringeren Umfang in der Zeit zwischen den beiden Kriegen spielte bei dem gehobenen Bürgertum, namentlich in Norddeutschland und in Ostdeutschland, die Geldanlage in Hypotheken eine große Rolle. Das hatte zur Folge, daß die Vertragsjurisprudenz in großem Einfallsreichtum immer wieder neue Vertragsgestaltungen entwickelte, die den jeweiligen individuellen Interessen der Beteiligten entsprechend Rechnung tragen sollten. Diese stark individuelle Note bei der Vertragsausgestaltung im Hypothekengeschäft, die nach der Inflation auch die Erfahrungen aus dem Währungsverfall zu berücksichtigen suchte, führte notwendigerweise auch zu vielerlei Zweifeln, ob nämlich diese oder jene Gestaltung rechtlichen Bestand habe. Demgemäß war die Zahl der Rechtsstreitigkeiten aus dem Hypothekenrecht, mit denen sich das Reichsgericht zu befassen hatte, relativ hoch. Anders wurde das nach dem zweiten Weltkrieg. Private Personen legen im allgemeinen heutzutage ihr Geld nicht mehr in Hypotheken an. Das Bodenkreditgeschäft befindet sich heute fast ausschließlich in der Hand der Banken und Wohnungsgesellschaften und wird durch Formularverträge abgewickelt, die hypothekenrechtlich abgesichert sind und neuerdings nur unter dem Gesichtspunkt eines Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht oder intellektueller Überlegenheit zu rechtlichen Zweifeln Anlaß geben. Damit ist heute die Bedeutung des Hypothekenrechts in der Gerichtspraxis außerordentlich stark zurückgegangen. Einige Zahlen aus der Rechtsprechung

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des Reichsgerichts und aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mögen das verdeutlichen, wobei allerdings der Vergleichszeitraum etwas unterschiedlich ist, nämlich für das Reichsgericht etwa 35 Jahre und für den Bundesgerichtshof knapp 25 Jahre. Das Reichsgericht hat zu § 1113 BGB 46 Leitsatzentscheidungen erlassen, der Bundesgerichtshof hingegen nur 3 Leitsatzentscheidungen; bei §1138 BGB stehen den 28 Leitsatzentscheidungen des Reichsgerichts ebenfalls nur 3 Leitsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofes gegenüber. Für §1154 BGB sind die entsprechenden Zahlen 37 und 9 und für § 1163 BGB 72 und ebenfalls 9'. Auch die Entwicklung auf dem Gebiet des Aktienrechts ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. Der Anfall von aktienrechtlichem Entscheidungsmaterial beim Reichsgericht war in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg verhältnismäßig hoch und in rechtlicher Hinsicht sehr vielgestaltig. Das hängt nach meiner Uberzeugung mit den vielen kleinen Aktiengesellschaften der damaligen Zeit zusammen, in denen die Aktionäre ihre Streitigkeiten untereinander und mit ihrer Gesellschaft vor Gericht auszutragen pflegten. Mit dem langsamen Anwachsen dieser Unternehmen zu Großunternehmen und mit dem Abwandern kleiner Unternehmen in die Form der G m b H ging der Anfall an aktienrechtlichem Entscheidungsmaterial in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zurück. Zugleich wurde es aber durch die wirtschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit, namentlich durch die Gefahr einer Überfremdung während der Inflation und durch Auslandskredite nach der Inflation, in einem besonderen Maße geprägt, indem die Abwehrmittel der Gesellschaften gegen die Überfremdung, nämlich Herrschaftsaktien, Mehrstimmrechtsaktien sowie Stimmrechtsbeschränkungen, zum Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg verkümmerte das Aktienrecht in der Praxis der Gerichte, indem im wesentlichen nur noch Klagen über das Bestehen und den Inhalt von Anstellungsverträgen der Vorstandsmitglieder erhoben wurden. N u r verhältnismäßig wenige Anfechtungs- und Auskunftsklagen waren in den 50er und 60er Jahren Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes; im allgemeinen wurden solche Streitigkeiten durch Abfindung der betreffenden Aktionäre erledigt. Neuerdings bieten das Konzernrecht und damit zusammenhängende aktienrechtliche Fragen Anlaß zur Anrufung des Bundesgerichtshofes, da hier offenbar die Abfindung nicht geeignet oder nicht in der Lage ist, die aufgetretenen Streitigkeiten beizulegen. Alles in allem vermittelt das Aktienrecht seit der Aktienrechtsnovelle von 1884 ein anschauliches und wechselreiches ' Die Angaben über die Anzahl der Leitsatzentscheidungen des Reichsgerichts sind dem Nachschlagewerk des Reichsgerichts entnommen, das in der Bibliothek des Bundesgerichtshofes vollständig vorliegt.

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Bild davon, wie der Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse den Anfall des Entscheidungsmaterials in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entscheidend bestimmt. Auch in einem anderen Bereich des Gesellschaftsrechts bahnt sich durch neuartige Gestaltungsformen, die durch einen Wandel in den wirtschaftlichen Verhältnissen bedingt sind, in der Rechtsprechung eine Entwicklung an, deren Tragweite noch nicht ganz abzusehen ist. Ich meine die Rechtsstreitigkeiten, die sich bei den modernen Publikumsgesellschaften in der Form einer Kommanditgesellschaft ergeben. Diese Gesellschaften suchen mit Hilfe von Prospekten Kapital gegen Einräumung von Kommanditanteilen. Hier treten erhebliche rechtliche Zweifelsfragen auf, zumal in diesem Zusammenhang manche Mißbräuche auf dem Markt zu beobachten sind und die Notwendigkeit eines sachgerechten Schutzes der Kommanditisten gegen einen solchen Mißbrauch nicht von der Hand zu weisen ist. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes beginnt bereits sich mit diesen Problemen zu befassen und der Umfang des noch anfallenden Entscheidungsmaterials wird sich danach bestimmen, wie sich diese Publikumsgesellschaften weiter entwickeln. Einen typischen Fall, wie sich die Wandlung soziologischer Verhältnisse in der höchstrichterlichen Rechtsprechung niederschlagen kann, zeigt die Behandlung des Versicherungsrechts durch den Bundesgerichtshof. Das Versicherungsvertragsgesetz, das die Rechtsbeziehungen zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer regelt, stammt aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Damals waren Versicherungsnehmer Angehörige des gehobenen Bürgertums und der gewerblichen Wirtschaft oder Landwirte mit einem größeren Besitzstand. Diese schlössen Lebensversicherungs-, Gebäudeversicherungs-, Feuerversicherungsund besondere Haftpflichtversicherungsverträge und anderes ab. Bei diesen Versicherungsnehmern konnte der Gesetzgeber im allgemeinen davon ausgehen, daß sie zur eigenen Interessenwahrnehmung befähigt und gegenüber dem Versicherer nicht allzu schutzbedürftig waren, zumal sich damals die versicherungswirtschaftlichen Verhältnisse noch nicht so schwierig gestalteten. Von dieser soziologischen Grundlage geht das Versicherungsvertragsgesetz bei seinen Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Versicherungsnehmer aus. Diese Grundlage mußte ins Wanken geraten, als nach dem zweiten Weltkrieg mit der Motorisierung Angehörige eigentlich aller Bevölkerungskreise, und zwar hinab bis zum Alter von 18 Jahren, in der Kfz-Haftpflichtversicherung Versicherungsnehmer wurden. Immer mehr stellte sich im Laufe der Jahre in der Rechtsprechung heraus, daß dieser Kreis der Versicherungsnehmer eines erhöhten Schutzes bedurfte, weil sie intellektuell die ihnen gesetzlich auferlegten Vertragspflichten nicht oder nicht voll beherrschten und auch nicht beherrschen konnten. So ist es dazu

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gekommen, daß in der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Versicherungsrechts heute das Problem eines gerechten Ausgleichs der Rechte und Pflichten des Versicherungsnehmers unter Berücksichtigung der heutigen soziologischen Verhältnisse einen breiten Raum einnimmt und daß die Rechtsprechung in diesem Bereich eine Entwicklung genommen hat, die nur unter diesem Aspekt richtig verstanden werden kann. Als Beispiel dafür, wie die Entwicklung und die Veränderung im technischen Bereich unmittelbar auf das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung einzuwirken vermag, soll hier lediglich auf das Urheber- und Patentrecht verwiesen werden. Schon das Reichsgericht hatte sich in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg mit den rechtlichen Problemen zu befassen gehabt, die die neuen technischen Erfindungen des Rundfunks und der Schallplatte im Bereich des Urheberrechts aufwarfen. Hier sind an Hand eines umfangreichen Entscheidungsmaterials von der höchstrichterlichen Rechtsprechung Grundsätze entwickelt worden, die eine Lösung dieser Probleme ermöglichten. Diese Grundsätze haben in der Folgezeit für die Rechtspraxis im wesentlichen Bestand gehabt. Vor eine ähnliche Lage wie das Reichsgericht sah sich der Bundesgerichtshof gestellt, als er in den 50er Jahren daran ging, die urheberrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Fernsehen und namentlich mit dem Tonband zu entscheiden. Auch hier wurde dem Revisionsgericht ein umfangreiches Entscheidungsmaterial vorgelegt, das zahlreiche Einzelfragen auf diesem Gebiet aufwarf und Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung fand. Nach Erlaß des neuen Urheberrechtsgesetzes im Jahre 1965, das im wesentlichen die Ergebnisse dieser Rechtsprechung aufnahm, ist es in diesem Bereich wieder verhältnismäßig ruhig geworden. Aber schon sind neue technische Erfindungen auf dem Markt wie die Fernsehkassette und die elektronische Erfassung von umfangreicher Fachliteratur in Datenbanken, die neue urheberrechtliche Fragen aufwerfen und mit Sicherheit in absehbarer Zeit den Bundesgerichtshof beschäftigen werden. Auch auf dem Gebiet des Patentrechts sind neue Entwicklungen festzustellen, etwa auf dem Gebiet der Mikrobiologie, auf dem eine Beschreibung des Patents in der herkömmlichen Form nicht mehr möglich ist10, oder auf dem Gebiet der Chemie, auf dem sich durch die Anerkennung der Patentfähigkeit chemischer Zwischenprodukte" auch neue rechtliche Entwicklungen in diesem Bereich abzeichnen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung noch erheblich beschäftigen werden.

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B G H Z 64, 101; vgl. dazu auch B G H Z 52, 74. B G H Z 51, 378; B G H M D R 1970, 839; B G H LM N r . 38 zu § 1 PatG.

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Zum Schluß möchte ich noch auf einen besonderen Faktor hinweisen, der den Anfall von Entscheidungsmaterial in der gerichtlichen Praxis wesentlich mitbestimmt, das ist die höchstrichterliche Rechtsprechung selbst, etwa wenn sie neue Beurteilungsmaßstäbe aufgreift. Ein typisches Beispiel für Fälle dieser Art liefert die Rechtsprechung des Reichsgericht zu §242 BGB, in dem es durch eine betonte Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben neue Maßstäbe bei der Rechtsanwendung setzte. Das forderte naturgemäß die Prozeßparteien auf, bei entsprechend gelagerten Sachverhalten durch eine Entscheidung des Revisionsgerichts abzutasten, wie weit die Berücksichtigung von Treu und Glauben gegenüber dem ius strictum möglich ist und ob sie namentlich in ihrem Fall noch in Betracht gezogen werden kann. In diesem Bereich ist es eine ganz wichtige Aufgabe des Revisionsgerichts, darüber zu wachen, daß durch die Aufnahme solcher neuen Beurteilungsmaßstäbe die Rechtssicherheit nicht verloren geht und die Grenzen möglichst klar abgesteckt werden, in denen eine solche Berücksichtigung in Betracht kommt. Sonst gilt hier für die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem erhöhten Maß der Satz, man wird die Geister nicht los, die man selbst gerufen hat. In diesem Zusammenhang ist die restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Frage, wann die Berufung auf einen Formmangel als Verstoß gegen Treu und Glauben zu bewerten ist, interessant 12 . Diese Rechtsprechung fußt bei den Grundstückskaufverträgen, dem wohl wichtigsten Anwendungsfall für diese Rechtsfrage, auf einem besonders umfangreichen Entscheidungsmaterial, das dem zuständigen Senat, ich erwähnte es bereits, im Zuge des Baubooms vorgelegen hat und noch vorliegt. Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen im Jahre 1952, die die Entschädigungspflicht der öffentlichen Hand bei enteignungsgleichen rechtswidrigen Eingriffen bejaht hat13, ist ein Ansteigen der Rechtsstreitigkeiten auf diesem Gebiet beim Bundesgerichtshof zu beobachten. Während die Zahl der Eingänge in diesem Bereich bis zum Jahre 1956 im Jahresdurchschnitt 5 betragen hat, ist sie im Jahre 1957 auf 37 gestiegen und hat sich sodann bis heute auf dieser Höhe gehalten. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Entschädigungspflicht bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts hat zu einer ähnlichen Entwicklung geführt. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu erwähnen. In diesem Bereich ist die höchstrichterliche Rechtsprechung erst im Jahre 1956 zu der von Raiser bereits im Jahre 1933 12 13

Vgl. etwa B G H Z 29, 6, 10; 45, 182; 48, 396; N J W 1973, 1455. B G H Z 6, 270.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

empfohlenen Inhaltskontrolle unter Anwendung des § 2 4 2 B G B gelangt14. Sodann hat es noch eine ziemlich lange Zeit gedauert, bis sich die richterliche Inhaltskontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Rechtspraxis durchgesetzt hat. Erst seit der Mitte der 60er Jahre beginnen die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zu diesem Problem zahlreicher zu werden 15 , bis dann diese Rechtsprechung in der Praxis der Landesgerichte in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach einem stärkeren Verbraucherschutz mehr Beachtung und Berücksichtigung gefunden hat. In diesem Bereich hat sich also ebenfalls aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung das vorgelegte Entscheidungsmaterial bei den Gerichten erheblich vermehrt, nur daß diese Entwicklung hier sehr verzögert eingesetzt hat, bis sie jetzt in der jüngsten Vergangenheit zur vollen Auswirkung gelangt ist. Im Rahmen einer Einleitung mögen diese Ausführungen genügen, um deutlich zu machen, welche Bedeutung dem Entscheidungsmaterial für die Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zukommt, ferner daß dieses Material einem ständigen Wandel unterliegt und welche Faktoren diesen Wandel herbeiführen.

B G H Z 22, 90, 97 ff. Vgl. etwa B G H N J W 1963, 9 9 ; B B 1964, 4 1 1 ; N J W 1965, 2 4 6 ; L M N r . 21 a zu Allg. Geschäftsbedingungen; B G H Z 48, 264, 2 6 8 ; 50, 200, 206. 14

15

5. Höchstrichterliche Rechtsprechung heute - am Beispiel des Bundesgerichtshofes

Die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland in ihrer heutigen Funktion kann nur auf eine verhältnismäßig kurze Geschichte zurückblicken. Sie beginnt unmittelbar erst mit der Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts am 6. August 1870 1 und weist in diesen etwa 100 Jahren eine erstaunlich stetige Entwicklung auf, die heute die besondere Aufgabe der obersten Gerichtshöfe innerhalb unseres Rechtswesens ganz deutlich werden läßt. Die Geschichte der modernen höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland ist mit dem Rechtsmittel der Revision aufs engste verbunden; durch die immer weitere prozessuale Ausgestaltung dieses Rechtsmittels wird die heutige höchstrichterliche Rechtsprechung geprägt. Dieses Rechtsmittel hat es der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe in einer glücklichen Weise ermöglicht, ihrer besonderen Aufgabe im Dienst der Rechtseinheit und einer gesunden Fortbildung des Rechts gerecht zu werden. Die Geschichte der obersten Gerichte in Deutschland bis zur Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts, dem ersten deutschen Revisionsgericht, weist verschiedene Abschnitte auf, die in einer langen Entwicklung zur heutigen Bedeutung der obersten Gerichte hinführen. Im alten Deutschen Reich hatten die Landesfürsten dem Ausbau des Gerichtswesens und namentlich der Organisation der obersten Gerichte 2 in ihren Ländern eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet. Dabei bestand für die Landesfürsten die wichtige historische Funktion dieser Gerichte 3 * Aus: Verhandlungen des Zweiundfünfzigsten Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978. Herausgegeben von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages, Band II, Sitzungsberichte, Teil H (Festvortrag). — C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München, 1978, H 5 - H 3 2 . 1 S. dazu das Protokoll über die Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts, veröffentlicht am Beginn des 1. Bandes der Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts. 2 Sie verdanken in Brandenburg und Sachsen ihre Entstehung der Goldenen Bulle von 1356, in der Kaiser Karl IV den Kurfürsten das Privilegium de non appellando zubilligte, das namentlich nach der Errichtung des Reichskammergerichts (1495) für die Kurfürsten eine besondere Bedeutung gewann und die Entwicklung eines zentralen Justizwesens in den einzelnen Territorialstaaten ermöglichte. Nach der Verleihung der Kurwürde an Bayern (1623) und an Hannover (1692) wurden auch in diesen Ländern bedeutende zentrale Gerichtsinstanzen geschaffen. ' Das Kammergericht und später das preußische Obertribunal in Berlin (vgl. dazu Holtze, Geschichte des Kammergerichts, 4 Bde., 1890-1904; Sonnenschmidt, Geschichte des königlichen Obertribunals in Berlin 1879), das Revisorium (Revisionsrat) in München (vgl. dazu Becker, Darstellung des Oberappellationsgerichts des Königreichs Bayern 1840;

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

darin, die landesherrliche Stellung der Fürsten gegenüber Kaiser und Reich zu festigen und eine eigenständige Landeshoheit der Partikularstaaten zu entwickeln und auszubauen. Hierin erschöpfte sich im wesentlichen die Funktion dieser obersten Gerichte 4 ; im übrigen fügten sie sich in das allgemeine Gerichtswesen ein und dienten der Rechtspflege in gleicher Weise wie die übrigen Gerichte. Irgendeine besondere Aufgabe hatten sie innerhalb des Gerichtswesens nicht 5 . Demgemäß beschränkte sich die Wirkung ihrer Urteile auf den jeweils entschiedenen Einzelfall und ihre Urteile hatten nur für die am Verfahren Beteiligten Bedeutung. Die obersten Landesgerichte waren wie das Reichskammergericht 6 teilweise Gerichte erster Instanz und teilweise Rechtsmittelgerichte, sie waren auch als Rechtsmittelgerichte stets Tatsachengerichte, besaßen jedoch im Unterschied zu den übrigen Gerichten vielfach den „Vorzug", ihre Urteile ohne Tatbestand und Gründe abfassen zu dürfen 7 . Ein Bedürfnis nach Sicherstellung der Rechtseinheit innerhalb der Rechtsprechung oder durch die Rechtsprechung trat zu dieser Zeit nicht hervor, da die Zersplitterung des materiellen Rechts in den einzelnen, vielfach bunt zusammengewürfelten Partikularstaaten ohnehin groß war, und der einzelne Partikularstaat aus diesem Grunde an einer einheitlichen Rechtsprechung zur Festigung des eigenen Staatswesens kein sonderliches Interesse zeigte. Das wurde anders, als einzelne Länder, wie Bayern und sodann vor allem Preußen, dazu übergingen, für ihr Staatsgebiet umfassende Merzbacher, 350 Jahre Bayrisches Oberstes Landesgericht 1975), das Oberhofgericht in Leipzig (vgl. dazu Lobe, Ursprung und Entwicklung des höchsten sächsischen Gerichts 1905), das Oberappellationsgericht in Celle (vgl. dazu Gunkel, Festschrift zur Erinnerung an die Gründung des Kurhannoverischen Oberappellationsgerichts in Celle am H.Oktober 1711, 1911). 4 Vgl. dazu Gunkel a.a.O. (Fn. 3), S.2: „Ist es doch in den Anfängen geradezu die Gerichtsbarkeit, aus der die Landeshoheit emporwächst. Und so bildet das Rechtswesen den festen Kern, um den sich die Organisation des staatlichen Lebens kristallisiert, die Grundlage, auf der sich seine Entwicklung vollzieht."; ähnlich auch Lobe a. a. O. (Fn. 3), S.23. 5 Vgl. Planck, Systematische Darstellung des Strafverfahrens 1857, S. 549; Kübler DRiZ 1969, 380. ' Vgl. dazu Smend, Das Reichskammergericht 1911; Heusinger, Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten 1972, S. 14 ff. 7 So das Reichskammergericht, vgl. dazu Heusinger a.a.O. (Fn.6), S.25 m . w . N . ; das preußische Obertribunal, vgl. dazu Sonnenschmidt a.a.O. (Fn. 3), S.63; das sächsische Oberhofgericht, vgl. dazu Lobe a.a.O. (Fn. 3), S.94. - Dieses Privileg für die obersten Gerichte geht auf deutschrechtliche Gewohnheiten vor der Rezeption des römischen (gelehrten) Rechts zurück, als die Rechtssprüche noch Billigkeitssprüche waren. Diese „waren einfach, auch meist vernünftig und zweckmäßig. Man unterwarf sich der Autorität der Rechtsprechenden, und man glaubte an diese Autorität." (Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, Bd. 2, 1910, S. 787).

5. Höchstrichterliche Rechtsprechung heute

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Gesetzbücher zu erlassen. Von diesem Zeitpunkt an zeigte sich nicht nur ein lebhaftes Interesse für die Anwendung und Auslegung dieser Gesetze, sondern vor allem auch ein Interesse für die Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung dieser Gesetze. Dabei wurde in Preußen aus Mißtrauen gegenüber den Gerichten die Aufgabe einer authentischen Interpretation nicht den Gerichten, sondern einer besonders errichteten Gesetzkommission übertragen, an die die Gerichte in Zweifelsfällen jeweils zu berichten und deren Entscheidung sie zu beachten hatten8. Diese Regelung bewährte sich nicht. Die Gesetzkommission war hierbei von vornherein vor eine unmögliche Aufgabe gestellt, ihre Tätigkeit führte zu einer unübersehbaren Kasuistik. Andererseits war es für die Gerichte zu bequem, bei schwierigen Rechtsfragen die Entscheidung der Gesetzkommission einzuholen und die Entscheidung des Prozesses so lange auszusetzen 9 . Es ist daher nicht verwunderlich, daß schon in einer Novelle zum preußischen Allgemeinen Landrecht aus dem Jahre 1798 die Gesetzkommission von der Aufgabe der authentischen Interpretation entbunden und die Auslegung der Gesetze wieder den Gerichten übertragen wurde10. 8 Vgl. dazu die Königl. C a b i n e t t s - O r d r e v o m 14. April 1780: Dagegen werden W i r nicht gestatten, daß irgendein R i c h t e r . . . Unsere Gesetze zu interpretieren, auszudehnen oder einzuschränken, viel weniger neue Gesetze zu geben, sich einfallen lasse; sondern er m u ß , w e n n sich in der Folge Zweifel oder Mängel an den G e s e t z e n . . . finden, der GesetzKommission davon N a c h r i c h t geben, von dieser die Sache, mit Rücksicht auf den Sinn u n d Absicht der übrigen G e s e t z e . . . genau in E r w ä g u n g gezogen, und w e n n eine wirkliche V e r ä n d e r u n g oder Zusatz nöthig wäre, U n s gutachtlich Bericht darüber erstattet w e r d e n . " Die G e s e t z - K o m m i s s i o n w u r d e sodann d u r c h Patent v o m 29. Mai 1781 errichtet. - Diese Regelung entsprach den Auffassungen der A u f k l ä r u n g , die dem positiven Gesetz u n d seinem W o r t l a u t eine überragende Bedeutung beimaßen und eine richterliche Auslegung nach Sinn u n d Z w e c k des Gesetzes nicht zulassen wollten. Ähnliche Regelungen wie in Preußen fanden sich auch anderenorts, so in den § § 2 4 - 2 7 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs Josephs II von 1786 (dazu Hermann Conrad, Festschrift f ü r Hellmuth von Weher, 1963, S . 6 9 f ) u n d in dem französischen Gesetz vom 24. August 1790, die den Richter anwiesen, bei Zweifeln ü b e r die Auslegung von Gesetzen A n f r a g e n an den Gesetzgeber zu richten (dazu Schumann Z Z P 81, 79 ff, 81 f). 9 Vgl. Reinhardt, Bericht über die Revision der ersten 46 Titel der P r o z e ß o r d n u n g , D r i t t e r Teil, Entwurf der P r o z e ß o r d n u n g mit den Motiven Zweite Abteilung, 1832, S. 32; ferner Bornhak, Preußische Staats- u n d Rechtsgeschichte, 1903, S. 260 f. N a c h Bornhak liegt dieser Regelung eine „überspannte Auffassung von der Macht der Gesetzgebung" zugrunde. 10 Die Deklaration v o m 2 4 . S e p t e m b e r 1798, A n h . § 2 , hat die § § 4 7 f f Einl. A L R in einer b e m e r k e n s w e r t e n F o r m neu gefaßt, die den b e r ü h m t e n § 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs in seinem wesentlichen Inhalt v o r w e g n i m m t . Es heißt d o r t : „Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so liegt es ihm ob, den vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln wegen Auslegung der Gesetze zu entscheiden; . . . F i n d e t der Richter kein Gesetz, welches z u r Entscheidung des streitigen Falles dienen k ö n n t e , so m u ß e r . . . nach den in d e m Landrecht a n g e n o m m e n e n allgemeinen G r u n d s ä t z e n u n d nach den wegen ähnlicher Fälle v o r h a n d e n e n V e r o r d n u n g e n seiner besten Einsicht gemäß erken-

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Diese Regelung bildet den Ausgangspunkt für einen bedeutsamen Wandel in der Auffassung von der Aufgabe der obersten Gerichte, der sich in ähnlicher Weise auch in den anderen deutschen Ländern vollzog, und der dem obersten Gericht im Unterschied zu den anderen Gerichten besondere Aufgaben zuwies. Dabei war es vor allem die territoriale Neuordnung in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Napoleon und durch den Wiener Kongreß, die das Bedürfnis nach einer einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb der einzelnen, jetzt wesentlich größer gewordenen Länder außerordentlich verstärkte, wobei es nunmehr Allgemeingut wurde, daß diese Aufgabe die obersten Gerichtshöfe in den einzelnen Ländern wahrzunehmen haben. Demgemäß wurden jetzt überall Bestimmungen, und zwar der verschiedensten Art, erlassen, die diesem Zweck dienten. In Preußen erging - bemerkenswerter Weise gegen den heftigen Widerstand des preußischen Obertribunal selbst - die Anordnung, daß das Gericht in Zukunft seine Entscheidungen zu begründen habe, um so auf die Rechtsprechung der übrigen Gerichte einen richtungsweisenden Einfluß ausüben zu können". Sodann wurde dem Gericht - wiederum gegen seine eigenen Vorstellungen - empfohlen, ein Präjudizienbuch anzulegen, um die Rechtsprechung des Gerichts zu verdeutlichen und ihre Einheitlichkeit sicher zu stellen12. Schließlich ergingen, und zwar nicht nur in Preußen, Präjudiziengesetze, die Plenarentscheidungen der obersten Gerichte vorsahen und ihnen unter bestimmten Voraussetzungen bindende Wirkung für die übrigen Gerichte beilegten13. Die mit Gesetzeskraft ausgestatteten Präjunen." Ein ähnliches Schicksal erfuhren die entsprechenden Regelungen in Osterreich und in Frankreich; auch sie w u r d e n sehr bald wieder aufgehoben (vgl. Schumann

Z Z P 81, 82 f).

Mit der N e u f a s s u n g der § § 4 7 ff Einl. A L R ist „die rationalistische A n b e t u n g des Gesetzes" (Engisch, E i n f ü h r u n g in das juristische D e n k e n , 7. Aufl. 1977, S. 106) der Aufklärungszeit aufgegeben, die Bockelmann (Festschrift f ü r Rudolf Smend 1952, S.26) treffend mit den W o r t e n charakterisiert hat: „Die richterliche Gesetzesanwendung s o l l . . . f u n k t i o n i e r e n wie ein A u t o m a t , mit der einzigen Besonderheit, daß der funktionierende A u t o m a t kein mechanischer, s o n d e r n ein logischer A u t o m a t ist." 11 VerwirkliVgl. Sonnenschmidt a . a . O . (Fn.3), S . 2 0 2 f f ; ferner von Caemmerer, chung u n d F o r t b i l d u n g des Rechts d u r c h den Bundesgerichtshof. In: Ansprachen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes, 1975, S.21 f. 12 D a z u Sonnenschmidt a . a . O . (Fn.3), S.204, 244. " Im einzelnen w a r die Regelung dieser Präjudiziengesetze in den Ländern sehr unterschiedlich. Das preußische Präjudiziengesetz (1836) beschränkte sich auf die E i n f ü h r u n g von Plenarentscheidungen innerhalb des preußischen O b e r t r i b u n a l s mit seinen damals drei Senaten f ü r den Fall, daß ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen wollte. Man glaubte auf diese Weise, die Einheit der Rechtsgrundsätze in den richterlichen Entscheidungen nicht bloß beim Geheimen O b e r t r i b u n a l selbst, sondern vermöge des Einflußes der A u t o r i t ä t des höchsten Gerichtshofes bei den übrigen Gerichten möglichst zu erhalten" (so die K a b i n e t t s - O r d r e v o m 1. August 1836; vgl. dazu Sonnenschmidt a . a . O . [ F n . 3 ] S . 2 4 4 f f ) . - Das bayrische Präjudiziengesetz (1837) schrieb ebenfalls bei A b w e i c h u n g e n innerhalb des Oberappellationsgerichts eine Entscheidung durch

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dizien b e w ä h r t e n sich j e d o c h nicht, sie f ü h r t e n sehr bald z u einer b e d e n k l i c h e n R e c h t s u n s i c h e r h e i t , so daß m a n sich s c h o n in v e r h ä l t n i s m ä ß i g k u r z e r Zeit e n t s c h l o ß , die B i n d u n g s w i r k u n g der h ö c h s t r i c h t e r l i chen E n t s c h e i d u n g e n w i e d e r z u beseitigen 1 4 . D i e e n t s c h e i d e n d e n A n r e g u n g e n f ü r eine N e u o r d n u n g der o b e r s t e n G e r i c h t e u n d ihre A u f g a b e n gingen v o n den E r f a h r u n g e n aus, die m a n in F r a n k r e i c h u n t e r g a n z ähnlichen G e s i c h t s p u n k t e n m i t d e r C o u r de C a s s a t i o n in Paris gemacht u n d die z u r A u s g e s t a l t u n g eines b e s o n d e r e n R e c h t s m i t t e l s v o r d e m o b e r s t e n G e r i c h t s h o f g e f ü h r t hatten. S c h o n in einem L a n d e v o n d e r damaligen G r ö ß e P r e u ß e n s - das sah m a n sehr bald ein - w a r es nicht m ö g l i c h , einem o b e r s t e n G e r i c h t die A u f g a b e a n z u v e r trauen, f ü r die R e c h t s e i n h e i t in der R e c h t s p r e c h u n g der G e r i c h t e z u s o r g e n , w e n n m a n das G e r i c h t nicht v o n solchen richterlichen F u n k t i o nen f r e i stellte, die f ü r die G e w ä h r l e i s t u n g d e r R e c h t s e i n h e i t nicht u n b e d i n g t g e b o t e n sind. M a n e r k a n n t e , daß das V e r f a h r e n v o r d e m o b e r s t e n G e r i c h t sich nicht ü b e r den ganzen Streitstand des P r o z e s s e s e r s t r e c k e n k a n n , d a ß eine B e s c h r ä n k u n g geboten ist, u n d daß diese n u r darin bestehen k a n n , daß das o b e r s t e G e r i c h t die W ü r d i g u n g des T a t sächlichen u n d die Feststellung des S a c h v e r h a l t s d u r c h die V o r i n s t a n z seiner E n t s c h e i d u n g z u g r u n d e z u legen habe 1 5 . das Plenum vor, verlieh jedoch diesen Plenarentscheidungen über die preußische Regelung hinaus bei Veröffentlichung im Regierungsblatt bindende Wirkung für richterliche Entscheidungen in sämtlichen gleichgearteten Fällen (vgl. dazu Merzbacher a . a . O . [Fn.3], S.25). - Das hannoversche Präjudiziengesetz (1838) schließlich enthielt ebenfalls eine Regelung über Plenarentscheidungen, legte aber darüber hinaus alle Entscheidungen des Oberappellationsgerichts Celle Gesetzeskraft bei, falls sie vom Justizministerium nach landesherrlicher Genehmigung in der vom Oberappellationsgericht vorgelegten Fassung in der Gesetzessammlung bekannt gemacht worden sind (vgl. dazu Gunkel a. a. O. [Fn. 3], S.294f). 14 In Hannover verschloß man diese Gesetzesquelle schon mit Gesetz vom S.September 1848 (Gunkel a . a . O . [Fn.3], S.294), während in Bayern das Präjudiziengesetz erst durch die neue Prozeßordnung von 1869 außer Kraft gesetzt wurde (Roth, Bayrisches Civilrecht, l.Teil, 1871, S. 115). 15 Von entscheidender Bedeutung für diese Entwicklung waren die Bemühungen in Preußen einem einzigen obersten Gerichtshof die Aufgabe zu übertragen, die Rechtseinheit in der Rechtsprechung sicher zu stellen. Die im Jahre 1826 eingesetzte Reformkommission arbeitete einen Gesetzentwurf aus, der die richterliche Nachprüfung durch das preußische Obertribunal auf den Rechtspunkt beschränkte. Die bemerkenswerte Begründung zu diesem Entwurf stammt von dem Obertribunalrat Reinhardt (vgl. Fn. 9), sie enthält bereits alle wesentlichen Gedanken, die später zu der Ausgestaltung des Rechtsmittels der Revision geführt haben. Allerdings konnten sich damals diese Vorstellungen noch nicht voll durchsetzen. Die Verordnung vom 14. Dezember 1833, die seiner Zeit den vorläufigen Abschluß dieser Reformbestrebungen brachte, sah für die höchste Instanz zwei Rechtsmittel vor, von denen die Nichtigkeitsbeschwerde, das regelmäßige Rechtsmittel der letzten Instanz, sich auf die Rüge von Gesetzesverletzungen beschränkte und als Vorläufer der späteren Revision angesehen werden kann (Sonnenschmidt a. a. O. [Fn. 3], S.231 spricht insoweit von dem Gewinn, „daß dadurch die Einheit nicht nur in der

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Beiträge zur B e d e u t u n g der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Eine solche Beschränkung der richterlichen Tätigkeit des obersten Gerichtshofes auf die Prüfung der Rechtsfrage läßt sich bei der überragenden Bedeutung der Tatfrage im Rahmen der Zivil- und Strafrechtspflege nur rechtfertigen, wenn man die Bedeutung und die Aufgabe dieses Gerichts anders formuliert als die Aufgabe der Tatsachengerichte, nämlich darin, daß dieses Gericht, namentlich als Zivilgericht in einem besonderen Maß dem allgemeinen Interesse an der Wahrung der Rechtseinheit verpflichtet ist, und daß insoweit das individuelle Interesse der einzelnen Partei zurückstehen muß. Diese Beurteilung von der Aufgabe eines Gerichts mußte damals bei den deutschen Verhältnissen Widerspruch hervorrufen, weil sie den bis dahin geltenden Vorstellungen von den Aufgaben und der Bedeutung der Rechtspflege im Kern widersprach. Der Ausspruch von Ludwig von Gneist auf dem zweiten Deutschen Juristentag: „Der gemeine Mann will vom höchsten Gericht s e i n Recht entschieden haben, nicht das Recht überhaupt16." bringt das Unbehagen, das einem solchen Verfahren vor dem obersten Gericht entgegengebracht wurde, treffend zum Ausdruck. Die damalige Entgegnung Waldecks: „Das Volk wird ganz gut einsehen, daß eine zweimalige tatsächliche und rechtliche Erörterung der Sache vollkommen genug ist17." mag demgegenüber blaß und reichlich nüchtern klingen. Aber realistisch war allein die Auffassung Waldecks, wollte man die Wahrung der Rechtseinheit in der Rechtsprechung durch ein oberstes Gericht nicht in Gefahr bringen, und es ist daher auch nicht verwunderlich, daß sich diese Auffassung in der Folgezeit für die Ausgestaltung eines obersten Gerichtshofes durchsetzte und in dem Rechtsmittel der Revision ihren gesetzlichen Niederschlag fand.

Rechtsprechung, sondern auch in der A u s - und Fortbildung sowie in der Entwicklung des Rechts selbst wesentlich gefördert worden i s t " ; vgl. dazu ferner Waldeck, Verhandlungen des 1. Deutschen Juristentages, 1860, S . 3 2 f ; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. A u f l . 1960, S. 8 ff). D i e Beratungen in der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g von 1848 in Frankfurt, die z u m Beschluß über die Errichtung eines obersten Gerichtes für ganz Deutschland führten, gaben den B e m ü h u n g e n u m die Ausgestaltung eines besonderen Rechtsmittels für das oberste Gericht, das f ü r die Rechtseinheit in der A n w e n d u n g einheitlicher Rechtsvorschriften sorgen sollte, neuen Auftrieb. Dabei spielte in der Folgezeit das allgemein e m p f u n d e n e B e d ü r f n i s nach einer einheitlichen A n w e n d u n g und A u s l e g u n g des Allgemeinen D e u t s c h e n Wechselgesetzes von 1848 sowie des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches v o n 1861 eine bedeutsame Rolle. Dieser Bedeutung entsprach es, daß schon der 1. D e u t s c h e Juristentag sich mit der Frage der Errichtung eines obersten deutschen Gerichtshofes für handelsrechtliche Fragen befaßte und diesem Gerichtshof lediglich die Kontrolle über eine etwaige fehlerhafte A n w e n d u n g und A u s l e g u n g des Gesetzes durch die Appellationsgerichte übertragen wollte. A u f dem 2. Deutschen Juristentag im J a h r e 1861 wurden diese Beschlüsse bestätigt. . " Verhandlungen des 2. Deutschen Juristentages, 2. Bd., S. 565. 17

E b d . , S. 574.

5. Höchstrichterliche Rechtsprechung heute

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Der tiefgreifende Wandel, der sich mit dieser gesetzgeberischen Entscheidung für die Zivilrechtspflege in der Revisionsinstanz vollzog, ist in seiner ganzen Tragweite nur sehr langsam und ganz allmählich erkannt worden. Bei allen gesetzlichen Änderungen, die in der Folgezeit wegen ständiger Überlastung des Revisionsgerichts notwendig wurden, trat das deutlich in Erscheinung. So wies Staatssekretär Nieberding bei den Beratungen über den Entwurf der Zivilprozeßordnung 1898, der eine Erhöhung der Revisionssumme von 1 5 0 0 M auf 3000 M vorsah, darauf hin, daß es die Hauptaufgabe des Revisionsgerichts sei, die Rechtseinheit zu wahren, und daß die Prozeßordnung davon ausgehe, daß für die Rechtsfindung an sich zwei Instanzen genügten 18 . Das Unbehagen, sich dieser Erkenntnis zu fügen, ist selbst noch jüngst wieder zutage getreten, als das Revisionsverfahren in Zivilsachen seine letzte einschneidende Änderung erfuhr und nunmehr eine begründete Sachentscheidung des Revisionsgerichts nur noch bei grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, also bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses, zulässig ist". Für einen Richter der Zivilrechtspflege steht im Mittelpunkt seiner Tätigkeit die Klärung und Aufhellung des zwischen den Parteien streitigen Sachverhalts durch Würdigung und Beurteilung der Beweismittel. Das Prozeßverfahren vor den Zivilgerichten mit seiner Dispositionsmaxime ist auf die Entscheidung eines Einzelfalls zugeschnitten, den die Parteien zur Entscheidung vor den Richter bringen. N u r dieser Fall interessiert die Parteien, er ist der Streitgegenstand und bildet den Prozeßstoff, nicht irgendwelche Auswirkungen auf ähnliche oder zukünftige Fälle, nicht irgendein Allgemeininteresse, wie die Rechtssi1S Hahn, D i e gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 8. Bd., Plenarberatung über die Novelle 1898 am 3. Mai 1898 vor dem Reichstag, S. 4 9 5 ; vgl. auch Amtliche Begründung zu der Novelle, ebd., S. 114 f. I m gleichen Sinn äußert sich die Novelle 1905, die zur E r h ö h u n g der Revisionssumme auf 2500 M führte - vgl. dazu die Amtliche Begründung zu dieser Novelle in J W 1904, 325 ff, 3 2 8 : „Bei der Einführung des Rechtsmittels der R e v i s i o n . . . ging man von der Erwägung aus, daß an sich den Anforderungen, welche die Prozeßparteien an den Staat stellen dürfen, völlig Genüge geschehe, wenn der Staat den Parteien die Möglichkeit gewähre, ihren Rechtsstreit bei zwei Instanzen zur Entscheidung zu bringen, und daß es nur, wenn der U m f a n g des Staatsgebietes zu der Einsetzung mehrerer Gerichte zweiter Instanz nötige, im Interesse der Einheit des Rechts und der Rechtsprechung eine dritte Instanz vor einem obersten Gericht geboten erscheine. Das Reichsgericht ist also . . . in erster Linie zur Wahrung der Einheit der Rechtsprechung geschaffen w o r d e n . " A u c h bei den Beratungen des Reichstages über den Entwurf eines Gesetzes betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts am 3 . / 4 . M a i 1910 wurden dieselben Gedanken geäußert (vgl. J W 1910, 4 9 5 , 500, 507). - In diesem Sinn äußert sich neuerdings auch A . B l o m e y e r , Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, 1963, S. 5 6 0 : „ D e r überwiegende G r u n d für diese Rechtsmittel (sc. der Revision) liegt aber, wie schon die Materialien zur P r o z e ß o r d n u n g ergeben, nicht in der Rücksicht auf das Parteiinteresse, sondern darin, eine einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten. Hieraus erklären sich die Beschränkungen, denen das Verfahren unterliegt." 19

Vgl. statt anderer die Polemik von

Möhring J Z

1974, 369.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

cherheit oder die Praktikabilität der Entscheidung. Die richterliche Entscheidung des Tatrichters bezweckt die Lösung eines in der Vergangenheit liegenden Konfliktfalls, die gerechte Einzelfallentscheidung ist seine Aufgabe 20 . Der Tatrichter urteilt in bewußter Beschränkung auf den ihm vorgetragenen Sachverhalt nur zwischen den Prozeßparteien, so wie auch sein Urteil in der Regel nur inter partes wirkt. Hierfür stellt das Prozeßverfahren mit seinen Beweisvorschriften das geeignete Instrumentarium zur Verfügung; der Blick des Tatrichters ist retrospektiv gerichtet. Er setzt mit seinem Urteil dem Konfliktfall ein Ende, dem dient die Rechtskraft seines Urteils. Die Bindung des Revisionsrichters an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz entzieht ihm in einem ungemein weiten Umfang die Möglichkeit zu einer eigenverantwortlichen Einzelfallentscheidung. Man hat geschätzt, daß mindestens 80% - 9 0 % der richterlichen Arbeitstätigkeit eines Tatrichters auf die Feststellung des Sachverhalts entfallen21, einen ähnlich hohen Prozentsatz mag der Anteil der Tatsachenfeststellung an der gerechten Entscheidung des Einzelfalls durch den Zivilrichter ausmachen. Denn in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle ist es verhältnismäßig einfach, die gerechte Entscheidung durch Rechtsanwendung zu treffen, wenn erst einmal der Tatbestand erschöpfend und zutreffend festgestellt ist. In der Zivilrechtspflege steht für den Streit der Prozeßparteien der Streit über den tatsächlichen Hergang in der Vergangenheit durchweg im Vordergrund, der Streit über die Rechtsanwendung tritt demgegenüber in den meisten Fällen zurück 22 . Indem das Revisionsrecht dem Revisionsrichter die eigenverantwortliche Beurteilung tatsächlicher Vorgänge verwehrt, entzieht es ihm zu einem wesentlichen Teil die richterliche Entscheidung im konkreten Einzelfall, die Einwirkung auf eine gerechte Einzelfallentscheidung, um die es den Parteien allein geht. Dieser Tatsache muß sich der Revisionsrichter bewußt sein, so schwer ihm das auch zuweilen fallen mag; er muß sich von einem Eingriff in den tatrichterlichen Bereich frei halten, so sehr es ihm auch in einem Einzelfall aus einem echten richterlichen Bemühen heraus danach drängt. Die Ausgestaltung des Revisionsrechts verwehrt ihm das und überträgt ihm andere Aufgaben, die sich nicht mehr allein mit dem Einzelfall und seiner individuell gerechten Entscheidung befassen, sondern über den Einzelfall hinausgreifen und Rechtsgü20

Dazu auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 181. Vgl. Wank a . a . O . (Fn.20), S.30 m . w . N . 22 Für andere Gerichtsbarkeiten, wie etwa die Finanzgerichtsbarkeit oder die Sozialgerichtsbarkeit gilt das nicht immer in gleicher Weise. Bei diesen spielen sog. Musterprozesse, in denen streitige Rechtsfragen bei im wesentlichen unstreitigen Sachverhalt zu entscheiden sind, und die für eine Vielzahl von Fällen von großer Bedeutung sind, eine erheblich größere Rolle. 21

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tern dienen, die sich von dem Individualinteresse der Prozeßparteien abheben und dem Allgemeininteresse verpflichtet sind. Die Praktikabilität seiner Entscheidung ist für den Revisionsrichter ein hohes Rechtsgut, der Rechtssicherheit muß seine Entscheidung dienen und die Gewährleistung einer Gleichbehandlung für ähnliche und zukünftige Fälle muß er seine Aufmerksamkeit widmen. Diese Aufgaben nötigen den Revisionsrichter seinen Blick über den Fall hinaus zu richten, die Folgewirkungen seines Urteils zu bedenken und vor allem zu erwägen, wie sich sein Urteil, seine rechtliche Beurteilung, die Auslegung und Anwendung des Rechts in seinem Urteil in das Gesamtgefüge des Rechts einordnet. Er muß seinen Blick von dem Einzelfall abheben und in die Zukunft richten. Das allein entspricht den berechtigten Erwartungen, die die Öffentlichkeit an ein höchstrichterliches Urteil knüpft 23 . Mit dem Hinweis auf ein solches Urteil, etwa bei einer anwaltlichen Beratung, bei einer kaufmännischen Entscheidung in der Wirtschaft oder in einer wissenschaftlichen Untersuchung wird der Blick nicht wie bei einer tatrichterlichen Entscheidung in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gerichtet und geprüft, welche Auswirkung dieses Urteil auf die Beurteilung anderer Fälle hat. Die einem echten richterlichen Urteil eigene retrospektive Betrachtung ist bei einem Revisionsurteil nicht möglich, weil es in seiner Wirksamkeit über den Bereich der Prozeßparteien hinausreicht. Der Tatrichter muß im Zusammenhang mit der Frage der Durchsetzbarkeit seines Urteils lediglich bedenken, ob der Urteilsausspruch im Rahmen der Zwangsvollstreckung auch zu realisieren ist, der Revisionsrichter hingegen muß zusätzlich fragen, ob die in seinem Urteil enthaltene Rechtsregel allgemein durchsetzbar ist, ob sie für ähnliche oder gleichgelagerte Fälle eine praktikable Regel gibt 24 . Der Revisionsrichter muß bei seinem Blick in die Zukunft ein hohes Maß an Phantasie und Einfühlungsvermögen aufwenden, um den Erwartungen zu genügen, die die Allgemeinheit an eine höchstrichterliche Entscheidung knüpft, er muß berücksichtigen, daß er praktisch auch für andere, für zukünftige Fälle judiziert. Die soeben gekennzeichnete unterschiedliche Betrachtung, aber auch die unterschiedliche Aufgabe des Tatrichters und des Revisionsrichters S. Wank a . a . O . (Fn.20), S. 181, 256. Außerordentlich aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die Entscheidung B G H Z 17, 267. In dieser Entscheidung (a. a. O. S. 280) hatte der Bundesgerichtshof den Einwand mangelnder Praktikabilität zurückgewiesen und ausgeführt: „Das Bestehen eines Rechtsanspruchs kann nicht vom Grade seiner Durchsetzbarkeit abhängen." Es ist für den Sachkenner nicht verwunderlich, daß die in dieser Entscheidung vertretene Rechtsauffassung in der Folgezeit nicht aufrechterhalten werden konnte. Vgl. zu der Bedeutung der Praktikabilität revisionsrichterlicher Entscheidungen auch Fröhlich bei Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 51; Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, 1974, S . 2 1 2 ; Wank a . a . O . (Fn.20), S. 1 7 9 f f . 23

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kann sich durchaus auch im Inhalt ihrer Entscheidung auswirken. Der Tatrichter wird bei der ihm obliegenden Abwägung der individuellen Interessen der beiden Prozeßparteien in einem echten Zweifelsfall geneigt sein, etwa zugunsten eines Versicherungsnehmers und zu Lasten des Versicherers zu entscheiden, der Revisionsrichter hingegen wird angesichts der generellen, auch für zukünftige Fälle geltenden Wirksamkeit seines Urteils zu bedenken haben, ob z . B . die Einengung eines Risikoausschlusses durch richterliche Rechtsanwendung für die Masse der Versicherungsnehmer wirklich sinnvoll und sachgerecht ist, da sie ja von den Versicherungsnehmern bezahlt werden muß. Er hat deshalb in einem solchen Fall gegebenenfalls zu erwägen, ob der Abschluß einer Zusatzversicherung im Hinblick auf die geringe Zahl der an einer solchen Einschränkung des Risikoausschlusses interessierten Versicherungsnehmer die angemessene Regelung für den eingetretenen Konfliktsfall darstellt. Innerhalb des Rechtswesens ist die unterschiedliche Aufgabe zwischen dem Richter und dem Gesetzgeber deutlich. Der Richter hat einen bestimmten Einzelfall, der sich in der Vergangenheit ereignet hat, einen individuellen Konfliktsfall zwischen zwei bestimmten Parteien zu entscheiden; der Gesetzgeber hingegen hat durch allgemeine Vorschriften eine Regelung für die Zukunft zu treffen und dabei die Folgen dieser Regelung im weitesten Umfang, z. B. im sozialen, wirtschaftlichen oder technischen Bereich zu bedenken. Die Aufgabe des Revisionsrichters ist offenbar von diesen beiden unterschiedlichen Funktionen beeinflußt und bestimmt. Den Ausgangspunkt für die revisionsrichterliche Tätigkeit bildet die rechtliche Beurteilung eines Einzelfalls, der von den Prozeßparteien unter ausschließlicher Berücksichtigung ihrer individuellen Interessen aufbereitet und der von ihnen - von Einzelfällen abgesehen nicht im Hinblick auf seine Auswirkungen auf andere Fälle zur richterlichen Entscheidung gestellt worden ist. Dieser Ausgangspunkt gibt dem Revisionsrichter von vornherein nicht die normative Distanz, die dem Gesetzgeber eigen ist. Das Prozeßverfahren, das mit seiner Dispositionsmaxime den Parteien das alleinige Bestimmungsrecht über den Prozeßstoff gibt, vermittelt dem Richter, auch dem Revisionsrichter nicht die Möglichkeit, auch nur annähernd in entsprechender Weise, wie das der Gesetzgeber im gesetzgeberischen Verfahren tun kann, sich umfassende Einsichten über die Folgen seines Urteils zu verschaffen. Die Strukturunterschiede zwischen dem gesetzgeberischen und dem richterlichen Verfahren sind gerade unter diesem Gesichtspunkt von besonderem Gewicht. Das nötigt den Revisionsrichter, seinen Ausgangspunkt, den Einzelfall, im Auge zu behalten und von ihm ausgehend, langsam und allmählich, Regeln und Grundsätze zu entwickeln. Seine Erfahrungen und Kenntnisse werden bereichert und befruchtet

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von der bunten Vielgestaltigkeit des Einzelfalls, der gerade im Zivilverfahren von stets neuen individuellen Merkmalen gekennzeichnet ist und selten etwa Typisches aufweist. Dessen muß sich der Revisionsrichter bewußt sein. Er wird daher gut daran tun25, sich nicht vorschnell an Hand eines solchen Einzelfalls zu einer allgemeinen Regelbildung hinreißen zu lassen und hierbei Wege zu gehen, die der Gesetzgeber beim Erlaß von Gesetzen zu beschreiten hat. Der Revisionsrichter wird des weiteren zu bedenken haben, daß er keinerlei Einfluß auf die Auswahl des ihm vorgelegten Entscheidungsmaterials hat, daß es nicht in seine Hand gegeben ist, einen zweiten oder dritten Fall ähnlicher Art zur Entscheidung zu bringen, um sein zunächst ergangenes Urteil in gewisser Hinsicht zu modifizieren oder zu ergänzen oder es auch, wenn er es für geboten hält, zu ändern. Auch weiß er, daß er - im Unterschied zum 25 Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Erfahrungen, die das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof gemacht haben. Das Reichsgericht nahm davon Abstand, Leitsätze in Aussageform zu seinen Entscheidungen aufzustellen; es begnügte sich vielmehr mit Fragesätzen oder mit Wendungen wie „Zur F r a g e . . . " , „zum Begriff..." oder dergleichen, die er als Uberschrift für seine Entscheidungen wählte, wie ein Blick in die Entscheidungssammlung des Reichsgerichts belegt. Der Bundesgerichtshof übernahm diese Praxis nicht. Vielmehr wurde in einer Plenarversammlung der Richter im Winter 1950/51 - und zwar bemerkenswerterweise auf Vorschlag der Richter, die noch am Reichsgericht tätig gewesen waren - beschlossen, den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes Leitsätze in Form von Aussagesätzen voranzustellen. Wir jüngeren Richter haben uns damals ohne weitere Diskussion diesem Vorschlag angeschlossen, weil wir insoweit keine Erfahrungen besaßen. Aber schon sehr bald nach diesem Beschluß habe ich als Berichterstatter des Urteils B G H Z 2, 176 selbst bemerkt, daß es nicht sachgerecht ist, in jedem Fall Leitsätze in Aussageform zu den einzelnen Entscheidungen zu formulieren; ich habe deshalb mit Zustimmung des Senats, aber unter Widerspruch von Fritz Lindenmaier, der damals das Nachschlagewerk betreute, unter Nr. 3 der Leitsätze eine Formulierung in Übereinstimmung mit der Praxis des Reichsgerichts mit der Einleitung „zur F r a g e . . . " gewählt. Andere Zivilsenate sind dem in der Folgezeit wiederholt ebenfalls gefolgt und man kann heute wohl sagen, daß solche unbestimmten Formulierungen, die keinen Aussagesatz, also keinen eigentlichen Leitsatz enthalten, - m. E. nicht zufällig - öfters in solchen Entscheidungen vorkommen, die nicht zum Abdruck in der Entscheidungssammlung, sondern nur zur Aufnahme in das Nachschlagewerk vorgesehen sind. - Ich halte dieses Vorgehen der Zivilsenate für richtig. Es findet darin die zutreffende Erkenntnis ihren sachgerechten Ausdruck, daß es nämlich zuweilen durchaus angebracht ist, etwa bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen nicht vorschnell zur Formulierung von generalisierenden Leitsätzen zu gelangen, sondern sich zunächst noch mit einer mehr punktuell formulierten, bewußt auf den konkreten Einzelfall beschränkten Entscheidung zu begnügen. Die Leitsätze pp werden vom Berichterstatter formuliert und vom Senat beschlossen; es wird daher gegebenenfalls die vom Berichterstatter herrührende Formulierung auch vom Senat geändert oder ergänzt. Obwohl die Leitsätze pp von Gesetzes wegen nicht an der richterlichen Unabhängigkeit teilhaben, werden sie innerhalb des Bundesgerichtshofes doch so behandelt, so daß bei der Führung des Nachschlagewerkes durch die Verwaltung (Gerichtspräsident oder Bibliothek) keinerlei Einfluß auf die Gestaltung der Leitsätze genommen wird.

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Gesetzgeber - einem Entscheidungszwang 26 unterliegt, daß er auch zu Rechtsfragen Stellung nehmen muß, die noch nicht die notwendige allgemeine Klärung erfahren haben und deshalb vielleicht besser noch nicht höchstrichterlich entschieden werden sollten. Die Öffentlichkeit sollte diese Besonderheiten revisionsrichterlicher Rechtsprechung im Auge behalten, wenn sie in einem Einzelfall nicht schon durch eine, womöglich erste Entscheidung des Bundesgerichtshofes die von ihr gewünschte umfassende Klärung der bestehenden Zweifelsfragen auf einem bestimmten Rechtsgebiet erhält. Immer muß sie in Fällen dieser Art berücksichtigen, daß der Einzelfall meist nur eine überaus schmale Grundlage für eine weitergreifende rechtliche Beurteilung abgibt und der Revisionsrichter sich deshalb nur von Fall zu Fall fortschreitend die notwendigen Einsichten auf Grund eigener Erfahrungen verschaffen kann. 26 Es entspricht heute einer allgemeinen Meinung, daß die Gerichte einem Entscheidungszwang (Rechtsverweigerungsverbot) unterliegen, und zwar selbst dann, wenn eine gesetzliche Regelung der zu entscheidenden Frage nicht vorliegt. Dieser heute allgemein anerkannte Entscheidungszwang ist die notwendige Folge des Wandels, der sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts über die Aufgabe des Richters zur Auslegung auch unklarer und dunkler Gesetze vollzogen hat (s. oben bei Fn. 10) und der sich mit der Gewaltenteilungslehrte Montesquieus nicht vereinbaren läßt (dazu eindrucksvoll Radbruch, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, Arch. f. Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 22 [1906], S. 357 ff, 364: „Die Gewaltenteilungslehre will den Richter auf die philologische Interpetation beschränkt wissen, das Rechtsverweigerungsverbot drängt ihn bei der unumgänglichen Unvollkommenheit der Gesetze über ihre philologische Interpretation hinaus zu ihrer Klärung, Ergänzung und Berichtigung, zu eigener Rechtsschöpfung. Die Gewaltenteilungslehre möchte den Richterstuhl zu einem Isolierschemel des Intellekts machen, das Rechtsverweigerungsverbot zieht mit seiner Nötigung zur Rechtsschöpfung den Richter mit seiner ganzen Persönlichkeit, seinem Charakter wie seinem Intellekt zur Rechtsprechung heran." „Der Widerstreit zwischen der Gewaltenteilunglehre und dem aus ihr fließenden Rechtsschöpfungsverbot einerseits, dem Rechtsverweigerungsverbot andererseits i s t . . . bei der Unvollkommenheit der Gesetze unschlichtbar, der Richter kann das eine nur auf Kosten des anderen befolgen, und da die Unvollkommenheit der Gesetze unumgänglich, das Rechtsverweigerungsverbot unentbehrlich ist, setzt er sich in dieser Pflichtenkollision über die Gewaltenteilungslehre, das Rechtsschöpfungsverbot hinweg."). In Art. 4 des Code civil hat dieser Entscheidungszwang seine ausdrückliche Regelung gefunden, er gilt aber ohne eine solche ausdrückliche Regelung auch sonst (vgl. dazu Schumann ZZP 81, 79 ff; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 140, 159; Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der Allgemeinen Hermeneutik, 1959, S.24; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S.55). Mit diesem Entscheidungszwang ist die richterliche Aufgabe zur Fortbildung des Rechts unmittelbar verbunden. Denn der Richter kann sich dieser Aufgabe nicht entziehen, ohne eine Rechtsverweigerung vorzunehmen. Die Klagen zahlreicher Arbeitnehmer, die während des Metallarbeiterstreiks 1978 im Südwesten von ihren Arbeitgebern ausgesperrt waren, auf Nachzahlung ihres Lohnes, belegen das anschaulich. Die richterliche Entscheidung dieser Klagen ist schlechterdings nicht möglich, ohne daß zu den gesetzlich nicht geregelten Fragen der Zulässigkeit von Aussperrungen im Arbeitskampf richterlich Stellung genommen wird.

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Die Erfahrungen mit den Präjudiziengesetzen in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts haben gezeigt, daß es unseren Verhältnissen nicht angemessen ist, den Urteilen des obersten Gerichts bindende Wirkung beizulegen. Der in dieser Richtung unternommene Versuch in Bayern und namentlich in Hannover hat nicht, wie man gehofft hat, der Rechtssicherheit und der Rechtseinheit gedient, sondern bei der Vielzahl der Präjudizien und ihrer nicht in Gesetzesform geprägten Ausgestaltung eine bedenkliche Rechtsunsicherheit innerhalb der Rechtsprechung zur Folge gehabt. Es ist gut, daß man sich bei der Ausformung des Revisionsrechts diese Erfahrungen zunutze gemacht und davon abgesehen hat, den Urteilen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes bindende Wirkung beizulegen. Dieser Entschluß hat sich, wie die Erfahrungen in den zurückliegenden Jahrzehnten erweisen, bewährt, und man sollte deshalb auch weiterhin daran festhalten 27 . Eine nur oberflächliche Betrachtung könnte freilich in dieser Beurteilung einen Widerspruch finden. Denn, so könnte man fragen, wie vermag der Bundesgerichtshof durch seine Rechtsprechung für Rechtssicherheit und Rechtseinheit innerhalb der gesamten Rechtsprechung Sorge zu tragen, wenn die Instanzgerichte nicht an seine Rechtsauffassung, wie sie in den Urteilen des Gerichts zum Ausdruck gebracht wird, gebunden sind. Diese Frage weist, wie die Erfahrung lehrt, in die falsche Richtung. Sie läßt rein praktische Gesichtspunkte außer acht, die für die richterliche Alltagsarbeit entscheidend sind. Denn bei der starken Arbeitsbelastung der Instanzgerichte, deren Tätigkeit im wesentlichen bei der tatrichterlichen Beurteilung des Sachvortrages liegt, ist es diesen meist gar nicht möglich, der Rechtsanwendung in jedem Einzelfall eine eigenschöpferische Behandlung zuteil werden zu lassen. Die Instanzge27 In neuerer Zeit ist man im Schrifttum der Frage nach der praktischen, aber auch nach der rechtlichen Bedeutung der Präjudizien für unser Rechtsleben sehr häufig nachgegangen. Das Fazit dieser Untersuchungen kann man wohl dahin zusammenfassen, daß trotz der zunehmenden praktischen Bedeutung der höchstrichterlichen Präjudizien für die Rechtsprechung der Instanzgerichte und auch für das Haftungsrecht diesen keine verbindliche (normative) Wirkung zukommt, daß sich aber trotzdem die Instanzgerichte bei ihren Entscheidungen nicht ohne einen besonderen Grund über solche Präjudizien hinwegsetzen sollten (s. dazu die eingehenden Nachweise bei Engisch a. a. O. [Fn.26], S. 310 f Anm. 245; ferner von Caemmerer a. a. O. [Fn. 11], S. 39 ff). Von einer „Diktatur der Präjudizien" zu sprechen (so Egon Schneider, Logik für Juristen, 1965, S.349), scheint mir übertrieben zu sein; diese Kennzeichnung wird der Wirklichkeit in unserem Rechtsleben nicht gerecht, da von einem Zwang insoweit kaum gesprochen werden kann. - Ob es ein Gewinn ist, in der Rechtsquellenlehre den Präjudizien einen fest umrissenen Platz zuzuweisen, wie es Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 247 ff in anregenden Ausführungen tut, erscheint mir zweifelhaft. Man sollte m. E. für die Instanzgerichte das Verhalten (Verfahren) bei der Behandlung der Präjudizien nicht im einzelnen systematisieren oder institutionalisieren; das führt u . U . zu Komplikationen, mit denen man die Instanzgerichte nicht belasten sollte.

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richte sind vielmehr in den meisten Fällen darauf angewiesen, sich die Arbeitsergebnisse des Revisionsgericht zu eigen zu machen 28 und ihrerseits namentlich zu prüfen, ob diese oder jene Vorentscheidung unmittelbar oder nach ihrem Grundgedanken auf den nunmehr zu entscheidenden Einzelfall angewendet werden kann. Die Arbeitsteilung zwischen den Instanzgerichten und dem Revisionsgericht, die in dieser Handhabung ihren Ausdruck findet und die einem allgemeinen Prinzip unseres heutigen Lebens entspricht, hat den Vorteil, daß dadurch Rechtssicherheit und Rechtseinheit gefördert und dem Gerechtigkeitsgedanken, der im Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung zum Ausdruck kommt, Genüge getan wird. Andererseits läßt diese Regelung im Einzelfall der Möglichkeit einer kritischen Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Instanzgerichte freien Raum, einer Möglichkeit, auf die gerade der Bundesgerichtshof nach meiner Uberzeugung nicht verzichten kann und die für eine gesunde Fortbildung des Rechts unerläßlich ist29. Außerdem ist es aus der Sicht des Bundesgerichtshofes auch deshalb vorteilhaft, daß seinen Urteilen keine bindende Wirkung zukommt, weil er bei der geltenden Regelung nicht vorschnell dazu verleitet wird, seinen Urteilen eine im Einzelfall noch nicht angebrachte, zu generelle Formulierung zu geben. Er wird bei der fehlenden Bindungswirkung gerade dann, wenn ihm die normative Distanz des Gesetzgebers noch fehlt, eher geneigt sein, die Fassung seines Urteils eng an die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls anzulehnen und eine mehr generalisierende Beurteilung der in Betracht kommenden Rechtsfrage zunächst noch zurückzustellen. Das kann in den meisten Fällen für die höchstrichterliche Rechtsprechung nur von Nutzen sein. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, daß innerhalb des Bundesgerichtshofes und im Verhältnis zu den anderen obersten Gerichtshöfen den höchstrichterlichen Entscheidungen eine Bindungswirkung in dem Sinn beigelegt ist, daß ein Senat nicht ohne weiteres von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen darf. Diese Bindungswirkung trägt der besonderen Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung Rechnung, nämlich der Aufgabe, den Instanzgerichten Anhaltspunkte für ihre Rechtsprechung zu geben und dadurch für Rechtssicherheit und Rechtseinheit Sorge zu tragen. Die Erfüllung dieser Aufgabe könnte in Frage gestellt werden, wenn die einzelnen Spruchkörper der obersten Gerichte in ihrer Rechtsprechung voneinander abweichen. Aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, im Unterschied zu den Instanzgerichten dem einzelnen Senat der obersten Gerichtshöfe abweichende Entschei* Darauf weist Kriele a. a. O. (Fn. 2), S. 262 mit Recht hin. Vgl. Robert Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 26 ff. J

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düngen zu versagen und ihnen insoweit eine stärkere Bindung als den Instanzgerichten aufzuerlegen. Die grundlegenden Unterschiede, die heute zwischen den Aufgaben der Instanzgerichte und den Aufgaben des Revisionsgerichts bestehen, und die den Kernbereich richterlicher Tätigkeit berühren, sind, wie ich darzulegen versucht habe, durch die Ausgestaltung des Revisionsrechts und durch die Aufgabe des obersten Gerichts, für die Rechtseinheit innerhalb der Rechtsprechung zu sorgen, zwangsläufig verbunden. Diese Unterschiede mögen zunächst in ihrer vollen Tragweite nicht immer erkannt worden sein, und ich habe den Eindruck, daß sich diese Erkenntnis zuweilen auch heute noch nicht voll durchgesetzt hat. Aber wenn man sich einmal unbefangen die ganze Bedeutung, die in der Beschränkung des Revisionsrichters auf die Rechtsfrage liegt, und die dem Revisionsrichter im weiten Umfang die Möglichkeit zu einer eigenverantwortlichen Einzelfallentschcidung nimmt, vor Augen hält, und wenn man des weiteren sich darüber im klaren ist, daß die höchstrichterliche Entscheidung in ihrer Wirksamkeit nicht auf den entschiedenen Einzelfall beschränkt, sondern zur Gewährleistung der Rechtseinheit auch für zukünftige Fälle wirksam sein soll, dann wird die tief einschneidende Bedeutung deutlich, die in der Einführung des Revisionsrechts zur Wahrung der Rechtseinheit beschlossen liegt. Diese Unterschiede haben eine weitere Ausprägung und Verstärkung dadurch erhalten, daß im Laufe der Zeit neben der Aufgabe des obersten Gerichts, für die Rechtseinheit zu sorgen und damit die Rechtssicherheit zu gewährleisten, in immer stärkeren Maß auch die Aufgabe getreten ist, durch die höchstrichterliche Rechtsprechung einer gesunden Fortbildung des Rechts zu dienen. Schon bei der Eröffnung des Bundesoberhandelsgerichts hatte der Präsident des Gerichts dargelegt, daß es die Aufgabe des Bundesoberhandelsgerichts sein werde, nicht nur für die einheitliche Anwendung, sondern auch für die Entwicklung der Rechtsnormen zu sorgen. Diese Meinung von der rechtsfortbildenden Aufgabe des obersten Gerichts hat sich in der Folgezeit immer mehr verfestigt, und sie muß heute als fester Bestandteil unserer Auffassung von Gesetz und Recht angesehen werden30. Die Ideologie von einem starren Gesetzespositivismus ist schon seit langem überwunden, die frühere Verwechslung von Rechtssetzungsmonopol und Rechtssetzungsprärogative des Gesetzgebers ist heute als 30 Vgl. dazu BVerfG 34, 269 ff und aus dem neueren Schrifttum von Caemmerer a. a. O . (Fn. 11); Zweigert, Die rechtsstaatliche Dimension von Gesetzgebung und Judikatur in Verhandlungen des 51. Deutschen Juristentages, 1976, Bd. II K, S. 1 ff; Esser, Rechtsprechung und Lehre als Rechtsquellen, ZVglRWiss. 75 (1976), S . 6 7 f f ; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. I, 1975, S. 425 ff; Bd. IV, 1977, S. 270 ff; Engisch a . a . O . (Fn.9), S. 192f; 316 Anm.261; Wank a . a . O . (Fn.20).

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solche erkannt 31 und man weiß, welche Gefahren für eine gesunde Rechtsentwicklung mit einem übersteigerten Gesetzespositivismus verbunden sind. Denn ein solcher Gesetzespositivismus ist etwas Starres und Statisches, und er ist im Grunde fortschrittsfeindlich 32 . Die Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens im Bereich des Zivilrechts macht es unmöglich, das Gesetzesrecht ständig mit den herrschenden Rechtsauffassungen im Einklang zu halten. Andererseits ist es auch immer mehr in das allgemeine Bewußtsein getreten, daß Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung nicht reine Subsumtion sind, daß sie nicht rein rekonstruktiv den einzelnen Streitfall dem Gesetzesrecht unterstellen, sondern daß jede Rechtsanwendung rechtsbildenden Charakter hat und insofern schöpferische Rechtsfindung ist33, und zwar namentlich dann, wenn die Rechtsanwendung wie bei der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch für zukünftige und ähnliche Fälle von Bedeutung ist, oder für diese sogar Geltungskraft erlangen soll. Es entspricht zudem einer allgemeinen Erfahrung, daß die Unterschiede zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung im einzelnen Fall fließend sind34, und daß es namentlich auch dem Revisionsrichter selbst bei seiner Entscheidung vielfach nicht bewußt ist, daß er mit dieser eine neue Rechtsentwicklung einleitet. Auf diese Weise ist für uns heute der früher als Gegensatz empfundene Unterschied von Gesetzesrecht und Richterrecht verschwunden, und es wird heute das Richterrecht als ein notwendiges Korrelat, ja zu einem wesentlichen Teil als „integrierender Bestandteil der im Gesetzestext formulierten Norm" 3 5 angesehen. Aus dieser Sicht sind heute Gesetzgebung und Rechtsprechung mehr denn je aufeinander angewiesen, sie sind aber auch durch Arbeitsteilung und Zusammenarbeit eng miteinander verbunden 36 . Wenn man die rechtsfortbildende Tätigkeit der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes seit den Jahren seines Bestehens aus der Sicht einer kritischen Beurteilung durch die Rechtswissenschaft, aber auch durch 31 Kriele a . a . O . (Fn.27), S . 6 0 ; von Caemmerer a . a . O . (Fn. 11), S.38, 39; vgl. auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 174 f. »2 Fikentscher a. a. O . (Fn. 30), Bd. I, S. 425; Bd. IV, S. 272. " Esser a . a . O . (Fn.31), S . 1 7 8 ; von Caemmerer bei Pehle/Stimpel a . a . O . (Fn.24), S . 2 9 f ; ähnlich auch Engisch a . a . O . (Fn.9), S. 192. 34 So schon Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, l . B d . , 1840, S.329, der bereits damals aus diesem Befund die für ihne bemerkenswerte Folgerung zog, man sollte einem obersten Gerichtshof, der eine ähnliche Stellung, wie der französische Cassationshof einnähme, beide Aufgaben, nämlich die der reinen Auslegung und die der eigentlichen Fortbildung des Rechts, anvertrauen.

Esser a . a . O . ( F n . 3 1 ) , S. 194. Von Caemmerer ( F n . 3 3 , 24), S . 3 9 ; Esser a . a . O . (Fn.30), S. 74, 75; Wank (Fn.20), S. 2 5 4 ; vgl. auch die Schlußworte von Oskar Bülow in seiner berühmten Schrift Gesetz und Richteramt 1885, S . 4 8 : „Denn nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volk sein Recht." 55 36

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die interessierte Öffentlichkeit, wie sie sich heute in den Massenmedien darstellt, betrachtet, so wird man wohl sagen müssen, daß in dieser Beurteilung der eher konservative Charakter dieser Tätigkeit kritisch hervorgehoben wird, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung danach eher auf Rechtsbewahrung und auf Rechtssicherheit gerichtet ist, und daß in manchen Fällen von der Kritik noch mehr Mut oder noch mehr Entschlußkraft von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gewünscht wird 37 . N u r sehr selten hat hingegen eine rechtsfortbildende Tätigkeit des Bundesgerichtshofes im Bereich des Zivilrechts auf Dauer "Widerspruch gefunden und hat sich deshalb nicht durchsetzen können. Das mag für einen kritischen Beobachter, dem die Legitimation der Gerichte zur Rechtsfortbildung noch immer bedenklich, jedenfalls unsympathisch ist38, recht beruhigend sein, weil danach in diesem Bereich offenbar kein Mißbrauch dieser Legitimation durch die höchstrichterliche Rechtsprechung stattfindet. Andererseits sollte sich aber auch der Revisionsrichter über diesen Befund Rechenschaft ablegen und sich in Zweifelsfällen bewußt sein, daß ein Ubermaß rechtsfortbildender Tätigkeit durch die Zivilsenate des Bundesgerichtshofes bisher in der juristischen und in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht beklagt worden ist. Geht man den Gründen nach, die eher für eine Neigung des Revisionsrichters zur Zurückhaltung gegenüber rechtsfortbildender Tätigkeit und zur Bewahrung des bestehenden Rechtszustandes sprechen, so sind das verschiedene, die namentlich auf den Besonderheiten richterlicher Tätigkeit, ferner auf der richterlichen Verpflichtung zur Wahrung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beruhen, und die des weiteren aus den beschränkten Möglichkeiten für eine ausreichende Information über die Rechtstatsachen und schließlich aus einer gewissen Vorsicht und Behutsamkeit herrühren, die wohl mit dem Entscheidungszwang zusammenhängen, dem der Richter, auch der Revisionsrichter unterliegt. Die weitaus überwiegende Zahl der Revisionsrichter stammt aus dem Kreis der Instanzrichter und ist in ihrem Denken und Handeln durch ihre bisherige tatrichterliche Tätigkeit geprägt und geformt. Die richterliche Aufgabe, den individuellen Einzelfall zu entscheiden und dabei den individuellen Besonderheiten dieses Falles in seiner besonderen Ausgestaltung Rechnung zu tragen, den menschlichen Eigenschaften der Beteiligten die ihnen gebührende Beachtung zu schenken und dabei den Tatsachenvortrag der Parteien voll auszuschöpfen, hat bis dahin im Mittelpunkt ihrer Arbeit gestanden. Ihr Blick wurde dabei in die Ver37 Vgl. etwa Kriele a . a . O . (Fn.27), S.265; von Caemmerer a.a.O. (Fn. 11), S.44 f mit Beispielen; Robert Fischer a.a.O. (Fn.29), S. 37f. " Vgl. etwa Flume, Richter und Recht - Grenzen der Rechtsfortbildung, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Teil K, S. 22 ff.

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gangenheit gerichtet, um dem jeweiligen individuellen Einzelfall gerecht zu werden; die Berücksichtigung anderer ähnlicher, erst zukünftig etwa möglicher Fälle interessierte sie dabei kaum, zumal auch die Parteien an der Beurteilung solcher Fälle im allgemeinen kein Interesse zeigen. Angesichts dieser bisherigen richterlichen Arbeit stellt es für die Revisionsrichter beim Beginn ihrer Tätigkeit am Bundesgerichtshof eine bedeutende Umstellung dar, wenn sie nunmehr die rechtsfortbildende Aufgabe eines Revisionsrichters wahrzunehmen haben. Diese Umstellung vollzieht sich langsam, sie ist erfahrungsgemäß mit einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung verbunden, zumal die Beurteilung eines in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalts mit weniger Unsicherheiten und Unwägbarkeiten belastet ist als eine Berücksichtigung ähnlicher und zukünftiger Fälle, die für den Revisionsrichter bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts geboten ist. Dabei ist für diese Vorsicht und Zurückhaltung auch die Tatsache von wesentlicher Bedeutung, daß ein Prozeßverfahren ohne Amtsmaxime nur sehr beschränkte Möglichkeiten für eine notwendige und erwünschte Information über Rechtstatsachen bietet, deren Kenntnis bei einer rechtsfortbildenden Tätigkeit erforderlich ist. Diese Vorsicht und Zurückhaltung mögen richterliche Tugenden sein, da vorschnelles Handeln und Urteilen den Prozeßparteien im allgemeinen nicht gerecht wird. Aber diese Vorsicht und Zurückhaltung können auch zu einer Belastung für das Amt des Revisionsrichters werden, wenn sie den Blick über den Einzelfall hinaus und die dabei gebotene Entschlußkraft zu einer richterlichen Beurteilung auch für andere und ähnliche Fälle hemmen. Angesichts dieses Befundes erscheint mir der Hinweis angebracht, daß die Rechtsfortbildung für den Revisionsrichter eine echte Aufgabe ist, die er sich stets vor Augen halten muß, daß sie also nicht etwa nur eine Möglichkeit darstellt, die ihm geboten wird. Seine Legimation zur Rechtsfortbildung ist für ihn zugleich eine Verpflichtung zur Rechtsfortbildung. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe ist es für den Revisionsrichter wichtig zu wissen, in welchem Verhältnis die richterliche Rechtsfortbildung zum positiven Gesetz steht, wie das Verhältnis von Gesetzesrecht und Richterrecht zueinander ist, und welche Unterschiede zwischen beiden obwalten. Der Gesetzgeber besitzt beim Erlaß neuer Gesetze eine weitgehende Gestaltungsfreiheit, er braucht sich dabei im allgemeinen rechtlich nicht zu rechtfertigen, er kann sich von politischen Gesichtspunkten der verschiedensten Art, etwa sozialpolitischer, wirtschaftspolitischer oder finanzpolitischer Art, aber auch von irgendwelchen Zweckmäßigkeitserwägungen leiten lassen. Der Richter hingegen besitzt insoweit einen wesentlich engeren Spielraum, er hat seine Rechtsfortbildung an rechtlichen Maßstäben auszurichten und muß sich an die Wertmaßstäbe des vorhandenen Rechts anlehnen; er muß seine Rechts-

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fortbildung in jedem Fall rechtlich begründen; und er besitzt dabei nicht die Befugnis zur Gestaltung nach freiem (Auswahl-)Ermessen 39 . Diesen wesentlichen Beschränkungen seiner Befugnisse und Möglichkeiten bei der richterlichen Rechtsfortbildung - im Verhältnis zum Gesetzgeber muß sich der Revisionsrichter stets bewußt sein, er muß sie beachten, um im Rahmen seiner Legitimation zu bleiben. Ferner ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß die Prärogative zum Erlaß neuer Rechtsvorschriften der Gesetzgeber besitzt, und daß das Richterrecht nur ergänzend dort eingreifen kann und eingreifen darf, wo Gesetzesrecht, das den Wertvorstellungen des geltenden Rechts entspricht, nicht vorhanden ist40. Diesen Tatbestand zu ermitteln, bereitet im einzelnen Fall für den Revisionsrichter Schwierigkeiten, diese Feststellung ist aber notwendig, um einerseits der Prärogative des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, andererseits aber auch der Verpflichtung zur Rechtsfortbildung gerecht zu werden. Die Erfahrungen, die wir seit den großen Kodifikationen auf dem Gebiet des Privatrechts und namentlich seit Bestehen des Bundesgerichtshofes mit der richterlichen Rechtsfortbildung gemacht haben, haben deutlich gemacht, daß in manchen Bereichen das Richterrecht das geeignete Mittel ist, um eine neue Rechtsentwicklung anzubahnen und ihr einen entsprechenden Ausdruck im Rechtsleben zu geben. Es handelt sich dabei um die Bereiche, in denen sich eine solche Entwicklung langsam und schrittweise anbahnt und in ihren Ansätzen zunächst vielfach noch gar nicht zu erkennen ist. Hier zeigen sich sehr deutlich die Vorteile, die die Rechtsprechung mit ihrer sehr viel größeren Anpassungsfähigkeit gegenüber dem schwerfälligen Gesetzgebungsverfahren besitzt. In einem allmählichen Reifeprozeß vermag hier die höchstrichterliche Rechtsprechung die neue Rechtsentwicklung in rechtliche Gestaltungsformen einzufangen, indem sie selbst an zahlreichen Einzelfällen die notwendigen Erfahrungen sammelt und auswertet, im Laufe der Zeit die gewonnenen Ergebnisse verdeutlicht, sie gegebenenfalls auch erweitert oder einengt und notfalls Irrtümer oder Fehleinschätzungen ausgleicht und korrigiert 41 . In solchen Fällen kann der Gesetzgeber nachträglich eine solche richterliche Rechtsfortbildung in Gesetzesform fassen, dabei zugleich bisher noch bestehende Unklarheiten beseitigen und von ihm etwa für notwendig gehaltene Verdeutlichungen oder auch Änderungen vornehmen. Eine solche Arbeitsteilung zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und Gesetzgebung hat sich, wie sich an Wank a.a.O. (Fn.20), S. 191; ähnlich auch Coing, JuS 1975, 279. Mit Recht wird deshalb davon gesprochen, daß das Richterrecht im Verhältnis zum Gesetzesrecht nur subsidiären Charakter besitzt (BVerfG 25, 181; Wank a.a.O. (Fn.20), S. 238/39; Fikentscher a. a. O. (Fn. 30), Bd. IV, S. 329. 41 Ähnlich Wank a . a . O . (Fn.20), S.203. 39

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manchen Fällen belegen läßt, durchaus bewährt; namentlich haben sich dabei unliebsame Überraschungen vermeiden lassen. In diesen Bereichen kann die Gesetzgebung die richterliche Rechtsfortbildung durchaus als Versuchsfeld für ihre eigene Tätigkeit betrachten und demzufolge die Erfahrungen und Ergebnisse einer solchen Rechtsfortbildung abwarten und sich gegebenenfalls nutzbar machen 42 . Aber eine solche Arbeitsteilung zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und Gesetzgebung ist nicht überall möglich. Darüber müssen sich die Revisionsrichter im klaren sein und das sollte auch der Gesetzgeber bedenken. Es gibt Rechtsgebiete, die nur nach einer umfassenden Erforschung und Auswertung der dafür maßgeblichen Rechtstatsachen, nur nach einer sachkundigen Prüfung der vielfach möglichen Folgen dieser oder jener Regelung, und die nur nach unterschiedlichen politischen Auswahlkriterien durch den ordentlichen Gesetzgeber kodifiziert werden können. Bei solchen Rechtsgebieten müssen der Sachverstand und die Spezialkenntnisse der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Stellen, gegebenenfalls auch der Interessenverbände und einzelner sachkundiger Personen nach Anhörungen und Besprechungen, für die Gesetzgebung nutzbar gemacht und die politische Entscheidung für diese oder jene Regelungsmöglichkeit durch die dazu berufenen Gesetzgebungsgremien getroffen werden. In diesen Bereichen ist kein Raum für eine richterliche Rechtsfortbildung 43 . Erfahrungen und Spezialkenntnisse der Revisionsrichter reichen hier nicht aus; die nur sehr eingeschränkten Möglichkeiten einer Information innerhalb eines Prozeßverfahrens machen sich hier hemmend bemerkbar und die Auswahl unter den verschiedenen Lösungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ist nicht durch richterliche Gewissensentscheidung, sondern unter Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse in den einzelnen Gesetzgebungsgremien politisch zu treffen. Das sollte, wie gesagt, der Gesetzgeber stets bedenken, und er sollte dabei namentlich berücksichtigen, daß jeder Prozeß jeden Richter einem Entscheidungszwang unterwirft, dem er sich nicht entziehen kann, und daß dieser Entscheidungszwang für einen Revisionsrichter besonders drückend sein kann, weil seine Entscheidung gerade in solchen Fällen eine generalisierende Wirkung erlangen wird. Hier liegt eine schwache Stelle im Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, die im jeweiligen Einzelfall einer sorgfältigen Beachtung bedarf 44 . Esser a. a. O. (Fn. 30), S. 76; Robert Fischer a. a. O. (Fn. 29), S. 21. Vgl. Robert Fischer a.a.O. S.35; Wank a.a.O. (Fn.20), S. 186, 255f. sowie als Anschauungsbeispiel die Entscheidung BGH NJW 1969, 98. 44 Das oben in Anm. 26 erwähnte Beispiel der Arbeitnehmerklagen im Anschluß an den Metallarbeiterstreik 1978 zeigt sehr deutlich, in welche schwierige Lage die Gerichte kommen können, wenn der Gesetzgeber bei der Regelung praktisch bedeutsamer Rechts42

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Die gekennzeichneten Unterschiede zwischen der tatrichterlichen und revisionsrichterlichen Tätigkeit haben sich im Lauf der Zeit immer mehr vertieft. Dazu hat namentlich die Entwicklung des Revisionsrechts in den letzten 100 Jahren selbst wesentlich beigetragen, indem diese immer stärker die besondere Aufgabe der revisionsrichterlichen Arbeit betonte und herausarbeitete. Zu erwähnen sind in dieser Hinsicht zunächst die zahlreichen Anhebungen der Streitwertgrenze für die Zulässigkeit der Revision, die wegen der ständigen Überlastung des Reichsgerichts und später des Bundesgerichtshofes zu wiederholten Malen notwendig wurden45. Denn die damit zwangsläufig verbundene Beschränkung der Revisionsinstanz auf prozentual immer weniger Prozesse, und zwar auf solche mit einem sehr hohen Streitwert, machte die Annahme, die Revision sei auch ein Rechtsmittel im Interesse der Partei, immer fragwürdiger, weil sich eine solche Privilegierung weniger Personen durch Gewährung eines weiteren Rechtsmittels immer weniger rechtfertigen ließ. Es war daher nicht zu verwundern, daß die Anhebung der Streitwertgrenze von Fall zu Fall immer mehr mit dem öffentlichen Interesse an den Aufgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung begründet wurde, und daß dabei die Berücksichtigung von individuellen Parteiinteressen für den Gesetzgeber immer bedeutungsloser wurde. Nach dem ersten Weltkrieg kamen neuartige gesetzgeberische Maßnahmen hinzu, die diese Entwicklung förderten. In den 20er Jahren wurde - zunächst allerdings nur für den Bereich der Ehesachen - der Zugang zur Revisionsinstanz vom Vorliegen eines öffentlichen Interesses abhängig gemacht. Danach war hinfort die Revision in Ehesachen nur noch zulässig, wenn das Berufungsgericht die Revision - und zwar zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung - zuvor ausdrücklich zugelassen hatte 1 '. Das bedeutete, daß im Bereich der Ehesachen den Parteien die Revisionsinstanz nur noch zur Verfügung stand, wenn die Öffentlichkeit ein Interesse daran hatte, daß das Revisionsgericht in der betreffenden Prozeßsache wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung eine begründete Sachentscheidung erließ. Damit entfiel für diesen Bereich das individuelle Interesse der Partei an einer richterlifragen untätig bleibt. Die Folgen einer solchen Untätigkeit des Gesetzgebers haben immer die Gerichte zu tragen, weil sie sich dem Entscheidungszwang nicht entziehen können. 45 Die Revisionssumme betrug zunächst 1500M, wurde im November 1905 auf 2500 M und im November 1910 auf 4000 M erhöht. Nach den mehrfachen Erhöhungen in der Inflationszeit wurde die Revisionssumme beim Übergang auf die Goldrechnung Ende 1923 auf 1500 GM, im Dezember 1925 auf 4000 RM und schließlich im Jahre 1941 auf 6000 RM festgesetzt. Bei der Errichtung des Bundesgerichtshofes belief sich die Revisionssumme anfangs auf 6000 DM, sie wurde sodann im Jahre 1965 auf 15 000 DM und schließlich 1969 auf 25000 D M erhöht. 46 Verordnung vom 15.1.1924, 1.Teil, Kap.II Art. 1 Abs.2 (RGBl. I, S.29) und Verordnung vom 14.6.1932 (RGBl. I, S.285).

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chen Nachprüfung des ergangenen Berufungsurteils als Grund für die Zulassung der Revision. Es wurde vielmehr jetzt das allgemeine Interesse an der Klärung einer Rechtsfrage im Interesse der Rechtseinheit oder im Interessse einer Fortbildung des Rechts maßgeblich dafür, daß das Revisionsgericht angerufen werden konnte. Dieser neuartige Zulassungsgrund für das Rechtsmittel der Revision, nämlich das Vorliegen eines öffentlichen Interesses im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, erfuhr eine wesentliche Erweiterung dadurch, daß seit der Errichtung des Bundesgerichtshofes im Jahre 1950 die Oberlandesgerichte die Revision ganz allgemein in allen Rechtssachen unterhalb der für die Revisionsinstanz maßgeblichen Streitwertgrenze wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung zulassen konnten 47 . Es ist bemerkenswert, daß diese Änderungen des geltenden Revisionsrechts seiner Zeit ohne Widerspruch hingenommen, ja offenbar allgemein gebilligt wurden, da in der Folgezeit niemals Bedenken gegen den neuartigen Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wurden und auch niemals versucht wurde, der Überlastung des Bundesgerichtshofes durch Wegfall der Zulassungsrevisionen zu begegnen. Dieser neuartige Revisionszulassungsgrund, der den wesentlichen Unterschied zwischen dem Rechtsmittel der Berufung und der Revision im Hinblick auf die Gewährleistung einer gerechten Einzelfallentscheidung nunmehr auch unter einem weiteren Gesichtspunkt deutlich macht, kam offenbar einer allgemeinen Meinung und dem drängenden Bedürfnis, auch unterhalb der für die Revisionsinstanz maßgeblichen Streitwertgrenze Entscheidungen des Revisionsgerichts im Interesse der Öffentlichkeit zu ermöglichen, so sehr entgegen, daß diese bedeutsame Änderung des Revisionsrechts schweigend hingenommen und ihr von keiner Seite widersprochen wurde. In der Folgezeit gewann dieser Zulassungsgrund weiteres Gewicht dadurch, daß der Bereich für die Zulassungsrevisionen durch die wiederholte Anhebung des Streitwerts für die Revisionsinstanz wesentlich ausgeweitet wurde. Außerdem ging man in den letzten Jahren dazu über, die Möglichkeit einer Anrufung des Bundesgerichtshofes im öffentlichen Interesse durch Zulassung der Revision auf weitere Rechtsstreitigkeiten dadurch auszudehnen, daß man etwa im Unterhaltsrecht die Berufungsinstanz vom 47 Vgl. § 5 4 6 Abs. 1, 2 Z P O i.d. F. des Vereinheitlichungsgesetzes vom 1 2 . 9 . 1 9 5 0 (BGBl. I, S. 455), die aus § 29 der Verordnung zur Durchführung der M R V O N r . 98 über die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für die Britische Zone vom 1 7 . 1 1 . 1 9 4 7 (VOB1. B Z , S. 149) übernommen worden sind. Dabei ist die amtliche Begründung zu dieser Verordnung bemerkenswert (vgl. ZentrBl. B Z 1947, 114, 115), die übrigens die Amtliche Begründung zum Bundesgesetz vom 1 2 . 9 . 1 9 5 0 wiederholt. Danach sollte mit der Zulassungsrevision „das abstrakte Interesse der Gesamtheit an der Einheit und Entwicklung des Rechts dem Interesse des einzelnen vorangestellt" werden, weil „das Prinzip der reinen Wertbemessung der früheren Z e i t . . . wegen seiner kapitalistischen Einseitigkeit nicht mehr tragbar erschien".

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Landgericht auf das Oberlandesgericht verlagerte 4 ', oder daß man etwa im Mietrecht ein besonderes Vorlageverfahren über Landgericht und Oberlandesgericht zum Bundesgerichtshof schuf49. Auch bei diesen Änderungen war es das erklärte Ziel des Gesetzgebers, auf diesen, für weite Bevölkerungskreise wichtigen Rechtsgebieten die Rechtseinheit innerhalb der Rechtsprechung durch höchstrichterliche Entscheidungen zu sichern und eine gesunde Fortbildung des Rechts zu ermöglichen. Es stellt einen folgerichtigen Abschluß dieser langen, gut 100 Jahre währenden Entwicklung unseres Revisionsrechts in Zivilsachen dar, wenn die letzte Gesetzesreform im Jahre 1975 die Streitwertrevision ganz beseitigte und die Zulässigkeit der Revision nunmehr im allgemeinen allein davon abhängig macht, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung besitzt, daß also eine begründete Entscheidung des Revisionsgerichts im öffentlichen Interesse erwünscht oder sogar geboten ist50. Dadurch erhält die besondere Funktion des Bundesgerichtshofes, soweit es seine Rechtsprechung in Zivilsachen betrifft, ihren sachgerechten Ausdruck. N u n erst rundet sich das Bild dieses Gerichts innerhalb unseres Rechtswesens ab. Es wird verständlich, warum ihm durch die Beschränkung auf die Rechtsfrage die Möglichkeit zu einer sachgerechten Einzelfallentscheidung im weiten Umfang genommen ist, ferner welche Bedeutung die dadurch bedingte Distanz dieses Gerichts von dem konkreten Einzelfall für die Beurteilung ähnlicher und zukünftiger Fälle besitzt, und schließlich warum nunmehr auch die Zulässigkeit der Revision, also der Zugang zum Bundesgerichtshof, vom Vorliegen eines öffentlichen Interesses abhängig gemacht worden ist. Denn all das ist nur verständlich, aber auch geboten, wenn man die Gewährleistung der Rechtseinheit und die gesunde Fortbildung des Rechts als die vornehmliche Aufgabe der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes ansieht. Grundlage für diese Beurteilung des Revisionsrechts im Jahre 1975 ist es, daß der Gesetzgeber damit die Justizgewährungspflicht des Staates in Zivilsachen ganz allgemein auf zwei Tatsacheninstanzen beschränkt, die schwer zu rechtfertigende Privilegierung einiger weniger Streitsachen mit sehr hohem Streitwert beseitigt und eine unterschiedliche Regelung bei den Zivilsachen nur noch in der Weise vorgesehen hat, daß für den 48 Vgl. § 119 G V G i. d . F . des NichtEhelG vom 19.8.1969 (BGBl. I, S. 1243) und § 119 GVG i.d. F. des Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14.6.1976 (BGBl. I, S. 1421). 49 Vgl. Art. III des 3. Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften vom 21.12.1967 (BGBl. I, S. 1248). In diesem Zusammenhang ist auch die Regelung in §14 AGB-Gesetz zu erwähnen, durch die für Unterlassungs- und Widerrufsklagen der in § 13 ebd. erwähnten Art die ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet und damit für alle Klagen dieser Art die Möglichkeit einer Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes durch Zulassung der Revision geschaffen wurde. 50 Gesetz vom 8. 7.1975 (BGBl. I, S. 1863).

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einen Teil der Sachen die Amtsgerichte und die Landgerichte und für den anderen Teil die Landgerichte und die Oberlandesgerichte zuständig sind. Damit ist eine Justizgewährung durch das Revisionsgericht im individuellen Interesse der einzelnen Partei entfallen, nachdem sie durch die Beschränkung auf die Rechtsfrage bisher schon ohnehin nur mit erheblichen Einschränkungen bestanden hatte 51 . Aus dieser Sicht, daß nämlich das individuelle Interesse der Partei für die Öffnung der Revisionsinstanz nicht mehr entscheidend ist, wird auch verständlich, warum der Bundesgerichtshof gegebenenfalls eine Revision auch dann anzunehmen hat, wenn er das angefochtene Urteil für richtig hält, und andererseits die Annahme der Revision gegebenenfalls zu versagen hat, auch wenn er das angefochtene Urteil für falsch hält. Denn für das öffentliche Interesse an einer begründeten Sachentscheidung des Bundesgerichtshofes ist es ohne Belang, welchen Inhalt die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts gehabt hat, ob es für die eine oder für die andere Partei entschieden hat52. N u r in einer Hinsicht ist bei der neuen Regelung des Revisionsgerichts das individuelle persönliche Interesse der einen oder der anderen Partei noch gewahrt geblieben, nämlich bei der Anrufung des Revisionsgerichts durch Einlegung des Rechtsmittels der Revision. Diese Entscheidung ist auch jetzt noch allein in die Hand der betroffenen Partei gegeben. Das mag auf den ersten Blick wenig folgerichtig erscheinen, ist aber m . E . richtig, weil die einzelne Partei, und nicht irgendeine Stelle des Staates, etwa ein Generalanwalt, darüber entscheiden sollte, ob das ergangene Urteil rechtskräftig werden soll oder nicht. Die inzwischen vorliegenden Erfahrungen mit dem neuen Revisionsrecht zeigen, daß es einen bisher häufig beklagten Nachteil der Streitwertrevisionen beseitigt hat, nämlich die Tatsache, daß der Bundesgerichtshof - bedingt durch den hohen Streitwert - im wesentlichen mit solchen Rechtssachen befaßt worden war, die für die große Mehrzahl der Bürger von keinem besonderen Interesse sind. Das ist nach dem 51 Es ist daher durchaus sachgerecht gewesen, wenn schon um die Jahrhundertwende diesem Gesichtspunkt deutlich Ausdruck gegeben und bei den gesetzgeberischen Beratungen wiederholt betont worden ist, daß den berechtigten Anforderungen der Prozeßparteien an den Staat völlig Genüge geschehe, wenn der Staat den Parteien die Möglichkeit gewähre, ihren Rechtsstreit bei zwei Instanzen zur Entscheidung zu bringen (vgl. dazu oben bei A n m . 18). 52 Aus dieser Sicht wäre es m. E. folgerichtig gewesen, wenn der Gesetzgeber bei der Reform des Revisionsrechts im Jahre 1975 einer Anregung des Bundesgerichtshofes gefolgt wäre, nämlich für die Gerichtskosten der Revisionsinstanz eine besondere Kostenregelung zu treffen, die es den Zivilsenaten ermöglichte, mit Rücksicht auf das öffentliche Interesse an der Durchführung des Revisionsverfahrens die Gerichtskosten niederzuschlagen. Das ist seiner Zeit leider nicht geschehen, weil sich der Bundesfinanzminister mit seinen fiskalischen Gegenerwägungen durchsetzen konnte.

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Wegfall der Streitwertrevision anders geworden. Jetzt überwiegen bei den begründeten Sachentscheidungen der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes die von den Oberlandesgerichten zugelassenen Revisionen, also die Rechtssachen mit einem Streitwert bis zu 40 0 0 0 , - D M gegenüber den vom Bundesgerichtshof angenommenen Revisionen, also den Rechtssachen mit einem Streitwert von über 40 0 0 0 , - D M . Das ist m. E. sehr zu begrüßen, zumal nach den beim Bundesgerichtshof vorliegenden Erfahrungen die Entscheidungen in Sachen mit einem niedrigen Streitwert für unser Rechtsleben meist von einer erheblichen praktischen Bedeutung sind. Aus Zeitgründen habe ich zu meinem großen Bedauern hier lediglich die Entwicklung und die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen aufzeigen können. U m mögliche Mißverständnisse auszuschließen, sei mir jedoch der Hinweis erlaubt, daß die Entwicklung und die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen einen völlig anderen Verlauf genommen hat, daß hier die Revision in erster Linie immer ein Rechtsmittel im Interesse der Partei gewesen und geblieben ist, und daß sich irgendwelche Rückschlüsse von der zivilrechtlichen Revision auf die strafrechtliche Revision deshalb von vornherein verbieten. Auch die Gesetzgebung weist im Bereich der zivilrechtlichen und der strafrechtlichen Revision einen sehr unterschiedlichen Verlauf auf. Der grundlegende Unterschied zwischen diesen beiden Rechtsmitteln wird äußerlich daran sichtbar, daß die strafrechtliche Revision für den Bereich der mittleren und der schweren Kriminalität das einzige Rechtsmittel, die Revision in Zivilsachen immer ein zusätzliches Rechtsmittel in einem prozentual sehr eng begrenzten Rahmen gewesen ist. In der Strafrechtspflege spielt das Strafverfahrensrecht eine entscheidende Rolle; im Interesse des Angeklagten ist es geboten, diesem ein faires Verfahren zu gewährleisten und durch einen sachgerechten Ausbau des Beweisrechts dafür zu sorgen, daß der Grundsatz in dubio pro reo beachtet wird. Andererseits ist es im Bereich der mittleren und schweren Kriminalität aus rein praktischen Gründen meist nicht möglich, eine umfassende Sachprüfung in einer nochmaligen Hauptverhandlung durchzuführen. Diese Besonderheiten der Strafrechtspflege haben von vornherein dazu geführt, daß die Funktion des Rechtsmittels hier nicht in der nochmaligen eigenverantwortlichen Nachprüfung der Strafsache, sondern in der Kontrolle und Sicherstellung eines geordneten Verfahrens durch die erste Instanz zu erblicken ist, und daß wegen dieser eingeschränkten Funktion des Rechtsmittels die Revision auch von der Sache her das geeignete Rechtsmittel für eine Nachprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens und seiner Entscheidung ist. Dieser grundlegende Unterschied zur zivilrechtlichen Revision tritt deutlich in der Rechtspre-

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chung der Strafsenate hervor, deren große, auch rechtsschöpferische Leistung im Ausbau des Verfahrensrecht zu erblicken ist, und die im wesentlichen dem Schutz des Angeklagten zu dienen hat. Die Aufgabe der strafrechtlichen Revision, durch eine individuelle Kontrolle im jeweiligen Einzelfall ein faires Verfahren für den Angeklagten zu gewährleisten, verbietet es, Vergleiche zur zivilrechtlichen Revision zu ziehen. Namentlich ist es nicht möglich, im strafrechtlichen Bereich die Zulässigkeit der Revision auf Fälle grundsätzlicher Art zu beschränken, da hier die Revision als das einzige Rechtsmittel Kontrollfunktionen in allen Fällen auszuüben hat und auch ausüben kann. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Unterschiede, die bei der Anwendung des materiellen Rechts im Zivilrecht und im Strafrecht bestehen, weil mit Rücksicht auf die Grundsätze nullum crimen sine lege und nulla poena sine lege die richterliche Rechtsfortbildung im Strafrecht eine ungleich geringere Bedeutung besitzt als im Zivilrecht 53 . Diese wenigen Sätze mögen genügen, um auf die grundlegenden Unterschiede zwischen der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen und in Strafsachen hinzuweisen und Mißverständnisse auszuschließen, die bei einer vergleichenden Betrachtung auftreten könnten. Die Bedeutung, die die höchstrichterliche Rechtsprechung in Zivilsachen für unser heutiges Rechtsleben besitzt, liegt deutlich vor unser aller Augen. Es ist für den Sachkundigen nicht vorstellbar, wenn bei dem obersten Gericht für Zivilsachen wie in den früheren Jahrhunderten die Wirkung seiner Urteile auf den jeweils entschiedenen Fall beschränkt geblieben wäre. Die entscheidende Bedeutung dieser Urteile liegt in ihrer Wirksamkeit für spätere und zukünftige Fälle, als richtungsweisende Handhabe für die Rechtsprechung der Instanzgerichte, als wesentlicher Anhaltspunkt für die anwaltliche Beratung und für Entscheidungen in der Wirtschaft, als Grundlage und Ausgangspunkt für die dogmatische und kritische Arbeit in der Rechtswissenschaft, als Ansatz für eine stetige und lebendige Fortbildung des Rechts in unserem praktischen Rechtsleben. Ohne eine solche Wirksamkeit über den Einzelfall hinaus kommen wir heute in unserem Rechtsleben nicht mehr aus. In dieser Wirksamkeit liegt der Preis dafür, daß die Zivilsenate des Bundesgerichtshofes nicht mehr dazu berufen sind, in dritter Instanz für eine anteilsmäßige sehr geringe Anzahl von Rechtssachen die gerechte Entscheidung im Einzelfall im vollen Umfang zu gewährleisten. Dazu sind die Richter als Revisionsrichter nicht in der Lage, weil ihnen die dafür entscheidenden richterlichen Aufgaben der Beweiswürdigung und der Feststellung des Sachverhalts entzogen sind. Da ihnen jetzt nur noch die 53 Im einzelnen sei hier auf meine Ausführungen in DRiZ 1978, 2 ff. verwiesen, in denen ich die andersartige Entwicklung der strafrechtlichen Revision näher dargelegt habe.

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rechtliche Beurteilung in Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung anvertraut ist, haben sie dem grundsätzlichen Charakter dieser Rechtssachen Rechnung zu tragen54 und dabei die gesetzlichen Vorschriften im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang des Rechts, auch unter Berücksichtigung anderer, ähnlicher und unterschiedlicher Fälle, anzuwenden und fortzubilden. Dieser Aufgabe müssen sich die Revisionsrichter bewußt sein, ihre Tätigkeit ist nicht mehr eine rein richterliche, auf den Einzelfall beschränkte Tätigkeit, ihre durch das Revisionsrecht bedingte Distanz vom Einzelfall verpflichtet sie, die generelle Wirkung ihrer Urteile für das Rechtsleben zu prüfen und die Praktikabilität ihrer Entscheidung für andere Fälle im Auge zu behalten. Ihre Legitimation, für die Rechtseinheit zu sorgen und eine gesunde Fortbildung des Rechts zu gewährleisten, trägt die Verpflichtung in sich, dieser Aufgabe im Dienst für die Allgemeinheit gerecht zu werden. Ich kann nur wünschen, daß der Bundesgerichtshof allezeit die notwendige Kraft und den erforderlichen Mut zur Erfüllung dieser Aufgabe im Dienst des Rechts haben möchte.

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So auch Wank a.a.O. (Fn.20), S. 116.

6. Das obiter dictum - aus revisionsrichterlicher Sicht Seit etwa 30 Jahren werden in Deutschland in zunehmendem Umfang Fragen des Richterrechts, der Rechtsfindung und der Rechtsfortbildung, in der Rechtswissenschaft erörtert 1 . Dabei haben sich an diesen Erörterungen und Auseinandersetzungen - erfreulicherweise, wie ich meine auch zahlreiche Richter beteiligt2 und so in die Diskussion auch ihre eigenen revisionsrichterlichen Erfahrungen eingebracht. Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Ausgestaltung des Richterrechts spielt das obiter dictum als ein bedeutsames Instrument für die Rechtsfortbildung in der Hand des Revisionsrichters eine gewichtige Rolle. Das tritt in den wissenschaftlichen Äußerungen während der letzten 10 Jahre immer stärker zutage. Dabei ist es m. E. auffallend, daß von richterlicher Seite bisher verhältnismäßig wenig zu den Möglichkeiten einer behutsamen Rechtsfortbildung durch ein obiter dictum gesagt worden ist und eigentlich überhaupt nichts zu den bedenklichen Gefahren, die dieses Instrument erfahrungsgemäß für die Einheit der Rechtsprechung mit sich bringen kann. Ich halte das deshalb für auffallend, weil das obiter dictum für den Revisionsrichter ein Handwerkszeug ist, das aus seiner täglichen Arbeit eigentlich gar nicht wegzudenken ist und dessen verständiger Gebrauch Geschick und Kunstfertigkeit voraussetzt. Wenn ich in der Festschrift für Otto Mühl einige Gedanken über das obiter dictum aus revisionsrichterlicher Sicht ausbreiten möchte, so tue ich das in Erinnerung an das gemeinsame richterliche Wirken mit dem Jubilar am Beginn unserer beruflichen Tätigkeit und in dem Bewußtsein, daß sich dieser als Bundesrichter in einem besonderen Maß mit methodischen Fragen im Rahmen der Rechtsprechung befaßt hat. I.

1. Obiter dicta, d.h. Äußerungen und Bemerkungen in einem richterlichen Urteil oder Beschluß, die nicht unmittelbar die getroffene Entscheidung tragen, sondern aus irgendeinem Grund, oft nur beiläufig und * Aus: Festschrift für O t t o Mühl zum 70. Geburtstag am 10. Oktober 1981. Hrsg. von Jürgen Damrau, Alfons Kraft, Walter Fürst. - W. Kohlhammer, Stuttgart, 1981, 139-167. 1 Vgl. etwa die Zusammenstellung des Schrifttums aus den 50er und 60er Jahren bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, Fn. 261. 2 Vgl. etwa Werner, Das Problem des Richterstaats, 1960; Robert Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971; Wanagat, Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, 1972; Hilger, Überlegungen zum Richterrecht in Festschrift für Karl Larenz, 1973; Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

niemals zur eigentlichen Begründung der konkreten Entscheidung im Einzelfall gemacht werden, finden sich in den Urteilen der obersten Gerichtshöfe des Bundes verhältnismäßig häufig, und es ist sicherlich eine zutreffende Beobachtung, wenn im Schrifttum die Meinung geäußert wird, daß demgegenüber die obiter dicta in den Entscheidungen des Reichsgerichts eine geringere Rolle gespielt haben 3 . Das hängt damit zusammen, daß die Bedeutung des Richterrechts und der Rechtsfortbildung in der Rechtspraxis nun schon seit längerer Zeit immer stärker wird und daß die obersten Gerichtshöfe sich dieser Aufgabe immer weniger entziehen können. Die obiter dicta erweisen sich dabei, wie die Erfahrung lehrt, als ein notwendiges und unentbehrliches Mittel, der Bewältigung dieser Aufgabe zu dienen. Die obiter dicta ermöglichen im einzelnen eine Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der Ausdrucksweise, die von leichten Andeutungen und leisen Zweifeln über allgemein, aber auch konkret gehaltene Erwägungen und Hinweise hin bis zu Ankündigungen und deutlichen Meinungsäußerungen variieren können und die so je nach den Umständen des Einzelfalls den unterschiedlichen Erscheinungsformen der richterlichen Rechtsfortbildung Ausdruck geben können. Mit dieser Erkenntnis läßt sich eine immer noch vertretene Meinung über den Unwert der obiter dicta und über den Mißbrauch, den die Rechtsprechung angeblich mit ihnen ganz allgemein treibe, nicht vereinbaren. Diese Meinung geht davon aus, daß die Aufgabe des Richters, auch des Revisionsrichters lediglich in der Entscheidung des ihm unterbreiteten Rechtsstreits liege und daß er lediglich diese Entscheidung zu begründen habe 4 . „Jede Äußerung, die nicht fallbezogen ist, überschreitet die Richter-Aufgabe, greift in die Sphäre der dogmatischen Generalisierung und den Aufgabenkreis des Gesetzgebers über und maßt sich ungerufen die Entscheidung eines Falles an, über den möglicherweise einmal ein anderes Gericht zu befinden haben wird 5 ." Richterliche Äußerungen zu nicht entscheidungserheblichen Rechtsfragen und namentlich Leitsätze, die solche Äußerungen aufnehmen und ihnen dadurch einen besonderes Gewicht beilegen, halten sich für diese Meinung nicht mehr in dem Rahmen unserer Verfassungsordnung und sind für sie verfassungswidrig 6 . Ich habe in Ubereinstimmung mit der heute wohl überwiegend vertretenen Meinung im Schrifttum den Eindruck, daß diese Kritik an den obiter dicta in höchstrichterlichen Entscheidungen im Kern unbegründet 3 Vgl. etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 530 f; Jeschek GA 54, 323. 4 Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S.28; Hattenhauer, Die Kritik der Zivilurteile, 1970, S. 136. 5 Schröder MDR 1960, 809. 6 Schlüter a . a . O . Fn.4, S.57/58, 77.

6. Das obiter dictum

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ist, und daß sie der heute im Vordergrund stehenden Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung, über den Einzelfall hinaus der Rechtsfortbildung zu dienen und die Rechtseinheit zu wahren 7 , nicht gerecht wird. Gleichwohl sollte man diese Kritik nicht achtlos beiseite lassen; denn sie weist zur Begründung ihrer ablehnenden Stellungnahme gegenüber den obiter dicta auf Gefahren hin, die mit einem gedankenlosen Gebrauch oder einer aus Vorsicht herrührenden Verwendung dieses Mittels durchaus verbunden sein können und die deshalb auch von jedem Revisionsrichter ernst genommen werden sollte. 2. Die richterliche Rechtsfindung erhält durch die Erprobung am Einzelfall und durch die Auseinandersetzung mit den Argumenten der jeweiligen Prozeßparteien wichtige Voraussetzungen für eine „richtige" Entscheidung, auf die kein Gericht verzichten kann. Die Berücksichtigung aller im Einzelfall in Betracht kommender tatsächlicher und rechtlicher Gesichtspunkte und eine zutreffende Abwägung des Für und Wider der gegensätzlichen Auffassungen vermitteln dem Gericht eine Grundlage für seine Entscheidung, die mit Recht als „Richtigkeitsgewähr" für die richterliche Entscheidung bezeichnet werden®. Der richterlichen Rechtsfindung ist eine dialektische Auseinandersetzung mit den Thesen der einen wie mit den Antithesen der anderen Partei eigen9, ohne die die notwendige Richtigkeitsgewähr für die richterliche Entscheidung im Grunde nicht denkbar ist. Für den Revisionsrichter wird diese Richtigkeitsgewähr noch dadurch verstärkt, daß ihm bei seiner Rechtsfindung stets auch noch eine oder zwei Entscheidungen von Instanzgerichten zu eben diesem Fall vorliegen, an denen er seine Entscheidung zusätzlich messen und erproben kann, und zwar namentlich dann, wenn er glaubt, den vorausgegangenen Entscheidungen nicht folgen zu können. Es ist m. E. nicht zu verkennen, daß der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Richtigkeitsgewähr, die ihr durch die Anlehnung an die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls, durch die Abwägung der gegensätzlichen Auffassungen beider Parteien und durch die sorgsame Beachtung der vorausgegangenen richterlichen Entscheidungen zuteil wird, bei der Verwendung von obiter dicta verloren gehen kann. Das ist der Fall, wenn der Richter mit seinem obiter dictum den Rahmen seines Prozesses überschreitet und sich mit Rechtsfragen befaßt, die bisher nicht den Gegenstand des Prozesses gebildet haben und auch nicht den eigentlichen Inhalt des Interessenwiderstreits der 7 Vgl. dazu für den Bereich des Bundesgerichtshofs Robert Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung - am Beispiel des Bundesgerichtshofs, im Sitzungsbericht zum 52. Deutschen Juristentag 1978 H S. 28 ff [hier S. 72 ff], 8 Dazu Schlüter a. a. O . Fn. 4, S. 28 ff; ferner Esser JZ 1962, 514/15; Kotz AcP 175, 363. 9 Dazu Heusinger a. a. O . Fn. 2, S. 156 ff.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Parteien darstellen. In einem Fall dieser Art sollte sich der Richter bewußt sein, daß er hierbei auf Vorteile der ihm sonst zukommenden Richtigkeitsgewähr verzichtet, und daß ein solches Vorgehen einer besonderen Prüfung und Vorsicht bedarf, weil mit ihm eine zusätzliche Fehlerquelle verbunden sein kann. Diese Fehlerquelle muß ernst genommen werden. Denn die Erfahrung lehrt, daß häufig gerade Rechtsansichten in obiter dicta recht bald wieder aufgegeben werden 10 . 3. Aber auch sonst sollte die höchstrichterliche Rechtsprechung das, was im einzelnen in der Kritik an den obiter dicta vorgebracht wird, berücksichtigen und in jedem Fall sorgsam abwägen. So sollte sie stets beachten, daß in eine gerichtliche Entscheidung keineswegs alle Erwägungen und Gedanken, auch nicht die Zweifel und die bei der Vorbereitung der Entscheidung in Betracht gezogenen, aber sodann als unrichtig erkannten Gesichtspunkte aufzunehmen sind. Der Richter hat nicht alles, was ihm bei seinen Vorarbeiten durch den Kopf gegangen ist, und was er als Für und Wider geprüft und abgewogen hat, im Urteil offenzulegen, vor allem auch nicht das, von dem er selbst erkannt hat, daß es darauf für die Entscheidung nicht ankommt". In der Kritik an den obiter dicta wird mit Recht darauf hingewiesen, daß die Urteile nicht in der F o r m von Gutachten abzufassen sind12 " , und daß demzufolge die zwar in einem Gutachten zu prüfenden, aber für die Entscheidung nicht wesentlichen rechtlichen Gesichtspunkte nicht in die Begründung eines Urteils gehören. Als abschreckendes Beispiel für Urteile dieser Art mögen hier die Entscheidungen B A G 1 1 , 1 9 5 und B A G 1 2 , 1 5 angeführt werden. In dem ersten dieser beiden Urteile werden zunächst fünf verschiedene (tarifrechtliche) Gesichtspunkte geprüft, die einer Anwendung der als Klagegrundlage dienenden Gesetzesbestimmung 10 Vgl. etwa BAG 7, 347 aufgegeben in B A G 8, 285; B G H Z 73, 222 aufgegeben in B G H Z 78, 120; B G H Z 60, 217 „begegnet zunehmend Bedenken" in B G H Z 71, 237. 11 So schon Bahr, Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen, 1883, S. IV. 12 Vgl. etwa Schlüter a. a. O. Fn. 4, S. 130. 13 Es ist ein Verdienst von Weinkauff, des ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofs, darauf hingewirkt zu haben, daß im Bundesgerichtshof von Anfang an - im Unterschied zum Obersten Gerichtshof für die Britische Zone - die Voten der Berichterstatter in Form eines Urteilsentwurfs und nicht als Gutachten erstattet werden, und zwar in der zutreffenden Erkenntnis, daß die Richter nicht die Zeit haben, sich später bei der Abfassung des Urteils von der Form und dem Inhalt eines Gutachtens zu lösen und damit das Urteil von unnötigen und mitunter zu Bedenken Anlaß gebenden Ballast frei zu halten. Das Votum in Form eines Urteilsentwurfs und nicht in Form eines Gutachtens bietet darüber hinaus einen weiteren Vorteil. Es nötigt den Berichterstatter von vornherein zur gedanklichen Klarheit, zur geistigen Konzentration sowie dazu, auch bei einem verwickelten Sachverhalt, bei einem menschlich belasteten Tatbestand oder bei besonders schwierigen Rechtsfragen sich - zunächst allein - zu einem bestimmten Entscheidungsvorschlag durchzuringen.

6. Das obiter dictum

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entgegenstehen könnten. Nachdem das in eingehenden rechtlichen Ausführungen für alle fünf Gesichtspunkte verneint worden ist, wird anschließend dargelegt, daß die fragliche Bestimmung mit dem Grundgesetz und zusätzlich (!) auch mit der Verfassung des Landes NordrheinWestfalen nicht zu vereinbaren und deshalb die Klage abzuweisen sei. In dem zweiten dieser Urteile werden zunächst sechs verschiedene Möglichkeiten, die zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs herangezogen werden könnten, erörtert und sodann entschieden, daß sie als Klagegrundlage nicht in Betracht kommen; erst nach diesen (überflüssigen) Ausführungen kommt das Urteil zu dem Ergebnis, daß eine siebente Möglichkeit eine ausreichende Klagegrundlage darstelle und daß aus diesem Grund der Klage stattzugeben sei. Der wesentliche Fehler einer solchen Begründungsweise besteht darin, daß bei ihr höchstrichterlich viel zuviel entschieden wird und daß den nicht entscheidungserheblichen Rechtsfragen dabei allzu leicht nicht die gebotene Sorgfalt des gesamten Senats zugewendet wird. Das kann zu Rechtsunsicherheit bei den Instanzgerichten oder bei den interessierten Verkehrskreisen führen, weil der Bestandsschutz solcher höchstrichterlichen Entscheidungen zu vielerlei Rechtsfragen dann nicht so gesichert ist, wie er es sein sollte 14 . 4. In der Regel sollte die höchstrichterliche Rechtsprechung auch von Doppel- und Mehrfachbegründungen absehen 15 . Sie gehen nach meiner Erfahrung häufig auf eine gewisse Unsicherheit des Berichterstatters zurück, der sich bei der Abfassung seines Votums seiner ersten Begründung nicht ganz sicher ist und deshalb seinen Entscheidungsvorschlag durch die Hinzufügung weiterer Begründungen (Hilfsbegründungen) zu untermauern sucht 16 . Der Senat sollte in Fällen dieser Art darauf achten, daß die Doppelbegründungen bei der Abfassung des Urteils wieder entfernt werden; dabei bedarf es gegebenenfalls der Prüfung, welche der Vgl. oben Fn. 10. F ü r Urteile, die mit dem Rechtsmittel der Revision angefochten werden können, gilt das nicht. F ü r diese Urteile sind Doppel- oder Mehrfachbegründungen durchaus gerechtfertigt, zuweilen sogar geboten. Denn der Instanzrichter kann häufig nicht übersehen, welche Auffassung das Revisionsgericht gegenüber der von ihm in erster Linie ins Auge gefaßten Begründung vertreten wird, und er wird in einem solchen Fall aus prozeßökonomischen Gründen gut daran tun, seiner Begründung eine weitere oder weitere Begründungen, gegebenenfalls mit den dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen, hinzuzufügen, um so die Chance für die Bestätigung seines Urteils zu erhöhen. Das gilt in einem besonderen Maß für den Strafrichter im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Hauptverhandlung, gilt aber auch für den Zivilrichter, damit die Rechtskraft seines Urteils möglichst bald die Voraussetzungen für den Rechtsfrieden zwischen den Parteien herbeiführt. 14

15

16 Die Vermutung von Neumann A u R 1973, 339, Anlaß für mehrfache und zusätzliche Begründungen sei oft das Bestreben, die Zustimmung aller Senatsmitglieder herbeizuführen, entspricht nicht meiner Erfahrung.

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in Betracht gezogenen Begründungen die größte Überzeugungskraft besitzt und welcher deshalb für die Urteilsbegründung der Vorzug zu geben ist. Auch für Doppelbegründungen gilt im Grundsatz das Gebot, daß der Senat nicht mehr entscheiden sollte, als zur Erledigung des Rechtsstreits geboten ist17. Es gibt freilich auch Fälle, in denen es ausnahmsweise auch einmal angebracht oder erwünscht sein kann, dem Urteil eine Doppelbegründung beizufügen 18 . Immer sollte der Senat in diesen Fällen aber bedenken, daß Doppelbegründungen die Uberzeugungskraft des Urteils nicht erhöhen, sondern meist sogar schmälern, weil sie den Eindruck erwecken, daß der Senat seine zunächst gegebene Begründung nicht als ausreichend angesehen und ihr deshalb eine weitere Begründung hinzugefügt hat. Für die Rechtssicherheit ist das dann meist ein Nachteil, weil auf diese Weise die Doppelbegründung allzu leicht bei den Instanzgerichten Zweifel an der Rechtsbeständigkeit der einen oder der anderen Begründung auslösen kann. Doppelbegründungen werden zuweilen auch verwendet, um durch sie bei einer Aufhebung des Urteils und einer Zurückverweisung der Sache eine verstärkte Bindungswirkung des Berufungsgerichts für die erneute Verhandlung herbeizuführen. Das geschieht in der Weise, daß das Revisionsgericht zwei unabhängig voneinander bestehende, durchgreifende Rechtsfehler des Berufungsurteils dartut und das Berufungsurteil sodann wegen dieser beiden Fehler aufhebt". Derartige Doppelbegründungen sind m. E. nicht legitim, da § 565 Abs. 2 Z P O davon ausgeht, daß das Berufungsurteil aus einem Grunde aufgehoben wird und das Berufungsgericht für das zweite Berufungsverfahren nur insoweit gebunden werden kann. In einem Fall, wie er den Entscheidungen B G H Z 70, 337; 71, 86 zugrunde liegt, besteht nur die Möglichkeit, dem Berufungsgericht wegen des zweiten Rechtsfehlers einen rechtlichen Hinweis zu geben 20 , nämlich für den Fall, daß es nach den noch notwendigen Feststellungen zum ersten Aufhebungsgrund auf den zweiten Rechtsfehler und den insoweit noch gebotenen Feststellungen ankommen sollte. 5. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Bedenken von Bedeutung, das in der Kritik an den obiter dicta gegen diese vorgebracht wird, nämlich der Hinweis auf die Gefahr, daß höchstrichterliche Entschei17 Vgl. dazu etwa die überflüssige, 3 Seiten lange Hilfsbegründung in B G H S t . 28, 224, 2 2 8 f f ; ferner z . B . B G H Z 70, 389, 395; 71, 243, 246. 18 Dazu Näheres unten III 2 bei F n . 4 8 .

" Vgl. B G H Z 71, 86, 9 6 : „Die unter 2 und 3 dargelegte fehlerhafte Rechtsanwendung und die fehlenden tatsächlichen Feststellungen zwingen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils"; B G H Z 70, 3 3 7 : „Aus den Gründen zu 2 und 3 kann das Urteil keinen Bestand haben. E s ist aufzuheben, und die Sache i s t . . . an das Oberlandesgericht zurückverwiesen". (insoweit a . a . O . nicht mitabgedruckt); vgl. ferner B G H S t . 12, 62, 75. 20

Zu der Bedeutung und Notwendigkeit solcher Hinweise vgl. S. 238 f.

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düngen durch Aufnahme überflüssiger, nicht entscheidungserheblicher Ausführungen zuweilen den Charakter von wissenschaftlichen Abhandlungen annehmen und damit weit über den Rahmen hinausgreifen, der einem Urteil oder Beschluß durch seine Funktion, einen konkreten Rechtsstreit zu entscheiden, gezogen ist. Die lehrbuchartige Darstellung der Entscheidungsgründe auf über 50 Seiten in B A G 20, 175 ist ein beredtes Beispiel für einen Fall dieser Art 21 . Auch die drei Entscheidungen verschiedener Strafsenate in B G H S t . 6, 263; 11, 242; 12, 62 zum Züchtigungsrecht des Lehrers gehören hierher. Ihre Kennzeichnung durch Eberhard Schmidt, daß nämlich „jede für sich fast eine monografische Abhandlung zu diesem Thema darstellt" 22 , ist nach meiner Ansicht kein L o b , sondern eher ein Tadel und sollte bedenklich stimmen. Dabei tritt bei solchen Entscheidungen verschiedener Senate zu demselben Rechtsproblem in einem besonderen Maß das Bedenken zutage, daß sie Rechtsunsicherheit in die Rechtsprechung der Gerichte tragen, wenn sie, wie meist und wie auch die Entscheidungen zum Züchtigungsrecht des Lehrers, mit unterschiedlichen Gewichtungen das in Frage stehende Rechtsproblem behandeln und damit in der Sache abweichende Meinungen vertreten 23 . Es wäre daher in einem Fall dieser Art richterliche Zurückhaltung mehr am Platz gewesen als die mehr oder weniger glanzvolle Darbietung wissenschaftlicher Lehrmeinungen, die für die konkreten Entscheidungen nicht erheblich waren. Im allgemeinen gehört auch die Erörterung und Auseinandersetzung mit bedeutsamen Grundsatzproblemen unseres Rechts nicht in ein richterliches Urteil, es sei denn, daß eine solche Stellungnahme ausnahmsweise für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits unabdingbar geboten ist. Ich halte daher die Ausführungen des Großen Senats für Zivilsachen in seinem Beschluß vom 4. März 1957 24 zum verkehrsgerechten Verhalten eines Verrichtungsgehilfen nicht für billigenswert, weil der Senat sich hier mit den höchst umstrittenen und schwierigen Rechtsfragen zum Problem der Rechtswidrigkeit einer Rechtsgüterverletzung bei einem verkehrsgerechten Verhalten befaßt und eingehend auseinandersetzt, obwohl das bei der m. E. zutreffenden Beurteilung der Beweislastfrage für den Senat überhaupt nicht notwendig gewesen war25. Bei dieser 21 Vgl. auch B A G 1, 69 mit seinem belehrenden Bekenntnis zu der im Strafrecht entwickelten Schuldtheorie. 22 J Z 1959, 518. 25 Vgl. dazu die Beurteilung von Eberhard Schmidt J Z 1959, 518. 24 B G H Z 24, 21. 25 Vgl. dazu Stoll J Z 1958, 137: „Wer das praktische Ergebnis der Grundsatzentscheidung im Auge hat, stellt nach den eingehenden Erwägungen des GSZ zum Rechtswidrigkeitsbegriff etwas überrascht fest, daß sich nichts geändert hat, - jedenfalls nicht in dem konkreten F a l l . . . (Das) legt die Frage nahe, ob es nicht der Eigengesetzlichkeit der

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Entscheidung erweist die nicht selten gemachte revisionsrichterliche Erfahrung ihre Bedeutung, daß nämlich die Vorbereitungsarbeiten des Berichterstatters und des Vorsitzenden sowie der Inhalt des jeweiligen Votums mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit einen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der späteren Entscheidungsgründe ausüben. O f t ist es gar nicht so leicht, das Urteil von solchen Gedanken mit dem Hinweis frei zu halten, daß derartige Ausführungen nicht entscheidungserheblich sind. Die Unruhe, ja der Wirbel, den die Entscheidung des Großen Senats B G H Z 24, 21 im Schrifttum ganz allgemein ausgelöst hat26, unterstreicht angesichts der Bedeutungslosigkeit dieser Entscheidung für die praktische Rechtsanwendung ihre Fragwürdigkeit, aber des weiteren auch die Notwendigkeit einer äußersten Zurückhaltung der Rechtsprechung bei der Behandlung systematischer Grundsatzfragen des Rechts. Ähnliches wie für die Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen gilt für die Entscheidung BGHSt. 15, 155, in der der 3. Strafsenat überflüssigerweise und trotzdem sehr betont („nachdrücklich") zur Fragen des Legalitätsprinzips Stellung nimmt und ausspricht, die Anklagebehörde sei zur Anklage verpflichtet, wenn ein genügender Anhalt dafür besteht, daß ein Verdächtiger einen Straftatbestand erfüllt hat und gemäß feststehender höchstrichterlicher Rechtsprechung verurteilt werden wird27. Dieser Ausspruch hätte aus revisionsrichterlicher Sicht unter allen Umständen unterbleiben müssen, weil es nicht die Aufgabe der Rechtsprechung ist, die Grenzen des Legalitätsprinzips für die Staatsanwaltschaft festzulegen, und weil ein solcher Ausspruch auch nicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt werden kann, er sei zur

richterlichen Rechtsfortbildung besser entspricht, Prinzipien einer jahrzehntelangen Rechtsprechung erst dann preiszugeben, wenn die Entscheidung des konkreten Falls dazu nötigt". 26 N J W 1957; Bettermann 986; Haase 1315; Zippelius 1707; Nipperdey 1777; N J W 1958: Schmidt 488; Gussow 891; May 1262; N J W 1959: Haffenburg 1398; N J W 1960: Dunz 507; Boennecke 1188; JZ 1957: Wieacker 535; JZ 1958: Stoll 137; Bindokeit 553; Baumann M D R 1957, 646; Böhmer M D R 1958, 745; VersR 1958, 277; Nipperdey VersR 1959, Beiheft S.5; Larenz ebd. S. 12; Esser ebd. S. 17; Lehmann, Festschrift für Hedemann, 1958, S. 188 ff; Wiethölter, Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, 1960; Zeiss, Das verkehrsrichtige Verhalten als Rechtfertigungsgrund im Zivilrecht, 1960. 17 Auch diese Entscheidung hat in der juristischen Öffentlichkeit einen starken Widerhall gefunden. Die von der Entscheidung aufgeworfene Frage nach den Grenzen des Legalitätsprinzips für die Staatsanwaltschaft wurde zum alleinigen Beratungsgegenstand der strafrechtlichen Abteilung des 45. Deutschen Juristen tags bestimmt und in dem Gutachten von Nowakowski und den Referaten von Schwalm und Herrmann (vgl. Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentags 1964 Bd. 1, Teil 2, Bd. 2, Teil D); eingehend behandelt; vgl. ferner auch die Äußerungen von Eb. Schmidt M D R 1961, 269; Dünnebier JZ 1961, 312; Göbel N J W 1961, 856; Sarstedt N J W 1964, 1752.

6. Das obiter dictum

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Wahrung der Rechtseinheit notwendig gewesen28. - In diesem Zusammenhang mag des weiteren auch die Entscheidung B G H 2 9, 157 angeführt werden, die zur Zulässigkeit eines Gesellschafterausschlusses aus wichtigem Grund bei einer G m b H Stellung nimmt und diese bejaht. Der Rahmen dieser Entscheidung ist außerordentlich weit gezogen; sie behandelt in einer vielfältig verzweigten Kasuistik auf immerhin 22 Seiten zahlreiche, nicht unmittelbar entscheidungserhebliche Einzelfragen bei der Durchführung des Gesellschafterausschlusses und nimmt dabei den Charakter einer systematischen Darstellung dieses schwierigen Rechtsproblems an, die auf jede Einzelfrage eine Antwort zu geben versucht. Zur Rechtfertigung dieser an sich ungewöhnlichen Formulierung der Entscheidungsgründe läßt sich immerhin sagen, daß der Senat die Zulässigkeit eines Gesellschafterausschlusses praeter oder contra legem wohl nur bejahen durfte, wenn er sich auch zugleich über die schwierige Art der Durchführung des Gesellschafterausschlusses Klarheit verschaffte und der Rechtspraxis die dafür notwendigen Hinweise gab. Denn ohne eine derartige Klarstellung, die erst die Praktikabilität eines solchen Gesellschafterausschlusses dartun konnte, hätte der Senat wohl nur schwerlich die Zulässigkeit des Gesellschafterausschlusses bejahen dürfen. Jedenfalls war das damals die Auffassung des Senats. Da diesem m. E. allein die Bestimmung darüber zukommt, was es zur Begründung seiner entscheidungserheblichen Auffassung über die Zulässigkeit des Gesellschafterausschlusses für notwendig hält, wird man hier wohl nicht den Vorwurf erheben können, daß der Senat die Grenzen einer richterlichen Entscheidung überschritten hat, sondern höchstens den Vorwurf, daß das Urteil in der Formulierung zu breit angelegt ist und dadurch die notwendige Präzisierung und Konzentration der Gedankenführung vermissen läßt. Abschließend mögen hier noch einige Worte zu der Entscheidung B G H LM Nr. 19 zu §105 H G B angefügt werden. In dieser Entscheidung greift der Senat in einer äußerst knappen Formulierung eine terminolgische Frage auf, indem er an Stelle des von ihm bisher gebrauchten Ausdrucks „faktische Gesellschaft" hinfort den Ausdruck „fehlerhafte Gesellschaft" setzte. Der Senat war sich damals darüber einig, daß es nicht seine Aufgabe sei, diesen Wechsel in seiner Ausdrucksweise näher zu begründen und sich dabei in terminologische Erörterungen einzulassen. Er hat sich vielmehr mit der knappen Formulierung „die faktische, besser fehlerhafte Gesellschaft" begnügt; erst in 28 Vgl. auch Eb. Schmidt M D R 1961, 269: „Eigentlich ist es überraschend, in dem U r t e i l . . . diese Ausführungen über das Legalitätsprinzip zu finden. . . . Im Grunde genommen können Sachentscheidungen des B G H oder der OLGe, mögen sie erstinstanzlicher Art sein oder im Revisionsverfahren ergehen, kaum einen Anlaß haben, zu Fragen des Legalitätsproblems Stellung zu nehmen".

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einer Anmerkung bei L M habe ich als damaliges Mitglied des Senats die Gründe für den Wechsel in der Bezeichnung näher erläutert. Ich glaube auch heute noch, daß dies der richtige Weg ist, wenn einmal das Revisionsgericht aus besonderen, sachlich gebotenen Gründen glaubt, eine bisher gebrauchte Terminologie ändern zu müssen, um dadurch Mißverständnisse über den Inhalt und die Tragweite seiner Rechtsprechung auszuräumen.

II. Die Verwendung von obiter dicta in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bedarf m. E. in jedem Fall einer Rechtfertigung; dabei muß sich diese aus den Aufgaben eines obersten Gerichtshof des Bundes herleiten lassen. Diese Aufgaben sind verschiedener Art, da jeder oberste Gerichtshof einmal die Aufgabe hat, den ihm unterbreiteten Rechtsstreit im Rahmen der durch das Rechtsmittel der Revision gezogenen Grenzen gerecht zu entscheiden, und sodann die weitere Aufgabe, durch diese Entscheidung die Rechtseinheit zu wahren und einer gesunden Fortbildung des Rechts zu dienen. Im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist der Schwerpunkt dieser Aufgaben bei den Strafsenaten und den Zivilsenaten verschieden gelagert29. Für die Rechtsprechung der Strafsenate liegt der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in der eigentlichen Aufgabe eines Gerichts, nämlich in der Gewährleistung einer gerechten Entscheidung des konkreten Einzelfalls, während diese Aufgabe bei den Zivilsenaten in einer langen, über 100 Jahre währenden Entwicklung immer mehr an Gewicht verloren und die andere Aufgabe, die Gewährleistung der Rechtseinheit und die Sorge um eine gesunde Fortbildung des Rechts immer mehr an Bedeutung gewonnen hat30. 1. Es gibt bedeutsame obiter dicta in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, und zwar sowohl im Bereich der Zivil- wie auch der Strafrechtspflege, die im Interesse der Prozeßparteien und zwar vor allem im Interesse einer beschleunigten und ökonomischen Erledigung des jeweiligen Prozesses geboten sind. Ihnen kann sich kein Zivil- oder Strafsenat mit der Begründung entziehen, sie seien zur unmittelbaren Erledigung des Rechtsstreits in der Revisionsinstanz nicht erforderlich. Sie hängen mit der besonderen Regelung der § § 5 6 5 Abs. 2 Z P O , 358 Abs. 1 S t P O und der Tatsache zusammen, daß die weiteren, durch die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts notwendig gewordenen Feststellungen nicht von diesem selbst getroffen werden können. 29 Vgl. Robert Fischer in Ansprachen zur Verabschiedung des bisherigen Präsidenten des BGH und zur Amtseinführung des neuen Präsidenten des BGH am 30. Sept. 1977, S. 22 ff. 30 Vgl. Robert Fischer, a. a. O. Fn. 29, S. 26 ff.

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Wird auf die Revision eines Prozeßbeteiligten das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Instanzgericht zurückverwiesen, so ist dieses nach §§565 Abs. 2 ZPO, 358 Abs. 1 StPO lediglich an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist; eine weitergehende Bindung an die Rechtsausführungen in dem Revisionsurteil ist nicht vorgesehen 31 . Gleichwohl besteht m. E. eine Pflicht des Revisionsgerichts, das Berufungsgericht auf besondere rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, die für die erneute Verhandlung von Bedeutung sein können, nämlich dann, wenn das Revisionsgericht der Uberzeugung ist, daß ein solcher Hinweis für eine sachgerechte und möglichst schnelle Erledigung des Rechtsstreits geboten oder doch wenigstens von Nutzen ist. Das ergibt sich unmittelbar aus seiner Aufgabe, für eine ökonomische Erledigung eines jeden Prozesses zu sorgen 32 . Ein Fall dieser Art ist immer gegeben, wenn aus dem Berufungsurteil eine fehlerhafte Rechtsmeinung ersichtlich ist, auf die es ankommen könnte, wenn die noch notwendige Beweisaufnahme in diesem oder in jenem Sinn ausfallen sollte. Denn das Revisionsgericht darf es nicht dazu kommen lassen, daß das Berufungsgericht gegebenenfalls diesen Fehler wiederholt und dadurch ein neues Revisionsverfahren notwendig wird, das unter Umständen wiederum zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht führt. Solchen Hinweisen ist ein besonderes Gewicht beizumessen, weil Fälle dieser Art verhältnismäßig häufig vorkommen 33 . Neben diesen Tatbeständen, in denen es m . E . stets die Pflicht des Revisionsgerichts ist, das Berufungsgericht durch einen geeigneten Hinweis auf einen Rechtsfehler in seinem Urteil hinzuweisen, damit er nicht in dem zweiten Berufungsurteil wiederholt wird, gibt es Tatbestände, in denen solche rechtliche Hinweise angebracht sein können, ohne daß man insoweit immer von einer Pflicht des Revisionsgerichts sprechen kann. Vielmehr ist insoweit ein gewisser Beurteilungsspielraum für das Revisionsgericht gegeben, den dieses nach seinem pflichtgemäßen Ermessen auszufüllen hat. Dabei muß die Richtschnur für die Ausübung des Ermessens in diesen Fällen die Frage sein, ob ein solcher Hinweis im Interesse der Prozeßparteien und namentlich im Interesse einer sachgerechten Erledigung des Rechtsstreits angebracht oder nützlich ist. Es 51 BGHZ 3, 321; BGH FamRZ 1963, 282 ff; NJW 1969, 661; Tiedtke, Die innerprozessuale Bindungswirkung von Urteilen der obersten Bundesgerichte, 1976, S. 68 ff, 87 ff. 32 Auch Schlüter a.a.O. Fn.4, S. 181 hält obiter dicta in diesem Zusammenhang für berechtigt, weil sie geeignet sind, eine erneute Anrufung des Rechtsmittelgerichts in derselben Sache zu verhindern und den Rechtsstreit schneller zu beenden. 33 Aus der letzten Zeit mögen als Beispiele hierfür nur die Urteile BGHZ 70, 102, 111 f; 71, 86, 96 ff; BGHSt. 28, 72, 75 ff; 29, 23, 24 f angeführt werden.

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handelt sich hierbei um Hinweise auf solche rechtlichen Gesichtspunkte, die bisher im Prozeß noch nicht zur Sprache gekommen sind, auf die es jedoch in der erneuten Verhandlung ankommen könnte. Das Revisionsgericht sollte sich zu solchen Hinweisen im allgemeinen nur entschließen, wenn dazu ein besonderer Anlaß besteht, der im Interesse einer sachgerechten Erledigung des Rechtsstreits einen solchen Hinweis nahe legt. Das mag etwa der Fall sein, wenn aus der Führung des Prozesses entnommen werden kann, daß der bisher nicht zur Sprache gekommene rechtliche Gesichtspunkt auch in der erneuten Verhandlung in seiner Bedeutung nicht erkannt wird, oder wenn der Fachsenat aus seiner besonderen Sachkenntnis auf einem bestimmten Rechtsgebiet es für nützlich hält, dem Berufungsgericht gewisse rechtliche Hilfen mit auf den Weg zu geben34. Dabei sollte sich das Revisionsgericht aber stets auch vor Augen halten, daß es sich nicht von einer unangebrachten Belehrungssucht gegenüber dem Berufungsgericht leiten läßt. Auch der Hinweis in der Entscheidung BGHSt. 28, 231, 232 f, daß nämlich ein schon geltend gemachter Einwand der Verteidigung in der erneuten Verhandlung von Bedeutung sein könnte und dann in einer bestimmten Weise rechtlich zu beurteilen ist, ist sachgerecht und im Interesse einer beschleunigten Erledigung des Verfahrens angebracht. Das Revisionsgericht muß sich bei solchen Hinweisen immer bewußt sein, daß die Hinweise für die weitere Gestaltung des Verfahrens von praktisch hoher Bedeutung sind und dem Verfahren in seinem weiteren Verlauf eine bestimmte Richtung geben, da die Instanzgerichte solche Hinweise trotz fehlender Bindungswirkung (§§565 Abs. 2, Z P O , 358 Abs. 1 StPO) im allgemeinen beachten. Daher ist es notwendig, daß das Revisionsgericht dem Inhalt und der Formulierung solcher Hinweise die gleiche Sorgfalt wie den tragenden Entscheidungsgründen zuwendet, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Hinweise Aufnahme in einem besonderen Leitsatz finden und dadurch auch für die Öffentlichkeit eine erhöhte Bedeutung erlangen oder nicht. Angesichts der Bedeutung, die solchen Hinweisen für den weiteren Fortgang des Verfahrens zukommt, ist es angebracht, daß das Revisionsgericht in der mündlichen Verhandlung den Parteien Gelegenheit gibt, sich zur Aufnahme solcher Hinweise in das Revisionsurteil zu äußern (§ 139 ZPO) und sie damit im Rahmen des Zivilverfahrens in das Rechtsgespräch, das das Revisionsgericht mit den Parteien führen sollte, voll einbezieht. Das ist nicht nur im Interesse der Parteien geboten, sondern es verstärkt zugleich die Richtigkeitsgewähr für das Revisions34

Vgl. etwa B G H Z 13, 49, 54 ff zur entsprechenden Anwendung der §§30, 31 G m b H G ; ähnlich B G H Z 72, 51, 54f; 73, 183, 189f; auch B G H Z 73, 196, 202.

6. D a s obiter d i c t u m

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urteil, auf die das Revisionsgericht nicht verzichten kann. Bei einer solchen Handhabung kann auch sichergestellt werden, daß sich die Hinweise im Rahmen des anhängigen Prozesses und damit in dem dadurch abgesteckten Rahmen des Für und Wider der gegenteiligen Auffassungen der Parteien halten; das erhöht den wichtigen wirklichkeitsbezogenen Gehalt der Hinweise und vermag die Gefahr zu bannen, daß sie zu abstrakten, in der Sache unverbindlichen Meinungsäußerungen verblassen. U m den realistischen Bezug auf den anhängigen Prozeß zu wahren, muß sich das Revisionsgericht davor hüten, Hinweise für alle möglichen Eventualitäten zu geben, die für den weiteren Fortgang des Verfahrens nur entfernt in Betracht kommen könnten. Das Revisionsgericht sollte daher niemals seine Hinweise in eine weitverzweigte Kasuistik auffächern. Insoweit das rechte Maß zu finden, ist häufig nicht leicht35. Im Zweifel wird das Revisionsgericht gut daran tun, wenn es sich auf die Beurteilung nur der naheliegenden Möglichkeiten für die weitere Gestaltung des Prozesses beschränkt. Ein Hinweis, der mit den Worten abschließt: „ O b das der Beklagte behaupten will, erscheint allerdings zweifelhaft" 35 , ist daher nicht angebracht. In welcher Form und in welcher Ausführlichkeit solche Hinweise zu formulieren sind, sollte m. E. in jedem Fall dem pflichtgemäßen Ermessen des Revisionsgerichts überlassen bleiben. Dabei muß sich aber das Revisionsgericht immer den Zweck und die Funktion solcher Hinweise vor Augen halten und sich bei der Formulierung der Hinweise immer bewußt sein, daß sie keinen Selbstzweck haben und deshalb nicht um ihrer selbst willen zu geben sind. Im einzelnen steht dem Revisionsgericht für die Formulierung seiner Hinweise eine große Variationsbreite zur Verfügung, die sachgerecht auszunutzen, ein besonderes Anliegen des Revisionsgerichts sein muß. Bestimmte Richtlinien insoweit zu geben, scheint mir nach meiner Erfahrung nicht möglich zu sein, weil die jeweilige Ausgestaltung der Hinweise zu sehr von den Umständen des Einzelfalls abhängig ist. Immer sollte das Revisionsgericht aber auch hier beherzigen, daß es die gedankliche Konzentration bei der Formulierung nicht außer Acht läßt und jegliche Art von Redseligkeit vermeidet. O f t kann es bei solchen Hinweisen ausreichend sein, daß das Revisionsgericht auf ein bestimmtes Rechtsproblem lediglich aufmerksam macht, wobei es einen solchen Hinweis auch noch mit dem einen oder anderen Zitat anreichern kann, um den Hinweis für das Instanzgericht ein wenig zu konkretisieren; das Revisionsgericht kann aber auch für die gegensätzlichen Meinungen im Schrifttum jeweils ein Zitat anführen, um 35 I m m e r h i n erscheint mir der H i n w e i s auf die verschiedenartigen Sachverhaltsgestalt u n g e n in B G H Z 73, 183, 1 8 9 f u n d in B G H S t . 23, 359 n o c h vertretbar zu sein.

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damit die Streitfrage einzugrenzen. Eine solche Zurückhaltung des Revisionsgericht bei der Formulierung seiner Hinweise wird in der Regel dann in Betracht kommen, wenn das Revisionsgericht der Meinung zuneigt, die Parteien sollten unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Interessenstandpunkts und unter entsprechender Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zunächst zu dem aufgezeigten Rechtsproblem selbst Stellung nehmen, bevor das Revisionsgericht die Frage abschließend entscheidet. Denn es ist für das Revisionsgericht ein legitimes Anliegen, wenn es vor einer eigenen abschließenden Stellungnahme die Vorteile des Prozesses mit These und Antithese und die damit verbundene Richtigkeitsgewähr für sich nutzbar machen will. Auch wird ein allgemein gehaltener Hinweis dann angebracht sein, wenn die Parteien zu ihrer Unterstützung erfahrene und sachkundige Gutachter zugezogen haben, und wenn es dem Revisionsgericht erwünscht oder förderlich erscheint, daß diese zunächst zu dem aufgezeigten Rechtsproblem Stellung nehmen. Ferner kommt ein allgemein gehaltener Hinweis in Betracht, wenn das Revisionsgericht im Zeitpunkt der Aufhebung des angefochtenen Urteils noch nicht die tatsächliche Gestaltung des Sachverhalts auf Grund der noch notwendigen Feststellungen übersehen kann". Denn es ist immer unerwünscht, wenn das Revisionsgericht Hinweise mit eingehenden Rechtsausführungen auf einer tatsächlichen Grundlage gibt, die sich später als unrealistisch erweist". Andererseits kann es bei einer entsprechenden Sachverhaltsgestaltung auch durchaus denkbar und vertretbar sein, wenn das Revisionsgericht seine Hinweise für das Instanzgericht inhaltlich auffüllt und in dem Hinweis eine bestimmte Rechtsauffassung vertritt, die eine klare Stellungnahme zu diesem oder jenem Rechtsproblem enthält. Die jeweilige Sachverhaltsgestaltung wird für einen solchen Entschluß des Revisionsgerichts die entscheidende Bedeutung haben. Einem solchen Hinweis mit einer klaren und inhaltlichen Aussage kann m. E. nicht entgegengehalten werden, daß das Revisiongericht eine solche Aussage nicht machen dürfte, weil sie nicht entscheidungserheblich sei und auch das Instanzgericht in der neuen Verhandlung nicht binde. Denn wenn ein solcher Hinweis im Interesse eines baldigen Abschlusses des Verfahrens geboten, also von der Aufgabe des Revisionsgerichts her gefordert ist, dann hat das Revisionsgericht den Hinweis inhaltlich so zu gestalten, wie das nach seinem pflichtgemäßen Ermessen notwendig ist; dabei kann es durchaus auch seine weitere Aufgabe, nämlich die Rechtseinheit zu wahren und einer gesunden Rechtsfortbildung zu dienen, entsprechend Vgl. dazu etwa B G H Z 73, 196, 202. Insoweit ist die Zurückhaltung in der Sachaussage bei den mehr kasuistisch gehaltenen Hinweisen in B G H Z 73, 183, 189f und in B G H S t . 23, 356, 359 durchaus angebracht. 36

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6. Das obiter dictum

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berücksichtigen. Es ist daher auch nicht zu beanstanden, wenn das Revisionsgericht seine Hinweise mit einer bestimmten Aussage in einen oder mehrere Leitsätze aufnimmt und damit ihre Bedeutung für Rechtseinheit und Rechtsfortbildung hervorhebt. Dabei ist es auch hier eine Frage des Einzelfalls, ob der Leitsatz in der Form eines kurzen Hinweises („Zur Anwendung v o n . . . " , „zur Frage, o b . . . " oder dgl.) oder in die Form einer eingehenden Sachaussage gefaßt wird 38 . Im allgemeinen würde ich es freilich in diesen Fällen für richtig halten, wenn sich bei einer Spezialisierung der Senate auf bestimmte Sachgebiete, wie das bei den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs im allgemeinen und bei den Strafsenaten nur für einige Sachgebiete der Fall ist, der einzelne Senat bei der inhaltlichen Aussage eines solchen Hinweises immer dann eine betonte Zurückhaltung übt, wenn sich die Aussage mit dem Sachgebiet eines anderen Senats befaßt. 2. Es sind noch einige andere Fälle denkbar, in denen das Revisionsgericht im Interesse der Prozeßparteien oder im Interesse auch nur einer Partei einen besonderen Hinweis in Form eines obiter dictum geben sollte. Einen Fall dieser Art bietet die Entscheidung B A G 13, 45. Hier hatte das Gericht die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland mit der Begründung abgewiesen, daß nicht diese, sondern der Landschaftsverband Rheinland für die Klage passiv legitimiert sei. Sodann hatte das Gericht in zusätzlichen Ausführungen dargetan, daß eine Klage gegen den Landschaftsverband unbegründet sei, weil im gegebenen Fall die Voraussetzungen für die Anwendung der hier in Betracht kommenden Gesetzesbestimmung nicht gegeben seien. Ich halte dieses Vorgehen für billigenswert, weil es geeignet ist, die Erhebung einer unnötigen Klage zu verhindern, zu der der Kläger durch die Entscheidung des Gerichts zur Passivlegitimation allzu leicht hätte veranlaßt werden können. In besonderen Fällen kann es auch angebracht sein, daß das Revisionsgericht seiner Entscheidung eine weitere Begründung anfügt, um damit die eine oder andere Partei noch zusätzlich über die Rechtslage zu unterrichten. Das kann dann in Betracht kommen, wenn die Klage oder ein Einwand aus formalen Gründen (Ablauf einer Frist, Verjährung, Formfehler) nicht durchgreift und diese Begründung nach allgemeiner Beurteilung mehr oder weniger unbefriedigend erscheint. In einem Fall dieser Art ist m. E. nichts dagegen einzuwenden, wenn das Revisionsgericht seiner formalen Begründung noch eine weitere Begründung anfügt, aus der ersichtlich ist, daß auch im übrigen - in der Sache - die Klage

3» Vgl. etwa B G H Z 71, 86, 9 6 f f : 5 Seiten Hinweise mit 2 Leitsätzen; B G H S t . 29, 2 3 : Urteil ist nur veröffentlicht wegen eines Hinweises für die neue Hauptverhandlung.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

oder der Einwand unbegründet ist39. Eine solche weitere Begründung kann der betreffenden Partei das bittere Gefühl nehmen, den Prozeß nur aus formalen Gründen verloren zu haben; es kann also eine solche zusätzliche Begründung im Interesse des allgemeinen Rechtsfriedens durchaus erwünscht sein. Das Revisionsgericht sollte sich jedoch zu einem solchen Vorgehen nur dann entschließen, wenn für das Gericht die zusätzliche Begründung verhältnismäßig einfach ist, etwa durch einen Hinweis auf seine eigene Rechtsprechung oder auf eine überwiegend vertretene Ansicht im Schrifttum, der nicht viel hinzuzufügen ist. Die Erörterung und Beurteilung schwieriger Rechtsfragen sollte hingegen m. E. nicht Gegenstand einer solchen zusätzlichen Begründung sein.

III. In der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes spielen die obiter dicta bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, die Rechtseinheit zu wahren und der Rechtsfortbildung zu dienen, eine immer größere Rolle. Sie „enthalten die rechtspolitische Wegweisung in Ziel und Maßstab einer neuen Judikatur" 4 0 und sie sind „das geeignete Instrument dafür, eine notwendige Diskussion über ein bestimmtes Problem einzuleiten" 41 . Die Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes sind nicht nur für die jeweiligen Prozeßparteien bestimmt, sondern sie richten sich darüber hinaus auch an die Öffentlichkeit und dienen namentlich als Richtschnur für die Rechtsprechung der Instanzgerichte. Das ist schon sehr früh, schon im 19. Jahrhundert erkannt worden, so als dem preußischen Obertribunal durch Kabinettsordre vom 19. Juli 1832 die Verpflichtung zur Begründung seiner Entscheidungen auferlegt wurde, und zwar allein zu dem Zweck, um so auf die Rechtsprechung der übrigen Gerichte den als notwendig empfundenen richtungsweisenden Einfluß ausüben zu können, also nicht etwa dazu, um die Parteien über die Gründe für die getroffene Entscheidung zu unterrichten 42 . Der Richter eines obersten Gerichtshofs darf daher bei seinem Urteil seinen Blick nicht nur auf den konkreten, ihm zur Entscheidung anvertrauten Fall richten, sondern er muß auch anderen, gleichartigen und verschiedenartigen Fällen sein Augenmerk zuwenden, um so die Einordnung seiner Entscheidung in den Gesamtzusammenhang des Rechts zu prüfen und zu erproben. Namentlich muß er sich über die Bedeutung seiner Ent39 Vgl. Robert Fischer, Das Entscheidungmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung Bd. 80, S.48. 40 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 185. 41 Kotz AcP 175, 364 Fn.2. 42 Robert Fischer a. a. O. Fn. 7, S. 8 mit weit. Nachw. [hier S. 54],

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Scheidung als Richtschnur für die Rechtsprechung der Instanzgerichte Rechenschaft ablegen. Er muß die Formulierung seines Urteils so wählen, daß sie ihm bei einem anders gelagerten Sachverhalt nicht als Begründung für die Entscheidung auch dieses Sachverhalts vorgelegt werden kann, wenn das bei dem Erlaß des ersten Urteils nicht gewollt war. Das erfordert das Gebot der Rechtssicherheit, dem der Revisionsrichter in einem besonderen Maß verpflichtet ist. Zu diesem Zweck ist es notwendig, daß er bei seiner Einzelfallentscheidung gegebenenfalls auch erkennt, daß der ihm zur Entscheidung vorgelegte Sachverhalt mit seinen besonderen Umständen gerade nichts Typisches enthält, sondern einen ausgesprochenen Ausnahmecharakter aufweist, der ihn nicht zu allgemein gehaltenen Formulierungen veranlassen darf43. Dabei ist jedoch zu betonen, daß hier für jeden Revisionsrichter eine große Schwierigkeit bei seiner Tätigkeit liegt. So vermag der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs jetzt auf Grund eines umfassenden Rechtsprechungsmaterials, das ihm inzwischen vorgelegt worden ist, bei der Beurteilung einzelner gesellschaftsvertraglicher Bestimmungen der Publikums-Kommanditgesellschaften zu übersehen, ob sie in der Praxis üblich sind oder einen ausgesprochenen Ausnahmecharakter aufweisen. Am Beginn seiner Rechtsprechung zu dieser modernen gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsform konnte der Senat das noch nicht und er mußte sich deshalb durch eine behutsame, langsam vortastende Rechtsprechung die notwendige Erfahrung in diesem Bereich erwerben und besonders darauf Acht geben, keine der Generalisierung zugängliche Formulierung zu verwenden. Es ist eine zutreffende Beobachtung, wenn KötzAi darlegt, daß die Tätigkeit des Revisionsgerichts einen wesentlichen Akzent davon empfängt, daß es seinen Blick beständig zwischen dem streitigen Sachverhalt und ähnlich liegenden Fallgestaltungen hin- und herwandern läßt und seine Entscheidung vor dem Hintergrund auch anderer Fallgestaltungen prüft und erwägt. So hat der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs bei der Beratung seiner Entscheidung L M Nr. 16 zu § 1 6 G W B , in der er Briefmarkenalben als Verlagserzeugnisse anerkannt hat, sich sehr eingehend auch mit anderen Druckerzeugnissen (wie Modezeitschriften und Schnittmuster, Kunstbücher und Kunstdrucke in Postkartenform, Ansichtskarten) befaßt und die Formulierung seiner Entscheidung so gewählt, daß sie für diese Druckerzeugnisse nicht vorgreiflich ist. Er wollte die Beurteilung einer etwaigen Anwendung des § 16 G W B auf solche Erzeugnisse einem späteren Prozeß mit einer auf diesen Fall konzentrierten, kontradiktorischen Auseinandersetzung zwischen sach43 44

Insofern zutreffend Köhl JZ 1976, 755. AcP 175, 364.

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kundigen Parteien vorbehalten und sich damit die Vorteile eines solchen Verfahrens für diese Entscheidung sichern. Der Kartellsenat hätte aber in dieser Sache auch anders vorgehen können; er hätte den Gegenstand seiner Beratung insoweit in der Entscheidung auch offen legen können, um auf diese Weise der Wissenschaft und/oder die interessierten Verkehrskreise zu einer Erörterung und Auseinandersetzung über diese Frage anzuregen 45 und so für ein späteres Urteil über diese Frage Entscheidungshilfen von der Wissenschaft und den interessierten Verkehrskreisen zu erhalten. Er hat das nicht getan, weil er sich von einem solchen Vorgehen keinen Erfolg versprach, da die Frage, ob die genannten Druckerzeugnisse Verlagserzeugnisse im Sinn des § 16 GWB seien, für Wissenschaft und Verkehrskreise von keinem allzu großen Interesse ist. In anderen Fällen ist der Bundesgerichtshof jedoch anders vorgegangen. So hat er in der Entscheidung B G H Z 71, 293 zunächst einen anderen Sachverhalt, mit dem sich bereits das Bundesverfassungsgericht befaßt hatte, herangezogen und dargelegt, daß er sich der Beurteilung dieses anders gelagerten Sachverhalts durch das Bundesverfassungsgericht anschließe. Erst dann hat sich der Bundesgerichtshof seinem, ihm zur Entscheidung vorgelegten Fall zugewendet und ausgeführt, daß die Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts »erst recht für die Fälle (gelte), in d e n e n . . . - wie hier - " es sich darum handele, d a ß . . . Hier hat der Bundesgerichtshof sein obiter dictum, nämlich seine Stellungnahme zu dem Fall des Bundesverfassungsgerichts, als Argument für seine eigene Begründung benutzt. Auch die Entscheidungen B G H Z 70, 143; 76, 352 gehören in diesen Zusammenhang. In der ersten dieser beiden Entscheidungen befaßt sich der Bundesgerichtshof — bei einer rein logischen Betrachtung überflüssigerweise - mit einem Argument der Vorinstanz, das er für unrichtig hält, um mit dieser Begründung seine eigene andersartige Begründung klarer und deutlicher zu präzisieren46. Ähnlich ist das Vorgehen in der zweiten der genannten Entscheidungen, in der es um die Frage nach dem Vorliegen eines Stimmrechtsmißbrauchs in der Gesellschafterversammlung einer G m b H geht. Hier werden drei verschiedene Gesichtspunkte hintereinander erörtert und dabei dargelegt, daß sie zur Begründung eines Stimmrechtsmißbrauchs nicht ausreichen. Erst dann wird ein vierter Gesichtspunkt geprüft und von ihm gesagt, daß durch ihn die Stimmabgabe zu einer rechtsmißbräuchlichen werde. Hier ist der Aufbau des Urteils so vorgenommen, daß durch die Beurteilung der drei 45 Eine solche Offenlegung hält Birk J Z 1974, 739 f ü r angezeigt, um dadurch der Kritik die Wege zu ebnen. 46 Ebenso auch B G H S t . 29, 282 zu § 7 7 Abs. 2 StGB.

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ersten Gesichtspunkte die entscheidende Bedeutung des vierten Gesichtspunkts für die Annahme eines Stimmrechtsmißbrauchs deutlich wird; es werden also die obiter dicta, nämlich die Stellungnahme zu den drei ersten Gesichtspunkten als Ausgangspunkt und Grundlage für die eigentliche, tragende Begründung herangezogen. 2. Die obersten Gerichtshöfe des Bundes vermögen sich der ihnen obliegenden Aufgabe einer gesunden Fortbildung des Rechts nicht zu entziehen, da sie dem Zwang unterliegen, den ihnen unterbreiteten Sachverhalt gerecht zu entscheiden (sog. Rechtsverweigerungsverbot 47 ), und da sie das angesichts der vielfach veralteten, aber häufig auch lückenhaften Gesetze nur mit Hilfe einer Fortbildung des Rechts tun können. Sie sind dabei in mancher Hinsicht in einer schwierigeren Lage als der Gesetzgeber, weil den Gerichtshöfen die Möglichkeiten und das Instrumentarium des Gesetzgebers nicht zur Verfügung steht48. Sie sollten daher alle ihnen zugänglichen Mittel nutzen, um im einzelnen Fall die Grundlagen für eine Fortbildung des Rechts zu erweitern und zu festigen. Das ist schon allein im Interesse einer sachgerechten Erfüllung ihrer Aufgabe geboten, und es nicht einzusehen, warum ihnen das verboten sein sollte, da es so offensichtlich dem Interesse der Sache, nämlich einer möglichst gesicherten und sachgerechten Fortbildung des Rechts dienlich ist. Das obiter dictum hat sich in der Gerichtspraxis als ein überaus geeignetes Mittel erwiesen, um die Erfahrungen und Kenntnisse der obersten Gerichtshöfe in der Diskussion mit der Rechtswissenschaft und den beteiligten sachkundigen Verkehrskreisen zu erweitern und zu vertiefen und um von diesen auf diese Weise brauchbare Entscheidungshilfen für eine abschließende Beurteilung dieses oder jenes Problems zu erhalten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefern die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts BAG 21, 237; 22,16; 215; 24 , 235; 27, 284, in denen das Gericht - entgegen seiner bisherigen Rechtssprechung zunächst verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmung des § 75 b S. 2 H G B geltendgemacht, diese Bedenken sodann in weiteren obiter dicta konkretisiert und schließlich unter Verwertung zahlreicher Schrifttumsäußerungen, zu denen diese Urteile angeregt haben49, in entscheidungserheblichen Ausführungen die Grundsätze der neuen Rechtssprechung entwickelt und zusammengefaßt hat. Die Kritik, die

47

Dazu Robert Fischer a. a. O. Fn. 7, S. 16 Fn.26 mit weit. Nachw. [hier S. 62], Vgl. dazu etwa Schlüter a . a . O . Fn.4, S. 31 ff; Robert Fischer a . a . O . Fn. 7, S. 15 f [hier S. 60 f], 49 Das Bundesarbeitsgericht spricht in seiner Entscheidung BAG 27, 284, 287 insoweit von einer „Diskussionsanregung des Senats". 48

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Schlüter50 dieser, wie ich meine, vorbildlichen Rechtssprechung mit reichlich theoretischen Erwägungen zuteil werden läßt, halte ich für unbegründet. Es entspricht einer sachgerechten Berücksichtigung der Rechtssicherheit, die ein oberster Gerichtshof stets beachten muß, daß er die interessierten Verkehrskreise möglichst bald, wenn auch nur in einem obiter dictum, davon unterrichtet, wenn sich bei ihm ernsthafte Bedenken gegen seine eigene Rechtsprechung bemerkbar machen, damit sich diese Verkehrskreise darauf einrichten können. Dabei tut das Revisionsgericht in einem solchen Fall meist gut daran, wenn es diese Bedenken mehr oder weniger konkretisiert, um so die Rechtswissenschaft zu einer eigenen Stellungnahme anzuregen und um sich auf diese Weise bei einer endgültigen Entscheidung über die ins Auge gefaßte Änderung seiner Rechtsprechung die Äußerungen der Wissenschaft nutzbar zu machen. Ein solches Vorgehen kann der Rechtsfortbildung durch das Gericht nur dienlich sein und entspricht einer verständigen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft bei der schwierigen Aufgabe der Rechtsfortbildung. Auch der Bundesgerichtshof hat wiederholt von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch ein obiter dictum eine Änderung seiner bisherigen Rechtssprechung anzukündigen. In der Entscheidung B G H Z 12, 1 , 5 hat er das bei der Frage, welche Anforderungen an die gesetzmäßige Besetzung des Senats eines Oberlandesgerichts zu stellen sind, in einer behutsamen und verhaltenen, aber doch verständlichen Weise getan. Er hat in diesem Urteil im Jahre 1953 die Besetzung eines Senats mit einem Senatspräsidenten und zwei Amtsgerichtsräten als Hilfsrichter noch als vereinbar mit den §§117, 70 Abs. 1 G V G angesehen, weil die ungewöhnlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit, die der Justizverwaltung den Uberblick über den Bedarf an Richterplanstellen erschwerten und zur Wiedereingliederung zahlreicher, unter das Gesetz zu Art. 131 G G fallender Richter verpflichteten, insoweit nicht völlig außer Betracht bleiben könnten. Dieser Begründung fügte der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung die Worte hinzu, deshalb sei den Landesjustizverwaltungen bei der Errichtung und Besetzung neuer Richterplanstellen „ein angemessener, nun aber auch sich seinem Ende zuneigender Spielraum für vorausschauende Überlegungen zuzubilligen", der ihnen eine unter normalen Verhältnissen nicht zulässige Besetzung der Oberlandesgerichte erlaubte 51 . In einem anderen Urteil 52 wird in eingehenden Ausführungen zur Bildung der Firma bei einer G m b H & C o K G Stellung 50 A . a . O . F n . 4 , S. 1 5 3 f : E r spricht von einer „Usurpation quasi legislatorischer Befugnisse". 51 Vgl. dazu auch die näheren Erläuterungen in meiner Anmerkung bei L M N r . 3 zu §117 GVG. 52 B G H Z 62, 216.

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genommen und insoweit die Ansicht vertreten, eine solche Kommanditgesellschaft müsse in ihre Firma den Zusatz „ G m b H und C o " aufnehmen. Gleichwohl wird aber in dem Urteil, in dem es um einen Anspruch gegen einen Gesellschafter wegen Rechtsscheinhaftung ging, weil die Gesellschaft den notwendigen Zusatz nicht in ihre Firma aufgenommen hatte, dem Anspruch nicht stattgegeben, weil bis zu dem Urteil die Rechtslage über die Bildung der Firma einer G m b H und C o . in der Rechtspraxis noch nicht geklärt war und deshalb auch bis zu dem Urteil noch keine ausreichende Grundlage für die Rechtsscheinhaftung abgab. Unter diesen Umständen stellten die Ausführungen über die Bildung der Firma einer G m b H und C o . zwar ein obiter dictum dar, weil sie für diesen Fall nicht entscheidungserheblich waren 53 , erhielten ihre praktische Bedeutung aber dadurch, daß sie für künftige gleichartige Fälle eine Rechtsscheinhaftung ankündigten, die dann auch in einer späteren Entscheidung mit Rücksicht auf das Urteil B G H Z 62, 216 bejaht wurde 54 . Auch hier erwies sich das obiter dictum als das allein geeignete Mittel, um eine Rechtsänderung anzukündigen, auf die sich die Rechtspraxis bis dahin noch nicht hatte einrichten können und die sich daher - Rechtsscheinhaftung! - nur auf diese Weise durchsetzen ließ. Damit wurde der Bundesgerichtshof der ihm obliegenden Aufgabe einer gesunden Rechtsfortbildung gerecht, die er im Interesse der Allgemeinheit hat und die über seine andere Aufgabe, nämlich eine gerechte Entscheidung zwischen den Parteien im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten eines Revisionsverfahrens herbeizuführen, nicht vergessen werden darf55,56. Der Zweck, der sinnvollerweise mit einer derartigen Ankündigung verbunden ist, kann im Interesse der Rechtssicherheit nur erreicht werden, wenn der Senat diesen Punkt eingehend beraten und sich erst dann entschlossen hat, eine solche Ankündigung auszusprechen. Die Vgl. dazu auch B G H Z 65, 103, 104/105. Vgl. B G H Z 71, 3 5 4 ; ferner O L G Oldenburg G m b H R d s c h . 1977, 278. 55 Diese Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit berücksichtigt Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 1 9 4 / 1 9 5 in seiner Kritik an dem Urteil B G H Z 62, 2 1 6 nicht in dem notwendigen Umfang. 56 Als weitere Fälle, in denen der Bundesgerichtshof eine Änderung der Rechtsprechung in einem obiter dictum angekündigt oder sogar auch ausgesprochen hat, mögen hier noch folgende Urteile angeführt werden: B G H VersR 1976, 170, 174 gegenüber B G H Z 32, 280, 2 8 4 ff (betr. Vorhaltekosten für ein Reservefahrzeug); diese Änderung ist dann in B G H Z 70, 199, 201 auch vollzogen worden; B G H Z 71, 53 gegenüber B G H Z 48, 251, 153 ff (betr. Einschränkung des sog. Bestimmtheitsgrundsatzes bei Publikums-Personengesellschaften); Ausspruch einer Änderung (sog. Klarstellung) in B G H Z 76, 326, 329 ff gegenüber B G H Z 75, 354 (betr. Erweiterung des Auszahlungsverbots des § 30 Abs. 1 G m b H G bei kapitalersetzenden Gesellschafter-Leistungen). In diesen Zusammenhang gehört auch die Entscheidung B V e r f G E 34, 9, 2 5 / 2 6 ; vgl. ferner B V e r f G E 25, 167, 185 ff. 53 54

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Rechtspraxis muß bei derartigen Ankündigungen wissen, daß sie ernst gemeint sind und daß sie nicht nur beiläufige, gewissermaßen unverbindliche Meinungsäußerungen des Senats sind. Deshalb ist es auch notwendig, der Formulierung solcher Ankündigungen ein besonderes Augenmerk zuzuwenden und durch die Formulierung deutlich zum Ausdruck zu bringen, was mit der Ankündigung gemeint ist. Entsprechend dem Zweck einer solchen Ankündigung sollte ferner nur ein Fachsenat auf einem ihm allein zugewiesenen Sachgebiet eine solche Ankündigung aussprechen. Denn nur in einem derartigen Fall ist die im Interesse der Rechtssicherheit notwendige Gewähr gegeben, daß das Revisionsgerichts bei seiner künftigen Rechtsprechung im Sinn der Ankündigung verfahren wird. Denn in allen anderen Fällen kann ein Senat es nicht mit der gebotenen Sicherheit übersehen, ob auch die anderen Senate die Absicht haben, die angekündigte Änderung der Rechtsprechung vorzunehmen 57 . 3. Einen verhältnismäßig breiten Raum nehmen in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe Bemerkungen ein, die sich mit der Rechtsprechung anderer Senate befassen. Diese Bemerkungen enthalten nicht selten eine Andeutung oder ein offenes Wort der Kritik, wobei für solche Bemerkungen eine große Anzahl verschiedenartiger Formulierungen benutzt werden. In der Regel handelt es sich bei diesen Bemerkungen um obiter dicta, weil entscheidungserhebliche Bemerkungen zu Urteilen anderer Senate zur Anrufung des Großen Senats nötigen würden und deshalb in dieser Form nicht angebracht werden können 58 . Es ist nicht uninteressant, die Formulierungen derartiger Bemerkungen näher zu betrachten. Die Worte: „Dahingestellt bleiben kann hier... 5 9 " sind noch ganz wertneutral; der daran anschließende Satz: „Auch für einen solchen Fall ist die R ü c k w i r k u n g . . . im BGH-Urteil verneint worden (a. M. . . . es folgen zwei Zitate") läßt durch die Hinzu-

57 Die oben genannte Entscheidung B G H Z 12, 1 bildet insoweit eine Ausnahme. Zum einen ist in dieser Entscheidung die vorgesehene Rechtsänderung außerordentlich vorsichtig angekündigt worden und zum anderen sollte die Ankündigung eine Warnung gegenüber der Justizverwaltung zum Ausdruck bringen, sich künftig um die Einrichtung und Besetzung neuer Richterplanstellen besonders zu kümmern. Diese Warnung war auch dann angebracht, wenn der eine oder andere Senat noch eine etwas längere Zeit die schwierige Lage der Justizverwaltung in der Nachkriegszeit bei der Besetzung der Richterstellen berücksichtigen würde. 58 Es kann freilich auch vorkommen, daß solche kritische Bemerkungen sich gegen ein obiter dictum in einem anderen Urteil richten; in einem solchen Fall führen sie, auch wenn sie entscheidungserheblich sind, nach dem bisher geübten Gerichtsgebrauch nicht zur Anrufung des Großen Senats. 59 B G H Z 70, 299, 303.

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fügung der beiden Zitate eine gewisse Zurückhaltung erkennen60. Wertneutral erscheint die Formulierung in B G H NJW 1975, 1320, 1321: „Zwar mag es zutreffen, d a ß . . . (folgt die Meinung eines anderen Senats)... Das hat jedoch mit der hier zu beurteilenden Frage nichts zu tun", während die Sätze in B G H GmbH Rdsch. 1971,177: „Dabei kann offen bleiben, ob. . . . Selbst wenn man das annehmen wollte, . . . durch die Hinzufügung des Wortes „selbst" einen kritischen Unterton deutlich werden lassen. Noch etwas deutlicher kommt das in der Formulierung in BGHSt. 29, 165, 167 zum Ausdruck: „Diese - im Schrifttum allerdings weitgehend abgelehnte - Auffassung in BGHSt. 16, 120, mag für den dort entschiedenen Fall zutreffen." In BGHSt. 23, 360, 361 wird die gegenteilige Auffassung des Senats mit den Worten klar ausgedrückt: „Der Senat neigt der Auffassung des Entwurfs 1962 zu. . . . A b e r auch wenn man der gegenteiligen Auffassung in BGHSt. 2, 362 folgt, wird die Zulässigkeit nicht in Frage gestellt61." Kritische Worte gegenüber den Urteilen anderer Senate sollten die obersten Gerichtshöfe vermeiden, auch wenn diese Worte nur verhalten formuliert sind. Sie nützen niemanden, tragen aber Rechtsunsicherheit in die juristisch interessierte Öffentlichkeit; denn sie werden im allgemeinen im Schrifttum mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und dort festgehalten62. Dadurch fördern sie Zweifel an der Beständigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und gefährden damit die Rechtssicherheit und die Rechtseinheit in der Gerichtspraxis. 4. Bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs sind bedauerlicherweise häufig offene Meinungsverschiedenheiten aufgetreten, bei denen die obiter dicta eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben. Schon im Jahre 1954 hat Dreher eine große Anzahl solcher Meinungsverschiedenheiten aufgedeckt63, denen Jeschek im gleichen Jahr noch eine weitere Anzahl hinzugefügt hat64. Das ist in der Tat, wie Dreher bemerkt, „ein betrüblicher Zustand". Hier tritt ein Mißbrauch zutage, der mit den obiter dicta getrieben wird und der die Rechtseinheit ernstlich in Gefahr bringt. Die 60 Ahnlich auch B G H Z 70, 199, 204, w o wiederum ein Zitat, hier mit dem Zusatz „dazu kritisch schon" verwendet wird, um die reservierte Haltung des Senats zu dieser Entscheidung zum Ausdruck zu bringen. " Vgl. in diesem Zusammenhang auch B G H S t . 3, 40, 46; 277, 281. 62 Wie weit das gehen kann, zeigt z. B. die 36. Aufl. des Palandt, in der Danckelmann §209 Bern. 1 a - m. E. zu Unrecht - bemerkt, der B G H N J W 1975, 1320, 1321 äußere Zweifel gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zur Frage einer Unterbrechung der Verjährung durch eine negative Feststellungsklage, es bedurfte erst der Klarstellung in B G H Z 72, 23, 26, um diese Bedenken bei Palandt, 38.Aufl. 1979, a . a . O . wieder auszuräumen. 65 J Z 1954, 542. M G A 54, 323.

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Entscheidung des 3. Strafsenats vom 26. März 1980" macht das in einer besonders beklagenswerten Weise deutlich. Die Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des § 237 StGB zwischen den Strafsenaten, an denen sich in den vergangenen Jahren nun schon vier Senate beteiligen, sind noch immer nicht ausgetragen, weil noch immer kein Senat die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat - wenn schon nicht nach § 136 GVG, so doch nach § 137 GVG - zur Entscheidung vorgelegt hat. Denn daß eine solche Vorlage zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, kann m. E. nicht zweifelhaft sein. Bei den Strafsenaten sind angesichts der Geschäftsverteilung des Bundesgerichtshofs, die die Zuständigkeit der Strafsenate im allgemeinen nach Gerichtsbezirken festlegt, solche Meinungsverschiedenheiten der Rechtseinheit besonders abträglich. Hier droht nämlich immer die Gefahr, daß sich die Instanzgerichte in den einzelnen Gerichtsbezirken der Rechtsansicht „ihrer" Strafsenate anschließen, um einer sonst möglichen Aufhebung ihrer Urteile in der Revisionsinstanz vorzubeugen. Es kann also infolge der Meinungsverschiedenheiten unter den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs die höchst unerfreuliche Rechtsfolge eintreten, daß insoweit die Strafjustiz in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken unterschiedlich gehandhabt wird. Die harte Kritik, die dieses Verhalten der Strafsenate in der Rechtswissenschaft gefunden hat", ist, wie ich meine, verständlich und sollte zu denken geben. Neuerdings ist wieder ein ähnlicher Konflikt zwischen den Strafsenaten ausgebrochen und droht sich ähnlich auszuweiten. Der Meinung des 3. Strafsenats, die Polizei dürfe die Auskunft über Namen und Anschrift sog. Gewährsmänner verweigern, wenn die Erteilung der Auskunft dem Wohl des Bundes pp. Nachteile bereiten würde 67 , ist kürzlich der 5. Strafsenat in seinem Beschluß vom 17. Februar 1981 - 5 StR 21/81 entgegengetreten; er läßt eine solche Auskunftsverweigerung nur zu, wenn die oberste Dienstbehörde erklärt, daß eine solche Auskunft dem Wohl des Bundes pp. Nachteile bereiten würde. Auch hier ist von einer Vorlage an den Großen Senat abgesehen worden, weil das Urteil des 3. Strafsenat nicht auf dieser Ansicht beruht; auch ein Urteil des 4. Strafsenats 68 , das sich ebenfalls mit dieser Rechtsfrage befaßt, hat den 5. Strafsenat nicht zu einer Vorlage veranlaßt, weil, wie der 5. Strafsenat bemerkt, dieses Urteil einen anderen Fall betrifft 6 '. BGHSt. 29, 233. Vgl. Dreher N J W 1972, 1641: „Das ist keine erfreuliche Sache. Die Senate des BGH sind nicht dazu da, . . . sich im Windschatten des GS theoretische Meinungsschlachten zu liefern; ähnlich auch Tröndle G A 73, 324. 67 N J W 1981, 355. " NJW 1981, 770. " Vgl. auch Urteil des BGH N J W 1981, 355, 356, der sich trotz BGH NJW 1975, 1470 an seiner Entscheidung nicht gehindert sah. 65 66

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Die Vorteile, die ein obiter dictum für die Rechtsfortbildung und für die Sicherung der Rechtseinheit zu bieten vermag, drohen bei einem solchen Mißbrauch zu einer ernsten Gefahr für die Rechtssicherheit und Rechtseinheit zu werden. Es ist sehr zu wünschen, daß die Strafsenate des Bundesgerichtshofs sich mehr bemühen, solche unnötigen obiter dicta zu vermeiden, und im Interesse der Rechtseinheit bei auftretenden Meinungsverschiedenheiten mehr als bisher den Großen Senat anrufen 70 . 5. N u r in einem besonderen Fall können m. E. kritische Äußerungen eines Senats an den Entscheidungen eines anderen Senats im allgemeinen Interesse angebracht und für die Rechtssicherheit von Nutzen sein, auch wenn sie nur in der Form eines obiter dictum vorgebracht werden. Ich meine kritische Äußerungen eines Fachsenats, die sich mit Rechtsausführungen eines anderen Senats gerade auf dem Spezialgebiet dieses Fachsenats befassen. Hier kann es im Interesse der Rechtssicherheit m. E. durchaus angebracht, unter Umständen sogar geboten sein, daß der Fachsenat seine Bedenken gegen solche Rechtsausführungen äußert und sie gegebenenfalls auch sehr pointiert formuliert. Der Fachsenat sollte dies allerdings nur tun, wenn er sich seiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher ist und für ihn kein Zweifel daran besteht, daß er an seiner Ansicht auch festhalten wird. In der letzten Zeit hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Bereich des Gesellschaftsrechts dieses Mittel wiederholt angewendet, um die Öffentlichkeit durch ein obiter dictum davon zu unterrichten, daß er in der betreffenden Rechtsfrage anderer Ansicht sei und deshalb eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Entscheidung des anderen Senats am Platze sei71. Bei den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs ist ein solches Vorgehen eines Fachsenats auch deshalb durchaus vertretbar, weil die Zivilsenate im allgemeinen geneigt sind, sich nicht der Auffassung eines Fachsenats auf seinem Spezialgebiet entgegenzustellen, und deshalb auf Anfrage des Fachsenats meist auch bereit sind, eine gegenteilige Ansicht wieder aufzugeben 72 . Wie nachteilig es für die Rechtssicherheit sein kann, wenn sich der Fachsenat in dieser Hinsicht (allzu korrekt) zurückhält, habe ich an Hand der diver70 Wenn Sarstedt Anm. LM Nr. 10 zu § 121 GVG ST eine Vorlage an den Großen Senat bei einer Abweichung von einem obiter dictum nicht für angebracht hält und dem den Satz hinzufügt: „Sonst wäre in absehbarer Zeit kaum noch eine Entscheidung ohne Vorlage möglich", so bestätigt er in einer besonderen Weise den höchst unerfreulichen Zustand innerhalb der Rechtsprechung der Strafsenate. 71 In der Entscheidung B G H N J W 1977, 1683, 1686 hat der II. Zivilsenat solche Bedenken gegenüber B G H Z 68, 312 schon einen Monat nach Erlaß dieser Entscheidung vorgetragen; vgl. dazu auch Karsten Schmidt Anm. zu B G H Z 68, 312 in N J W 1977, 1451. In B G H Z 69, 104 hat der II. Zivilsenat solche Bedenken gegen Entscheidungen anderer Senate ebenfalls geltend gemacht und sie sodann in B G H Z 70, 139 sogar noch verstärkt. 72 Vgl. dazu für den Bereich des Gesellschaftsrechts B G H Z 70, 141; 75, 339.

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Beiträge zur Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

gierenden Entscheidungen B G H L M N r . 6 zu § 11 G m b H G und B G H Z 47, 25 zur Frage der Haftung des Handelnden nach § 11 Abs. 2 G m b H G an anderer Stelle darzulegen versucht". 6. Abschließend sind noch einige Bemerkungen darüber anzufügen, welche Bedeutung es hat, wenn ein Senat in einem obiter dictum ausdrücklich erklärt, daß er eine bestimmte Rechtsfrage dahingestellt sein läßt, und zwar mit der Begründung, daß sie im gegebenen Fall nicht entscheidungserheblich sei. Ein solches ausdrückliches Dahin-gestelltsein-lassen wird bei einer kritischen Analyse des Urteils in der Öffentlichkeit - m. E. nicht mit Unrecht - als eine Sachaussage aufgefaßt, nämlich in dem Sinn, daß der Senat mit einer solchen Wendung zum Ausdruck bringt, daß die offen gebliebene Rechtsfrage eine zweifelhafte Rechtsfrage sei; denn anderenfalls wäre es nicht notwendig gewesen, diese Frage ausdrücklich dahingestellt sein zu lassen74. Über diese Beurteilung in der Öffentlichkeit sollte sich das Revisionsgericht im klaren sein, wenn es eine solche Formulierung in sein Urteil aufnimmt 75 . Das Revisionsgericht kann freilich seine Zweifel auch deutlicher zum Ausdruck bringen, so wie das etwa in der Entscheidung B G H Z 72, 9, 12 geschehen ist76. Das ändert aber nichts daran, daß auch eine Formulierung, die solche Zweifel nicht ausdrücklich äußert, den Zweifeln allein durch das Offen-Lassen der Rechtsfrage Raum gibt. Von einer besonders gravierenden Bedeutung ist es, wenn der Senat es dahin stehen läßt, ob einer von ihm selbst geäußerten Rechtsansicht in einem früheren Urteil zu folgen ist77. Eine solche Bemerkung wird in einem besonderen Maß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, und der Senat sollte sich deshalb zu einem solchen Vorgehen nur entschließen, wenn ihm inzwischen Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung gekommen sind, und wenn er es für nötig hält, davon die Öffentlichkeit schon jetzt andeutungsweise zu unterrichten.

Pro G m b H , 1980, S. 1 4 4 / 1 4 5 [hier S. 2 7 6 / 2 7 7 ] . Vgl. dazu Robert Fischer, Festschrift für Fritz Hauss, 1978, S. 7 9 / 8 0 [hier S. 2 4 3 / 2 4 4 ] gegenüber B G H B B 1976, 901. 73

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75 Ich erinnere mich, daß der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in den ersten Jahren seiner Tätigkeit einmal eine Wendung: E s kann dahin gestellt bleiben, ob . . . aus dem V o t u m des Berichterstatters ersatzlos gestrichen hat, weil das Reichsgericht die dahingestellte Frage in ständiger Rechtsprechung in einem bestimmten Sinn entschieden hatte und der Senat der Meinung war, daß die Entscheidungen des Reichsgerichts richtig seien. Der Senat wollte durch die Streichung vermeiden, daß sein Urteil Anlaß zu gewissen Bedenken gegenüber der Rechtsprechung des Reichsgerichts geben könnte. 76 „ O b eine derartige R e g e l u n g . . . überhaupt zulässig wäre, erscheint zweifelhaft, kann aber dahingestellt bleiben". 77 B G H Z 71, 216, 2 2 5 gegenüber B G H Z 67, 217, 2 1 9 ; ferner Robert Fischer Z G R 1979, 103 zu B G H N J W 1960, 964.

6. Das obiter dictum

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Wenn ein Oberlandesgericht einer ständigen Rechtsprechung des Revisionsgericht in einer streitigen Rechtsfrage mit einer eingehenden Begründung entgegentritt, dann muß das Revisionsgericht m. E. auf diese Ausführungen auch dann eingehen, wenn es auf sie in der konkreten Entscheidung im Ergebnis nicht ankommt. Das Revisionsgericht darf es in einem solchen Fall nicht zulassen, daß in der Öffentlichkeit Zweifel an der bisherigen ständigen Rechtsprechung dadurch aufkommen, daß es die vom Oberlandesgericht behandelte Rechtsfrage dahin stehen läßt. Es muß sich vielmehr zu seiner gefestigten Rechtsprechung ausdrücklich bekennen, wenn es an seiner bisherigen Auffassung festhalten will; der Umstand, daß es sich dabei um ein obiter dictum handelt, ist dabei ohne Belang. Die Rechtssicherheit und die Rechtseinheit, die es durch einen solchen Ausspruch zu wahren gilt, erfordern m. E. zwingend einen solchen Anspruch 78 .

78

Zutreffend daher B G H Z 70, 193, 196, 197.

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

7. Die Grenzen bei der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte"" 1. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts sind verhältnismäßig früh die ersten Ansätze dafür bemerkbar, daß sich das Reichsgericht von einer streng positivistischen Auffassung über den Umfang der gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte zu lösen beginnt. Schon in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg fallen die ersten Entscheidungen, in denen das Reichsgericht unbeschadet einer fehlenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung immanente Grenzen für die Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte anerkennt 1 . In der Folgezeit ist das Reichsgericht sodann in immer stärkerem Maß, und zwar sowohl für die Personalgesellschaften wie für die Kapitalgesellschaften, zu einer Anerkennung dieses Grundsatzes gelangt, wobei es sich zur Begründung dieser Auffassung im wesentlichen auf den Gesichtspunkt der Treuepflicht des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft berief 2 . Auch das Schrifttum hat sich im allgemeinen dieser Auffassung angeschlossen. Dabei gehen freilich die Begründungen für diese Auffassung teilweise weit auseinander, wie auch der Umfang dieser immanenten Grenzen im Schrifttum außerordentlich verschieden beurteilt wird. Zudem ist im Schrifttum eine vielfach kritische Stellungnahme gegenüber der Rechtsprechung des Reichsgerichts, insbesondere gegenüber der Art seiner Begründung bemerkbar. Diese beruht vor allem auf der Erwägung, daß der Begriff der Treupflicht ein viel zu unbestimmter, im wesentlichen von subjektiven Wertungen abhängiger Begriff sei, um als brauchbarer Maßstab für die Beurteilung und Beantwortung dieser das Wirtschaftsleben so außerordentlich stark berührenden Frage dienen zu können. Es sind daher gegenüber der Rechtsprechung des Reichsgerichts immer wieder Versuche unternommen worden, die immanenten Grenzen bei der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte nach objektivierten oder objektivierbaren Maßstäben zu bestimmen. Auch die gesetzliche Regelung des Stimmrechtsmißbrauchs bei den Aktiengesellschaften in § 1 9 7 Abs. 2 A k t G geht auf diese Erwägung zurück.

* Aus: Neue Juristische Wochenschrift 1954, 777-780. Ch. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München, 1954. 1 RG, L Z 12, 545; J W 13, 29, 429; anders noch die aus derselben Zeit stammende Entscheidung in RGZ 81, 37. 2 RGZ 146, 395; 158, 254; 164, 262; 165, 79; 169, 334; J W 35, 1773; 37, 1986; DR 40, 2177.

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Beiträge z u m Gesellschaftsrecht

Einen solchen Versuch hat neuerdings auch Küster in einer A b h a n d l u n g u n t e r n o m men 3 , in der er sich b e m ü h t , in dieser Hinsicht für das gesamte Gesellschaftsrecht allgemein gültige Maßstäbe aufzustellen. Er geht davon aus, daß für das gesamte Gesellschaftsrecht, also f ü r die Personalgesellschaften und die Kapitalgesellschaften, insoweit die gleichen rechtlichen Grundvorstellungen und Voraussetzungen beständen, die lediglich je nach d e m in Betracht k o m m e n d e n Gesellschaftstyp verschiedenen W a n d l u n g e n u n d Gestaltungsformen unterliegen (S. 24 ff). Uberall handele es sich bei den gesellschaftlichen Rechten u m eine F o r m der M i t w i r k u n g an dem gesellschaftlichen Leben d u r c h den einzelnen Gesellschafter, gleichgültig ob sich diese M i t w i r k u n g in der F o r m einer gemeinsamen G e s c h ä f t s f ü h r u n g d u r c h alle Gesellschafter (§ 709 BGB), in der erleichterten F o r m der Allein-Geschäftsführung durch jeden oder einzelne Gesellschafter (§§114/15 H G B ) o d e r in der v e r k ü m m e r t e n F o r m einer unmittelbaren oder n u r mittelbaren E i n f l u ß n a h m e auf die G e s c h ä f t s f ü h r u n g zeige, die bei der G m b H nach der gesetzlichen Regel und bei der A G stets durch Funktionäre ausgeübt wird. A u c h Küster ist der Meinung, daß die Treupflicht als geeigneter F a k t o r f ü r die Bestimmung des Inhalts u n d der G r e n z e n all dieser gesellschaftlicher Mitwirkungsbefugnisse ausscheiden müsse, weil m a n sonst zu einem nahezu unübersehbaren Mosaik kasuistischer Gesichtspunkte gelangen w ü r d e (S. 65). Er hält in dieser Hinsicht den Gesellschaftszweck f ü r den geeigneten A n h a l t s p u n k t , u m die auch von ihm als notwendig angesehene Beschränkung der gesellschaftlichen Befugnisse z u m Zweck einer Verhinderung der immer latenten G e f a h r eines M a c h t m i ß b r a u c h s v o r n e h m e n zu k ö n n e n . D e m g e m ä ß m ü ß t e n sich Inhalt u n d G r e n z e n der gesellschaftlichen Mitwirkungsbefugnisse danach bestimmen, o b ihre A u s ü b u n g geeignet sein könne, der F ö r d e r u n g dieses Gesellschaftszwecks zu dienen. Die objektive Eignungsmöglichkeit, nicht aber die subjektive Beurteilung oder W e r t u n g d u r c h den einzelnen Gesellschafter sei in dieser Hinsicht der entscheidende Maßstab (S. 89).

Ich hege Zweifel, ob man diesen Ausführungen Küsters folgen kann. Das gilt m. E. vor allem dann, wenn man mit ihm und einem großen Teil des Schrifttums das Bedürfnis empfindet, den vom Reichsgericht nicht konkretisierten Gesichtspunkt der Treupflicht im Gesellschaftsrecht näher zu bestimmen und nach Möglichkeit zu objektivieren. Ich halte zunächst den Ausgangspunkt von Küster nicht für richtig, nämlich in dieser Hinsicht für das gesamte Gesellschaftsrecht einen einheitlichen Maßstab aufstellen zu wollen. Dem Versuch einer solchen Vereinheitlichung steht einmal die Tatsache entgegen, daß die einzelnen gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte in einem bestimmten Gesellschaftstyp verschiedenartig sind und ihre Verschiedenartigkeit in dieser Hinsicht Berücksichtigung erfordert. Sodann muß dieser Versuch m. E. auch daran scheitern, daß eine Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte auch im Hinblick auf die verschiedenen Gesellschaftstypen besteht und diese auch insoweit nicht unbeachtet bleiben kann. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die von Küster aufgestellte Formel m. E. in mehr oder weniger großem Umfang als zu weit. ' Werner Küster, Inhalt u n d G r e n z e n der Rechte der Gesellschafter, insbesondere des Stimmrechts im deutschen Gesellschaftsrecht, Verlag Walter de G r u y t e r & C o . , Berlin 1954, 95 S.

7. Grenzen der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte

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2. Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens einer jeden Gesellschaft, die sich mit einem Gewerbebetrieb befaßt, steht ihre geschäftliche Betätigung, das, was wir rechtlich als die Geschäftsführung der Gesellschaft bezeichnen. Auf diesem Gebiet liegt der Schwerpunkt ihrer Willensbildung und Handlungsbetätigung. Die Organe, die insoweit für die Gesellschaft tätig werden4, sind berufen, den Willen der Gesellschaft zu bilden und die Handlungen der Gesellschaft vorzunehmen. Diese Aufgabe der geschäftsführenden und vertretungsberechtigten Organe ist eine altruistische. Die Willensbildung und Handlungsbetätigung ist insoweit nicht eine solche der Organe - sie sind deshalb auch nicht für diese bestimmt - , sondern eine solche der Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, daß eine Betätigung in diesem Rahmen auf das Interesse der Gesellschaft ausgerichtet sein muß und daß die Geschäftsführung5 von hier aus ihren Inhalt und ihre Grenzen erfährt. Dabei ist das Interesse der Gesellschaft nicht ohne weiteres mit einer Förderung des Gesellschaftszwecks vom Standpunkt des einzelnen Gesellschafters aus gleichzusetzen. Denn mit der Verselbständigung des Gesellschaftsunternehmens im wirtschaftlichen Bereich, wie das vor allem bei den Kapitalgesellschaften der Fall ist, gewinnt diese einen Eigenwert und eine Eigenständigkeit, die über den Rahmen der Gesellschafter hinaus einen verpflichtenden Charakter für die Gesellschaft in sich trägt6. Im Unterschied zu den Personalgesellschaften beschränkt sich bei den Kapitalgesellschaften die Willensbildung und Handlungsbetätigung dieser Gesellschaften aber nicht auf den Bereich der Geschäftsführung, auf die geschäftliche Betätigung der Gesellschaft im Wirtschaftsleben. Sie umfaßt auch die Bestellung ihrer Handlungs- und Aufsichtsorgane sowie die Entschließung und die Entscheidung über die Grundfragen ihres gesellschaftlichen Lebens. Die Kapitalgesellschaft hat grundsätzlich in jeder Hinsicht eine umfassende Zuständigkeit über die Gestaltung ihres eigenen Schicksals. Anders bei der Personalgesellschaft. Ihr sind durch den Gesellschaftsvertrag die Grenzen ihrer Betätigung gezogen. Nur im Rahmen der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis handeln die betreffenden Gesellschafter in einer organschaftlichen Stellung für die Gesellschaft. Änderungen des Gesellschaftsvertrages dagegen, mögen diese auch zulässigerweise in Form eines Mehrheitsbeschlusses herbeigeführt werden, werden von den Gesellschaftern nicht in dieser Weise für 4 Auch bei der O H G und der KG wird man insoweit bei den geschäftsführenden und vertretungsberechtigten Gesellschaftern von einer Organstellung dieser Gesellschafter sprechen müssen; vgl. dazu Hueck, Das Recht der Offenen Handelsgesellschaft, Z.Auflage, S. 173. 5 Auf die Besonderheiten, die für den Umfang und die Grenzen der Vertretungsbefugnis maßgeblich sind, soll hier nicht eingegangen werden. 6 Vgl. §70 Abs. 1 AktG und Schilling, JZ 53, 493.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

die Gesellschaft vorgenommen. In dieser Hinsicht handeln die Gesellschafter vielmehr als Partner des Gesellschaftsvertrages, so wie sie auch ursprünglich diesen Vertrag miteinander geschlossen haben. Diese verschiedenartige Stellung, die zugleich die Verschiedenartigkeit der jeweils in Betracht k o m m e n d e n Aufgabe zeigt, erfordert m. E. auch eine verschiedenartige Beurteilung, wenn man die Frage nach den Grenzen des Stimmrechts in der Gesellschafterversammlung beantwortet. Hierin erschöpft sich aber noch nicht der Unterschied in den gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechten. Es ist vielmehr noch ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten. Wir kennen gesellschaftliche Mitgliedschaftsrechte, die dem einzelnen Gesellschafter nicht als Organ oder als Mitglied eines Organs zugebilligt sind, deren A u s ü b u n g also nicht dazu dient, die Willensbildung und Handlungsbetätigung der Gesellschaft zu ermöglichen. Bei der O H G handelt es sich dabei z. B. um das Kontrollund Informationsrecht des einzelnen Gesellschafters (§118 H G B ) , bei den Kapitalgesellschaften im wesentlichen um die Minderheitsrechte und das Recht zur Erhebung der Anfechtungsklage. Diese Rechte sind dem einzelnen Gesellschafter zwar in seiner Eigenschaft als Gesellschafter, aber nicht zu dem Zweck eingeräumt, damit den Willen der Gesellschaft zu bilden und Handlungen der Gesellschaft vorzunehmen. Sie sind daher auch nicht altruistisch in dem Sinn, wie das etwa bei der Geschäftsführungsbefugnis des Gesellschaftsorgans der Fall ist. Ihre Ausübung ist demgemäß auch nicht in dem gleichen Maße wie bei der Geschäftsführungsbefugnis in ihrem Inhalt und in ihren Grenzen auf das Interesse der Gesellschaft allein ausgerichtet. 3. U n t e r Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte erscheint es mir entgegen der Meinung von Küster nicht möglich, einen einheitlichen objektiven Maßstab f ü r die Begrenzung dieser m. E. verschiedenartigen gesellschaftlichen Befugnisse aufzustellen und ihn bei allen Gesellschaften und f ü r alle gesellschaftlichen Befugnisse anzuwenden. Ich meine vielmehr, daß man nach folgenden Gesichtspunkten unterscheiden m u ß : a) Die organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte in der Personalgesellschaft. Sie umfassen im wesentlichen, wenn man auch hier die Vertretungsbefugnis außer acht läßt 7 , die Geschäftsführungsbefugnis des Gesellschafters, zu der nach überwiegender Auffassung auch das Widerspruchsrecht des § 115 H G B gehört, bei der die Festlegung der inhaltlichen Grenzen von einer besonderen Bedeutung ist. Zu der Geschäftsführungsbefugnis in diesem Sinne gehört ferner das Zustimmungsrecht des §116 Abs. 2 H G B sowie die Beschlußfassung über Fragen der Geschäftsführung (§119 H G B ) . 7

Vgl. oben Anm. 5.

7. Grenzen der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte

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Für die Ausübung dieser Rechte ist es wesentlich, daß sie die Willensbildung und die Handlungsbetätigung der Gesellschaft im Wirtschaftsleben ermöglichen soll. Diese Rechte stehen den Gesellschaftern im Interesse der Gesellschaft zu; sie sollen eine vernünftige und sachgerechte Willensbildung der Gesellschaft ermöglichen. Die Gesellschaften müssen bei der Ausübung dieser Rechte so wollen und so handeln, wie sie selbst in der Lage der Gesellschaft wollen und handeln würden 8 . Die organschaftlichen Rechte sind den Gesellschaftern im Interesse der Gesellschaft zugebilligt, ihr Inhalt und ihre Grenzen werden durch diesen Umstand entscheidend bestimmt 9 . Das kann aber entgegen der Auffassung von Küster nicht dazu führen, daß diese Grenzen rein objektiv gezogen werden und daß man die Ausübung dieser Rechte, z.B. die Ausübung des Widerspruchsrechts (§115 H G B ) , schon dann für unwirksam erklärt, wenn sie im einzelnen Fall objektiv nicht geeignet ist, den Gesellschaftszweck zu fördern. Bei dieser Auffassung wird die Besonderheit der organschaftlichen Geschäftsführungsrechte in der Personalgesellschaft nicht genügend beachtet. Ihr Inhalt bildet typischerweise vielfach die Entscheidung reiner Ermessens- und Zweckmäßigkeitsfragen, die dem einzelnen Gesellschafter zur selbständigen Beurteilung nach eigener pflichtmäßiger Entschließung anvertraut ist. Dabei umfaßt diese Befugnis auch die sich im Einzelfall später als objektiv unrichtig erweisende Entscheidung, weil sonst die selbständige, aber pflichtmäßige Entscheidungsmöglichkeit gar nicht gegeben ist. Gerade darin liegt die Bedeutung dieser organschaftlichen Geschäftsführungsrechte. Ihr Sinn kann also nicht darin bestehen, diese Ermessensentscheidung dem Richter zu übertragen, indem die Grenzen dieser Rechte objektiv so eng gezogen werden, daß die Ausübung des Ermessens im vollen Umfang nachgeprüft werden muß. Das Ermessen des Richters und die von ihm für richtig gehaltene Beurteilung der in Betracht kommenden wirtschaftlichen Zweckmäßigkeitsfragen darf die eigenverantwortliche Tätigkeit des geschäftsführenden Gesellschafters nicht verdrängen. Die Gesellschafter haben bei der Ausübung dieser Rechte so zu wollen und so zu handeln, wie sie selbst in der Lage der Gesellschaft wollen und handeln würden. Das schließt im Einzelfall die Möglichkeit und damit auch die Befugnis zu einer objektiv unrichtigen Entscheidung ein. Es erscheint mir daher unter diesem Gesichtspunkt völlig zutreffend und sachgerecht, wenn Hueckw lediglich, aber auch stets" die pflicht8

v. Godin-Wilhelmi, Komm. AktG, 2. Aufl. 1950, §1 Bern. 2. Gogos, Die Geschäftsführung der Offenen Handelsgesellschaft, 1953, S.40; Weipert, R G R K H G B , 2. Aufl., §115 Bern.8; Hueck, a . a . O . §10 III, 3 m . w . N . 10 A . a . O . S.71. 11 Die bei vielen Schriftstellern, etwa bei Wieland, Handelsrecht I S. 569, bei Würdinger, Gesellschaften I S. 111, und Weipert, a. a. O., § 115 Bern. 8 zu findende weitergehende Einschränkung halte ich ebenfalls nicht für richtig. 9

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

widrige Ausübung dieser organschaftlichen Geschäftsführungsrechte als eine Überschreitung dieser Befugnisse betrachtet und daher nur sie als unwirksam ansieht. Denn die wesentliche Voraussetzung für die Ausübung dieser Rechte besteht einerseits in der selbständigen, andererseits aber auch in der pflichtmäßigen Entschließung des Gesellschafters, so daß sich allein hiernach die Grenzen der organschaftlichen Geschäftsführungsrechte bestimmen. Die gleichen Gesichtspunkte müssen auf die G m b H angewendet werden, wenn bei ihr in Anlehnung an die Personalhandelsgesellschaft die Geschäftsführung der Gesellschaft so geregelt ist, daß sie den Gesellschaftern oder einzelnen Gesellschaftern als ein echtes mitgliedschaftliches Recht und als eine mitgliedschaftliche Pflicht übertragen und auferlegt ist. In diesem Fall liegen die Verhältnisse anders wie bei der Geschäftsführung in der G m b H , die nach dem gesetzlichen Normalstatut gestaltet ist; in diesem Fall ist die Ausübung der Geschäftsführungsrechte ein echtes gesellschaftliches Recht, das in der Regel auch insoweit den gleichen Grundsätzen wie die Ausübung der Geschäftsführungsrechte in der O H G unterliegt12. b) Die organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte in der Kapitalgesellschaft. Im Unterschied zu den Personalgesellschaften erstrecken sich die organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte der Gesellschafter bei der A G und nach der gesetzlichen Regel auch bei der G m b H nicht auf die Geschäftsführung der Gesellschaft. Diese wird bei den Kapitalgesellschaften durch dienstvertraglich angestellte Organe ausgeübt. Hier beschränken sich die organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte der Mitglieder auf die Mitwirkung bei der Willensbildung der Gesellschaft in der Hauptversammlung (Gesellschafterversammlung). Sie finden ihren rechtlichen Ausdruck und Niederschlag in dem Stimmrecht, das dem einzelnen Gesellschafter in der Versammlung zusteht. Mit diesem Mitgliedschaftsrecht hat der einzelne Gesellschafter, ebenso wie bei den organschaftlichen Mitgliedschaftsrechten der Personalgesellschaft, die Aufgabe, den Willen der Gesellschaft zu bilden. Er muß sich daher bei der Ausübung dieses Rechts ebenfalls in sachgerechter Weise von dem Interesse der Gesellschaft leiten lassen; die Ausübung des Stimmrechts zur Verfolgung gesellschaftsfremder und nicht nur gesellschaftsschädlicher Vorteile überschreitet den Rahmen dieses Mitgliedschaftsrechts und wird von ihm rechtlich nicht mehr gedeckt. Die Grenzen dieses Mitgliedschaftsrechts werden daher auch in dem praktisch wichtigen Fall überschritten, in dem die Mehrheit der Aktionäre eigensüchtig die Interessen der Minderheit gröblich verletzt, ohne daß dieses durch das Interesse des 12

Vgl. dazu meinen Aufsatz, Das Recht der O H G als ergänzende Rechtsquelle zum GmbH-Gesetz in GmbH-Rdsch. 53, 131 ff.

7. Grenzen der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte

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Unternehmens geboten ist. In §197 Abs. 2 AktG haben diese Fragen ihre gesetzliche Regelung gefunden", wobei der in §197 Abs. 2 Satz 2 AktG ausgesprochene Vorbehalt zugunsten der schutzwerten Belange der Aktionäre freilich der Hervorhebung verdient, da er sich vom Standpunkt einer allgemeinen Beurteilung keineswegs ohne weiteres versteht. Es bestehen m. E. keine Bedenken, die Grundsätze des §197 Abs. 2 A k t G auch auf die GmbH zu übertragen 14 . Daß die Rechtsfolge einer mißbräuchlichen Stimmrechtsausübung nach §197 AktG nicht ihre Nichtigkeit, sondern ihre Anfechtbarkeit begründet, ist lediglich dadurch bedingt, daß ein solcher Hauptversammlungs-(oder Gesellschafter-)beschluß eines besonderen Schutzes im Interesse der Öffentlichkeit bedarf 15 . c) Die gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte, die keinen organschaftlichen Charakter haben. Es wurde bereits hervorgehoben, daß sich die gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte wesentlich von den organschaftlichen Mitgliedschaftsrechten unterscheiden. Sie dienen nicht wie letztere dem Interesse der Gesellschaft, sie empfangen daher auch nicht unter diesem Gesichtspunkt ihren eigentlichen Sinn und Inhalt. Die Ausübung der organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte ist gleichzeitig eine Wirksamkeit für die Gesellschaft, die Geltendmachung der hier in Betracht kommenden Rechte hingegen nicht. Sie sind entscheidend auf das Interesse der einzelnen Gesellschafter ausgerichtet, und ihre Ausübung kann im Einzelfall durchaus den Interessen der Gesellschaft widerstreiten, ohne daß ihre Ausübung deshalb unzulässig wäre. So kann die Ausübung des Informationsrechts nach §118 H G B nicht deshalb als unzulässig angesehen werden, weil die Gesellschaft an der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen ein Interesse hat und deshalb einem von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschafter die von ihm begehrte Einsicht in die Bücher der Gesellschaft verwehren möchte 16 . Auch kann gerade bei der Ausübung dieser Rechte die Verfolgung schutzwerter Sonderinteressen einzelner Gesellschafter in Betracht kommen 17 . Andererseits darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch diese Rechte dem Gesellschafter nur in seiner Eigenschaft als Gesellschafter zustehen und daß er daher bei der Rechtsausübung auch die Vgl. dazu Lehmann in Festschrift für Hedemann, 1938, S. 399 ff. Vgl. Scholz, Komm. GmbHGes., 3. Aufl., §45 Bern. 11, 22. 15 Küster, der für Gesellschafterbeschlüsse der GmbH insoweit Nichtigkeit der rechtsmißbräuchlich abgegebenen Stimme annimmt, übergeht dabei die Frage einer entsprechenden Anwendung des § 197 Abs. 2 AktG auf die GmbH. 16 Die hierzu in Widerspruch stehende Entscheidung RG, LZ 12, 545 hat vielfach Ablehnung gefunden (vgl. Hueck, a.a.O. § 1 3 I, 3; Kohler, NJW 51, 5); sie kann m. E. durch die spätere Rechtsprechung als überholt betrachtet werden. 17 Weipert, a.a.O. § 1 1 8 Bern.5. 13 14

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Bindung beachten muß, in der er als Mitglied der Gesellschaft zu dieser steht. Es scheint mir daher die Ansicht durchaus zutreffend zu sein, daß die Ausübung des Informationsrechts nur zur Wahrung der Belange des Gesellschafters in dieser Eigenschaft, nicht aber zur Förderung eigenen Wettbewerbs erfolgen darf17. Auch ist dem Reichsgericht darin zuzustimmen, wenn es auch bei der Ausübung dieser Rechte immanente Grenzen anerkennt". Ähnliche Gesichtspunkte müssen für die Ausübung gesellschaftlicher Minderheitsrechte in den Kapitalgesellschaften gelten. Es erscheint mir untragbar, bei der Ausübung dieser Rechte den strengen Maßstab anzulegen, den § 197 Abs. 2 AktG für die Frage der mißbräuchlichen Stimmrechtsausübung aufgestellt hat. Auch hier kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß diese Rechte ihrem Grundgedanken nach einen anderen Inhalt und eine andere Inhaltsbegrenzung haben, wie das bei den organschaftlichen Mitgliedschaftsrechten der Fall ist. Sie sind dem Gesellschafter zur besonderen Wahrung ihrer Stellung in der Gesellschaft gewährt und sind zunächst nicht darauf gerichtet, die Interessen der Gesellschaft zu fördern. Ja, in der Mehrzahl der Fälle wird die Ausübung solcher Rechte sogar den Interessen der Gesellschaft zuwiderlaufen. Immerhin ist auch hier zu beachten, daß den Gesellschaftern diese Rechte in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter eingeräumt sind. Es ist daher m. E. zutreffend, wenn das Reichsgericht die Anfechtungsklage des Gesellschafters einer G m b H im Einzelfall als unbegründet erachtet hat, weil der Gesellschafter mit der Klage keine schutzwerten Rechte verfolgt". d) Die Rechte der Gesellschafter auf Änderung der Grundlagen der Gesellschaft bei der Personalhandelsgesellschaft. In der Personalhandelsgesellschaft wird das Verhältnis der Gesellschafter zu der Gesellschaft durch den Gesellschaftsvertrag bestimmt. Die Entscheidung über eine Änderung des Gesellschaftsvertrages steht nicht der Gesellschaft zu; die Entschließung zu einer solchen Entscheidung kann daher auch nicht das Verhältnis der Gesellschafter zu der Gesellschaft berühren. Die Befugnis zu einer solchen Entscheidung ist demgemäß auch nicht ein echtes Mitgliedschaftsrecht, mag sie auch den Gesellschaftern als Partnern des Gesellschaftsvertrages zustehen20. Bedeutsam in diesem Zusammenhang 18

RGZ 148, 280; DR 44, 245. RG, JW 36, 919, zu weitgehend dagegen RGZ 146, 385 betr. Anfechtungsklage in der AG; vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privatrecht, 1947, S.26. 20 Das gilt auch für den Fall, daß für eine Änderung des Gesellschaftsvertrages in zulässiger Weise ein Mehrheitsbeschluß vorgesehen ist und daher die Änderung des Gesellschaftsvertrages insoweit durch einen Beschluß der Gesellschafterversammlung vorgenommen wird. 19

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ist es, daß in den Rahmen dieser Befugnis nicht nur die einverständliche oder in zulässiger Weise durch Mehrheitsbeschluß vorgenommene Änderung des Gesellschaftsvertrages gehört, sondern daß hierzu auch die Ausübung der Rechte zu rechnen ist, die den Gesellschaftern gemäß §§117, 127, 140 H G B zustehen. Denn auch die Ausübung dieser Rechte berührt die Grundlagen des Gesellschaftsverhältnisses und führt in personeller Hinsicht zu einer Änderung des Gesellschaftsvertrages. Es liegt auf der Hand, daß die immanenten Grenzen für die Befugnis der Gesellschafter zur Änderung des Gesellschaftsvertrages die geringsten Einschränkungen für die Ausübung dieser Befugnis mit sich bringen können. Aber ganz zu leugnen ist das Vorliegen derartiger Grenzen auch bei dieser Befugnis nicht21. Bei der Entscheidung über die Vornahme einer Änderung des Gesellschaftsvertrages kann und darf der einzelne Gesellschafter nicht außer acht lassen, daß er sich nicht mit den anderen Gesellschaftern zur Förderung des Gesellschaftsunternehmens verbunden hat. Hat dieses Unternehmen durch die gemeinsame Arbeit einen wirtschaftlichen Wert erlangt und ist zur Erhaltung dieses Wertes eine Änderung des Gesellschaftsvertrages erforderlich, so kann unter Umständen die Verpflichtung eines jeden Gesellschafters auf Zustimmung zu der erforderlichen Änderung bejaht werden 2 ". Im Einzelfall wird dieses wohl nur unter verständiger Abwägung der verschiedenartigen Interessen möglich sein. Der Eigenwert des Unternehmens, die Dauer der vertraglichen Beziehungen, die Auswirkung einer unterbleibenden Änderung auf das Unternehmen und die persönlichen Belange der übrigen Gesellschafter, der Anlaß für die eingetretene Notwendigkeit einer Änderung des Gesellschaftsvertrages sowie die sorgsame Berücksichtigung der Sonderinteressen des widerstrebenden Gesellschafters werden hier miteinander abgewogen werden müssen. Das gilt im gleichen Maß für die Frage einer Verpflichtung zur Zustimmung bei der Notwendigkeit einer einverständlichen Änderung des Gesellschaftsvertrages wie bei der Ausübung des Stimmrechts zu einem insoweit zulässigen Mehrheitsbeschluß. Immer muß man sich in diesem Zusammenhang vor Augen halten, daß jeder Gesellschafter an sich die Befugnis hat, die Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages frei und nach seiner eigenen Entschließung festzulegen. Die Gründe, die seine Verpflichtung zur Zustimmung zu einer Änderung des Gesellschaftsvertrages begründen, müssen daher stets solche sein, die sich erst nachträglich ergeben oder jedenfalls nachträglich herausgestellt haben und die es gerechtfertigt erscheinen lassen, die Zustimmung des widersprechenden Gesellschaf21 Ebenso Hueck, a.a.O. §11 III, 3, aber ebenfalls unter Betonung der gebotenen Zurückhaltung bei Annahme einer solchen Verpflichtung. 2,1 BGH, BB 54, 456.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

ters im Hinblick auf die Art und den Erfolg der bisherigen Zusammenarbeit als zumutbar anzusehen. Einer besonderen Hervorhebung bedarf in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwieweit der einzelne Gesellschafter verpflichtet ist, seine Zustimmung zu Maßnahmen nach §§117, 127, 140 H G B zu erteilen. In dieser Hinsicht wird im Schrifttum zum Teil die Ansicht vertreten, daß eine solche Verpflichtung nicht bejaht werden, daß aber die Verweigerung der erforderlichen Zustimmung unter Umständen die Berechtigung zur Ausschließung des widersprechenden Gesellschafters begründen könne22. Diese Auffassung halte ich nicht für billigenswert23. Gewiß ist auch in diesem Zusammenhang zu beachten, daß eine solche Entziehungs- oder Ausschließungsklage die vertraglichen Grundlagen des Gesellschaftsvertrages berührt und daß daher eine etwaige Verpflichtung zur Zustimmung nicht unter den gleichen Voraussetzungen wie im Rahmen der Geschäftsführung bejaht werden kann. Dieser Unterschied zwingt aber m. E. nicht, wie Hueck a. a. O. darlegt, zu der Folgerung, daß eine solche Verpflichtung unter keinen Umständen angenommen werden könne. Auch scheint mir die Annahme der Gegenmeinung, die übrigen Gesellschafter könnten im Einzelfall gegen den widerstrebenden Gesellschafter die Ausschließungsklage durchführen, widerspruchsvoll zu sein. Voraussetzung für die Durchführung einer solchen Klage ist das Vorliegen eines wichtigen Grundes in der Person dieses Gesellschafters, der die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses mit diesem für die übrigen Gesellschafter unzumutbar macht. Es erhebt sich bei dieser Sachlage ohne weiteres die Frage, ob ein Gesellschafter nach dem Gesellschaftsvertrag nicht stets verpflichtet ist, wenigstens nicht vorsätzlich durch sein Verhalten einen wichtigen Grund für seine Ausschließung herbeizuführen. Diese Frage wird man ohne Bedenken bejahen müssen. Damit ist aber zugleich die Annahme zwingend, daß er unter Umständen zu einer Beteiligung an einer Entziehungs- oder Ausschließungsklage verpflichtet ist. Auch erscheint es mir nicht gerechtfertigt, gegen einen Gesellschafter, der sich an einer ohne weiteres begründeten Klage aus §§117, 127 H G B ohne stichhaltigen Grund nicht beteiligen will, nunmehr mit den schwerwiegenden Folgen einer Ausschließungsklage vorgehen zu müssen, nur um die dringend gebotene Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis herbeiführen zu können. Andererseits muß aber auch in diesem Zusammenhang betont werden, daß bei der erforderlichen Interessenabwägung Zurückhaltung geboten ist, ehe man eine solche Verpflichtung eines widerstrebenden 22 Hueck, a.a.O. §10 VII, 4; §29 I, 2 c 8; Gessler-Hefermehl, Komm. HGB, 2. Aufl. §117 Bern. 6; Düringer-Hachenburg, Komm. HGB §117 Bern. 6; Baumbach-Duden, Komm. HGB, 8.Aufl., §117 Bern.2A; Gogos, a.a.O. S.67/68. 25 Weipert, a.a.O. §117 Bern. 11 Karger, DJZ 28, 1074; Kohler, NJW 51, 5.

7. Grenzen der Ausübung gesellschaftlicher Mitgliedschaftsrechte

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Gesellschafters anerkennen kann. Gründe einer persönlichen Bindung des widersprechenden Gesellschafters zu dem anderen Gesellschafter, gegen den Maßnahmen nach § § 1 1 7 , 127, 140 H G B ergriffen werden sollen, das Vorliegen eines entsprechenden Vertrauensverhältnisses, aber auch wirtschaftliche Gesichtspunkte, daß nämlich durch die beabsichtigte Ausschließung z. B. die Kapitalgrundlage oder die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft durch den Verlust eines wirtschaftlich starken Gesellschafters in nicht tragbar erscheinender Form geschmälert werde, müssen eine sachgerechte Berücksichtigung finden. Der gebotenen Zurückhaltung in dieser Hinsicht werden die Ausführungen von Kohler1'' m. E. nicht gerecht; sie verkennen nach meiner Ansicht insoweit die besonderen Verhältnisse, die hier Berücksichtigung verdienen. Zusammenfassend bin ich aus den vorstehenden Gründen der Auffassung, daß es nicht möglich ist, mit Küster allgemeine Grundsätze objektiver Art für die immanenten Grenzen der gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrechte bei allen Gesellschaften aufzustellen. Einem solchen Versuch steht die Verschiedenartigkeit der in Betracht kommenden Rechte entgegen, die ihrem Inhalt und ihrem Wesen nach auch verschiedenartige Grenzen haben.

N J W 51, 5 ff.

8. Die Personalhandelsgesellschaft im Prozeß"' i.

Es will scheinen, als ob der unerfreuliche Streit um die Rechtsnatur der Personalhandelsgesellschaft aus der Zeit um die Jahrhundertwende heute noch immer für die Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß von entscheidender Bedeutung ist. Für das materielle Recht hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, daß das harte Entweder-Oder, das für diesen Streit kennzeichnend war, nämlich die Alternative, entweder juristische Person oder Gesamthandsgemeinschaft, nicht geeignet ist, der besonderen Eigenart der Personalhandelsgesellschaft in allen sachlichrechtlichen Fragen gerecht zu werden. Man weiß, daß die Personalhandelsgesellschaft, namentlich in ihrer Stellung nach außen, auch durch die starke Verbundenheit der Gesellschafter gekennzeichnet ist und daß sie sich in dieser Hinsicht in manchem der juristischen Person stark nähert. Man zögert daher auch nicht, auf solche Rechtsbeziehungen, für die die geschlossene Einheit der Gesellschaft und nicht die Vielheit der Gesellschafter maßgeblich ist, Grundsätze aus dem Recht der juristischen Person anzuwenden. Namentlich hält man es heute nicht mehr für vertretbar, die Entscheidung zweifelhafter Rechtsfragen auf dem Gebiet des materiellen Rechts einfach und allein aus der begrifflichen Einordnung der Personalhandelsgesellschaft abzuleiten. In dieser Beurteilung kommt der zutreffende Gedanke zum Ausdruck, daß die Personalhandelsgesellschaft in mancher Hinsicht als Vielheit (der Gesellschafter) und in mancher Hinsicht als Einheit (der Gesellschaft) gestaltet ist. Dieser heute im Schrifttum vorherrschenden Ansicht 1 hat sich inzwischen auch der Bundesgerichtshof angeschlossen 2 . Im Prozeßrecht ist das ganz anders. Hier herrscht, soweit es sich um die Rechtsprechung des Reichsgerichts und um das handelsrechtliche Schrifttum handelt, noch völlig die Auffassung vor, daß aus der Rechtsnatur der Personalhandelsgesellschaft sich zwanglos die Beantwortung aller Rechtsfragen ableiten läßt, die sich im einzelnen für die Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß ergeben. Dabei wird allein auf die Frage der Parteifähigkeit der Personalhandelsgesellschaft abgestellt und diese mit dem einfachen Hinweis verneint, daß die Parteifähigkeit die * Aus: Recht und Wirtschaft. Festschrift für Justus Wilhelm Hedemann zu seinem 80. Geburtstag am 24. April 1958, hrsg. von Heinrich Lehmann, Hans Carl Nipperdey. Walter de Gruyter, Berlin, 1958, 75-94. 1 Vgl. dazu namentlich Hueck Das Recht der offenen Handelsgesellschaft § 3 IV. 2 B G H Z 23, 305; vgl. dazu auch meine Anm. bei LM Nr. 4 zu §128 HGB.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Existenz eines Rechtssubjekts voraussetze 3 , die Personalhandelsgesellschaft jedoch ein selbständiges Rechtssubjekt nicht sei, „die unter der Gesellschaftsfirma erhobene Klage deshalb nicht die Klage einer von den Gesellschaftern verschiedenen Rechtspersönlichkeit" sei, „vielmehr Träger der Parteirechte im Prozeß die Gesellschafter selbst in ihrer Zusammenfassung zur Gesellschaft" seien4. Damit ist der von der Rechtsprechung immer wieder verwertete Rechtssatz gewonnen, daß die Gesellschafter in ihrer Zusammenfassung Prozeßpartei seien5 oder daß die Gemeinschaft der Gesellschafter die eigentliche (!) Partei sei6. Das ist dann auch die Formel, mit der das Reichsgericht bei zweifelhaften Fragen des Gesellschaftsprozesses die Gesellschaft kurzerhand beiseite schiebt und auf die einzelnen Gesellschafter als die Träger der Parteirechte zurückgreift 7 . Es ist das Verdienst einiger namhafter Zivilprozessualisten 8 , immer wieder auf die Bedenken hingewiesen zu haben, die gegen diese Rechtsprechung des Reichsgerichts bestehen. Ausgangspunkt für diese Angriffe ist freilich ebenfalls die Frage nach der Parteifähigkeit der Personalhandelsgesellschaft. Es mag nach den Erfahrungen, die auf dem Gebiet des materiellen Rechts mit einer solchen rechtlichen Beurteilung gemacht worden sind, zweifelhaft sein, ob dieser Ausgangspunkt glücklich gewählt ist und ob er nicht ebenfalls die Gefahr einer bedenklichen Einseitigkeit in sich schließt. Jedenfalls sollte man sich nach meinem Eindruck in diesem Zusammenhang - genau wie auf dem Gebiet des Privatrechts - davor hüten, aus einer so oder so gewählten Prämisse - die Personalhandelsgesellschaft ist parteifähig oder sie ist es nicht - Rechtssätze für Einzelfragen „abzuleiten". Ich möchte daher im folgenden bei der Erörterung der in diesem Zusammenhang in Betracht kommenden Probleme die Frage nach der Parteifähigkeit der Personalhandelsgesellschaft im Zivilprozeß zurückstellen und einfach an die Rechtstatsachen anknüpfen, wie sie sich aus der Gestaltung des Gesellschaftsprozesses und des Gesellschafterprozes-

R G Z 32, 175. R G Z 141, 280; vgl. auch R G Z 49, 343: „Die o H G ist keine juristische Person. Daraus folgt prozeßrechtlich, daß wenn eine o H G klagt oder verklagt wird, Prozeßpartei auf der klagenden oder verklagten Seite nur die Gesellschafter sind." 5 Vgl. R G J W 1901, 226; R G Z 127, 100. ' RG WarnRspr. 1914 Nr. 129; DR 1944, 665. 7 Mit dieser Auffassung stehen allerdings einige Entscheidungen des Reichsgerichts in Widerspruch; so wird in R G Z 14, 20; 85, 65; 102, 302/03 von der Parteifähigkeit der o H G gesprochen. Aber diese Entscheidungen sind aufs Ganze gesehen ohne Einfluß auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts geblieben. ' Vgl. etwa Jaeger Die offene Handelsgesellschaft im Zivilprozeß, Festgabe für Sohm; de Boor Zur Lehre vom Parteiwechsel S. 69 ff; Jonas Kommentar zur ZPO § 50 Anm. II, 5. 3 4

8. Die Personalhandelsgesellschaft im P r o z e ß

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ses ergeben. Die Annahme einer vorhandenen oder fehlenden Parteifähigkeit soll dabei nicht als Begründung f ü r die Beantwortung der einen oder der anderen Frage herangezogen werden. II. Solange eine Personalhandelsgesellschaft besteht, können Ansprüche gegen die Gesellschaft und gegen die Gesellschafter wegen ihrer persönlichen H a f t u n g in verschiedenen Prozessen geltend gemacht werden. D e r eine Prozeß schließt den anderen Prozeß nicht aus. Beide Prozesse können miteinander verbunden oder voneinander getrennt durchgeführt werden. Demzufolge ist es nicht möglich, daß nach Einleitung eines Prozesses gegen die Gesellschaft ein einzelner Gesellschafter, der wegen seiner persönlichen H a f t u n g nun ebenfalls von dem Gesellschaftsgläubiger in Anspruch genommen wird, die Einrede der Rechtshängigkeit geltend macht. Es fehlt insoweit an der „Vollidentität der Sache"'. Das ist heute allgemein anerkannt 10 . W o r i n liegt der sachliche G r u n d für diese Auffassung? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht schwer, liegt jedenfalls bei Prozessen gegen die Gesellschaft und gegen ihre Gesellschafter auf der H a n d . Der gegen eine Personalhandelsgesellschaft geltend gemachte Anspruch ist nicht identisch mit dem Anspruch gegen die einzelnen Gesellschafter. Die beiden Ansprüche mögen sich vielleicht in ihrem Inhalt decken", sie unterscheiden sich jedenfalls sachlichrechtlich durch den verschiedenen Haftungsgegenstand. Ein Urteil gegen die Personalhandelsgesellschaft ist erforderlich, u m die Vollstreckung in das Gesellschaftsvermögen zu ermöglichen (§124 A b s . 2 H G B ) ; ein Urteil gegen einzelne oder gegen alle Gesellschafter läßt einen solchen Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen nicht zu. Andererseits kann mit einem Urteil gegen die Gesellschaft nur Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen genommen werden. Diese Verschiedenheit des Haftungsgegenstands bei Klagen gegen die Gesellschaft und bei Klagen gegen die Gesellschafter ist der G r u n d für die Möglichkeit, aber auch für die Notwendigkeit verschiedener Klagen gegen die Gesellschaft und gegen die Gesellschafter. Entsprechendes gilt f ü r die Klagen, die die Gesellschaft selbst erhebt, und für Klagen, bei denen die Gesellschafter als Kläger auftreten. Auch hier handelt es sich um verschiedene Ansprüche, um den Anspruch der Personalhandelsgesellschaft, für den diese regelmäßig allein legitimiert ist, sowie um den 9

Jaeger a. a. O . S. 66. Vgl. Hueck a. a. O . § 21 IV 1 c m. w. N . ; die gegenteilige Auffassung in R G Z 49, 341 ist heute längst überholt. 11 D a s ist allerdings sehr streitig, vgl. dazu B G H Z 23, 302 m. w . N . Ich selbst w ü r d e diese Frage nicht allgemein bejahen. 10

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etwaigen Anspruch des einzelnen Gesellschafters, der sich in einigen Fällen auf den Gesellschaftsvertrag gründen kann (actio pro socio). Aus dieser Beurteilung ergeben sich eine Reihe praktischer Folgerungen. 1. Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, daß die Bestimmung des § 124 Abs. 1 H G B , wonach die Personalhandelsgesellschaft unter ihrer Firma klagen und verklagt werden kann, entbehrlich sei, weil sie nur eine überflüssige Wiederholung der Vorschrift des §17 Abs. 2 H G B darstelle12. Das ist m. E. nicht richtig und beruht auf einer Verkennung der Vorschrift des § 124 Abs. 1 HGB. Gegen einen Einzelkaufmann kann man unter dessen bürgerlichem oder unter dessen kaufmännischem Namen (seiner Firma) eine Klage erheben, ohne daß das einen sachlichrechtlichen oder prozessualen Unterschied ausmacht. Die Wahl der Bezeichnung steht dem Kläger offen, wie auch umgekehrt ein Einzelkaufmann nach seiner Wahl unter seinem bürgerlichen Namen oder unter seiner Firma eine Klage erheben kann. Bei einer Personalhandelsgesellschaft ist das anders. Sie muß unter ihrer Firma klagen, und sie muß unter ihrer Firma verklagt werden. Die Firmenbezeichnung der offenen Handelsgesellschaft ist eine notwendige Bezeichnung für die Gesellschaft. Das wird deutlich, wenn in der Klage nicht die Personalhandelsgesellschaft als Klägerin oder Beklagte, sondern wenn die hinter ihr stehenden Gesellschafter als solche bezeichnet werden. Eine solche Bezeichnung stellt einen sachlichen Unterschied gegenüber der Firmenbezeichnung der Gesellschaft dar, weil es sich dann nicht um einen Gesellschafts-, sondern um einen Gesellschafterprozeß handelt. Die Klage der Personalhandelsgesellschaft ist nicht die Klage der einzelnen Gesellschafter, wie auch die Klage gegen die Personalhandelsgesellschaft nicht die Klage gegen die einzelnen Gesellschafter ist. Die besondere Bedeutung der Vorschrift, wonach die Personalhandelsgesellschaft unter ihrer Firma klagen und verklagt werden kann, zeigt sich auch darin, daß der Eintritt neuer Gesellschafter und das Ausscheiden bisheriger Gesellschafter während des Prozesses einer Personalhandelsgesellschaft dazu führt, daß die neu eingetretenen Gesellschafter nunmehr an dem Prozeß ebenfalls beteiligt sind und die ausgeschiedenen Gesellschafter mit dem Prozeß nichts mehr zu tun haben. Um einen Parteiwechsel auf Seiten der Gesellschaft handelt es sich dabei nicht; die Stellung der Gesellschaft im Prozeß wird dadurch nicht berührt. Insoweit ist die Rechtslage ähnlich wie bei dem Prozeß einer juristischen Person. Andererseits führt bei der Klage einzelner Gesellschafter oder bei einer Klage gegen die einzelnen Gesellschafter ein 12 Düringer-Hachenburg Anm. 7.

§124 A n m . 6 ; ähnlich auch Weipert RGRK H G B §124

8. Die Personalhandelsgesellschaft im Prozeß

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Wechsel im Mitgliederbestand der Gesellschaft nicht dazu, daß die neu eingetretenen Gesellschafter nun ebenfalls ohne weiteres Prozeßbeteiligte werden und die ausgeschiedenen Gesellschafter ohne weiteres aus dem Prozeß ausscheiden. Das kann nur durch eine subjektive Klagänderung nach Maßgabe der dafür geltenden Vorschriften geschehen 13 . 2. Der Unterschied zwischen dem Prozeß der Gesellschaft und dem Prozeß der einzelnen Gesellschafter erweist sich auch darin, daß der einzelne Gesellschafter in einem Prozeß gegen die Gesellschaft dieser als Nebenintervenient beitreten kann 14 . Er ist als Einzelperson im Prozeß gegen die Gesellschaft Dritter und als solcher nicht selbst Beklagter. Auf derselben Auffassung beruht es, wenn einem einzelnen Gesellschafter die Drittwiderspruchsklage des § 7 7 1 Z P O gewährt wird, falls in der Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft (Gesellschaftsvermögen) Zugriff auf einen Vermögensgegenstand genommen wird, der diesem Gesellschafter allein gehört. Denn der einzelne Gesellschafter ist in einem solchen Fall nicht Vollstreckungsschuldner, sondern Dritter. Das gleiche gilt, wenn es sich dabei um einen Vermögensgegenstand handelt, der zwar allen Gesellschaftern, zu Bruchteilen oder zur gesamten Hand, gemeinsam gehört, aber nicht Teil des Gesellschaftsvermögens ist. Denn auch die einzelnen Gesellschafter sind nicht Vollstreckungsschuldner, auch nicht in einer Verbindung, die zwischen ihnen außerhalb ihrer Personalhandelsgesellschaft noch besteht. 3. Die Verschiedenheit von Gesellschaftsprozeß und Gesellschafterprozeß bedingt, daß der Übergang von dem einen Prozeß zu dem anderen Prozeß eine subjektive Klagänderung ist15. Sie ist nur unter den Voraussetzungen des § 264 Z P O zulässig. Es kann daher ein Gesellschaftsgläubiger nicht ohne weiteres dazu übergehen, an Stelle der von ihm zunächst verklagten Personalhandelsgesellschaft einzelne oder auch alle Gesellschafter persönlich in den Prozeß zu ziehen. Denn die von ihm zunächst erhobene Klage ist mit der Klage gegen die einzelnen Gesellschafter nicht identisch. Diese sind in dem Gesellschaftsprozeß nicht selbst Prozeßpartei. In dieser Hinsicht wird, worauf 1 auch die Entscheidung B G H Z 17, 342 hinweist, der Unterschied zwischen der Personalhandelsgesellschaft und der Gesellschaft bürgerlichen Rechts offenbar, ein Unterschied, der auf der besonderen Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß beruht.

Auf den Unterschied zwischen § 17 Abs. 2 H G B und § 124 Abs. 1 H G B hat bereits a. a. O . S . I I hingewiesen. 14 So schon R G Z 5, 7 0 / 7 1 ; heute allgemeine Ansicht. 15 R G Z 36, 141; B G H Z 17, 342; Jaeger a . a . O . S . 2 0 ; Düringer-Hachenburg §124 Anm. 14; Weipert § 124 Anm. 34. 13

Jaeger

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4. Diese besondere Stellung der Personalhandelsgesellschaft ermöglicht es, daß auch ein Gesellschafter einen Prozeß gegen seine Personalhandelsgesellschaft führen kann. Eine teilweise Identität der klagenden und der beklagten Partei liegt in einem solchen Fall nicht vor, weil auf sehen der Personalhandelsgesellschaft nicht die einzelnen Gesellschafter die Prozeßpartei sind. Das ist heute allgemein anerkannt. Auch in dieser Hinsicht ist ein grundlegender Unterschied zu der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft gegeben; denn in ihr kann der einzelne Gesellschafter bei der gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen „gegen seine Gesellschaft" nur die übrigen Gesellschafter verklagen. Noch deutlicher tritt die besondere Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß zutage, wenn eine offene Handelsgesellschaft gegen eine personengleiche andere offene Handelsgesellschaft einen Prozeß anstrengt. Auch das ist rechtlich möglich, wenn es auch praktisch nur selten vorkommen wird. Entscheidend ist insoweit ebenfalls die geschlossene Stellung einer jeden Handelsgesellschaft ohne Rücksicht auf die hinter ihr stehenden Mitglieder. In dieser Hinsicht liegt es ganz ähnlich, wie wenn zwei personengleiche Personalhandelsgesellschaften in rechtsgeschäftliche Beziehungen zueinander treten. 5. Bedeutsam ist die Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß auch für die Frage, ob in dem Gesellschaftsprozeß nur ihre vertretungsberechtigten Gesellschafter oder alle Gesellschafter als Partei zu vernehmen sind. a) Das Reichsgericht hat zu dieser Frage nur nach dem früheren Prozeßrecht Stellung genommen, als es die Parteivernehmung in der heutigen Ausgestaltung noch nicht gab, sondern an deren Stelle noch die Vorschriften über den zugeschobenen Parteieid galten. Dabei ist das Reichsgericht zu dem Ergebnis gelangt, daß nur den vertretungsberechtigten Gesellschaftern der Parteieid zugeschoben werden könne, weil es sich bei der Eideszuschiebung nicht nur um ein Beweismittel, sondern zugleich auch um einen Akt der Prozeßführung handele, der nur von den zur Prozeßführung befugten Gesellschaftern vorgenommen werden könne". Eine Vernehmung der nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter als Zeugen hat das Reichsgericht jedoch auch nicht gestattet, und zwar deshalb nicht, weil diese in ihrer Verbindung als Gesellschafter die Prozeßpartei bildeten und insoweit ein entscheidender Unterschied zur juristischen Person obwalte17. Daß diese Rechtsprechung, die vielfach getadelt worden ist18, nicht haltbar ist, liegt auf der Hand; denn so RG Gruch 42, 1198; 48, 102. RGZ 82, 133; LZ 1910, 150. " Vgl. etwa Jaeger a. a. O. S. 35; LZ 1910, 152; Düringer-Hachenburg Weipert § 124 Anm. 17. 16

17

§ 124 Anm. 10;

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oder so muß ein Weg gefunden werden, um die Tatsachenkenntnis der nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter im Wege des Beweises verwerten zu können 19 . b) Die Begründung des Reichsgerichts, mit der es die Vernehmung der nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter als Zeugen verneint hat, findet auch heute im Schrifttum noch vielfach Anklang, nur daß die Vertreter dieser Ansicht daraus die Folgerung ziehen, daß auch die nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter als Partei vernommen werden müssen 20 . Allein diese Begründung erweckt Bedenken. Es wird nämlich hierbei die Summe der einzelnen Gesellschafter ohne weiteres mit der Personalhandelsgesellschaft gleichgestellt und jedem einzelnen Gesellschafter die Stellung beigelegt, die nur der Personalhandelsgesellschaft als solcher, der Gemeinschaft der jeweiligen Gesellschafter zukommt. Damit wird der Unterschied aufgehoben, der für die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftsprozeß und dem Gesellschafterprozeß maßgeblich ist, und der die Grundlage dafür bildet, daß neben der Gesellschaft auch die einzelnen Gesellschafter als solche verklagt werden können. Der einzelne Gesellschafter erhält auf diese Weise im Gesellschaftsprozeß die gleiche Stellung, wie er sie in dem gegen ihn gerichteten Gesellschafterprozeß hat. Das aber kann nicht richtig sein. Diese Begründung führt - und das kann nicht verwunderlich sein - zu unauflösbaren Schwierigkeiten, wenn man prozessuale Tatbestände heranzieht, deren rechtliche Behandlung gerade und allein auf der Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftsprozeß und dem Gesellschafterprozeß beruht. In einem Prozeß, den ein Gesellschafter gegen seine Gesellschaft führt, müßte der verklagten Gesellschaft vom Standpunkt dieser Meinung aus das Recht verwehrt sein, sich nach § 445 Z P O auf die Parteivernehmung des Klägers zu berufen, weil das zugleich (!) ein Antrag auf die eigene Parteivernehmung wäre. In einem Prozeß zwischen zwei personengleichen Handelsgesellschaften ließe sich ein Antrag auf Vernehmung eines nicht vertretungsberechtigten Gesellschafters nach § 4 4 5 Z P O überhaupt nicht ermöglichen. Auch die Parteivernehmung von Amts wegen würde in diesen Fällen, soweit der Tatbestand des § 4 4 8 Z P O in Betracht kommt, auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen. c) Angesichts dieser Bedenken hat man im Schrifttum die Notwendigkeit, auch die nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter im Gesellschaftsprozeß als Partei zu vernehmen, mit einer anderen Begründung zu rechtfertigen gesucht. Es wird darauf hingewiesen, daß die GesellVgl. dazu auch schon die Bedenken in RG LZ 1910, 150. Düringer-Hachenburg § 124 Anm. 10; Ritter § 124 Anm. a g; Schlegelberger-Geßler §124 Anm. 18; Wieczorek Komm. ZPO §373 Anm. B II a 2; anders freilich § 5 0 Anm. B III c 6. 19

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schafter materiellrechtlich die Träger der Rechte und Pflichten sind, um die im Gesellschaftsprozeß gestritten wird, und daß es deshalb sachgerecht ist, alle Gesellschafter in einem solchen Prozeß als Partei und nicht als Zeugen zu vernehmen 21 . Allein dieser Gesichtspunkt führt im Grunde genommen auch wieder nur auf die Frage nach der Rechtsnatur der Personalhandelsgesellschaft zurück, wobei lediglich das entscheidende Gewicht von dem prozeßrechtlichen Gebiet auf das materiellrechtliche Gebiet verlagert wird. Das ergeben m.E. vor allem die Ausführungen von Hueck deutlich, der seine Entscheidung letzten Endes in dieser Frage auf den Unterschied zwischen der Gesamthandsgemeinschaft und der juristischen Person gründet 22 . Ich habe den Eindruck, daß damit auf eine Begründung zurückgegriffen wird, gegen die gerade Hueck in einem anderen Zusammenhang mit Recht entscheidende Bedenken geltend gemacht hat23. d) Nach meiner Ansicht sollte man bei der Beantwortung der Frage, ob der nicht vertretungsberechtigte Gesellschafter im Gesellschaftsprozeß als Zeuge oder als Partei zu vernehmen ist, allein auf die Besonderheiten und Unterschiede der Zeugen- und der Parteivernehmung im heutigen Prozeßrecht abstellen und prüfen, welche dieser beiden Beweismittel nach ihrer prozessualen Ausgestaltung den besonderen Verhältnissen bei einer Personalhandelsgesellschaft insoweit am meisten gerecht wird. Bei einer solchen Prüfung erscheint es sachgerecht, zunächst von der sog. Anhörung der Parteien nach § 141 ZPO auszugehen. Diese Anhörung liefert - darüber besteht Einmütigkeit 24 - keinen Beweisstoff. Sie dient dazu, Lücken, Unklarheiten und Widersprüche im Parteivortrag zu beseitigen, sie soll den Parteivortrag ergänzen und gegebenenfalls eine Klarstellung darüber herbeiführen, inwieweit gegnerische Behauptungen zugestanden oder bestritten werden. Für eine solche Parteianhörung kommen nur die vertretungsberechtigten Gesellschafter in Betracht; denn bei ihr handelt es sich um einen Akt der Prozeßführung, der allein den vertretungsberechtigten Gesellschaftern zusteht. Die nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter haben nicht das Recht, Einfluß auf die Führung eines Gesellschaftsprozesses zu nehmen, den Parteivortrag der So Hueck a.a.O.'§22 III; ähnlich auch de Boor a.a.O. S.71. Hierbei handelt es sich im Grunde um einen sehr formalen Gesichtspunkt. Das wird deutlich, wenn man die Verhältnisse bei einer personalistisch ausgestalteten GmbH und bei einer kapitalistisch gestalteten Kommanditgesellschaft miteinander vergleicht. Wenn Hueck daneben auch noch auf die persönliche Haftung der Gesellschafter verweist, so versagt dieser Gesichtspunkt - im wirtschaftlichen Ergebnis - bei der Kommanditgesellschaft. 23 Vgl. a. a. O. § 3 IV. 24 Vgl. Rosenberg Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts 7. Aufl. §62 II 3 a ß ; vgl. auch BGH LM Nr. 2 zu § 141 ZPO. 21

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Gesellschaft zu ergänzen und gegebenenfalls neuen Streitstoff in den Prozeß einzuführen. Diese Auslegung des § 141 ZPO legt den Schluß nahe, daß auch für die Parteivernehmung nach den §§ 445 ff ZPO nur die vertretungsberechtigten Gesellschafter in Betracht kommen, da es ein merkwürdiges Ergebnis sein würde, daß bei der Auslegung des § 141 ZPO und der §§ 445 ff ZPO insoweit ein verschiedener Maßstab angelegt werden müßte. Diese Schlußfolgerung findet ihre Bestätigung, wenn man die wesentlichen Unterschiede zwischen der Parteivernehmung und der Zeugenvernehmung entsprechend berücksichtigt. Im Unterschied zu den Zeugen ist die Partei nicht zur Aussage verpflichtet, ja sie kann nicht einmal gezwungen werden, in dem zu ihrer Vernehmung angesetzten Termin zu erscheinen. Insoweit ist die Parteivernehmung nicht nur ein Beweismittel, sondern für die Partei zugleich auch „ein prozessualer Dispositionsakt" 25 , der für die Prozeßführung unter Umständen von weittragender Bedeutung sein kann (vgl. § 446 ZPO). Es ist m. E. nicht möglich, diesen prozessualen Dispositionsakt auch den nicht vertretungsberechtigten Gesellschaftern anzuvertrauen und ihnen damit einen Einfluß auf die Prozeßführung einzuräumen, weil im Gesellschaftsprozeß die Aufgabe der Prozeßführung allein den vertretungsberechtigten Gesellschaftern obliegt. Auch die weitere rechtliche Ausgestaltung der Parteivernehmung läßt ihren engen Zusammenhang mit der Prozeßführungsbefugnis der Partei erkennen und nötigt m. E. ebenfalls dazu, die Parteivernehmung im Gesellschaftsprozeß auf die prozeßführungsbefugten, also auf die vertretungsberechtigten Gesellschafter zu beschränken. Der Umstand, daß die falsche uneidliche Parteiaussage nicht unter einer strafrechtlichen Sanktion steht26, ist allein aus diesem Zusammenhang heraus zu verstehen. Das gleiche gilt für die Regelung, daß die Parteivernehmung im Unterschied zur Zeugenvernehmung nur ein subsidiäres Beweismittel ist und daß ein Antrag auf Parteivernehmung unberücksichtigt bleiben kann, wenn er Tatsachen betrifft, deren Gegenteil das Gericht für erwiesen erachtet. Denn auch diese Regelung findet ihre innere Rechtfertigung nur dann, wenn man die Stellung der Partei in ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf die Prozeßgestaltung entsprechend berücksichtigt. Schließlich mag noch hervorgehoben werden, daß die gegenteilige Auffassung im Urkundenprozeß zu höchst unerfreulichen Ergebnissen führen kann, nämlich wenn es sich bei der Personalhandelsgesellschaft um eine Gesellschaft mit einer großen Mitgliederzahl handelt. Hier könnte der Prozeßgegner der Gesellschaft auf dem Wege über §595 Abs. 2 ZPO eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig 25 26

Gerland Judicium 3, 314. Vgl. dazu Mezger Lpz. Komm. § 1 5 3 A n m . 4 .

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machen, wenn er sich für seine Einwendungen auf die Vernehmung zahlreicher Kommanditisten berufen würde. Eine solche Möglichkeit würde ganz sicherlich mit dem besonderen Zweck des Urkundenprozesses nicht im Einklang stehen. Auf Grund dieser Erwägungen halte ich es nicht für richtig, auch die nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter im Gesellschaftsprozeß als Partei zu vernehmen; sie müssen vielmehr als Zeugen vernommen werden"' 2S . III. Die m. E. schwierigsten Fragen über die Stellung der Personalhandelsgesellschaft im Prozeß treten auf, wenn es während des Gesellschaftsprozesses zur Vollbeendigung der Gesellschaft kommt. Die Ansichten im Schrifttum gehen hierbei weit auseinander. 1. Verhältnismäßig einfach läßt sich in einem solchen Fall die Frage nach der weiteren Gestaltung des Prozesses noch beantworten, wenn ein Gesellschaftsgläubiger die Gesellschaft und sämtliche Gesellschafter einzeln auf Zahlung einer Gesellschaftsverbindlichkeit gerichtlich in Anspruch genommen hat. In einem solchen Fall kann ein Urteil gegen die Gesellschaft nicht mehr ergehen, weil sie nicht mehr vorhanden ist. Durch den Wegfall der Gesellschaft findet das Verfahren gegen sie seine Erledigung. Es bleibt dann nur noch die Möglichkeit, diese Erledigung durch eine übereinstimmende Parteierklärung oder durch einen Urteilsspruch auszusprechen. Dabei ist diese Erledigung des Verfahrens gegen die Gesellschaft auf den Fortgang des Prozesses gegen die Gesellschafter ohne jeden Einfluß. Diese bleiben weiterhin, und zwar ein jeder für seine Person, die Beklagten in dem Prozeß, nur daß die zunächst ebenfalls verklagte Gesellschaft als Prozeßbeteiligte ausgeschieden ist. 2. Es liegt nahe, eine völlig entsprechende Regelung dann eingreifen zu lassen, wenn die Gesellschaft allein als Klägerin oder als Beklagte aufgetreten ist und während des Prozesses durch ihre Vollbeendigung fortfällt. Das aber ist weder die Ansicht des Reichsgerichts noch die Ansicht der vielfältigen Meinungen im heutigen Schrifttum. Der Grund hierfür beruht auf der praktisch durchaus einleuchtenden Erwägung, daß ein solches Ergebnis so unbefriedigend wäre, daß man es aus diesem Grunde nicht hinnehmen möchte. 27

Im Ergebnis ebenso Jaeger a . a . O . S.35; Stein-Jonas Anm. 12 vor §373; Weipert §124 Anm. 17. 28 Das entspricht nach meinen Beobachtungen heute auch der meist üblichen Praxis der Instanzgerichte. Der Bundesgerichtshof hat zu dieser Frage noch keine Stellung genommen, weil eine Verfahrensrüge gegen diese Praxis bisher vor dem Revisionsgericht noch nicht erhoben worden ist.

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Das Reichsgericht hat sich bei der Entscheidung der hier in Betracht kommenden Frage die Sache m. E. recht leicht gemacht. Es geht von dem Satz aus, daß „im Prozeß der Gesellschaft die Gesellschafter (als Gesamtheit, in ihrer Zusammenfassung unter der Firma der Gesellschaft) Prozeßpartei" seien29. Daran schließt das Reichsgericht den weiteren Satz, daß mit der Beendigung der Gesellschaft ohne weiteres alle einzelnen Gesellschafter Prozeßpartei werden, „weil sie eben in Wahrheit bisher schon immer die Prozeßpartei, nur allerdings unter einer gewissen, jetzt mit Notwendigkeit wegfallenden Modalität, waren" 30 . Dabei ist die Formulierung im einzelnen nicht immer widerspruchsfrei. Während es in RGZ 46, 41 heißt, „daß mit dem Aufhören der Gesellschaft deren Parteirolle auf die sämtlichen früheren Gesellschafter übergeht", und es in RGZ 124, 150 heißt, daß „mit der Auflösung der Gesellschaft an deren Stelle ohne weiteres die Gesellschafter" treten, wird das in RGZ 141, 281 - im Sinn der reichsgerichtlichen Rechtsprechung wohl richtiger - dahin ausgedrückt, daß die Gesellschafter nach Beendigung der Gesellschaft auch weiterhin Partei „bleiben", nur daß sie nicht mehr durch das Band der Gesellschaft zusammengefaßt sind31. Mit dieser Begründung gab das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung 32 den Weg für die Fortführung des Prozesses durch oder gegen die bisherigen Gesellschafter frei. Diese Begründung hält jedoch m. E. einer kritischen Nachprüfung nicht stand, abgesehen davon, daß sie in manchen Fällen zu außerordentlich unbilligen Ergebnissen führt. Der Ubergang vom Prozeß der Gesellschaft zum Prozeß gegen die Gesellschafter stellt, solange diese noch besteht, eine Klagänderung dar. Das aber kann nicht anders sein, wenn die Gesellschaft während des gegen sie gerichteten Prozesses ihr Ende findet. Alles, was für die Klagänderung während bestehender Gesellschaft spricht, gilt im gleichen Maß, wenn die Gesellschaft beendet wird. Denn auch in diesem Fall bedeutet die Fortführung des Prozesses gegen die einzelnen Gesellschafter, daß damit ein anderer Anspruch mit einem anderen Haftungsgegenstand in den Prozeß eingeführt wird. An die Stelle des Anspruchs gegen die Gesellschaft, zu deren Befriedigung das Gesellschaftsvermögen dient, tritt nunmehr der Anspruch gegen die einzelnen Gesellschafter, für deren Befriedigung der Zugriff auf das Privatvermögen offen steht. Bei dieser Rechtslage ist die Auffassung unvertretbar, daß die Gesellschafter nach Beendigung der 29

R G Z 46, 41. R G Z 64, 78. 31 Ähnlich auch R G Z 127, 100; BayObLG NJW 1957, 28: „Mit der Auflösung der Gesellschaft werden die Gesellschafter ohne weiteres Partei oder genauer ihre bisher verdeckte Parteirolle tritt offen hervor." 32 Zuletzt RG D R 1944, 665. 30

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Gesellschaft auch weiterhin Partei bleiben, nur daß sie nicht mehr durch das Band der Gesellschaft zusammengefaßt sind. Denn sie sind vorher gerade nicht jeder für sich Partei des Prozesses gewesen; auch war der gegen sie persönlich bestehende Haftungsanspruch (§§128, 171 H G B ) nicht Gegenstand dieses Prozesses. Das Reichsgericht ist - von seinem Standpunkt folgerichtig - aber noch einen Schritt weitergegangen. Es ist der Meinung, daß das Gericht nach Vollbeendigung der Gesellschaft das Rubrum der Klage von Amts wegen zu berichtigen hat, nämlich dahin, daß nunmehr die einzelnen Gesellschafter als Kläger oder Beklagte aufzuführen sind". U n d das Reichsgericht fügt dann noch hinzu, daß sachliche Folgen mit einer solchen Berichtigung nicht verbunden seien. Dieser Satz ist dahin zu verstehen, daß auch ohne eine solche Berichtigung ein gegen die Gesellschaft ergehendes Urteil unmittelbare Wirkung gegen die einzelnen Gesellschafter hat, wenn die Gesellschaft vorher ihr Ende gefunden hat. Damit verlieren die einzelnen Gesellschafter ihre persönlichen Einwendungen (§ 129 H G B ) ; denn das gegen die Gesellschaft ergangene Urteil ist in Wirklichkeit ein Urteil gegen die einzelnen Gesellschafter 34 . Die folgerichtige Fortführung dieser Auffassung bedeutet, daß nunmehr in entsprechender Anwendung der §§ 727 ff Z P O auch das auf den Namen der Gesellschaft lautende Urteil auf den Namen der Gesellschafter umgestellt werden kann und daß damit ohne weiteres die Zwangsvollstreckung in das Privatvermögen der Gesellschafter ermöglicht wird 35 . Mit dieser Folgerung ist der allgemein anerkannte Grundsatz von der Verschiedenheit der Klage gegen die Personalhandelsgesellschaft und der Klage gegen die einzelnen Gesellschafter auch für das Zwangsvollstrekkungsverfahren aufgegeben. Daß dieses Ergebnis offenbar unbillig und sachlich nicht gerechtfertigt ist, kann m. E. nicht zweifelhaft sein. Denn es läßt sich kein irgendwie verständlicher sachlicher Grund dafür anführen, warum die einzelnen Gesellschafter den unter Umständen folgenschweren Verlust ihrer persönlichen Einwendungen hinnehmen müssen. Sie werden, wie ich meine, bei dieser rechtlichen Beurteilung einfach das Opfer einer begrifflichen Deduktion. Das Bedenkliche dieser Auffassung tritt im Schrifttum, soweit es dem Reichsgericht folgt, noch deutlicher hervor, weil hier in den Formulierungen der innere Widerspruch noch klarer hervortritt. So erkennen Düringer-Hachenburg36 richtig, daß die Klage gegen die Gesellschafter mit der ursprünglich erhobenen Klage gegen die Gesellschaft nicht 33

R G Z 124, 151; D R 1944, 665; vgl. auch O L G Hamburg LZ 1924, 48. RGZ 64, 80; 124, 150. 35 So auch Düringer-Hachenburg § 124 Anm. 17; Sänger JW 1929, 1578; vgl. dazu auch R G DR 1944, 665; Schlegelberger-Geßler § 124 Anm. 27. 36 §124 Anm. 15. 34

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identisch ist, daß sie eine Erweiterung und insofern eine neue Klage darstellt, sie halten es jedoch gleichwohl f ü r möglich, daß nach der Vollbeendigung der Gesellschaft das R u b r u m der Klage von Amts wegen auf den N a m e n der Gesellschafter umgestellt werde und daß selbst ohne eine solche Berichtigung des R u b r u m s das Urteil gegen die Gesellschafter als Einzelpersonen wirke 37 . Für einen derartigen Widerspruch vermag ich eine Erklärung nicht mehr zu finden. Eine Berichtigung des R u b r u m s von Amts wegen, die inhaltlich eine Klagänderung herbeiführt, kennen wir nicht; sie ist ein unauflösbarer Widerspruch in sich selbst. D e n n nur eine Änderung der Parteibezeichnung, nicht aber eine Ä n d e r u n g des subjektiven Klaggrundes kann Gegenstand einer Berichtigung des Klagrubrums sein. Auch ist eine Klagänderung ohne einen entsprechenden neuen Klagantrag nicht denkbar. Gegenüber der Rechtsauffassung, wie sie der Rechtsprechung des Reichsgerichts zugrunde liegt, ist aber noch auf einige weitere Bedenken hinzuweisen. Es bleibt bei dieser Auffassung unklar, was aus einem Prozeß wird, der gleichzeitig, womöglich an einem anderen Gericht, gegen einzelne Gesellschafter wegen derselben Gesellschaftsverbindlichkeit anhängig ist. Auch stößt die folgerichtige D u r c h f ü h r u n g der reichsgerichtlichen Auffassung zu unauflöslichen Schwierigkeiten, wenn es sich um einen Prozeß eines Gesellschafters gegen seine Gesellschaft handelt 38 . Darüber hinaus sieht sich das Reichsgericht zu der sachlich ebenfalls nicht vertretbaren Folgerung veranlaßt, daß die namens der Gesellschaft erteilte Prozeßvollmacht nunmehr auch gegen die einzelnen Gesellschafter fortwirkt 3 9 . Das bedeutet, daß die von dem vertretungsberechtigten Gesellschafter erteilte Vollmacht nunmehr die einzelnen Gesellschafter persönlich bindet und daß damit die gesellschaftsrechtliche Vertretungsmacht (§ 125 H G B ) über die Sphäre der Gesellschaft hinausgreift. Die insoweit zur Begründung herangezogene Bestimmung des § 86 Z P O gibt hierfür keine ausreichende Rechtfertigung, zumal sie einen Fall der subjektiven Klagänderung nicht mitumfaßt. 3. Diese Bedenken gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts und gegen die wohl noch immer herrschende Auffassung im Schrifttum nötigen m. E. dazu, die Möglichkeit einer einfachen Fortsetzung des gegen die Gesellschaft eingeleiteten Prozesses gegen die einzelnen Gesellschafter im Fall einer Vollbeendigung der Gesellschaft zu vernei37

§ 124 Anm. 17; ähnlich auch Schlegelberger-Geßler § 124 Anm. 27. Hierauf haben schon Jaeger a . a . O . S. 56 und de Boor a . a . O . S. 73 aufmerksam gemacht. " R G Z 124, 150; D R 1944, 665; ebenso O L G Hamburg O L G E 17, 182; DüringerHachenburg § 124 Anm. 14; Weipert § 124 Anm. 33; Schlegelberger-Geßler § 124 Anm. 27; a. M. Ritter § 124 Anm. 4 m. 31

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nen. Ähnlich wie in dem Fall, in dem die Gesellschaft und die einzelnen Gesellschafter persönlich verklagt werden, führt auch hier die Vollbeendigung der Gesellschaft zu einer Erledigung in der Hauptsache. Denn auch eine Fortführung des Prozesses gegen die Gesellschaft ist nicht mehr möglich, da sie nicht mehr vorhanden ist40. Es ist nicht zu verkennen, daß diese Beurteilung zu einem praktisch unbefriedigenden Ergebnis führen würde, wenn der Gesellschaftsgläubiger dadurch gezwungen würde, nunmehr einen neuen Prozeß gegen die einzelnen Gesellschafter anzustrengen, und wenn damit die Beweiserhebungen des bisherigen Prozesses gegenstandslos würden. Diese Folgerung ist jedoch m. E. nicht zwingend. Die Bedenken, die sich gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts richten, beruhen im wesentlichen auf der Tatsache, daß der Ubergang vom Gesellschaftsprozeß zum Gesellschafterprozeß eine Klagänderung darstellt und daß er sich deshalb auch bei einer Vollbeendigung der Gesellschaft nicht ipso iure vollziehen kann. Damit ist aber nicht gesagt, daß diese Klagänderung nach Vollbeendigung der Gesellschaft nicht durch eine entsprechende prozessuale Erklärung des Klägers vorgenommen werden könnte. Eine solche Klagänderung setzt nur einen entsprechenden Antrag des Klägers voraus. Für ihre Zulassung wird es im allgemeinen ohne entscheidende Bedeutung sein, ob man in ihr eine solche im Sinn des § 268 N r . 3 Z P O erblickt 41 oder nicht. Denn auch dann, wenn man das verneint, wird das Prozeßgericht eine dahingehende Klagänderung im Regelfall als sachdienlich ansehen und trotz eines etwaigen Widerspruchs des Prozeßgegners zulassen müssen. Bei einer solchen Klagänderung ist es dem Kläger auch möglich, den Prozeß nur gegen einzelne der bisherigen Gesellschafter fortzuführen, wenn er das mit Rücksicht auf die voraussichtliche Realisierung seines Anspruchs in der Zwangsvollstreckung oder mit Rücksicht auf etwaige persönliche Einwendungen einzelner Gesellschafter für richtig hält 42 . Damit wird den schutzwerten Belangen des Klägers (Gesellschaftsgläubigers) in ausreichendem Umfang Rechnung getragen. Andererseits werden auf diesem Wege auch die schutzwerten Belange der einzelnen Gesellschafter hinreichend gewahrt, da sie nunmehr die Möglichkeit haben, ihre persönlichen Einwendungen gegenüber den 40 Die von Jaeger a. a. O. S. 57 für möglich gehaltene Fiktion ihres Fortbestehens zum Zweck der Durchführung des Prozesses findet m. E. weder im materiellen Recht noch im Prozeßrecht eine irgendwie geeignete und ausreichende Grundlage. Eine solche Fiktion ist nur dann möglich, wenn der Streit der Parteien die Frage betrifft, ob die Vollbeendigung der Gesellschaft eingetreten und diese deshalb nicht mehr vorhanden ist (vgl. dazu BGH WM 1957, 708). 41 So Düringer-Hachenburg §124 Anm. 14; Ritter §124 Anm. 4 m ; SchlegelbergerGeßler § 124 Anm. 27. 42 Vgl. dazu auch de Boor a. a. O. S. 74 ff.

8. Die Personalhandelsgesellschaft im Prozeß

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Gesellschaftsgläubigern vorzubringen und damit gegebenenfalls ihre persönliche Inanspruchnahme wegen der Gesellschaftsverbindlichkeit zu verhindern. Zweifel könnten sich bei dieser Lösung nur ergeben, wenn die Beendigung der Gesellschaft nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht eingetreten ist und nun die Frage auftaucht, wie in einem solchen Fall vor dem Revisionsgericht zu verfahren ist. D e n n für eine Klagänderung vor dem Revisionsgericht ist dann kein Raum mehr 43 . Andererseits kann aber auch eine Sachentscheidung zugunsten oder zu Lasten der Gesellschaft nicht mehr ergehen, weil die Gesellschaft nicht mehr besteht und diese neue Tatsache auch in der Revisionsinstanz Berücksichtigung finden muß. U m diesen Unzuträglichkeiten zu entgehen, die sich aus den Besonderheiten des Revisionsverfahrens ergeben, sollte das Revisionsgericht in einem solchen Fall das Berufungsurteil aufheben - denn es kann mit der Sachentscheidung für oder gegen die Gesellschaft nicht bestätigt werden - und die Sache an das Berufungsgericht zurückverweisen, damit die nunmehr notwendig gewordenen neuen (sachdienlichen) Anträge gestellt werden können. Ein solches Verfahren vor dem Revisionsgericht wird auch in anderen Fällen aus rein praktischen G r ü n d e n hingenommen. Die Berücksichtigung eines Wiederaufnahmegrundes 4 4 oder die Berücksichtigung einer Gesetzesänderung 45 in der Revisionsinstanz, die zur A u f h e b u n g des Berufungsurteils und zur Feststellung neuer Tatsachen nötigt, ist im G r u n d e genommen nichts anderes. Auch hier wird es aus prozeßökonomischen Gründen für notwendig erachtet, durch eine entsprechende Entscheidung des Revisionsgerichts eine sachgerechte Beendigung des anhängigen Prozeßverfahrens zu ermöglichen und diese nicht an einer überspitzten Berücksichtigung der Besonderheiten des Revisionsverfahrens scheitern zu lassen. Deshalb halte ich es auch für möglich, im Fall einer Beendigung der Gesellschaft nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht durch eine entsprechende Entscheidung des Revisionsgerichts noch die Möglichkeit f ü r eine Klagänderung vor dem Berufungsgericht zu gewähren 46 . 4. Einige Besonderheiten, die sich aus der Art der Beendigung der Personalhandelsgesellschaft ergeben, bedürfen hier noch der Erörterung. Findet die Gesellschaft dadurch ihr Ende, daß im Liquidationsverfahren das Handelsgeschäft mit Aktiven und Passiven an einen Dritten (Gesellschafter) veräußert wird, so kann f ü r einen solchen Fall nichts 43 44 45 46

B G H Z 26, 37 m . w . N . B G H Z 3, 65; 18, 59. B G H Z 9, 101 m . w . N . Im Ergebnis ebenso de Boor a. a. O . S. 75.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Abweichendes gelten. Insbesondere tritt der Erwerber des Handelsgeschäfts nicht ohne weiteres als Rechtsnachfolger der Gesellschaft in den Prozeß ein. Es handelt sich hierbei um einen Sachverhalt, wie er in § 265 Z P O geregelt ist. Die Tatsache, daß bei einer solchen Veräußerung das ganze Vermögen der Gesellschaft den Gegenstand des Rechtserwerbs bildet, kann hieran nichts ändern. Es gilt insoweit das gleiche, wie wenn eine Einzelperson durch Rechtsgeschäft unter Lebenden ihr ganzes Vermögen auf einen Dritten überträgt. Das bedeutet, daß der Erwerber des Handelsgeschäfts nur mit Zustimmung des Prozeßgegners in den Prozeß eintreten kann. Das entspricht auch der Rechtsprechung des Reichsgerichts und der wohl einhelligen Ansicht im Schrifttum. Anders ist es dagegen, wenn das Handelsgeschäft mit Aktiven und Passiven auf den zuletzt verbleibenden Gesellschafter gemäß § 142 H G B übergeht. Das ist freilich außerordentlich umstritten. Das Reichsgericht wendet auch in diesem Fall den §265 Z P O an47. Diese Auffassung erweckt aber schon vom materiellrechtlichen Standpunkt aus Bedenken. Für das Anwendungsgebiet des § 142 H G B gilt in gleicher Weise wie für das Ausscheiden einzelner Gesellschafter das Anwachsungsprinzip. Demzufolge vollzieht sich auch bei der Übernahme der Rechtsübergang von selbst und durch einen einheitlichen Akt, ohne daß es dazu im einzelnen irgendwelcher Übertragungsakte bedarf 48 . Schon dieser Umstand legt es nahe, für das Gebiet des Prozeßrechts auch die Grundsätze anzuwenden, die bei dem Ausscheiden einzelner Gesellschafter gelten. Denn es erscheint innerlich nicht gerechtfertigt, beim Ausscheiden einzelner Gesellschafter einem Prozeß gegen die Gesellschaft in der Weise Fortgang zu geben, daß er sich weiterhin nur gegen das Gesellschaftsvermögen (oder die jeweiligen Träger des Gesellschaftsvermögens) richtet, beim Ausscheiden des vorletzten Gesellschafters (Ubernahmetatbestand) aber auf einmal andere Gesichtspunkte eingreifen zu lassen. Auch hier sollte mit Rücksicht auf das Anwachsungsprinzip der Grundsatz Anerkennung finden, daß der Gesellschaftsprozeß ohne weiteres mit Wirkung für und gegen den nunmehrigen (alleinigen) Träger des Gesellschaftsvermögens Fortgang nimmt. Dieser Auffassung entspricht auch die Regelung der Zivilprozeßordnung. Die Vorschrift des §265 Z P O erfaßt nicht den Tatbestand der Übernahme gemäß § 142 H G B . Mag man auch mit der Rechtsprechung den Begriff der Rechtsnachfolge im Sinn des §265 Z P O recht weit fassen49 und ihn nicht auf den Fall der rechtsgeschäftlichen Übertragung

47 48 49

RG WarnRspr. 1915 Nr. 35; RGZ 141, 282. RGZ 65, 237; 68, 414; 136, 99. RGZ 109, 48; 121, 381.

8. Die Personalhandelsgesellschaft im Prozeß

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des Streitgegenstandes beschränken, so kann nach dem Sinn dieser Vorschrift jedenfalls eine Gesamtrechtsnachfolge darunter nicht verstanden werden 50 . Die Vorschrift des §265 ZPO setzt voraus, daß der Streitgegenstand von einem Vermögen in ein anderes hinüberwechselt, erfaßt jedoch nicht auch den Fall, daß ein Vermögen im Wege der Gesamtnachfolge in ein anderes aufgeht. Das ist für die Erbfolge ganz klar, gilt aber auch für die Auflösung einer juristischen Person, sofern ihr Vermögen im Wege der Gesamtnachfolge auf ein anderes Rechtssubjekt übergeht 51 . Für die Personalhandelsgesellschaft kann im Fall des § 142 H G B nichts anderes gelten. Oder sollte es in dieser Hinsicht einen Unterschied begründen, ob dem verbleibenden Gesellschafter das Handelsgeschäft auf Grund eines rechtskräftigen Urteils nach § 142 HGB zufällt oder ob er als Erbe seines Mitgesellschafters nunmehr das Gesellschaftsvermögen zu Alleineigentum erwirbt 52 ? Auch die Übernahme gemäß § 142 HGB führt als Gesamtrechtsnachfolge wie die Erbfolge und die Fusion juristischer Personen einen Parteiwechsel herbei, wie er in den §§ 239 ff ZPO vorausgesetzt ist53. Das bedeutet, daß in den Gesellschaftsprozeß nunmehr der Übernehmer als Rechtsnachfolger eintritt. Das Klagrubrum ist - von Amts wegen - entsprechend zu berichtigen. Ein unbilliger Nachteil erwächst dem Übernehmer dadurch nicht. Persönliche Einwendungen, die er vor der Beendigung der Gesellschaft gehabt haben mag, sind infolge der Übernahme des Geschäfts mit Aktiven und Passiven gegenstandslos geworden; der Übernehmer hat die Gesellschaftsschuld nunmehr als eine persönliche Schuld zu begleichen. Der hier vertretenen Auffassung kann m . E . auch nicht entgegengehalten werden, daß sie den Prozeßgegner der Gesellschaft unbillig belastet, indem sie ihm den Übernehmer als Prozeßgegner aufzwingt. Denn sein Prozeßgegner ist nach wie vor der Träger des Gesellschaftsvermögens. Insoweit ist kein grundlegender Unterschied zu dem Fall gegeben, in dem während eines Gesellschaftsprozesses einzelne Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheiden und andere in sie eintreten. Auch das kann der Prozeßgegner der Gesellschaft in einem Gesellschaftsprozeß niemals verhindern, mag sich dadurch auch - etwa für die Frage der Partei - oder Zeugenvernehmung - manches für die Fortfüh-

50 51 52

Vgl. R G J W 1927, 3006; Rosenberg R G Z 56, 332; J W 1932, 175.

a . a . O . § 1 0 1 II 3; de Boor J Z 1951, 451.

Jaeger a. a. O. S. 51 unterscheidet insoweit, indem er den ersten Tatbestand als Rechtsnachfolge im Sinn des § 265 ZPO, den zweiten als einen Parteiwechsel nach §§ 239, 246 Z P O behandelt. 53 Richtig Wieland Handelsrecht I S. 823; de Boor a. a. O . S. 72; Rosenberg a. a. O. § 42 III 2 a.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

rung des Prozesses grundlegend ändern. Auch kostenrechtliche Bedenken lassen sich hier nicht geltend machen. Wie bei jeder Gesamtnachfolge wird durch den dadurch herbeigeführten Parteiwechsel die etwaige Haftung für die Prozeßkosten nicht verkürzt. Für sie steht dem Prozeßgegner nach wie vor das Gesellschaftsvermögen, nunmehr sogar zusammen mit dem Privatvermögen des Ubernehmers, zur Verfügung. Auch in dieser Hinsicht wird der offenbare Unterschied zu dem Tatbestand der Einzelrechtsnachfolge (§ 265 Z P O ) deutlich.

9. Die personalistische G m b H als recntspolitisches Problem* Die G m b H nimmt eine „Mittelstellung zwischen den streng individualistischen Gesellschaftsformen des geltenden Rechts und der als äußerster Konsequenz des kapitalistischen Prinzips sich darstellenden Aktiengesellschaft" 1 ein. Das ist ihr Vorzug und ihr besonderer Charakter. Dabei hat der Gesetzgeber in dem gesetzlichen Normalstatut der G m b H nicht einen bestimmten Ubergangstyp zwischen der Personalund der Kapitalgesellschaft geschaffen, sondern die G m b H insoweit als eine rein körperschaftliche Organisation gestaltet. Die Aufgabe der G m b H , eine Mittelstellung zwischen den reinen Personalgesellschaften und der reinen Kapitalgesellschaft einzunehmen, kommt in der gesetzlichen Regelung darin zum Ausdruck, daß das Gesetz den Gesellschaftern in mancherlei Hinsicht die Freiheit einräumt, ihre Rechtsbeziehungen denen einer Personalgesellschaft weitgehend anzugleichen. Diese Möglichkeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die G m b H in ihrer gesetzlichen Gestaltung als eine Art Aktiengesellschaft ohne Aktien gedacht ist2, daß also die G m b H nicht etwa eine Kommanditgesellschaft ohne einen persönlich haftenden Gesellschafter ist3. Diese Art der gesetzlichen Regelung hat es mit sich gebracht, daß die deutsche G m b H nicht zu einer bestimmten Gesellschaftsform geworden ist, die zwischen der Personal- und der Kapitalgesellschaft steht, sondern daß sie das Sammelbecken für recht unterschiedlich gestaltete Gesellschaften geworden ist. Insoweit kann man mit Hachenburg davon sprechen, daß „sich heute zwei Arten von Gesellschaften mit beschränkter Haftung herausgestellt" haben, von denen sich die eine der Aktiengesellschaft, die andere der offenen Handelsgesellschaft nähert4. Dabei ist es bedeutsam, daß sich in der Zeit nach dem Zusammenbruch die Hinwendung zu der personalistischen G m b H noch verstärkt hat, eine Entwicklung, die namentlich durch zwei Umstände besonders gefördert wurde. Zunächst durch die exorbitant hohen Einkommensteuersätze seit dem Jahre 1946, die die damals volkswirtschaftlich besonders notwendige eigene Kapitalbildung in reinen Personalunternehmen ausschloß A u s : Aktuelle Probleme aus dem Gesellschaftsrecht und anderen Rechtsgebieten. Festschrift für Walter Schmidt zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1959. Hrsg. von Benvenuto Samson. - Walter de Gruyter, Berlin, 1959, 117-137. 1 Entwurf I 35. 2 Hachenburg K o m m . G m b H G Einleitung Anm. 1. J Unrichtig insoweit m. E. Bergenroth M D R 1951, 723. ' A.a.O.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

und vielfach geradezu zu einem Ausweichen in die Rechtsform der G m b H nötigte 5 , 6 . Steuerliche Erwägungen führten aus dem gleichen Grunde auch nicht selten zu einer organisatorischen Aufspaltung bestehender Personalunternehmen, und zwar derart, daß bei Personalgesellschaften der Vertrieb der eigenen Produktion einer selbständigen Vertriebs-GmbH übertragen wurde, deren Anteile sich entweder in der Hand der Gesellschafter (entsprechend ihrer Beteiligung an der Personalgesellschaft) oder allein in der Hand der Personalgesellschaft selbst befanden 7 . Der andere Grund, der nach dem Zusammenbruch die Rechtsform der G m b H bei personengebundenen erwerbswirtschaftlichen Unternehmen besonders begünstigte, waren die zunächst unsicheren wirtschaftlichen Verhältnisse, die das Wagnis der vielen Neugründungen, insbesondere der zahlreichen neuen Flüchtlingsbetriebe, belasteten, und die es bei dem gebotenen Zwang, etwas Neues zu beginnen, wirtschaftlich verständlich und vielleicht auch wirtschaftlich gerechtfertigt erscheinen ließen, das Wagnis des neuen Unternehmens nicht auch noch durch die unbeschränkte persönliche Haftung der Unternehmensträger zu erhöhen 8 . Diese Gründe für eine noch stärkere Verwendung der personalistisch gestalteten Rechtsform der G m b H sind in der Zwischenzeit zwar fortgefallen, sie wirken aber insofern immer noch nach, als die damals errichteten oder umgewandelten Gesellschaften mit beschränkter Haftung fortbestehen und jetzt vielfach für andere als Vorbild dienen. Daneben übt auch heute weiterhin die Möglichkeit einer umfassenden Haftungsbeschränkung durch die Wahl der GmbH-Rechtsform eine große Anziehungskraft gerade auf kleinere, personenbezogene Unternehmen aus, zumal die vom G m b H - G e s e t z geforderte Kapitalgrundlage für die Gründung einer G m b H ('A von 20 000 D M ) so gering ist, daß sie wohl 5 Die dadurch bedingte doppelte Besteuerung - Körperschaftssteuer und Einkommensteuer - wog dagegen gering, wenn sich die Gesellschafter mit steuerlich vertretbaren Geschäftsführerentgelten begnügten. Dann unterlagen diese nur der Lohnsteuer, während die weiteren Gewinne, die von den steil ansteigenden Einkommensteuersätzen fast restlos aufgezehrt worden wären, nur von dem festen Körperschaftssteuersatz erfaßt wurden und zur Stärkung und zum Ausbau des Unternehmens verwendet werden konnten. 6 Die Rechtsprechung der Finanzgerichte vermittelt ein umfangreiches Tatsachenmaterial darüber, in welcher F o r m damals solche personalistischen Gesellschaften mit beschränkter Haftung aus steuerlichen Erwägungen geschaffen wurden; vgl. dazu etwa B F H Betr. 1955, 1208; 1956, 102; 5 1 5 ; 1957, 1064; 1958, 1038. 1 Steuerlich hatte das den Vorteil, daß die für den persönlichen Bedarf der Gesellschafter nicht benötigten Gewinne bei der G m b H verblieben, dort nur nach dem Körperschaftssteuersatz versteuert wurden und so ebenfalls zur Verstärkung der Betriebsmittel verwendet werden konnten; vgl. dazu den Tatbestand im Urteil B G H Z 25, 115. 8 Inwieweit auch das MilRegGes. N r . 52 seinerzeit die Umwandlung in eine G m b H und die Neugründung von G m b H - U n t e r n e h m e n begünstigt hat, entzieht sich meiner Beurteilung; immerhin sind mir einige Fälle dieser Art bekannt geworden.

9. Die personalistische GmbH als rechtspolitisches Problem

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in keinem Fall ein Hindernis für die Wahl dieser Gesellschaftsform bildet. Das immer stärkere Hervortreten der personalistischen G m b H hat dazu geführt, daß nicht nur das Schrifttum, sondern auch die Rechtsprechung im zunehmenden Maß diesem personalistischen Charakter der G m b H Rechnung getragen haben. Dabei hat sich nach den bisherigen Erfahrungen m. E. herausgestellt, daß die Art, wie der Gesetzgeber die G m b H geregelt hat, den praktischen Bedürfnissen des Wirtschaftslebens im allgemeinen durchaus gerecht zu werden vermag, daß es eine glückliche gesetzgeberische Lösung war, die G m b H nicht als einen bestimmten, festumrissenen Gesellschaftstyp, etwa als eine Zwischenform zwischen der reinen Kapitalgesellschaft und der reinen Personalgesellschaft, oder in der Form von zwei bestimmten Gesellschaftstypen, einer mehr kapitalistischen und einer mehr personalistischen, zu gestalten. Denn die gesetzliche Regelung im G m b H - G e s e t z , die den Gesellschaftern eine weitgehende Freiheit in der Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen beläßt, hat dem Wirtschaftsleben in einem viel größeren Umfang die Möglichkeit zur Verwendung der Rechtsform der G m b H eröffnet, als das bei einem festumrissenen oder bei zwei festumrissenen Gesellschaftstypen möglich gewesen wäre. Allein diese Art der gesetzlichen Regelung hat es mit sich gebracht, daß die Rechtsform der G m b H zum Sammelbecken für recht unterschiedliche Gesellschaften geworden ist, daß sich bei der Verwendung der G m b H - F o r m eine ähnliche Entwicklung vollzogen hat, wie sie gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen bei der Verwendung der Rechtsform der Kommanditgesellschaft zu beobachten ist. Eine solche weitreichende Verwendungsmöglichkeit der Rechtsform der G m b H , die durch den Verzicht des Gesetzgebers auf einen oder mehrere gesetzlich festumrissene Gesellschaftstypen bedingt ist, kann rechtspolitisch und wirtschaftspolitisch nur als erwünscht bezeichnet werden. Dabei ist noch besonders hervorzuheben, daß die bisherige gesetzliche Regelung der G m b H im allgemeinen auch der Rechtsprechung die Möglichkeit an die Hand gibt, im Einzelfall der besonderen Gestaltung der jeweils in Frage stehenden G m b H gebührend Rechnung zu tragen. Das zeigt namentlich ein Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der wiederholt seine Entscheidungen mit Rücksicht auf die besondere Gestaltung der im Einzelfall in Betracht kommenden G m b H begründen konnte. Auch die Äußerungen im Schrifttum weisen in die gleiche Richtung 9 . So positiv, wie das alles zu beurteilen ist, so darf das doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in bestimmten Punkten die gesetzliche Regelung noch zu starr ist und dadurch insoweit der Eigenart der 9

Vgl. etwa Schilling JZ 1955, 49; Rob. Fischer GmbHRdsch. 1953, 131 ff m . w . N .

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

personalistischen G m b H nicht genügend Rechnung trägt. Es handelt sich dabei um Fragen, die die Rechtsprechung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Rechtsanwendung und Rechtsfortentwicklung nicht in sachgerechter Weise zu lösen vermag und die nur der Gesetzgeber einer sinnvollen Regelung zuführen kann. In diesen Punkten wird die personalistische G m b H zu einem rechtspolitischen Problem, das bei der praktischen Bedeutung der insoweit in Frage stehenden Punkte nicht leicht genommen werden kann. Dabei muß schon hier gesagt werden, daß diese rechtspolitischen Fragen nicht mit der Erwägung beiseite geschoben werden können, daß sich die Wirtschaft insoweit mit der gesetzlichen Regelung der G m b H abfinden müsse, und daß die Gesellschafter dann, wenn diese Regelung im Einzelfall dem personalistischen Charakter ihrer Gesellschaft nicht angepaßt werden kann, sie die Rechtsform einer Personalgesellschaft wählen sollten. Diese Erwägung würde dem Grundgedanken des GmbH-Gesetzes und der bisherigen Rechtsentwicklung zuwiderlaufen, die eben auch einer personalistisch gestalteten Gesellschaft die Rechtsform der G m b H unbeschadet des gesetzlichen Normalstatuts der G m b H offen halten wollen. Ich möchte in diesem Zusammenhang drei Fragen herausgreifen, die m. E. nicht nur die Reformbedürftigkeit des geltenden Rechts um einer sachgerechten Lösung willen erweisen, die vielmehr zugleich auch zeigen, daß es sich hierbei nicht nur um die Belange der Gesellschafter handelt, sondern auch um die Wahrung der schutzwerten Interessen der Gläubiger und der Allgemeinheit, die auf die Wahl der von den Gesellschaftern für richtig gehaltenen Gesellschaftsform keinen Einfluß nehmen können. 1. Die Abberufung

eines

Gesellschafter-Geschäftsführers

In einer personalistisch gestalteten G m b H wird einem Gesellschafter die Stellung eines Geschäftsführers in der Regel als ein echtes Mitgliedschaftsrecht zugewiesen und als eine echte Mitgliedschaftspflicht auferlegt. Diese Gestaltung hat nach wohl jetzt allgemeiner Auffassung zur Folge, daß der Gesellschafter aus seiner Stellung als Geschäftsführer nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann10. Die jetzige gesetzliche Regelung bereitet für die Frage, in welcher Form die Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers zu erfolgen hat, praktisch m. E. unüberwindbare Schwierigkeiten. Auszugehen ist insoweit von dem allgemeinen Grundsatz, daß mangels abweichender Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag der Geschäftsführer einer G m b H durch Beschluß der Gesellschafterver10 RGZ 170, 368; Hachenburg-Schilling § 38 Anm. 8; Baumbach-Hueck Rob. Fischer GmbHRdsch. 1953, 133 m.w.N.

§ 38 Anm. 2 A;

9. Die personalistische G m b H als rechtspolitisches Problem

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Sammlung abberufen wird, wobei dem betroffenen Gesellschafter bei einer A b b e r u f u n g aus wichtigem G r u n d ein Stimmrecht nicht zusteht. Bei der weittragenden Bedeutung, die eine solche A b b e r u f u n g für die Gesellschaft und f ü r den allgemeinen Rechtsverkehr hat, besteht ein allgemeines Bedürfnis danach, daß die Wirksamkeit einer solchen Abberufung von vornherein zweifelsfrei sichergestellt wird. Ein solches Bedürfnis ist besonders zu bejahen, wenn die Abberufung nur beim Vorliegen eines wichtigen Grundes ausgesprochen werden darf. Denn für den allgemeinen Rechtsverkehr, aber auch für die Gesellschaft selbst wird es meist nicht übersehbar sein, ob im Einzelfall ein wichtiger G r u n d für die A b b e r u f u n g vorgelegen hat oder nicht. W ü r d e also die Wirksamkeit der A b b e r u f u n g davon abhängig sein, ob ein solcher wichtiger G r u n d vorliegt oder nicht, so würde damit der allgemeine Rechtsverkehr mit Risiken belastet werden, die ihm gerechterweise nicht aufgebürdet werden können. Aus diesem G r u n d ist für das Aktienrecht die Regelung getroffen worden, daß der Widerruf der Bestellung des Vorstands wirksam ist, solange nicht über seine Unwirksamkeit rechtskräftig entschieden ist (§75 Abs. 3 Satz 4 AktG). Es liegt nahe, diese Regelung auch f ü r die G m b H zu übernehmen, um auch hier dem gleichen Bedürfnis nach Rechtssicherheit Genüge zu tun 11 . Dabei erscheint eine solche Ü b e r n a h m e m . E . aber nur notwendig, wenn die A b b e r u f u n g des Geschäftsführers auf G r u n d einer besonderen Bestimm u n g im Gesellschaftsvertrag einem anderen Organ, etwa dem Aufsichtsrat der G m b H , übertragen ist. Ist nämlich im gesetzlichen Regelfall die Gesellschafterversammlung für die A b b e r u f u n g zuständig, so wird die A b b e r u f u n g durch einen Gesellschafterbeschluß ausgesprochen, der in seiner Wirksamkeit nur durch eine Anfechtungsklage wegen Verletzung des Gesellschaftsvertrages beseitigt werden kann. Die A n w e n d u n g dieser Rechtsgrundsätze auf die A b b e r u f u n g eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer personalistischen G m b H ist nicht möglich. Bei ihr bildet das mitgliedschaftliche Recht des Gesellschafters zur Geschäftsführung ein sog. Sonderrecht 12 , das ihm nur beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (Vorliegen eines wichtigen G r u n des) durch Gesellschafterbeschluß entzogen werden kann. Liegen diese Voraussetzungen f ü r den Entzug nicht vor, so ist ein trotzdem ergehender Beschluß der Gesellschafter nicht anfechtbar, sondern unwirksam, weil bestehende Sonderrechte einem Gesellschafter nicht gegen seinen Willen entzogen werden können 13 . In diesem Fall kann die Unwirksam11

So Scholz §38 Anm. 18; Baumbach-Hueck §38 A n m . 2 D . Vgl. R G Warn. 1914 Nr. 370; JW 1919, 314; RGZ 170, 368; Hachenburg Einleitung Anm. 25. " R G Z 148, 184; B G H Z 15, 177; vgl. auch meine Anm. bei LM N r . 2 zu §51 GenG. 12

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

keit eines solchen Beschlusses auch nicht durch eine entsprechende Anwendung des § 75 Abs. 3 Satz 4 A k t G herbeigeführt werden, weil der Eingriff in ein Sonderrecht von dem Rechtsgedanken dieser Vorschrift nicht gedeckt wird 14 . Das bedeutet, daß die Wirksamkeit eines Gesellschafterbeschlusses, durch den einem Gesellschafter-Geschäftsführer die Geschäftsführungsbefugnis aus wichtigem Grund entzogen wird, ungewiß ist, wenn, wie so oft zwischen den Gesellschaftern, Streit darüber besteht, ob in dem konkreten Einzelfall ein wichtiger Grund für die Abberufung des Geschäftsführers vorgelegen hat. Diese Ungewißheit kann nur durch eine rechtskräftige Entscheidung endgültig beseitigt werden. Für den allgemeinen Rechtsverkehr und auch für die Gesellschaft ist das aus den bereits angeführten Gründen ein meist unerträgliches Ergebnis, das durch den Rechtsbehelf der einstweiligen Verfügung im Einzelfall zwar gemildert, aber nicht beseitigt werden kann. Dem allgemeinen Rechtsverkehr kann auch nicht im Hinblick auf § 15 H G B geholfen werden. Gewiß, die größten Unzuträglichkeiten für die Allgemeinheit, die sich aus der Ungewißheit über die Wirksamkeit der Abberufung des Geschäftsführers ergeben, könnten durch eine Eintragung in das Handelsregister ausgeräumt werden. Aber der Registerrichter hat bei der Eintragung die Vorschrift des § 12 F G G zu beachten und demgemäß vor der Eintragung die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, ob die Voraussetzungen für die Abberufung vorgelegen haben, wenn er nicht überhaupt die Entscheidung über den Eintragungsantrag nach § 127 F G G aussetzen will. Das zeigt, daß im Regelfall auch das Eintragungsverfahren nicht zum Abschluß kommen wird, bevor nicht die streitige Frage über das Vorliegen eines wichtigen Grundes abschließend geklärt ist. Aus der jetzigen gesetzlichen Regelung ergeben sich aber noch weitere Unzuträglichkeiten bei der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers. Nach der allgemeinen Erfahrung beschränken sich Streitigkeiten zwischen den Gesellschaftern einer personalistischen G m b H , insbesondere bei Zweimanngesellschaften, die zur Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis führen, nicht darauf, daß nur dem einen Gesellschafter diese Befugnis entzogen wird, sondern meist wird es so sein, daß es dann zu einer gegenseitigen Entziehung kommt 15 . Die Verhältnisse liegen hier nicht anders wie bei den Personalgesellschaften, wo solche Streitigkeiten ebenfalls nicht zu einseitigen Vorwürfen, sondern zu gegenseitigen Vorwürfen und Maßnahmen zu führen pflegen. In einer personalistischen Zweimann-GmbH, in der jeder Gesellschafter das Recht und die 14 Vgl. dazu auch Hachenburg-Schilling § 38 Anm. 10, die jedoch m. E. zu Unrecht die entsprechende Anwendung des § 75 Abs. 3 Satz 4 AktG mit Rücksicht auf die besondere Gestaltungsform der personalistischen GmbH bei der GmbH überhaupt verneinen. 15 Vgl. auch den Tatbestand im Urteil O L G Hamburg JW 1938, 3248.

9. Die personalistische G m b H als rechtspolitisches Problem

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Pflicht zur Geschäftsführung hat, kann jeder Gesellschafter dem anderen das Recht zur Geschäftsführung entziehen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Geschieht das, so ergibt sich in dem anschließenden Prozeß über die Berechtigung der beiderseitigen Entziehungsmaßnahmen die merkwürdige prozessuale Situation, daß dieser Streit in zwei gegen die Gesellschaft gerichteten Prozessen ausgetragen werden muß, wobei die Gesellschaft in dem einen Prozeß von dem einen Gesellschafter und in dem anderen Prozeß von dem anderen Gesellschafter vertreten wird. Unterliegt der in dem einen Prozeß klagende Gesellschafter, wird hier also rechtskräftig festgestellt, daß die Entziehung der ihm übertragenden Geschäftsführung berechtigt war, so kann in dem zweiten Prozeß ein Sachurteil überhaupt nicht mehr ergehen, weil in diesem Prozeß die Gesellschaft nicht ordnungsgemäß vertreten ist; die Klage des zweiten Gesellschafters ist also aus Prozeßgründen abzuweisen. Ein offenbar unmögliches Ergebnis. Um vor dieser Rechtsfolge auszuweichen, könnte man an eine großzügige Anwendung des § 57 Z P O denken. Aber eine durchgreifende Abhilfe ist auch auf diesem Weg nicht möglich. Man kann in diesen Fällen nicht die Bestellung nur eines Vertreters für die beiden Prozesse in Betracht ziehen, da es einfach nicht zumutbar ist, daß der bestellte Vertreter in dem einen Prozeß diesen Standpunkt und in dem anderen Prozeß jenen Standpunkt namens der Gesellschaft vertritt. Aber auch die Bestellung von zwei Vertretern für die beiden Prozesse ob das nach der Vorschrift des §57 Z P O überhaupt zulässig ist, erscheint schon äußerst fragwürdig - ist nicht sachgerecht, weil dadurch die eigentlichen Träger des Streits auf Seiten der beklagten Partei aus dem Prozeß eliminiert werden. Das hat zur Folge, daß eine gerechte Entscheidung durch das Gericht erschwert wird; denn es entspricht einer allgemeinen Gerichtserfahrung, daß bei Prozessen solcher Art die eigentlichen Streitteile unmittelbar zu Wort kommen müssen, damit das Gericht auch ein unmittelbares Bild von den aufgetretenen Zerwürfnissen erhält und den Streit gerecht entscheiden kann. - Des weiteren ist es aus Gründen der Prozeßökonomie unerfreulich, daß der Streit über das Vorliegen eines wichtigen Grundes in zwei Prozessen ausgetragen werden muß, da nach den entsprechenden Erfahrungen bei den Personalgesellschaften es sich hierbei vielfach um die gleichen Vorfälle handelt, die jede Partei nur jeweils mit einer anderen Bewertung zur Unterstützung ihrer Auffassung heranzieht. Also auch in diesem Punkt zeigt sich, daß die bisherige gesetzliche Regelung nicht zu vernünftigen und befriedigenden Ergebnissen zu führen vermag. In diesen beiden Punkten kann m. E. nur der Gesetzgeber die gebotene Abhilfe schaffen. Das äußerst unbefriedigende Ergebnis, das sich für die Gesellschaft und für die Allgemeinheit aus dem Sonderrechtscharakter des Geschäfts-

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

führungsrechts bei der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers ergibt, nötigt m . E . zu einer Lösung, die auch den schutzwerten Interessen der Gesellschaft und der Allgemeinheit an einer sofortigen Klarstellung der durch die Abberufung eingetretenen Rechtslage Rechnung trägt. Eine solche Lösung, die zugleich den Sonderrechtscharakter des Geschäftsführerrechts gebührend berücksichtigt, ist nur möglich, wenn die Wirksamkeit der Abberufung auf den Zeitpunkt verlegt wird, in dem die streitige Frage über das Vorliegen eines wichtigen Grundes abschließend geklärt wird. Dieser Zeitpunkt ist der Eintritt der Rechtskraft des Urteils, das über die zwischen den Parteien streitige Frage über das Vorliegen eines wichtigen Grundes entscheidet. Das bedeutet, daß eine für alle Beteiligten gerechte Lösung bei der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers nur möglich ist, wenn für die Form der Abberufung eines solchen Geschäftsführers eine den §§117, 127 H G B entsprechende Regelung eingeführt wird". N u r auf diesem Wege kann der insoweit bestehende Interessenwiderstreit sinnvoll gelöst werden. Die Rechtsprechung kann mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln diese allein sachgerechte Lösung nicht herbeiführen; das kann vielmehr nur der Gesetzgeber tun. Schwieriger erscheint eine sachgerechte Regelung bei der gegenseitigen Abberufung der Geschäftsführer einer personalistischen ZweimannG m b H . Denn hier führt die Übernahme einer den §§117, 127 H G B entsprechenden Regelung auch noch nicht weiter, weil dabei die Klagebefugnis zur Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers im Unterschied zum Recht der Personalgesellschaften m. E. grundsätzlich der Gesellschaft übertragen werden muß. Und gerade aus der Beteiligung der Gesellschaft an dem Prozeß, der über die Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers angestrengt wird, ergeben sich die prozessualen Schwierigkeiten, die bei der gegenseitigen Abberufung von Geschäftsführern einer personalistischen Zweimann-GmbH auftreten. Diese Schwierigkeiten lassen sich m. E. sachgerecht nur beheben, wenn man in einem Fall dieser Art die alleinige Klagebefugnis von vornherein dem Gesellschafter überträgt, der insoweit als Träger der Gesellschaft die Abberufung des anderen verlangt. Es ist also in diesem besonderen Fall eine Ausnahme von dem allgemeinen Satz geboten, daß die Klage auf Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers von der Gesellschaft zu erheben ist. Gegen diesen Vorschlag lassen sich gewiß Einwendungen erheben, die auf dem Systemwidrigen einer solchen Regelung beruhen. Aber ich meine, solche Einwendungen sollten nicht zu ernst genommen werden, weil das praktische Bedürfnis eine Regelung dieser 16

Vgl. dazu schon Wieland, Handelsrecht II S. 300; ähnlich auch §38 Anm. 10.

Hachenburg-Schilling

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A r t einfach erfordert u n d weil eine solche Regelung allein die Möglichkeit gibt, die vielfachen prozessualen Schwierigkeiten in diesem Z u s a m m e n h a n g überaus einfach u n d völlig sachgerecht auszuräumen. 2. Die Ausschließung

eines

Gesellschafters

Es k a n n nach d e m heutigen Stand in Rechtsprechung u n d Schrifttum davon ausgegangen w e r d e n , daß schon nach d e m geltenden Recht die Ausschließung eines Gesellschafters aus der G m b H beim Vorliegen eines wichtigen G r u n d e s zulässig ist, auch w e n n der Gesellschaftsvertrag eine dahingehende B e s t i m m u n g nicht enthält 17 . Diese heute gesicherte Rechtsauffassung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die fehlende gesetzliche Regelung f ü r die Ausschließung eines Gesellschafters überaus große Schwierigkeiten in sich birgt. Das aufopferungsvolle B e m ü h e n von R e c h t s p r e c h u n g u n d Schrifttum, in diesem P u n k t zu einer v e r n ü n f t i g e n u n d sachgerechten Regelung zu k o m m e n , u n d die vielfachen Meinungsverschiedenheiten bei der Frage der D u r c h f ü h r u n g der Ausschließung lassen diese Schwierigkeiten ganz deutlich werden 1 8 . Die Ausschließung eines Gesellschafters aus der G m b H und ihre D u r c h f ü h r u n g k a n n - u n d ich glaube darüber besteht heute U b e r e i n s t i m m u n g - n u r unter Berücksichtigung der schutzwerten Interessen der Gesellschaft (und der übrigen Gesellschafter) an einer möglichst schnellen u n d reibungslosen D u r c h f ü h r u n g der Ausschließung u n d zugleich n u r unter Berücksichtigung der s c h u t z w e r t e n Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters an einer Sicherstellung seines A b f i n d u n g s a n spruchs gelöst w e r d e n . Ein vernünftiger Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen ist heute das eigentliche P r o b l e m f ü r die Ausschließung 17 Vgl. RG 114, 213; 125, 114; 128, 1; 169, 330; DR 1943, 812; B G H Z 9, 157; 16, 317; Scholz, Ausschließung und Austritt aus der G m b H 3. Aufl.; ders. Komm. § 15 Anm.65; Baumbach-Hueck, Einf. zu § 34; Hachenburg-Schmidt §34 Anm. 18; Vogel § 34 Anm. 5; Hueck Betrieb 1953, 776; Vogel BB 1953, 460; Mangold BB 1953, 399; Küster JR 1952, 455; Grusendorf JR 1953, 133; Bergenroth M D R 1951, 721; den insoweit abweichenden Stimmen im Schrifttum (vgl. Masur N J W 1949, 407; Buchwald BB 1953, 457) wird man heute kein besonderes Gewicht mehr beimessen können, nachdem auch Schilling seine insoweit abweichende Meinung nunmehr aufgegeben hat (vgl. JZ 1955, 331). " Vgl. dazu etwa den emotionalen Ausruf in RGZ 114, 217/18: „Eine andere Möglichkeit, aus dieser Verwicklung herauszukommen, besteht nicht", der sicherlich keine Begründung, aber wohl eine Rechtfertigung der vom Reichsgericht vertretenen Ansicht darstellt; vgl. des weiteren den viel zitierten Ausspruch in B G H Z 9, 164: „Das Recht hat dem Leben zu dienen und muß die entsprechenden Formen zur Verfügung stellen. Ein pflichtbewußter Richter kann sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen", der gerade im Zusammenhang mit diesem Urteil bei einer mehr kritischen Betrachtung doch auch die Gefahren eines Ubergreifens der Rechtsprechung in die Aufgaben des Gesetzgebers erkennen läßt; vgl. schließlich Bergenroth M D R 1951, 721: „Es ist immerhin bemerkenswert, daß 60 Jahre Rechtsprechung zum GmbH-Gesetz nicht vermocht haben, diese Frage auch nur einigermaßen befriedigend zu lösen."

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

eines Gesellschafters aus der G m b H , und ich habe den Eindruck, er läßt sich bei der heutigen Gesetzeslage nicht erreichen. Alle Versuche, die in dieser Hinsicht unternommen worden sind, scheitern m. E. daran, daß eine völlige Lösung von den bestehenden gesetzlichen Vorschriften nicht gewagt wird und wohl auch im Wege der Fortbildung des Rechts nicht möglich ist. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung B G H Z 9, 157 bei der Beurteilung des hier in Betracht kommenden Interessenausgleichs das entscheidende Gewicht auf den Schutz der Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters gelegt und dabei ganz sicherlich die Interessen der Gesellschaft an einer schnellen Durchführung der Ausschließung vernachlässigt. Was gegen diesen Standpunkt einzuwenden ist, ist m. E. im Schrifttum erschöpfend zum Ausdruck gekommen 19 ; insoweit kann hier auf diese Äußerungen Bezug genommen werden. Demgegenüber treten die Kritiker des Bundesgerichtshofs für eine stärkere Berücksichtigung der schutzwerten Interessen der Gesellschaft ein. Ihre Lösungsversuche ermöglichen eine verhältnismäßig schnelle Durchführung der Ausschließung, soweit als Mittel der Ausschließung die Einziehung des Geschäftsanteils des betroffenen Gesellschafters gewählt wird. Bei einer Ausschließung auf diesem Weg werden freilich die schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters an einer Sicherstellung seines Abfindungsanspruchs überhaupt nicht berücksichtigt. Mit dem Ausschließungsurteil verliert er seinen Geschäftsanteil und ist darauf angewiesen, seinen Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft unter Beachtung der §§ 19 Abs. 2, 30 Abs. 1 GmbHG 2 0 durchzusetzen, wobei er wohl nicht einmal ein Mitwirkungsrecht bei der Aufstellung der Abschichtungs-(Vermögens-)bilanz hat. Dabei ist es m. E. auffallend, daß bei diesem Lösungsversuch die schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters überhaupt nicht erwähnt werden, obwohl ihre Berücksichtigung in anderem Zusammenhang, bei einer Ausschließung im Wege der Abtretung, als notwendig angesehen wird21. Neben der Einziehung des Geschäftsanteils als Mittel für die Durchführung der Ausschließung wird der Gesellschaft, ebenso wie es der Bundesgerichtshof tut, die Befugnis eingeräumt, die Abtretung des Geschäftsanteils an sich selbst, an einen Gesellschafter oder an einen Dritten zu verlangen. Die Ausschließung auf diesem Wege unterscheidet " Vgl. etwa Vogel BB 1953, 460; Hueck Betrieb 1953, 776; Hachenburg-Schmidt §34 Anm. 18; Scholz GmbHRdsch. 1953, 75, letzterer mit dem temperamentvollen Ausruf: „Weil er (der ausgeschlossene Gesellschafter) für die Gesellschaft untragbar geworden ist, wird er nun belohnt." 20 Die von Mangold BB 1953, 399 geäußerte Meinung, man könne in diesem Fall die fundamentalen Vorschriften der §§19 Abs. 2, 30 Abs. 1 G m b H G vernachlässigen, ist im Schrifttum mit Recht abgelehnt worden. 21 Vgl. etwa Hueck a. a. O .

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sich in der praktischen Durchführung, wie sie zum Teil im Schrifttum für richtig gehalten wird, nur unwesentlich von dem Standpunkt des Bundesgerichtshofs. Das wird bei dem Lösungsversuch von Scholz12 ganz deutlich. Dieser verlangt zunächst einen Ausschließungsbeschluß der Gesellschafterversammlung. Dieser Beschluß führt nicht schon die Ausschließung herbei, sondern begründet lediglich das Recht der Gesellschaft, von dem betroffenen Gesellschafter die Abtretung seines Geschäftsanteils zu verlangen. Der betroffene Gesellschafter verliert also seine Gesellschafterstellung erst mit der Abtretung seines Anteils. Diese Abtretung kann zwangsweise nur im Wege der Klage (§ 894 Z P O ) durchgesetzt werden, wobei dann das Gericht das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die ausgesprochene Ausschließung feststellen muß. Dabei gibt Scholz dem betroffenen Gesellschafter die Einrede aus § 3 2 0 B G B , da die Abtretung nur gegen Zahlung des Entgelts für den vollen Wert des Geschäftsanteils verlangt werden kann23. Das bedeutet, daß dieser Prozeß ähnlich wie bei der Ansicht des Bundesgerichtshofs mit der Festsetzung des Abfindungsbetrages belastet wird. Damit ist also gegenüber der Ansicht des Bundesgerichtshofs überhaupt nichts gewonnen, soweit die Ausschließung durch eine (Zwangs-)Abtretung vollzogen wird. Mehr leuchtet demgegenüber der Vorschlag von Hueck" ein, der bei der Durchführung der Ausschließung durch Abtretung des Geschäftsanteils eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft erreicht. Nach seiner Auffassung führt das Ausschließungsurteil im Fall, daß die Gesellschaft von dem betroffenen Gesellschafter die Abtretung des Geschäftsanteils verlangt, dazu, daß der betroffene Gesellschafter mit der Rechtskraft des Urteils die Befugnis zur Ausübung seiner Gesellschafterrechte ( z . B . des Stimmrechts, aber auch des Rechts auf seinen Gewinnanteil) verliert, daß ihm aber der Geschäftsanteil als Vermögenswert verbleibt. Diesen muß der ausgeschlossene Gesellschafter dann gegen Zahlung des Entgelts für den vollen Wert an denjenigen abtreten, den die Gesellschaft ihm als Abtretungsempfänger bezeichnet. Erfolgt die Zahlung des Entgelts nicht innerhalb einer angemessenen Frist, so hat der ausgeschlossene Gesellschafter das Recht, die Auflösung der Gesellschaft zu verlangen25. Dieser Vorschlag von Hueck hat für die Gesellschaft den Vorteil, daß mit dem Abschluß des Rechtsstreits über die Ausschließung zunächst einmal für die Gesellschaft klare Verhältnisse geschaffen werden, und daß der ausgeschlos-

22 23 24 25

Ausschließung und Austritt aus der GmbH S. 37. Ebenso Küster JR 1952, 455. A . a . O . und ihm folgend Hachenburg-Schmidt §34 Anm.l8a. In dieser Hinsicht ähnlich bereits RGZ 125, 118.

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sene Gesellschafter nicht mehr die Möglichkeit hat, auf die geschäftliche Betätigung der Gesellschaft einen nachteiligen Einfluß auszuüben. Dagegen vermag dieser Vorschlag auch nicht endgültige Klarheit herbeizuführen, weil das Damoklesschwert der Auflösung bis zur Zahlung des vollen Entgelts über der Gesellschaft schwebt26. Schwerer wiegt jedoch bei diesem Vorschlag die Vernachlässigung der schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters. Obwohl ihm der Geschäftsanteil als Vermögenswert verbleibt, hat er den Anspruch auf Gewinnbeteiligung nicht mehr. Das bedeutet, daß die Gesellschaft noch für längere Zeit mit dem Kapital des Ausgeschlossenen arbeiten kann, daß aber das Risiko des Mißerfolgs praktisch der Ausgeschlossene für seinen Anteil allein trägt. In der unter Umständen langen Zeit, in der der Streit über die Höhe des Abfindungsentgelts ausgetragen wird27, kann er sein Kapital nicht verwerten. Wenn sich in dieser Zeit die geschäftlichen Verhältnisse der Gesellschaft zum Schlechten wenden, dann geht das praktisch auch zu Lasten des ausgeschlossenen Gesellschafters. Denn in diesem Fall wird niemand mehr bereit sein, den Anteil des Ausgeschlossenen zu dem Wert zu übernehmen, den der Anteil im Zeitpunkt der Erhebung der Ausschließungsklage gehabt hatte. Die Folge wird sein, daß es zur Auflösung der Gesellschaft kommt , und daß der Ausgeschlossene sodann die inzwischen eingetretenen Verluste ebenfalls mitzutragen hat. Dieses Ergebnis, daß nämlich der Ausgeschlossene von der Erhebung der Ausschließungsklage an für eine unter Umständen recht lange Zeit an den wirtschaftlichen Erfolgen bei der Verwertung seines Kapitals nicht mehr teilnimmt, dagegen die wirtschaftlichen Mißerfolge insoweit auf sich nehmen muß, daß er also insoweit ein ganz einseitiges Risiko zu tragen hat, halte ich für ungerecht; vollends unerträglich wird dieses Ergebnis, wenn es sich bei dem Ausgeschlossenen um den Mehrheitsgesellschafter handelt. Man mag bei der Ausschließung eines Gesellschafters aus der G m b H die Dinge wenden, wie man will, ich bin überzeugt, ein gerechter Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Gesellschaft und des ausschließenden Gesellschafters läßt sich bei dem derzeitigen Rechtszustand nicht herbeiführen. Entweder führt die Lösung wie beim Bundes-

26 Die Zubilligung eines Auflösungsrechts f ü r den ausgeschlossenen Gesellschafter ist freilich nicht ganz folgerichtig, da der ihm verbliebene Geschäftsanteil keine Verwaltungsrechte m e h r in sich birgt. A b e r dieser Mangel an Folgerichtigkeit kann m . E. h i n g e n o m men werden. 27 A u c h bei diesem Streit ist die Stellung des Ausgeschlossenen unverhältnismäßig schwach, weil er im Unterschied zu d e m Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft nicht einmal ein Mitwirkungsrecht bei der Aufstellung der Abschichtungs(Vermögens-)bilanz hat.

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gerichtshof zu einer Vernachlässigung der durchaus auch beachtlichen Interessen der Gesellschaft an einer möglichst raschen und reibungslosen Durchführung des Ausschließungsverfahrens, oder sie führt wie bei den im Schrifttum vertretenen Auffassungen zu einer Preisgabe der schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters an einer Sicherstellung seines Abfindungsanspruchs. Dabei ist der gerechte Ausgleich der widerstreitenden Interessen an sich gar nicht schwer, wie die gesetzliche Regelung der Ausschließung eines Gesellschafters aus einer Personalgesellschaft zeigt. Die Schwierigkeiten bei der G m b H sind allein dadurch bedingt, daß man hier bei dem derzeitigen Recht nicht zu einer entsprechenden Regelung wie im Fall des § 140 H G B zu kommen vermag. Hier kann nur der Gesetzgeber helfen, und ich meine, er muß helfen, um im GmbH-Recht die schwerwiegenden Mängel bei der Durchführung der Ausschließung eines Gesellschafters zu beseitigen. Diese gesetzliche Regelung des Ausschließungsverfahrens sollte sich an die vernünftige Regelung des § 140 H G B anlehnen, den Grundsatz dieser Regelung übernehmen und darüber hinaus nur den Besonderheiten des GmbH-Rechts Rechnung tragen. Das Entscheidende der Regelung des § 140 H G B besteht darin, daß der auszuschließende Gesellschafter mit der Rechtskraft des Ausschließungsurteils seine Gesellschafterstellung vollständig verliert und nur noch einen schuldrechtlichen Abfindungsanspruch hat. Das sollte auch für das GmbH-Recht gelten. N u r müßte hier im Unterschied zu dem Recht der Personalgesellschaften noch bestimmt werden, was mit dem Geschäftsanteil des ausgeschlossenen Gesellschafters geschieht. Dabei ist von der heute übereinstimmenden Auffassung auszugehen, daß der Gesellschaft das Wahlrecht zwischen der Einziehung und der Abtretung des Anteils zustehen muß. Dieses Wahlrecht kann in der gesetzlichen Regelung derart verankert werden, daß die Gesellschaft in ihrer Ausschließungsklage zugleich auch den Antrag stellen muß, daß der Geschäftsanteil einzuziehen ist oder, wenn sie das nicht will, daß er abzutreten ist. Das Gericht hat dann in seinem Ausschließungsurteil auch noch rechtsgestaltend die Einziehung oder die Abtretung auszusprechen. Eine solche Regelung ist ohne weiteres möglich, soweit das Gericht die Einziehung oder die Abtretung an die Gesellschaft auszusprechen hat. Nicht ganz so einfach liegt es, wenn die Gesellschaft - und diese Möglichkeit muß ihr offen bleiben die Abtretung an einen Gesellschafter oder an einen Dritten wünscht. Eine solche Abtretung kann das Gericht in dem Prozeß zwischen der Gesellschaft und dem auszuschließenden Gesellschafter nur aussprechen, wenn das Einverständnis des Abtretungsempfängers vorliegt. Aber das sollte auch genügen, um dem Gericht die Befugnis zu übertragen, auf einen entsprechenden Klageantrag hin rechtsgestaltend die Abtretung an einen Gesellschafter oder an einen Dritten auszuspre-

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chen28. Wird dem Ausschließungsurteil wie im Fall des §140 H G B auf diese Weise die endgültige Ausschließungswirkung beigelegt, so ist damit den schutzwerten Interessen der Gesellschaft an einer reibungslosen Durchführung des Ausschließungsverfahrens in jeder Weise genügt. Die weitere gesetzliche Regelung muß nunmehr auf die schutzwerten Interessen des ausgeschlossenen Gesellschafters Bedacht nehmen. Hierbei ist es nicht notwendig, wie die Regelung des § 140 H G B lehrt, daß er im Zeitpunkt seiner Ausschließung bereits das Entgelt für den vollen Wert seines Geschäftsanteils erhält, es muß vielmehr genügen, wenn er einen durchsetzbaren und ungefährdeten Anspruch auf dieses Entgelt erhält. In diesem Punkt bestehen bei der G m b H namentlich mit Rücksicht auf die Gläubigerschutzvorschriften der §§19 Abs. 2, 30 Abs. 1 G m b H G die besonderen Schwierigkeiten. Diese lassen sich aber m. E. beheben, wenn nicht nur der Gesellschaft, sondern auch allen Gesellschaftern persönlich die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts auferlegt wird. Damit steht sich der ausgeschlossene GmbH-Gesellschafter ebenso wie der ausgeschlossene Gesellschafter einer Personalgesellschaft, und das ist zur Wahrung seiner schutzwerten Interessen ausreichend. Gegen eine solche Regelung bestehen auch vom Standpunkt der übrigen Gesellschafter aus m. E. keine durchgreifenden Bedenken. Gewiß stellt eine solche Regelung einen gewissen Einbruch in das Prinzip der nur beschränkten Haftung dar, aber das läßt sich m. E. rechtfertigen. Denn dieser Erweiterung der Haftung geht ein Willensentschluß der Gesellschafter voraus, und sie können daher vorher abwägen, ob sie im Interesse einer reibungslosen weiteren Zusammenarbeit diese Haftung in Kauf nehmen wollen. Da die Ausschließung eines Gesellschafters praktisch nur bei einer personalistisch gestalteten G m b H in Betracht kommt 29 , läßt sich auch diese besondere Gestaltung der Rechtsbeziehungen als Rechtfertigung für die persönliche Haftung der Gesellschafter anführen. Fraglich könnte in diesem Zusammenhang nur sein, ob auch die Gesellschafter persönlich mitzuhaften haben, die in der Gesellschafterversammlung gegen die Ausschließung gestimmt haben. Ich selbst möchte diese Frage bejahen, weil ich es für untunlich halte, insoweit zwei Kategorien von Gesellschaftern zu schaffen. Auch läßt es sich wohl nicht rechtfertigen, daß sie bei einer Einziehung des Geschäftsanteils oder bei einer Abtretung des Anteils an die Gesellschaft an den Vorteilen teilnehmen, daß sie aber die etwa auftretenden Nachteile, wenn die Gesellschaft nicht zur vollen Zahlung des Entgelts in der 28 N u r eine Frage der Modalität ist es, welche Formerfordernisse m a n f ü r diese Einverständniserklärung aufstellt, einfache Schriftform, Schriftform mit Unterschriftsbeglaubigung o d e r eine prozessuale Erklärung mit besonderem Anwaltszwang. 29 Bei einer rein kapitalistisch organisierten G m b H wird das Vorliegen eines wichtigen G r u n d e s z u m Ausschluß eines Gesellschafters im allgemeinen zu verneinen sein.

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Lage ist, nicht zu tragen brauchen. Es wäre aber zu erwägen, daß die Gesellschafter in einem solchen Fall das Recht zum Austritt aus der Gesellschaft haben und daß sie in diesem Fall von ihrer Haftung gegenüber dem auszuschließenden Gesellschafter frei werden. Ich bin überzeugt, daß nur eine gesetzliche Regelung der Ausschließung, etwa in dem hier skizzierten Sinn, die Möglichkeit gibt, die Durchführung der Ausschließung eines Gesellschafters aus der G m b H einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Rechtsprechung und Schrifttum sind dazu nach dem derzeit geltenden Recht m. E. nicht in der Lage. Im Zusammenhang mit der Ausschließung ist aber noch eine weitere Frage zu erörtern, nämlich die Durchführung der Ausschließung einer Zweimanngesellschaft. Hier wird sich in zahlreichen Fällen das praktische Bedürfnis ergeben, den Ausschließungsprozeß zwischen den beiden Gesellschaftern selbst durchzuführen. Nach der Lebenserfahrung ist es bei tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Gesellschaftern, die zu einem Ausschließungsprozeß führen, so, daß gegenseitige Vorwürfe erhoben werden und daß in dem Ausschließungsprozeß jeder der beiden Gesellschafter die Ausschließung des anderen begehrt. In einem solchen Fall ist m . E . ein unabweisbares praktisches Bedürfnis gegeben, die beiden Ausschließungsklagen im Wege der Klage und der Widerklage in einem Prozeß zu verhandeln und zur Entscheidung zu bringen. Das ist aber nicht möglich, wenn auch in einem solchen Fall die Gesellschaft als Kläger auftritt. Ich halte es daher für angebracht, daß in diesem Sonderfall die Klage von dem Gesellschafter selbst erhoben werden muß, der die Ausschließung des anderen begehrt. Eine solche Regelung hat überdies den Vorteil, daß sie von vornherein auch all die Unzuträglichkeiten behebt, die sich in derartigen Fällen aus Mängeln der Vertretungsbefugnis für die Gesellschaft ergeben können und auf die schon im Zusammenhang mit der Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers hingewiesen worden ist. Eine solche Regelung liegt nach der Interessenlage bei der Ausschließungsklage in einer Zweimanngesellschaft noch näher als bei der Abberufungsklage gegen einen Gesellschafter-Geschäftsführer. Denn die Ausschließungsklage in einer Z w e i m a n n - G m b H ist ihrem Ziel nach darauf gerichtet, daß der klagende Gesellschafter Einmann-Gesellschafter wird. Daher können hier wohl auch die Grundsätze Anwendung finden, nach denen ein Durchgriff von der Gesellschaft auf den die Gesellschaft allein tragenden Gesellschafter in bestimmten Fällen zulässig ist. 3. Der Gläubiger schütz Bei jeder Gesellschaft, in der die Gesellschafter oder einzelne Gesellschafter nur beschränkt haften, ist es ein besonderes gesetzespolitisches Anliegen, möglichst wirkungsvolle Sicherungen dafür zu geben, daß die

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

der Höhe nach beschränkte Haftsumme von den betreffenden Gesellschaftern auch wirklich aufgebracht und später nicht wieder an diese Gesellschafter in irgendeiner Weise zurückgewährt wird. Dieses gesetzespolitische Anliegen hat bei der G m b H besonderes Gewicht, und es läßt sich nicht übersehen, wie schon ein Blick auf die Reformliteratur zeigt, daß in dieser Hinsicht die derzeitige gesetzliche Regelung noch manches zu wünschen übrig läßt. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Aufbringung der Kapitalgrundlage bei der Sachgründung. Entsprechend dem gesetzlichen Normalstatut der G m b H lehnt sich die gesetzliche Regelung auch bei dieser Frage an die entsprechenden Vorschriften für die Aktiengesellschaft an, nur daß sie dabei vielfache Erleichterungen gegenüber dem schwerfälligen und kostspieligen Prüfungsvorgang bei der Aktiengesellschaft gewährt. Dieses Vorgehen mag bei der kapitalistischen G m b H durchaus angemessen sein, wobei es hier offen bleiben kann, ob die derzeitige gesetzliche Regelung nicht zu wenige Sicherungen zugunsten der Gläubiger enthält. Aber für die rein personalistische G m b H paßt diese Art der gesetzlichen Regelung offenbar nicht. In der Reformliteratur ist wiederholt davor gewarnt worden, die Sicherungen bei der Sachgründung nicht durch ein entsprechendes Prüfungsverfahren zu stark auszubauen 30 . Dabei wurde namentlich darauf hingewiesen, daß in dieser Hinsicht die Verhältnisse bei der G m b H grundsätzlich anders wie bei der Aktiengesellschaft liegen und daß die werdende G m b H durch ein ähnliches Prüfungsverfahren wie bei der Aktiengesellschaft mit unverhältnismäßig hohen Gründungskosten belastet werden würde; auch sei die bei der Aktiengesellschaft notwendige Publizität des Gründungsvorgangs bei der G m b H im allgemeinen nicht gerechtfertigt. Diese Argumente halte ich für die personalistische G m b H , bei der es sich im Regelfall um kleinere Unternehmen handelt, für richtig. Bei ihr entfällt im Unterschied zur Aktiengesellschaft zunächst schon einmal ein schutzwertes Sicherungsbedürfnis zugunsten der übrigen Gesellschafter. Bei ihr sind im allgemeinen die Verhältnisse bei einer Sachgründung, insbesondere die insoweit entscheidenden Bewertungsfragen für die Gesellschafter übersehbar, und es läßt sich daher auch durchaus rechtfertigen, daß man ihnen freie Hand läßt, die Bewertung der von ihnen einzubringenden Sacheinlagen nach den von ihnen für richtig gehaltenen kaufmännischen Gesichtspunkten auszuhandeln. In dieser Hinsicht liegen die Verhältnisse bei der Sachgründung einer personalistischen G m b H grundsätzlich nicht anders wie bei der 50 Hachenburg LZ 1909, 15 ff; Molitor, Die ausländische Regelung der G m b H und die deutsche Reform 1927 S. 35; Feine Ehrenb. H d b . III/3 S. 117/18; vgl. aber auch Hallstem Ztschr. f. Int. u. Ausl.PrR 12, 451.

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Errichtung einer Personalgesellschaft, bei der sich einzelne Gesellschafter zur Entrichtung von Sacheinlagen verpflichten. Aber das gilt nur für das Verhältnis der Gesellschafter zueinander, nicht für das Verhältnis zu den Gläubigern der Gesellschaft. Denn diese haben nicht den gleichen Einblick in die Verhältnisse, die für die Bewertung der Sacheinlagen seitens der Gesellschafter bei der Gründung der G m b H entscheidend waren. Auch sind ihre schutzwerten Interessen in dieser Hinsicht grundsätzlich andere wie die der Gesellschafter. Für diese kann es in Einzelfällen vom kaufmännischen Standpunkt aus durchaus angemessen sein, eine Sacheinlage höher zu bewerten, als der gemeine Verkehrswert dieser Einlage ist. Der Gläubiger hingegen muß sich bei seinen Dispositionen darauf verlassen können, daß eine Sacheinlage auch tatsächlich in H ö h e des angenommenen Wertes erbracht ist. Es ist m . E . der entscheidende Fehler von Rechtsprechung und Schrifttum gewesen, daß sie bis in die Mitte der 30er Jahre bei der Anerkennung der Bewertungsfreiheit für GmbH-Sachgründungen diese Unterschiede in der Interessenlage nicht genügend berücksichtigt haben. Wenn nun in dieser Hinsicht im Anschluß an die Ausführungen von Groschuff\ Crisolli32 und Herbig33 auch ein grundsätzlicher Wandel der Rechtsauffassung eingetreten ist, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Bewertungsfreiheit bei der Sachgründung einer G m b H geführt hat34, so wird diese m. E. noch immer nicht der hier gegebenen Interessenlage gerecht, soweit sie - wenn auch in eingeschränktem Umfang - an dem Grundsatz der Bewertungsfreiheit festhält. Ein Blick auf die entsprechende Regelung über den Umfang der Haftung eines Kommanditisten, der eine Sacheinlage leistet, zeigt m. E. deutlich, welche Grundsätze hier obwalten müssen, nämlich grundsätzlich Bewertungsfreiheit für das Verhältnis der Gesellschafter zueinander und grundsätzliche H a f t u n g des Sacheinlegers in H ö h e der von ihm übernommenen H a f t summe ohne Rücksicht auf die Bewertung der von ihm erbrachten Sacheinlage. Ich glaube, daß die Übernahme dieser für die Kommanditgesellschaft geltenden Grundsätze allein den Besonderheiten der Sachgründung einer personalistischen G m b H Rechnung trägt. Sie vermeidet das bei der personalistischen G m b H in der Tat nicht angebrachte umständliche und kostspielige Prüfungsverfahren und stellt doch die Aufbringung der Kapitalgrundlage zugunsten der Gläubiger sicher. Dabei müßte man wohl folgerichtig, um der Bewertungsfreiheit der Gesellschafter im 31

J W 1934, 1124. J W 1935, 2900. 33 D N o t Z 1936, 332; vgl. auch noch Boesebeck D R 1939, 436. 34 Vgl. R G Z 155, 214; 159, 335; Baumbach-Hueck § 5 Anm. 8 A; § 5 Anm. 28 a; Scholz § 5 Anm. 27. 32

Hachenburg-Schilling

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Verhältnis zueinander entsprechenden Ausdruck zu verleihen, eine Haftung des Sacheinlegers in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem angenommenen und dem wirklichen Wert seiner Sacheinlage nur gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft annehmen, die erst im Konkurs der Gesellschaft realisiert werden kann35. Ich bin mir im Zweifel, ob es der Rechtsprechung möglich ist, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Haftung des Sacheinlegers für den Differenzbetrag zwischen dem angenommenen und dem wirklichen Wert seiner Sacheinlage in Anlehnung an die entsprechende Regelung bei der Kommanditgesellschaft anzuerkennen, sie auf das Verhältnis gegenüber den Gläubigern zu beschränken und sie erst im Konkursfall wirksam werden zu lassen. Es mag sein, daß gegen eine so weitgehende Fortbildung des Rechts durch die Gerichte durchgreifende Bedenken bestehen. Besser wäre es schon, wenn der Gesetzgeber auch in diesem Punkte eingriffe und insoweit zugunsten der Gläubiger Rechtsgrundsätze aus der Personalgesellschaft in das Recht der G m b H übernähme. Dabei wäre auch Gelegenheit, die Frage der Beweislast zu prüfen. Auch diese Frage erscheint mir sehr zweifelhaft. Es scheint manches dafür zu sprechen, die Beweislast für die richtige Bewertung der Sacheinlage dem in Anspruch genommenen Gesellschafter aufzubürden. Denn bei einer objektiven Beurteilung ist wohl ihm die Beweislast eher zuzumuten, weil er die Umstände, die zu der Bewertung seiner Sacheinlage geführt haben, kennt, während der Konkursverwalter dem oft fremd gegenüber steht. Andererseits ist aber auch zu bedenken, daß eine solche Regelung der Beweislast den Konkursverwalter allzusehr veranlaßt, Regreßansprüche gegen die einzelnen Gesellschafter geltend zu machen, ja ihn unter Umständen wegen seiner eigenen Verantwortung nötigt, das im Zweifel immer erst einmal zu versuchen. Unter Berücksichtigung dieses Für und Wider würde ich selbst dazu mehr neigen, die für die Kommanditgesellschaft geltende Beweislastregelung auch hier eingreifen zu lassen, die Beweislast für eine unrichtige Bewertung also dem Konkursverwalter aufzubürden. 35 In meiner A n m e r k u n g bei L M N r . 1 zu § 5 G m b H G hatte ich z u r B e g r ü n d u n g der H a f t u n g des Sacheinlegers f ü r jeden D i f f e r e n z b e t r a g z w i s c h e n d e m a n g e n o m m e n e n u n d d e m wirklichen W e r t seiner Sacheinlage auch auf die H a f t u n g bei m a n g e l h a f t e n Sacheinlagen hingewiesen, die bei einem entsprechenden M i n d e r u n g s v e r l a n g e n der G e s e l l s c h a f t d a z u f ü h r t , daß der einlegungspflichtige G e s e l l s c h a f t e r den M i n d e r w e r t seiner m a n g e l h a f ten L e i s t u n g in G e l d a u f z u f ü l l e n hat. Z w i s c h e n diesen beiden T a t b e s t ä n d e n besteht j e d o c h insoweit ein U n t e r s c h i e d , als der einlegungspflichtige Gesellschafter bei einer m a n g e l h a f ten Sacheinlage auch im Verhältnis z u r G e s e l l s c h a f t z u r E r b r i n g u n g einer vollwertigen Sacheinlage verpflichtet ist u n d d e s h a l b auch ihr g e g e n ü b e r f ü r den M i n d e r w e r t a u f k o m m e n m u ß , w ä h r e n d bei einer einverständlichen U b e r b e w e r t u n g der Sacheinlage eine s o l c h e V e r p f l i c h t u n g g e g e n ü b e r der G e s e l l s c h a f t nicht a n g e n o m m e n w e r d e n kann, w e n n m a n den G r u n d s a t z der B e w e r t u n g s f r e i h e i t im Verhältnis unter den G e s e l l s c h a f t e r n anerkennt.

10. Die Stellung des vermeintlichen Erben in der OHG* i.

Im Anwendungsbereich der sog. fehlerhaften Gesellschaft 1 sind, soweit ich sehe, die Stellung des vermeintlichen Erben, der als Nachfolger des Erblassers in eine O H G eingetreten ist, sowie die Stellung des wahren Erben bisher nicht untersucht, ja überhaupt nicht erörtert worden. Das erscheint auffällig, weil diese Fälle in der Rechtswirklichkeit nicht so ungewöhnlich seltene Ausnahmetatbestände sind, und weil die Rechtsfragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, im einzelnen recht schwierige Fragen aufwerfen 2 . Die Tatbestände, die hierbei in Betracht kommen, können außerordentlich mannigfaltig sein. Bei ihrer rechtlichen Beurteilung ist im einzelnen jeweils zu unterscheiden, wie die Rechtsstellung des wahren Erben und wie die Rechtsstellung des vermeintlichen Erben ist, der längere Zeit tatsächlich Gesellschafter gewesen ist. Verhältnismäßig einfach wäre die Beantwortung der hierbei auftauchenden Fragen, wenn man für die Zeit vom Erbfall oder vom Eintritt des vermeintlichen Erben in die Gesellschaft bis zur Aufdeckung der wahren Erbfolge ohne Einschränkung die Grundsätze von der fehlerhaften Gesellschaft anwenden und sodann für die zukünftige Zeit eine neue Regelung des Gesellschaftsverhältnisses unter Berücksichtigung der wahren Erbfolge vornehmen könnte. Eine solche zunächst vielleicht naheliegende Beurteilung ist jedoch nicht möglich. Sie würde, soweit es sich um die Rechtsstellung des wahren Erben handelt, an entscheidende Grundlagen rühren, die für die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind. Denn der wahre Erbe würde bei einer solchen Beurteilung in dieser oder in jener Weise für die zurückliegende * Aus: Recht und Wandel. Festschrift Hundertfünfzig Jahre Carl Heymanns Verlag K G . Hrsg. von Carl Hermann Ule, Karl Heinz Schwab, Hans Carl Nipperdey, Eugen Ulmer, Ignaz Seidl-Hohenveldern. - Carl Heymanns Verlag K G , Köln, 1965, 271-286. 1 Ich halte mich im folgenden an die Terminologie des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, der seit seiner Entscheidung vom 5. März 1964 - LM Nr. 19 zu § 105 H G B nicht mehr von einer faktischen Gesellschaft spricht, sondern statt dessen jetzt den Ausdruck fehlerhafte Gesellschaft verwendet. Über die Gründe für diesen Wechsel in der Terminologie vgl. meine Anmerkung bei LM a. a. O. 2 Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, können allerdings einige dieser Schwierigkeiten behoben werden, wenn die übrigen Gesellschafter von dem Erben des verstorbenen Gesellschafters die Vorlage eines Erbscheins verlangen (vgl. dazu auch § 12 Abs. 2 Satz 2 HGB).

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Zeit an einen tatsächlichen Zustand gebunden werden, der nicht von seinem tatsächlichen Willen getragen ist. Das aber ist nach der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft nicht möglich. Es besteht heute weitgehende Ubereinstimmung darüber, daß die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft nicht einen besonderen Tatbestand der sog. faktischen Vertragsverhältnisse bildet 3 . Die sog. faktischen Vertragsverhältnisse, die zunächst durch die Arbeiten von Sieberf und namentlich von Haupt5 Eingang in die Rechtswissenschaft gefunden haben und auch in der heutigen Zeit von einigen Vertretern im Schrifttum noch anerkannt werden 6 , werden den rechtsgeschäftlich begründeten Vertragsverhältnissen gegenübergestellt. Bei ihnen werden vertragliche Rechtsbeziehungen auf Grund eines rein tatsächlichen Zustandes oder eines rein tatsächlichen Verhaltens und unabhängig von der Willensrichtung der dabei Beteiligten begründet. Mit diesen sog. faktischen Vertragsverhältnissen hat die fehlerhafte Gesellschaft, so wie sie heute in der Rechtsprechung und überwiegend auch im Schrifttum verstanden wird, überhaupt nichts zu tun. Die fehlerhafte Gesellschaft beruht wie die fehlerfreie Gesellschaft auf einem rechtsgeschäftlichen Vertragsverhältnis zwischen ihren Gesellschaftern; ohne eine solche vertragliche Grundlage ist auch die fehlerhafte Gesellschaft nicht denkbar. Sie muß von dem übereinstimmenden Willen ihrer Gesellschafter getragen werden; durch diesen Willen findet sie überdies ihre nähere Ausgestaltung. Ohne oder gegen den Willen ihrer Gesellschafter kann eine fehlerhafte Gesellschaft nicht angenommen werden. So gesehen ist sie also gerade kein sog. faktisches Vertrags Verhältnis. Die fehlerhafte Gesellschaft unterscheidet sich - im Gegensatz zu den sog. faktischen Vertragsverhältnissen - von den sonstigen rechtsgeschäftlichen Vertragsverhältnissen nicht in ihrem Entstehungstatbestand - denn sie erfordert wie diese eine rechtsgeschäftliche Vertragsgrundlage - , sondern allein darin, daß bei ihr die allgemeinen, rechtsgeschäftlichen, rückwirkenden Nichtigkeitsgründe eine Beschränkung dahin erfahren, daß sie nicht auf die Vergangenheit zurückwirken, sondern erst für die Zukunft wirksam werden. Die sonst allgemein geltende Nichtigkeitswirkung ex tunc ist bei ihr zu einer Nichtigkeitswirkung ex nunc abgeschwächt. Die fehlerhafte Gesellschaft steht mit dieser Besonderheit somit neben der sog. aufhebbaren Ehe (§§28 ff EheG) und der sog. nichtigen Kapitalgesellschaft (§§216 ff AktG), bei denen ebenfalls eine 5 Vgl. statt anderer BGB RGRK §705 Anm.31 m.w.N.; Schultze-v. Lasaulx bei Soergel §705 Anm. 52, 56. 4 Festschrift für Hedemann, 1938 S. 266ff. 5 Uber faktische Vertragsverhältnisse, 1943. 6 Vgl. Simitis, Die faktischen Vertragsverhältnisse, 1957 S.232, 234 ff; Habscheid, BB 1955, 5 0 f f ; Russ, BB 1958, 645; vgl. auch Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts I §4 II sowie BGHZ 21, 333.

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solche Beschränkung der Nichtigkeitsfolge gilt, ohne daß deshalb die rechtsgeschäftliche Vertragsgrundlage dieser Rechtsverhältnisse in Zweifel gezogen werden kann. Aus dieser Besonderheit der fehlerhaften Gesellschaft, an der festgehalten werden muß, ergibt sich für die hier zu behandelnden Tatbestände Entscheidendes. Denn danach ist es von vornherein ausgeschlossen, jemanden in ein fehlerhaftes Gesellschaftsverhältnis einzubeziehen, der von diesem Gesellschaftsverhältnis überhaupt nichts weiß, dessen rechtsgeschäftlicher (fehlerhafte) Wille also dieses Vertragsverhältnis gar nicht erfaßt. Ein solcher Sachverhalt ist für die irrtümliche Annahme einer Erbfolge nach einem verstorbenen Gesellschafter typisch, bei dem immer nur der Wille des vermeintlichen Erben, grundsätzlich aber nicht der Wille des wahren Erben auf die Begründung (Fortsetzung) eines Gesellschaftsverhältnisses mit den übrigen Gesellschaftern gerichtet ist. Es kann daher auch das Vertragsverhältnis mit seinen vertraglichen Rechten und Pflichten, so wie es durch eine fehlerhafte Gesellschaft begründet wird 7 , nicht gegenüber dem wahren Erben wirksam sein. Namentlich kann auf diese Weise nicht eine Verkürzung und Beeinträchtigung der Rechte des wahren Erben herbeigeführt werden. Er kann als Außenstehender nicht durch ein fehlerhaftes Vertragsverhältnis gebunden werden, an dem er sich selbst nicht beteiligt hat. Das zeigt, daß die Einzelfragen, die sich beim Eintritt eines vermeintlichen Erben in eine Gesellschaft für die Stellung des wahren Erben ergeben, grundsätzlich nicht mit der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft gelöst werden können.

II. Es ist im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich, alle nur denkbaren Einzeltatbestände eines Irrtums über die Rechtsnachfolge eines verstorbenen Gesellschafters einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen. Vielmehr sollen hier nur die grundsätzlichen rechtlichen Gesichtspunkte erörtert werden, die in diesem Zusammenhang zu beachten sind. Bei dieser Beschränkung empfiehlt es sich, bei der Erbfolge zunächst lediglich die Tatbestände heranzuziehen, bei denen als wahrer Erbe eines verstorbenen Gesellschafters nur eine Person berufen, und bei denen als vermeintlicher Erbe ebenfalls nur eine Person aufgetreten ist. Anschließend an diese Tatbestände mögen noch einige Mischfälle behandelt werden, bei denen gegenüber der wahren Rechtslage ein Erbe zuviel oder ein Erbe zuwenig als Nachfolger des verstorbenen Gesellschafters angesehen und ferner bei denen gegenüber der wahren Rechtslage eine unrichtige Aufteilung der Erbquoten zugrunde gelegt worden ist. 7

Vgl. B G H Z 17, 167.

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1. Die Stellung des wahren Erben Ist von den übrigen Gesellschaftern nicht der wahre Erbe, sondern ein anderer als Nachfolger des verstorbenen Gesellschafters angesehen und behandelt worden, so kann diese irrtümliche Auffassung die Rechtsstellung des wahren Erben grundsätzlich nicht verkürzen oder beeinträchtigen. Es kann insoweit auf die Ausführungen unter I. verwiesen werden. a) Ist der Erbe des verstorbenen Gesellschafters nach der gesellschaftsvertraglichen Regelung nicht berechtigt, als Nachfolger seines Erblassers in die Gesellschaft einzutreten, sondern hat er nur einen Anspruch auf Auszahlung seines Abfindungsguthabens, so wird dieser Anspruch grundsätzlich nicht dadurch beeinträchtigt, daß die übrigen Gesellschafter einen vermeintlichen Erben als Erben ihres verstorbenen Mitgesellschafters angesehen und behandelt haben. Das ist ganz offensichtlich, wenn sie diesem in der Zwischenzeit das Abfindungsguthaben in gutem Glauben ganz oder teilweise ausgezahlt haben. Insoweit ist die Rechtslage nicht anders, wie wenn der Schuldner eines Erblassers seine Verpflichtung gegenüber einem vermeintlichen Erben erfüllt hat. So wie in diesem Fall der gute Glaube des zahlenden Schuldners nicht geschützt wird, so werden auch die Gesellschafter nicht geschützt, wenn sie gutgläubig einem vermeintlichen Erben das Abfindungsguthaben ausgezahlt haben. Etwas anderes gilt hier wie auch in den sonstigen Fällen nur dann, wenn dem vermeintlichen Erben ein Erbschein ausgestellt worden ist und die Gesellschafter dem vermeintlichen Erben im guten Glauben an die Richtigkeit des Erbscheins ausgezahlt haben. In diesem Fall sind die übrigen Gesellschafter - wie auch sonst bei der Erteilung eines Erbscheins - von ihrer Verpflichtung gegenüber dem wahren Erben frei. Der wahre Erbe kann sich daher in einem solchen Fall nur nach Maßgabe der allgemeinen Rechtsgrundsätze an den vermeintlichen Erben halten (vgl. §§2018 ff, insbes. §2021 B G B ) . Grundsätzlich nicht anders ist die Rechtslage zu beurteilen, wenn die übrigen Gesellschafter den vermeintlichen Erben nicht ausgezahlt, sondern ihn trotz Fehlens einer Nachfolgeklausel mit dem Kapitalanteil des verstorbenen Gesellschafters als Gesellschafter in die Gesellschaft aufgenommen haben 8 . Auch hier wird mangels Vorliegens eines Erbscheins der Abfindungsanspruch des wahren Erben durch die inzwischen getroffenen Maßnahmen der übrigen Gesellschafter und des vermeintlichen Erben nicht beeinträchtigt. Namentlich können die übrigen Gesellschafter den wahren Erben nicht an den vermeintlichen Erben verweisen. 8 Das kann z. B. deshalb geschehen sein, weil die übrigen Gesellschafter angesichts der finanziellen Lage der Gesellschaft eine Auszahlung des Erben für untunlich oder für wirtschaftlich bedenklich, dagegen die Aufnahme des vermeintlichen Erben für begrüßenswert gehalten haben.

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Vielmehr sind und bleiben die übrigen Gesellschafter die Schuldner des Abfindungsanspruchs, so wie sie es von Anfang an im Zeitpunkt des Erbfalls gewesen waren. Ein etwaiger Hinweis der übrigen Gesellschafter darauf, auch der wahre Erbe müsse sich in dieser oder in jener Weise an die Rechtstatsache halten lassen, wie sie durch die Aufnahme des vermeintlichen Gesellschafters geschaffen worden sei, greift nicht durch. Inwieweit ein solcher Hinweis für das Verhältnis der übrigen Gesellschafter zu dem vermeintlichen Erben von rechtlicher Bedeutung ist oder sein kann, ist für die Rechtsbeziehungen des wahren Erben zu den übrigen Gesellschaftern ohne Belang. Auf diese Frage ist erst später einzugehen, wenn die Rechtsstellung des vermeintlichen Erben gegenüber dem Miterben untersucht wird. Ebenso soll erst in diesem Zusammenhang geprüft werden, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn der vermeintliche Erbe beim Abschluß des Aufnahmevertrages durch einen Erbschein als Erbe ausgewiesen war'. Andererseits kann aber auch der wahre Erbe von dem vermeintlichen Erben nicht verlangen, daß dieser ihm mit Rücksicht auf §2019 BGB seinen Gesellschaftsanteil abtritt. Eine Surrogation kann insoweit nicht anerkannt werden. Sie scheitert zunächst schon daran, daß - mangels Vorliegens eines Erbscheins - die Verfügung des vermeintlichen Erben über den Abfindungsanspruch des wahren Erben10 diesem gegenüber unwirksam ist11. Aber auch dann, wenn der wahre Erbe diese Verfügung nachträglich genehmigt und sie dadurch wirksam wird, kann hier eine Surrogation nicht stattfinden. Denn die Abtretung des Gesellschaftsanteils würde zugleich die Rechtssphäre der übrigen Gesellschafter berühren und könnte deshalb nur mit ihrer Zustimmung vollzogen werden. b) Sehr viel schwieriger erscheint auf den ersten Blick die Rechtslage, wenn der Gesellschaftsvertrag beim Tod eines Gesellschafters den unmittelbaren Eintritt seines Erben in die Gesellschaft vorsieht. Ausgangspunkt für die rechtliche Beurteilung muß auch hier sein, daß durch zwischenzeitliche Maßnahmen der übrigen Gesellschafter und des vermeintlichen Erben die Rechtsstellung des wahren Erben nicht verkürzt werden kann. Das ergibt sich hier ebenfalls aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß mangels Vorliegens eines Erbscheins der gute Glaube der übrigen Gesellschafter und der gute Glaube des vermeintlichen Erben12 nicht geschützt werden. Im einzelnen läßt sich hieraus für das Rechts9

Vgl. Vgl. " Vgl. 12 Die neuem. 10

dazu S. 166. dazu S. 167. Staudinger/Lehmann §2019 Rz. 10. Drei-Monats-Frist des §139 Abs. 3 H G B läuft für den wahren Erben von

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Verhältnis zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern folgendes entnehmen. Hat der vermeintliche Erbe von dem Wahlrecht nach § 139 H G B (Eintritt als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist) Gebrauch gemacht, so wird dadurch die Rechtsstellung des wahren Erben nicht berührt; er kann also das Wahlrecht nach § 139 H G B selbständig ausüben12. Er kann die Rechtsstellung des Kommanditisten wählen, auch wenn sich der vermeintliche Erbe für den Eintritt als persönlich haftender Gesellschafter entschieden hatte. Andererseits kann der wahre Erbe auch jetzt noch als persönlich haftender Gesellschafter eintreten, wenn der vermeintliche Erbe zwar die Stellung eines Kommanditisten gewählt hatte, die übrigen Gesellschafter aber daraufhin von ihrem Recht nach § 139 Abs. 2 H G B Gebrauch gemacht und ihn ausgezahlt hatten. Auch hier hat eine solche Zahlung an den vermeintlichen Erben — so wie im Fall unter a) — keinen Einfluß auf das Rechtsverhältnis zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern. Mit der Aufdeckung der wirklichen Rechtslage ist der wahre Erbe in jeder Hinsicht gesellschaftsrechtlich so zu stellen, wie er ohne den Irrtum über die Erbfolge gestanden haben würde. Nach Ausübung seines Wahlrechts gemäß §139 H G B erhält er die ihm danach zustehende Rechtsstellung als Gesellschafter, während der vermeintliche Erbe ohne weiteres als Gesellschafter wegfällt13. Bei der Behandlung des Gesellschaftsanteils (Kapitalanteils)14 in den Büchern der Gesellschaft ist von dem Zeitpunkt des Todes des Erblassers auszugehen. Dem wahren Erben sind danach seinem Kapitalkonto (und/oder Darlehenskonto) all die Beträge gutzuschreiben, die seit dem Tode des Erblassers auf dessen Gesellschaftsanteil entfallen sind; auch hat der wahre Erbe einen Anspruch auf Auszahlung von Gewinnanteilen, soweit das der Gesellschaftsvertrag oder mangels einer gesellschaftsvertraglichen Bestimmung die gesetzliche Regelung vorsieht. Zwischenzeitlich vorgenommene Entnahmen des vermeintlichen Erben gehen ebenso wie die Auszahlung von Gewinnanteilen an diesen nicht zu seinen Lasten. Sie müssen im Verhältnis zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern von letzteren getragen werden, wobei ihnen etwaige Erstattungsansprüche (ungerechtfertigte Bereicherung) gegen den vermeintlichen Erben unbenommen bleiben. Anders ist die Rechtslage in Fällen dieser Art, wenn dem vermeintlichen Erben ein Erbschein erteilt worden ist und alle Beteiligten im guten 13

Darauf ist im einzelnen noch weiter unten einzugehen. Auf die neuerdings aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten über den rechtlichen Charakter des Kapitalanteils (vgl. dazu namentlich Schlegelberger/Geßler § 120 Anm. 10) kann ich hier nicht eingehen. Ich habe mich mit ihnen in der in Vorbereitung befindlichen Neuauflage des R G R K H G B bei §120 Anm.21_, 22 näher auseinandergesetzt. 14

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Glauben an die Richtigkeit des Erbscheins gehandelt haben. In einem solchen Fall sind nicht nur die zwischenzeitlich vorgenommene Auszahlung von Gewinnanteilen sowie die Entnahmen des vermeintlichen Erben im Verhältnis zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern wirksam, sondern der wahre Erbe muß darüber hinaus auch die Ausübung des Wahlrechts gemäß §139 H G B durch den vermeintlichen Erben gegen sich gelten lassen. Hat der vermeintliche Erbe von dem Recht gemäß § 139 Abs. 1 H G B Gebrauch gemacht und haben die übrigen Gesellschafter einen dahin gehenden Antrag angenommen und ihm die Rechtsstellung eines Kommanditisten eingeräumt, so stellt das im Rechtssinn eine Verfügung über den Gesellschaftsanteil des Erblassers dar - denn er ist in seinem rechtlichen Charakter durch die Willensübereinstimmung der Beteiligten geändert worden - , an die der wahre Erbe gemäß § 2367 BGB gebunden ist. Nach Aufdeckung der wirklichen Erbfolge 15 müssen nun freilich im Verhältnis zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern die Rechtsfolgen gezogen werden, die sich aus der nunmehrigen Rechtslage ergeben. Das bedeutet, daß der wahre Erbe nunmehr als Erbe und damit auch gesellschaftsrechtlich als Rechtsnachfolger seines Erblassers behandelt werden muß. Er übernimmt deshalb nunmehr in der Gesellschaft die Rechtsstellung seines Erblassers, als dessen Rechtsnachfolger er in die Gesellschaft eintritt. Dabei muß der wahre Erbe im Verhältnis zu den übrigen Gesellschaftern alle rechtsgeschäftlichen Änderungen (auch solche gesellschaftsvertraglicher Art) hinnehmen, die die Beteiligten im guten Glauben an die Richtigkeit des Erbscheins vorgenommen haben. Sind dem vermeintlichen Erben mit Rücksicht auf seine besonderen Fähigkeiten besondere Rechte (z. B. eine besonders hohe Geschäftsführervergütung) eingeräumt worden, so wird der wahre Erbe, bei dem diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, diese in Zukunft nicht für sich in Anspruch nehmen können 16 . Mit der Aufdeckung der wahren Rechtslage verliert der bis dahin durch den Erbschein ausgewiesene Erbe ohne weiteres die Stellung, die er bis dahin als Gesellschafter, nämlich als vermeintlicher Rechtsnachfolger des Erblassers, eingenommen hatte. Das gilt nicht nur im Verhältnis zu dem wahren Erben, sondern auch im Verhältnis zu den übrigen Gesellschaftern. Ihnen gegenüber kann sich der vermeintliche Erbe namentlich nicht darauf berufen, daß er zwischenzeitlich von ihnen 15 In Fällen dieser Art wird immer davon ausgegangen, daß der zunächst erteilte Erbschein eingezogen und ein neuer Erbschein ausgestellt worden ist. 16 Man wird insoweit wohl die Grundsätze anwenden müssen, die bei der Nachfolge von Todes wegen in dieser Hinsicht ganz allgemein entwickelt worden sind (vgl. dazu meinen Aufsatz BB 1956, 839 ff).

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tatsächlich als Gesellschafter behandelt worden sei und sie daher an diese auch von ihnen geschaffene Rechtstatsache gebunden seien. Im einzelnen soll auf diese Frage erst unter 2 b) eingegangen werden. 2. Die Stellung des vermeintlichen Erben a) Enthält der Gesellschaftsvertrag für den Erben eines verstorbenen Gesellschafters keine Nachfolgeklausel, ist der vermeintliche Erbe aber gleichwohl als Nachfolger des Erblassers in die Gesellschaft aufgenommen worden", so hat das nach Aufdeckung der wahren Rechtslage auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem wahren Erben und den übrigen Gesellschaftern keinen unmittelbaren Einfluß. Diesen steht der Abfindungsanspruch nach Maßgabe des Gesellschaftsvertrages gegen die übrigen Gesellschafter zu18. Aber auch der Aufnahmevertrag zwischen den übrigen Gesellschaftern und dem vermeintlichen Erben wird in seinem rechtlichen Bestand durch die Aufdeckung der wahren Rechtslage nicht unmittelbar berührt. Denn dieser Vertrag ist rechtlich wirksam abgeschlossen worden. Auch ist ein Anfechtungsgrund, etwa wegen Irrtums, nicht gegeben; die Vertragschließenden haben das erklärt, was sie erklären wollten. Dagegen ist durch die Aufdeckung der wirklichen Erbfolge die Geschäftsgrundlage für den Abschluß dieses Vertrages fortgefallen, oder richtiger ausgedrückt, es hat sich nach Aufdeckung der wirklichen Erbfolge herausgestellt, daß die Geschäftsgrundlage für den Abschluß des Gesellschaftsvertrages von vornherein gefehlt hat. Denn daran kann es keinen Zweifel geben, daß die Vertragschließenden ohne ihren beiderseitigen Irrtum den Aufnahmevertrag nicht abgeschlossen hätten, daß ihre Annahme von dem Erbrecht des vermeintlichen Erben die Grundlage, die Voraussetzung für den Aufnahmevertrag gebildet hatte. Welche Rechtsfolgen sich aus dem Fehlen der Geschäftsgrundlage für die Rechtsbeziehungen zwischen dem vermeintlichen Erben und den übrigen Gesellschaftern im einzelnen ergeben, kann nicht abschließend f ü r alle Fälle dieser Art gemeinsam gesagt werden. Vielmehr werden dabei die besonderen tatsächlichen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls eine gewichtige Rolle spielen. Immerhin gilt eines für alle diese Fälle. Das Fehlen der Geschäftsgrundlage kann nicht dazu führen, daß der Aufnahmevertrag rückwirkend wieder beseitigt wird und die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten so abgewickelt werden, als ob ein Vertrag zwischen ihnen von vornherein nicht bestanden hätte. Denn insoweit sind auch hier die Erwägungen zu beachten, die zu der Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft und zu einer Beschränkung 17

Vgl. dazu Anm. 8. " Vgl. dazu im einzelnen S. 161.

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der allgemeinen (rückwirkenden) Nichtigkeitsfolgen geführt haben 19 . Bei dieser Beurteilung kann man sich daher nur fragen, wie für die Zukunft, vom Zeitpunkt der Aufdeckung der wahren Rechtslage an, die Rechtsbeziehungen zu dem vermeintlichen Erben abzuwickeln sind. Im allgemeinen werden die übrigen Gesellschafter im Hinblick auf das Fehlen der Geschäftsgrundlage einen Ausschließungsgrund gegen den vermeintlichen Erben haben; denn die insoweit gebotene Anpassung der Rechtsbeziehungen an die gegebene Rechtslage 20 wird es im allgemeinen erfordern, daß der vermeintliche Erbe nunmehr aus der Gesellschaft ausscheidet 21 . Das kann freilich in besonderen Einzelfällen auch anders sein. Man denke nur an den Fall, daß die wirkliche Erbfolge erst nach einer längeren Zeit (etwa nach fünf oder mehr Jahren) aufgedeckt wird und daß sich der vermeintliche Erbe als tätiger Gesellschafter in der zurückliegenden Zeit große Verdienste um das gemeinsame Unternehmen erworben hat. In einem solchen Fall kann es gerechtfertigt sein, daß die gebotene Anpassung der Rechtsbeziehungen an die gegebene Rechtslage nicht zu einem Ausscheiden des vermeintlichen Erben aus der Gesellschaft führt. Ob dem vermeintlichen Erben bei seinem Ausscheiden ein Abfindungsguthaben zu zahlen ist, ist ebenfalls eine Frage des Einzelfalls. Dabei ist freilich immer davon auszugehen, daß er einen Anspruch auf eine Beteiligung an dem Abfindungsguthaben des Erblassers, so wie es sich im Zeitpunkt seines Todes darstellte, nicht hat; denn dieses Abfindungsguthaben steht allein dem wahren Erben zu und ist nach den vorstehenden Ausführungen von den übrigen Gesellschaftern an diesen auszuzahlen. Dagegen ist es denkbar, daß dem vermeintlichen Erben seit seinem Eintritt in die Gesellschaft Gewinne gutgeschrieben worden sind, deren Erzielung auf seiner tätigen Mitarbeit beruht. Es erscheint mir geboten, dem vermeintlichen Erben diese Gewinne zu belassen, so wie es m. E. auch geboten ist, ihm einen Anspruch auf die nicht abgehobenen Geschäftsführervergütungen zuzubilligen. Ferner halte ich es für angemessen, dem vermeintlichen Erben einen Anspruch auf Beteiligung an den Gewinnen schwebender Geschäfte (§ 740 BGB) zu geben, freilich nur sofern und soweit seine tätige Mitarbeit eine Teilhabe an diesen Gewinnen rechtfertigt. Schließlich steht dem vermeintlichen Erben bei seinem Ausscheiden auch der Befreiungsanspruch gemäß §738 BGB zu; denn es wäre ungerecht, wenn er im Verhältnis zu den übrigen Gesellschaftern die persönliche und unbeschränkte Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern zu seinem Teil weiter tragen müßte. " Vgl. BGHZ 10, 50 ff. Vgl. BGH LM Nr. 2 zu §779 BGB, Nr. 12 zu §242 BGB (Bb). 21 BGHZ 10, 51; vgl. dazu auch meinen Aufsatz NJW 1955, 852, ferner Kessler §705 Anm.119. 20

Staudinger/

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Recht zweifelhaft erscheint mir die Frage, wie die Rechtsstellung des durch einen besonderen Vertrag aufgenommenen vermeintlichen Erben zu beurteilen ist, wenn sich der vermeintliche Erbe beim Abschluß des Aufnahmevertrages durch einen Erbschein ausgewiesen hat. Greift hier der Schutz des guten Glaubens, auf den sich die übrigen Gesellschafter berufen können, so weit, daß dadurch alles gedeckt wird, mit der Folge, daß der wahre Erbe seinen Abfindungsanspruch gegen die übrigen Gesellschafter verliert und nur noch auf Erstattungsansprüche gegen den vermeintlichen Erben angewiesen ist? Ich bin mir der Zweifel, die diese Frage in sich birgt, bewußt, möchte aber die Frage gleichwohl bejahen. Rein rechtlich ist die Frage wohl dahin zu stellen: Liegt in dem Abschluß des Aufnahmevertrages durch den vermeintlichen Erben eine Verfügung über den Abfindungsanspruch des wahren Erben, die dieser mit Rücksicht auf den Erbschein gegen sich gelten lassen muß? Ich meine, man muß das Vorliegen einer solchen Verfügung bejahen. Das wird deutlich, wenn man den Abschluß eines solchen Aufnahmevertrages durch den wahren Erben als Vergleich heranzieht. In diesem Fall wird hinsichtlich des zunächst gegebenen Abfindungsanspruchs durch den Abschluß und Vollzug des Aufnahmevertrages eine Rechtsänderung herbeigeführt. Der zunächst gegebene schuldrechtliche Abfindungsanspruch erlischt und an seine Stelle tritt, die gesellschaftliche Beteiligung des Aufgenommenen unter Berücksichtigung des Kapital- (und eines sonstigen) Kontos des Erblassers. Nicht anders ist es und nicht anders kann es sein, wenn der vermeintliche, durch Erbschein ausgewiesene Erbe den Aufnahmevertrag mit den übrigen Gesellschaftern abschließt. Auch hier verfügt er über den schuldrechtlichen Abfindungsanspruch des Erben; dieser entfällt und an seine Stelle tritt die gesellschaftliche Beteiligung des Aufgenommenen. Man wird aus den vorstehenden Gründen davon ausgehen müssen, daß beim Vorliegen eines Erbscheins der Aufnahmevertrag auch gegenüber dem wahren Erben wirksam ist. Dieser muß den Vertrag hinnehmen, so wie er auch sonstige Verfügungen des vermeintlichen, durch Erbschein ausgewiesenen Erben gegen sich gelten lassen muß. Das hat zur Folge, daß hier eine Anpassung der durch den Aufnahmevertrag geschaffenen Rechtsbeziehungen zwischen dem vermeintlichen Erben und den übrigen Gesellschaftern unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Fehlens der Geschäftsgrundlage im allgemeinen nicht in Betracht kommt. Der Aufgenommene ist und bleibt Gesellschafter. Er hat jedoch die Erstattungsansprüche des wahren Erben gemäß §§2018 ff B G B zu befriedigen, wobei der Erbe die Rechte aus §2019 B G B (Surrogation) nicht geltend machen kann, weil die Abtretung der Zustimmung der übrigen Gesellschafter bedarf 22 . 22

Vgl. oben S. 161.

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Ich bekenne, daß trotz dieser rechtlich wohl einwandfreien Begründung bei mir gewisse Zweifel gegenüber dem so gewonnenen Ergebnis zurückbleiben. Denn wie die nachfolgenden Ausführungen noch ergeben werden, ist die Rechtslage im Ergebnis anders, wenn der Gesellschaftsvertrag eine Nachfolgeklausel enthält und nunmehr der durch Erbschein ausgewiesene Erbe auf Grund dieser Klausel als Nachfolger des verstorbenen Gesellschafters in die Gesellschaft eingetreten ist. Ich meine, daß dieser Fall sich von dem soeben behandelten Fall der Sache nach nicht wesentlich unterscheidet und es daher innerlich auch nicht gerechtfertigt erscheint, bei der rechtlichen Beurteilung dieser beiden Fälle einen so tiefgreifenden Unterschied zu machen. Aber gleichwohl sehe ich angesichts der Tatsache, daß bei dem Aufnahmevertrag das Vorliegen einer Verfügung nicht verneint werden kann, keine rechtlich gesicherte Handhabe, die Notwendigkeit einer solchen verschiedenen rechtlichen Beurteilung zu leugnen. b) Ist der vermeintliche Erbe auf Grund einer gesellschaftsvertraglichen Nachfolgeklausel als Nachfolger des verstorbenen Gesellschafters in die Gesellschaft eingetreten, so tritt bei Aufdeckung der wahren Rechtslage an seine Stelle - rückwirkend - der wahre Erbe. Durch den Irrtum über die Erbfolge kann die Rechtsstellung des wahren Erben grundsätzlich nicht verkürzt oder beeinträchtigt werden. Das kann namentlich nicht dadurch geschehen, daß insoweit zu Lasten des wahren Erben die Grundsätze von der fehlerhaften Gesellschaft angewendet werden. Der vermeintliche Erbe kann sich aber auch nicht für die zurückliegende Zeit im Verhältnis zu den übrigen Gesellschaftern auf diese Grundsätze berufen. Denn eine nur relative Anwendung dieser Grundsätze innerhalb derselben Gesellschaft, nämlich nur gegenüber einem Teil der Gesellschafter, ist nicht möglich und rechtlich nicht durchführbar. Muß man den Eintritt des vermeintlichen Erben in die Gesellschaft im Verhältnis zu dem wahren Erben als von vornherein unwirksam ansehen, so muß das auch gegenüber den übrigen Gesellschaftern gelten. Denn der Grundgedanke für die rechtliche Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft, nämlich die Beschränkung der allgemeinen (rückwirkenden) Nichtigkeitsfolgen mit Rücksicht auf die geschaffenen Rechtstatsachen durch Vollzug des Gesellschaftsvertrages, kann hier aus den dargelegten Gründen gegenüber dem wahren Erben nicht zum Zuge kommen. Das nötigt m. E. dazu, den Eintritt des vermeintlichen Erben ganz allgemein rückwirkend als unwirksam zu behandeln 23 . 23 Es mag in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, daß ich in der Rechtsprechung der Instanzgerichte wiederholt den Versuch gesehen habe, eine solche, nur relativ wirkende fehlerhafte Gesellschaft anzuerkennen. Diese Versuche knüpften immer an den gleichen Tatbestand, nämlich die Aufnahme eines Gesellschafters in eine Gesellschaft, an

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Ist dem vermeintlichen Erben ein Erbschein erteilt worden, so kann das hier auf die Stellung des vermeintlichen Erben gegenüber den übrigen Gesellschaftern von keiner wesentlichen Bedeutung sein. Im Unterschied zu dem unter 2. a) behandelten Fall stellt sich hier der Eintritt des vermeintlichen Erben nicht als ein rechtsgeschäftlicher Verfügungstatbestand dar, der durch den guten Glauben an die Richtigkeit des Erbscheins geschützt wird, sondern der Eintritt vollzieht sich ipso iure allein durch den Tod des Erblassers und die gesellschaftsvertraglich zugelassene Rechtsnachfolge des Erben. Das bedeutet, daß nach Aufdeckung der wirklichen Erbfolge der wahre Erbe an Stelle seines Erblassers Gesellschafter wird. Er wird als Träger (Inhaber) des Nachlaßgegenstandes anerkannt, den die Mitgliedschaft des Erblassers an der Gesellschaft darstellt. Mit der Aufdeckung der wirklichen Erbfolge wird offenbar, daß nicht der vermeintliche Erbe, sondern von Anfang an der wahre Erbe als Nachfolger seines Erblassers Gesellschafter geworden ist. Ein Schutz des guten Glaubens mit Rücksicht auf den Erbschein kann hier wie auch bei den anderen im Besitz des Erbscheinserben befindlichen Nachlaßgegenständen nicht in Betracht gezogen werden. Anders ist es hingegen mit solchen rechtsgeschäftlichen Maßnahmen, die in der Annahme, der vermeintliche Erbe sei Erbe, von den Beteiligten hinsichtlich des Gesellschaftsanteils getroffen worden sind. Diese muß der wahre Erbe mit Rücksicht auf den Erbschein gegen sich gelten lassen. Das gilt z. B. für die Auszahlung von Gewinnansprüchen und für die Auszahlung einer Geschäftsführervergütung. O b und inwieweit der vermeintliche Erbe solche empfangenen Zahlungen dem wahren Erben erstatten muß, richtet sich nach den allgemeinen erbrechtlichen Vorschriften der §§2018 ff B G B , auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. In allen Fällen der unter 2. b) erörterten Art hat der vermeintliche Erbe auch den Befreiungsanspruch nach § 7 3 8 B G B . Wenn sich im der ein minderjähriger Gesellschafter beteiligt war. Indem die Instanzgerichte für einen solchen Aufnahmevertrag die Notwendigkeit einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bejahten (anders B G H Z 38, 26), stellte sich für sie beim Fehlen einer solchen Genehmigung die schwierige Frage, wie sie die Rechtsbeziehungen der Gesellschafter einschließlich des aufgenommenen Gesellschafters zueinander zu beurteilen hätten. Dabei kamen sie mit Rücksicht auf die Entscheidung in B G H Z 17, 160 zu dem Ergebnis, daß die Aufnahme gegenüber dem minderjährigen Gesellschafter unwirksam, hingegen gegenüber den übrigen Gesellschaftern rechtlich anzuerkennen sei. Bei dieser Beurteilung sind sich die Instanzgerichte offenbar nicht bewußt geworden, daß sich diese „eigenwillige K o n struktion" überhaupt nicht durchführen läßt. Man braucht nur die Frage zu stellen, wie das Abfindungsguthaben eines solchen Gesellschafters, der in den von den Instanzgerichten entschiedenen Fällen bei der Aufnahme auch stets eine Einlage geleistet hatte, zu berechnen ist. - Ich habe diese Rechtsprechung hier nur erwähnt, um zu zeigen, zu welchem Rechtswirrwarr eine nur relative Anerkennung als fehlerhafte Gesellschaft führen muß.

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Rechtssinn die Sachlage auch so darstellt, daß der vermeintliche Erbe niemals Gesellschafter geworden ist, sondern durch Aufdeckung der wirklichen Erbfolge klargestellt wird, daß der wahre Erbe von Anfang an als Rechtsnachfolger seines Erblassers Gesellschafter geworden ist, so ändert das nichts an der Tatsache, daß der vermeintliche Erbe in der Zwischenzeit tatsächlich im Rechtsverkehr als Gesellschafter aufgetreten ist und unter Umständen sogar im Handelsregister als Gesellschafter eingetragen war. Dieses Auftreten im Rechtsverkehr als Gesellschafter begründet bereits seine Haftung gegenüber gutgläubigen Gesellschaftsgläubigern. Diese Haftung entfällt nicht dadurch, daß später die wirkliche Erbfolge aufgedeckt wird. Es ist daher geboten, auch in diesen Fällen dem vermeintlichen Erben einen Befreiungsanspruch zuzubilligen. 3. Die sog. Misch fälle a) Es ist denkbar, daß bei mehreren Erben, die nach dem Gesellschaftsvertrag als Nachfolger ihres Erblassers in die Gesellschaft eintreten, auch einer als Erbe angesehen und als solcher behandelt worden ist, der in Wirklichkeit nicht Miterbe ist. In diesem Fall ist zunächst zu beachten, daß nicht etwa die Miterbengemeinschaft als solche die Rechtsnachfolge des verstorbenen Gesellschafters in der Gesellschaft antritt. Denn die Erbengemeinschaft als solche kann nicht Gesellschafterin werden; vielmehr werden die einzelnen Miterben nach Maßgabe ihrer Erbquote Gesellschafter als Rechtsnachfolger des verstorbenen Gesellschafters24. Ferner ist es für diesen Fall bedeutsam, daß hier alle Beteiligten darin übereinstimmen, daß die Gesellschaft auch mit dem vermeintlichen Miterben fortgesetzt wird. Diesen Willen haben nicht nur die übrigen Gesellschafter, sondern auch sämtliche Miterben. Der übereinstimmende Wille aller Beteiligten geht dabei freilich von der Voraussetzung aus, daß auch der vermeintliche Miterbe nach Maßgabe der angenommenen Quote Miterbe geworden ist. Es stellt sich somit nach Aufdeckung der wirklichen Erbfolge heraus, daß die Geschäftsgrundlage für die Fortsetzung der Gesellschaft auch mit dem vermeintlichen Miterben bei allen Beteiligten gefehlt hat. Das nötigt dazu, unter Anwendung der Grundsätze von der fehlerhaften Gesellschaft die Rechtsbeziehungen der Beteiligten den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen anzupassen. Danach wird im allgemeinen ein Ausschließungsgrund gegenüber dem vermeintlichen Miterben anzunehmen sein, mit der Besonderheit, daß sein Anteil nicht allen Gesellschaftern sondern nur den Miterben-Gesellschaftern nach Maßgabe ihrer jetzt festgestellten wirklichen Erbquoten zuwächst. Ein Abfindungsan24

Vgl. dazu B G H Z 22, 191 ff.

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spruch wird dem vermeintlichen Miterben im Regelfall nicht zustehen, wohl aber den wahren Miterben im Zweifel ein Ausgleichsanspruch wegen solcher Zahlungen, die dem vermeintlichen Miterben als Gewinnanteil usw. geleistet worden sind. Die Durchführung dieses Ausgleichs vollzieht sich außerhalb des Gesellschaftsverhältnisses; die Gesellschaft selbst und die übrigen Gesellschafter werden davon nicht berührt. Es ist in diesem Zusammenhang noch hervorzuheben, daß es hier für die rechtliche Beurteilung keinen Unterschied ausmacht, ob der vermeintliche Miterbe mit den übrigen Miterben durch einen Erbschein ausgewiesen war oder nicht. Denn hier müssen die wahren Miterben in jedem Fall das mit dem vermeintlichen Miterben vollzogene Gesellschaftsverhältnis zunächst einmal für die Vergangenheit hinnehmen und können deshalb für die zurückliegende Zeit namentlich auch keine Erstattungsansprüche gegen die übrigen Gesellschafter geltend machen. Der Vollzug des Gesellschaftsverhältnisses auch mit dem vermeintlichen Miterben entsprach ihrem eigenen Willen, freilich mit dem Mangel, daß dafür von vornherein die von allen Beteiligten angenommene Geschäftsgrundlage gefehlt hatte. Es kann daher das Gesellschaftsverhältnis mit dem vermeintlichen Miterben nur für die Zukunft nach den dargelegten Grundsätzen aufgelöst und abgewickelt werden. b) Für den umgekehrten Fall, daß nämlich die Beteiligten als Miterben des verstorbenen Gesellschafters eine Person zuwenig angenommen haben, daß sich also nach Aufdeckung der wirklichen Erbfolge herausstellt, daß noch eine weitere Person Miterbe ist, gilt folgendes: Hier kommt mutatis mutandis all das zur Anwendung, was oben über die Rechtsstellung des wahren Erben gegenüber den übrigen Gesellschaftern und gegenüber dem vermeintlichen Erben gesagt worden ist. Die Rechtsstellung des weiteren Miterben als Gesellschafter-Nachfolger kann durch den Irrtum der übrigen Beteiligten grundsätzlich nicht verkürzt werden. Das gilt für sein Wahlrecht nach §139 H G B ebenso wie für die Auszahlung von Gewinnanteilen und sonstige Zahlungen der Gesellschaft. Er ist nicht darauf angewiesen, wegen solcher Zahlungen Ausgleich von den Miterben zu verlangen. Er kann deswegen auch gegen die Gesellschaft und gegen die übrigen Gesellschafter vorgehen. Ihm kann namentlich nicht entgegengehalten werden, daß er für die zurückliegende Zeit den Vollzug des Gesellschaftsverhältnisses mit den übrigen Gesellschaftern gegen sich gelten lassen müsse. Denn dieser Vollzug des Gesellschaftsverhältnisses ist nicht von seinem tatsächlichen (rechtlich fehlerhaften) Willen getragen. Anders ist die Rechtslage allerdings, wenn den übrigen Miterben ein Erbschein erteilt worden war. In diesem Fall muß der weitere Miterbe rechtsgeschäftliche Maßnahmen, die Dritte - hier die übrigen Gesell-

10. D i e Stellung des vermeintlichen Erben in der O H G

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schafter und die Gesellschaft - mit den als Erben ausgewiesenen Miterben im Vertrauen auf die Richtigkeit des Erbscheins getroffen haben, hinnehmen. Schwierig ist hier die Frage, wie es mit dem Wahlrecht nach § 1 3 9 H G B steht. Das wird besonders deutlich, wenn die Miterben von diesem Wahlrecht für ihre Person einen verschiedenen Gebrauch gemacht haben. Aber auch sonst ist hier die Rechtslage anders als bei einem Alleinerben. Beim Wahlrecht eines vermeintlichen Alleinerben kann ohne weiteres gesagt werden, daß dieser das Wahlrecht des wahren Erben ausübt und daß er letzten Endes daher diese Ausübung gegen sich gelten lassen muß, sofern der vermeintliche Erbe durch einen Erbschein als Erbe ausgewiesen war. Bei den Miterben üben diese hingegen immer auch ihr eigenes Wahlrecht aus, an dessen Ausübung sie auch gebunden bleiben, wenn sich herausstellt, daß noch ein weiterer Erbe Miterbe geworden ist. Im Hinblick auf diesen Unterschied und mit Rücksicht auf die gerade hier gebotene Rechtsklarheit neige ich dazu, daß das Wahlrecht des „neuen" Miterben im Regelfall nicht dadurch verbraucht ist, daß die übrigen, zunächst durch Erbschein ausgewiesenen Miterben von ihrem Wahlrecht bereits Gebrauch gemacht haben. Die Aufdeckung der wirklichen Rechtslage stellt auch hier klar, daß der weitere Miterbe von vornherein entsprechend seiner Erbteilsquote Gesellschafter geworden ist. Das ist nunmehr auch in den Büchern der Gesellschaft richtig zu stellen. Die Kapitalanteile (und etwaige Darlehnskosten) der Miterben sind neu festzusetzen und es sind dabei die nunmehr offenbar gewordenen Erbteilsquoten der Miterben zugrunde zu legen. Das gilt auch für Gewinngutschriften, die den Miterben erteilt worden sind, beim Vorliegen eines Erbscheins allerdings nur insoweit, als diese von den fraglichen Gesellschaftern noch nicht entnommen sind. Wegen der entnommenen Gewinne kann, wie bereits hervorgehoben, der Ausgleich nur unter den Miterben vorgenommen werden. c) Abschließend soll hier noch der Fall erörtert werden, daß die übrigen Gesellschafter beim Tod eines Gesellschafters die Gesellschaft zwar mit den wahren Erben des Erblassers fortgesetzt, daß aber alle Beteiligten für die Miterben eine unzutreffende Erbquote zugrunde gelegt haben. In diesem Fall krankt das Gesellschaftsverhältnis nur daran, daß der Kapitalanteil (und etwaige sonstigen Konten) des Erblassers auf die Miterben falsch aufgeteilt worden ist. Im übrigen ist das Gesellschaftsverhältnis in Ordnung. Es erhebt sich daher hier nur die Frage, wie der aufgetretene Irrtum über die Aufteilung des Kapitalanteils für die Vergangenheit und für die Zukunft richtig zu stellen ist und welche Rechtsfolgen sich dabei im einzelnen ergeben. Die Aufteilung des Kapitalanteils des Erblassers (und seiner etwaigen sonstigen Konten) nach Maßgabe der nunmehr als richtig erkannten

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Erbquoten auf die Miterben und die Fortführung der so geschaffenen Konten bereitet an sich keine Schwierigkeiten; sie ist ein Rechenwerk, das jeder Buchsachverständige vornehmen kann. Es erhebt sich aber rechtlich gesehen die Frage, wie es mit den Gewinnanteilen zu halten ist, die den Miterben unter Berücksichtigung der unrichtigen Erbquoten gutgebracht worden sind. Für diese Frage ist es entscheidend, ob der Miterbe mit der zunächst zu hoch angenommenen Erbquote seinen gutgeschriebenen Gewinnanteil entnommen hat oder nicht. Soweit er sie nicht entnommen hat, sind die Gewinnanteile neu zu berechnen und entsprechend zu verbuchen. Soweit sie dagegen entnommen sind, ist der Ausgleich außerhalb des Gesellschaftsverhältnisses unter den betreffenden Miterben vorzunehmen. Für diesen Ausgleich gelten die allgemeinen erbrechtlichen Bestimmungen, wobei namentlich die Einschränkung der Haftung gemäß §2021 B G B zu beachten ist.

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht, auch unter Berücksichtigung der Handelsgesellschaften"" Seit 70 Jahren bemühen sich Rechtsprechung und Rechtslehre um das Problem des Mißbrauchs der Vertretungsmacht, um seine Tatbestandsmerkmale und seine Rechtsfolgen sowie um seinen Anwendungsbereich. Gleichwohl ist es, ungeachtet eines umfangreichen Rechtsprechungsmaterials und eingehender Untersuchungen im Schrifttum, bisher noch nicht gelungen, zu einigermaßen gefestigten Grundsätzen auf diesem Gebiet zu gelangen. Ein Blick in die Untersuchungen der letzten Jahre zeigt, wie sehr gerade neuerdings die Fragen in diesem Zusammenhang wieder streitig geworden sind 1 . D a bei ist in der Rechtslehre das Bemühen unverkennbar, durch neue dogmatische Ansatzpunkte dem Problem des Mißbrauchs der Vertretungsmacht Rechnung zu tragen, während in der höchstrichterlichen Rechtsprechung das Bestreben obwaltet, durch mehr allgemein gefaßte Formulierungen dem Einzelfall gerecht zu werden. Hervorzuheben ist hierbei, daß sich nach meinem Eindruck — zum Teil wohl unbemerkt — in der Rechtsprechung ein Bedeutungswandel vollzieht, der für die Bewältigung des Problems m. E. von wesentlichem Gewicht sein kann 2 . I.

Die Entwicklung der Lehre vom Mißbrauch der Vertretungsmacht nahm schon bald nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs * Aus: Gesellschaftsrecht und Unternehmensrecht. Festschrift für Wolf gang Schilling zum 65. Geburtstag am 5. Juni 1973. Hrsg. von Robert Fischer, Wolfgang Hefermehl. Walter de Gruyter, Berlin, 1973, 3-21. 1 Vgl. etwa Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Bd., 1965, S. 788 ff.; Mertens, Die Schranken gesetzlicher Vertretungsmacht in Juristische Analysen, H e f t 6 (Handels- und Gesellschaftsrecht) 1970 S. 30 ff.; Schott, Arch. f. ziv. Prax. 171, 385 ff.; Heckelmann, J Z 1970, 62 ff.; Hueck, Das Recht der offenen Handelsgesellschaft, 4. Aufl. 1971 S. 295 ff. 2 In diesem Zusammenhang gehören nicht die Fälle der Kollusion, des bewußten Zusammenwirkens von Vertreter und Vertragspartner zum Schaden des Vertretenen. Diese Fälle finden ihre sachgerechte Beurteilung im Rahmen des § 138 BGB; darüber hinaus können auch Schadensersatzansprüche des Vertretenen nach § 826 BGB in Betracht kommen (vgl. dazu schon R G Z 9 148 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts). N u r Kipp (Festgabe der Juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts 1929 2. Bd. S. 287) hat zu erwägen gegeben, auch die Kollusionsfälle in die sonstigen Mißbrauchsfälle einzuordnen und sie entsprechend seiner allgemein vertretenen Ansicht 'als Tatbestand einer Vertretung ohne Vertretungsmacht anzusehen. Auf diese vereinzelt gebliebene Auffassung ist man später — m. E. mit Recht — nicht mehr zurückgekommen.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

von der Rechtsprechung ihren Ausgang. Bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1909 hat das Reichsgericht geglaubt, die vom Bürgerlichen Gesetzbuch streng durchgeführte begriffliche Trennung von Außen- und Innenverhältnis hier nicht durchhalten zu können, sondern mit Hilfe der Einrede der Arglist gegebenenfalls Ansprüche des Geschäftspartners aus einem abgeschlossenen Vertrag mit einem Bevollmächtigten trotz bestehender Vollmacht abwehren zu müssen 3 . Auffallend an dieser Entscheidung ist es, daß sie verhältnismäßig allgemein gefaßt ist und m. E. erkennen läßt, daß das Reichsgericht damit keineswegs nur einem besonderen Einzelfall Rechnung tragen, sondern für die Rechtsprechung offenbar eine neue Entwicklungslinie aufzeigen wollte. Andererseits ist es bemerkenswert, daß diese Entscheidung eine Reihe von einschränkenden Formulierungen verwendet. Die Worte „unter offenbarem, dem Kontrahenten erkennbarem Mißbrauch" und „wenn das fragliche Geschäft von so ganz ungewöhnlicher Art wäre, daß sich der Dritte sagen müßte, der Vollmachtgeber könne ein derartiges Geschäft unmöglich im Sinne gehabt haben" 4 , deuten nach revisionsrichterlicher Erfahrung darauf hin, daß sich hier das Reichsgericht wohl noch eine Rückzugslinie offen halten, jedenfalls aber einer noch nicht voll übersehbaren Ausuferung dieser neuen Rechtsprechung durch die Instanzgerichte gegebenenfalls vorbeugen wollte. Diese Zurückhaltung hat das Reichsgericht jedoch verhältnismäßig schnell, schon nach zwei Jahren, aufgegeben und unter Benutzung der Terminologie des Bürgerlichen Gesetzbuches (vgl. § 122 Abs. 2 BGB) ausgesprochen, daß ein Dritter aus einem mit einem Vertreter abgeschlossenen Rechtsgeschäft keine Rechte herleiten könne, wenn der Vertreter seine Vollmacht mißbraucht und der Dritte dieses hätte erkennen müssen 5 . Dabei erscheint mir an dieser Entscheidung bemerkenswert, daß sie sich nicht mehr auf die Einrede der Arglist stützt, sondern sich „auf die gesetzlichen Vorschriften über die Vollmacht" beruft und den Rechtsgedanken der §§ 169/72 BGB analog heranzieht. Mit dieser Begründung stellt das Reichsgericht den allgemeinen Satz auf, daß der Vertretene geschützt ist, wenn der Dritte bei einem Vollmachtmißbrauch den Mißbrauch hätte erkennen müssen. In der Folgezeit hat das Reichsgericht in einer großen Anzahl von Entscheidungen an diesen Grundsätzen festgehalten und darüber hinaus ausgesprochen, daß diese Grundsätze auch bei der gesetzlich nicht beschränkbaren Vertretungsmacht (§§ 49, 50, 126 HGB, §§ 82, 269 Abs. 5 AktG, § 37 G m b H G , § 27 GenG) zu gelten haben 0 . 3

R G Z 71, 219. A . a. O . S. 222. 5 R G Z 75, 299. » R G Z 145, 311, 314/15. 4

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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Bei einer kritischen Beurteilung dieser Rechtsprechung ist es für einen Revisionsrichter auffallend, daß sich das Reichsgericht gar nicht auf den naheliegenden Versuch eingelassen hat, beim Vollmachtmißbrauch durch eine restriktive Auslegung der Vollmacht zu einem sachgerechten Ergebnis zu gelangen. Das hängt wohl damit zusammen, daß der Sachverhalt in der ersten dieser Entscheidungen 7 von vornherein ganz deutlich gemacht hat, daß man dem Problem auf diesem Weg nicht mit Erfolg beikommen kann 8 . Für die Entwicklung der weiteren Rechtsprechung war dieser Umstand, wie ich meine, von besonderer Bedeutung. Er nötigte nämlich die Rechtsprechung dazu, das eigentliche Problem des Mißbrauchs der Vertretungsmacht darin zu erblicken, dem Dritten Ansprüche aus dem geschlossenen Vertrag trotz bestehender Vertretungsmacht unter bestimmten Voraussetzungen zu versagen. Von hier aus wird verständlich, warum das Reichsgericht in der Folgezeit niemals auf die vom Schrifttum vertretene Meinung, das Problem des Mißbrauchs der Vertretungsmacht sei sachgerecht unter dem Gesichtspunkt der Vertretung ohne Vertretungsmacht zu lösen 9 , eingegangen ist. Andererseits muß hervorgehoben werden, daß das Reichsgericht bei seinen Darlegungen den eigentlichen Interessenwiderstreit zwischen dem Dritten und dem Vertretenen im Grunde genommen gar nicht berücksichtigt hat. Dieser Interessenwiderstreit ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß der Anstoß für das Auftreten dieses Widerstreits vom Vertretenen ausgeht, und zwar dadurch, daß er die Vertretungsmacht begründet und bei der Vollmacht ihren Umfang und die Person des Bevollmächtigten bestimmt. Dieser Gesichtspunkt der Veranlassung ist der entscheidende Gedanke für den Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches gewesen, durch die scharfe Trennung von Außen- und Innenverhältnis die Gefahr für den Mißbrauch der Vertretungsmacht dem Vertretenen aufzulasten 10 . Es ist auffallend, wie wenig dieser gesetzliche Grundgedanke in der Rechtsprechung des Reichsgerichts bei der Abwägung der sich widerstreitenden Interessen Berücksichtigung gefunden hat. Damit hängt es eng zusammen, daß die Besonderheiten bei der unbeschränkbaren Vertretungsmacht auf dem Gebiet des H a n 7

R G Z 71, 219. D e m entspricht es, daß das Reichsgericht trotz des umfangreichen Rechtsprechungsmaterials nur in einem Fall ( R G Z 143, 196) zu dem Mittel einer restriktiven Auslegung greifen konnte. Auch Schott (Arch. ziv. Prax. 171, 396) hält die Möglichkeiten für eine restriktive Auslegung in diesem Bereich für sehr gering. 9 Vgl. dazu A n m . 18, 19. 10 Vgl. dazu Schott, Arch. ziv. Prax. 171, 3 8 6 : „Das BGB entscheidet sich eindeutig für die Verkehrssicherheit und mißt der Weisungs- und Interessenwidrigkeit Bedeutung nur für das Innenverhältnis zu." 8

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

delsrechts und dem damit ausdrücklich verfolgten Schutzzweck in der Rechtsprechung des Reichsgerichts keine Beachtung gegeben worden ist 11 . Auch hängt es nach meinem Eindruck mit dieser Betrachtungsweise zusammen, daß das Reichsgericht in der Folgezeit niemals auf die immer wieder laut werdenden Bedenken der Rechtslehre gegen den zu weit gezogenen Schutz des Vollmachtgebers eingegangen ist. Nachdem es mit Hilfe der Analogie zu § 169 BGB dem Dritten auch bei leicht fahrlässigem Verhalten Ansprüche aus dem mit dem Bevollmächtigten abgeschlossenen Rechtsgeschäft versagt hatte, ohne die insoweit gegebenen Unterschiede in der Interessenlage zu erkennen 12 , hatte sich das Reichsgericht wohl die Möglichkeit genommen, in einer wertenden Beurteilung zu einer sachgerechten Abwägung der sich insoweit widerstreitenden Interessen zu gelangen und den in der Rechtslehre laut gewordenen Bedenken unter diesem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen. Auf diese Weise ist das Reichsgericht bei seiner verhältnismäßig recht schematischen Beurteilung geblieben. Die Fortführung dieser Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof erweckt zunächst den Eindruck, daß sich in dieser Hinsicht kaum etwas verändert hat. Dieser Eindruck wird dadurch hervorgerufen, daß der Bundesgerichtshof nach seiner äußeren Diktion an die Rechtsprechung des Reichsgerichts anknüpft und insoweit nicht ohne weiteres erkennen läßt, daß nunmehr in der Sache eine andere Beurteilung Raum gewinnt. Schon der Ausgangspunkt in der Betrachtungsweise des Bundesgerichtshofes ist ein grundsätzlich anderer als beim Reichsgericht. Der Bundesgerichtshof stellt an den Anfang seiner Erwägungen den zutreffenden Grundsatz, daß der Vertretene grundsätzlich das Risiko eines Vollmachtmißbrauchs zu tragen habe, und daß dem Vertragsgegner im allgemeinen eine besondere Prüfungspflicht über die Bindungen des Vertreters im Innenverhältnis nicht obliege. N u r wenn der Vertreter von seiner Vertretungsmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch gemacht habe, so daß beim Vertragsgegner begründet Zweifel hätten entstehen müssen, ob nicht ein Treueverstoß des Vertreters gegenüber dem Vertretenen vorliege, könne sich der Vertragsgegner nicht auf die Vollmacht berufen 13 . Dabei spricht der Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang davon, daß insoweit eine Abwägung der Umstände gemäß § 242 BGB geboten sei. Immerhin macht der Bundesgerichtshof in den ersten Entscheidungen mit dieser beiderseitigen Interessenabwägung noch nicht voll Ernst. Das wird besonders deutlich bei der Beurteilung, die er dem 11

Anders allerdings R G J W 1935, 1084. Vgl. dazu Stoll, Festschrift für Heinrich Lehmann 1937, S. 115 ff., 128 ff. " B G H , W M 1966, 4 9 1 ; 1968, 841.

18

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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Mißbrauch bei einer gesetzlich unbeschränkbaren Vertretungsmacht zuteil werden läßt 14 . Die Tragfähigkeit dieser neuen Beurteilung wird erst in der Entscheidung des II. Zivilsenats in B G H Z 50, 112 erkennbar. Hier wird die besondere Interessenlage bei der gesetzlich unbeschränkbaren Vertretungsbefugnis gewürdigt und demgemäß dem Dritten ein erhöhter Vertrauensschutz zugebilligt1411. Auch wird im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung dem eigenen Verschulden des Vertretenen eine entsprechende Bedeutung zugemessen und ausgesprochen, es könne nach Treu und Glauben nicht zugelassen werden, daß die sich aus einem Vollmachtmißbrauch ergebenden Nachteile dem Vertragsgegner auch dann ganz zur Last fallen, wenn der Vertretene die Gebote des eigenen Interesses im Rechtsverkehr außer acht gelassen hat, indem er die ihm zuzumutenden Kontrollmaßnahmen gegenüber seinem Vertreter unterlassen hat.

II. Die Rechtslehre hat gegenüber dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung zunächst einen zurückhaltenden Standpunkt eingenommen und an der scharfen Trennung von Innen- und Außenverhältnis festgehalten 15 . Aber zugleich werden — und zwar im Laufe der Jahre in zunehmendem Umfang — auch Stimmen laut, die sich dieser Rechtsprechung anschließen, ohne ihrerseits eine eigene dogmatische Begründung für diese Ansicht zu geben 16 . Dagegen blieb das handelsrechtliche Schrifttum anfangs fast geschlossen ablehnend und betonte, daß im Bereich des Handelsrechts bei der gesetzlich unbeschränkbaren

14 D i e beiden in sich widersprüchlichen Sätze in der Entscheidung B G H , W M 1966, 491 lassen insoweit noch eine gewisse Unsicherheit erkennen: „Es ist jedoch nicht einzusehen, warum auf diesem Teilgebiet (gemeint ist: bei der Prokura) etwas anderes gelten sollte. D i e Sicherheit des handelsrechtlichen Geschäftsverkehrs kann im Einzelfall bei der erforderlichen A b w ä g u n g der Umstände gemäß § 242 BGB in genügender Weise berücksichtigt werden." In der Entscheidung W M 1960, 612 hatte der B G H noch eine völlige Gleichstellung dieser Tatbestände mit denen der beschränkbaren (bürgerlichrechtlichen) Vollmacht vorgenommen. Ma Vgl. dazu auch schon B G H Z 26, 330, 3 3 6 / 3 7 und meine A n m . bei LM N r . 13 zu § 105 H G B , w o diese Frage ausdrücklich offen gelassen w o r d e n ist. 15 Vgl. etwa v. Thür, Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II. Band 2. H ä l f t e 1918 S. 400 Anm. 152: „Zu w e i t geht m. E. R G 75, 300, indem es Nichtigkeit des Geschäfts schon dann annimmt, w e n n der Vertreter die Vollmacht mißbrauchte und dies dem Dritten ohne grobe Fahrlässigkeit nicht unbekannt sein konnte"; ferner Oertmann K o m m . Allg. Teil 3. Aufl. 1927 § 167 Bern. 6 a. E. 18 Vgl. Planck-Flad, K o m m . BGB 4. Aufl. 1914 § 1 6 7 Gem. 7 c; Enneccerus, Der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs 7. Bearbeitung 1919 170 1, 4; Staudinger¡Riezler K o m m . BGB 9. Aufl. 1925 § 167 Bern. 8 b.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Vertretungsmacht kein R a u m für die Anwendung dieser Grundsätze sei 17 . M i t dem Aufsatz von K i p p 1 8 tritt ein grundsätzlicher Wandel in der Behandlung dieses Problems durch die Rechtslehre ein. Hier wird erstmals der Versuch unternommen, für die Auffassung des Reichsgerichts eine eigene dogmatische Begründung zu geben und die T a t bestände des Mißbrauchs der Vertretungsmacht in dem Anwendungsbereich der §§ 177 ff. B G B anzusiedeln. Der Kernsatz dieser Begründung geht dahin, daß Mißbrauch durch die Vertretungsmacht nicht gedeckt werde, daß also der Mißbrauch die Legitimation der Vertretungsmacht beseitige 19 . Des weiteren macht sich in der Rechtslehre zunehmend ein Mißbehagen gegenüber der Rechtsprechung insoweit bemerkbar, als die Meinung des Reichsgerichts, schon bei leicht fahrlässigem Verhalten des Geschäftspartners könnfe der Vertretene immer die Einrede der Arglist geltend machen, als unbefriedigend angesehen wird 2 0 . Die Untersuchungen der Rechtslehre unter diesem Gesichtspunkt liefern gewichtige Hinweise für die weitere Behandlung des Problems, weil sie der Abwägung der hierbei sich widerstreitenden Interessen ein besonderes Augenmerk zuwenden und vor allem hervorheben, daß der Vertretene der Nähere für die Schadenstragung sei, weil er den Vertreter als seinen Vertrauensmann ausgewählt hat 2 1 . „Wer sich einen Vertreter bestellt, soll sich ihn anschauen. Wenn er sich in ihm getäuscht hat, muß dies sein Schaden sein. Es ist durch nichts gerechtfertigt, daß der Geschäftsherr seinen Schaden auf den Geschäftsgegner abwälzt und von diesem verlangt, daß er mit aller Sorgfalt prüfe, ob er dem durch die Vollmacht ausgewiesenen Vertreter auch wirklich 1 7 Vgl. Wieland, Handelsrecht, l . B d . 1 9 2 1 S. 5 9 3 ; Flechtheim bei DüringerHackenburg 3. Aufl. 1 9 3 2 § 1 2 6 Bern. 9 ; Staub-Pinner 14. Aufl. 1 9 3 2 § 126, Bern. 1 5 ; Neufeld/Schwarz, K o m m . H G B 1931 § 1 2 6 , Bern. 3 ; a. M . Ritter, Komm. H G B 2. Aufl. 1 9 3 2 § 1 2 6 , Bern. 2, V o r b e m . 2 v o r § 4 8 . 1 8 In der Festgabe der Juristischen Reichsgerichts 1 9 2 9 , II. Bd. S. 2 7 3 ff.

Fakultäten

zum

50jährigen

Bestehen

des

18 Nipperdey ist sdion in der ersten v o n ihm besorgten Bearbeitung des L e h r buchs von Enneccerus 13. Bearbeitung 1 9 3 1 § 1 7 0 I 4 dieser Meinung beigetreten; ähnlich w o h l auch H . Lehmann A n m . J W 1 9 3 4 , 6 8 3 ; dagegen kritisch insoweit Stoll in der Festschrift für Heinrich Lehmann 1 9 3 7 S. 115 ff., 1 2 1 / 2 2 ; und Egger, Festgabe für Wieland 1 9 3 4 S. 5 9 . In der Folgezeit sind der Meinung von Kipp beigetreten H . Lehmann, Allg. Teil 5. Aufl. 1 9 4 6 § 3 6 I I 4 ; Staudinger/Coing §167 Bern. 17 a ; Lehmann/Hübner, Allg. Teil, 15. Aufl. S. 3 2 8 ; Larenz Allg. Teil 2. Aufl. 1 9 7 2 S. 4 7 5 / 7 6 ; Palandt/Heinrichs 3 1 . Aufl. § 1 6 7 A n m . 3 a ; für entsprechende A n w e n d u n g der § § 1 7 7 ff. B G B Soergel/Schultze-von Lassaulx K o m m . 10. Aufl. § 1 7 7 A n m . 16. 20

Egger

a. a. O . S. 6 9 ; Stoll a. a. O . S. 1 2 8 ; Lehmann

21

Egger

a. a. O .

J W 1934, 683.

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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vertrauen d a r f 2 2 . " Diese grundsätzliche Beurteilung im Ausgangsp u n k t hat dazu geführt, die Tatbestände des Mißbrauchs der Vertretungsmacht einer näheren Betrachtung zu unterziehen und zwischen pflichtwidrigem u n d treuewidrigem 2 3 oder zwischen auftragswidrigem und b e w u ß t mißbräuchlichem Verhalten des Vertreters 2 4 zu unterscheiden. In der Folgezeit verlieren diese entscheidenden Erwägungen f ü r das Mißbehagen gegenüber der A n n a h m e des Reichsgerichts und später des Bundesgerichtshofs, auch ein leicht fahrlässiges Verhalten könne die Arglisteinrede des Vertretenen begründen, ihr Gewicht. Es bleibt jedoch in der Rechtslehre bei der vielfach vertretenen Meinung, nur grob fahrlässiges Verhalten des Geschäftspartners rechtfertige es, diesem Ansprüche aus dem mit dem Vertretenen geschlossenen Geschäft zu versagen 2 5 . In F o r t f ü h r u n g der G r u n d g e d a n k e n von K i p p hat Flume 2 6 versucht, f ü r die Einordnung des Mißbrauchs der Vertretungsmacht in das Recht der Stellvertretung eine nähere Begründung zu geben und damit eine praktikable Lösung f ü r die einzelnen Mißbrauchstatbestände zu ermöglichen. Auch er schränkt wie K i p p beim Mißbrauch der Vertretungsmacht den U m f a n g der Vertretungsmacht ein und benutzt dazu das Merkmal der Evidenz des Mißbrauchs. I m m e r wenn der Vertreter z u m Nachteil des Vertretenen handelt und dieses f ü r den Geschäftspartner evident ist, werden die Grenzen der Vertretungsmacht überschritten. Ein solches H a n d e l n ist nicht mehr von der Vertretungsmacht gedeckt. Dabei ist es nach Meinung Flumes nicht notwendig, d a ß der Vertreter selbst schuldhaft gehandelt hat, so wie es auch nicht auf eine Nachprüfungspflicht des Geschäftspartners über das etwaige Vorliegen eines Mißbrauchs a n k o m m t . Maßgeblich ist vielmehr das als objektiv verstandene Kriterium der Evidenz des Mißbrauchs, das die Legitimation der Vertretungsmacht beseitigt. „Der Mißbrauch ist evident, wenn ein ,reasonable m a n ' ihn erkennen w ü r d e oder das H a n d e l n des Vertreters doch so f r a g w ü r d i g erscheint, d a ß ein ,reasonable m a n ' sich auf das Geschäft nicht einlassen w ü r d e . " Des weiteren h a t m a n versucht, der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit der Lehre von der culpa in contrahendo eine selbständige dogmatische Begründung zu geben. U n t e r diesem Gesichtspunkt läßt sich in der T a t f ü r die von der Rechtsprechung hervorgehobene 22

Stoll a. a. O . 128. Stoll a. a. O . 24 Lehmann a. a. O . 25 Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil § 1 8 3 1 5 ; Soergel/Schultze-von Lassaulx § 1 7 7 Anm. 16; Lorenz a . a . O . S. 476; einschränkend auch LehmannHübner a. a. O . ; Schott Arch. ziv.'Prax. 171, 397. 26 Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II Bd. 1965 S. 788 ff. 23

180

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Nachprüfungspflicht des Geschäftspartners eine entsprechende Rechtfertigung geben. Dagegen nötigt die Lehre von der culpa in contrahendo auch dazu, dem Geschäftspartner bei jeder — also auch leicht fahrlässigen — Verletzung der Nachprüfungspflicht Ansprüche aus dem mit dem Vertreter abgeschlossenen Rechtsgeschäft zu versagen, weil der Vertretene so zu stellen ist, wie wenn der Dritte seiner Nachprüfungspflicht nachgekommen wäre (Ersatz des negativen Interesses) 27 . Schließlich hat sich auch im handelsrechtlichen Schrifttum ein Wandel der Auffassungen vollzogen, für den zwei verschiedene, zeitlich aufeinander folgende Etappen festzustellen sind. M i t dem Ausgang der 30er J a h r e verstummen die Stimmen, die der Rechtsprechung des Reichsgerichts für die handelsrechtliche Vertretungsmacht die Gefolgschaft versagen 2 8 . Als Hueck jedoch in seiner Monographie zum Recht der offenen Handelsgesellschaft gegen die Meinung des Reichsgerichts mit eingehender Begründung erneut Bedenken erhob 2 9 , wurden die alten Bedenken gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts wieder aufgegriffen, so daß heute im handelsrechtlichen Bereich wohl allgemein der Standpunkt vertreten wird, daß die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Mißbrauch der Vertretungsmacht hier nur angewendet werden können, wenn der Vertreter bewußt zum Nachteil des Vertretenen gehandelt hat 3 0 .

III.

Dieser Überblick über den Stand der Rechtsprechung sowie der in der Rechtslehre vertretenen Meinungen vermittelt ein verwirrendes Bild, das im Grunde genommen zur Verwunderung Anlaß gibt, und zwar deshalb, weil es noch immer nicht gelungen ist, in dieser Frage zu einer einigermaßen gesicherten Ansicht zu gelangen. Dabei habe ich den Eindruck, daß die entscheidenden Gesichtspunkte für die Beurteilung dieser Frage im Laufe der langen Zeit erörtert und geprüft worden sind, und daß das umfangreiche Rechtsprechungsmaterial aus der zurückliegenden Zeit den Schluß erlaubt, daß in dieser Heckelmann, J Z 1970 S. 65, vgl. auch Lebmann, J W 34, 683. Vgl. "W.Schmidt, Komm. AktG 1. Aufl. 1939 § 74 Anm. 12; Weipert Komm. H G B 1. Aufl. 1942 § 1 2 6 Anm. 2 1 ; Bombach Komm. H G B 7. Aufl. 1945 § 1 2 6 Anm. 3 B ; anderer Meinung freilich noch Schlegelberger/Geßler, Komm. HGB 1. Aufl. 1939 § 126 Anm. 22. 2» Vgl. 1. Aufl. 1946 S. 163. 3 0 Vgl. Hachenburg/Schilling, Komm. GmbHG § 3 7 Anm. 12; Mertens Kölner Komm. AktG § 8 2 Anm. 15; Meyer-Landrut Großkomm. AktG 3. Aufl. § 8 2 Anm. 8; Robert Fischer Komm. HGB 3. Aufl. § 1 2 6 , Anm. 18; Baumbach/Duden Komm. H G B 19. Aufl. 1971 § 126 Anm. 4. 27

28

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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Frage vom Sachverhalt hör, von der Gestaltung des Tatbestands im Einzelfall keine besonderen Überraschungen mehr zu erwarten sind. Ferner läßt dieser Uberblick über den Stand der Meinungen in Rechtsprechung und Rechtslehre wohl auch mit Deutlichkeit erkennen, daß es im Ergebnis richtig gewesen ist, wenn das Reichsgericht den Mißbrauchsfällen im Vertretungsrecht eine gesonderte rechtliche Beurteilung zuteil werden ließ. Denn es erscheint im Sinne einer gerechten Entscheidung unhaltbar, das Risiko eines Mißbrauchs der Vertretungsmacht in allen Fällen allein dem Vertretenen anzulasten, also das Abstraktionsprinzip im Sinne einer scharfen Trennung von Außenund Innenverhältnis in diesen Fällen ohne Einschränkungen durchzuhalten. Die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, die diesem Abstraktionsprinzip zugrunde liegen, bedürfen, wie die lange Rechtsentwicklung offenbar lehrt, einer Korrektur im Interesse des Vertretenen, wobei freilich die rechtlich gebotene Rücksichtnahme auf die schutzwerten Belange des Vertragspartners nicht außer acht gelassen werden darf. So gesehen stellt sich das Problem der rechtlichen Behandlung der Mißbrauchsfälle im Vertretungsrecht als die Aufgabe einer sachgerechten Abwägung der sich insoweit widerstreitenden Interessen sowie der danach gebotenen sachgerechten Abgrenzung der beiderseitigen Risikobereiche dar 31 . Dabei ist die Frage nach der etwaigen Notwendigkeit einer unterschiedlichen Behandlung der einzelnen Mißbrauchstatbestände von besonderem Gewicht, da bei einer sachgerechten Abwägung und Abgrenzung diesem Umstand notwendigerweise Bedeutung zukommt. Auch müssen die Tatbestände eines Vertretungsmißbrauchs im handelsrechtlichen Bereich in diese Beurteilung einbezogen werden, weil sie nach der Erfahrung wichtige Anwendungsfälle eines solchen Mißbrauchs sind und in diesem Zusammenhang deshalb nicht unberücksichtigt bleiben können. Der Versuch, dem Problem des Vertretungsmißbrauchs durch eine Einordnung dieser Tatbestände in den Anwendungsbereich der § § 1 7 7 ff. BGB beizukommen 32 , erscheint auf den ersten Blick bestechend. Denn aus der Sicht des Vertretenen ist es zunächst ohne weiteres einleuchtend, daß der Mißbrauch einer Vertretungsmacht, namentlich der Mißbrauch einer Vollmacht, der Sache nach durch die Vertretungsbefugnis nicht gedeckt ist, daß er also aus dem Rahmen der Legitimation der Vertretungsbefugnis herausfällt. Diese Beurteilung wird aber schon zweifelhaft, wenn man an die Fälle der handelsrechtlichen, gesetzlich unbeschränkbaren Vertretungsbefugnis denkt. Ist es nicht gerade der Sinn dieser gesetzlichen Vorschriften, die 31 32

Ähnlich Schott, Arch. f. ziv. P r a x . 171, 387. Vgl. dazu oben Anm. 18, 19, 26.

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Legitimation des Vertreters auch dann bestehen zu lassen, wenn er seine Befugnis im Verhältnis zu dem Vertretenen überschreitet? Auch wird man fragen müssen, ob es vom Standpunkt des Vertragspartners nicht doch einen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob der Vertreter außerhalb der ihm zustehenden Vertretungsbefugnis handelt oder ob er die ihm zustehende Vertretungsbefugnis — im Verhältnis zum Vertretenen — mißbräuchlich ausübt. Ist es mit anderen Worten mit dem unser Recht beherrschenden Vertrauensgrundsatz vereinbar, diese beiden verschiedenartigen Sachverhalte rechtlich gleich zu behandeln und beim Mißbrauch der Vertretungsmacht davon abzusehen, daß der Vertretene durch die Übertragung der Vertretungsbefugnis den ersten Anstoß für die Möglichkeit des Mißbrauchs gegeben hat? Diese Fragen machen deutlich, daß die Lösung des Vertretungsmißbrauchs durch eine Anwendung der §§ 177 ff. B G B an dem eigentlichen Problem, nämlich an der sachgerechten Abgrenzung der beiderseitigen Risikobereiche unter Abwägung der sich insoweit widerstreitenden Interessen vorbeigeht und deshalb auf diesem Wege nicht zu einem angemessenen Ergebnis führen kann. Sinnvollerweise kann man von einem Mißbrauch der Vertretungsmacht nur sprechen, wenn eine Vertretungsmacht besteht und sie lediglich mißbräuchlich gehandhabt wird. D e r Umstand, daß es dem Reichsgericht in den ihm unterbreiteten Sachverhalten eigentlich niemals gelungen ist, durch eine restriktive Auslegung der Vertretungsmacht zu einem sachgerechten Ergebnis zu gelangen, sollte insoweit zu denken geben. Im handelsrechtlichen Bereich führt zudem die Annahme, der Mißbrauch der Vertretungsmacht stelle ein Handeln ohne Vertretungsmacht dar, zu einer bedenklichen Verwischung von Außen- und Innenverhältnis und u. U . sogar zu einer Beschränkung der Vertretungsmacht unter Berücksichtigung der für das Innenverhältnis maßgebenden Anweisungen an den Vertreter. Das halte ich für das Handeln der Organe von Kapitalgesellschaften und der vertretungsberechtigten Gesellschafter für unhaltbar und es widerspricht auch einer allgemeinen Rechtsentwicklung, wie sie erst neuerdings durch die Aktienrechtsdirektive der Europäischen K o m mission in Brüssel fortgeführt ist 3 3 . Man kann eine generell gefaßte Vertretungsbefugnis, wie sie dem Handelsrecht eigentümlich ist und wie sie im bürgerlichen Recht bei einer umfassenden Generalvollmacht vorkommt, nicht für einen Einzelfall einschränken, indem man dabei nicht etwa auf die A r t des abgeschlossenen Geschäfts, sondern auf die Zielrichtung des Vertreters beim Abschluß des Geschäfts oder auf die

33

Vgl. 1. Richtlinie des R a t s der Europäischen Gemeinschaften zur K o o r d i n i e -

rung des Gesellschaftsrechts in den E W G - M i t g l i e d s t a a t e n v o m 9. M ä r z 1 9 6 8 .

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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Auswirkung des Geschäfts für den Vertretenen abstellt 3 4 . Vollends unhaltbar wird die Einordnung der Mißbrauchsfälle in den Anwendungsbereich der §§ 177 ff. B G B aber dann, wenn man den Umfang der Vertretungsmacht davon abhängig macht, ob der Dritte beim Vertragsabschluß schuldhaft seine angenommene Prüfungspflicht verletzt hat. Denn das Verhalten dieses Dritten beim Vertragsabschluß kann für den Umfang der Vertretungsmacht nicht maßgeblich sein, weil dieser U m f a n g allein und nur durch den Vertretenen oder im handelsrechtlichen Bereich durch die entsprechende gesetzliche Regelung bestimmt wird. Diese Schwäche der von K i p p herrührenden Lehre, beim M i ß brauch der Vertretungsmacht liege ein Handeln ohne Vertretungsmacht vor, hat wohl auch Flume 3 5 empfunden und deshalb versucht, in diesen Fällen durch das objektiv gefaßte Merkmal der Evidenz zu einer Beschränkung der Vertretungsmacht zu gelangen. Dabei umfaßt dieses Merkmal der Evidenz nicht nur das Vorliegen eines für den Vertretenen nachteiligen Geschäfts, sondern zugleich auch das V o r liegen eines dem Willen oder den Weisungen des Vertretenen nicht entsprechenden Geschäfts. Denn für Flume muß der Mißbrauch evident sein. Dazu gehört auch, daß der Vertreter abredewidrig oder treuewidrig gehandelt hat. Betrachtet man jedoch dieses Merkmal der Evidenz mit dem Rückgriff auf den reasonable man näher, so ist es im Grunde genommen nichts anderes als das, was nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch mit dem objektiv gefaßten Fahrlässigkeitsbegriff, nämlich mit der im Rechtsverkehr allgemein für erforderlich gehaltenen Sorgfalt umschrieben ist. Denn diese Sorgfalt ist nichts anderes als das, wonach ein reasonable man sein Tun und Lassen einrichtet, so daß man für die Worte reasonable man auch die schlichten deutschen Worte verständiger oder ordentlicher Mann setzen kann. Der Rückgriff Flumes auf den reasonable man erweist sich praktisch nur als eine Umschreibung der in § 2 7 6 B G B festgelegten Sorgfalt und bleibt im Ergebnis bei der Annahme Kipps, daß bei schuldhaftem Verhalten des Geschäftspartners, nämlich dann, wenn er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (reasonable man) nicht beachtet, ein Mißbrauch der Vertretungsmacht, ein Handeln des Vertreters ohne Vertretungsmacht darstellt. Angesichts dieser Beurteilung sprechen auch gegen die Meinung von Flume dieselben Bedenken, die bereits oben gegen die Meinung von Kipp dargelegt worden sind.

3 4 Von diesem Standpunkt aus müßte man vor allem und erst recht die sog. Kollusionsfälle (Anm. 3) als ein Handeln ohne Vertretungsmacht ansehen und entsprechend behandeln. Das tut man aber — mit Ausnahme von Kipp — nicht. 3 5 Vgl. Anm. 26.

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Man sollte demgegenüber an der schon vom Reichsgericht vertretenen Meinung festhalten, daß bei Mißbrauch einer Vertretungsmacht das Handeln des Vertreters zwar von der Legitimation der Vertretungsmacht formell gedeckt ist, daß aber die Berufung auf diese Vertretungsmacht im Einzelfall rechtsmißbräuchlich sein kann und deshalb von der Rechtordnung nicht anerkannt wird. Aus dieser Sicht ist es für die Bewältigung des Problems der Mißbrauchsfälle die entscheidende Frage, wann ein solcher Rechtsmißbrauch angenommen werden muß, und welche rechtlichen Gesichtspunkte für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung sind. Unter den hierbei in Betracht kommenden Gesichtspunkten spielt der Vertrauensgrundsatz eine gewichtige Rolle. Dieser Vertrauensgrundsatz prägt in weitem Umfang das gesamte Vertretungsrecht. Er bildet nicht nur die Grundlage f ü r die geltende gesetzliche Regelung, sondern hat darüber hinaus in der Rechtsfigur der Anscheinsvollmacht eine weitere selbständige Bedeutung erlangt. Die Behandlung der Anscheinsvollmacht, wie sie trotz mancher unterschiedlichen Auffassungen heute in Rechtsprechung und Rechtslehre anerkannt ist 36 , kann, wie ich meine, sachgerechte Hinweise auch für die Behandlung des Mißbrauchs der Vertretungsmacht geben. Die Anscheinsvollmacht ist gewissermaßen das Gegenstück zum Vollmachtsmißbrauch. Bei der Anscheinsvollmacht geht es darum, unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsperson das Handeln eines anderen trotz fehlender Vollmacht wie das Handeln eines Vertreters gegen sich gelten lassen muß (extensive Ausdehnung des Vollmachtsrechts über den Rahmen einer Vollmacht hinaus), bei dem Vollmachtsmißbrauch hingegen darum, unter welchen Voraussetzungen ein Vollmachtgeber das Handeln seines Vertreters trotz bestehender Vollmacht nicht gegen sich gelten zu lassen braucht (restriktive Einschränkung des Vollmachtsrechts trotz bestehender Vollmacht). Bei der Anscheinsvollmacht gilt heute allgemein der Grundsatz, daß der Geschäftsherr das Handeln des angeblich Bevollmächtigten gegen sich gelten lassen muß, wenn er dieses bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen müssen und hätte verhindern können, und wenn zugleich der Geschäftspartner die gegebenen Umstände nach Treu und Glauben so deuten durfte, daß der Geschäftsherr dem „Vertreter" Vollmacht erteilt habe 37 . Das bedeutet, daß der Geschäftsherr bei Vorliegen eines ausreichenden Rechtsscheins das Handeln des angeblich Bevollmächtigten immer gegen sich gelten lassen muß, wenn dem Geschäftspart36 Vgl. über den Stand der unterschiedlichen Auffassungen Lassaulx § 167 Bern. 17 ff. 37 B G H Z 5, 111, 116; LM N r . 4 zu § 167 BGB.

Soergel/Schultze-von

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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ner bei der Deutung des Rechtsscheins eine Verletzung der im Verkehr gebotenen Sorgfalt nicht vorzuwerfen ist. Denn immer dann, wenn der Geschäftspartner diese Sorgfalt beachtet, wird man sagen müssen, daß er den vorliegenden Rechtsschein im Sinne einer Vollmachtserteilung deuten durfte. Bei einem Vergleich des gebotenen Schutzbedürfnisses für den Geschäftsherrn einmal bei der Anscheinsvollmacht und zum anderen bei dem Vollmachtsmißbrauch drängt sich die Folgerung auf, daß dieses Schutzbedürfnis im Fall der Anscheinsvollmacht größer ist, so wie umgekehrt das Schutzbedürfnis für den Geschäftspartner bei dem Vollmachtsmißbrauch das größere ist. Denn beim Vollmachtsmißbrauch hat der Geschäftsherr (Vollmachtgeber) eine wirksame Vollmacht erteilt und dem Vertreter die Wahrnehmung seiner Interessen wirksam übertragen. Das ist mehr, als wenn nur der Rechtsschein gegeben ist, den der Geschäftsherr hätte erkennen müssen und hätte verhindern können. Bei dieser Sachlage erscheint es mir zwingend, den Vertrauensschutz zugunsten des Geschäftspartners beim Vollmachtsmißbrauch stärker auszugestalten als bei der Anscheinsvollmacht. Das bedeutet, daß nicht schon jede, also nicht jede leichte Fahrlässigkeit auf seiten des Geschäftspartners genügen kann, um ihm Ansprüche aus dem mit dem Vertreter abgeschlossenen Rechtsgeschäft zu versagen. Mit einer solchen Lösung trägt man auch dem in der neueren Rechtsprechung zum Ausdruck gekommenen Grundsatz m. E. in sachgerechter Weise Rechnung, daß nämlich der Vertretene grundsätzlich das Risiko eines Vollmachtsmißbrauchs zu tragen habe und daß dem Vertragsgegner im allgemeinen eine besondere Prüfungspflicht über die Bindungen des Vertreters im Innenverhältnis nicht obliege. Des weiteren kann man bei einer umfassenden Beurteilung aller Umstände, die hier im Rahmen einer sachgerechten Abwägung der Interessen geboten ist, nicht unberücksichtigt lassen, in welcher Weise der Vertreter von seiner Vertretungsmacht mißbräuchlich Gebrauch gemacht hat. H a t er beim Vertragsabschluß lediglich Weisungen des Vertretenen mißachtet, ohne bewußt gegen dessen Interessen zu verstoßen, so erscheint der Vertretene nach Treu und Glauben weniger schutzwürdig, als wenn der Vertreter beim Vertragsabschluß treuwidrig gegen die Interessen des Vertretenen verstoßen und ihm dadurch bewußt Nachteile zugefügt hat. Ich meine, daß man diesem Umstand in der Interessenlage auch rechtlichen Ausdruck geben sollte. Das kann wohl allein dadurch geschehen, daß man die subjektiven Anforderungen an die Sorgfaltpflicht des Geschäftspartners unterschiedlich ausgestaltet und entsprechend abstuft. Für eine solche Abstufung bietet sich m. E - die Annahme an, daß dem Geschäftspartner der abredewidrige Gebrauch der Vollmacht vom Vertretenen nach

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Treu und Glauben nur entgegengehalten werden kann, wenn der Geschäftspartner den abredewidrigen Gebrauch gekannt hat, nicht aber auch schon dann, wenn ihm das infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist. Denn der Vollmachtgeber hat das Risiko eines solchen Mißbrauchs durch den weitgefaßten U m f a n g der von ihm erteilten Vollmacht bewußt auf sich genommen und es sollte dieses Risiko bei nur abredewidrigem Gebrauch der Vollmacht dem Geschäftspartner nicht aufgelastet werden, indem man ihm auch in solchen Fällen eine irgendwie geartete Prüfungspflicht auferlegt. Das kann m. E. auch bei einer sachgerechten Berücksichtigung der Interessen des Vertretenen von einem redlichen Rechtsverkehr nicht gefordert werden. Insofern muß sich der Rechtsverkehr auf die vom Vollmachtgeber selbst geschaffene Rechtslage verlassen können. N u r wenn der Vertragspartner weiß, daß der Vertreter in dem konkreten Fall die ihm erteilten Weisungen mißachtet, erscheint es vom Standpunkt eines redlichen Rechtsverkehrs aus gerechtfertigt und vertretbar, daß der Vertragspartner Vorsicht walten läßt und sich z. B. durch Rückfrage bei dem Vertretenen Gewißheit darüber verschafft, ob er das Geschäft trotz der Mißachtung der von ihm erteilten Weisungen gegen sich gelten lassen will 3 8 . Bei der gebotenen Abwägung der beiderseitigen schutzwerten Belange ist es m. E. notwendig, dem Schutz der Interessen des Vertretenen ein größeres Gewicht beizumessen, wenn der Vertreter beim Abschluß des Geschäfts bewußt zum Nachteil des Vertretenen handelt. Hier ist es gerade auch vom Standpunkt eines redlichen Rechtsverkehrs aus gerechtfertigt und vertretbar, von dem Vertragspartner eine größere Rücksichtnahme auf die Interessen des Vertretenen zu verlangen. Bei einem ungetreuen Vertreter ist das Vertrauen des Vollmachtgebers in einem sehr viel stärkerem Maße getäuscht worden, als bei einem nur abredewidrigen Gebrauch der Vollmacht 3 9 . Auch besteht vom Standpunkt des redlichen Rechtsverkehrs aus in diesem Fall ein sehr viel größeres Bedürfnis, einem solchen Mißbrauch der Vollmacht entgegenzutreten. Diesem Bedürfnis muß bei einer sachgerechten Abwägung der hier in Betracht kommenden Interessen auch der Vertragspartner Rechnung tragen, weil auch er in seinem Ver3 8 D i e Bedenken, die Mertens a . a . O . (Anm. 1) S. 477 gegen eine etwaige Pflicht zur R ü c k f r a g e geäußert hat, sind m. E. bei positiver Kenntnis von der Mißachtung der erteilten Weisungen nicht allzu ernst zu nehmne; sie haben wohl nur dann Bedeutung, wenn diese Pflicht dem Vertragspartner auch schon bei einem bloßen Verdacht auferlegt wird. 3 9 Bei einem abredewidrigen Gebrauch der Vollmacht k a n n der Vertreter im E i n z e l f a l l durchaus — und z w a r mitunter auch zu Redht — der Meinung sein, damit in sinnvoller Weise den Interessen seines Vollmachtgebers zu entsprechen.

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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halten den Anforderungen eines redlichen Rechtsverkehrs entsprechen muß. Aus diesem Grund erscheint es mir angebracht, dem Vollmachtgeber den Einwand des Rechtsmißbrauchs nicht nur zu geben, wenn dem Vertragspartner die Benachteiligungsabsicht des Vertreters bekannt gewesen war, sondern auch dann, wenn sie ihm infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben war. Dagegen ist es m. E. nicht richtig, den Fällen des bewußt nachteiligen Vollmachtsmißbrauchs auch die Fälle gleichzustellen, in denen der Vertreter in Ausübung seiner Vollmacht, aber abredewidrig ein Rechtsgeschäft vorgenommen hat, das f ü r den Vertretenen nachteilig gewesen war oder sich später als nachteilig herausgestellt hat, in denen aber der Vertreter nicht vorsätzlich zum Nachteil des Vertretenen gehandelt hat. Diese Tatbestände sind vom Standpunkt des redlichen Rechtsverkehrs aus ungleich weniger schwerwiegend als die vom Vertreter bewußt nachteilig vorgenommenen Rechtsgeschäfte, so daß es auch gerechtfertigt erscheint, insoweit die Anforderungen an das Verhalten des Vertragspartners geringer zu halten. Auch könnte es für die Sicherheit des Rechtsverkehrs nur schwer hingenommen werden, dem Vertragspartner beim Abschluß des Geschäfts die Pflicht aufzuerlegen, sich Gedanken darüber zu machen, welche wirtschaftlichen Folgen das Geschäft für den Vollmachtgeber haben würde oder haben könnte. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der für die gerechte Abwägung der beiderseitigen Interessen von hoher Bedeutung ist und auf den die Entscheidung B G H Z 50, 112 das erste Mal hingewiesen hat, nämlich auf die N o t wendigkeit, in diesem Rahmen auch das Verhalten des Vollmachtgebers, namentlich seine Nachlässigkeit bei der Überwachung des Vertreters, soweit eine solche nach der Verkehrsübung angebracht- ist und erwartet werden kann, entsprechend zu berücksichtigen. Der Sachverhalt der genannten Entscheidung gibt hierfür ein bemerkenswertes und anschauliches Beispiel. Es entspricht einer allgemeinen Rechtsübung, im Rahmen einer Abwägung nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB das beiderseitige Verhalten der Vertragsparteien zu berücksichtigen, und es ist kein Grund ersichtlich, davon bei der Beurteilung der Rechtsfolgen eines Vollmachtsmißbrauchs abzusehen 40 . Das nachlässige Verhalten des Vollmachtgebers kann bei einem Rechtsgeschäft, das der Vertreter unter Verletzung der ihm erteilten 40

Wenn der Bundesgerichtshof als Rechtsgrundlage für eine soldie Berücksichtigung des Verschuldens des Vollmachtgebers die Vorschrift des § 254 BGB heranzieht, so mag das angreifbar sein, wie Heckelmann, JZ 1970, 63 dargelegt hat. Im Rahmen des § 242 BGB ist eine solche Berücksichtigung aber jedenfalls notwendig (ebenso Mertens a. a. O. S. 477).

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Weisungen, und zwar in Kenntnis des Vertragspartners abgeschlossen hat, dazu führen, daß bei objektiver Betrachtung aller Umstände der Vertreter das Verhalten des Vollmachtgebers nach Treu und Glauben so deuten durfte, daß der Vollmachtgeber auf die von ihm erteilten Weisungen keinen wesentlichen Wert legt. In einem solchen Fall kann sich dann der Vollmachtgeber auch nicht darauf berufen, daß der Vertreter die ihm erteilten Weisungen mißachtet hat und dieses dem Vertragspartner bekannt gewesen ist. Handelt hingegen der Vertreter bewußt zum Nachteil des Vollmachtgebers, so kann bei einer gerechten Abwägung der einander widerstreitenden Interessen die Nachlässigkeit des Vollmachtgebers von so entscheidendem Gewicht sein, daß demgegenüber das Verschulden des Vertragspartners völlig zurücktritt. D i e Abwägung kann aber auch dazu führen — und zwar ähnlich wie im Rahmen dés § 254 B G B —, daß beiden Vertragsparteien in einem so oder so gearteten Verhältnis ihr schuldhaftes Verhalten anzulasten ist. In einem solchen Fall ist die Rechtslage diesen Verhältnissen entsprechend anzupassen. Ist z. B. ein anderweit nicht zu ersetzender Schaden entstanden 4 1 , so ist dann zwischen dem Vollmachtgeber und dem Vertragspartner der entstandene Schaden anteilig aufzuteilen. Einen Anspruch auf Erfüllung des abgeschlossenen Vertrages wird man in diesen Fällen dem Vertragspartner im allgemeinen nicht zubilligen können. Hingegen kommt aber in solchen Fällen ein Anspruch des Vertragspartners auf (anteiligen) Ersatz seines Vertrauensschadens in Betracht. Ein Wort ist noch zu der in der Rechtslehre vertretenen Meinung zu sagen, die Tatbestände des Vollmachtsmißbrauchs seien nach den allgemeinen Grundsätzen der Lehre von der culpa in contrahendo zu beurteilen. Dieser Meinung kann ich nicht beitreten, weil sie den Besonderheiten der hier gegebenen Verhältnisse und der hier zu beurteilenden Umstände nicht gerecht zu werden vermag. Zwar ist anzuerkennen, daß dem Vertragspartner bei einem Vollmachtsmißbrauch gewisse Verhaltenspflichten auferlegt werden und daß er diese Pflichten bei den Vertragsverhandlungen auch beachten muß. Aber es handelt sich dabei nicht um die allgemeinen Pflichten, die jedermann bei der Eingehung von Vertragsverhandlungen einhalten muß. Die Pflichten des Vertragspartners angesichts eines Vollmachtsmißbrauchs sind besondere Pflichten, die ihn nur und allein wegen des Vollmachtsmißbrauchs treffen und die deshalb auch einer besonderen rechtlichen Ausgestaltung bedürfen. Sie gehen nicht in den allgemei41 Der V e r t r a g s p a r t n e r ist e t w a seiner Leistungsverpflichtung gegenüber dem Vertretenen nachgekommen, k a n n aber v o n dem ungetreuen Vertreter keinen E r s a t z verlangen.

11. D e r Mißbrauch der Vertretungsmacht

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nen Pfliditenkreis ein, der durch die Lehre von der culpa in contrahendo umschrieben wird 42 . Für den handelsrechtlichen Bereich gelten Besonderheiten. In diesem Bereich ist die Vertretungsmacht (Prokura, Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter einer O H G oder K G , Vertretungsmacht der Organe von Handelsgesellschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit) zwingend dahin geregelt, daß der Umfang der Vertretungsmacht gesetzlich umfassend bestimmt ist und Beschränkungen im Innenverhältnis nicht den Umfang der Vertretungsmacht nach außen berühren (§§ 49/50, 126 H G B , §§ 82, 269 Abs. 5 AktG, § 37 GmbHG, § 27 GenG). Dieser gesetzlichen Regelung liegt der Gedanke zugrunde, daß es im Interesse der Rechtssicherheit geboten ist, in diesem Bereich ganz allgemein klare Rechtsverhältnisse zu schaffen und demgemäß den Rechtsverkehr von einer Prüfung über den Umfang der Vertretungsmacht in jedem Einzelfall freizustellen. Dieses Interesse der Rechtssicherheit im handelsrechtlichen Bereich wird so hoch bewertet, daß der Gesetzgeber nicht nur den Umfang der Vertretungsmacht für den Regelfall bestimmt, sondern daß er darüber hinaus dieser Regelung auch zwingenden Charakter für jeden Einzelfall beigelegt hat. Diesem Interesse an besonderer Rechtssicherheit in diesem Bereich muß auch bei der Behandlung der Mißbrauchsfälle entsprechend Rechnung getragen und dabei namentlich sichergestellt werden, daß die vom Gesetz bezweckte Rechtsklarheit auf diesem Gebiet nicht über Gebühr beeinträchtigt wird 43 . Vor allem ist es nicht vertretbar, dem Vertragspartner eine allgemeine Prüfungspflicht darüber aufzuerlegen, wie das Verhalten des Vertreters in seinem Verhältnis zu dem Vertretenen im einzelnen zu beurteilen und ob dieses mit den Weisungen an den Vertreter zu vereinbaren ist. Denn damit würde die gesetzliche Regelung, die den umfassenden Bereich der Vertretungsmacht zwingend festgelegt hat und damit den Vertragspartner von jeder Prüfung in dieser Richtung freistellt, in einem weiten Umfang aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt. Das gilt namentlich, wenn man mit der Rechtsprechung, wie sie bis zur Entscheidung B G H Z 50, 112 allgemein gehandhabt wurde, auch in diesem Bereich bei jedem Mißbrauch, also auch schon bei einem intern 4 2 D a s hat das Reichsgericht in seiner Entscheidung J W 1 9 3 5 , 1 0 8 4 richtig erkannt, in der das Gericht es ablehnt, eine selbständige Prüfungspflicht auf dem Wege über die Lehre von der culpa in c o n t r a h e n d o zu bejahen und unter diesem ganz allgemeinen Gesichtspunkt die Mißbrauchsfälle abschließend zu beurteilen. 4 3 Aus dieser Sicht heraus ist es nicht verständlich, d a ß in der Rechtsprechung wiederholt (vgl. R G Z 1 4 5 , 3 1 1 , 3 1 5 ; B G H W M 1 9 6 6 , 4 9 1 ) mit besonderer B e tonung hervorgehoben w o r d e n ist, es sei kein G r u n d ersichtlich, den Mißbrauch bei einer gesetzlich geregelten Vertretungsmacht anders zu behandeln.

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weisungswidrigen Gebrauch der Vertretungsmacht dem Vertragspartner Ansprüche aus einem geschlossenen Vertrag versagt, falls er auch nur leicht fahrlässig den Mißbrauch nicht erkannt hat. Wenn man mit dem Gedanken ernst macht, der für die .gesetzliche Regelung der §§ 4 9 / 5 0 , 126 H G B , §§ 82, 2 6 9 Abs. 5 A k t G , § 3 7 G m b H G , § 27 G e n G maßgeblich ist, dann muß man den Mißbrauch der Vertretungsmacht, der lediglich darin besteht, daß der Vertreter die ihm gegebenen internen Weisungen mißachtet, für rechtlich bedeutungslos halten. Das gilt nicht nur dann, wenn der Vertragspartner diese Mißachtung nicht erkannt hat, sondern auch dann, wenn sie ihm bei Vertragsabschluß bekannt gewesen ist. Allein eine solche Beurteilung wird dem Umstand gerecht, daß sich der Vertragspartner in diesem Bereich überhaupt nicht um die internen Beziehungen zwischen dem Vertreter und seiner Gesellschaft (oder seinem Prinzipal) zu kümmern braucht und sie bei seinem Verhalten unberücksichtigt lassen darf. Es ist nicht seine Sache darüber zu wachen, daß der Vertreter die ihm erteilten Weisungen befolgt, oder sich Gedanken darüber zu machen, warum er ihnen in dem gegebenen Einzelfall nicht nachkommt. D e r Vertreter mag als eigenverantwortlicher Vorstand (§ 76 Abs. 1 A k t G ) oder als wirtschaftlich unmittelbar interessierter Gesellschafter (Mitträger des Unternehmens) seine guten Gründe dafür haben, die er im Innenverhältnis auch durchaus rechtfertigen zu können glaubt. U m diese internen Verhältnisse braucht sich der Vertragspartner nicht zu kümmern. Man kann ihm nach Treu und Glauben nicht eine irgendwie geartete Rechtspflicht auferlegen, dafür zu sorgen, daß im handelsrechtlichen Bereich der Vertreter die internen Weisungen befolgt. Aus diesem Grunde halte ich es mit der heute herrschenden Meinung 4 4 für richtig, daß bei einer Mißachtung der internen Weisungen durch den Vertreter dem Vertragspartner Ansprüche aus dem abgeschlossenen Vertrag auch dann zustehen, wenn ihm diese Mißachtung bekannt gewesen ist. Unabhängig hiervon ist die Frage, wie es sich verhält, wenn der Vertreter bewußt zum Nachteil seiner Gesellschaft (oder seines Prinzipals) gehandelt hat. Bei der Beantwortung dieser Frage wird man m. E . den Besonderheiten der handelsrechtlichen Vertretungsmacht, namentlich dem zwingenden Charakter des Umfangs dieser Vertretungsmacht kein entscheidendes Gewicht beimessen können. Denn dieser zwingende Charakter hat mit der Berücksichtigung von Treu und Glauben, so wie sie für die Einschränkungen bei einer bewußt zum Nachteil des Vertretenen ausgeübten Vertretungsmacht von Bedeu-

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Vgl. B G H Z 50, 112 und die Nachweise in A n m . 2 9 , 3 0 .

11. Der Mißbrauch der Vertretungsmacht

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tung ist, im Grunde gar nicht zu tun. In der gleichen Weise wie bei der bürgerlichrechtlichen Vollmacht muß auch in diesem Bereich der redliche Rechtsverkehr geschützt werden. Unredliche Schädigungen der Gesellschaft (oder des Prinzipals) erscheinen auch mit Rücksicht auf den zwingenden Charakter des Umfangs der Vertretungsmacht nicht weniger schutzwürdig als bei der bürgerlichrechtlichen Vollmacht. Völlig zweifelsfrei erscheint es mir, unter diesem Gesichtspunkt dem Vertretenen auch im handelsrechtlichen Bereich die Einrede der Arglist zuzubilligen, wenn dem Vertragspartner bekannt war, daß der Vertreter mit dem Abschluß des Vertrages die Interessen des von ihm Vertretenen schädigen wollte. Denn ein solches Verhalten des Vertragspartnern kann nach Treu und Glauben keinesfalls hingenommen werden. Zweifelhaft erscheint mir hingegen, ob das gleiche zu gelten hat, wenn dem Vertragspartner der Schädigungsvorsatz des Vertreters nur infolge grober -Fahrlässigkeit unbekannt geblieben war. Ich möchte meinen, daß man diese Frage bejahen sollte. Denn wenn die Sachlage so ist, daß sich f ü r einen objektiven Beurteiler ein solcher Vorsatz geradezu aufdrängt, daß der Vertragspartner die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlichem Maß verletzt hat, dann ist es bei gerechter Abwägung der sich insoweit widerstreitenden Interessen nach Treu und Glauben m. E. auch gerechtfertigt, dem Vertragspartner Ansprüche aus dem geschlossenen Vertrag zu versagen. Freilich wird man in diesem Zusammenhang auch immer die Frage aufwerfen müssen, ob den Vertretenen nicht ebenfalls ein Verschulden bei der Auswahl oder der Überwachung seines Vertreters trifft. Das gilt namentlich dann, wenn durch das ungetreue Verhalten des Vertreters ein Schaden entstanden und demgemäß zu entscheiden ist, wer im Verhältnis zwischen Vertretenem und Vertragspartner diesen Schaden zu tragen hat. Dabei wird man m. E. zu berücksichtigen haben, daß es bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände insoweit einen Unterschied ausmacht, ob der Vertragspartner Ansprüche aus dem abgeschlossenen Vertrag gegen den Vertretenen geltend macht oder ob er von diesem Ersatz des ihm selbst entstandenen Vertrauensschadens verlangt. Insoweit sollte man hier dem Gesichtspunkt besonders Rechnung tragen, daß nämlich der Vertragspartner sich nach dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung nicht um das Verhältnis Vertreter/Vertretener zu kümmern braucht. Im übrigen gelten für den Mißbrauch der Vertretungsmacht im handelsrechtlichen Bereich keine Besonderheiten, so daß insoweit auf die Ausführungen zur bürgerlichrechtlichen Vollmacht verwiesen werden kann.

12. Gedanken über einen Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften* Erst nach einer langen leidvollen Entwicklung hat sich die Notwendigkeit erwiesen, im Aktienrecht zur Wahrung eines gerechten Interessenausgleichs für die verschiedenen Gruppen von Aktionären einen durchgreifenden Minderheitenschutz zu gewährleisten. Der ursprüngliche Optimismus, die Mehrheit in der Generalversammlung (Hauptversammlung) werde schon im eigenen Interesse die berechtigten Belange des gemeinsamen Unternehmens vertreten, wurde durch die rauhe Wirklichkeit enttäuscht. Gleichwohl hielt sich das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung erstaunlich lange an das gesetzliche Leitbild, wie es in der amtlichen Begründung zur Aktienrechtsnovelle 1884 zum Ausdruck gekommen war 1 . Noch im Jahre 1907 sprach das Reichsgericht den für uns heute nicht mehr verständlichen Satz aus: „ D a s ist eine unabwendbare Folge des im Gesetz zur Anerkennung gelangten Grundsatzes, daß die Mehrheit der Aktienbesitzer über die Verwaltung der Gesellschaft und darüber entscheidet, was im Interesse der Gesellschaft und ihrer Aktionäre zu tun und zu lassen ist. Mit dieser Tatsache muß sich jeder abgefunden haben, der Aktien erwirbt" 2 . Die Erfahrungen mit dem Mißbrauch der Mehrheitsherrschaft, die in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zuweilen skrupellos zur Verfolgung eigensüditiger Sonderinteressen eingesetzt worden war, haben im L a u f e der folgenden Jahrzehnte zu der gesicherten Erkenntnis geführt, daß der Mehrheitsherrschaft immanente Schranken gezogen sind und daß den einzelnen Aktionären zur Wahrung ihrer Interessen zwingende Schutzrechte innerhalb der Gesellschaft zustehen müssen. Auf dieser Erkenntnis beruht der Ausbau eines durchgreifenden Minderheitenschutzes, wie er für die Aktiengesell* A u s : Wirtschaftsfragen der Gegenwart. Festschrift für Carl Hans Barz zum 65. Geburtstag am 6. Dezember 1974. Hrsg. von Robert Fischer, Philipp Möhring, Harry Westermann. - Walter de Gruyter, Berlin, 1974, 33-48. 1 „Individualrechte müssen, sofern sie überhaupt zugelassen werden, immer als eine notwendige A u s n a h m e erscheinen. Der Regel nach muß man von dem G r u n d satz ausgehen, d a ß die Gesellschaftsorgane die ihnen durch Gesetz oder S t a t u t verliehenen Befugnisse legal ausüben . . . und d a ß auch die G e n e r a l v e r s a m m l u n g in ihren Mehrheitsbeschlüssen nicht die Sonderinteressen einzelner A k t i o n ä r e , sondern das Interesse des G a n z e n verfolgt. D a r a u f beruht das Wesen einer Aktiengesellschaft u n d ihrer O r g a n i s a t i o n . " Allgemeine B e g r ü n d u n g z u m Gesetz betr. die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften S. 155/56. 1 R G Z 68, 2 4 6 ; d a z u schon d a m a l s mit Recht kritisch Bondi D J Z 1908, 1007: „ N o c h niemals ist die brutale Macht der Aktienmehrheit gegenüber der Minderheit in einem Urteil schärfer betont w e r d e n . "

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schaft in den Aktiengesetzen von 1937 und verstärkt von 1965 gesetzlich verankert und wie er für die G m b H in Anlehnung an diese Vorschriften von der Rechtsprechung ausgebildet worden ist.

I. Es mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, daß es für das Recht der Personenhandelsgesellschaften an einer gleichen oder ähnlichen Entwicklung wie im Aktienrecht und im Recht der G m b H fehlt, und daß es hier bisher nicht zur Anerkennung eines entsprechenden Schutzbereichs für den einzelnen Gesellschafter gekommen ist. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig, ohne daß jedoch nach meinem Eindruck gesagt werden kann, daß sie zwingend gegen eine ähnliche Entwicklung sprechen. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß insoweit Unterschiede zwischen dem Recht der Kapitalgesellschaften und der Personenhandelsgesellschaften bestehen, und daß es bei diesen wohl ungleich schwieriger ist, die Grenzen für einen solchen Schutzbereich zugunsten des einzelnen Gesellschafters zu ziehen. 1.

Für den Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts stellte sich die Frage nach einem besonderen Schutzbereich für den einzelnen Gesellschafter nicht, da er — im Unterschied zu den Kapitalgesellschaften — hier den Gesellschaftern mit der Zubilligung der Vertragsfreiheit die sachgerechte Wahrnehmung ihrer Interessen selbst überließ und damit die Erwartung verband, daß diese Gestaltungsfreiheit die sicherste Gewähr für eine auch sachlich gerechte Regelung des jeweiligen Gesellschaftsverhältnisses bietet 3 . Dabei wurde — und zwar auch hier im Unterschied zum Recht der Kapitalgesellschaften — die Zubilligung der Vertragsfreiheit mit dem Grundsatz der Einstimmigkeit bei der Fassung von Gesellschafterbeschlüssen verknüpft und so dem einzelnen Gesellschafter die Möglichkeit eröffnet, auch im weiteren Zeitablauf auf die Gestaltung des Gesellschaftsverhältnisses den seinen Interessen dienenden Einfluß zu nehmen. Bei dem Grundsatz der Einstimmigkeit blieb ihm namentlich die Möglichkeit, Beschlüsse in entscheidenden Fragen, besonders bei der Umgestaltung des Gesellschaftsverhältnisses durch eine Verweigerung seiner Zustimmung zu verhindern.

3 Diese R e g e l u n g und die ihr zugrundeliegende Vorstellung des Gesetzgebers spielt bei der Rechtsanwendung noch heute eine entscheidende Rolle, wenngleich diese ständig bemüht ist, bei der Rechtsanwendung den heutigen Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung zu tragen.

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

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I n der Rechtswirklichkeit wurde dieser G r u n d s a t z der E i n s t i m m i g keit freilich in weitem U m f a n g aufgehoben und vielfach von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine spätere Änderung des Gesellschaftsverhältnisses im W e g e von M e h r h e i t s beschlüssen herbeizuführen. F ü r den damaligen Gesetzgeber erschien die E i n r ä u m u n g auch dieser Möglichkeit nicht problematisch, weil sie eine Willensübereinstimmung aller Gesellschafter voraussetzt und der Gesetzgeber der Meinung war, diese Entscheidung zur H e r b e i f ü h r u n g einer sachgerechten und angemessenen Regelung des Gesellschaftsverhältnisses den Gesellschaftern überlassen zu k ö n n e n . D a m i t haben die Schwierigkeiten, die sich für den überstimmten Gesellschafter bei Mehrheitsbeschlüssen ergeben, auch bei den Personengesellschaften E i n g a n g gefunden. 2. Ein weiterer Unterschied zum Recht der Kapitalgesellschaften, der in diesem Z u s a m m e n h a n g von Bedeutung ist, hängt m i t der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse im Bereich der Personenhandelsgesellschaften zusammen, die sich einer Formalisierung der Rechtsstellung des einzelnen Gesellschafters und der Bestimmung eines festen Schutzbereichs zugunsten des einzelnen Gesellschafters weitgehend entzieht. In dieser Hinsicht tritt die positive Seite der V e r t r a g s f r e i h e i t in E r scheinung, die es ermöglicht, in diesem Bereich durch eine sinnvolle Gestaltungsfreiheit den verschiedenen Bedürfnissen der Beteiligten Rechnung zu tragen und durch das ihr eigene E l e m e n t der Beweglichkeit der Rechtsfortbildung in einem besonderen M a ß e zu dienen 4 . D e r große Reichtum der hier zu beobachtenden G e s t a l t u n g s f o r m e n , der ein bedeutendes Verdienst unserer deutschen Vertragsjuristen ist und dep gerade auch im Lebenswerk des J u b i l a r s seinen bemerkenswerten N i e derschlag findet, beweist, in wie hohem M a ß die M a n n i g f a l t i g k e i t der hier in Betracht k o m m e n d e n Lebensverhältnisse in den Gesellschaftsverträgen ihren rechtsformenden Ausdruck finden k a n n . D a b e i geht es hier v o m S t a n d p u n k t des einzelnen Gesellschafters aus nicht wie bei der Aktiengesellschaft nur um die A n l a g e und Sicherung von V e r m ö genswerten, die der einzelne der Gesellschaft zur V e r f ü g u n g stellt, sondern um eine Regelung, die unter U m s t ä n d e n tief in die G e s t a l tung des persönlichen Lebensbereichs des einzelnen Gesellschafters eingreift und die die u n m i t t e l b a r e F ü h r u n g des gemeinsamen U n t e r nehmens betrifft. Diese V i e l f a l t der Erscheinungsformen, die durch die jeweils verschiedenartigen persönlichen F ä h i g k e i t e n und Vorstellungen der u n m i t t e l b a r Beteiligten b e s t i m m t w i r d , entzieht sich weitgehend einer formalisierenden Betrachtungsweise und macht es schwer, gene4

Vgl. dazu Raiser Festschrift 100 J a h r e Deutscher Juristentag I S. 1 1 9 .

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

relle Maßstäbe für den Schutzbereich der einzelnen Gesellschafter zu setzen. Der Reichtum der hier gegebenen vertraglichen Gestaltungsformen, die an die individuellen und persönlichen Verhältnisse der Beteiligten ausgerichtet sind, enthält auch eine Schwäche, die hier von besonderer Bedeutung ist. Denn es entspricht einer allgemeinen Lebenserfahrung, daß die vertragliche Gestaltung eines Gesellschaftsverhältnisses nicht mit Sicherheit die zukünftige Entwicklung im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich vorauszusehen vermag, und daß gerade dadurch im Hinblick auf die individuelle Gestaltung des Gesellschaftsverhältnisses Konflikte zu Lasten einzelner Gesellschafter ausgelöst werden können. D a s hat zur Folge, daß gerade dadurch das Schutzbedürfnis der einzelnen Gesellschafter gegenüber der vertraglichen Regelung besonders groß werden kann. 3. Im Unterschied zu den Kapitalgesellschaften wird das Gesellschaftsverhältnis bei den Personenhandelsgesellschaften in einem besonderen Maß durch die gesellschafterliche Treuepflicht bestimmt 5 . D a s hat zur Folge, daß hier die Rechte und Pflichten der Gesellschafter nicht wie bei der Kapitalgesellschaft eine feste umrissene rechtliche Ausformung aufweisen, sondern eine gewisse Elastizität in sich tragen, die eine Anpassung an die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles ermöglicht und einer sachgerechten gegenseitigen Rücksichtnahme im gesellschaftlichen Bereich auch rechtlich Raum läßt. Dadurch kann einer mißbräuchlichen Ausnutzung gesellschaftsrechtlicher Rechtspositionen zu Lasten einzelner Gesellschafter leichter begegnet werden als dort, wo eine solche Rücksichtnahme nicht im gleichen Maß Inhalt und U m f a n g der Gesellschafterrechte bestimmt.

II. Eine kritische Prüfung der in diesem Zusammenhang bedeutsamen und hier nur kurz skizzierten Unterschiede zu den Kapitalgesellschaften zeigt an H a n d der Erfahrungen, die im L a u f e der Zeit gemacht worden sind und jetzt deutlich werden, daß bei den Personenhandelsgesellschaften das Bedürfnis für die Anerkennung eines gesicherten Schutzbereichs für den einzelnen Gesellschafter m. E. nicht geleugnet werden kann, sie zeigt aber zugleich auch, daß eine solche Anerkennung unter sehr verschiedenartigen rechtlichen Aspekten vorgenommen werden muß. 5

Dazu Robert Fischer

Groß. Komm. H G B § 105 Anm. 31 a ff.

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

197

1.

Die Erfahrungen, die ganz allgemein mit dem Grundsatz der Vertragsfreiheit gemacht worden sind, haben die Erwartungen, die an diesen Grundsatz geknüpft worden waren, nicht in jeder Hinsicht bestätigt. Man ging davon aus, daß im Rechtsverkehr jeder für die Wahrung seiner Interessen selbst sorgen kann und soll, und daß demzufolge der frei ausgehandelte Vertrag eine Richtigkeitsgewähr in sich trage, weil er auf einem sinnvollen Ausgleich entgegengesetzter Interessen im Sinne des „Richtigen" beruht. Diese ideale Vorstellung hat sich in weiten Bereichen des Rechts nicht verwirklicht, und zwar überall dort nicht, wo sich unter den Vertragsbeteiligten eine ungleiche Machtlage herausbildete und dadurch ein gerechter Ausgleich der entgegengesetzten Interessen durch die Vertragsgestaltung nicht möglich ist 6 . Das zeigte sich insbesondere auf Gebieten, wo es zur rechtlichen oder faktischen Monopolbildung kam, auf Gebieten einseitiger Warenverknappung (etwa auf dem Wohnungsmarkt) sowie dort, wo sozial oder intellektuell unterlegene Vertragspartner nicht zur sachgerechten Wahrnehmung ihrer Interessen bei der Festlegung des jeweiligen Vertragsinhalts im Stande waren. Schließlich versagte der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Sinne einer Richtigkeitsgewähr in weiten Bereichen, die im Interesse einer kalkulatorischen Rationalisierung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen beherrscht werden, weil diese vielfach von einer betont einseitigen Interessenwahrnehmung ausgehen. Die rechtlichen Bedenken, die sich angesichts dieser Entwicklung gegen Mißbräuche der Vertragsfreiheit ergeben, gelten — auch bei einer besonders kritischen Beurteilung — im allgemeinen nicht für den Abschluß von Geschäftsverträgen bei Personenhandelsgesellschaften. Hier ist im allgemeinen die Sachlage so, daß der jeweilige Vertrag meist unter rechtskundiger Beratung aller Beteiligten von diesen individuell ausgehandelt und unter Berücksichtigung der verschiedenartigen persönlichen Interessen und Bedürfnisse der Vertragschließenden festgelegt wird. Im allgemeinen kann in diesem Bereich nicht davon gesprochen werden, daß unter den Gesellschaftern bei Abschluß des Gesellschaftsvertrages eine ungleiche Machtlage besteht oder eine soziale oder intellektuelle Unterlegenheit einzelner eine sachgerechte Wahrnehmung ihrer Interessen nicht möglich macht. In dieser T a t sache liegt nach meiner Erfahrung auch der eigentliche Grund für die große Zurückhaltung, die die höchstrichterliche Rechtsprechung seit langem bei einer inhaltlichen Uberprüfung der Gesellschaftsverträge übt. Die Rechtsprechung läßt sich dabei von dem Gedanken leiten, 6 Vgl. dazu etwa Raiser Flume ebd. I S. 135 ff.

Festschrift 100 Jahre Deutscher Juristentag I S. 101 ff.

198

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

daß man es bei den hier gegebenen Verhältnissen den Beteiligten selbst überlassen sollte und auch überlassen kann, für eine sachgerechte Regelung ihrer Rechtsbeziehungen zu sorgen. Gerade angesichts der Vielfalt und Unterschiede der hier zu ordenden Lebenstatbestände glaubt die höchstrichterliche Rechtsprechung, den Interessen der Beteiligten am besten dadurch Rechnung zu tragen, daß sie möglichst wenig generalisierende Richtlinien aufstellt und sich möglichst weitgehend von korrigierenden Eingriffen freihält. Denn es entspricht richterlicher Erfahrung auf diesem Gebiet, daß eine Regelung, die in dem einen Fall nicht den Grundsätzen von Treu und Glauben entsprechen mag, in einem anderen Fall der gegebenen Interessenlage einen durchaus sachgerechten Ausdruck geben kann. Diese Erfahrung nötigt den Revisionsrichter dazu, sich bei solchen Tatbeständen vor einer rechtlich generalisierenden Betrachtung in Acht zu nehmen und zu versuchen, dem" einzelnen Tatbestand nur nach den sehr viel gröberen Maßstäben des § 138 BGB als Einzelfall gerecht zu werden. Mit dieser grundsätzlichen Einstellung hängt es nach meinem Eindruck zusammen, daß die Rechtsprechung bisher noch nicht dazu gekommen ist, sich gegenüber manchen gesellschaftsvertraglichen Einzelregelungen in stärkerem Maße um die Grenzen eines generell bestimmten Schutzbereichs zugunsten der einzelnen Gesellschafter zu bemühen. Die vorstehenden Ausführungen zur Bedeutung und Wirkungskraft der Vertragsfreiheit im gesellschaftsvertraglichen Bereich bedürfen aber noch einer Ergänzung. In neuerer Zeit bahnt sich bei der Errichtung von Kommanditgesellschaften bestimmter Art eine Entwicklung an, die auch in diesem Bereich die Möglichkeiten einer mißbräuchlichen Handhabung der Vertragsfreiheit deutlich macht. Es handelt sich dabei um die sog. Publikums- oder Anlage-Kommanditgesellschaften, die ihre Mitglieder mit Verkaufsprospekten in der Öffentlichkeit werben und den Fondszeichnern (Kommanditisten) einen bereits formulierten Gesellschaftsvertrag zur Unterzeichnung vorlegen 7 . Es liegt in der N a t u r der Sache, daß die Gesellschaftsverträge dieser Anlagegesellschaften nicht mit den einzelnen Kommanditisten besprochen und ausgehandelt werden können; die Kommanditisten können auf den Inhalt des einzelnen Vertrages keinen Einfluß nehmen, so daß hier eine interessengemäße Wahrnehmung durch die einzelnen Vertragspartner beim Abschluß des Vertrages auch nicht gewährleistet ist. Bei diesen Verträgen ergibt sich ein ähnliches Problem, wie wir es bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bereits kennen. Auch hier wird die Rechtsprechung aufgerufen sein, die notwendige Inhaltskontrolle der Verträge, die durch die Vertragsfreiheit nicht gewähr7

Vgl.

dazu

Schneider

Westermann 1974 S. 590 f.

Betr.

1973,

957;

Wiedemann

Festschrift

für

Harry

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

199

leistet ist, ihrerseits vorzunehmen und den notwendigen Schutz der Fondszeichner sicherzustellen. Dabei kann sich diese Kontrolle, wie Wiedemann 8 mit Recht hervorhebt, im allgemeinen nicht an den dispositiven Vorschriften der §§ 161 ff H G B ausrichten, da diese Vorschriften den Besonderheiten solcher Kapitalanlagegesellschaften nicht gerecht werden. Das ist aber kein Grund, insoweit zu resignieren. Vielmehr bin ich überzeugt, daß diese Aufgabe die Rechtsprechung zu meistern vermag. Es handelt sich hierbei um typische Vertragsgestaltungen, die von den Besonderheiten des einzelnen Falles, namentlich von den individuellen Verhältnissen der Beteiligten unabhängig sind. Diese Anlagegesellschaften, die als Kapitalsammelbecken für bestimmte Zwecke Funktionen wie die Aktiengesellschaften in früherer Zeit erfüllen, und bei denen die Kapitalzeichner (Kommanditisten) in einer bestimmten Form der Unternehmensführung gegenüberstehen, lassen sich nach generalisierenden Gesichtspunkten beurteilen. Des weiteren besteht bei diesen Gesellschaften ein besonderes Schutzbedürfnis für die Kommanditisten, die auf die Gestaltung des Vertragsinhalts keinen Einfluß haben und denen im allgemeinen auch die Geschäftserfahrung fehlt, die Unternehmensleitung sinnvoll zu kontrollieren (intellektuelle Unterlegenheit). Damit sind hier die typischen Kennzeichen einer ungleichen Machtlage gegeben, die die Rechtsprechung wie auch in anderen Fällen bei Mißbrauch der Vertragsfreiheit durch einseitig vorformulierte Verträge zur Inhaltskontrolle nötigt, solange der Gesetzgeber nicht selbst für diesen Teilbereich eine besondere gesetzliche Regelung geschaffen hat. Es ist in diesem Zusammenhang aber noch auf einen anderen Gesichtspunkt hinzuweisen, der für einzelne Gesellschaftergruppen bei der Abfassung von Gesellschaftsverträgen gewisse Gefahren heraufbeschwören kann. In Deutschland werden bei den Personengesellschaften die Gesellschaftsverträge und ihre notwendigen Änderungen meist von den ständigen rechtskundigen Beratern der Unternehmensleitung — also der persönlich haftenden Gesellschafter — mit den Gesellschaftern besprochen und von ihnen formuliert. Das kann unter Umständen zu einem Übergewicht der Gesellschaftergruppe führen, die die Unternehmensleitung repräsentiert, und ein ausgewogenes Verhältnis der verschiedenen Gesellschaftergruppen beim Aushandeln des Vertrages beeinträchtigen 9 . Ich meine, daß sich die Rechtsprechung 8

A . a . O . S. 591. In diesem Zusammenhang ist als Gegenbeispiel auch auf den Beitrag v o n Barz in der Festschrift für Alexander Knur hinzuweisen. Hier sind in einer m. E. v o r bildlichen und sachlich ausgewogenen Weise an H a n d des Entnahmeredits die Gesichtspunkte dargelegt, die bei einer anwaltlichen Beratung der gesellsdiaftsvertraglichen Regelung dieses Rechts v o n den Beteiligten bedacht werden sollten. 8

200

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

dieser Rechtstatsache bei der Prüfung einzelner Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages bewußt sein und daran denken sollte, daß aus diesem Grund das Gleichgewicht beim Aushandeln des Vertrages gestört gewesen sein könnte 1 0 . Das kann aber immer nur dazu führen, daß sich die Rechtsprechung bei der Prüfung unter dem Gesichtspunkt des § 138 B G B bewußt ist, daß die der Geschäftsführung nicht zugehörige Gesellschaftergruppe unter Umständen die Tragweite der ihr nachteiligen Vertragsbestimmungen bei der Abfassung des Vertrages nicht voll erkannt hat, und daß diese Tatsache dann auch eine entsprechende Berücksichtigung erfordert. 2. Sehr viel problematischer kann die Rechtslage werden, wenn bei den Personengesellschaften das der Vertragsfreiheit zugrunde liegende Einstimmigkeitsprinzip aufgegeben und auch für die Änderungen des Gesellschaftsvertrages das Mehrheitsprinzip übernommen wird. Hier wird die jedem Mehrheitsprinzip immanente Gefahr aktuell, daß die Mehrheit die ihr übertragenen Befugnisse mißbraucht und dadurch die Grenzen überschreitet, die ihr insoweit gezogen sind. Dabei ist hier die Gefährdung der überstimmten Gesellschafter ungleich größer als bei den Kapitalgesellschaften, da bei den Personengesellschaften nicht nur die Vermögensbeteiligung des überstimmten Gesellschafters beeinträchtigt werden kann, sondern auch Eingriffe in den persönlichen Lebensbereich des betreffenden Gesellschafters in Betracht kommen 1 1 . Es kann daher auch nicht verwundern, daß sich in neuerer Zeit gerade mit diesen Tatbeständen das Schrifttum zunehmend befaßt» und sie einer kritischen Prüfung unterzieht 1 2 . Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die Rechtsprechung der früh erkannten Gefahr eines Machtmißbrauchs bei Ausübung der Mehrheitsherrschaft in den Personenehandelsgesellschaften zu begegnen versucht hat. Sie hat dabei, wie das häufig in der höchstrichter1 0 So habe ich aus meiner früheren langjährigen Tätigkeit im handelsrechtlichen Senat des Bundesgerichtshofes den Eindruck gewonnen, daß bei der Formulierung von Nachfolgeklauseln das verständliche Interesse an einer Erhaltung und Fortführung des Unternehmens gegenüber den Interessen der übrigen Erben häufig ein wenig überbetont wird (Tendenz zur Entwicklung eines gewerblichen Höferechts); auch bei der Formulierung von Abfindungsregelungen ist derartiges zu bemerken. 11 Vgl. etwa den Tatbestand der Entscheidung B G H N J W 1973, 651 mit Anm. von Schneider a. a. O. S. 751. 1 2 Vgl. etwa Rob. Fischer Z H R 130, 3 6 6 ; Huber Vermögensanteil, Kapitalanteil und Geschäftsanteil in Personalgesellschaften des Handelsrechts S. 241 ff.; H . P. Westermann Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Redi't der Personengesellschaften S. 159 f.; Schneider Z G R 1972, 3 5 7 ; Mertens Betr. 1973, 4 1 3 ; Wiedemann Festschrift für H a r r y Westermann S. 585 ff.

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

201

liehen Rechtsprechung zu beobachten ist, wenn sie im Begriff steht, N e u l a n d zu betreten und die Tragweite einer neu eingeleiteten J u d i k a t u r noch nicht recht zu übersehen vermag, auf eine zunächst ganz harmlos wirkende Auslegungsregel zurückgegriffen. In diesem Sinne hat das Reichsgericht in einer Reihe von Entscheidungen f ü r die Zulässigkeit einer A b ä n d e r u n g des Gesellschaftsvertrages durch Mehrheitsbeschluß den (Auslegungs-) G r u n d s a t z aufgestellt, d a ß sich die Zulässigkeit eines solchen Beschlusses, besonders auch f ü r den in Frage stehenden Beschlußgegenstand unzweideutig aus dem Gesellschaftsvertrag ergeben müsse 13 . Für die Erhöhung der Beitragspflicht ist das Reichsgericht sodann noch einen Schritt weiter gegangen, wobei es zunächst auch wieder den genannten Auslegungsgrundsatz e r w ä h n t aber sodann hinzugefügt hat, d a ß der Zulässigkeit eines solchen E r höhungsbeschlusses gewisse Grenzen gezogen seien, da eine schrankenlose U n t e r w e r f u n g der Minderheit unter die Mehrheit gegen die guten Sitten verstoßen würde 1 4 . Mertens 1 5 mißt dem vom Reichsgericht aufgestellten und vom Bundesgerichtshof übernommenen Bestimmtheitsgrundsatz f ü r die Zulässigkeit einer A b ä n d e r u n g des Gesellschaftsvertrages durch Mehrheitsbeschluß „ein hohes M a ß minderheitsschützender P r ä v e n t i o n " zu, weil die Mehrheit in zahlreichen Fällen nicht auf eine solche spezielle Regelungskompetenz wird zurückgreifen können. Ich k a n n diesen Optimismus nicht teilen 16 . Es liegt im Wesen solcher Kunstgriffe, zu denen die höchstrichterliche Rechtsprechung zuweilen — und ich mcir;e nicht zu Unrecht — greift, weil eine solche Methode f ü r die E n t scheidung des vorliegenden Streitfalls ausreicht, d a ß sie auf die D a u e r nicht wirksam bleiben können. In diesem Fall fordert m a n die K a n telarjurisprudenz zu Vertragsgestaltungen heraus, die einem so a u f gestellten Bestimmtheitsgrundsatz Rechnung tragen, ohne daß dadurch das eigentliche Problem einer etwa notwendigen allgemeinen Beschränkung der Mehrheitsherrschaft aus der Welt geschafft ist. Es handelt sich hierbei um etwas Ähnliches, was wir f r ü h e r bei der sog. Unklarheitenregel zur Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen erlebt haben. Für eine gewisse Zeit w a r eine solche Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen möglich, sie mußte jedoch ihre W i r k u n g s k r a f t verlieren, als die Verfasser dieser Bedingungen die entsprechenden Klauseln in aller n u r möglichen Deutlichkeit f o r m u 13

Vgl. die Nachweise bei Rob. Fischer Groß. Komm. H G B § 119 Anm. 12. Dieser Auffassung hat sich der Bundesgerichtshof in einer grundsätzlich gehaltenen Entscheidung angeschlossen (vgl. B G H Z 8, 35, 41; ferner B G H WM 1961, 304). 14 Vgl. R G Z 151, 327. 15 A . a . O . S. 416. 10 Vgl. auch die Zweifel, die Mertens a. a. O. S. 418 selbst äußert.

202

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Herten u n d d a m i t f ü r die A n n a h m e einer U n k l a r h e i t keinen R a u m mehr ließen 1 7 . M a n w i r d daher nach meiner Überzeugung von dem Bestimmtheitsgrundsatz auf die D a u e r keinen wirksamen Schutz gegen Mißbräuche der Mehrheitsherrschaft erwarten können. Vielmehr wird m a n sich — u n d das gilt namentlich f ü r die höchstrichterliche Rechtsprechung — dazu durchringen müssen, hier bestimmte Grenzen f ü r die Mehrheitsherrschaft aufzustellen, wie es das Reichsgericht bereits f ü r Mehrheitsbeschlüsse bei der Erhöhung der Beiträge getan hat. Das wird auch ungeachtet der Tatsache notwendig sein, d a ß bei den Personenhandelsgesellschaften angesichts der Vielgestaltigkeit u n d der großen Unterschiedlichkeit der hier zu regelnden Lebenstatbestände die Aufstellung solcher G r u n d s ä t z e eine große Behutsamkeit erfordert u n d gegebenenfalls zunächst eine etwas stärkere Anlehnung an den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt nahelegen sollte. Für eine solche Beurteilung geben m. E. drei höchstrichterliche Entscheidungen einen gewissen A n h a l t s p u n k t f ü r die Maßstäbe, an denen sich die Rechtsprechung insoweit ausrichten könnte. Es sind das die Entscheidungen R G Z 91, 166, B G H Z 20, 363 1 8 , 48, 251. In der ersten dieser Entscheidungen wird bei der P r ü f u n g der Zulässigkeit einer E r h ö h u n g der Beitragspflicht durch Mehrheitsbeschluß bereits auf die entsprechenden Vorschriften bei den Kapitalgesellschaften, die §§ 276 H G B , 53 Abs. 3 G m b H G , hingewiesen u n d ihre Bedeutung auch in diesem Zusammenhang gewürdigt. Derselbe G e d a n k e kehrt in der zweiten der genannten Entscheidungen wieder. Es w i r d dabei hervorgehoben, d a ß die Bestimmung des § 53 Abs. 3 G m b H G (vgl. auch § 35 BGB) z w a r bei den Personenhandelsgesellschaften nicht — auch nicht entsprechend — angewendet werden könne, d a ß jedoch der allgemeine Rechtsgrundsatz, der letzten Endes auch der Vorschrift des § 53 Abs. 3 G m b H G zugrundeliegt, d a ß nämlich eine sachlich unbegrenzte Einschränkung der wirtschaftlichen u n d d a m i t auch der persönlichen Freiheit eines einzelnen nicht gebilligt werden k a n n , auch im Bereich der Personenhandelsgesellschaften Berücksichtigung verlangt. Es scheint mir erwägenswert, den Hinweisen in diesen beiden Entscheidungen eine stärkere Beachtung zu widmen u n d zu versuchen, von hier aus eine nähere Konkretisierung der Schranken der M e h r heitsherrschaft auch bei den Personenhandelsgesellschaften zu gewinnen. Dieser Versuch darf m. E. nicht vorschnell zu einer schematisierenden Beurteilung führen, wie sie den §§ 53 Abs. 3 G m b H G , 35 BGB zugrundeliegt, sondern m u ß der Vielgestaltigkeit u n d U n t e r schiedlichkeit der Lebensverhältnisse bei den Personenhandelsgesell17 18

Vgl. dazu Rob. Fischer Z H R 125, 205 ff. Vgl. dazu auch meine Anm. bei LM N r . 1 zu § 119 H G B betr. B G H Z 8, 35.

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203

schaften Rechnung tragen. Die Auffassung des Reichsgerichts, nach der dispositiven Vorschrift des § 707 BGB (keine Erhöhung der Beitragspflicht) solle nicht das Mehrheitsprinzip, sondern die Freiheit des einzelnen den Ausgangspunkt bilden 1 9 , k a n n insoweit eine Leitlinie geben, nämlich in der Richtung, d a ß bei umfassender objektiver Beurteilung aller im Einzelfall vorliegenden U m s t ä n d e sachlich gerechtfertigte G r ü n d e f ü r einen derartigen Eingriff in die wirtschaftliche u n d d a m i t auch persönliche Freiheit des einzelnen durch einen Mehrheitsbeschluß gegeben sein müssen. Dabei k a n n namentlich auch eine V e r ä n d e r u n g der Verhältnisse, wie sie im L a u f e einer langen E n t wicklung in dem Geschäftsunternehmen in persönlicher und sachlicher Hinsicht eingetreten ist und erfahrungsgemäß bei der Abfassung des Gesellschaftsvertrages noch nicht abgesehen werden kann, eine sachgerechte Berücksichtigung finden. Diese Auffassung berührt sich mit Gedanken, die im Schrifttum im Zusammenhang mit einer vorsichtigen Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 35 BGB geäußert werden 2 0 . In diesen Bereich wird man neben einer allgemeinen oder individuellen E r h ö h u n g oder Ausdehnung von Gesellschafterpflichten auch die Ä n d e r u n g des Gesellschaftszwecks sowie Eingriffe in die Rechtsstellung eines einzelnen Gesellschafters zu rechnen haben, sofern diese nach dem Gesellschaftsvertrag auch ohne wichtigen G r u n d durch Mehrheitsbeschluß vorgenommen werden können. Die dritte der oben genannten Entscheidungen macht deutlich, in welcher Weise die höchstrichterliche Rechtsprechung überdies in der Lage ist, durch eine umfassende Berücksichtigung der U m s t ä n d e des Einzelfalles seinen Besonderheiten gerecht zu werden und Ansätze f ü r eine allgemeine Beurteilung zu entwickeln. Ich meine, d a ß diese E n t scheidung insbesondere deutlich macht, d a ß sich die Rechtsprechung in diesem Bereich nicht vorschnell mit allgemeinen Kategorien, wie der Vertragsfreiheit oder dem Vertragswillen, begnügen, sondern sich auch mit den Folgerungen befassen sollte, die sich im konkreten Einzelfall aus der Verwertung solcher allgemeinen Kategorien ergeben würden. Es liegt nahe, einer derartigen individuellen Betrachtungsweise den E i n w a n d entgegenzuhalten, sie g e f ä h r d e die Rechtssicherheit und f ü h r e zu einer unerwünschten Einzelfall-Rechtsprechung, die in erster Linie f ü r die Beteiligten und die Vertragspraxis, aber auch f ü r die Rechtsprechung der Instanzgerichte Unsicherheit mit sich bringe. Ich glaube nicht, d a ß dieser E i n w a n d , dem m a n an sich in diesem Bereich 18 20

R G Z 91, 166, 168.

Vgl. etwa Spengler Festschrift für Philipp Möhring S. 179; Huber (Anm. 12) S. 41; Mertens Betr. 1973, 413.

a. a. O.

204

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

immer besondere Beachtung schenken muß, bei einer sachgerechten und behutsamen Handhabung berechtigt ist. Es drängt sich auf, in diesem Zusammenhang an die Erfahrungen zu erinnern, die mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes zu der Annahme eines wichtigen Grundes f ü r Übernahme-, Ausschließungsund Auflösüngsklagen gemacht worden sind. Seit den 30er Jahren hat das Reichsgericht in diesem Bereich in zunehmendem Maß einen betont individualisierenden Beurteilungsmaßstab angelegt, die umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles gefordert und dabei immer wieder neue Gesichtspunkte hervorgehoben, die bei einer solchen umfassenden Berücksichtigung zu beachten seien 21 . Der Bundesgerichtshof hat sodann an diese Rechtsprechung angeknüpft und sie noch weiter entwickelt und ausgebaut 22 . Dabei hat die Rechtsprechung die Formel, die Ausschließung oder die Übernahme des Gesellschaftsunternehmens sei gleichsam nur das letzte Mittel, um dem aufgetretenen Zerwürfnis unter den Gesellschaftern Rechnung zu tragen, als Ansatzpunkt für eine Prüfung in der Richtung benutzt, ob nicht durch eine Änderung des Gesellschaftsvertrages eine den betroffenen Gesellschafter weniger belastende Regelung herbeigeführt werden könne. Dabei ist die Rechtsprechung im Grunde erstaunlich weit gegangen, indem sie in diesem Zusammenhang etwa die Möglichkeit einer Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis, einer Zurückstufung des persönlich haftenden Gesellschafters in die Stellung eines Kommanditisten, die Einschränkung oder das Ruhen des Stimmrechts des betroffenen Gesellschafters, die vorzeitige Übertragung seines Gesellschaftsanteils auf seine späteren Erben in den Kreis ihrer Erwägungen einbezogen hat 2 3 . Diese Rechtsprechung hat es namentlich auch ermöglicht, grobe Unbilligkeiten bei der Berechnung des Abfindungsguthabens des betroffenen Gesellschafters auszuräumen und die klagenden Gesellschafter zu einem sachgerechten Abfindungsangebot zu veranlassen 24 . Man hätte fürchten können, daß diese individualisierende und ungemein stark in das Gesellschaftsverhältnis eingreifende Rechtsprechung, die sogar einen — allerdings nur mittelbaren — korrigie21 Vgl. e t w a R G Z 146, 169; 153, 280; LZ 1932, 1145; Z A k D R 1938, 638; H R R 1941, 777; D R 1942, 733. 22 Vgl. B G H Z 4, 108; 6, 113; 18, 350; 31, 295; W M 1961, 886; 1966, 2 9 ; 1971, 20. 23 Vgl. e t w a R G Z 146, 169, 180; Seufferts A 93, N r . 8; B G H Z 18, 350, 362 ff.; W M 1961, 886, 1971, 22. Diese Fortbildung des Rechts durch die Rechtsprechung hat im Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden; vgl. dazu statt anderen Hueck D a s Recht der offenen Handelsgesellschaft, 4. Aufl. S. 4 4 0 ; U l m e r Gross. K o m m . H G B § 140 A n m . 18, 19; § 133 A n m . 41. 24 B G H W M 1971, 22; ferner B G H LM N r . 6 zu § 140 H G B .

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

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renden Eingriff in den Gesellschaftsvertrag zum Schutz des betroffenen Gesellschafters nicht scheut, zu einer Rechtsunsicherheit und zu einer H ä u f u n g von Prozessen dieser Art führen werde. Eine solche Gefahr hat sich nicht realisiert; im Gegenteil, die erwähnte Rechtsprechung hat nach meinem Eindruß in diesem Bereich zu einer Beruhigung geführt und den Instanzgerichten ein brauchbares Mittel in die H a n d gegeben, zu einem sachgerechten und ausgewogenen Ergebnis zu gelangen, das namentlich auch der Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der hier gegebenen Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen vermag. Ich glaube daher, daß gerade die richterlichen Erfahrungen, die im Anwendungsbereich der §§ 140, 142 H G B gemacht worden sind, die Rechtsprechung ermutigen sollten, ihr Augenmerk verstärkt der Frage zuzuwenden, ob und wie die Grenzen f ü r einen Schutzbereich überstimmter Gesellschafter gegenüber Mehrheits 1 beschlüssen näher konkretisiert werden können. 3.

Im Unterschied zu den Kapitalgesellschaften bietet bei den Personenhandelsgesellschaften die Berücksichtigung der gesellschafterlichen Treuepflicht eine geeignete Handhabe, den berechtigten Belangen einzelner Gesellschafter gegenüber Mehrheitsbeschlüssen oder auch gegenüber gesellschaftsvertraglichen Bestimmungen, die im Laufe der Jahre durch die fortschreitende Entwicklung des Unternehmens den ursprünglichen Vorstellungen bei Abfassung des Vertrages nicht mehr entsprechen, in ausreichendem Maß Rechnung zu tragen. Einen praktisch bedeutsamen Anwendungsfall bietet .in dieser Hinsicht das Entnahmerecht für den einzelnen Gesellschafter. Mit Rücksicht darauf, daß die dispositive gesetzliche Regelung in den §§ 121/22 H G B den heutigen Verhältnissen nicht mehr Rechnung trägt 2 5 , ist es üblich geworden und jedenfalls angebracht, f ü r das Entnahmerecht eine besondere Regelung im Gesellschaftsvertrag zu treffen und die Beschlußfassung darüber der Gesellschafterversammlung zu übertragen. Das hat zur Folge, daß namentlich bei den Kommanditgesellschaften, bei denen heute bei Beschlußgegenständen dieser Art in weitem Umfang das Mehrheitsprinzip gilt, mit der Gewinnfeststellung durch die Mehrheit diese praktisch auch über den Umfang des Entnahmerechts beschließt. Dadurch ergibt sich für die Kommanditisten, die auf ihr Gewinnbezugsrecht — schon mit Rücksicht auf ihre Steuerschulden — angewiesen sind, eine potentielle Gefährdung, da die in der Geschäftsleitung tätigen Gesellschafter schon wegen ihrer Geschäftsführervergütung, aber auch aus anderen Gründen (besonderes "

Vgl. Bärz Festschrift f ü r Alexander K n u r S. 25 ff.

206

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Interesse an einer finanziellen Stärkung des Gesellschaftsunternehmens) nicht in gleicher Weise an einer möglichst hohen Gewinnausschüttung interessiert sind. Diese Gefährdung der Kommanditisten ist, wie die Erfahrung lehrt 26 , wohl nicht sehr aktuell, da die H a n d habung in der Praxis in diesem Bereich offenbar sachgerecht ist und den schutzwerten Belangen aller Gesellschafter Rechnung trägt. Sollte dies jedoch in einem Einzelfall nicht geschehen und etwa dem Interesse des Unternehmens an einer Vergrößerung der Eigenkapitalbildung über Gebühr Rechnung getragen werden, so kann einer solchen H a n d habung oder einem anderweitigen Mißbrauch der Mehrheit bei der Gewinnfeststellung unschwer mit dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Verletzung der gesellschafterlichen Treuepflicht begegnet werden 27 . Für die Rechtsprechung werden sich dabei keine besonderen Schwierigkeiten ergeben. Ein anderer Anwendungsfall für die gesellschafterliche Treuepflicht, um mit ihr den Schutzbereich zugunsten einzelner Gesellschafter zu sichern, ist die Berechnung des Abfindungsguthabens beim Ausscheiden eines Gesellschafters. Bei älteren Gesellschaftsverträgen erweist sich die vertragliche Abfindungsregelung nicht selten durch die inzwischen eingetretene Entwicklung des Unternehmens als überholt. Das gilt namentlich von einer Regelung, die die Buchwerte für die Berechnung des Abfindungsguthabens zugrunde legt, wenn durch die inzwischen notwendig gewordene Eigenkapitalbildung in dem Unternehmen der wahre Wert des Gesellschaftsanteils ein Vielfaches des Buchwertes beträgt und durch diese Entwicklung die Vorstellungen der Beteiligten bei Abschluß des Gesellschaftsvertrages in ihren Grundlagen verändert worden sind. Hier wird nach den Grundsätzen der gesellschafterlichen Treuepflicht häufig eine Korrektur notwendig werden, wie sie die Rechtsprechung — im Grund aus den gleichen Erwägungen — schon seit langem bei den Ausschließungs- und Übernahmeklagen vornimmt. Das ist in rechtlicher Hinsicht auch nichts besonderes, weil es sich hierbei um einen Anwendungsfall des Rechtsgedankens, wie er durch eine Anpassung des Vertrages beim nachträglichen Wegfall der Geschäftsgrundlage entwickelt worden ist, handelt, dem man jedoch 26 Ich habe während meiner fast 18jährigen Zugehörigkeit zum handelsrechtlichen Senat des Bundesgerichtshofes dieser Frage immer mein besonderes Augenmerk zugewendet und die mir damals zugänglichen zahlreichen Gesellschaftsverträge in dieser Hinsicht geprüft, ohne eigentlich wesentliche Anstände feststellen zu können. Dem entspricht es, daß der Bundesgerichtshof bisher auch keine grundsätzliche Entscheidung über den Schutzbereich einzelner Gesellschafter bei der Bestimmung seines Entnahmerechts zu treffen brauchte. " Vgl. Barz a . a . O . S. 36; Ernst BB 1961, 380. Der Heranziehung des Reditsgedankens des § 3 1 5 BGB (so Huber a . a . O . (s. Anm. 12) S. 43) bedarf es insoweit m. E. nicht.

12. Minderheitenschutz bei den Personengesellschaften

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hier durch den rechtlichen Gesichtspunkt der gesellschafterlichen Treuepflicht besser gerecht werden kann. D e n n unter diesem Gesichtsp u n k t ist eine gegenseitige Rücksichtnahme geboten, die auch dem ausscheidenden Gesellschafter im Hinblick auf den wirtschaftlichen F o r t bestand des bisher gemeinsamen Unternehmens Bindungen auferlegt. Andererseits sollte m a n sich in diesem Bereich nicht auf die T a t bestände beschränken, bei denen erst durch eine nachträgliche Ä n d e rung der Verhältnisse die Unbilligkeit der ursprünglich getroffenen Abfindungsregelung zutage getreten ist. Es erscheint mir vielmehr auch d a n n eine solche P r ü f u n g unter dem Gesichtspunkt der gesellschafterlichen Treuepflicht geboten, wenn eine solche Unbilligkeit schon in dem Zeitpunkt, in dem die betreffende gesellschaftsvertragliche Regelung getroffen worden ist, vorgelegen hat. Das gilt in erster Linie zugunsten überstimmter Gesellschafter f ü r Änderungen des Gesellschaftsvertrages, die in zulässiger Weise durch Mehrheitsbeschluß herbeigeführt worden sind. Es ist m. E. nicht vertretbar, eine solche geänderte Regelung nur nach den sehr viel gröberen Maßstäben des § 138 BGB zu messen, sondern es erscheint mir notwendig, auch hier, wie bei der Gewinnfeststellung und dem darauf beruhenden E n t n a h m e recht, der Beachtung der gesellschafterlichen Treuepflicht R a u m zu geben.

III. Die vorstehenden A u s f ü h r u n g e n sind nur als eine Skizze f ü r die Entwicklung eines besonderen Bestandschutzes zugunsten einzelner Gesellschafter innerhalb einer Personenhandelsgesellschaft gedacht. Sie sollen deutlich machen, d a ß hier im allgemeinen ein formalisierter Schutzbereich f ü r den einzelnen Gesellschafter nur schwer bestimmt werden kann. Sie sollen andererseits den Blick d a f ü r schärfen, d a ß das Problem eines solchen Schutzes nicht unter dem Gesichtspunkt der Vertragsfreiheit u n d der einverständlich gewollten Vertragsregelung beiseite geschoben werden k a n n . Das gilt namentlich f ü r den weiten Bereich, in dem durch Beschlüsse einer Gesellschaftermehrheit in die Rechtsposition überstimmter Gesellschafter eingegriffen worden ist. Des weiteren sollte m. E. hier dem rechtlichen Gesichtspunkt der gesellschafterlichen Treuepflicht ein erhöhtes Augenmerk zugewendet werden, zumal die Rechtsprechung schon seit langer Zeit die M ö g lichkeit einer Verpflichtung zur Ä n d e r u n g des Gesellschaftsvertrages unter diesem Gesichtspunkt bejaht hat 2 8 . 28 Vgl dazu die Nachweise bei Rob. Fischer G r o ß . Komm. H G B § 105 Anm. 31 c; Hueck, Das Recht der offenen Handelsgesellschaft 4. Aufl. S. 173 f.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Für die Rechtsprechung wird sich in diesem Bereich nach meiner Überzeugung für die Z u k u n f t noch eine besondere Aufgabe stellen, die sie behutsam, aber doch auch mit einem offenen Blick auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und Folgen für alle Beteiligten lösen sollte.

13. Der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§22 G W B ) in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes* i. Wenn man es unternimmt, die höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiet des Kartellrechts einer Beurteilung, namentlich einer kritischen Beurteilung zu unterziehen, dann sollte man m. E. einige Gesichtspunkte beachten, die aus der Sicht des Revisionsrichters und, wie ich meine, ganz allgemein für die Qualität der Rechtsprechung von Bedeutung sind. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Umstände, die von außen an die Revisionsrechtsprechung herangetragen werden und auf die diese keinen Einfluß nehmen kann. 1. Zunächst ist in dieser Hinsicht auf die Bedeutung des Entscheidungsmaterials für die Qualität der Rechtsprechung hinzuweisen 1 . Man kann nach meiner Erfahrung wohl den Satz aufstellen: J e dichter das Entscheidungsmaterial ist, das einem Fachsenat zur Beurteilung bestimmter Rechtsfragen vorgelegt wird, um so ansprechender ist die Güte und vor allem die Sicherheit und die Kontinuität der Rechtsprechung in diesem Bereich. Man spürt die Sachkunde des Senats, die an Hand des differenzierten und sich in zahlreichen Abwandlungen darstellenden Entscheidungsmaterials gewonnen wird und sich dabei zugleich festigt. Die Rechtsprechung wirkt bei einer solchen Gestaltung meist anspruchslos, aber sicher, und sie ist in der Lage, sich in einer allmählichen Fortentwicklung ohne wesentliche Schwankungen zu festigen und zu entfalten. Sie wird in solchen Fällen wohl auch selten herausgefordert, sich vorschnell zu weit vorzuwagen oder sich in allgemeinen dogmatischen Betrachtungen zu versuchen. In dieser Hinsicht befindet sich der Kartellsenat des Bundesgerichtshofes in einer schwierigen Lage. Er ist ein Senat, der im Unterschied zu den Zivil- und Strafsenaten des Bundesgerichtshofes mit Mitgliedern besetzt ist, die auch anderen Senaten angehören; denn der Umfang der bei dem Kartellsenat eingehenden Sachen ist nicht so groß, daß die Senatsmitglieder mit der Entscheidung dieser Sachen voll ausgelastet wären. Daraus erhellt aber zugleich, daß wir es in der Kartellrechtspre* Aus: Festheft für Hans Würdinger zum 75. Geburtstag am 18. Mai 1978. Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 1978, 235-250. - Walter de Gruyter, Berlin, 1978. 1 Dazu Robert Fischer, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung Nr. 80, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung (hier S.37ff).

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

chung mit einem nur spärlich vorliegenden Entscheidungsmaterial zu tun haben. Der Kartellsenat ist daher im allgemeinen nicht in der Lage, an Hand eines umfangreichen Entscheidungsmaterials in langsamer und stetiger Entwicklung seine Rechtsprechung auszubreiten 2 . Auch wird es ihm infolgedessen meist nicht möglich sein, gewisse Korrekturen oder Modifikationen an vorausgegangenen Urteilen anzubringen, weil ihm Sachverhalte gleicher oder ähnlicher Art nicht wieder zur Entscheidung vorgelegt werden. Diese besondere Lage erhält einen eigenen Akzent noch dadurch, daß es sich bei den kartellrechtlichen Entscheidungen häufig um sehr grundsätzliche, wirtschaftlich und rechtlich vielfach ungemein weittragende Entscheidungen handelt, die bei den beteiligten Wirtschaftskreisen und in der juristischen Öffentlichkeit eine große Aufmerksamkeit und Beachtung finden. Nicht selten - namentlich im Kartellverwaltungsrecht - kommt es vor, daß hier innerhalb des Instanzenzuges die ergehenden Entscheidungen in der Wirtschaftspresse und in den juristischen Fachblättern aufmerksam verfolgt und besprochen werden und daß sich bei den Beteiligten der Erwartungshorizont gegenüber den noch ausstehenden Entscheidungen laufend erweitert. So kommt es, daß sich in solchen Fällen die interessierten Juristen schon vor der letztinstanzlichen Entscheidung ein abschließendes Urteil über den zu entscheidenden Fall gebildet haben und mit diesem Urteil der letztinstanzlichen Entscheidung gegenübertreten. In einem viel größeren Umfang, als das bei den anderen Senaten der Fall ist, weiß man in der interessierten juristischen Öffentlichkeit, welche Rechtsfragen bei dem Kartellsenat des Bundesgerichtshofes zur Entscheidung anstehen oder noch anstehen werden, und macht sich Gedanken darüber, wie die Entscheidung ausfallen wird oder ausfallen sollte. Die Bedeutung des Entscheidungsmaterials für die Rechtsprechung des Kartellsenats erhält auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt ihr eigenes Gewicht. Der Senat hat nämlich keinerlei Möglichkeit, einen irgendwie gearteten Einfluß auf die Auswahl des Entscheidungsmaterials zu nehmen. Insoweit befindet er sich in der gleichen Lage wie die Zivilund Strafsenate des Bundesgerichtshofes, die einem Zwang zur Entscheidung von Rechtsfragen an Hand von Tatbeständen auch dann unterliegen, wenn diese nach ihrer Ansicht z. B. sehr wenig zu einer 2 Auf einigen Gebieten ist das freilich auch im Kartellrecht anders. So hat der Kartellsenat im Anwendungsbereich des § 26 G W B verhältnismäßig o f t Gelegenheit zur Auslegung dieser Bestimmung gehabt, ohne daß er dabei immer genötigt war, in besonders grundsätzlichen Ausführungen zu dieser Vorschrift Stellung zu nehmen. Ein Blick auf die Leitsätze zu dieser Vorschrift im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes macht dies deutlich. Ich habe den Eindruck, daß die dem Bundesgerichtshof auf diese Weise gebotene Möglichkeit einer langsam fortschreitenden und mehr unauffälligen Rechtsprechung für diese von Vorteil gewesen ist.

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ersten grundsätzlichen Stellungnahme geeignet sind. So ist das auch bei den hier interessierenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur Mißbrauchsaufsicht geschehen, da hier der Mißbrauch bei der Preisgestaltung auf dem Medikamentenmarkt zu beurteilen war, also auf einem Markt, der für den Preiswettbewerb ganz atypische Merkmale aufweist und deshalb nicht allzuviel für die Beurteilung anderer Fälle herzugeben vermag. Nach meinen Erfahrungen wäre es gut, wenn das Bundeskartellamt diesem Gesichtspunkt eine erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden und darauf Bedacht nehmen würde, nach Möglichkeit geeignete Sachverhalte den Kartellgerichten zur ersten richterlichen Beurteilung bestimmter Rechtsfragen zuzuleiten 3 . Denn das Bundeskartellamt hat insoweit, nämlich im Bereich der ihm zustehenden Opportunitätsmaxime, eine eigene Steuerungsmöglichkeit, die es im Interesse der eigenen Amtstätigkeit einsetzen kann. Insoweit könnte unter Umständen in bestimmten Bereichen der Kartellsenat sogar in eine günstigere Position gelangen, als das bei den anderen Senaten des Bundesgerichtshofes der Fall ist. 2. Einen weiteren Gesichtspunkt, der für die Beurteilung der Kartellrechtsprechung von Bedeutung ist, bieten die besonderen Verhältnisse, die sich hier aus der Gesetzgebung selbst ergeben, und die die Kartellgerichte nach meiner Uberzeugung bei der Rechtsanwendung, namentlich bei der Auslegung der einzelnen Vorschriften, zu beachten haben. Der Gesetzgeber wendet im Unterschied zu vielen anderen Privatrechtsgesetzen dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen seit geraumer Zeit laufend eine erhöhte Aufmerksamkeit zu; er verfolgt nicht nur die wirtschaftspolitische, sondern auch die rechtspolitische Entwicklung auf diesem Gebiet mit einem besonderen Interesse und wird dabei durch die Tätigkeitsberichte des Bundeskartellamts und die Stellungnahmen der Bundesregierung sowie durch die Gutachten der Monopolkommission wesentlich unterstützt. Die bis jetzt ergangenen Novellen zum Kartellgesetz geben das Ausmaß dieser rechtspolitischen Bemühungen und Erwägungen nur unvollkommen wieder, weil auch manches geprüft und untersucht wird, was keinen Niederschlag in Gesetzesänderungen findet 4 . Dieser Tatbestand muß bei der Auslegung kartellrechtlicher Vorschriften durch die Kartellgerichte beachtet werden. Die Kartellgerichte und namentlich der Kartellsenat des Bundesgerichtshofes 3 Vgl. z. B. die Kritik von M ö s c h e l , BB 1976, 53 an dem Vitamin B 12-Verfahren B G H Z 67, 107 - : „Wettbewerbspolitisch erweist sich das gesamte Verfahren (Bagatellmarkt von 1,3 Millionen DM Jahresumsatz Merck, stagnierender Markt) ohnehin als wenig sinnvoll." 4 Aus jüngster Vergangenheit z. B. der Entschluß, es bei den unverbindlichen Preisempfehlungen zu belassen.

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dürfen in Bereichen, in denen der Gesetzgeber rechtspolitische Erwägungen anstellt, nicht ihrerseits versuchen, durch rechtsfortbildende Entscheidungen vollendete Tatsachen zu schaffen. Sie müssen die Prärogative des Gesetzgebers, sofern er tätig werden will, achten und ihm durch eine entsprechende Gesetzesauslegung dartun, wie der derzeitige Gesetzeszustand ist5. Hier liegt der Grund für die im Schrifttum vielfach beklagte, zuweilen auch getadelte Zurückhaltung des Kartellsenats bei der Auslegung kartellrechtlicher Vorschriften 6 . Hinzu kommt in diesem Zusammenhang noch ein Weiteres. Für die richterliche Rechtsfortbildung ist das Alter der anzuwendenden Gesetze von wesentlicher Bedeutung; bei Gesetzen aus jüngster Vergangenheit ist insoweit eine sehr viel größere Zurückhaltung geboten als etwa bei den großen Privatrechtskodifikationen, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen 7 . Für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Vorschriften ist auch ihr Charakter von wesentlicher Bedeutung. Diese Vorschriften sind in weitem Umfang mit Sanktionen bewehrt, die das Bundeskartellamt berechtigen, bei etwaigen Verstößen Bußgeldbescheide zu erlassen. Die Gerichte müssen daher bei der Auslegung dieser Vorschriften beachten, daß insoweit auch den strafrechtlichen Erfordernissen Genüge getan wird; man darf dabei auch nicht übersehen, daß der Kartellsenat des 5 Ein typisches Beispiel in dieser Hinsicht bildet das viel gescholtene Teerfarben-Urteil - B G H S t . 24, 54 - . Etwa zwei Monate vor Erlaß dieses Urteils wurde der Referentenentwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen - überarbeitete Fassung - vom 28. Oktober 1970 fertiggestellt. In diesem Entwurf wurde zum ersten Mal das Problem des abgestimmten Verhaltens angesprochen und zwar, da man sich unter den Koalitionsparteien nicht hatte einigen können, in der Weise, daß man die Beurteilung dieser Frage der Rechtsprechung überließ (vgl. S. 66 der amtlichen Begründung zu diesem Entwurf). Nach Veröffentlichung dieses Entwurfes blieb bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes die Diskussion über diese Frage, namentlich über die Anwendung des strafrechtlichen Analogieverbots auch im Kartellrecht, unter den Koalitionsparteien im Gange. Nach dem Teerfarben-Urteil des Bundesgerichtshofes ließ man bei den weiteren Gesetzgebungsarbeiten das Problem des abgestimmten Verhaltens fallen. In dem Entwurf der Bundesregierung für ein zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26. Mai 1971 wurde das Problem, auch in der Begründung, nicht mehr erwähnt. Erst Anfang 1973, also in der 7. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages mit einer gesicherten Mehrheit für die Koalition, brachte die SPDFraktion, gestützt auf eine schriftliche Ausarbeitung der Unterabteilung Kartellrecht des Bundeswirtschaftsministeriums, im Wirtschaftsausschuß des Bundestages einen Antrag ein, der ein Verbot des abgestimmten Verhaltens zum Gegenstand hatte und der dann später auch Gesetz wurde (vgl. § 2 5 Abs. 1 G W B ) . - Nach meiner Uberzeugung macht dieser Vorgang die Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung deutlich, die keinesfalls die politische Meinungsbildung im parlamentarischen Raum, auch eine solche, die zu keinem positiven Ergebnis geführt hat, beiseite schieben und durch eine eigene ersetzen darf. 6 Vgl. etwa Möschel, B B 1976, 49, der meint, der Bundesgerichtshof klammere sich im Kartellrecht im hohen Maß an den bloßen Wortlaut einer Vorschrift. 7 So auch BVerfGE 34, 269, 288.

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Bundesgerichtshofes insoweit Strafsenat ist (§95 Abs. 2 GWB). Die Bedeutung des strafrechtlichen Tatbestandes mit seinem Bestimmtheitserfordernis 8 und seinem Analogieverbot muß daher die gebotene Berücksichtigung finden und nötigt in dem weiten Anwendungsbereich der §§ 38 ff GWB - auch im Rahmen von Zivil- und Verwaltungsverfahren - zu einer mehr am Wortlaut haftenden Auslegung, damit es nicht zu Diskrepanzen zwischen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Auslegung kommt. Ich habe den Eindruck, daß das in der Rechtswissenschaft nicht immer genügend berücksichtigt wird, da insoweit eigentlich nur mit zivilrechtlichen Maßstäben gearbeitet wird. Endlich spielt in diesem Zusammenhang auch die Qualität der gesetzlichen Vorschriften eine beachtliche Rolle. Schon bei einer ganz äußerlichen Betrachtung, etwa der §§ 22 ff GWB, fällt an der Länge und Breite ihrer Formulierung auf, daß sie nur wenig dem Vorbild früherer gesetzlicher Regelungen nahekommen. Diesem äußeren Eindruck entspricht auch ihre inhaltliche Ausgestaltung. Diese Vorschriften enthalten eine Fülle neuer ausfüllungsbedürftiger, unbestimmter Rechtsbegriffe, die ihre Anwendung durch die Gerichte schwierig machen und die zudem die Frage aufwerfen, ob sie auch den verfassungsgemäßen Erfordernissen, die an die Tätigkeit einer Eingriffsverwaltung oder an den Erlaß von Bußgeldbescheiden zu stellen sind (Bestimmtheitserfordernis), gerecht werden. Auch stellen solche weitgefaßten Formulierungen zuweilen das Ergebnis wirtschaftspolitischer Kompromisse dar, die die Verantwortung für die Rechtsanwendung bewußt auf die Gerichte übertragen. Schließlich kommt es bei dieser Art, Gesetze im parlamentarischen Raum zu beraten und zu formulieren, vor, daß der zunächst maßgebliche Ausgangspunkt für die Novellierung im Laufe der Beratungen fallengelassen oder sogar vergessen wird und daß es dann zu einer Formulierung kommt, die in sich widersprüchlich erscheint; die neu gefaßte Bestimmung des § 22 Abs. 1 GWB bietet dafür ein Beispiel. Diese Besonderheiten, die sich aus der gesetzlichen Regelung verschiedener kartellrechtlicher Vorschriften ergeben, nötigen die Gerichte, namentlich aber das Revisionsgericht, zu einer behutsamen Rechtsanwendung. Die verfassungsmäßigen Sicherungen, Analogie und Bestimmtheitserfordernis, müssen bei der Anwendung von Vorschriften, die mit einem Bußgeld bewehrt sind, beachtet werden, die Präroga• BVerfGE 23, 163, 171; 28, 175, 183; BGHSt. 23, 167, 171; Baumann, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1977, S. 115 f; Hanack, JZ 1970, 41 ff. Auch muß nach allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen die Eingriffsermächtigung der Verwaltungsbehörde hinreichend bestimmt sein; dabei genügt es allerdings, wenn Inhalt und Zweck der Ermächtigung erkennbar sind und diese nicht maßlos ist - vgl. Wolf/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, S. 183; BVerfGE 8, 274, 326; 42, 191, 200; zu eng Ipsen, Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage 1976.

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tive des Gesetzgebers gegenüber richterlicher Rechtsfortbildung muß gewahrt bleiben, und die vielfach weitgefaßten, allgemein gehaltenen Formulierungen der Novellengesetzgebung fordern ihren Tribut bei der Rechtsanwendung durch die Gerichte. 3. Es ist aber nach meinem Eindruck noch ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten, der bei der richterlichen Anwendung kartellrechtlicher Vorschriften von Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um einen Gesichtspunkt, der dem Revisionsrichter der ordentlichen Gerichtsbarkeit im allgemeinen fremd, aber den Revisionssenaten der Verwaltungsgerichte durchaus geläufig ist. Ich meine den Umstand, daß im Bereich der Verwaltungsrechtsprechung - vgl. namentlich die Steuerverwaltung oder die Sozialverwaltung - die höchstrichterliche Rechtsprechung von der Verwaltung als Richtschnur für ihr weiteres Verwaltungshandeln verwendet wird. Das gilt auch für die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Kartellrechts. Hier ist es das Bundeskartellamt, das als Rechtsanwender die höchstrichterliche Rechtsprechung für seine weitere Amtstätigkeit nutzbar macht. Das Bundeskartellamt wirkt insoweit als Multiplikator und verleiht der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine erhöhte praktische Bedeutung für die Behandlung weiterer Fälle. Diese Wirkungskraft gewinnt in diesem Bereich dadurch eine besondere Note, daß das Entscheidungsmaterial, das dem Kartellsenat vorliegt, einen verhältnismäßig geringen Umfang hat. Das hat nach meinen Beobachtungen zur Folge, daß das Bundeskartellamt in dem verständlichen Bestreben, seiner Verpflichtung zur gleichmäßigen Behandlung nachzukommen, den wenigen vorliegenden Entscheidungen des Kartellsenats eine möglichst weitgehende Bedeutung und Wirkungskraft beizulegen versucht. Das führt natürlich auf Seiten der Wirtschaft zu einem entsprechenden Vorgehen, freilich in der Weise, daß die Wirtschaft der betreffenden Entscheidung eine gegenteilige Auslegung, aber mit einer ähnlich weitgehenden Wirkungskraft beilegt. Hier liegt der Grund dafür, daß die Urteile des Kartellsenats von den Beteiligten vielfach ungewöhnlich weit ausgelegt werden und ihnen eine Bedeutung zugemessen wird, die nicht selten erheblich über den entschiedenen Fall hinausgeht. Man kann daher aus richterlicher Sicht nur empfehlen, bei der Beurteilung der Entscheidungen des Kartellsenats dem Tatbestand eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und vor allem etwaige Besonderheiten dieses Tatbestandes nicht außer acht zu lassen. II. Wenden wir nun nach diesen allgemeinen Bemerkungen unseren Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung einzelner Unternehmen und zu den

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Befugnissen der Kartellbehörde, gegen einen solchen Mißbrauch einzuschreiten, so fällt auf, daß es nur sehr wenige Entscheidungen sind, die sich mit diesem Fragenbereich befassen. Im Grunde sind es nur zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1976, die sich zudem mit dem Mißbrauch auf einem besonders gearteten Markt, dem Markt für den Vertrieb von Medikamenten, befassen und einen etwaigen Mißbrauch bei der Preisgestaltung zum Inhalt haben. Bei den Besonderheiten gerade dieses Marktes - der behandelnde Arzt verschreibt das Medikament, die Krankenkasse bezahlt das Medikament, und der Patient verbraucht das Medikament - ist ein Mißbrauch durch Preisgestaltung gar nicht typisch für andere Fälle, weil durch die Besonderheit dieses Marktes heute noch leider - der Preiswettbewerb weitgehend ausgeschaltet ist und wahrscheinlich, wie die Erfahrungen aus anderen Ländern lehren, nur durch andere Mittel als die Mißbrauchsaufsicht des §22 GWB herbeigeführt werden kann. Jedenfalls erscheint es mir notwendig, bei der Beurteilung der vorliegenden Rechtsprechung das Atypische dieser zur Entscheidung kommenen Fälle zu beachten und dieses bei etwaigen Schlußfolgerungen für andere Tatbestände entsprechend zu berücksichtigen. Darüber hinaus liegt noch eine Reihe weiterer Entscheidungen vor, die zwar zur Anwendung des § 2 6 GWB ergangen sind, sich aber mit dem Begriff des marktbeherrschenden Unternehmens und dem Inhalt der Untersagungsbefugnis der Kartellbehörde ( § 3 7 a Abs. 2 GWB) befassen und deshalb auch bei der Anwendung des § 2 2 GWB von Bedeutung sind. 1. Nach meinem Eindruck vermitteln die vorliegenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes ein ungefähres Bild darüber, welche Befugnisse die Kartellbehörde bei einem Mißbrauch der marktbeherrschenden Stellung durch ein einzelnes Unternehmen hat. Dabei hat sich dieses Bild durch drei aufeinanderfolgende Entscheidungen zunehmend verdeutlicht; die inhaltliche Ausgestaltung durch fortschreitende Konkretisierung der im Gesetz vorgesehenen Untersagungsbefugnis in diesen drei Entscheidungen ist jetzt so weit gediehen, daß die Praxis, vor allem die Kartellbehörde im wesentlichen weiß, welche Rechte ihr nach § 2 2 GWB im einzelnen zustehen. Die grundlegende Entscheidung in diesem Bereich ist die PolyesterEntscheidung des Bundesgerichtshofes 9 . In dieser Entscheidung wird die Befugnis der Kartellbehörde - entsprechend dem Wortlaut „untersagen" ( § 3 7 a Abs.2 GWB; ebenso §22 A b s . 5 GWB) - darauf beschränkt, Verbote auszusprechen, und ausdrücklich gesagt, daß darunter nicht auch die Befugnis zum Ausspruch von Geboten fällt. Die Kartellbehörde hat also die Aufgabe, gegen Mißbräuche einzuschreiten und sie ' B G H N J W 1975, 1282.

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gegebenenfalls abzustellen, nicht aber auch die Aufgabe, das einzelne Unternehmen zu einem bestimmten positiven Verhalten zu veranlassen, ihm zu gebieten, in welcher Weise es den Mißbrauch abzustellen hat. Die Vornahme von bestimmten Lenkungsmaßnahmen gehört nicht zu den Aufgaben der Kartellbehörde, weder im Bereich des § 26 GWB noch im Bereich des § 2 2 GWB. Das ist für das Verständnis der kartellrechtlichen Uberwachungsfunktion von allgemeiner, aber auch von einer sehr praktischen Bedeutung und entspricht dem Grundgedanken des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Denn bei einem Gebot wird dem Betroffenen insoweit die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit genommen, während bei einem Verbot dem Betroffenen die Freiheit verbleibt und es ihm überlassen ist, in welcher Weise er das ihm zur Last gelegte Verhalten abstellen will. Dabei kommt es in diesem Zusammenhang nicht auf die äußere Form, nicht auf den Wortlaut der kartellamtlichen Verfügung, sondern allein auf ihre Tragweite und ihre Bedeutung an; es ist möglich, daß eine in die Form eines Verbots gekleidete Verfügung sich sachlich als ein Gebot darstellt 10 , wie umgekehrt eine Verfügung in der äußeren Form eines Gebots in ihrer sachlichen Tragweite ein Verbot sein kann". Von diesem grundsätzlichen Ausgangspunkt, wie ihn die PolyesterEntscheidung gesetzt hat, ist es nach meiner Meinung eine folgerichtige Weiterführung, wenn der Bundesgerichtshof in der Vitamin-B-12-Entscheidung 12 bei einem Preisverstoß die Befugnis der Kartellbehörde nicht auf das Verbot der konkreten Verletzungshandlung beschränkt, sondern der Kartellbehörde das Recht zugesprochen hat, das Verbot auf den gesamten Preisbereich oberhalb der festgestellten Mißbrauchsgrenze zu erstrecken. Das erscheint aus praktischen Gründen unabweisbar und führt auch keineswegs dazu, die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des betroffenen Unternehmens in unzumutbarer Weise einzuengen". 2. Was nun den Tatbestand des Mißbrauchs der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens selbst anlangt, so liegen zwar eine ganze Anzahl von Entscheidungen vor, die bestimmten Unternehmen den Charakter der Marktbeherrschung zusprechen; aber man wird aus diesen Entscheidungen nicht viel für eine Anwendung des § 22 GWB und für eine nähere Konkretisierung des Begriffes marktbeherrschender Unternehmen ableiten können. Denn es handelt sich dabei um gesetzli-

BGH NJW 1975, 1282. " BGHZ 67, 104, 108. 12 BGHZ 67, 104. 13 Ebenso Ulmer, BB 1977, 357. 10

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che oder gesetzlich ermöglichte Monopolbetriebe 1 4 oder Fast-Monopolbetriebe 15 oder schließlich um solche Unternehmen, die auf Grund tatsächlicher Verhältnisse auf dem relevanten Markt ein Monopol innehaben 16 . In diesen Fällen kann es an dem Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung keinen Zweifel geben, so daß sie auch für eine nähere Konkretisierung dieses Begriffes von vornherein nichts hergeben können. 3. Erst die beiden bereits erwähnten Entscheidungen aus dem Jahr 1976 - die Vitamin-B-12-Entscheidung 1 7 sowie die Valium-Entscheidung 18 haben einige im Schrifttum bestehende Zweifel bei der Auslegung des § 2 2 Abs. 2 G W B zu lösen versucht. Diese Zweifel, die sich bei der gebotenen Abgrenzung der N r . 1 und der Nr. 2 des Abs. 1 ergeben und sich namentlich auf die inhaltliche Auslegung der Nr. 2 beziehen, rühren aus der Neufassung des § 22 Abs. 1 G W B durch das zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Die Auslegung dieser Bestimmung hat im Schrifttum u. a. deshalb zu Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten geführt, weil die inhaltliche Ausgestaltung der Bestimmung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens einen Wandel erfahren hat, ohne daß sich dabei der Zweck, der mit der Neufassung des § 2 2 Abs. 1 G W B verfolgt wurde, geändert hätte 19 . Bei der bisherigen Gesetzeslage hatte sich in diesen Fällen, in denen Unternehmen mit unterschiedlichen Marktstellungen am Markt tätig sind, die Feststellung als schwierig erwiesen, ob das herausragende Unternehmen noch wirksamem Wettbewerb ausgesetzt ist oder nicht. U m diese Schwierigkeiten zu beheben, suchte der Referentenentwurf vom 28. O k t o b e r 1970 mit der Änderung des § 2 2 Abs. 1 G W B das Merkmal „keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt" durch die Verwendung des Begriffes „überragende Marktstellung" zu verdeutlichen und dadurch praktikabler zu fassen20. Der Regierungsentwurf vom 28. Mai 1971 hingegen ging bei der Verfolgung des gleichen Ziels einen anderen Weg. Er sah neben dem bisherigen Tatbestand der Marktbeherrschung einen neuen, zusätzlichen Tatbestand vor, der auf die überragende H Molkereigenossenschaft: B G H Z 33, 259; Rinderbesamungsgenossenschaft: B G H Z 42, 31; Elektrizitätsunternehmen mit Gebietsabgrenzungsvertrag: B G H Z 5 9 , 4 2 ; die in der Zentralstelle für private Uberspielungsrechte zusammengeschlossenen Verwertungsgesellschaften: B G H BB 1970, 416. 15 Allgemeine Ortskrankenkasse: WuW B G H 675. " Sportartikelmesse: B G H Z 52, 65; vgl. auch B G H Urt. v. 7.3.1974. - KZR 10/73 betr. örtl. Weintest. 17 B G H Z 67, 104. 18 B G H Z 68, 23. 19 Über die Entstehungsgeschichte dieser Novelle vgl. Leo, WRP 1972, 1, 3 ff. 20 Vgl. amtliche Begründung, S. 79.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Marktstellung eines Unternehmens im Verhältnis zu anderen Unternehmen auf demselben Markt abstellt21. Dabei verblieb es auch in den Beratungen des Wirtschaftsausschusses, nur daß der §22 Abs. 1 GWB eine redaktionelle Verbesserung erhielt, durch die die bereits von der Bundesregierung gewollte Alternative zweier verschiedener Tatbestände noch deutlicher zum Ausdruck kam22. Angesichts dieser Gesetzesgeschichte und angesichts des insoweit klaren Gesetzeswortlauts ist es m. E. nicht problematisch, daß der Bundesgerichtshof in seinen beiden Medikamenten-Entscheidungen bei der Anwendung des § 22 Abs. 1 GWB davon ausgegangen ist, daß die Bestimmungen der Nr. 1 und 2 in einem Alternatiwerhältnis zueinander stehen. Damit hat der Bundesgerichtshof die im Schrifttum immer noch vertretene Meinung, es handele sich bei der Nr. 2 um eine Legaldefinition der Nr. 1, die sachlich keine Erweiterung der bisherigen Vorschrift darstelle, sondern sie nur verdeutliche und der Kartellbehörde lediglich eine Erleichterung bei ihrer Anwendung bringe, abgelehnt23. Andererseits macht die Gesetzesgeschichte deutlich, daß auch der Alternativtatbestand der Nr. 2 dazu dienen soll, die Steuerungsfunktion des Wettbewerbs sicherzustellen. Nach der amtlichen Begründung entspricht die Marktstellung eines Unternehmens dem Verhaltensspielraum, den das Unternehmen bei der Anwendung seiner Wettbewerbsmittel hat. Demzufolge kann sich „die überragende Marktstellung eines Unternehmens an seinen überragenden Möglichkeiten zur Entwicklung unterschiedlicher Marktstrategien, aber auch an seinem Verhaltensspielraum beim Einsatz einzelner Aktionsparameter zeigen". Die abschließende Feststellung einer überragenden Marktstellung erfordert eine Gesamtbetrachtung aller maßgebenden Umstände, insbesondere auch eine Berücksichtigung der auf dem relevanten Markt herrschenden Wettbewerbsverhältnisse24. In diesem Punkt ist also der Bundesgerichtshof der vom Bundeskartellamt und der z. T. auch im Schrifttum vertretenen Meinung nicht gefolgt, die überragende Marktstellung habe keine Beziehung zum Wettbewerb oder zur Wettbewerbsbeschränkung, sondern werde unabhängig davon im wesentlichen durch die in der Nr. 2 näher genannten Merkmale bestimmt und umschrieben, sofern nämlich diese die MarktAmtliche Begründung, S. 71. Die Darstellung der Gesetzesgeschichte durch Lübbert, W u W 1977, 59 ff, wird m. E. der klar zum Ausdruck gebrachten und auch gewollten Änderung des Referentenentwurfs durch den Regierungsentwurf über den Weg, die erkannten Schwierigkeiten zu beheben, nicht gerecht. Infolgedessen vermag Lübbert auch nicht zu erkennen, daß die Änderungen, die der Wirtschaftsausschuß an dem Wortlaut des Regierungsentwurfs vorgenommen hatte, tatsächlich nur solche redaktioneller Art gewesen waren. 23 Z.B. Hootz, BB 1976, 1240; Benisch, GRUR 1977, 275; ähnlich auch Fischotter und Lübbert, BB 1977, 112; Hermanns, WRP 1977, 747. 24 BGHZ 67, 104, 115; 68, 23, 28. 21

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Stellung des Unternehmens entscheidend bestimmen 25 . Diese Beurteilung ist für die Anwendung des § 2 2 Abs. 1 N r . 2 G W B von einer entscheidenden, auch grundsätzlichen Bedeutung. Der Wortlaut und auch die Gesetzesgeschichte geben nichts für die Annahme her, man habe mit der neuen Bestimmung des N r . 2 die wettbewerbsorientierte Sicht des Gesetzes aufgegeben und allgemeine, gesetzespolitische Ziele, nämlich eine Erstreckung der Mißbrauchsaufsicht auf marktstarke Unternehmen ohne Berücksichtigung der Wettbewerbssituation auf dem relevanten Markt und damit gegebenenfalls die Einführung einer allgemeinen Preiskontrolle über große Unternehmen, verfolgen wollen 26 . Ein Blick ins Schrifttum macht deutlich, daß die Ansichten, in welcher Weise die beiden Tatbestände der Nr. 1 und 2 inhaltlich voneinander abzugrenzen seien, erheblich auseinandergehen. Das hängt offenbar damit zusammen, daß das Merkmal „überragende Marktstellung" nicht recht geeignet ist, eine den Wettbewerb gefährdende Marktmacht zu umschreiben und dadurch nur schwer eine echte Alternative zu dem Tatbestandsmerkmal „keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt" (Nr. 1) zu leisten vermag. Es nehmen daher die kritischen Stimmen im Schrifttum gegenüber der gesetzlichen Formulierung in Abs. 1 N r . 1 und Nr. 2 einen verhältnismäßig breiten Raum ein; zuweilen wird sogar die Ansicht geäußert, die Neufassung des § 2 2 Abs. 1 G W B stelle eine Fehlkonstruktion dar27. Die alternative Abgrenzung, die der Bundesgerichtshof dem § 2 2 Abs. 1 G W B zuteil werden läßt, wird in der zweiten der beiden Medikamenten-Entscheidungen erkennbar 28 . Bei ihr lag der Sachverhalt so, daß der Tatbestand der N r . 1 nicht bejaht werden konnte, weil Zweifel gegen das Vorliegen des Merkmals „keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt" vorlagen, dagegen - bei dem für die Rechtsbeschwerdeinstanz zu unterstellenden Sachverhalt - das Vorliegen des Tatbestandes der Nr. 2 bejaht werden mußte. Bei dieser Sachverhaltsgestaltung mußte also deutlich werden, daß nach der Auslegung des Bundesgerichtshofes auch dann ein echtes Alternativverhältnis zwischen den Tatbeständen der Hintze, WuW 1977, 18; Reich, N J W 1976, 2262; Emmerich, JuS 1977, 124. Vgl. dazu auch Möschel, BB 1976, 50; Hermanns, W R P 1976, 747; Wirz, WRP 1977, 246; ferner Scholz, Z H R 141 (1977), 524ff. 27 Vgl. Leo, W R P 1972, 8 f ; Rittner, DB 1973, 318; Baur, BB 1973, 918; Knöpfle, BB 1973, 1177; Fischotter und Lühbert, BB 1977, 112. 28 In der ersten dieser beiden Entscheidungen, der Vitamin B 12-Entscheidung, war das noch nicht so deutlich geworden, weil in ihr die überragende Marktstellung des betroffenen Unternehmens mit der Begründung verneint wurde, daß dem Unternehmen ein überragender einseitiger Spielraum in seinen Wettbewerbsverhältnissen nicht (mehr) zur Verfügung stand. Bei dieser Sachverhaltsgestaltung bestand keine Veranlassung, noch weitere Ausführungen über das Alternatiwerhältnis der beiden Tatbestände von Nr. 1 und Nr. 2 zu machen. 25

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N r . 1 und 2 gegeben ist, wenn man im zweiten Fall die gebotene Berücksichtigung der auf dem relevanten Markt herrschenden Wettbewerbsverhältnisse vornimmt, daß also m. a. W. das Vorliegen wesentlichen Wettbewerbs das Bestehen einer überragenden Marktstellung auch bei der erforderlichen wettbewerbsorientierten Betrachtung nicht ausschließt 2930 . 4. Der Bundesgerichtshof hat in den beiden Entscheidungen angenommen, daß sich die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auch in der Preisgestaltung des marktbeherrschenden Unternehmens zeigen kann. Er hat davon abgesehen, diese Auffassung noch besonders zu begründen 31 , nachdem er bereits im Zusammenhang mit der Mißbrauchsaufsicht bei Elektrizitätsunternehmen (§104 GWB) angenommen hatte, eine mißbräuchliche Ausnutzung der durch die Freistellung vom Verbot des § 1 GWB erlangten Monopolstellung könne auch in der Tarifgestaltung liegen32. In der ursprünglichen Fassung des §22 GWB aus dem Jahre 1957 war auch noch ausdrücklich von einem Mißbrauch „beim Fordern oder Anbieten von Preisen" die Rede. Wenn auch dieser Hinweis bei der Neufassung des §22 GWB durch die erste Kartellnovelle im Jahre 1965 gestrichen worden ist, so kann dem eine sachliche Bedeutung nicht beigemessen werden, da mit dieser Neufassung eine Lockerung der Mißbrauchsaufsicht nicht herbeigeführt werden sollte. Das ist heute im Schrifttum im Grunde auch gar nicht mehr streitig33. Selbst Ipsen, der in seinem Gutachten „Kartellrechtliche Preiskontrolle als Verfassungsfrage" verfassungsrechtliche Bedenken in bezug auf die hinreichende Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage sowie der hinreichenden Bestimmbarkeit bei der Handhabe der Preiskontrolle äußert, meint, es sei schwerlich zu bestreiten, daß die Mißbrauchsaufsicht nach §22 GWB auch die Preisgestaltung umfassen kann34. 29

Vgl. dazu Ulmer, N J W 1977, 358. Im Fall der Valium-Entscheidung besaß das betroffene Unternehmen auf dem relevanten Markt einen sehr hohen Marktanteil und überragte insoweit deutlich alle seine Mitbewerber. Auf dem relevanten Markt war der Preiswettbewerb ausgeklammert, aber es herrschte im übrigen ein beachtlicher, hier hauptsächlich auf Innovation und Werbung beschränkter Wettbewerb, der die Annahme ausschloß, es herrsche auf diesem Markt kein wesentlicher Wettbewerb. Diese Feststellung stand der Anwendung des §22 GWB nicht entgegen, da der Betroffenen eine mißbräuchliche Ausnutzung ihrer marktbeherrschenden Stellung allein durch die Preisgestaltung vorgeworfen wurde, und es für die Annahme, diese Preise seien nicht im Wettbewerb gebildet, ohne Belang war, daß im Hinblick auf Innovation und Werbung unter Umständen ein erheblicher Wettbewerb herrschte. 31 Wirz, WRP 1977, 245 bezeichnet es als erstaunlich, daß sich der Bundesgerichtshof mit einer solchen lapidaren Feststellung begnügt hat. 32 B G H BB 1965, 264; 1972, 850. 33 Vgl. Scholz, Z H R 141 (1977), 520 ff. 34 A . a . O . S. 16. 50

13. Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

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Sehr eingehend befaßt sich der Bundesgerichtshof in der ValiumEntscheidung mit der Frage, nach welchen Maßstäben ein Preismißbrauch festzustellen und wann er im Einzelfall anzunehmen sei. Dabei geht der Bundesgerichtshof in Fortführung seiner Rechtsprechung35 für den Fall, daß - wie hier - kein Preiswettbewerb stattfindet und damit ein im Wettbewerb gebildeter Preis als Maßstab nicht gegeben ist, von dem sog. Vergleichsmarktkonzept aus36. Mit diesem Konzept soll der Preis, der sich auf dem relevanten Markt bei funktionierendem Wettbewerb bilden würde, dadurch ermittelt werden, daß die auf einem vergleichbaren Markt im Wettbewerb gebildeten Preise als Beurteilungsgrundlage herangezogen und Unterschiede in der Marktstruktur durch entsprechende Zu- und Abschläge ausgeglichen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Unsicherheitsfaktoren bei der Ermittlung des wettbewerbsanalogen Preises für den relevanten Markt um so geringer sind, je näher der Vergleichsmarkt dem relevanten Markt kommt und umgekehrt; auch ist in diesem Zusammenhang die Breite des zur Verfügung stehenden Materials von Bedeutung. Mit diesen Darlegungen bestätigt der Bundesgerichtshof die Entscheidungspraxis des Bundeskartellamts; dabei ist es für die Praxis von besonderem Gewicht, daß der Bundesgerichtshof die Heranziehung eines Vergleichsmarktes mit recht beschränktem Vergleichsmaterial nicht von vornherein ausschließt, wenn dieses nur durch einen entsprechenden Sicherheitszuschlag berücksichtigt wird. Daß damit eine gewisse Rechtsunsicherheit verbunden ist, wie Wirz37 bedauernd feststellt, weil hier ohne eine gewisse Ermessensbreite der Kartellbehörde und des Tatrichters nicht auszukommen ist, ist richtig, aber wohl nicht zu vermeiden, wenn man einen Vergleichsmarkt mit einem solch beschränkten Vergleichsmaterial noch für die Ermittlung des wettbewerbsanalogen Preises zuläßt38. Von einer nur beschränkten Bedeutung sind m. E. die weiteren Ausführungen, die der Bundesgerichtshof im konkreten Fall über die Berechtigung und B G H Z 59, 42, 47 - Stromtarif. Zustimmend Möschel, B B 1976, 51; Ulmer, N J W 1977, 358; Benisch, G R U R 1977, 275; Scholz, Z H R 141 (1977), 537ff. Im Schrifttum werden noch immer Stimmen laut, die dem Vergleichsmarktkonzept äußert skeptisch gegenüberstehen (vgl. etwa Hoppmann, Preiskontrolle und A l s - O b - K o n z e p t 1974; Gabriel, Preiskontrolle im Rahmen der Wettbewerbspolitik, 1976, S. 8 ff). Trotz dieser - verständlichen - Bedenken wird man m. E. das Vergleichsmarktkonzept als „Notbehelf" hinnehmen müssen, weil es, wie Möschel, N J W 1975, 757 bemerkt, immer noch „besser als ein kampfloser Verzicht" auf jegliche Art von Preiskontrolle ist. 37 W R P 1977, 245. 38 N a c h meiner Meinung sollte das Rechtsbeschwerdegericht nach Klärung der hier in Betracht kommenden Rechtsfragen dem Tatsachenrichter die Entscheidung darüber belassen, in welchem U m f a n g (Bandbreite) er im einzelnen Fall einen Sicherungszuschlag für angemessen hält. 35

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Notwendigkeit von besonderen Zuschlägen an Hand der hier gegebenen - recht ungewöhnlichen - Verhältnisse macht; immerhin könnten sie für spätere Entscheidungen in diesem Bereich den Ausgangspunkt für die insoweit notwendige Konkretisierung der vorliegenden Rechtsprechung bilden. Von allgemeiner Bedeutung sind die Ausführungen darüber, daß bei Feststellung eines Preismißbrauchs ein weiterer Zuschlag zu dem ermittelten wettbewerbsanalogen Preis zu machen sei; denn von einem Mißbrauch könne nur dann gesprochen werden, wenn die verlangten Preise erheblich über den Preisen liegen, die sich bei funktionsfähigem Wettbewerb bilden würden". Diese Auffassung ist im Schrifttum als nicht verständlich bezeichnet worden, weil der Vorwurf gegen das marktbeherrschende Unternehmen gerade darin liege, daß es Preise fordere, die bei wirksamem Mißbrauch nicht durchsetzbar wären; es entbehre daher der wettbewerbstheoretischen Logik, dem Marktbeherrscher insoweit noch eine zusätzliche Bandbreite zuzuerkennen 40 . Diese Kritik geht an dem Grundgedanken vorbei, von dem sich der Bundesgerichtshof bei der Annahme eines Mißbrauchs der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens durch seine Preisgestaltung leiten läßt. Danach liegt ein Mißbrauch nicht schon dann vor, wenn das Unternehmen mehr als den wettbewerbsanalogen Preis fordert, sondern erst dann, wenn es erheblich mehr als diesen Preis fordert. Das folgt aus dem Tatbestandsmerkmal „mißbraucht", das einen Rechtsbegriff enthält und das wie bei jedem Rechtsmißbrauch eine erhebliche Abweichung von der Norm voraussetzt. Bei der Preiskontrolle durch die Mißbrauchsaufsicht nach § 2 2 G W B geht es also nicht darum, das Fordern des „richtigen" Preises zu gewährleisten, sondern darum, einen Mißbrauch bei der Preisgestaltung abzustellen. Dieser weitere Zuschlag ist also nicht ein weiterer Sicherheitszuschlag, der etwaigen Unsicherheiten bei der Ermittlung (Schätzung) des wettbewerbsanalogen Preises Rechnung tragen soll 4 '. y Auch bei voller Würdigung der Bedeutung, die den beiden Medikamenten-Entscheidungen des Bundesgerichtshofes für die praktische Anwendung des § 2 2 G W B zukommt, sollte m. E. nicht übersehen werden, daß einer Preiskontrolle im Rahmen dieser Bestimmung kein zu großes Gewicht beigemessen werden kann und daß sie gerade auf dem Medikamentenmarkt wohl nicht das geeignete Mittel ist, um unerfreuliche Fehlentwicklungen auszuschließen, die durch die Besonderheiten dieses Marktes bedingt sind. Im Schrifttum ist wohl nicht zu Unrecht BGHZ 68, 23, 32, 36. Vgl. Reich, NJW 1977, 679. 41 So offenbar Möschel, BB 1976, 51; Ulmer, BB 1977, 359; zutreffend Benisch, GRUR 1977, 275. 39 40

13. Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

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darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Vorgehen des Bundeskartellamtes gegen die beiden Medikamentenhersteller im Hinblick auf die strukturellen Besonderheiten dieses Marktes wenig sinnvoll gewesen sei42. Diese Besonderheiten auf dem genannten Markt sind dadurch gekennzeichnet, daß der Arzt das Medikament verschreibt, aber es nicht bezahlt und deshalb der Preis als Aktionsparameter auf diesem Markt nicht greift. Der Arzt als Verbrauchsdisponent ist nicht preisbewußt und verschreibt das Medikament vielfach ohne Rücksicht auf die Höhe des Preises, zumal auch sein Patient in der Regel das Medikament nicht zu bezahlen braucht. Bei dieser Sachlage muß es das Hauptanliegen'sein, auf den Arzt einzuwirken, daß er preisbewußt wird und bei der Verschreibung des Medikaments auch entsprechend handelt. Das kann wohl nur durch ein sinnvolles Zusammenwirken der Ärzteschaft mit der Sozialversicherung geschehen, wie das neuerdings in der Schweiz versucht wird. Darüber hinaus ist aber die Preiskontrolle im Anwendungsbereich des § 2 2 G W B bei den gegenwärtigen instabilen Preisverhältnissen auch nicht sonderlich wirksam. Mit Recht weist Möschel43 darauf hin, daß die Bestandskraft (Rechtskraft) einer Gerichtsentscheidung bei Mißbrauch durch Preisgestaltung relativ gering ist, da sich die tatsächlichen Grundlagen für die festgestellten Preisobergrenzen sehr schnell verändern können und auch tatsächlich verändern. Hinzukommt, daß dem Unternehmen eine gewisse wirtschaftliche Bewegungsfreiheit verbleiben muß, in welcher Weise es einem Verbot der Kartellbehörde Rechnung tragen will. Das kann nicht etwa nur in der Weise geschehen, daß das Unternehmen den Preis auf die zulässige Höhe senkt, sondern auch in der Weise, daß es durch Qualitätsverbesserung, Sortimentsänderung oder durch andere Maßnahmen auf das Vorgehen der Kartellbehörde reagiert44. Schließlich muß bedacht werden, daß eine strenge Preiskontrolle im Rahmen des § 2 2 G W B auch seine ernstzunehmenden Nachteile haben kann, die die Kartellbehörde m . E . im Auge behalten und bei ihrem Vorgehen gegebenenfalls abwägen sollte45. Mit Recht hat Möschel darauf aufmerksam gemacht, daß bei Preiskontrollen nach § 2 2 G W B ein Zielkonflikt zwischen kurzfristigen Verbraucherschutzvorteilen und Vgl. Schöppe, DB 1977, 388. BB 1976, 51. 44 B G H Z 67, 104, 109. Reich, NJW 1977, 679 bedauert es, daß hier dem marktbeherrschenden Unternehmen ein Schlupfloch gelassen wird; aber das ist bei der gesetzlichen Regelung, die der Kartellbehörde nur das Recht zum Verbot, nicht auch die Befugnis zum Gebote einräumt, zwangsläufig. 45 Das Einschreiten gegen Mißbräuche steht im Ermessen der Kartellbehörde, BGHZ 51, 61, 66. 42

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

mittel- oder langfristigen wettbewerbsstrukturellen Nachteilen auftreten kann46. Denn Preisherabsetzungen bei marktstarken Unternehmen können die Marktstellung des betroffenen Unternehmens stärken oder sogar zementieren, sie können namentlich die Zutrittschancen von Außenseitern vermindern und die Möglichkeiten einer Verstärkung der Marktstellung von Konkurrenten (Expansion) beeinträchtigen47. Der Tatbestand der Vitamin-B-12-Entscheidung läßt solche etwaigen, für den Wettbewerb nachteiligen Folgewirkungen einer strengen Preiskontrolle zu Lasten des Niedrigpreisanbieters deutlich werden. Unter diesen Umständen wird man bei einer wirklichkeitsnahen Betrachtung von einer Preiskontrolle im Rahmen des §22 GWB nicht zuviel erwarten können. Jedenfalls wird es gut sein, wenn die Kartellbehörde mit Rücksicht auf die Bestandskraft einer Gerichtsentscheidung der Preisstabilität auf dem relevanten Markt und mit Rücksicht auf die Sicherung der Marktzutrittschancen von Außenseitern und der Expansionsmöglichkeiten marktschwächerer Konkurrenten den Wettbewerbsverhältnissen auf dem relevanten Markt ein besonderes Augenmerk zuwendet.

«• BB 1976, 53; ebenso Ulmer, BB 1977, 359; Benisch, G R U R 1977, 275. 47 Das würde der Aufgabe der Mißbrauchsaufsicht zuwiderlaufen. „Das Ziel der Mißbrauchsaufsicht muß es vor allem sein, die Märkte offenzuhalten, damit die Machtposition des marktbeherrschenden Unternehmens durch das Eindringen neuer Unternehmen in den beherrschten Markt gefährdet bleibt und im Lauf der Zeit auch wieder abgebaut wird." (Emmerich, Wettbewerbsrecht, 1975, S. 121).

14. Zur Anwendung von § 181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts* i.

Das Verbot des Selbstkontrahierens ist in der Vorschrift des §181 BGB so formuliert, daß es wohl notwendigerweise zum Gegenstand gegensätzlicher Meinungsäußerungen in Rechtsprechung und Schrifttum werden mußte. Denn dieses Verbot bezweckt nach der ratio legis den Schutz des Vertretenen vor einem Mißbrauch der Vertretungsmacht durch den Vertreter, aber gleichwohl ist diese Vorschrift nicht in die Form einer „konkreten Schutznorm", sondern im Interesse der Rechtssicherheit als eine „abstrakte Ordnungsform" 1 gefaßt2. Demzufolge ist der Schutzzweck, das gesetzliche Motiv für diese Vorschrift, nicht zur Tatbestandsvoraussetzung dieser Vorschrift geworden 3 . Damit ist die Vorschrift in ihrer gesetzgeberischen Formulierung für die Rechtsanwendung von vornherein darauf angelegt, daß in ihrem Bereich "Wortbedeutung und Zweckdeutung miteinander in Widerspruch geraten können, nämlich ob bei der Rechtsanwendung dem Inhalt der gesetzlichen Vorschrift im Interesse der Rechtssicherheit oder der ratio legis im Interesse einer gerechten Einzelfallentscheidung der Vorzug zu geben sei4. Angesichts dieser Rechtslage ist es nicht zu verwundern, daß in neuerer Zeit auch methodische Fragen der Gesetzesauslegung im Anwendungsbereich des §181 BGB besondere Bedeutung erlangt haben, namentlich die Frage nach einer restriktiven Interpretation der Verbotsvorschrift dann, wenn trotz Personenidentität schutzwerte Interessen des Vertretenen nicht gefährdet sind, sowie die Frage nach einer extensiven Interpretation dann, wenn der Vertreter ohne ein förmliches Selbstkontrahieren gegen den sachlichen Schutzgedanken der Gesetzesvorschrift verstößt. Dabei spielt in neuester Zeit im Rahmen * Aus: Festschrift für Fritz Hauß zum 70. Geburtstag am 28. Oktober 1978. Hrsg. von Ernst von Caemmerer, Robert Fischer, Karl Nüßgens, Reimer Schmidt. - Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 1978, 61-81. 1 Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, 2. Buch 2. Abteilung 1952, S. 48. 2 Vgl. dazu Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. 1, S. 175; vgl. auch R G Z 68, 172, 175/76. 3 In diesem Sinn sehr deutlich B G H Z 50, 11: „Ein Interessengegensatz zwischen den mehreren von dem Vertreter repräsentierten Personen . . . ist grundsätzlich weder erforderlich noch ausreichend." 4 Vgl. dazu einerseits von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs Bd. II. 2 1918, S. 366, andererseits Heinrich Lehmann, Allgemeiner Teil 5. Aufl. 1947, §36 IV 4 c).

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

einer wertungsjuristischen Betrachtung die „teleologische Reduktion" 5 eine besondere Rolle. Ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, daß sich das Reichsgericht von Anfang an streng an den Wortlaut der Vorschrift angelehnt und bis zuletzt an ihren Charakter als einer formalen Ordnungsvorschrift festgehalten hat, die im Interesse der Rechtssicherheit nur, aber auch stets ein Rechtsgeschäft des Vertreters mit sich selbst, und zwar ohne Rücksicht auf das Vorliegen eines Interessenwiderstreits im konkreten Einzelfall, verbietet. Dabei ist es eine lange Reihe von Entscheidungen, die mit dem Urteil vom 7. Juni 19026 beginnt und mit dem Urteil vom 27. Januar 193 87 ihren Abschluß gefunden hat8. Rückblickend ist dieser gesetzestreuen Anwendung des §181 B G B durch das Reichsgericht im Schrifttum Anerkennung gezollt worden, weil sie „ein unablehnbares Gebot richterlicher Pflichterfüllung"' sei, weil die rigorose Durchführung des § 181 B G B zwar lästig, aber ein geringeres Übel als die Unsicherheit des Rechtsverkehrs sei10. Der Bundesgerichtshof hat zunächst diese Rechtsprechung übernommen und an ihr bis zum Jahre 1970 festgehalten. Mit seinem Urteil vom 19. April 1971" hat er sodann eine neue Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eingeleitet und sich von „der allzu begrifflichkonstruktiven Rechtsprechung des Reichsgerichts"12 abgewendet: Für diese neue Entwicklung der Rechtsprechung13 sind die Urteile in B G H Z 56, 97; 59, 236; 64, 72 besonders signifikant14. Von allgemeiner Bedeutung scheint mir im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Buns So Latenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 2. Aufl. 1969, S. 369 ff; vgl. den., Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts 4. Aufl. 1977, S. 519 f. ' RGZ 51, 422. 7 RGZ 157, 24. 8 Im Nachschlagewerk des Reichsgerichts sind zum Verbot des Selbstkontrahierens (§181 BGB) allein 56 Entscheidungen verzeichnet, die fast gleichmäßig auf den ganzen Zeitraum von 1902 bis 1938 verteilt sind. Die große Anzahl dieser Entscheidungen macht deutlich, daß im Grunde die in der Formulierung des §181 BGB angelegte Problematik trotz der Beständigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung während der ganzen Zeit eigentlich niemals zur Ruhe gekommen ist. ' Boehmer, a . a . O . (Fn. 1) S.56. 10 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts 2. Bd. Das Rechtsgeschäft 2. Aufl. 1975, S. 812. 11 B G H Z 56, 97. 12 So Fleck, in Anm. LM Nr. 15 zu § 181 BGB. 13 Bernstein und Scbultze-von Lasaulx, ZGR 1976, 41 sprechen „von dem tiefgreifenden Wandel", „der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 181 BGB in den letzten Jahren stattgefunden hat". 14 Vgl. dazu auch die Anmerkungen der beiden Verfasser dieser Entscheidungen in LM Nr. 15, 17, 18 zu §181 BGB, die auch ihrerseits den Wandel in der Rechtsprechung hervorheben.

14. § 1 8 1 B G B im Bereich des Gesellschaftsrechts

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desgerichtshofes vor allem eine Tatsache zu sein, die bisher die ihr gebührende Beachtung nicht gefunden hat, nämlich die Tatsache, daß das Rechtsprechungsmaterial im Anwendungsbereich des §181 B G B einen bemerkenswerten Wandel erfahren hat. Während beim Reichsgericht die Anwendungsfälle für die Vorschrift des §181 B G B ganz überwiegend aus dem bürgerlichen Recht stammten 15 , und das auch noch im ersten Jahrzehnt des Bestehens des Bundesgerichtshofes so gewesen war, ist seit dem Jahre 1960 insoweit eine erstaunliche und bedeutungsvolle Änderung eingetreten. Nunmehr spielen die gesellschaftsrechtlichen Anwendungsfälle des §181 B G B in der Rechtsprechung die entscheidende Rolle und bringen im Zusammenhang mit der neuen gesellschaftsrechtlichen Entwicklung immer neue Varianten für die hier in Betracht kommenden Tatbestandsgestaltungen 1 '. Es scheint mir angebracht zu sein, dieser Entwicklung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und den gesellschaftsrechtlichen Aspekten bei der Anwendung des § 181 B G B die ihnen zukommende Beachtung zuteil werden zu lassen. Das soll im folgenden an zwei Beispielen näher dargelegt werden.

II. Die Anwendung des § 181 B G B gehört, wie Reinhardt bemerkt hat17, zu einem der Standardprobleme der Einmann-GmbH, mit dem sich die höchstrichterliche Rechtsprechung wiederholt 18 und das Schrifttum immer wieder bis in die jüngste Vergangenheit in zahlreichen Abhandlungen befaßt hat 1 '. Dabei ist es nicht streitig, daß §181 B G B auch auf die Organe einer Handelsgesellschaft anwendbar ist, wenngleich die Vorschrift unmittelbar nur den gewillkürten und den gesetzlichen Vertreter betrifft 20 . Außerdem ist es nicht streitig, daß die Verbotsvorschrift des §181 B G B den Umfang der Vertretungsmacht gesetzlich einschränkt, oder mit anderen Worten, daß die Gestattung des Selbstkon15 Von den 56 Entscheidungen im Nachschlagewerk des Reichsgerichts zu § 181 B G B sind nur 4 solche gesellschaftsrechtlicher Art. Uber die Rechtsprechungsfälle aus der Zeit des Reichsgerichts gibt Staudinger/Riezler, 10. Aufl. 1936, § 1 8 1 Anm. 4 eine gute Übersicht.

" Im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes sind bei § 1 8 1 B G B insgesamt 21 Leitsatzentscheidungen verzeichnet. Davon entfallen auf die Zeit bis einschließlich 1959 7 Leitsatzentscheidungen, darunter keine gesellschaftsrechtlicher Art. Von den 14 Entscheidungen seit dem Jahre 1960 hingegen sind 10 Entscheidungen aus dem Bereich des Gesellschaftsrechts und nur 4 solche allgemeiner Art. " Gesellschaftsrecht 1973, S.326. 18 R G Z 63, 172; J W 1934, 974; B G H Z 33, 189; 56, 97. " Vgl. die Nachweise bei Plunder, Die Geschäfte des Gesellschafter-Geschäftsführers der Einmann-GmbH mit sich selbst 1969; W. Blomeyer, A c P 172, 1 ff; Leßmann, B B 1976, 1377. 20 B G H Z 33, 189, 190.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

trahierens gegebenenfalls eine Erweiterung des gesetzlichen Umfangs der in den §§ 125 H G B , 37 G m b H G umschriebenen Vertretungsmacht darstellt. Diese unmittelbare Auswirkung des § 1 8 1 B G B auf den Umfang der Befugnisse, die den Vertretungsorganen von Handelsgesellschaften kraft zwingenden Rechts zusteht, kann, wie noch zu zeigen sein wird, nicht ohne Einfluß auf die Auslegung des §181 B G B bei diesen Vertretungsorganen sein. 1. Das Verbot des Selbstkontrahierens dient dem Schutz des Vertretenen, da, wie es in den Protokollen zum Bürgerlichen Gesetzbuch heißt, das sog. Selbstkontrahieren stets die Gefahr eines Konflikts der Interessen und einer Schädigung des einen oder anderen Teils mit sich bringe, und daß es deshalb ausgeschlossen werden müsse 21 . Aber auf diese Schutzfunktion beschränkt sich die Verbotsvorschrift nicht; vielmehr hat sie, wie die Entstehungsgeschichte klar erkennen läßt und heute in Rechtsprechung und Schrifttum auch nicht mehr streitig ist, auch den Schutz der Verkehrssicherheit im Auge. Denn das Verbot des § 181 B G B ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen durch das Selbstkontrahieren eine konkrete Gefährdung der Interessen des Vertretenen gegeben ist, sondern es ist im Interesse der Verkehrssicherheit weiter gefaßt. Es umfaßt abgesehen von den zwei ausdrücklich genannten Ausnahmen alle Fälle des Selbstkontrahierens, weil bei einer Beschränkung des Verbots die Wirksamkeit des rechtsgeschäftlichen Handelns des Vertreters von einem Moment abhängig wäre, das für Dritte zu unbestimmt und vielfach nicht zu erkennen ist, und das deshalb die Verkehrssicherheit gefährdet. Das hat zur Folge, daß bei der Rechtsanwendung die Grenzen des Verbots nicht allein aus der Sicht der individuellen Interessen des Vertretenen bestimmt werden können, sondern daß sie auch im Hinblick auf die Interessen der Allgemeinheit an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gesehen werden müssen. Dabei mag der Hinweis angebracht sein, daß aus heutiger Sicht für die richterliche Beurteilung die Beachtung der Interessen der Allgemeinheit mindestens das gleiche Gewicht haben muß wie die Berücksichtigung der individuellen Interessen des Vertretenen. Man wird daher auch heute die Interessenabwägung, die den Gesetzgeber bei der Fassung der Verbotsvorschrift des § 181 B G B geleitet hat, bei der Rechtsanwendung für maßgeblich halten müssen, und zwar in dem Sinn, daß der individuelle Schutzzweck dieser Vorschrift rechtliche Anerkennung nur insoweit finden kann, als das mit dem allgemeinen Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu vereinbaren ist22. So Protokolle zum BGB a.a.O. (Fn.2). Nipperdey hat diesen Gedanken im Lehrbuch von Enneccerus, Allgemeiner Teil 15. Aufl. 1960, § 181 III, zutreffend mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Das Gesetz 21

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14. §181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts

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Bei der Beantwortung der Frage, wieweit der Schutz der Verkehrssicherheit reicht, den die Vorschrift des § 181 BGB im Auge hat, insbesondere welche Personen insoweit in ihren Interessen geschützt werden sollen, mag es nahe liegen, insoweit zunächst nur an die Interessen des Vertragsgegners (oder des Empfängers einer einseitigen rechtsgeschäftlichen Erklärung) zu denken und nicht auch noch die Interessen anderer Personen in diesen Schutzbereich einzubeziehen. Eine solche Beurteilung würde wohl der Betrachtung entsprechen, von der der Gesetzgeber bei der Fassung des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgegangen ist, indem er im wesentlichen die an dem Rechtsgeschäft (Vertrag) unmittelbar beteiligten Personen in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen und unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit im wesentlichen diese Personen ins Auge gefaßt hat. Das würde bedeuten, daß man bei der Anwendung des § 181 BGB den Schutz, den diese Vorschrift im Interesse der Verkehrssicherheit bezweckt, nicht auch auf die Gläubiger des Vertretenen erstrecken kann23, die im Einzelfall durchaus ein Interesse daran haben können, Gewißheit über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts zu erhalten, das der Vertreter im Namen des Vertretenen mit sich selbst abgeschlossen hat. Immerhin mag demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß es nicht unzweifelhaft ist, ob man eine solche Beschränkung auf die Interessen der an dem Rechtsgeschäft unmittelbar beteiligten Personen, die im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat, auch heute noch hinnehmen kann. Unserer heutigen Auffassung würde es wohl mehr entsprechen, den Schutzbereich im Interesse der Verkehrssicherheit weit zu ziehen und dabei auch dem Gläubigerschutz die ihm zukommende Beachtung zuteil werden zu lassen24. will zwar eine Benachteiligung des Vertretenen bei einem Interessenkonflikt in der Person des Vertreters verhindern, aber es will diesen Schutz offenbar nur insoweit zulassen, als dies mit den Bedürfnissen des Verkehrs vereinbar ist." Unrichtig scheint es mir demgegenüber zu sein, wenn etwa Plander, a . a . O . S. 56 (Fn. 19), aus der Tatsache, daß die Verbotsvorschrift des §181 BGB dem Schutzgedanken zugunsten des Vertretenen ihre Entstehung verdankt, die Folgerung zieht, ihm komme „vorrangige Bedeutung" zu, weil diese Schutzfunktion der „primäre Normzweck" sei, und weil die sonstigen Erwägungen bei der Ausgestaltung der N o r m „nur beiläufig mit verfolgte Zwecke" zum Ausdruck brächten, oder noch weitergehend ders., GmbHRdsch. 1971, 153, wonach der „Schutz Dritter so minimal" sei, „daß er sich praktisch gegen Null verflüchtigt"; ähnlich auch Berns, GmbHRdsch. 1966, 228; W. Blomeyer, AcP 172, 3. " So Feine, Handbuch des gesamten Handelsrechts 3. Band III. Abteilung 1929, S. 451; Boesebeck, N J W 1961, 483; Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden 1963, S. 186; Plander, a. a. O . (Fn. 19) S. 34, 35, 43, 58; W. Blomeyer, AcP 172, 6; Frank, N J W 1974, 1073. 24 So B G H Z 33, 189; 56, 97; Larenz, Allgemeiner Teil 4. Aufl. 1977, S.521; Winkler, N J W 1971, 1355; Giesen, JRdsch. 1973, 62; Behrens und Schultze-von Lasaulx, Z G R 1976, 44; Leßmann, BB 1976, 1380.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

2. Es wurde schon hervorgehoben, daß die Verbotsvorschrift des § 181 BGB für den allgemeinen rechtsgeschäftlichen Verkehr vorgesehen ist und sich unmittelbar nur auf den rechtsgeschäftlich bestellten und den gesetzlichen Stellvertreter bezieht. Die Anwendung des § 181 BGB auch auf die Organe von Handelsgesellschaften 25 ist freilich geboten, weil der Rechtsgedanke des §181 BGB auch hier rechtliche Berücksichtigung erfordert. Dabei ist jedoch zu beachten, daß diese Vorschrift nicht auf die Besonderheiten der organschaftlichen Vertretungsmacht des Handelsrechts zugeschnitten ist26. Denn die Besonderheit dieser Vertretungsmacht besteht darin, daß ihr Umfang in gesetzlich zwingender Form festgelegt ist. Da die Anwendung des §181 BGB zu einer gesetzlichen Erweiterung dieser Vertretungsmacht führt, kann das im Interesse des Rechtsverkehrs nur hingenommen werden, wenn diese Erweiterung nach außen deutlich in Erscheinung tritt. N u r unter dieser Voraussetzung läßt sich die Anwendung des § 181 BGB auf eine organschaftliche Vertretungsmacht des Handelsrechts rechtfertigen. Die Notwendigkeit einer solchen Verdeutlichung nach außen erscheint m. E. um so zwingender, wenn man in diesem Zusammenhang die erste Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 9. März 1968 zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts 27 und das zu ihrer Durchführung ergangene deutsche Koordinierungsgesetz vom 15. August 196928 berücksichtigt. Denn nach dem Grundgedanken dieser Vorschriften sollte es im Interesse des zwischenstaatlichen Handelsverkehrs sichergestellt sein, daß sich jedermann über den Umfang der organschaftlichen Vertretungsmacht in einer Handelsgesellschaft unterrichten kann. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Besonderheiten, die für die organschaftliche Vertretung von Handelsgesellschaften gelten, ist es m. E. unzweifelhaft, daß man bei einer Anwendung der Verbotsvorschrift des §181 BGB auf organschaftliche Vertreter den Schutzbereich zugunsten Dritter weit ziehen und das Interesse aller Personen, die insoweit an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit interessiert sind, angemessen berücksichtigen muß. Entgegen der Auffassung der in Anm. 22 Genannten würde ich des weiteren meinen, daß man dieses Schutzbedürfnis auch nicht für gering (minimal) achten sollte und nicht vernachlässigen darf. 3. Beachtet man aus dieser Sicht die besonderen Verhältnisse, wie sie sich beim Kontrahieren des Gesellschafter-Geschäftsführers einer Ein25

Mit Rücksicht auf die besondere Vorschrift des § 112 AktG kommt eine Anwendung des § 181 BGB beim Vorstand einer Aktiengesellschaft nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht; vgl. dazu Geßler, Komm. AktG §78 Anm. 93. 26 Leßmann BB 1976, 1380. 27 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L65 vom 14. März 1968, S. 8. 28 BGBl. I S . 1146.

14. §181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts

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m a n n - G m b H mit sich selbst darstellen, so wird deutlich, daß man bei einer Anwendung des § 181 BGB der besonderen Gefahrenlage rechtliche Beachtung und Berücksichtigung beimessen muß, die in dieser Hinsicht gerade bei einer E i n m a n n - G m b H festzustellen ist. Der Bundesgerichtshof geht allerdings in seiner Entscheidung vom 19. April 19712' von einer gegenteiligen Auffassung aus, die auch von einigen Stimmen im Schrifttum vertreten wird. Der Bundesgerichtshof ist der Meinung, die E i n m a n n - G m b H müsse, da sie heute rechtlich allgemein anerkannt sei, ebenso wie andere Rechtspersonen grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich ungehindert im Rechtsverkehr zu betätigen, soweit dies für ihre wirtschaftliche Entfaltung notwendig sei; dazu könne auch der Abschluß von Geschäften mit dem Allein-Gesellschafter gehören, die man deshalb nicht durch das Erfordernis der Satzungsänderung erschweren dürfe 30 . In ähnlichem Sinn äußert sich Plander, wenn er meint, es sei widersprüchlich und sinnlos, die Einmann-Gesellschaft zunächst zuzulassen, ihre Betätigung im Rechtsverkehr aber durch ein Verbot des Selbstkontrahierens zu erschweren, da mit diesem Verbot schwer zu ertragende Nachteile für die Entfaltung solcher Gesellschaften verbunden seien31. Ich bin in diesem entscheidenden Punkt genau gegenteiliger Auffassung. Nachdem die Rechtsprechung die E i n m a n n - G m b H rechtlich anerkannt hat, ist es, so meine ich, ihre besondere und vornehmliche Aufgabe, darauf zu achten und darüber zu wachen, daß diese Rechtsfigur im Rechtsverkehr nicht zum Schaden Dritter Verwendung findet. Die Rechtsprechung hat mit der Anerkennung der E i n m a n n - G m b H gewissermaßen die Verantwortung für sie übernommen, wobei diese Verantwortung m. E. in erster Linie dem Revisionsrichter zufällt. Die rechtliche Anerkennung der E i n m a n n - G m b H gibt also mit anderen Worten dieser keinen Freibrief für ihre wirtschaftliche Betätigung, sondern löst die Pflicht des Revisionsrichters aus, jeweils unter Berücksichtigung der vorliegenden Erfahrungen zu prüfen, ob zur Abwehr von Gefahren, namentlich zur Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in dieser oder in jener Hinsicht gewisse Schutzvorkehrungen geboten sind32. Dabei wird es mit Rücksicht auf die besondere Gefahrenlage, die sich bei einer E i n m a n n - G m b H für Gläubiger und etwaige Erwerber von Geschäftsanteilen ergeben kann, nötig sein, die E i n m a n n - G m b H nicht „ebenso wie andere Rechtspersonen" 33 zu behan" B G H Z 56, 97. 30 B G H a . a . O . S. 103/04. 31 A. a. O . (Fn. 19) S. 57, 59; vgl. auch Behrens und Schultze-von 44. 32 33

Vgl. dazu auch Leßmann, B G H Z 56, 103.

BB 1976, 1381.

Lasaulx, Z G R 1976,

232

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

dein. Im Anwendungsbereich des § 181 B G B geht es somit nicht darum, die geschäftliche Betätigung der Einmann-GmbH durch ein Selbstkontrahieren ihres Gesellschafter-Geschäftsführers zu erleichtern, sondern den Schutz des Rechtsverkehrs und dabei auch den der Gläubiger in dem gebotenen Umfang zu gewährleisten. Dieser Beurteilung entspricht es, daß es auch aus rechtspolitischer Sicht heute als notwendig empfunden wird, gewisse Schutzvorkehrungen gegen Gefahren zu treffen, die sich für den Rechtsverkehr aus der Anerkennung der Einmann-GmbH ergeben können 34 . Entgegen der Meinung des Bundesgerichtshofes 35 kann man den notwendigen Schutz für die Gläubiger nicht den Vorschriften der §§ 30, 31 G m b H G , 29 ff K O überlassen. Denn diese Vorschriften stellen nur Minimalforderungen für den allgemeinen Gläubigerschutz dar, sie berücksichtigen aber nicht die besonderen Gefahren, die beim Selbstkontrahieren eines Einmann-Gesellschafters auftreten können 36 . Hier besteht, wie Plander sehr plastisch gesagt hat37, eine graue Zone, in der die zwei Vermögensmassen, das GmbH-Vermögen und das Vermögen des Alleingesellschafters, ineinanderfließen können, da der Gesellschafter allzu leicht geneigt sein kann, die Konturen der rechtlichen Zuordnung dieser Vermögensmassen unklar zu halten38. 4. Die Anwendung der Verbotsvorschrift auf das Selbstkontrahieren eines Alleingesellschafters bedarf keiner Begründung, da dieses Kontrahieren den Tatbestand der Verbotsvorschrift erfüllt39. Auch entfällt die Anwendung der Verbotsvorschrift nicht schon deshalb, weil eine Gefährdung des Vertretenen (GmbH) hier von vornherein nicht in Betracht kommen kann. Denn eine teleologische Reduktion kann erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn dadurch der gebotene Schutz dritter Personen nicht gefährdet ist. Das aber kann hier nicht bejaht 34 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und anderer handelsrechtlicher Vorschriften vom 2. September 1977, der einige zusätzliche Regelungen über die Einmann-GmbH vorsieht, die für die Sicherung der Aufbringung des Stammkapitals sowie für eine klare Abgrenzung der Geschäfte der Gesellschaft von denen des Gesellschafters sorgen sollen. 35 Wie dieser auch Feine, a . a . O . (Fn.23) S.451; Boesebeck, NJW 1961, 483. 36 Vgl. Giesen, JRdsch 1971, 505. 37 A . a . O . (Fn. 19) S. 79. 38 Auch der Regierungsentwurf einer Änderung des GmbH-Gesetzes sieht diese Gefahren und will ihnen durch eine besondere Regelung entgegentreten, hält also insoweit ebenfalls die allgemeinen Schutzvorschriften der §§30, 31 GmbHG nicht für ausreichend. 39 Das Schrifttum vermittelt freilich manchmal den Eindruck, daß eine solche Begründung notwendig sei, indem man schlicht über die Tatsache hinweggeht, daß in den hier interessierenden Fällen der alleinige Gesellschafter als Geschäftsführer (Vertreter) der GmbH Rechtsgeschäfte mit sich selbst abschließt und ein solches Handeln in § 181 BGB nicht zugelassen ist.

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werden, namentlich wenn man die besonderen Anforderungen berücksichtigt, die man bei einer Erweiterung der organschaftlichen Vertretungsmacht an den Schutz des Rechtsverkehrs (auch des zwischenstaatlichen Handelsverkehrs) und bei der besonderen Gefährdung der Gläubiger einer Einmann-GmbH an ihren Schutz stellen muß. Diese Beurteilung erscheint auch durchaus sachgerecht und vernünftig, wenn man die Folgen einer solchen Beurteilung überdenkt. Die Anwendung des § 181 BGB auf den alleinigen Gesellschafter-Geschäftsführer einer Einmann-GmbH bedeutet, falls er Rechtsgeschäfte namens der G m b H mit sich selbst abschließt, daß diese Geschäfte nur dann wirksam sind, wenn dem Geschäftsführer ein solches Handeln allgemein gestattet ist. Für eine solche allgemeine Gestattung, die eine Erweiterung der Vertretungsmacht des Geschäftsführers herbeiführt, ist das Gesellschaftsorgan zuständig, das den Geschäftsführer zu bestellen hat, also in der Regel die Gesellschafterversammlung. Bei der Einmann-GmbH ist das der alleinige Gesellschafter, der jede Satzungsänderung, so auch diese, die Erweiterung der Vertretungsmacht, beschließen kann, weil er insoweit nicht durch die Vorschrift des §47 Abs. 4 G m b H G an der Ausübung seines Stimmrechts gehindert ist40. Eine solche allgemeine Gestattung durch satzungsändernden Beschluß herbeizuführen, ist für den alleinigen Gesellschafter recht einfach und für ihn mit keinem großen Aufwand verbunden. Es ist deshalb für mich verwunderlich, daß erfahrene Wirtschaftsanwälte4.1 sich zum Teil mit großem Nachdruck gegen eine Anwendung des §181 BGB gewendet haben, obwohl der alleinige Gesellschafter-Geschäftsführer auf einem verhältnismäßig einfachen Weg sich die Möglichkeit zu einem wirksamen Selbstkontrahieren verschaffen kann. Dieses Verhalten kann man eigentlich nur damit erklären, daß die Satzungsänderung und ihre Verlautbarung durch Eintragung in das Handelsregister (§ 54 G m b H G ) für den Rechtsverkehr doch von Bedeutung sind und die Einmann-Gesellschafter gerade diese Wirkung vermeiden wollen. Das aber unterstreicht die Notwendigkeit und die Wirksamkeit einer solchen Anforderung, weil sie offenbar durchaus geeignet ist, eine für den Rechtsverkehr wichtige informative Wirkung auszuüben. Im Interesse der Rechtsklarheit und im Interesse einer Offenlegung dieser für die Öffentlichkeit bedeutsamen Geschäftsvorgänge kann diese informative Wirkung nur erwünscht sein; der Rechtsverkehr kann sich dann jedenfalls darauf einrichten,' daß bei der betreffenden G m b H solche meist schwer über40 § 47 Abs. 4 G m b H G ist eine Spezialvorschrift gegenüber § 181 BGB, so daß für diese Beschlußfassung das Verbot des Selbstkontrahierens nicht gilt (vgl. Zöllner, a. a. O . [Fn.23] S.269; Plander, a . a . O . [Fn. 19] S.20/21). 41 Vgl. Hachenburg, J W 1925, 247; von Godin, JW 1934, 975; Boesebeck, N J W 1961, 481; Schilling bei Hachenburg §36 Anm. 13.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

schaubaren Insichgeschäfte vorgesehen sind und deshalb auch vorkommen können. Eine andere Frage ist es, ob die Erweiterung der gesetzlichen Vertretungsbefugnis durch eine solche allgemeine Gestattung noch einer besonderen Eintragung nach § 10 G m b H G bedarf42. Daß eine solche besondere Eintragung, jedenfalls nach der ersten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften, aus der Sicht des Geschäftsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erwünscht ist, kann m. E. nicht zweifelhaft sein"; gewisse Bedenken gegen eine solche Eintragungspflicht könnten daraus hergeleitet werden, daß das deutsche Koordinierungsgesetz vom 15. August 1969 darüber keine Bestimmungen enthält. Ich selbst würde freilich solchen Bedenken kein entscheidendes Gewicht beimessen. Denn wenn man mit dem Bundesgerichtshof44 davon ausgeht, daß man die Vorschriften des deutschen Koordinierungsgesetzes „gemeinschaftskonform" auslegen und deshalb ihre Auslegung an die 1. Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften anlehnen muß, dann scheint mir nach der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 12. November 1974 45 auch insoweit eine klarstellende Eintragung im deutschen Handelsregister über den Umfang der Vertretungsmacht des Einmann-Gesellschafters geboten zu sein46. Es mag hier noch angefügt werden, daß eine Gestattung des Selbstkontrahierens für einen Einzelfall bei der Einmann-GmbH nicht in Frage kommen kann. Das hängt mit den Besonderheiten einer organ-

42

232.

Das ist in der Praxis bisher verneint worden, vgl. dazu O L G Karlsruhe NJW 1963,

Ebenso Winkler, DNotZ 1970, 488. BGH WM 1974, 510. 45 EuGH Sammig. der Rspr. des Gerichtshofes 1974, S. 1201 ff. 46 In dieser Entscheidung heißt es: „Für diese Zielsetzung (d.h. für den Zweck der Richtlinie) ist es wichtig, daß sich jeder, der den Wunsch hat, Geschäftsverbindungen mit Gesellschaften in anderen Mitgliedstaaten aufzunehmen oder fortzusetzen, unschwer Kenntnis von den wesentlichen Angaben über die Gründung der Handelsgesellschaften und über die Befugnisse der mit ihrer Vertretung betrauten Personen verschaffen kann. Im Interesse des Rechtsverkehrs zwischen Angehörigen verschiedener Mitgliedstaaten müssen daher alle einschlägigen Angaben ausdrücklich in Register oder amtlichen Unterlagen aufgeführt werden, selbst wenn sie sich zum Teil ohne weiteres aus den nationalen Rechtsvorschriften ergeben oder offenkundig erscheinen mögen; denn von Außenstehenden kann keine vollständige Kenntnis der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates oder der dort vorherrschenden Handelsbräuche erwartet werden. Es erscheint daher notwendig, hinsichtlich der Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu verlangen, daß im Handelsregister eine zur Unterrichtung Dritter geeignete Angabe eingetragen wird, selbst wenn es möglich ist, ihren Inhalt in Ermangelung einer Eintragung durch logische Schlußfolgerung oder aus dem nationalen Recht abzuleiten." 4S 44

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schaftlichen Vertretung zusammen. Bei der Vollmacht ist der Vollmachtgeber als natürliche Person jederzeit in der Lage, eine solche Gestattung auszusprechen; bei der organschaftlichen Vertretung kann das hingegen die vertretene juristische Person selbst nicht, sondern wiederum nur durch ihren organschaftlichen Vertreter, der aber daran ebenso wie der rechtsgeschäftlich bestellte Vertreter durch §181 B G B gehindert ist47. Das hängt damit zusammen, daß die Gestattung für den jeweiligen Einzelfall in den Zuständigkeitsbereich des Vertretungsorgans (Geschäftsführers) fällt und im Unterschied zu der allgemeinen Gestattung (generelle Erweiterung der Vertretungsmacht) nicht Aufgabe der Gesellschafterversammlung ist.

III. In neuerer Zeit haben sich Rechtsprechung und Schrifttum in zunehmendem Umfang mit der Frage befaßt, ob und inwieweit die Vorschrift des § 1 8 1 B G B bei Gesellschafterbeschlüssen Anwendung findet. Dabei ist bemerkenswert, daß diese Frage eigentlich erst seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 26.Januar 196148 als ein besonderes Rechtsproblem behandelt wird, seit dieser Zeit aber auch schon sehr bald zu einer Fülle von Zweifelsfragen und Meinungsverschiedenheiten geführt hat. Die heute vielfach empfundene komplizierte Problematik einer etwaigen Anwendung des § 181 B G B auf die Abstimmung bei Gesellschafterbeschlüssen weckt den Zweifel, ob in diesem Zusammenhang nicht rein juristische Erwägungen um ihrer selbst willen ein Ubergewicht erhalten haben, das für die Rechtswirklichkeit nicht von Nutzen ist. Denn es ist immerhin auffallend, daß bis in die neuere Zeit hinein keine nennenswerten Anstände bei Beschlußfassungen zu verzeichnen waren, bei denen man heute das Problem des Insichgeschäfts sieht und für die Abwicklung von Abstimmungen verhältnismäßig komplizierte Lösungen vorschlägt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß insoweit nicht etwa neue Entwicklungen in der Rechtswirklichkeit festzustellen sind, die zu neuen rechtlichen Überlegungen in diesem Zusammenhang genötigt haben; vielmehr haben sich in der Rechtswirklichkeit in dieser Hinsicht keine Veränderungen tatsächlicher Art ergeben. In diesem Zusammenhang sind zwei Sachverhaltsgruppen zu unterscheiden, bei denen nach heutiger Beurteilung das Problem des Insichgeschäfts auftritt, und bei denen sich die Frage einer Anwendung des § 181 B G B stellt, und zwar einmal die Fälle, in denen durch einen Gesellschafterbeschluß ein Rechtsverhältnis mit einem Gesellschafter begründet, 47 48

Vgl. B G H Z 33, 189, 191. N J W 1961, 724.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

geändert oder aufgehoben wird, sofern dieser Gesellschafter sich an dem Gesellschafterbeschluß mit seiner Stimme beteiligt, und sodann die Fälle, in denen ein Gesellschafter für sich und in Vertretung eines Gesellschafters oder in denen ein Dritter in Vertretung zweier verschiedener Gesellschafter bei einer Abstimmung in der Gesellschafterversammlung auftritt. Dabei bedarf es gegebenenfalls auch der Prüfung, ob in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen der Abstimmung in einer Personenhandelsgesellschaft und in einer Kapitalgesellschaft gemacht werden muß. 1. Begründet die Gesellschafterversammlung durch einen Beschluß ein Rechtsverhältnis mit einem ihrer Gesellschafter oder hebt sie durch Beschluß ein solches Rechtsverhältnis auf, wie das etwa bei der Bestellung oder Abberufung des Geschäftsführers einer G m b H oder des Vorstands eines Vereins der Fall ist, so erhebt sich nach heutiger Beurteilung die Frage, ob sich der betreffende Gesellschafter an diesem Beschluß beteiligen darf, oder ob es sich hierbei um ein verbotenes Insichgeschäft (§181 B G B ) handelt. Diese Frage wurde früher mit dem knappen Hinweis abgetan, ein verbotenes Insichgeschäft liege schon deshalb nicht vor, weil sich der betreffende Gesellschafter nicht als Vertreter der Gesellschaft, sondern als Mitglied der Gesellschafterversammlung als eines besonderen Organs der juristischen Person an der Abstimmung beteilige49. Heute hingegen wird überwiegend angenommen, es handele sich zwar um einen Sachverhalt, der zumindest von dem Rechtsgedanken des §181 B G B erfaßt werde, auf den aber gleichwohl diese Vorschrift keine Anwendung finden könne, weil insoweit die Stimmverbote der §§34 B G B , 136 Abs. 1 AktG, 47 G m b H G , 43 Abs. 6 G e n G eine Sonderregelung darstellten, die für diesen Sachverhalt eine abschließende Regelung enthielten50.

a) Dieser Meinung ist zuzustimmen. Denn der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung über die genannten Stimmrechtsverbote geht dahin, der besonderen Konfliktslage Rechnung zu tragen, die sich für den einzelnen Gesellschafter bei der Abstimmung aus seiner Beteiligung auf beiden Seiten der in Frage stehenden Beschlußgegenstände, nämlich als abstimmungsberechtigter Gesellschafter auf Seiten der Gesellschaft sowie als Begünstigter oder Betroffener der zur Abstimmung gestellten Rechtshandlung (Rechtsgeschäfts), ergibt. Dabei ist diese Regelung den besonderen gesellschaftsrechtlichen Verhältnissen angepaßt, indem sie ihren Anwendungsbereich zum Teil weiter und zum Teil enger als die 49

von Tuhr (Fn.4) a . a . O . Bd. I S. 510; Planck/Knocke, Komm. B G B 4. Aufl. §34 Anm. 1. 50 Vgl. etwa Plander (Fn. 19) S.21 f; Winkler, D N o t Z 1970, 484; Schilling, Festschrift für Kurt Ballerstedt 1975, S.271.

14. §181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts

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allgemeine Bestimmung des § 181 BGB zieht und überdies die Wirkungen eines Verstoßes anders als in § 181 BGB regelt. Der unterschiedliche Anwendungsbereich zeigt sich bereits in der Regelung der Stimmrechtsverbote bei den einzelnen Gesellschaften selber, nachdem das Aktiengesetz 1937 das ursprüngliche Verbot des §252 Abs. 3 H G B eingeengt hat (heute § 136 Abs. 1 AktG), das Gesetz zur Änderung des Genossenschaftsgesetzes vom 9.10.1973 dem in §43 Abs. 6 GenG gefolgt ist und heute überwiegend diese Einschränkung auch für die Personenhandelsgesellschaften übernommen wird51; dagegen gilt die ältere und weitere Fassung auch heute noch für die G m b H und den Verein (§§47 Abs. 4 G m b H G , 34 BGB). Die tatbestandliche Einschränkung des Stimmrechtsverbots gegenüber der allgemeinen Verbotsvorschrift des §181 BGB bezieht sich auf gesellschaftsrechtliche Rechtsgeschäfte, die die Gesellschaft mit einem Gesellschafter in seiner Eigenschaft als Gesellschafter abschließt, wie etwa die Bestellung zum Geschäftsführer einer GmbH 52 oder die Erteilung der Genehmigung zur Abtretung eines Geschäftsanteils 53 . Dabei wird man wegen des inneren Zusammenhangs auch den Abschluß des Anstellungsvertrages als Geschäftsführer einschließlich einer etwaigen Pensionsregelung hierher zu rechnen haben54. Im übrigen ist die besondere gesellschaftsrechtliche Regelung in diesem Zusammenhang elastischer als die allgemeine Verbotsvorschrift des § 181 BGB, weil selbst bei einer Stimmberechtigung des am Beschlußgegenstand unmittelbar beteiligten Gesellschafters immer noch die Möglichkeit eines Stimmrechtsmißbrauchs in Betracht kommen kann. b) Bedeutsam ist auch die unterschiedliche Wirkung, die einem Verstoß gegen ein Stimmrechtsverbot und einem Verstoß gegen das Verbot des §181 BGB beigelegt ist. Ein Verstoß gegen ein Stimmrechtsverbot hat rechtliche Wirkungen nur dann, wenn es für das Abstimmungsergebnis auf die Stimme des ausgeschlossenen Gesellschafters überhaupt ankommt. Ist die erforderliche Mehrheit der Stimmen auch schon ohne die Stimme dieses Gesellschafters erreicht, so ist der Beschluß der Gesellschafter gleichwohl wirksam. Anders ist es nur, wenn ohne die Stimme des von der Abstimmung ausgeschlossenen Gesellschafters die erforderliche Mehrheit nicht erreicht wird; in diesem Fall ist der gefaßte Beschluß fehlerhaft, aber deshalb bei der Aktiengesellschaft, der 51 Vgl. Hueck, Das Recht der offenen Handelsgesellschaft 4. Aufl. 1971, S.270f; Fischer, GrossKomm. H G B 3.Aufl. §119 Anm.22; a.M. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I.Bd. 1. Teil Die Personengesellschaft 1977, S.247f. 52 R G Z 74, 277; B G H Z 18, 205; N J W 1969, 1483. 53 B G H Z 48, 166/67; Betr. 1974, 621; vgl. dazu auch Flume, a . a . O . (Fn.51) S.250f. 54 B G H Z 18, 210; a.M. Flume, a . a . O . (Fn.51) S.250.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

G m b H " und der Genossenschaft nicht nichtig oder schwebend unwirksam, sondern nur anfechtbar, wobei ein Anfechtungsrecht lediglich den Gesellschaftern zusteht, die gegen den Beschluß gestimmt haben. Bei einer Personenhandelsgesellschaft hingegen ist ein solcher Mehrheitsbeschluß, der ohne die Stimme des von der Abstimmung ausgeschlossenen Gesellschafters nicht hätte zustande kommen können, unwirksam, ohne daß eine Heilung des Mangels möglich ist. Grundlegend anders ist die Rechtslage bei einem Verstoß gegen das Verbot des § 181 BGB; hier ist das abgeschlossene Rechtsgeschäft in jedem Fall schwebend unwirksam, wobei es allerdings durch Genehmigung des Vertretenen Wirksamkeit erlangen kann. c) Diese klare Trennung zwischen der allgemeinen Regelung des Insichgeschäfts in § 181 BGB und der gesellschaftsrechtlichen Sonderregelung für die Fälle, in denen ein Gesellschafter bei der Abstimmung auf beiden Seiten des in Frage stehenden Beschlußgegenstandes beteiligt ist, nämlich einerseits als abstimmungsberechtigter Gesellschafter auf Seiten der Gesellschaft und andererseits als Begünstigter oder Betroffener der zur Abstimmung gestellten Rechtshandlung (Rechtsgeschäfts), wird leider nicht immer mit der gebotenen Deutlichkeit durchgehalten. So hat der Bundesgerichtshof 56 das Stimmrecht eines Testamentsvollstreckers für die seiner Verwaltung unterliegenden Geschäftsanteile an einer GmbH bei einer Abstimmung über seine Bestellung zum Geschäftsführer nicht etwa im Hinblick auf die besondere Regelung des § 4 7 Abs. 4 Satz 2 GmbHG verneint, sondern deshalb, weil hier die Konfliktslage wie im Fall des §181 BGB vorliege und deshalb der Rechtsgedanke des §181 BGB entsprechend anzuwenden sei, mit der Folge, daß seine Stimmabgabe von den Erben noch (nachträglich) genehmigt und damit der Beschluß noch im nachhinein wirksam werden könne. Hiermit wird das Verhältnis der allgemeinen Regelung in § 181 BGB zu der gesellschaftsrechtlichen Sonderregelung der Stimmrechtsverbote verkannt". Das wird besonders deutlich, wenn man die Möglichkeit einer (nachträglichen) Genehmigung durch Personen in Betracht zieht, die nicht zum Kreis der Gesellschafter gehören; dieser Schwebezustand ist aus gesellschaftsrechtlichen Gründen nur schwer hinnehmbar. Auch die Meinung

55 Das ist freilich streitig. Der Bundesgerichtshof (BGHZ 51, 209, 211) hat vor einiger Zeit die Linie der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung verlassen und ausgesprochen, daß es in einem solchen Fall einer Anfechtungsklage nicht bedürfe, sondern die Unwirksamkeit des Beschlusses durch Feststellungsklage (bei Vorliegen eines rechtlichen Interesses von jedermann?) geltend gemacht werden könne; a. M. insoweit Baltzer, GmbHRdsch. 1972, 57; vgl. auch Wiedemann, JZ 1970, 293; Winkler, DNotZ 1970, 486. 56 BGHZ 51, 209. 57 Zutreffend Schilling, a.a.O. (Fn.50) S.272; a.M. Flume, a.a.O. (Fn.51) S.254.

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von Winter5', das Stimmverbot des §34 BGB sei mit dem Verbot des §181 BGB identisch, birgt die Gefahr in sich, die gebotene Abgrenzung zwischen den beiden Regelungsbereichen zu verwischen und vor allem den gesellschaftsrechtlichen Bereich mit Fragen aus dem Anwendungsbereich des §181 BGB zu belasten. Daß es sich hier um eine echte Gefahr für die Rechtsanwendung handelt, wird ersichtlich, wenn man die komplizierten rechtlichen, häufig stark konstruktiv beeinflußten Erwägungen betrachtet, die in diesem Zusammenhang in neuerer Zeit angestellt werden, soweit man sich mit der Verbotsvorschrift des §181 BGB im Bereich der gesellschaftsrechtlichen Stimmrechtsverbote befaßt. 2. Ungleich schwieriger sind die Fälle zu beurteilen, in denen ein Gesellschafter sich im eigenen Namen und in Vertretung eines anderen Gesellschafters an einer Abstimmung beteiligt, oder in denen ein Dritter in der Gesellschafterversammlung im Namen von zwei oder mehreren Gesellschaften abstimmt. Diese Fälle stehen seit einiger Zeit im Mittelpunkt überaus kontroverser Meinungsverschiedenheiten im Schrifttum, und auch der Bundesgerichtshof ist, wie mir scheint, in diesen Fällen noch nicht zu einer gesicherten Auffassung gelangt. Geht man den Ursachen für diese Auseinandersetzungen nach, so haben sie sich im Grunde genommen an einer Begründung des Bundesgerichtshofes entzündet, der man im Schrifttum nach meinem Eindruck im Laufe der Zeit ein immer stärkeres Gewicht beilegte und die dadurch zum eigentlichen Gegenstand der Auseinandersetzungen wurde, während das praktische Ergebnis selbst dabei offenbar immer mehr an Bedeutung einbüßte. Der Bundesgerichtshof hat in dem m. E. verständlichen Bestreben, die Tatbestände fehlerhafter Gesellschafterbeschlüsse nicht über Gebühr auszudehnen 59 , wiederholt die Nichtanwendung des §181 BGB damit gerechtfertigt, daß es sich bei Gesellschafterbeschlüssen, die sich auf die körperschaftliche Willensbildung beziehen und das Rechtsverhältnis der Gesellschaft zu ihren Gesellschaftern gestalten, um sog. Sozialakte handele, auf die die allgemeine, für Rechtsgeschäfte bestimmte Verbotsvorschrift des §181 BGB keine Anwendung finde 60 . Dabei hat der Bundesgerichtshof in einer späteren Entscheidung 61 eingeräumt, daß der Begriff „Sozialakt" nicht immer eine klare Abgrenzung zwischen erlaubter und unerlaubter Stimmabgabe ermögliche, und den Begriff in dem 58

JZ 1976, 248; ebenso Flume, a . a . O . (Fn.51) S.248. Auch Wiedemann, JZ 1970, 292 spricht davon, daß es im Interesse der Rechtssicherheit wünschenswert sei, die Fälle der nach §181 BGB nichtigen oder anfechtbaren Gesellschafterbeschlüsse zu reduzieren. 60 Vgl. B G H Z 33, 189, 191; 48, 163, 167; 51, 209, 215/16; 52, 316, 318. 61 Betr 1974, 621, 622. 59

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Sinn erläutert, daß er Entscheidungen über Angelegenheiten des innergesellschaftlichen Lebens umfasse, bei denen die Gesellschafter auf Grund ihrer Mitgliedsrechte von der Sache her zur Mitwirkung berufen sind. a ) Diese Begründung mit dem ominösen und unklaren Begriff des Sozialaktes hat den fast einmütigen Widerspruch im Schrifttum hervorgerufen 62 . Dabei wurde in teilweise minutiösen Ausführungen dargelegt, daß die einzelne Stimmabgabe, aber auch der Gesellschafterbeschluß im ganzen Rechtsgeschäfte seien, und daß sie nicht unter dem Etikett „Sozialakt" der allgemeinen Regelung über Rechtsgeschäfte entzogen werden könnten. Auch schlössen die Gesellschafter bei einem Gesellschafterbeschluß dieses Rechtsgeschäft „miteinander" (mit sich) ab, da die Stimmabgabe des einzelnen Gesellschafters nicht als Erklärung an die Körperschaft (Kapitalgesellschaft) in gleicher Parteirolle neben den anderen Gesellschaftern („nebeneinander") aufgefaßt werden könnten. Damit sei der Tatbestand des §181 BGB gegeben. Diese Gedankenführung in ihrer abstrakten, rein konstruktiven Deduktion erscheint auf den ersten Blick zwingend, wie das häufig bei einer derart wertfreien Gedankenführung der Fall ist. Denn in der Tat läßt sich vom Standpunkt unserer Rechtsgeschäftslehre die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Gegenüberstellung, hier Sozialakt, dort Rechtsgeschäft, nicht begründen und damit auch nicht auf diese Weise rechtfertigen, daß auf eine große Anzahl von Gesellschafterbeschlüssen die für Rechtsgeschäfte geltenden allgemeinen Vertretungsmächten und damit auch §181 BGB nicht angewendet werden können. Trotzdem bleibt es ein merkwürdiges Ergebnis, das auf diese Weise, gewissermaßen (nur?) herausgefordert durch den vom Bundesgerichtshof verwendeten, wohl nicht haltbaren Begriff „Sozialakt", gewonnen wird, nämlich das Ergebnis, daß die Abstimmung eines Gesellschafters im eigenen Namen und im Namen eines anderen Gesellschafters sowie die Abstimmung eines Gesellschafters im eigenen Namen und im Namen eines anderen Gesellschafters sowie die Abstimmung eines Beauftragten im Namen von zwei oder mehreren Gesellschaftern den Tatbestand der Verbotsvorschrift des § 181 BGB erfüllt. Merkwürdig ist dieses Ergebnis deshalb, weil über 60 Jahre lang bei Kapitalgesellschaften, soweit ich sehe, niemals unter dem Gesichtspunkt des §181 BGB daran Anstoß genommen wurde, daß jemand - als Gesellschafter oder als Nicht62 Dazu Schilling, a. a. O.a (Fn. 50) S. 259, der im einzelnen belegt, daß die These des Bundesgerichtshofes, das Vertretungsverbot des § 1 8 1 BGB sei bei dem Sozialakt der körperschaftlichen Willensbildung nicht zu beachten, im Schrifttum, soweit es sich näher mit der Frage befaßt hat, nahezu ausnahmslos auf Ablehnung gestoßen sei; vgl. ferner Wilhelm, J Z 1976, 677.

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Gesellschafter - sich an Abstimmungen in Vertretung weiterer Gesellschafter beteiligt hatte, und daß sich dabei offenbar auch niemals eine Konfliktsituation ergeben hat, die auszuschließen Sinn und Zweck des §181 B G B ist63. An der Merkwürdigkeit dieses Ergebnisses ändert sich m. E. auch dadurch nichts, daß man glaubt, sich insoweit mit dem Hinweis entlasten zu können, in der Praxis werde sich das Ergebnis nicht so nachteilig auswirken, weil man bei der Vollmacht im allgemeinen von einer Gestattung des Selbstkontrahierens im Sinn des § 181 B G B wird ausgehen können. Denn wenn jemand einem Gesellschafter Stimmrechtsvollmacht erteile oder jemand einen Beauftragten zur Stimmabgabe bevollmächtige, von dem er wisse, daß er auch noch für andere Gesellschafter das Stimmrecht ausübe, so sei mit der Bevollmächtigung im allgemeinen auch zugleich dem Vertreter das Selbstkontrahieren stillschweigend gestattet. Dieser Auffassung wird man gewiß zustimmen können, aber das schließt nicht aus, daß im Einzelfall, namentlich bei der Bevollmächtigung eines Dritten durch zwei oder mehrere Gesellschafter, die Annahme einer solchen stillschweigenden Gestattung aus tatsächlichen Gründen zweifelhaft ist. In keinem Fall wird man aber auf diesem Wege die Abstimmung eines gesetzlichen Vertreters, im eigenen Namen sowie im Namen eines seiner Kinder oder im Namen zweier seiner Kinder, dem Verbot des Selbstkontrahierens entziehen können. Die Möglichkeit, daß man in diesem Fall die Tatbestände eines nichtigen Gesellschafterbeschlusses nicht nur bei der Aktiengesellschaft, sondern auch bei der G m b H unter Umständen verhältnismäßig gering halten kann, wenn man entgegen der Meinung des Bundesgerichtshofes 64 solche Beschlüsse nur für anfechtbar ansieht, hilft nicht über das Bedenken hinweg, daß man sich hier zur Anwendung des § 181 B G B auf Sachverhalte genötigt fühlt, auf die diese Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck offenbar gar nicht paßt 65 und für deren Anwendung auch mehrere Jahrzehnte lang nie ein praktisches Bedürfnis empfunden wurde 66 . Das Reichsgericht hat schon verhältnismäßig früh - und zwar unter Zustimmung des Schrifttums - den Standpunkt vertreten, daß §181 B G B keine Anwendung findet, wenn der Vertreter im eigenen Namen und im Namen eines anderen mit einem Dritten einen Vertrag

Vgl. dazu auch Wilhelm, JZ 1976, 674, 677. " Vgl. oben bei Fn.55. 65 Ähnlich BGHZ 65, 93, 97. " Interessant ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des § 43 Abs. 5 Satz 3 GenG in der Fassung des Änderungsgesetzes v. 9.10.1973, wonach in Erweiterung des bis dahin geltenden Rechtszustandes aus rein genossenschaftsrechtlichen Erwägungen ein Stimmrechtsbevollmächtigter bis zu zwei Genossen bei der Abstimmung in der Generalversammlung vertreten kann. 63

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

abschließt67 oder wenn er mehrere Personen auf derselben Seite eines Rechtsgeschäfts vertritt 68 . Dieser Auffassung liegt der zutreffende Gedanke zugrunde, daß die Verbotsvorschrift des §181 BGB nicht schon allein der Tatsache, daß sich ein Vertreter im eigenen und im fremden Namen an einem Rechtsgeschäft beteiligt, ihre Entstehung verdankt, sondern noch der weiteren Tatsache, daß durch dieses Rechtsgeschäft die Rechtsbeziehungen zwischen dem Vertreter und dem Vertretenen besonders gestaltet werden. Denn nur unter diesen Voraussetzungen ist die besondere Konfliktslage gegeben, der §181 BGB Rechnung tragen soll, um den notwendigen Interessenschutz für den Vertretenen zu gewährleisten. Das verbotene Insichgeschäft muß sich mit anderen Worten auf ein Rechtsverhältnis zwischen dem Vertreter und dem Vertretenen beziehen, indem es ein solches Rechtsverhältnis begründet, ändert oder aufhebt. Diese Beurteilung ist in einem besonderen Maß für Gesellschafterbeschlüsse von Bedeutung. N u r wenn diese ein Rechtsverhältnis zwischen dem Vertreter und dem Vertretenen unmittelbar gestalten, kann eine Anwendung des § 181 BGB in Betracht gezogen werden 6 '. Im übrigen kommt der Schutzzweck des § 181 BGB bei Gesellschafterbeschlüssen nicht zum Tragen70. b) Geht man bei der Frage nach einer Anwendung des §181 BGB auf Gesellschafterbeschlüsse von den vorstehenden Grundsätzen aus, dann ergeben sich im einzelnen die nachstehenden Folgerungen, wobei man zwischen den Gesellschafterbeschlüssen bei den Kapitalgesellschaften und bei den Personenhandelsgesellschaften unterscheiden muß. Gesellschafterbeschlüsse bei Kapitalgesellschaften regeln das Rechtsverhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern, nicht zwischen den Gesellschaftern selbst. Solche Gesellschafterbeschlüsse mögen in einem Einzelfall zwar gewisse Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Gesellschaftern ausüben, aber sie begründen, ändern oder beseitigen kein Rechtsverhältnis zwischen diesen. Das gilt auch für Beschlüsse, die die Satzung oder den Gesellschaftsvertrag ändern, weil sie sich nur auf das Verbandsstatut und damit auf den Inhalt des Mitgliedschaftsrechts auswirken. Das hängt mit der körperschaftlich strukturierten Form der Kapitalgesellschaften (und der Genossenschaften) zusammen. Bei diesen bestimmt die Satzung oder der Gesellschaftsvertrag die Organisation der Gesellschaft sowie die Rechte und Pflichten, die den Gesellschaftern gegenüber ihrer Gesellschaft zustehen und obliegen. Dagegen bildet die Satzung nicht die Grundlage für ein 67

RGWarn. 1912 N r . 399; R G Z 127, 103. RGZ 75, 3. " Vgl. dazu Flume, a . a . O . (Fn.51) S.252. 70 B G H Z 65, 93, 98. 68

14. §181 BGB im Bereich des Gesellschaftsrechts

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Rechtsverhältnis zwischen den Gesellschaftern. Damit fehlt in diesen Fällen die notwendige Voraussetzung für eine Anwendung des §181 BGB71, für die es insoweit allein auf den Inhalt des Beschlusses ankommt72. Anders ist das bei den Personenhandelsgesellschaften. Bei diesen begründet der Gesellschaftsvertrag ein Rechtsverhältnis zwischen den Gesellschaftern, der diesen Ansprüche gegen Mitgesellschafter gewährt und ihnen Verpflichtungen gegenüber diesen auferlegt. Bei den Personenhandelsgesellschaften ist aus der Sicht des einzelnen Gesellschafters zwischen einer Individualsphäre und einer Sozialsphäre zu unterscheiden. Der Sozialsphäre sind die Ansprüche zugeordnet, die der Gesellschaft gegen die einzelnen Gesellschafter zustehen und obliegen (sog. Sozialansprüche und sog. Sozialverpflichtungen) 73 , während zur Individualsphäre die Ansprüche und Verpflichtungen gehören, die der einzelne Gesellschafter nach dem Gesellschaftsvertrag gegen seine Mitgesellschafter hat, wie namentlich die sog. actio pro socio. Daraus folgt, daß bei den Personenhandelsgesellschaften eine Änderung des Gesellschaftsvertrages auch eine Änderung des Rechtsverhältnisses zwischen den Gesellschaftern zur Folge hat, daß also hier die Gesellschafter mit einem Beschluß, der eine Änderung des Gesellschaftsvertrages zum Inhalt hat, das zwischen ihnen bestehende Vertragsverhältnis, also die zwischen ihnen bestehenden Ansprüche und Verpflichtungen, ändern. Auf diesen Abänderungsvertrag sind in vollem Umfang die für das Vertragsrecht geltenden Vorschriften, also auch §181 BGB anzuwenden74. Dabei kann es keinen Unterschied machen, in welcher Weise der Gesellschafterbeschluß zur Änderung des Gesellschaftsvertrages gefaßt wird, ob einstimmig oder durch Mehrheitsentscheidung. Denn für die Anwendung des § 181 BGB ist es ohne Belang, mit welchen Mehrheitsverhältnissen die Änderung des Gesellschaftsvertrages beschlossen wird, vielmehr kommt es für die Anwendung des § 181 BGB nur darauf an, 71 A . M . insoweit Wilhelm, JZ 1976, 677 für einen Auflösungsbeschluß bei einer GmbH, weil er auch das Rechtsverhältnis der Gesellschafter untereinander betreffe. Das ist nicht richtig. Der Beschluß ändert lediglich die Rechtsbeziehungen der Gesellschaft zu den Gesellschaftern, die nunmehr Liquidationsgesellschaft geworden ist. Fleck (Anm. LM Nr. 13 zu § 181 BGB) will bei satzungsändernden Beschlüssen einen Unterschied danach machen, ob der Beschluß nach dem Gesellschaftsvertrag einstimmig oder mit einer Mehrheit zu fassen ist. Auch das ist m. E. nicht richtig. Fleck ist insoweit ein Opfer des Begriffs „Sozialakt" geworden. Für die Anwendung des §181 BGB kommt es insoweit lediglich auf den Inhalt des Beschlusses an (vgl. dazu Flume, a.a.O. [Fn. 51] S.253 Fn. 141). 72 Vgl. dazu Flume, a.a.O. (Fn.51) S.253 Fn.141. 73 Vgl. Robert Fischer, a. a. O. (Fn. 51) § 109 Anm. 5. 74 Ebenso BGH NJW 1961, 724; BGH BB 1976, 901; Westermann, Hdb. der Personengesellschaften I Rz.270; Wilhelm, JZ 1976, 677; Flume, a.a.O. (Fn.51) S.253.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

welchen Inhalt der Beschluß hat, ob er nämlich eine Änderung des Rechtsverhältnisses herbeiführt oder nicht75. Die Zulässigkeit eines Mehrheitsbeschlusses kann hier jedoch unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt Bedeutung erlangen. Ist nämlich die Stimme des vertretenen Gesellschafters im konkreten Fall zur Herbeiführung einer Mehrheitsentscheidung nicht erforderlich, so kann der Verstoß gegen die Verbotsvorschrift des § 181 BGB nicht die (schwebende) Unwirksamkeit des Beschlusses zur Folge haben, weil in diesem Fall der gefaßte Beschluß nicht auf dem Verstoß gegen § 181 BGB beruht. Die gegenteilige Auffassung würde auf eine Förmelei ohne irgendwelchen Sinn hinauslaufen, weil der Beschluß jederzeit ohne die Stimme des Vertretenen wieder gefaßt werden könnte. „Bei Gesellschafterbeschlüssen über Maßnahmen der Geschäftsführung oder sonstige gemeinsame Gesellschaftsangelegenheiten, soweit sie sich auf dem Boden des geltenden Gesellschaftsvertrages bewegen" 76 , kommt eine Anwendung des §181 BGB nicht in Betracht. In diesen Fällen betrifft der Gesellschafterbeschluß nicht das Verhältnis zwischen Vertreter und Vertretenen, so z.B. bei der Zustimmung zu Geschäftsführungsmaßnahmen nach § 164 H G B , die ein Kommanditistenvertreter für sich und andere Kommanditisten erteilt, oder bei einer Zustimmung nach §116 Abs. 2 HGB 7 7 . Auch die Bestellung eines Abschlußprüfers, die die Gesellschafterversammlung beschließt, ist eine solche Maßnahme, bei der eine Anwendung des §181 BGB nicht in Betracht k o m m t ; das gilt auch dann, wenn der Gesellschafter, der das Stimmrecht zugleich für andere Gesellschafter ausübt, geschäftsführender Gesellschafter ist78. c) Im Schrifttum wird gegen die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Kapitalgesellschaften (Körperschaften) und Personenhandelsgesellschaften eingewendet, das sei mit der strukturellen Verwandtschaft zwischen der Kommanditgesellschaft und der kleinen G m b H nicht zu vereinbaren 79 , oder bei einer G m b H und Co. KG. könne man die Anwendung des §181 BGB bei vertragsändernden Gesellschafterbe-

75 Es kann daher irreführend sein, daß der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung BB 1976, 901 die Frage, ob eine Anwendung des §181 BGB auch bei vertragsändernden Mehrheitsentscheidungen geboten ist, ausdrücklich offen gelassen hat. Denn im Interesse der Rechtssicherheit sollte das Revisionsgericht das nur tun, wenn es im konkreten Fall tatsächlich ernste Zweifel hat. 76 B G H Z 65, 99/100. 77 B G H Z 65, 93, 100; Robert Fischer, a . a . O . (Fn.51) §119 Anm.5; Flume, a . a . O . (Fn. 51) S. 252. 78 B G H Z 65, 93, 100.

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Wiedemann, JZ 1970, 292.

14. §181 B G B im Bereich des Gesellschaftsrechts

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schlüssen nicht damit begründen, daß man pauschal auf die Personengesellschaftsqualität dieses Gesellschaftstyps verweise 80 . Ich halte diese Verwischung zwischen den verschiedenen Gesellschaftsformen nicht für richtig, ja für gefährlich. Sie bedroht die Rechtssicherheit angesichts der unübersehbaren Vielges{altigkeit, die heute die verschiedenen Gesellschaftstypen bei dem unerschöpften Erfindungsreichtum unserer Vertragsjuristen aufweist, m. E. in einer verhängnisvollen Weise. Wenn sich die Rechtsanwendung dazu entschließt, von der Unterscheidung abzusehen, die durch den Charakter der juristischen Person gekennzeichnet ist, dann kann nach meiner Uberzeugung die Rechtsprechung die Rechtssicherheit nicht mehr in der gebotenen Weise sicherstellen 81 . Der unterschiedliche Charakter zwischen dem Gesellschaftsvertrag einer Personenhandelsgesellschaft und der Satzung (Organisationsstatut) einer juristischen Person sollte daher nicht beseitigt werden, zumal wenn es sich um ein so fragwürdiges Ergebnis wie die Anwendung des § 181 B G B auf satzungsändernde Beschlüsse bei Kapitalgesellschaften für den Fall handelt, daß ein Gesellschafter sich an der Abstimmung zugleich auch im Namen eines weiteren Gesellschafters beteiligt. Aus dieser Sicht wird auch deutlich, daß zwischen der Entscheidung B G H N J W 1961, 724 (Anwendung des §181 B G B bei einer Änderung des Gesellschaftsvertrages einer Personenhandelsgesellschaft) und der Entscheidung B G H Z 52, 316 (keine Anwendung des § 181 B G B bei der Änderung des Gesellschaftsvertrages einer G m b H ) keine Divergenz besteht, und daß die Unsicherheit einer Entscheidungsprognose keineswegs noch dadurch erhöht werde, daß ich im GrossKomm H G B § 119 Anm. 5 Zustimmungsbeschlüsse nach § 1 1 6 Abs. 2 H G B nicht dem Verdikt des §181 B G B unterstellt habe 82 . Denn die unterschiedliche Beurteilung in diesen Fällen ist durch die unterschiedliche Gestaltung der einzelnen Sachverhalte bedingt und geboten.

Bernstein und Schultze-von Lasaulx, Z G R 1976, 33 ff, 39. Wie gefährlich in dieser Hinsicht schon undeutliche Formulierungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind, zeigen die Folgerungen, die Bernstein und Schultzevon Lasaulx, Z G R 1976, 37, 39 aus der Entscheidung B G H Z 62, 216, 227 glauben ziehen zu können. 82 So aber Wiedemann, J Z 1970, 292. 80

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15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften? Eine Besprechung des Buches „Die Personengesellschaft" von Werner Flume*

I. Mit diesem Buch legt Flume ein Werk vor, das die allgemeine Aufmerksamkeit der juristischen Öffentlichkeit verdient, an dem hinfort niemand vorbeigehen kann, der sich über Fragen aus dem Recht der Personengesellschaften unterrichten will und das für den Kenner des Gesellschaftsrechts in Zukunft zum festen Bestandteil seines Wissens gehören wird. Bemerkenswert ist dieses Buch in mancherlei Hinsicht. Flume, der sich der großen Rechtstradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlt, übernimmt das tradierte Rechtsgut an keiner Stelle ungeprüft und ohne eigenständige Kritik. So manche Rechtsfrage, die seit langem erledigt zu sein schien, wird von ihm neu gestellt und gegebenenfalls auch neu beantwortet, so manche Streitfrage erhält durch ihn eine neue Färbung oder eine neue Bedeutung. Spannend und reizvoll, aber auch fruchtbar und anregend ist ein häufiger Hinweis auf zeitlich weit zurückliegende Meinungen und Erfahrungen, die Rechtsprechung und Schrifttum gemacht haben, die inzwischen vielfach vergessen waren, und deren gegenwartsbezogene Bedeutung er wieder lebendig macht. Geprägt wird sein Werk durch eine strenge dogmatische Erfassung des Rechtsstoffes, der er seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Das hindert ihn aber nicht - und wie mir scheint: für den Leser zuweilen überraschend - mit einem gesunden Sinn für die Rechtswirklichkeit, ganz pragmatisch, seine Ansicht zu dieser oder jener Einzelfrage zu äußern und zu vertreten. Seine Grundthese, die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts gehöre dem Personenrecht an, bringt ihn in die Gefahr, in mancherlei Hinsicht in einen Widerspruch zur gesetzlichen Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches zu geraten. Es ist nicht ohne Reiz mitanzusehen, wie Flume, sonst als strenger Mahner einer gesetzestreuen Rechtsanwendung bekannt, sich dieser Aufgabe einer Korrektur der gesetzlichen Regelung unterzieht. Seine Darlegungen sind immer originell und anregend, sie ziehen den Leser durch ihre klare Gedanken* E r s c h i e n e n als B a n d 1, Teil 1 des A l l g e m e i n e n Teils des Bürgerlichen S p r i n g e r V e r l a g , Berlin, H e i d e l b e r g , N e w Y o r k , 1977, 451 S.

Rechts,

* * A u s : Zeitschrift f ü r U n t e r n e h m e n s - u n d Gesellschaftsrecht 1979, 2 5 1 - 2 7 2 . - Walter de G r u y t e r , Berlin, 1979.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

führung in ihren Bann und nötigen ihn zuweilen, den notwendigen kritischen Abstand zu ihnen zu wahren. Das Werk wird bestimmt Rechtsprechung und Schrifttum in den nächsten Jahren in starkem Maß beschäftigen und beeinflussen, und zwar selbst dann und dort, wenn und wo man Flumes Äußerungen nicht zu folgen vermag. Eine Auseinandersetzung mit diesem Buch wird immer notwendig sein. Für den Praktiker, den Richter, den Rechtsanwalt und den Notar sei noch auf etwas Besonderes hingewiesen. Flume befaßt sich bewußt sehr eingehend und zuweilen auch recht kritisch mit den Ergebnissen der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die einschlägigen Urteile des Reichsgerichts und namentlich des Bundesgerichtshofes sind nach meinem Eindruck vollständig behandelt. Durch ein Entscheidungsregister am Ende des Buches ist außerordentlich leicht festzustellen, an welcher Stelle zu diesem oder zu jenem Urteil (zustimmend oder kritisch) Stellung genommen worden ist. Ich könnte mir vorstellen, daß das für manchen Instanzrichter und auch für manchen beratenden Anwalt von Bedeutung und von Interesse ist. Auch bedarf es m. E. der Hervorhebung, daß dieses Werk, das in hohem Maß der wissenschaftlichen Erfassung und Vertiefung des behandelten Rechtsstoffes verpflichtet ist, vielfache Hinweise und Anregungen für die Kautelarjurisprudenz enthält und bei der Abfassung von Gesellschaftsverträgen daher in mancher Hinsicht von besonderem Nutzen und von besonderem Wert ist. Im einzelnen mögen die folgenden Ausführungen ein Bild von diesem bedeutenden, zuweilen freilich auch sehr eigenständigen Werk vermitteln. II. 1. Flume geht mit der Einordnung der Personengesellschaft in das Personenrecht bewußt neue Wege, verläßt dabei die Systematik des Bürgerlichen Gesetzbuches, das die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts dem Schuldrecht zuweist, und nimmt es in Kauf, sich insoweit von der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches zu lösen. Er knüpft dabei an Gedanken an, die aus der Gesamthandslehre Otto von Gierkes aus der Zeit vor Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuches her bekannt sind1, versucht aber zugleich die „Mystizifierung der Gesamthand" in der Gierkeschen Lehre von der realen Verbandspersönlichkeit zu entmystifizieren. Bei diesem Versuch ist für Flume „die Gesamtheit als Personengemeinschaft eine Wirkungseinheit, für die gehandelt werden kann und für die Rechtsverhältnisse, Rechte und Verpflichtungen, begründet werden können" (S. 62). Die Gesellschaft ist „eine personenrechtliche Gemein1

Vgl. Otto V. Gierke,

Deutsches Privatrecht, l.Band, 1895, S. 660ff.

15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften?

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schaft" (S. 1), eine „Personenverbindung" (S. 2) oder, wie Flame im Anschluß an Hoeniger auch sagt, „ein verbandsrechtliches Gebilde", wodurch „die Gesellschaft als Gesamthand zu einer Organisationseinheit geworden, die Beteiligte des Rechtsverkehrs und Bezugspunkt von Rechtsverhältnissen ist" (S.4). Die personenrechtliche Verbindung der einzelnen Mitglieder prägt die Gesamthand, sie ist Subjekt-, nicht objektbezogen, also nicht auf das Gesamthandsvermögen ausgerichtet und wird in ihrer Besonderheit somit auch nicht vom Gesamthandsvermögen her bestimmt (S.68). Von ihrer Personenverbundenheit her ist die Gesamthand als „Gruppe" zu verstehen; als solche ist sie nicht Person, auch nicht Zwischenstufe zu einer Person. „Die Gruppe sind vielmehr die Gesamthänder selbst, die zu einem bestimmten Zweck, als Gesellschaft, Erbengemeinschaft, Gütergemeinschaft etc. vereinigt sind." „Die Gruppe ist als solche Rechtssubjekt. Mit diesem Terminus sollte jedoch nicht die Assoziation der Personhaftigkeit verbunden werden" (S. 56). Auch Flame hält an dem Unterschied zwischen der Gesamthand und der juristischen Person fest, die „Gesamthand ist keine persona mystica" (S. 56), „die Gesamthand ist als kollektive Einheit, als Gruppe der in ihr vereinigten Personen zu verstehen..., während bei der juristischen Person die Organisationseinheit als solche, als Person, verabsolutiert wird" (S. 89). Eine besondere Bedeutung hat für Flume der Gesellschaftsvertrag. Mit der Übernahme des Gesamthandsprinzips im 2. Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches verlor der Gesellschaftsvertrag nach Meinung Flumes seinen Charakter als einen rein schuldrechtlichen Vertrag, wie er für die römisch-rechtliche Sozietät typisch ist. Er erhielt dadurch auch verbandsrechtlichen Charakter (S.4), er wurde zum Organisationsstatut, zur Verfassung der Personengesellschaft, zur Grundlage für die Wirksamkeit und Entfaltung der Gesellschaft (S.32). N u r für die Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander blieb er ein schuldrechtlicher Vertrag und nur insoweit gehört das Gesellschaftsrecht heute noch zum Schuldrecht (S. 31). Tadelnd fügt Flume hinzu, der Gesetzgeber habe die Tragweite seiner Änderung, die er mit der Übernahme des Gesamthandsprinzips im 2. Entwurf selbst vollzogen habe, nicht gesehen (S.4); er hält deshalb eine „am Wortlaut des Gesetzes orientierte Argumentation zu einer dogmatischen Frage, wie der Interpretation des Gesamthandsprinzips", für fragwürdig und meint, es sei demzufolge auch mit der Legaldefinition in §718 Abs. 1 BGB, das Gesellschaftsvermögen sei das gemeinschaftliche Vermögen der Gesellschafter, nichts anzufangen (S. 74)2. 2 Auch an anderer Stelle hat Flume offenbar keine Bedenken, das Gesetz zu korrigieren. „Nach § 859 Z P O soll zwar der Anteil eines Gesellschafters an dem Gesellschaftsvermögen der Pfändung unterworfen sein. Diese Formulierung beruht jedoch nur darauf, daß

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Dies ist der Ausgangspunkt für die rechtliche Beurteilung, die Flume bei der Rechtsanwendung im einzelnen zugrunde legt. Abgesehen von der firmenrechtlichen Regelung, die das Bestehen einer Handelsgesellschaft voraussetzt, ist für ihn die Vorschrift des § 124 H G B in materiellrechtlicher Hinsicht Ausdruck des Gesamthandsprinzips. „Der fundamentale materiellrechtliche Grundsatz, daß die Gesellschaft ,als solche', d . h . die Gruppe am Rechtsverkehr teilnimmt, Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen kann, ist . . . ein allgemeiner Grundsatz des Rechts der Gesamthand" (S. 69/70). In dieser Hinsicht ist also nach Flume ein Unterschied zwischen der offenen Handelsgesellschaft und den übrigen Gesamthandsgemeinschaften nicht zu machen. Selbst die Erbengemeinschaft ist danach als Gesamthandsgemeinschaft „grundsätzlich in gleicher Weise fähig am Rechtsverkehr teilzunehmen wie die O H G . Sie ist nur hinsichtlich der Handlungsfähigkeit schwerfälliger als die O H G " (S. 59 Anm. 48). Uberraschend für den Leser ist es nun, daß sich Flume bei der Beurteilung von Einzelfragen keineswegs immer von dieser dogmatischen Einordnung leiten läßt. So bejaht er mit der herrschenden Lehre zwar die Möglichkeit, daß eine Personenhandelsgesellschaft Mitglied einer anderen Gesellschaft sein kann, verneint aber - ebenfalls in Ubereinstimmung mit der herrschenden Lehre - die Möglichkeit, daß eine bürgerlichrechtliche Gesellschaft Mitglied einer offenen Handelsgesellschaft werden kann. Er sagt dazu im einzelnen: „Diese unterschiedliche Regelung ist aber nicht damit begründet, daß die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts und die Gesellschaften des Handelsrechts in ihrem Wesen unterschiedlich wären, indem nur die Personengesellschaft des Handelsrechts nach § 124 H G B , nicht aber die bürgerlichrechtliche Gesellschaft nach außen als „Einheit" auftreten könnte. Die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts ist nur aus Gründen der Praktikabilität3 nicht als Gesellschafterin einer Personenhandelsgesellschaft zuzulassen. In Anbetracht des Mangels jeder Publizität bei der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts hinsichtlich der Vertretung und der Veränderungen in der Gesellschaft... würden die Rechtsverhältnisse einer Personengesellschaft des H a n d e l s r e c h t s . . . der vom Gesetz gewollten... Klarheit und Übersichtlichkeit entbehren" (S. 63/64)". dem Gesetzgeber die Mitgliedschaft als ein übertragbares und deshalb auch pfändbares Recht noch nicht vertraut war. Die Pfändung nach § 859 Z P O ist in Wirklichkeit eine Vollstreckung in die Mitgliedschaft" (S. 73). 3 Hervorhebung von mir. 4 Den gleichen Standpunkt nimmt Flume insoweit für die Erbengemeinschaft und für die Gütergemeinschaft ein, weil auch hier „die gesetzlichen Regelungen... es untunlich erscheinen lassen, diese Gemeinschaften als Gesellschafter einer O H G oder KG zuzulassen" (S. 65).

15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften?

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Von seinem Standpunkt aus müßte Flume wohl zu dem Ergebnis gelangen, daß die offene Handelsgesellschaft als solche - nämlich die Gesellschaft als personenrechtliche Gemeinschaft und als Bezugspunkt von Rechtsverhältnissen - Kaufmannseigenschaft habe. Das hält er auch für möglich 5 , fährt dann aber durchaus pragmatisch fort, daß es von seiner Grundvorstellung aus6 keine Schwierigkeiten beireite, auch den Gesellschaftern neben der Gesellschaft Kaufmannseigenschaft zuzuerkennen. Denn es handele sich hierbei nicht um eine Frage der Logik, vielmehr sei „zu f r a g e n . . . ob es sachgerecht ist, den Gesellschaftern die Kaufmannseigenschaft zuzuerkennen" (S. 59). Die Erbfähigkeit der Gesellschaft verneint Flume, wobei er keinen Unterschied zwischen der offenen Handelsgesellschaft und der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts macht, weil die Regelung des § 124 H G B eine solche unterschiedliche Behandlung nicht zu rechtfertigen vermag (S. 107 f). Seine Begründung hierfür ist bemerkenswert praktisch. Er sagt: „Dies (die Erbfähigkeit) führt für alle auf die Person der Erben ausgerichteten Regelungen zu unerwünschten oder gar zu unlösbaren Schwierigkeiten" (S. 107). Er fügt dann noch den weiteren Satz hinzu: „Es besteht auch kein Bedürfnis, die Erbfähigkeit zuzulassen, zumal sich in der Regel eine Erbeinsetzung dieser Gesellschaften schon aus steuerlichen Gründen verbieten wird" (S. 108). Sehr eingehend befaßt sich Flume mit der Frage, ob die Gesellschaft Besitzerin sein kann, und wie es sich mit der Anwendung der Vorschriften verhält, die Rechtsfolgen an den Eigenbesitz knüpfen (S. 75 ff, 81 ff). Er bejaht die Fähigkeit der Gesellschaft, Besitzerin zu sein, da man insoweit keinen Unterschied gegenüber den juristischen Personen machen könne; denn in beiden Fällen handele es sich um die Zurechnung der tatsächlichen Herrschaftsausübung durch eine natürliche Person, die ebenso an eine Gruppe wie an eine juristische Person erfolgen könne (S. 79). Demzufolge könne die Gesellschaft auf Grund ihres Besitzes auch Ansprüche nach §§ 823, 1007, 987 ff B G B geltend machen. Ebenso treten nach Flume die Rechtsfolgen der §§ 937, 9 5 5 , 1 0 0 6 B G B unmittelbar für die offene Handelsgesellschaft und für die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts ein, wobei er ausdrücklich betont, daß sich dieses bei der offenen Handelsgesellschaft nicht etwa aus § 124 H G B ergebe. Andererseits hafte die Gesellschaft als Besitzerin für Schäden durch Einsturz eines Gebäudes oder durch Ablösung von Teilen des Gebäudes nach § 836 B G B , wobei die Haftung der Gesellschaft für das vermutete s „Es wäre mit der Rechtsfigur der O H G und K G als Gesamthandsgesellschaft sehr wohl vereinbar, daß nur die Gesellschaft, nicht aber die Gesellschafter, Kaufmannseigenschaft hat" (S. 59). 6 D. h. „wenn m a n . . . den Gesellschafter nur als Mitglied der Gesellschaft als Personengemeinschaft versteht" (S. 59).

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Verschulden ihrer geschäftsführenden Gesellschafter nicht nur bei der offenen Handelsgesellschaft, sondern auch bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft nach § 31 BGB zu bejahen sei, weil sich die Anwendung des §31 BGB aus dem Verständnis der Personengesellschaft als Gruppe, ungeachtet der Art ihrer Organisation, ergebe (S. 85 f, 322). Des weiteren gelangt Flume im Hinblick darauf, daß die Gesamthand eine Wirkungseinheit sei, für die Rechte und Pflichten begründet werden können, zu dem Ergebnis, daß nicht nur die offene Handelsgesellschaft, sondern auch die Gesellschaft bürgerlichen Rechts sowie die Erbengemeinschaft als Gründerin einer Aktiengesellschaft oder einer G m b H auftreten können (S. 109). Dem möchte ich beipflichten, aber nicht deshalb, weil die Gesamthand als Gruppe in jedem Fall gleich behandelt werden, und daß deshalb das, was für eine offene Handelsgesellschaft gelte, auch für die anderen Gesamthandsgemeinschaften gelten müsse, sondern deshalb, weil die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts und auch die Erbengemeinschaft als Aktionärin und als Gesellschafterin einer G m b H allgemein zugelassen werden (vgl. § 69 AktG) und demzufolge ihre Ausschließung von der Gründung m. E. sachlich nicht gerechtfertigt werden kann 7 . Längere Ausführungen widmet Flume den Fragen der fehlerhaften Gesellschaft (S. 13/29). Dabei ist er der Uberzeugung, daß seine Auffassung von der Zuordnung der Personengesellschaft zum Personenrecht und sein Verständnis von der Gesamthand als Gruppe, als eine Organisationseinheit es ermöglichen, der rechtlichen Anerkennung der fehlerhaften Gesellschaft eine zutreffende dogmatische Rechtfertigung zu geben. Denn „für die Gründung der Personengesellschaft als Organisationseinheit passen ebensowenig wie für die Gründung der Kapitalgesellschaft die auf Individualrechtsverhältnisse ausgerichteten Nichtigkeits- und Anfechtungstatbestände" (S. 13). „Daraus ergibt sich folgerichtig, daß die sog. fehlerhafte Gesellschaft nicht nichtig ist; sie ist vielmehr eine gültige privatautonom begründete Gesellschaft. Der sog. fehlerhafte Vertrag hebt sich mit Selbstverständlichkeit von dem Fall ab, daß überhaupt keine vertragliche Einigung über die Gründung der Gesellschaft vorliegt" (S. 17, 18). Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen (S. 26 ff) fügt Flume in die Problematik der fehlerhaften Gesellschaft seine Unterscheidung zwischen dem personenrechtlichen und dem schuldrechtlichen Charakter des Gesellschaftsvertrages ein, mit der Folge, daß bei einem fehlerhaften Gesellschaftsvertrag zwischen der Existenz der Gesellschaft als Personengemeinschaft und dem Verhältnis der Gesellschaft zu den Gesellschaftern einerseits und den Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander andererseits ein Unterschied 7

Ähnlich Hachenburg/Ulmer,Komm.

z. G m b H G , 7. Aufl. 1975, §2 Anm.67.

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gemacht werden muß (S.26). Bei den Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander handelt es sich „um eine rein schuldrechtliche Problematik" (S. 26). Man möchte annehmen, daß Flume also in dieser Hinsicht den Nichtigkeits- und Anfechtungstatbeständen volle Anerkennung beilegen will. Das ist aber offenbar nicht so. Hier lassen seine Ausführungen die dem Verfasser sonst eigene Klarheit vermissen. Einige Sätze nebeneinander gestellt, mögen das belegen. „Auch was das Verhältnis der Gesellschafter zueinander anbetrifft, kann für die Vergangenheit zwar nicht ungeschehen gemacht werden, daß die Gesellschafter den gemeinsamen Zweck verfolgt haben. In der Zurechnung des Ergebnisses der Verfolgung des gemeinsamen Zwecks kann und muß aber im Verhältnis der Gesellschafter zueinander für die Vergangenheit dem Anfechtungs- und Nichtigkeitstatbestand Rechnung getragen werden. So ist für das Verhältnis der Gesellschafter zueinander zwar für die Vergangenheit von dem Gesellschaftsvertrag auszugehen, bei Vorliegen eines Anfechtungs- oder Nichtigkeitstatbestandes ist aber auch für die Vergangenheit der Gesellschaftsvertrag zu korrigieren, indem „an die Stelle der mangelhaften Bestimmung die angemessene Regelung tritt" 8 (S. 25/26). „Daraus folgt aber nicht, daß die Gesellschaft... auch hinsichtlich des Verhältnisses der Gesellschafter zueinander für die Geltendmachung des Anfechtungs- oder Nichtigkeitsgrundes stets uneingeschränkten Bestandsschutz verdient" (S.27). „Soweit das Verhältnis der Gesellschafter zueinander in Frage steht, gibt es in den Fällen der fehlerhaften Gesellschaft keine Einheitslösung, wie der Ausgleich zwischen den Gesellschaftern zu erfolgen hat, wenn die für das Verhältnis der Gesellschafter zueinander vereinbarte Regelung nicht gilt" (S. 28). 2. Den originellen, sowohl eigenständigen wie auch eigenwilligen Ausführungen Flumes zur Gesamthand als Gruppe, die dem Personenrecht angehöre, und die als solche Rechtssubjekt sei, vermag ich mit den außerordentlich weit gehenden Konsequenzen, die Flume zieht, nicht zu folgen. Gewiß ist es nicht zu leugnen, daß der Gesellschaftsvertrag neben seinen schuldrechtlichen Elementen auch solche organisationsrechtlicher Art aufweist, daß die Gesellschaft einen Doppelcharakter als Schuldverhältnis auf Organisation besitzt 9 . Auch ist Flume ohne weiteres darin beizupflichten, daß er ein Recht der Gesamthandsgemeinschaften von großer Geschlossenheit aufzeigt, das möglich ist. Aber es findet in dem geltenden Recht m. E. keine ausreichende Grundlage. Schon die Tatsache, daß das Bürgerliche Gesetzbuch an der Zuordnung der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft trotz der Änderungen im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zum Schuldrecht festgehalten hat und Flume 8 9

BGHZ 47, 301. So Ulmer, Festschrift für Flume, 1978, S.310.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

darüber nur mit dem Tadel, der Gesetzgeber habe die Tragweite seiner Änderung nicht erkannt, hinwegzukommen vermag, läßt Zweifel darüber aufkommen, ob sich Flume mit seiner Auffassung noch im Rahmen der gesetzlichen Regelung hält. Entscheidend kommt jedoch hinzu, daß Flume mit seiner Auffassung den vielfältigen Unterschieden, die die einzelnen Gesamthandsgemeinschaften (Personen-Handelsgesellschaft, bürgerlichrechtliche Gesellschaft, Gütergemeinschaft und Erbengemeinschaft) in ihrer gesetzlichen Regelung aufweisen, in der entscheidenden materiellrechtlichen Bewertung nicht gerecht wird. Bei der juristischen Person betont Flume - und zwar mit Recht - , daß sie keine einheitliche Rechtsfigur sei und in ihren zahlreichen Erscheinungsformen auch eine unterschiedliche Beurteilung erfordert (S. 94).- Für die Gesamthand gilt das in einem erhöhten Maß. Der Satz Flumes: „Als Gesamthandsgemeinschaft ist die Erbengemeinschaft grundsätzlich in der gleichen Weise fähig, am Rechtsverkehr teilzunehmen wie die O H G " (S.59 Anm. 48), läßt sich mit dem geltenden Recht m. E. nicht vereinbaren. Auch die Anwendung des § 124 H G B in ihrem materiellen Bestand abgesehen von der firmenrechtlichen Regelung - auf alle Gesamthandgemeinschaften läßt sich m. E. mit den allgemein gültigen Grundsätzen für die Gesetzesanwendung nicht rechtfertigen. Der Satz: Insoweit „wird in § 124 H G B nur das Gesamthandsprinzip als solches dokumentiert" (S. 69), scheint mir für eine solche Rechtfertigung nicht auszureichen. Auch an anderer Stelle zeigen sich die Schwierigkeiten, die Flume mit seiner Auffassung angesichts der gesetzlichen Regelung zu überwinden hat. Während § 125 H G B von einer „Vertretung der Gesellschaft" spricht, haben nach § § 7 1 4 , 715 B G B die vertretungsberechtigen Gesellschafter „die anderen Gesellschafter Dritten gegenüber zu vertreten". Diese sachlich weit tragende unterschiedliche Aussage, die, was § 125 H G B anlangt, unmittelbar an § 124 H G B anschließt und diese Bestimmung ergänzt, glaubt Flume wiederum damit erklären zu können, daß die Vorschriften der § § 7 1 4 , 715 B G B noch den Vorstellungen des 1. Entwurfs entstammen (S. 130). V o r allem gibt Flume aber keine Begründung dafür, warum die verfahrensrechtlichen Bestimmungen, namentlich die Bestimmung über die aktive und passive Parteifähigkeit der offenen Handelsgesellschaft auf die anderen Gesamthandsgemeinschaften keine Anwendung finden können. Diese prozessuale Ergänzung des materiellrechtlichen Bestandes der Vorschrift des § 124 H G B drückt genau das aus, worin sich der weittragende Unterschied zwischen der offenen Handelsgesellschaft und der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft zeigt. Die prozessuale Parteifähigkeit ist das Gegenstück zur Eigenschaft der offenen Handelsgesellschaft als Rechtssubjekt, zur selbständigen Verpflichtungsfähigkeit dieser Gesellschaft sowie zu der Möglichkeit, die Gesellschaft durch ihre vertretungsberechtigten Gesellschaf-

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ter zu vertreten. Auch die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftsprozeß und dem Gesellschafterprozeß, den Flume übrigens auch nur für die offene Handelsgesellschaft anerkennt (S. 57), beruht auf diesem Unterschied zwischen der offenen Handelsgesellschaft und den übrigen Gesamthandsgemeinschaften. Ein Wechsel im Bestand der Mitglieder einer offenen Handelsgesellschaft berührt den Gesellschaftsprozeß nicht, während ein solcher Wechsel bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft eine subjektive Klageänderung zur Folge hat; hier zeigt sich ebenfalls, daß die „Gruppe", die die bürgerlichrechtliche Gesellschaft darstellt, eine andere rechtliche Qualität, nämlich eine lockere Form des Zusammenschlusses aufweist, als die offene Handelsgesellschaft. Bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft sind die Gesellschafter als Kläger oder Beklagte selbst Partei; eine Vernehmung der nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter als Zeugen10 scheidet hier von vornherein aus. Auch die Folgerungen, die Flume aus der Anwendung der Vorschrift des § 124 H G B für das Besitzrecht und die weiteren Ansprüche aus den §§823, 1007, 987ff, 937, 955, 1006 BGB zieht, halte ich nicht für zutreffend. §718 BGB bestimmt, daß bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft das Gesellschaftsvermögen das gemeinschaftliche Vermögen der Gesellschafter ist11. Das bedeutet, daß die einzelnen Bestandteile des gemeinschaftlichen Vermögens den Gesellschaftern, nicht der Gesellschaft als einer besonderen Gruppe zustehen. Das gilt ebenfalls für den Besitz, was bei den Miterben angesichts der Vorschrift des §857 BGB m. E. auch gar nicht zweifelhaft sein kann. Flume kann seine gegenteilige Auffassung wiederum nur auf die Weise rechtfertigen, daß er die Vorschrift des §718 BGB (auch die des §2032 BGB?) mit der Begründung beiseite schiebt, daß er eine am Wortlaut des Gesetzes orientierte Argumentation zu einer dogmatischen Frage für fragwürdig erklärt. Es erscheint mir überdies bedenklich, daß die Gesellschaft, die als Gruppe selbst Besitzerin sein soll, ihre Besitzschutzansprüche prozessual nicht geltend machen kann, daß vielmehr insoweit die Gesellschafter als Kläger auftreten müssen, obwohl die Argumentation Flumes gerade darauf beruht, daß er Gesellschaft und Gesellschafter streng auseinanderhält. Hier zeigt sich deutlich, daß die für die offene Handelsgesellschaft geltende geschlossene Regelung des § 124 H G B nicht in ihren materiellrechtlichen und ihren prozessualen Bestandteil auseinandergerissen werden kann. Den Ausführungen Flumes zur fehlerhaften Gesellschaft möchte ich im wesentlichen beitreten. Dabei glaube ich, daß diese auch mit den Ergebnissen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wie sie heute vor10 11

So auch Flume, S. 97, für die offene Handelsgesellschaft. Ähnlich §2032 BGB: Der Nachlaß wird gemeinschaftliches Vermögen der Erben.

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liegen, in den entscheidenden Punkten übereinstimmen. Seit der Entscheidung des II. Zivilsenats12 aus dem Jahre 1953 kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Bundesgerichtshof für die Anwendung der Grundsätze von der fehlerhaften Gesellschaft das Vorliegen eines mangelhaften (nichtigen oder anfechtbaren) Vertrages verlangt, und daß die Entscheidung vom 5. März 1964", die den bis dahin gebrauchten Ausdruck faktische Gesellschaft durch den der fehlerhaften Gesellschaft ersetzt hat, in der Sache nichts Neues gebracht hat. Auch die dogmatische Einordnung der fehlerhaften Gesellschaft in Anlehnung an die ähnlich liegenden Verhältnisse bei den nichtigen (vernichtbaren) Kapitalgesellschaften bringt m. E. nichts Neues 14 . Dagegen ist hervorzuheben, daß Flume von seinem dogmatischen Ausgangspunkt aus zu einigen Zweifelsfragen aus dem Recht der fehlerhaften Gesellschaft klärend Stellung nimmt und daß seine Darlegungen insoweit bereits jetzt im Schrifttum die Anregung zu weiteren wichtigen Ausführungen gegeben haben 15 . - Die Unterscheidung zwischen dem personenrechtlichen und dem rein schuldrechtlichen Charakter des Gesellschaftsvertrages könnte bei der fehlerhaften Gesellschaft zu Schwierigkeiten führen, wenn diese Differenzierung zu einer verschiedenartigen Behandlung in dem einen (personenrechtlichen) und in dem anderen (rein schuldrechtlichen) Bereich führen würde. Eine solche verschiedenartige Behandlung erschiene mir nicht berechtigt, sie kann aber, wie schon hervorgehoben 16 , auch nicht mit Sicherheit den Ausführungen Flumes entnommen werden. In einem besonderen Abschnitt befaßt sich Flume mit dem unabdingbaren Individualrechtsschutz des einzelnen Gesellschafters durch die actio pro socio (S. 139 ff). In treffenden Bemerkungen wird die hohe Bedeutung des individuellen Rechtsschutzes dargestellt, den dieser Rechtsbehelf für den einzelnen Gesellschafter bedeutet und der gerade auch aus dieser Sicht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine besondere Beachtung findet. Flume wendet sich dabei - m. E. durchaus richtig - gegen Versuche in der Literatur, diesen Rechtsschutz zu Lasten des einzelnen Gesellschafters abzubauen und der Ordnung innerhalb der Gesellschaft demgegenüber den Vorrang einzuräumen. Denn es handelt sich dabei nicht um ein Mitverwaltungsrecht, das der Gesellschafter für die Gesellschaft und in ihrem Interesse ausübt, sondern um einen persönlichen Anspruch, den der Gesellschafter, auch der von der Geschäftsführung ausgeschlossene Gesellschafter, auf Grund des Gesell12 15 14 15 16

B G H Z 11, 190 ff. B G H LM 19 zu §105 H G B . Vgl. dazu bereits die Nachweise bei Fischer, Großkomm. z. H G B , § 105 Anm. 77. Vgl. Ulmer, a . a . O . (Fn.9), S.301 ff. S. oben S.253.

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schaftsvertrages gegen seine Mitgesellschafter hat. In diesem Sinn kann man durchaus mit Flume sagen, „die actio pro socio (sei) gewissermaßen die magna Charta des Minderheitenschutzes eines jeden Gesellschafters" (S. 144). Auch sollte man Flume m. E. darin folgen, daß es sich bei diesem Anspruch um ein unverzichtbares Recht handelt, das nicht durch den Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen werden kann. - Wie sich das freilich alles mit der Annahme Flumes vereinbaren läßt, daß die Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander rein schuldrechtlicher Art sind und keinen personenrechtlichen (verbandsrechtlichen) Charakter besitzen, ist mir nicht klargeworden. Der Minderheitenschutz in einer Gesellschaft und die sich aus ihm ergebenden Rechte des einzelnen Gesellschafters dienen dem Schutz seiner individuellen Interessen innerhalb der Gesellschaft und bestimmen damit - Zumindestens auch - sein Verhältnis zur Gesellschaft, mögen sie auch allein auf den durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Rechtsbeziehungen der Gesellschafter zueinander beruhen. Der Minderheitenschutz hat m. E. notwendigerweise auch einen gesellschaftsrechtlichen (personenrechtlichen oder verbandsrechtlichen) Bezug und findet darin seine besondere Charakterisierung.

III. Eingehende Ausführungen widmet Flume der privatautonomen Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrages (S. 189 ff). Er erkennt das Spannungsverhältnis, das gerade im Rahmen des Gesellschaftsrechts bei einer Gestaltungsfreiheit mit ihren vielfältigen Gefahren für den Rechtsverkehr und bei einer schrankenlosen Privatautonomie zu Lasten von Minderheiten besteht. Mit Recht erinnert Flume dabei an das Wort Wielandsdie Frage nach den Schranken der Privatautonomie sei die vielleicht schwierigste Frage des Gesellschaftrechts (S. 208). Flume geht bei der Bewältigung dieses Problems einen eigenen Weg. Er meint, die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter sie nicht wie sonst bei der Vertragsfreiheit bis zur Grenze des Mißbrauchs anzuerkennen, sondern hier seien vor allem die Besonderheiten des Gesellschaftsrechts mitzuberücksichtigen. „Für die Personengesellschaften geht es vor allem darum, daß der Grundsatz der Privatautonomie auch die Unverzichtbarkeit der Selbstbestimmung zum Inhalt hat. So ist der Gestaltungsfreiheit für die Gesellschaftsverträge von Personengesellschaften vorgegeben, daß die Selbstbestimmung der Gesellschafter nicht zur Disposition der privatautonomen Gestaltungsfreiheit steht" (S. 191). Dabei kann das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Gesellschafters mit dem Selbstbestimmungsrecht der Gesellschaft als Personengruppe in Widerspruch 17

Wieland, Handelsrecht, l.Band, 1921, S.579, Anm.4.

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geraten, so daß ein ausgewogenes Verhältnis von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der Gesellschaft das eigentliche Problem privatautonomer Gestaltungsfreiheit im Gesellschaftsrecht ist, ein Problem, das sich sowohl für den einzelnen Gesellschafter wie für die Gesellschaft selbst darstellt (S. 207 ff). Für den einzelnen Gesellschafter wahrt das Einstimmigkeitsprinzip sein Selbstbestimmungsrecht in vollkommener Weise, weil in diesem Fall nichts gegen seinen Willen in der Gesellschaft geschehen kann. Das kann aber für die anderen Gesellschafter äußerst hinderlich sein, weil sie dadurch bei der Gestaltung der Angelegenheiten innerhalb der Gesellschaft auf die Zustimmung eines jeden einzelnen Gesellschafters geschehen kann. Das kann aber für die anderen Gesellschafter äußerst hinderlich sein, weil sie dadurch bei der Gestaltung der Angelegenheiten innerhalb der Gesellschaft auf die Zustimmung eines jeden einzelnen Gesellschafters angewiesen sind. Für die Selbstbestimmung der Gesellschaft als Gruppe ist daher das Mehrheitsprinzip sachgerechter; um so größer die Mitgliederzahl in der einzelnen Gesellschaft ist, um so ungeeigneter ist das Einstimmigkeitsprinzip als Gestaltungsmittel innerhalb der Gesellschaft. Daraus zieht Flume zwei Folgerungen: „Es ist in der Regel angemessener, daß die Minderheit sich der Mehrheit fügt, als daß die Minderheit oder auch nur ein einzelner Gesellschafter der Mehrheit seinen Willen aufzwingt" (S. 208). Dagegen wird das Mehrheitsprinzip dort problematisch, wo der einzelne Gesellschafter durch die Mehrheitsgestaltung als Person betroffen wird (S. 209). Gegen diese Abwägung der sich insoweit widersprechenden Interessen habe ich gewisse Bedenken. Ich glaube, die individuellen Interessen der einzelnen Gesellschafter werden dadurch zu wenig geschützt. Immer wird innerhalb des Gesellschaftsrechts das Mehrheitsprinzip einen entsprechenden (zwingenden) Minderheitsschutz erfordern und immer wird in einem solchen Fall das besondere Augenmerk gerade auf diesen Schutz gerichtet werden müssen. Der von Flume in einem anderen Zusammenhang aufgestellte Grundsatz: „Wie sich die Einzelperson nicht entmachten kann, so auch nicht die Personengemeinschaft" (S. 240) wirkt sich, wie mir scheint, auch schon in diesem Zusammenhang zu Lasten des einzelnen Gesellschafters aus. - Ganz allgemein möchte ich rückblickend sagen, daß in den vergangenen Jahrzehnten der Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter ein zu großer Raum eingeräumt worden ist, daß eine geschickte und einfallsreiche Kautelarjurisprudenz zu Gestaltungsformen gefunden hat, die nicht selten eine Gefährdung einzelner Gesellschafter zur Folge haben. Darüber hinaus ist aber auch zu beachten, daß die Gestaltungsfreiheit innerhalb des Gesellschaftsrechts nicht nur ein Problem der Abwägung widerstreitender Interessen einzelner Gesellschafter und der Gesellschaft selbst, also ein Problem

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der Interessenabwägung von Minderheit und Mehrheit innerhalb der Gesellschaft ist, sondern daß sie auch schutzwerte Interessen der Allgemeinheit, insbesondere des redlichen Rechtsverkehrs, ernsthaft gefährden kann. Bei Flume erweisen sich die Auswirkungen seiner Meinung nach meinem Verständnis zu einem Teil als positiv, aber in mancher Hinsicht auch als negativ. Zuzustimmen ist ihm m. E. darin, daß er auch für den Bereich des Gesellschaftsrechts sich gegen den Satz wendet, daß alles, womit sich der Gesellschafter durch den Abschluß des Gesellschaftsvertrags freiwillig einverstanden erklärt hat, er auch gegen sich gelten lassen müsse. So sind seine Bedenken gegen die Entscheidung des B G H vom 7. Mai 1973 18 berechtigt, wonach ein Gesellschafter auf Grund einer Gesellschaftermehrheit auch ohne wichtigen Grund aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann, wenn das im Gesellschaftsvertrag vorgesehen ist. Es ist daher mit Flume (S. 138) zu begrüßen, daß der Bundesgerichtshof in einer späteren Entscheidung" diese Meinung aufgegeben und eine solche gesellschaftsvertragliche Bestimmung nur noch für zulässig hält, wenn für eine solche Bestimmung wegen außergewöhnlicher Umstände sachlich gerechtfertigte Gründe bestehen. Wie eine solche Ausschließungsmöglichkeit im einzelnen zu beurteilen ist, wenn dem Gesellschafter, etwa dem Sohn vom Vater, sein Gesellschaftsanteil geschenkt worden ist und der Vater sich, z. B. aus Sorge wegen etwaiger Meinungsverschiedenheiten mit dem Sohn, das Recht vorbehalten hat, sich jederzeit vom Sohn wieder zu lösen (Ausschließung oder Herauskündigung ohne wichtigen Grund), erscheint mir zweifelhaft. J e länger das Gesellschaftsverhältnis zwischen Vater und Sohn besteht und je größer die Verdienste sind, die sich der Sohn durch seine Mitarbeit um das gemeinsame Unternehmen erworben hat, um so problematischer wird die Zulässigkeit einer jederzeitigen Ausschließung (Herauskündigung) des Sohnes auch ohne wichtigen Grund. Flume führt gerade für Fälle dieser Art den Begriff eines „Gesellschafters minderen Rechts" ein (S. 137ff, 179, 181), eine Rechtsfigur, die mir bedenklich zu sein scheint. Immerhin erkennt auch Flume an, daß der Gesellschafter, der gegenüber dem minderberechtigen Gesellschafter ein Kündigungs-, Ausschließungs- oder Übernahmerecht hat, von diesem Recht nur bis zur Grenze des Rechtsmißbrauchs Gebrauch machen kann (S. 138). Die Einhaltung dieser Grenze wird man mit besonderer Aufmerksamkeit beachten müssen. Die praktische Bedeutung für den Begriff eines „Gesellschafters minderen Rechts" zeigt sich nach Flume namentlich darin, daß einem B G H WM 1973, 842. " B G H Z 68, 212. 18

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solchen Gesellschafter bei seinem Ausscheiden ein Abfindungsanspruch versagt werden kann, auch wenn er von den übrigen Gesellschaftern ohne wichtigen Grund ausgeschlossen oder ihm ohne wichtigen Grund gekündigt wird. „Der vermögensmäßige Inhalt der Mitgliedschaft ist der privatautonomen Gestaltung durch den Gesellschaftsvertrag überlassen. So wie es der Gesellschaftsvertrag bestimmt, ist der Inhalt der Mitgliedschaft. Ist ein Gesellschafter nicht am Liquidationserlös beteiligt und hat er deshalb nach... § 738 Abs. 1 BGB beim Ausscheiden keinen Abfindungsanspruch, so erleidet dieser Gesellschafter bei seinem Ausscheiden keinen Verlust einer Vermögensposition. Denn seine Mitgliedschaft hat a priori als vermögensmäßigen Bezug nur den Anspruch auf die Gewinnbeteiligung" (S. 177). Hier wird nach meinem Eindruck der Gedanke der Privatautonomie überspannt. Vor allem muß die Frage gestellt werden, ob das auch für den persönlich haftenden Gesellschaft gilt, und ob die Rechtsfigur des „Gesellschafters minderen Rechts" auch über Jahre hinweg erhalten und selbst in späteren Generationen bestehen bleibt. Von einer großen praktischen Bedeutung ist die Frage, welche Möglichkeiten der Gesellschaftsvertrag hat, um die Höhe eines Abfindungsanspruchs beim Ausscheiden eines Gesellschafters zu bestimmen, und dabei namentlich die Frage, ob der Privatautonomie in dieser Hinsicht Grenzen gezogen sind. Insoweit sagt Flume m. E. mit vollem Recht: „Die Beschränkung und nicht der Ausschluß des Abfindungsanspruchs ist das eigentliche Thema der Abfindungsklausel" (S. 181). Des weiteren dürfte Flume auch darin zuzustimmen sein, daß er der Beschränkungsklausel und nicht so sehr der Bewertungsklausel seine besondere Beachtung zuwendet und in diesem Zusammenhang der Auffassung ist: „Entgegen den in der Literatur vertretenen Meinungen wird eine Einheitslösung der komplexen Problematik der beschränkenden Abfindungsklausel nicht gerecht" (S. 184). Schließlich ist Flume auch darin beizutreten, wenn er die Vereinbarung einer Abfindungsbeschränkung, deren Sinn darin besteht, den Gesellschafter von einer Kündigung der Gesellschaft möglichst abzuhalten, für unzulässig hält, weil sie gegen § 723 Abs. 3 BGB, §133 Abs. 3 H G B verstößt. - Unverständlich ist es mir aber, wenn Flume dann fortfährt: „Ein solcher Fall wird jedoch kaum vorkommen. In der Regel hat die Abfindungsklausel, wenn sie den Abfindungsanspruch beschränkt, nach dem Willen der Parteien den Sinn, daß damit der besonderen Problematik Rechnung getragen werden soll, die sich beim Ausscheiden eines Gesellschafters hinsichtlich des Fortbestands der Gesellschaft ergibt" (S. 184/185). Damit teilt Flume der beschränkenden Abfindungsklausel die Funktion zu, den Fortbestand der Gesellschaft im Fall der Kündigung zu sichern, also eine Aufgabe, die sich nicht gegen den ausscheidenden Gesellschafter richtet und

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deshalb für ihn auch keinerlei Diffamierung enthält. Auf diese Weise kommt Flume zu dem Ergebnis, daß in einem Fall dieser Art eine beschränkende Abfindungsklausel zulässig ist, wenn nur der ausscheidende Gesellschafter seine Einlage zurückerhält, soweit sie nicht verbraucht ist, und wenn ihm seine stehengebliebenen Gewinne ausgezahlt werden. Ich halte diese Beurteilung und die Interessenabwägung, die ihr zugrunde liegt, für zu einseitig. Ich meine, die Interessen des ausscheidenden Gesellschafters verdienen auch gegenüber dem anzuerkennenden Interesse der übrigen Gesellschafter am Bestandsschutz für ihr Unternehmen eine stärkere Berücksichtigung, als sie Flume für richtig hält. Man denke nur an den Fall, daß die Entrichtung der Einlage schon viele Jahre, vielleicht sogar eine oder zwei Generationen, zurückliegt, um zu erkennen, wie gering die Abfindung in einem solchen Fall sein kann. Erfreulich klar ist die Stellungnahme Flumes zur Abfindungsklausel, wenn ein Gesellschafter aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft ausscheidet. In diesem Fall hält er jede Verkürzung des Abfindungsanspruchs für unzulässig. „Das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund wäre um seine Substanz gebracht, wenn bei Fortsetzung der Gesellschaft die Abfindung nicht zum vollen Wert erfolgen müßte" (S. 186). Dieser Auffassung ist ohne Einschränkung zuzustimmen. Was Flume über den Mehrheitsbeschluß und seine Grenzen bei einer Änderung des Gesellschaftsvertrages sagt (S. 213 ff), ist m. E. bedeutsam und verdient angesichts der heutigen Auseinandersetzung über die Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Mehrheitsbeschlüssen besondere Beachtung. Für Flume gehört - m. E. mit Recht - das Mehrheitsprinzip dem korporativen Element an (S. 216) und ist in diesem Bereich auch bei einer Änderung des Gesellschaftsvertrages zuzulassen. Als Schulbeispiel für einen solchen Sachverhalt erwähnt er eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes20, in der in einer Publikums-Kommanditgesellschaft die Zulässigkeit einer Kapitalerhöhung durch Mehrheitsbeschluß bejaht wurde, der dem einzelnen Kommanditisten das Recht, nicht aber die Pflicht zur Erhöhung seiner Einlage einräumte. Dagegen hält es Flume nicht für zulässig, wenn auch bei Wahrung des sog. Bestimmtheitsgrundsatzes durch einen Mehrheitsbeschluß der Gesellschaftsvertrag geändert und dabei in die Rechtstellung des einzelnen Gesellschafters eingegriffen wird (S.219). Denn der Bestimmtheitsgrundsatz hat keine eigene materielle Bedeutung, die eine gerechte Interessenabwägung ermöglicht, sondern besitzt nur eine formale Funktion, die einem Machtmißbrauch nicht wirksam begegnen kann21. Leider hält Flume diesen Grundsatz nicht konsequent durch. Denn er ist der Meinung, es 20 21

B G H Z 66, 82. Vgl. dazu Fischer, Festschrift für Barz, 1974, S. 40 ff [hier S. 200 ff].

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müsse etwas Besonderes gelten für den Fall, „daß eine bestimmte Regelung bereits im Gesellschaftsvertrag vereinbart ist22 und nur ihre Durchführung von einem Mehrheitsbeschluß abhängig gemacht wird. In diesem Fall bedeutet der Mehrheitsbeschluß keine Änderung des Gesellschaftsvertrages . . . vielmehr dient er nur seiner Durchführung. Die bloße Durchführung des Gesellschaftsvertrages durch den Mehrheitsbeschluß ist im Gegensatz zur Änderung des Gesellschaftsvertrages rechtlich unbedenklich" (S.219, 220). Ich halte diese Argumentation, mit der in einem Fall dieser Art das Vorliegen einer Änderung des Gesellschaftsvertrages verneint wird, nicht für zutreffend. Zudem öffnet Flume nach meiner Uberzeugung hier der Kautelarjurisprudenz, die geschickte Formulierungen zu entwerfen vermag, Möglichkeiten, die für Minderheiten oder für einzelne Gesellschafter außerordentlich nachteilige Folgen haben können. Es wurde bereits oben erwähnt, daß Flume nicht nur dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Gesellschafters, sondern auch dem Selbstbestimmungsrecht der Gesellschaft als Personengruppe einen besonderen Schutz zuteil werden läßt und von der Unverzichtbarkeit auch des Selbstbestimmungsrechts der Gesellschaft ausgeht. „Wie sich die Einzelperson nicht entmachten kann, so auch nicht die Personengemeinschaft" (S. 240). Hier wird m. E. etwas von der Mystifikation der Gierkesehen Verbandspersönlichkeit wieder lebendig, die Flume gerade entmystifizieren wollte (vgl. S. 62); diese anthropomorphe Betrachtung der Gesellschaft als Personengruppe trägt die Gefahr in sich, den Schutz für die Personengruppe zu überspannen oder sachlich gebotene Regelungen zu verhindern. Es ist erfreulich, daß Flume dieser Gefahr nicht unterliegt. Er bejaht ausdrücklich die Möglichkeit, „daß auch Nicht-Gesellschafter an den für die Gesellschaft zu treffenden Entscheidungen beteiligt werden können" (S. 235). Dabei erkennt Flume zutreffend, daß die Beteiligung eines Nicht-Gesellschafters an der Willensbildung gerade als Minderheitenschutz eine wesentliche Bedeutung erlangen kann (S. 240, 241). Auch dem Satz: „Die Beteiligung von Nicht-Gesellschaftern an der Willensbildung der Gesellschaft in schiedsrichterlicher Funktion spielt in der Praxis eine besondere Rolle und kann für die Gesellschaft nur segensreich sein" (S. 240), kann man nur Beifall zollen. Schließlich ist zu erwähnen, daß bei Familiengesellschaften mit 50 % : 50 % Beteiligungen oft nur mit Hilfe eines Verwaltungsrates oder einer Vertrauensperson die Gesellschaft aktionsfähig gehalten werden kann. In einem besonderen Abschnitt befaßt sich Flume mit der „Privatautonomie und Pflichtenbindung als Prinzipien der Mitgliedschaft in der Personengesellschaft" (S. 257 ff). Dabei zeigt sich, daß Flume dazu neigt, 22

mir).

Z . B . die Vereinbarung einer Nachschußpflicht bei etwaigen Verlusten (Anm. von

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der Privatautonomie gegenüber der Pflichtenbindung den Vorrang einzuräumen. So ist seine Zurückhaltung gegenüber der Treuepflicht des Gesellschafters als einer besonderen Rechtsfigur m. E. unverkennbar. Merkwürdig schillernd und undeutlich - etwas, was man bei Flume sonst gar nicht kennt - sind seine Ausführungen in diesem Zusammenhang. Ein etwa längeres Zitat mag das verdeutlichen: „So wichtig der Treuegedanke für das Gesellschaftsverhältnis ist und so oft er immer wieder in Literatur und Rechtsprechung für das Gesellschaftsverhältnis berufen wird, er ist keine Zauberformel, durch welche für die rechtliche Beurteilung der Widerstreit von Privatautonomie und Pflichtenbindung zu lösen wäre. Die Charakterisierung der Pflichtbindung des Gesellschafters als Bindung an eine Treuepflicht bedeutet, so wichtig diese Charakterisierung ist, keinen zusätzlichen Inhalt der Pflichten der Gesellschafter und bewirkt auch nicht eine Konkretisierung der Pflichten, die nach der Rechtsfigur der Gesellschaft durch den Gesellschaftszweck bestimmt werden" (S.261). Flume empfindet offenbar die Treuepflicht als eine Gefährdung für die privatautonome Entscheidung des Gesellschafters und hält wohl deshalb „die Erfüllung der Treuepflicht, soweit der Bereich der Privatautonomie in Frage steht, nur (für) beschränkt justiziabel" (S. 269). N u r aus dieser Sicht kann man schließlich verstehen, wenn Flume sagt: „Die gesellschaftliche Treuepflicht zu bemühen für den Zwang, einer Änderung des Gesellschaftsvertrages zuzustimmen, erscheint geradezu paradox" (S. 280). Diese Abwägung zwischen den Prinzipien der Privatautonomie und Pflichtenbindung halte ich nicht für richtig. Die Pflichtenbindung ist in einem besonderen Maß das geeignete Gestaltungsmittel und die adäquate Ausdrucksform für das Zusammenleben und Zusammenwirken in einer Personengesellschaft, und man sollte sie für die Beurteilung von Rechtsbeziehungen zwischen den Gesellschaftern nicht vernachlässigen. Nicht in der Pflichtenbindung liegt eine Gefährdung für den einzelnen Gesellschafter, sondern in der Verschiebung der Machtlage zugunsten oder zu Lasten der einen oder der anderen Gesellschaftergruppe, im Verlust einer ausgewogenen und gesicherten Balance. Privatautonomie und Pflichtenbindung sollten wirklich Prinzipien der Mitgliedschaft in der Personengesellschaft sein, wie es Flume in seiner Uberschrift zum § 15 selbst sagt, nicht aber Antinomien, die einander widerstreiten. Die Privatautonomie der Gesellschafter findet in ihrer Pflichtenbindung, die sie selbst gewählt und für die sie sich frei entschieden haben, ihren besonderen, für das Wirken innerhalb der Gesellschaft typischen Ausdruck. IV. In einem eingehenden Kapitel von über 60 Seiten befaßt sich Flume mit den schwierigen Fragen von Schuld und Haftung bei der Personen-

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gesellschaft. Es ist nicht möglich, im Rahmen einer - auch ausgedehnten - Besprechung auf die inhaltsreichen Ausführungen im einzelnen einzugehen. Es seien daher hier nur einige der zahlreichen Fragen herausgegriffen, die Flume in diesem Zusammenhang behandelt. 1. Etwas unklar ist m. E. die Auffassung Flumes über das Verhältnis der Gesellschaftsschuld zur Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters. Zunächst vertritt er entgegen der ganz überwiegenden Meinung die Ansicht, „die Einordnung der Gesellschaftsschuld und der Haftungsverbindlichkeit als Gesamtschuldverhältnis (sei) grundsätzlich unbedenklich" (S.287); anschließend führt er jedoch aus, „daß diese aber für die Anwendung der §§421 ff B G B . . . ohne Bedeutung ist, weil das Verhältnis der Haftungsverbindlichkeit zur Gesellschaftsschuld dadurch bestimmt ist, daß die Haftungsverbindlichkeit nicht „eiusdem potestatis" wie die Gesellschaftsschuld ist, sondern durch das Akzessorietätsprinzip bestimmt wird" (S.288). Damit nähert er sich m . E . praktisch der im Schrifttum vertretenen Meinung, daß es in jedem Einzelfall der Prüfung bedarf, ob auf das Rechtsverhältnis, das durch die Gesellschaftsschuld und die Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters bestimmt wird, die §§422 ff BGB angewendet werden können oder nicht23. 2. Eindrucksvoll sind die sodann folgenden Ausführungen Flumes, in denen er sich mit Einzelfragen einer Anwendung der §§ 422 ff BGB auf bestimmte Sachverhalte befaßt. Hier zeichnen sich seine Ausführungen durch große Klarheit und eine bemerkenswerte Folgerichtigkeit aus. Aus dem akzessorischen Charakter der Haftungsverbindlichkeit entnimmt er, daß bei einer Unterbrechung der Verjährung der Gesellschaftsschuld - etwa durch Erhebung der Klage gegen die Gesellschaft auch die Verjährung der Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters unterbrochen wird. „Die Wirkung der Unterbrechung zu Lasten des Gesellschafters folgt einfach daraus, daß der Gesellschafter für die Gesellschaftsschuld haftet und deshalb seine Haftung einseitig durch die Gesellschaftsschuld bestimmt wird (S.291). Dem ist m . E . nichts hinzuzufügen 24 . In anschließenden Ausführungen verteidigt Flume in überzeugender Form die vom Bundesgerichtshof 25 vertretene Meinung, ein Gesellschaftsgläubiger könne der offenen Handelsgesellschaft ihre Gesellschaftsschuld nicht unter dem Vorbehalt erlassen, einen ihrer Gesellschafter weiterhin wegen der Schuld in Anspruch nehmen zu wollen. Denn nach § 128 H G B sei die Haftung des einzelnen Gesell23

Vgl. dazu Fischer, Großkomm. z. H G B , §218 Anm. 17 ff. Die von mir vertretene Gegenmeinung in Großkomm. z. HGB, § 124 Anm. 27, gebe ich auf. 25 B G H Z 47, 376, 379 ff. 24

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schafters per definitionem von dem Bestehen der Verbindlichkeit der Gesellschaft abhängig. Demgegenüber berücksichtigte die Gegenmeinung „nicht die Unselbständigkeit der Gesellschafterschuld als Haftungsverbindlichkeit" (S. 293). Den gleichen Standpunkt nimmt Flume bei der Frage einer Stundung ein. Auch hier kann der Gläubiger seine Vereinbarung mit der Gesellschaft über die Stundung der Gesellschaftsverbindlichkeit nicht auf diese beschränken, eine solche Vereinbarung erfaßt vielmehr stets auch die Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters. Das erscheint allein folgerichtig 26 . Die Ausführungen Flumes zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes über die Haftung des ausgeschiedenen Gesellschafters bei Dauerschuldverhältnissen" sind interessant und aufschlußreich; sie decken die Schwächen dieser Entscheidung auf28, berücksichtigen jedoch noch nicht die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 29 und die damit zusammenhängende Problematik der Behandlung von Kündigungsschutzbestimmungen bei solchen Dauerschuldverhältnissen 30 . Inhalt der Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters ist nach Meinung Flumes grundsätzlich der Inhalt der Gesellschaftsschuld. Er begründet diese Meinung mit einem Vergleich zur Bürgschaft, bei der nach allgemeiner Meinung der Bürge die gleiche Leistung wie der Hauptschuldner zu erbringen hat. Er bemerkt in diesem Zusammenhang: Da „die Haftungsverbindlichkeit sehr viel enger mit der Gesellschaftsschuld verbunden ist als die Bürgschaft mit der Hauptschuld, so muß(!) 31 die für die Bürgschaft feststehende Regelung, daß dem Gläubiger gegen den Bürgen ein Anspruch auf Erfüllung in natura zusteht, erst recht entsprechend für den Gesellschaftsgläubiger gegenüber der Gesellschaft auf Grund der Haftung nach § 128 H G B gelten" (S. 303). Diese Schlußfolgerung erscheint mir nicht zwingend. Der Bürge begründet seine Leistungsverpflichtung auf Grund eines eigenen Entschlusses, privatautonom, wie Flume sagen würde, während die Haftungsverbindlichkeit des einzelnen Gesellschafters nach zwingender gesetzlicher Bestimmung durch ein Handeln eines Vertreters namens der offenen Handelsgesellschaft entsteht, wobei „die Gesellschaft", wie das Reichsgericht 32 zutreffend sagt, „ihre Teilhaber nur im gesellschaftlichen Bereich bindet", also im persönlichen Bereich überhaupt nicht zu binden 26 Auch insoweit gebe ich die von mir vertretene Gegenmeinung in Großkomm. z. HGB, § 129 Anm. 8, auf. 27 B G H Z 36, 224 ff. 28 Vgl. dazu bereits Fischer, Großkomm. z. HGB, § 128 Anm. 53. 29 B A G AR Blattei D Juristische Personen) Nr. 19. 30 Vgl. dazu Steindorff, a . a . O . (Fn.29). 31 Ausrufungszeiten von mir. 32 RGZ 136, 271.

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vermag. Das erkennt auch Flume an, wenn er sagt: „Die Gesellschaft hat grundsätzlich nicht die Verfügung über die Person ihres Gesellschafters, d.h. dessen Tun oder Unterlassen. N u r wenn der Gesellschafter sich gegenüber der Gesellschaft zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtet hat, kann die Gesellschaft vermittels dieser Verpflichtung die Haftung des Gesellschafters für die Gesellschaftsverbindlichkeit in natura begründen" (S. 311). Hier wird auch bei Flume der grundlegende Unterschied zu den Verhältnissen bei der Bürgschaft deutlich, der seine Leistungsverpflichtung in natura selbst begründet, so daß der Schluß a maiore ad minus („erst recht") auch nicht gerechtfertigt ist. - Im Anschluß an die oben vermerkten Ausführungen von Flume sagt dieser freilich: „Hinsichtlich der Sachleistungen gibt es auf Grund der unbeschränkten Haftung keine ,außergesellschaftlichen Belange', durch welche die Haftung nach §128 H G B beschränkt würde" (S.305). Diese Einschränkung ist für mich nicht verständlich, wenn sie dazu führt, daß der Gesellschafter auf Grund seiner Haftung dem Gläubiger die ihm persönlich gehörenden Vermögensgegenstände liefern muß. Eine große praktische Bedeutung scheint Flume seiner Meinung nicht zuzumessen. Er sagt: „In der Regel wird sich der Gläubiger wohl, wenn er von der Gesellschaft die Leistung nicht erhält, mit der Interessenhaftung begnügen" (S. 305) und kurz zuvor bemerkt er: „Das Urteil auf Erfüllung gegen den Gesellschafter ist vor allem eine Grundlage für den Schadensersatzanspruch nach §283 BGB" (S.305). Angesichts dieser Äußerungen fragt man sich unwillkürlich, warum man einen solchen umständlichen Weg beschreitet und den Gläubiger zu einem neuen Prozeß nötigt, da eine Verknüpfung der beiden Prozesse durch Stellung eines Hilfsantrages im allgemeinen nicht möglich ist", das um so mehr, wenn man der Meinung ist, „es bestünden keine durchgreifenden Bedenken dagegen, daß die persönliche Haftung des Gesellschafters nach § 128 H G B nur eine Interessenhaftung ist" (S. 305). V. In dem Schlußkapitel (S. 375/421) wiederholt und verteidigt Flume seine Meinung 34 , in einer Personengesellschaft vollziehe sich die Nachfolge in die Mitgliedschaft beim Tod eines Gesellschafters auf rechtsgeschäftlichem Wege, es gebe also keine erbrechtliche Nachfolge in den Anteil einer Personengesellschaft 35 . Dabei fügt er in einem besonderen 33 Vgl. dazu statt anderer Soergel/Schmidt, Komm. z. BGB, 10. Aufl., 1967, §283 A n m . 6 ; Staudinger/Werner, Komm. z. BGB, 11.Aufl., 1967, §283 Anm.23. 34 Vgl. dazu seinen Beitrag in der Festschrift für Schilling, 1973, S. 23 ff. 35 N u r eine geringfügige Korrektur seiner bisherigen Ansicht, nämlich bei einer Nachfolge in eine Kommanditbeteiligung, falls die Hafteinlage noch nicht voll geleistet ist, hat Flume insoweit vorgenommen (vgl. S. 398 zu Anm. 69).

15. Neue Wege im Recht der Personengesellschaften?

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Abschnitt (S. 413 ff) noch eine kritische Stellungnahme zu dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes vom 10. Februar 1977" bei, das bekanntlich insoweit den gegenteiligen Standpunkt eingenommen hat. Ich möchte - schon aus Raumgründen - in diesem Zusammenhang nicht erneut zu dieser Streitfrage selbständig Stellung nehmen. N u r so viel sei hier gesagt. Folgt man den Ausführungen von Flume in ihren vielfältigen, zum Teil recht subtilen Verästelungen, so erwecken diese Ausführungen in ihrer unbedingten, jeden Zweifel ausschließenden Formulierung den Eindruck, es könne nur die von ihm vertretene Meinung aus dogmatischer Sicht vertretbar und zutreffend sein. Dieser Eindruck löst m. E. bei Sachkundigen, denen die Schwierigkeiten einer rechtlichen Bewältigung dieses ganzen Problems nach streng dogmatischen Kriterien gegenwärtig sind, gewisse Bedenken und Zweifel aus. Ich meine, so leicht kann man z. B. die in Rechtsprechung und Schrifttum geäußerten Bedenken gegen das Vorliegen eines Vertrages zu Lasten Dritter mit dogmatischen Mitteln nicht ausräumen, wie das Flume versucht (S. 385). Auch glaube ich, daß man bei der Behandlung dieses ganzen Fragenkomplexes das Widersprüchliche, daß durch das Zusammentreffen der beiden heterogenen Momente, des Gesellschaftsrechts und des Erbrechts, gekennzeichnet ist, offenlegen und sich sodann - wie ein Gesetzgeber (vgl. § 1 SchwZGB) - zu einer echten Entscheidung für die eine oder andere Lösung durchringen und sich dabei vor allem von praktischen Erwägungen leiten lassen sollte. Eine logische Deduktion oder der Versuch einer dogmatischen Einordnung werden angesichts der beiden heterogenen Momente hier m. E. nicht die geeignete Entscheidungshilfe bieten können. Das haben m. E. die bisherigen ernsthaften und gründlichen Lösungsversuche in der Wissenschaft eindrucksvoll dargelegt. Der Satz Flumes: „Da die Erbfolge wegen des Grundsatzes der Gesamtrechtsnachfolge ausscheidet, bleibt nur der Gesellschaftsvertrag" (S. 383) läßt das Unbefriedigende eines solchen Lösungsversuchs nochmals deutlich werden, da er das dogmatisch Widersprüchliche, das für diesen Fragenkomplex kennzeichnend ist und auch seiner Meinung anhaftet, nicht auszuräumen vermag. Ulmer hat in seinen Bemerkungen zu dem obengenannten Urteil des Bundesgerichtshofes vom 10. Februar 1977 dem Wunsch Ausdruck gegeben37, das Urteil, das für die Praxis die dringend erwünschte Klarstellung zur Gesellschaftsnachfolge im Todesfall bei der Mehrzahl der aufgetretenen Zweifelsfragen gebracht habe, möchte auch in der Wissenschaft als Schlußstrich unter die bisherigen Auseinandersetzungen ver-

36 37

B G H Z 68, 225 ff. Ulmer, BB 1977, 805 ff.

268

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

standen und als Grundlage für weitere Klärungen 38 angenommen werden. Dem tritt Flume entgegen, denn mit einem Roma locuta, causa finita, so meint er, sei es nicht getan (S. 413). Ich habe für diese Meinung menschlich völliges Verständnis, da es sich hierbei um die wissenschaftliche Uberzeugung handelt. Aber es erhebt sich m . E . gleichwohl bei einem solchen Sachverhalt die Frage nach dem Miteinander und Nebeneinander von Wissenschaft und Rechtsprechung, das nach meinem Verständnis und nach meiner Erfahrung auch ein Füreinander der beiden sein sollte. Flume sagt selbst, daß die Kautelarjurisprudenz sich auf dieses Urteil einstellen müßte und es ihre Aufgabe sei, die Nachfolgeregelungen in Zukunft entsprechend zu gestalten. Auch hält er es für geboten, als Wissenschaftler der Kautelarjurisprudenz für die Erfüllung dieser Aufgabe besondere - freilich nach meinem Eindruck überaus diffizile - Hinweise und Ratschläge zu geben (S. 417 ff). Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 10. Februar 1977" ist nach Form und Inhalt nicht denkbar ohne die eingehenden und gründlichen, auch vielfach divergierenden und kritischen Untersuchungen im wissenschaftlichen Schrifttum, die sich an die erste Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 22. November 195640 angeschlossen haben. Sollte es nicht möglich sein, so wie es Flume ja auch mit seinen Ratschlägen selbst tut, das Miteinander von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft weiter wirken zu lassen, um die noch offen gebliebenen Fragen einer für die Beteiligten befriedigenden Lösung zuzuführen? Ich möchte schließen. Es handelt sich hier um ein inhaltsreiches und inhaltsschweres Buch, das auf vielfach völlig neuen Wegen das Recht der Personengesellschaften dogmatisch einzuordnen und auf diese Weise zu einer Klärung zahlreicher Einzelfragen aus diesem Rechtsgebiet beizutragen versucht. Niemand wird sich der Originalität dieses Werkes, der großen geistigen Leistung des Verfassers sowie dem wissenschaftlichen Ernst und der wissenschaftlichen Redlichkeit dieser Arbeit entziehen können. Das Werk wird in vielfacher Hinsicht wissenschaftliche Anregungen vermitteln und dazu beitragen, das Recht der Personengesellschaften mit neuen Gedanken zu bereichern.

38 39 40

Vgl. dazu namentlich Wiedemann, BGHZ 68, 225 ff. BGHZ 22, 186.

JZ 1977, 689 ff, 691.

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes"" I. Allgemeine Gesichtspunkte Die Beurteilung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf einem bestimmten Teilgebiet über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglicht es, Entwicklungstendenzen innerhalb dieser Rechtsprechung zu erkennen und darzustellen, die obwaltenden Zufälligkeiten und Besonderheiten, die einer höchstrichterlichen Rechtsprechung durch das jeweilige Entscheidungsmaterial immer anhaften 1 , sachgerecht zu berücksichtigen und schließlich auch festzustellen, nach welchen rechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere nach welchen Auslegungsmethoden das Revisionsgericht Gesetz und Recht im jeweiligen Einzelfall angewendet hat. Dabei ist es m. E. besonders reizvoll und aufschlußreich, wenn sich eine solche Beurteilung auf ein Rechtsgebiet erstreckt, das wie das G m b H Recht von einem Gesetz geformt und geregelt ist, das bereits zu Beginn des Beurteilungszeitraums veraltet war, und dessen Alterungsprozeß sich in den folgenden Jahren in zunehmender Beschleunigung fortgesetzt hat. Denn in einem solchen Fall wird in einem besonderen Maß deutlich, in welcher Weise sich die höchstrichterliche Rechtsprechung mit der ihr obliegenden Aufgabe einer stetigen, die Rechtssicherheit beachtenden Rechtsfortbildung auseinandersetzt und sie zu erfüllen sucht, und wie sie dabei den Bedürfnissen des praktischen Rechtslebens gerecht zu werden trachtet. Bei einer solchen Beurteilung wird man auch den äußeren Umständen, unter denen sich die höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelt und vollzieht, die ihnen gebührende Beachtung zuwenden müssen. Denn die Rechtsprechung ist von solchen äußeren Umständen in hohem Maß abhängig. Sie kann daher nicht isoliert, allein für sich betrachtet werden; die geistige Wirkungskraft ihres Umfeldes und die äußeren Gegebenheiten üben auf sie, wie wohl jeder Revisionsrichter aus eigener Erfahrung sagen kann, einen großen und sie auch gestaltenden Einfluß aus.

* A u s : Pro G m b H . Analysen und Perspektiven des Gesellschafts- und Steuerrechts der G m b H . Hrsg. von Hans Martin Schmidt. - Verlag Dr. Otto Schmidt K G , Köln, 1980, 137-167. 1 Vgl. dazu Robert Fischer, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1976, S. 11 ff [hier S . 3 7 f f ] ; ferner ders. Z G R 1978, 235ff [hier S . 2 0 9 f f ] .

270

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

1. Der Ausgangspunkt für die Rechtsprechung in den 50er Jahren Für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sind die erste Jahre seit seiner Errichtung für eine lange Zeit von besonderer Bedeutung geworden. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß jeder Rechtsprechung um der Rechtssicherheit willen in einem gewissen Umfang ein konservativer, ein bewahrender und stetiger Charakter eigen sein muß und daß deshalb die Urteile der Anfangszeit in einem besonderen Maß auf die folgende Rechtsprechung prägend fortwirkten, sondern vor allem auch damit, daß damals der Bundesgerichtshof das Trümmerfeld entrümpeln mußte, das der Nationalsozialismus auf dem Gebiet des Rechts uns hinterlassen hatte, und daß er in den entscheidenden Grundsatzfragen unseres Rechts die Bindung an die obersten Grundwerte der demokratischen freiheitlichen Ordnung vollziehen mußte 2 , die schon um ihres Inhalts willen eine fortwirkende Bedeutung entfalteten. Wenn man auf die Anfangszeit nach der Errichtung des Bundesgerichtshofes zurückblickt, so fällt auf, daß im Unterschied zum Recht der Personengesellschaften und der Aktiengesellschaften zunächst nur ganz wenige Entscheidungen auf dem Gebiet des GmbH-Rechts ergangen sind 3 . Erst in der Folgezeit, ab Ende 1953, fallen, nunmehr allerdings in einer recht dichten Aufeinanderfolge, zahlreiche GmbH-Entscheidungen an4. Dabei ist bemerkenswert, daß diesen Entscheidungen fast ausschließlich Sachverhalte zugrunde lagen, die keine Besonderheiten aufweisen, namentlich nicht von dem nationalsozialistischen Unrecht und von den ungewöhnlichen Verhältnissen im Zusammenhang mit dem Krieg, dem Zusammenbruch und dem Währungsverfall geprägt waren 4 '. Erst einige Jahre später, nachdem sich die Rechtsprechung innerhalb der einzelnen Fachsenate schon einigermaßen gefestigt hatte, mußten auch im Bereich des G m b H - R e c h t s Sachverhalte beurteilt werden, die mit den Wirren des Krieges und des Zusammenbruchs in unmittelbarem Zusammenhang standen, und die die Stetigkeit der Rechtsprechung durch das Bemühen um eine individuelle Fallgerechtigkeit gefährdeten und dadurch die einzelnen Spruchkörper in einem besonderen Maß

2 Vgl. dazu Robert Fischer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes - Ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre, 1960, S. 17 [hier S. 8 ff]. 3 In den ersten zehn Bänden der Entscheidungssammlung befindet sich nur eine GmbH-Entscheidung, nämlich die in B G H Z 9, 157. 4 In den Bänden 11-20, die die Zeit vom Herbst 1953 bis Mai 1956 umfassen, befinden sich 19 GmbH-Entscheidungen. 41 Rechtsfragen aus diesem Bereich haben im allgemeinen in der ersten Zeit eine große Rolle gespielt und für die Rechtsprechung damals manche Erschwernisse mit sich gebracht, wie ich schon seinerzeit in meinem Vortrag über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in den ersten 10 Jahren (Fn. 2 S. 7 / 8 ) hervorgehoben hatte.

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

271

belasteten 5 . - Im übrigen mag in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung während der Anfangszeit bei ihren Urteilen zum G m b H - R e c h t im allgemeinen auf die Hilfe der Rechtslehre zurückgreifen konnte, ein Umstand, dem eine verhältnismäßig bedeutsame Rolle beigelegt werden muß. So war im Jahr 1950 die 2. Auflage des Kommentars von Scholz erschienen; ferner erschienen in den 50er Jahren laufend Neuauflagen des informativen Kommentars von Baumbach/Hueck\ die auch ständig Stellung zu der höchstrichterlichen Rechtsprechung nahmen; schließlich erschien 1953 relativ schnell die 6. Auflage des bedeutenden Kommentars von Hachenburg, der für die Rechtsprechung von jeher ein besonderes Gewicht gehabt hat. Auch muß in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen Aufsätze in der GmbH-Rundschau hingewiesen werden, die laufend aktuelle Fragen des G m b H - R e c h t s modern und häufig auch recht ergiebig behandelten. Alles in allem waren somit die Begleitumstände, unter denen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum G m b H - R e c h t ihren Anfang nahm, verhältnismäßig günstig. Die Möglichkeit einer langsamen und allmählichen Entfaltung der Rechtsprechung in einem Spruchkörper, der sich geistig und menschlich inzwischen zusammengefunden hatte, und an Hand eines Entscheidungsmaterials, das den eigenständigen Besonderheiten des G m b H - R e c h t s die ihnen gebührende Beachtung sicherte, war unter diesen Umständen gegeben. Auch lagen in dieser Anfangszeit die Voraussetzungen dafür vor - und das gilt nicht nur für das G m b H - R e c h t , sondern für das gesamte Gesellschaftsrecht - , daß die Rechtsprechung ihrerseits den von der Sache her gebotenen Zusammenhang mit der Rechtslehre herstellen und für sich fruchtbar machen konnte. Das hat sich in der Folgezeit bis in die Gegenwart hinein für die Rechtsprechung als vorteilhaft erwiesen, zumal über die Jahre hinweg auch eine persönliche sowie menschlich und sachlich ersprießliche Verbindung zwischen Richtern des Fachsenats sowie Vertretern der Rechtswissenschaft bestanden hat und heute noch besteht.

2. Der Aufbau und die äußere Diktion der Urteile in der Anfangszeit Bei den Urteilen der Anfangszeit ist in der äußeren Diktion und im

Aufbau ein konservativer Zug unverkennbar. In einer auffallenden Ausführlichkeit und meist auch Vollständigkeit werden bei der Darstels Bei diesen Tatbeständen ging es namentlich um Enteignungen deutscher Gesellschaften außerhalb der Bundesrepublik, denen man durch die Zulassung einer Sitzverlegung und mit Hilfe der sog. Spalttheorie zu begegnen versuchte; vgl. dazu B G H Z 20, 4 = G m b H - R d s c h . 1956, 122; 25, 134; 32, 2 5 6 ; 33, 195; 43, 51. 6 Von 1 9 5 1 - 1 9 6 0 erschienen allein 5 Auflagen dieses Kommentars, die stets jeweils auf den neuesten Stand gebracht wurden.

272

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

lung der jeweils in Betracht kommenden Rechtsfragen die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die Meinungen im Schrifttum herangezogen und diese Fragen sodann im Anschluß und in Fortführung der bereits vorliegenden Ergebnisse entschieden. Rückblickend erwecken diese Urteile den Eindruck, daß sich die Rechtsprechung damals in einem besonderen Maß bemüht hat, den Zusammenhang der Rechtsentwicklung zu bewahren und sich nach Möglichkeit in dem Rahmen zu halten, der durch die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung und die Rechtslehre ausgefüllt worden war 7 . Es scheint, daß damals unbewußt eine Bestandsaufnahme des vorliegenden Rechtsstoffs vorgenommen und der Rechtspraxis bedeutet wurde, in welchem Umfang sie mit einer Kontinuität der Rechtsprechung werde rechnen können. Ein solcher mehr konservativer Zug entsprach im allgemeinen auch der Behandlung GmbH-rechtlicher Fragen im Schrifttum der 50er Jahre 8 . Trotz der äußeren, mehr konservativ wirkenden Diktion der Urteile in der Anfangszeit scheint bei näherer Betrachtung und Beurteilung die weitgehende Anknüpfung an die Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht selten doch nur eine recht äußerliche gewesen zu sein. So steht, eingebettet in die Darstellung von der Auffassung der bisherigen Rechtsprechung und des damaligen Schrifttums, in der Entscheidung B G H Z 14, 25, 38 schon der weittragende Ausspruch von den Rechtsbeziehungen der Gesellschafter einer G m b H untereinander, der für eine moderne Beurteilung GmbH-rechtlicher Fragen von ganz wesentlicher Bedeutung geworden ist. Auch die Anerkennung eines Einsichtsrechts für den einzelnen Gesellschafter in der Entscheidung B G H Z 14, 57 erweckt den Eindruck, daß sie auf das Reichsgericht zurückgeht; in Wirklichkeit hat das Einsichtsrecht des einzelnen Gesellschafters als ein selbständiges Minderheitsrecht erst in dieser Entscheidung seine gesicherte rechtliche Anerkennung gefunden, wenngleich es noch mit einigen Wenn und Aber ausgestattet ist. Auch die Entscheidung B G H Z 15, 382 läßt sich in diesem Zusammenhang anführen; denn die Deutlichkeit, mit der der Leitsatz dieser Entscheidung den gewonnenen Rechtssatz ausspricht, kann aus den zitierten Entscheidungen des Reichsgerichts keineswegs entnommen werden 9 .

7 Vgl. etwa BGHZ 11, 231; 14, 36/37 = GmbH-Rdsch. 1954, 122; 264 = GmbHRdsch. 1954, 125; 18, 205 = GmbH-Rdsch. 1956, 108; LM Nr. 2 zu §11 GmbHG; Nr. 4 zu §46 GmbHG. ! Vgl. etwa meine Beurteilung der 6. Aufl. des Hachenburgschen Kommentars in JZ 1954, 426, wo ich den „etwas konservativen Zug" des Kommentars, der „die rechtliche Beurteilung in einer wohl strengeren Anlehnung an den Gesetzes Wortlaut versucht", hervorgehoben habe. ' Vgl. dazu auch Hueck Anm. J Z 1955, 209.

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

273

Daneben stehen in der Anfangszeit auch eine Reihe von Urteilen, die bewußt Neuland betreten und dies für die Rechtspraxis zu erschließen versucht haben. Zu ihnen gehört das in mancher Hinsicht bemerkenswerte Urteil B G H Z 9, 157, das die Zulässigkeit der Ausschließung eines Gesellschafters beim Vorliegen eines wichtigen Grundes bejaht hat. Für diesen Zusammenhang ist es wichtig, daß selbst diese Entscheidung in ungemein eingehender Weise auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und das Schrifttum zurückgreift, sich mit den dort vertretenen Meinungen auseinandersetzt und von daher versucht, die eigene Meinung zu begründen und zu rechtfertigen. Bei einer mehr kritischen Beurteilung mag man dabei der Auffassung zuneigen, daß die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und dem Schrifttum in diesem Urteil einen zu weiten Raum einnimmt und dabei eine Vollständigkeit anstrebt, die wohl nicht die Aufgabe eines höchstrichterlichen Urteils sein kann. Wohltuender und auch anspruchsloser wirken in dieser Hinsicht Urteile wie B G H Z 15, 52; 382, die aus dem Gesetzeszweck heraus in klarer gedanklicher Aufeinanderfolge die Entscheidung entwickeln und begründen 10 . 3. Die Auslegungsgrundsätze in der Rechtsprechung Für die Beurteilung der GmbH-rechtlichen Rechtsprechung ist es von praktisch wesentlicher und vielfach entscheidender Bedeutung, nach welchen Gesichtspunkten der Bundesgerichtshof in diesem Bereich bei der Anwendung des geltenden Rechts vorgegangen ist und nach welchen Auslegungsmethoden er das geltende Recht fortentwickelt hat. In dieser Hinsicht ist bei der Rechtsprechung des II. Zivilsenats bis in die jüngste Gegenwart eine große Geschlossenheit und Beständigkeit festzustellen. Die Auslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes steht bei ihr durchaus im Vordergrund, wobei dem Ergebnis der rechtlichen Beurteilung im Hinblick auf die Bedürfnisse des Rechtslebens und der Rechtspraxis ein wesentliches Gewicht beigemessen wird. Demgegenüber hat die logische Deduktion, die allzu leicht in eine wertfreie und damit weitgehend inhaltsleere Beurteilung abgleitet, stets nur eine bemerkenswert geringe Bedeutung in der Rechtsprechung des II. Zivilsenats gehabt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung zu der Formvorschrift des § 15 G m b H G , die ausschließlich mit dem Hinweis auf den Sinn und Zweck zu einem Teil zu einer extensiven und zu einem anderen Teil zu einer restriktiven Auslegung des §15 G m b H G gelangt ist und damit in diesem Bereich eine große Rechtssicherheit herbeigeführt hat. Zudem ist der Bundesgerichtshof mit seiner Berufung 10 Vgl. aus neuerer Zeit auch die wichtige und in ihrer Diktion so anspruchslos wirkende Entscheidung B G H Z 65, 15.

274

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

auf Sinn und Zweck der Formvorschrift des § 15 G m b H G zu Ergebnissen gelangt, die zwar vielfach neuartig waren, die aber doch, wie ihre Beurteilung im Schrifttum erweist, allseits überzeugt haben. Man kann sagen, daß diese Ergebnisse heute zum allgemein anerkannten Rechtsgut unseres GmbH-Rechts gehören. Ahnlich liegt es im Anwendungsbereich der §§19, 30, 31 G m b H G , einigen besonders bedeutsamen Vorschriften, die nach der Formulierung in B G H Z 28, 78 „das Kernstück des GmbH-Rechts" enthalten. Bei der Anwendung dieser Vorschriften liegt die Hauptbedeutung in ihrer entsprechenden Anwendung auf Umgehungsfälle 11 . Demzufolge hat der Bundesgerichtshof schon in der Entscheidung B G H Z 13, 55 den Anwendungsbereich des §30 G m b H G über seinen Wortlaut hinaus ausgedehnt, weil das nach dem Grundgedanken dieser Bestimmung geboten sei. Andererseits wird in B G H Z 15, 57 eine restriktive Anwendung des Aufrechnungsverbots, wie es aus § 19 Abs. 2 Satz 1 G m b H G abgeleitet wird, ebenfalls allein mit dem Grundgedanken dieser Bestimmung begründet, da das Verbot „nicht in Verkehrung seines Zwecks zu einer Schädigung der Gesellschaft führen" darf 12 . Neben einer Auslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes hat von jeher in den Entscheidungen zum GmbH-Recht auch eine Auslegung, die sich an dem Ergebnis der Rechtsanwendung orientiert, eine Rolle gespielt. So wird in der bereits erwähnten Entscheidung B G H Z 9, 157, 159 gesagt, für die Zulassung der Ausschließung bestehe „ein starkes und dringendes Bedürfnis", und daran der lapidare Ausspruch geknüpft: „Es muß eine Möglichkeit geben, den Störenfried auszuschließen." In ähnlichem Sinn heißt es in B G H Z 20, 12: „Die ausnahmslose Anerkennung dieses Prinzips (Selbständigkeit der juristischen Person) führt zu Ergebnissen, die mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sind und nicht als Recht anerkannt werden können." In diesem Zusammenhang ist seinerzeit auch auf Formulierungen des Reichsgerichts zurückgegriffen worden 13 , die uns heute ein wenig zu emotional aufgeladen erscheinen und die nach heutiger Beurteilung zu wenig die im Interesse der Rechtssicherheit gebotenen Grenzen einer richterlichen Rechtsan" So Kuhn, W M 1969, 1158. 12 Vgl. auch B G H Z 28, 77 = G m b H - R d s c h . 1958,149; 314 = G m b H - R d s c h . 1959, 70; 31, 258; 53, 71 = G m b H - R d s c h . 1970, 122; 60, 328; schließlich B G H , Betr. 1980, 1159, 1160, wo einer Ausweitung der §§30, 31 G m b H G entgegengetreten wird, „die mit der Konzeption des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar wäre". " Z . B . B G H Z 22, 230 auf R G Z 129, 53/54: „Das schließt nicht aus, daß die Besonderheit des Einzelfalls zu einer abweichenden Handhabung führen kann, wenn die Wirklichkeiten des Lebens, die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Macht der Tatsachen es dem Richter gebieten, die juristische Konstruktion hintanzusetzen (vgl. R G Z 99, 234; 103, 66)."

16. Die GmbH in der Rechtsprechung des BGH

275

wendung erkennen lassen. Das gilt auch für die Äußerung in B G H Z 9, 164: „Das Recht hat dem Leben zu dienen und muß die entsprechenden F o r m e n zur Verfügung stellen. Ein pflichtbewußter Richter kann sich der Aufgabe, das R e c h t notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen." Äußerungen dieser Art sind heute wohl nur noch verständlich, wenn man sich die damalige, ungemein schwierige Aufgabe der Rechtsprechung vergegenwärtigt, in weitgehendem Umfang nationalsozialistisches Unrecht beseitigen und die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in so erschreckendem Maß aufgetretene Antinomie von Gesetz und R e c h t durch Richterspruch im jeweiligen Einzelfall auflösen zu müssen 14 . A b e r auch andere Formulierungen geben dem Gedanken, daß vom Ergebnis her eine bestimmte Beurteilung bei der Rechtsanwendung geboten sei, einen entsprechenden Ausdruck, so, wenn es in B G H Z 31, 267 heißt: „Alle diese Folgen sind untragbar. Sie können nur dadurch verhindert werden, d a ß . . . " oder in B G H Z , W M 1968, 3 4 / 3 5 : „Das kann nicht Rechtens sein 15 ." Einer kritischen Betrachtung mögen solche Ausdrücke und Formulierungen bedenklich erscheinen, ich selbst glaube jedoch, daß ein Revisionsgericht von derartigen „Begründungen" nicht ganz absehen kann und auch nicht ganz absehen sollte. N a c h meiner Erfahrung sind solche Urteile im Ergebnis eigentlich immer richtig, und sie drücken mit ihrer „Begründung" durchaus zutreffend aus, warum das Gericht zu seinem Spruch gekommen ist. Ich werde in diesem Zusammenhang immer an einen Satz aus einem Reichsgerichtsurteil erinnert, der auf mich von eher einen großen Eindruck gemacht hat: „Es gibt einen Punkt, w o die Konsequenz zur Unmöglichkeit wird 1 6 ." In einzelnen Fällen hat der Bundesgerichtshof im Rahmen des G m b H Rechts die Auslegung auch an eine Interessenabwägung geknüpft, so in B G H Z 37, 7 5 : „ D e r Schutz des Rechtsverkehrs verdient den Vorzug vor der Berücksichtigung der Interessen der Gesellschafter", eine A b w ä gung, die ich - hier allerdings in Abweichung von der zuletzt vertretenen Meinung des Bundesgerichtshofes 1 7 - auch in einem anderen Fall, nämlich bei der Anwendung des § 1 8 1 B G B auf das Kontrahieren des

14

Vgl. Robert Fischer (Fn. 2) S. 8.

Vgl. ferner B G H Z 66, 361 = GmbH-Rdsch. 1976, 195: „Das wäre vor allem... weder sachgerecht noch überhaupt vertretbar", oder B G H Z 70, 141 = GmbH-Rdsch. 1978, 154 etwas schlichter: „Ein solches Ergebnis wäre jedenfalls unangemessen." " R G Z 103, 66. - Wenn Schilling bei Hachenburg in der 6. Aufl., § 19 Anm. 16 a zu der Entscheidung B G H Z 15, 52, 59/60 kritisch anmerkt, daß die Einschränkung des Aufrechnungsverbots, falls es zu einer Schädigung der Gesellschaft führen würde, nicht ganz konsequent sei, so wird daran der Unterschied zwischen einer logischen, „konsequenten" Rechtsanwendung und einer solchen nach Sinn und Zweck deutlich. 17 B G H Z 56, 97, 75, 358; a.M. noch B G H Z 33, 189 = GmbH-Rdsch. 1961, 27. 15

276

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Gesellschafter-Geschäftsführers selbst für richtig halte18.

einer

Einmanngesellschaft

mit

sich

4. Die Beeinträchtigung der Rechtssicherheit durch Urteile anderer Senate In der GmbH-rechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bildet die Tatsache ein besonderes Problem, daß zuweilen auch andere

Senate als der für das Gesellschaftsrecht

zuständige II. Zivilsenat judi-

ziert haben. Das hat in diesem Bereich meistens zu einer Beeinträchtigung der Kontinuität in der Rechtsprechung und damit zu einer bedauerlichen Rechtsunsicherheit in der Rechtspraxis geführt. Das ist, wie die Erfahrung in Fällen dieser Art lehrt, einmal dadurch bedingt, daß diese Senate sich bei ihrer Entscheidung in der Regel an die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse in Rechtsprechung und Schrifttum halten und die Tendenzen zu einer fortschreitenden Entwicklung in diesem Bereich nicht in dem gebotenen Umfang beachten. Zum anderen wird in der Öffentlichkeit häufig nicht bemerkt oder nicht berücksichtigt, daß ein anderer, also nicht der II. Zivilsenat die betreffende Entscheidung erlassen hat und daß später dieser Senat meistens bereit ist, bei einer entsprechenden Anfrage des II. Zivilsenats seine eigene Ansicht aufzugeben und sich der abweichenden Meinung des Fachsenats anzuschließen. Diese Bereitschaft hängt damit zusammen, daß alle Zivilsenate im allgemeinen geneigt sind, sich nicht der Meinung des Fachsenats entgegenzustellen, und daß sich nicht selten auch die personelle Besetzung des Senats, der zunächst entschieden hatte, inzwischen geändert hat. Hier liegt auch der Grund dafür, daß seit langem nur in wenigen Ausnahmefällen der Große Senat für Zivilsachen nach § 136 G V G angerufen wird. Den ersten Fall dieser Art stellt die Entscheidung des IV. Zivilsenats in L M N r . 6 zu § 11 G m b H G dar, in der dieser Senat im Anschluß an frühere, damals eigentlich schon überholte Entscheidungen des Reichsgerichts den Begriff des „Handelnden" im Sinn des § 11 Abs. 2 G m b H G außerordentlich weit verstanden und als solchen jeden angesehen hat, der als Geschäftsführer oder als Gründer der Vornahme der Handlung zugestimmt hat. Wie ich aus eigener Kenntnis weiß, wurde diese Entscheidung damals innerhalb des II. Zivilsenats sehr kritisch aufgenommen. Aber gleichwohl hatte der II. Zivilsenat seinerzeit zunächst keine Gelegenheit, der Rechtspraxis davon Kenntnis zu geben, auch nicht in der Entscheidung L M N r . 9 zu § 11 G m b H G , weil bei dieser die vom IV. Zivilsenat entschiedene Rechtsfrage nicht entscheidungserheblich war. Erst nach fast 12 Jahren bestand für den II. Zivilsenat die Möglich18

Vgl. meinen Beitrag in der FS Hauss 1978 S. 67 ff [hier S. 2 3 0 ff]. Die Frage ist jetzt in

diesem Sinn durch die Novelle 1980 in § 3 5 Abs. 4 G m b H G gesetzlich geregelt worden.

16. Die GmbH in der Rechtsprechung des BGH

in

keit, seiner Meinung in der Entscheidung B G H Z 47, 25 Ausdruck zu geben und gleichzeitig die Öffentlichkeit davon zu unterrichten, daß auch der IV. Zivilsenat seine bisherige Ansicht aufgegeben hat. Inzwischen war eine unerfreuliche Rechtsunsicherheit nicht zu vermeiden, das spiegeln die verschiedenen Auflagen des Kommentars von Baumbach/ Hueck in der damaligen Zeit deutlich wider". In der Folgezeit haben sich Fälle dieser Art noch mehrmals wiederholt. Es kann insoweit auf die Entscheidungen des II. Zivilsenats in BGHZ 69, 102 ff; 70, 139; 75, 334 verwiesen werden, in denen dieser Senat im Interesse der Rechtssicherheit abweichende Meinungen anderer Senate zu GmbH-rechtlichen Fragen kritisch gewürdigt und zum Teil auch korrigiert hat. Ein besonders prägnantes Beispiel dieser Art bildet die Entscheidung des VIII. Zivilsenats in BGHZ 68, 31220, weil sie schon einen Monat danach den II. Zivilsenat zu einer kritischen Bemerkung veranlaßt hat21. Ich glaube, daß man nach den Erfahrungen, die man in der zurückliegenden Zeit mit der Entscheidung des IV. Zivilsenats in LM Nr. 6 zu § 11 GmbHG gemacht hat, solche kritischen Hinweise trotz ihres ungewöhnlichen Charakters mit Rücksicht auf das insoweit überwiegende Interesse der Rechtssicherheit doch wohl für richtig halten und begrüßen sollte. Darüber hinaus wird es in solchen Fällen angebracht sein, daß die Rechtspraxis darauf achtet, ob es sich bei einer Entscheidung zu einer GmbH-rechtlichen'Frage im Einzelfall um eine solche des II. Zivilsenats oder eines anderen Senats handelt, und daß sie je nachdem die Bedeutung einer solchen Entscheidung für das Rechtsleben würdigt. Einer solchen Beurteilung dürfte es auch entsprechen, wenn man mehr allgemein gehaltenen Formulierungen anderer Senate, wie der des VIII. Zivilsenats in WM 1965, 578, 579: „Die Gesellschafter einer GmbH stehen als solche nicht unmittelbar in Vertragsbeziehungen zueinander", kein allzu großes Gewicht beimißt, zumal sich diese Formulierung mit der vorausgegangenen Entscheidung des II. Zivilsenats in BGHZ 14, 25, 38 - „Beziehungen der Gesellschafter einer Gesellschaft mbH untereinander" - schon damals nur schwerlich vereinbaren ließ. " In der 8. Aufl. - Stand l.März 1957 - hat Hueck seine bisherige Meinung geändert und sich der Ansicht des IV. Zivilsenats angeschlossen, um diese Ansicht dann nach Verkündung der Entscheidung BGHZ 47, 25 wieder aufzugeben; vgl. ferner BAG, NJW 1963, 680, 682, das ebenso wie der IV. Zivilsenat entschieden hat. - Die Äußerungen von Kuhn, WM Sonderbeilage Nr. 5/1956, S. 9/10 und von mir im GroßKomm AktG, 2. Aufl., §34 Anm.22, die sich gegen die Rechtsansicht des IV. Zivilsenats richteten, konnten an dieser Rechtsunsicherheit nichts ändern. 20 Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Emmerich, JuS 1977, 832 und von Karsten Schmidt, NJW 1977, 1451; letzterer weist am Anfang seiner Anmerkung ausdrücklich darauf hin, daß die Entscheidung nicht von dem für Gesellschaftsrechtssachen zuständigen II. Zivilsenat, sondern vom VIII. Zivilsenat stammt und fügt daran im weiteren Verlauf seiner Anmerkung den Satz: „Es bleibt Rechtsunsicherheit." 21 Vgl. BGH, NJW 1977, 1683, 1686.

278

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

5. Die Eigenständigkeit in der

der GmbH gegenüber Rechtsprechung

der AG

In der GmbH-rechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist deutlich zu erkennen, daß sie bemüht ist, die Eigenständigkeit der Rechtsform der GmbH zu berücksichtigen und ihr in sachgerechter Weise Rechnung zu tragen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß die Selbständigkeit der G m b H gegenüber der Aktiengesellschaft gewahrt bleibt, daß sie eine besondere, haftungsbeschränkende Organisationsform für kleinere und mittlere Unternehmen ist und daß insbesondere der bei dieser Gesellschaft häufig bestehenden persönlichen Verbundenheit unter den Gesellschaftern auch ein entsprechender rechtlicher Ausdruck gegeben wird und gegeben werden kann22. Demzufolge hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bei der Beurteilung GmbH-rechtlicher Fragen nur dort eine Anlehnung an das Aktienrecht vorgenommen, wo dieses durch ihren Charakter als Kapitalgesellschaft und durch eine gleichgeartete Interessenlage gerechtfertigt oder gar notwendig erschien23. Der besondere Charakter der G m b H im Verhältnis zur Aktiengesellschaft kommt in zahlreichen Entscheidungen zum Ausdruck, die sich mit den besonderen Beziehungen der Gesellschafter zur Gesellschaft und der Gesellschafter untereinander befassen und die als Ausdruck der insoweit bestehenden Treuepflicht verstanden werden. Dabei bedarf es der Hervorhebung, daß schon die ersten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zum GmbH-Recht diese besonderen Beziehungen erwähnen24, ein Umstand, der bei dem damaligen Stand der Meinungen immerhin bemerkenswert ist25. Die Zulässigkeit der Ausschließung eines 22 Ich habe seinerzeit diesen Gesichtspunkt, den ich für die Rechtsprechung, aber auch für die Beurteilung in der Rechtslehre für äußerst wichtig halte, in meinem Aufsatz: „Das Recht der O H G als ergänzende Rechtsquelle zum G m b H - G e s e t z " in G m b H - R d s c h . 1953, 131 ff deutlich zu machen versucht. 23 Vgl. dazu auch die Begründung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zur G m b H - N o v e l l e vom 16. April 1980 - Bundestag-Drucksache 8/3908 S. 66 f - sowie die Zitate aus der Bundestagsdebatte zur G m b H - N o v e l l e vom 13. Mai 1980 in G m b H - R d s c h . 1980, 131. 24 Vgl. B G H Z 9, 157, 163 = G m b H - R d s c h . 1953, 72; B G H Z 14, 25, 38 = GmbHRdsch. 1954, 122, 123. In der zweiten dieser Entscheidungen heißt es dazu: „Die Treuepflicht der Gesellschafter einer G m b H ist größer und stärker als die Treuepflicht der Aktionäre, da die Beziehungen der Gesellschafter einer Gesellschaft m b H untereinander und zu der Gesellschaft in der Regel enger sind, als dies bei der Aktiengesellschaft der Fall ist. D a r u m wird der Stimmrechtsausübung der GmbH-Gesellschafter eher als Aktionären der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegengesetzt werden können." 25 In dem umfangreichen Sachregister der 2. Aufl. des G m b H - K o m m e n t a r s von Scholz ist die „Treuepflicht" überhaupt nicht erwähnt und es sind unter „Treu und Glauben" nur solche Hinweise angeführt, die recht allgemein gehalten sind und für die Anerkennung einer besonderen gesellschaftlichen Treuepflicht nichts hergeben. Lediglich die Ausfüh-

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

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Gesellschafters beim Vorliegen eines wichtigen Grundes auch ohne besondere gesellschaftsvertragliche Regelung, wie sie bereits in der Entscheidung B G H Z 9, 15726 bejaht worden ist, macht die Anerkennung und Berücksichtigung der Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander besonders deutlich, da sie die entscheidende Rechtfertigung für die Zulässigkeit der Ausschließung darstellt. Diese ersten Entscheidungen bilden den Ausgangspunkt für die spätere Rechtsprechung, die in Fortführung und Weiterbildung der damals schon entwickelten Grundgedanken in B G H Z 6 5 , 2 1 zur Anerkennung der actio pro socio auch bei der G m b H geführt haben und damit zum Ausdruck bringen, daß „die inneren Verhältnisse der G m b H auf eine deutliche Nähe zu den Personengesellschaften angelegt sein können" ( B G H Z 65, 19). Wesentliche Unterschiede zur Aktiengesellschaft ergeben sich bei der G m b H auch in der Stellung, die dort der Vorstand und hier der Geschäftsführer im Verhältnis zu ihrer Gesellschaft einnehmen. Das gilt namentlich für die verschiedenartige Ausgestaltung, die das Geschäftsführeramt in der Hand eines Gesellschafter-Geschäftsführers oder in der Hand eines sog. Fremd-Geschäftsführers finden kann. Die gesellschaftsrechtlich starke Abhängigkeit eines Fremd-Geschäftsführers, die auf der Zulässigkeit umfangreicher Weisungsbefugnisse der Gesellschafterversammlung beruht, kann namentlich bei einer Einmann-GmbH zu einer starken sozialen Abhängigkeit des Fremd-Geschäftsführers führen, die ihrerseits rechtliche Berücksichtigung erfordert und dem Aktienrecht von vornherein fremd ist. Diese Unterschiede spiegeln sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wider, so wenn der Anspruch eines Fremd-Geschäftsführers auf Erteilung eines Zeugnisses nach § 630 B G B bejaht 27 oder ihm neuerdings die Alterssicherung des § 1 7 B e t r A V G zugebilligt wird 28 . Nach meinem Eindruck könnte der Bunrungen bei § 45 Anm. 2, mit denen dem einzelnen Gesellschafter ein Auskunftsrecht beim Vorliegen eines wichtigen Grundes zugebilligt wird, lassen gewisse Ansätze in dieser Richtung erkennen. In der 6. Aufl. des Hachenburgschen Kommentars erwähnt Schilling in der Allgemeinen Einleitung bei Anm. 4 zwar die Treuepflicht des Gesellschafters, aber seine Ausführungen sind noch sehr vage und zurückhaltend und geben für eine Konkretisierung nichts her. Schmidt/Goerdeler a. a. O., § 47 Anm. 28 sind in dieser Hinsicht noch konservativer. Sie berufen sich für die Grenzen bei der Ausübung des Stimmrechts auf die Entscheidung des Reichsgerichts in R G Z 107, 202 und betonen, daß die Mehrheit ihre Macht nicht schrankenlos ausbeuten und nicht vorsätzlich zum Nachteil der Gesellschaft handeln darf. Lediglich Hueck (bei Baumbach 6. Aufl. 1953 Ü b Anm. 2 B vor § 13) bejaht eine Treuepflicht des Gesellschafters, sich für die Interessen der Gesellschaft einzusetzen, und gibt der Rechtsprechung Hilfen, bei einer weiteren Konkretisierung der Treuepflicht voranzuschreiten. 26 Vgl. auch B G H Z 16, 317 = GmbH-Rdsch. 1 9 5 5 , 1 2 7 ; 32, 17 = GmbH-Rdsch. 1960, 85; L M N r . 5 zu § 3 4 G m b H G . 27 B G H Z 49, 30. 28 B G H Z 77, 96.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

desgerichtshof einer noch stärkeren Berücksichtigung des sozialen Schutzbedürfnisses für einen Fremd-Geschäftsführer in seiner Rechtsprechung Raum geben, indem er etwa die in B G H , W M 1965, 310 aufgeworfene Frage bejaht, ob nämlich bei einer Wettbewerbsklausel die für einen Handlungsgehilfen geltenden Schutzbestimmungen der §§ 74 ff H G B auch auf einen Fremd-Geschäftsführer angewendet werden können oder indem er den Gebührenstreitwert für Gehaltsklagen abhängiger Geschäftsführer nicht mehr nach § 9 Z P O , sondern nach § 1 7 Abs. 3 G K G berechnet 29 oder etwa einem solchen Geschäftsführer das Konkursvorrecht nach § 6 1 Abs. 1 Nr. 1 K O zubilligt 30 . Unter diesem Gesichtspunkt mag die Entscheidung B G H , W M 1969, 686, 688 fragwürdig erscheinen, die es mit einer reichlich formalen und rein begrifflichen Begründung ablehnt, aus einem Brauch bei der Versorgung abhängiger Arbeitnehmer einen Pensionsanspruch für das Vertretungsorgan einer juristischen Person, hier für den Geschäftsführer einer G m b H , abzuleiten. Die Besonderheit der G m b H gegenüber der Aktiengesellschaft schließt es freilich nicht aus, daß Grundsätze oder Regelungen des Aktienrechts auch bei der G m b H zur Anwendung gelangen und auch gelangen müssen. So hat der Bundesgerichtshof m. E. zu Recht die schon vom Reichsgericht anerkannten Grundsätze übernommen, daß auch die Auslegung des Gesellschaftsvertrages einer G m b H in gleicher Weise wie die Satzung einer Aktiengesellschaft der freien Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt 31 , und daß ferner die aktienrechtlichen Vorschriften über die Nichtigkeit und Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen (§§241 ff A k t G ) auf die G m b H entsprechend anzuwenden sind32. In dieser Hinsicht hat der Bundesgerichtshof später eine praktisch außerordentlich weitgehende Einschränkung vorgenommen, indem er die Anfechtung eines nicht satzungsändernden Gesellschafterbeschlusses durch Klage dann nicht für notwendig hält, wenn der Beschluß die gesetzlich vorgeschriebene Mehrheit nicht erreicht 33 . Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist die Begründung, die nicht auf die sonst vom II. Zivilsenat gehandhabte und bewährte Auslegung nach Sinn und Zweck des in Frage stehenden Rechtsgrundsatzes zurückgreift, sondern allein aus dem Fehlen einer Beurkundungsvorschrift für GesellAnders BGH, BB 1978, 1636 = GmbH-Rdsch. 1978, 272. Vgl. dazu B G H , LM Nr. 6 zu §61 KO. 51 B G H Z 14, 36 = GmbH-Rdsch. 1954, 123. 52 B G H Z 11, 235; 14, 268 = GmbH-Rdsch. 1954, 125; B G H Z 15, 382; 36, 210; vgl. auch B G H Z 45, 343 = GmbH-Rdsch. 1966, 140 zur entsprechenden Anwendung von § 27 Abs. 2 Satz 1 AktG und BGH, WM 1964, 1321 zur entsprechenden Anwendung von § 88 AktG. 33 B G H Z 51, 209 = GmbH-Rdsch. 1970, 119. 29 30

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

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schafterbeschlüsse die Folgerung zieht, daß hier für die entsprechende A n w e n d u n g der aktienrechtlichen Vorschrift über die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses auch dann kein Raum sei, wenn der Beschluß vom Versammlungsleiter festgestellt und verkündet worden ist. Auffallend f ü r mich ist an dieser Entscheidung, daß sie damit praktisch eine überaus weittragende Änderung des bis dahin bestehenden Rechtszustandes vornimmt und den bis dahin entscheidenden Gesichtspunkt der Rechtssicherheit mit dem Hinweis auf „die besonderen Gegebenheiten bei der G m b H " beiseite zu schieben können glaubt 34 . Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung B G H Z 70, 132, 139/140, die eine entsprechende Anwendung des §41 Abs. 2 A k t G auf die G m b H ablehnt, weil diese Vorschrift wenig geglückt und es unter diesen Umständen nicht geboten sei, „die für das Aktienrecht geschaffene Spezialregelung im Wege der Analogie auf das Recht der G m b H zu übertragen und auf diese Weise eine Schranke gegen eine sinnvolle Auslegung der GmbH-Vorschriften zu errichten" 35 . Interessant halte ich diese Entscheidung deshalb, weil sich der Bundesgerichtshof mit dieser Begründung die Möglichkeit eröffnet, die für eine entsprechende A n w e n d u n g in Betracht kommende aktienrechtliche Vorschrift zunächst einer kritischen Beurteilung zu unterziehen, um sodann von dem jeweiligen Ergebnis dieser Beurteilung die Übernahme dieser Vorschrift in das G m b H - R e c h t abhängig zu machen. Das eröffnet Perspektiven für die Behandlung auch anderer Fälle. Bei der Frage, wer f ü r die Regelung des Anstellungsvertrages mit einem Geschäftsführer zuständig ist, ist der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen 3 6 zu dem Ergebnis gelangt, daß hierzu nach §46 N r . 5 G m b H G die Gesellschafterversammlung nur dann berufen ist, wenn der Anstellungsvertrag zusammen mit der Bestellung oder der A b b e r u f u n g des Geschäftsführers geordnet wird; dagegen hat der Bundesgerichtshof ohne eine entsprechende gesellschaftsvertragliche Bestimm u n g eine solche Zuständigkeit verneint, wenn es sich um die Änderung des Anstellungsvertrages eines bereits bestellten Geschäftsführers handelt; „denn §46 N r . 5 G m b H G betrifft nur die Begründung und Aufhebung der Organstellung und ist in den Fällen, in denen allein das Anstellungsverhältnis und nicht das Organverhältnis geändert wird, auch nicht entsprechend anwendbar" 3 7 . Hier hätte m. E. eine Auslegung nach Sinn und Zweck des § 46 N r . 5 G m b H G zu dem Ergebnis führen müssen, daß zur Vermeidung unliebsamer Interessenkonflikte jede 34 35 36 37

Vgl. dazu kritisch auch Hachenburg/Schilling, §48 Rdn. 15 f. A . a . O . , S. 140. Vgl. B G H , LM Nr. 3, 6 zu §46 G m b H G ; BB 1974, 854 = GmbH-Rdsch. 1974, 109. B G H , LM N r . 3 , a . a . O .

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Zuständigkeit der Geschäftsführer zur Regelung des Anstellungsverhältnisses ihrer Geschäftsführer-Kollegen oder - bei Befreiung von §181 BGB - sogar ihrer eigenen ausgeschlossen ist. Ein Blick auf die entsprechende sachgerechte Regelung in § 84 Abs. 1 Satz 5 A k t G (früher § 75 Abs. 1 Satz 3 A k t G 1937) hätte das zudem nahegelegt. Wie unbefriedigend die am Wortlaut haftende Auslegung des § 46 N r . 5 G m b H G durch den Bundesgerichtshof ist, zeigt der Sachverhalt in der Entscheidung B G H , BB 1974, 854 mit großer Deutlichkeit. II. Einzelne Sachgebiete Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, zu Sachgebieten des GmbH-Rechts im Zusammenhang Stellung zu und darzulegen, wie der Bundesgerichtshof in dem jeweiligen seine Rechtsprechung entwickelt und fortgebildet hat, und von Gesichtspunkten er sich dabei hat leiten lassen. 1. Die Aufbringung

und Erhaltung des

einigen nehmen Bereich welchen

Stammkapitals

Es ist bereits oben erwähnt worden, daß der Bundesgerichtshof die Bestimmungen der §§19, 30, 31 G m b H G , die die Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals sichern sollen, als „Kernstück des G m b H Rechts" bezeichnet hat. Dieser Beurteilung entsprechend hat er diese Bestimmungen stets sehr ernstgenommen und ist allen Bestrebungen entgegengetreten, die eine Aushöhlung des Schutzzwecks dieser Bestimmungen zur Folge hätten haben können. Das kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß er schon in der Entscheidung B G H Z 13, 49 den Anwendungsbereich des § 30 G m b H G in bemerkenswerter Weise über seinen Wortlaut hinaus erstreckt und die Bestimmung auch auf den Fall angewendet hat, in dem beim Verkauf eines Geschäftsanteils an einen anderen Gesellschafter beide Vertragspartner davon ausgegangen waren, daß der Kaufpreis mit Mitteln der Gesellschaft erfüllt werde. Bald danach hat der Bundesgerichtshof mit Rücksicht auf den Sinn und Zweck des § 19 G m b H G auch die Leistung von Stammeinlagen aus einem Darlehen, dessen Rückzahlungsschuldner die G m b H ist, verboten38. Auf der gleichen Linie liegt die Entscheidung B G H Z 28, 314, die es als eine Umgehung des Aufrechnungsverbots des §19 G m b H G bezeichnet, wenn die Leistung der Stammeinlage alsbald zur Vergütung einer Sachübernahme an den Einlageschuldner zurückgezahlt werden soll und zurückgezahlt wird. „Eine solche Leistung des Einlageschuldners gleicht einem geworfenen Ball, der an einem Gummiband hängt und wieder zurückschnellt. Sie scheidet nur vorübergehend aus dem Vermögen des Leistenden aus und soll nur zeitweilig der Gesellschaft 38

B G H Z 28, 77 = GmbH-Rdsch. 1959, 145.

16. Die GmbH in der Rechtsprechung des B G H

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gehören, aber wieder, wenn auch zur Erfüllung der Vergütungsforderung, ausgekehrt werden 39 ." Bedeutsam für die Tragweite des Auszahlungsverbots des § 30 G m b H G ist die Entscheidung B G H Z 31, 258, die das Auszahlungsverbot, das nach seinem Wortlaut nur Auszahlungen „an die Gesellschafter" erfaßt, auch über diesen Personenkreis hinaus erstreckt 40 . Im Fall dieser Entscheidung handelt es sich freilich lediglich um die Anwendung des § 3 0 G m b H G auch auf denjenigen, für dessen Rechnung eine Gesellschaft gegründet wird; ihre Bedeutung liegt aber, wie im Schrifttum zutreffend erkannt worden ist41, in der Möglichkeit einer Erstrekkung des Auszahlungsverbots auch auf weitere Personen, namentlich auf nahe Angehörige eines Gesellschafters. Dadurch gewinnt diese Entscheidung ihre richtungweisende Bedeutung, wobei in diesem Zusammenhang auf die Konkretisierung des Umgehungsverbots, um die sich Canaris a. a. O . verdient gemacht hat, nicht im einzelnen eingegangen zu werden braucht, da der Bundesgerichtshof selbst noch keine Gelegenheit hatte, zu einer solchen Konkretisierung näher Stellung zu nehmen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung B G H Z 60, 324, 331, die bei einer überschuldeten G m b H in entsprechender Anwendung der §§30, 31 G m b H G Zahlungen an die Gesellschafter auch dann verbietet, wenn sie aus Fremdmitteln geleistet werden, also das Stammkapital gar nicht mehr zu beeinträchtigen vermögen42. Denn es wäre „unausgewogen", wenn der betreffende Gesellschafter das Empfangene in diesem Fall nicht an die Gesellschaft zurückzahlen müßte, „obwohl die Gläubiger durch eine solche Leistung in der Regel noch nachhaltiger als von einer bloßen Schmälerung des Haftungskapitals beeinträchtigt werden". Das Bild von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den §§ 19, 30, 31 G m b H G rundet sich ab, wenn man hier noch die Entscheidungen B G H Z 15, 52; B G H , N J W 1963, 102 heranzieht. In diesen Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof die betreffenden Bestimmungen restriktiv ausgelegt und damit deutlich gemacht, daß es ihm im Anwendungsbereich dieser Bestimmungen allein darum geht, ihrem Grundgedanken und ihrem Schutzzweck sachgerecht Rechnung zu tragen. Denn unter diesem Gesichtspunkt ist das Ergebnis dieser Entscheidungen überzeugend, einmal die Zulassung der Aufrechnung durch die Gesellschaft, wenn die Einlageforderung gefährdet oder gar uneinbringlich ist, weil das Aufrechnungsverbot nicht zu einer Schädigung der 39 40 41 42

B G H a . a . O . , S. 319/20. Ebenso B G H Z 75, 334, 335/36 = GmbH-Rdsch. 1980, 28. Vgl. Canaris, FS Robert Fischer 1979 S. 31 ff, 54 ff m. w. N. Ebenso B G H Z 67, 179 = GmbH-Rdsch. 1977, 106.

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Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Gesellschaft führen darf43, zum anderen die Zulassung der Pfändung einer Einlageforderung, wenn nach Einstellung des Geschäftsbetriebes die Erhaltung der Kapitalgrundlage zugunsten der Gesellschaft oder der Gesellschaftsgläubiger nicht mehr erforderlich ist, weil sonst der Gesellschafter die noch geschuldete Einlage nicht zu leisten brauchte44. Ich habe den Eindruck, daß die angeführte Rechtsprechung zu den §§19, 30, 31 G m b H G ein deutliches und anschauliches Bild von der Rechtsanwendung dieser Bestimmungen vermittelt und für die Rechtssicherheit in diesem Bereich von hohem Wert ist. Denn aus dem Zusammenhang dieser Entscheidungen läßt sich m. E. unschwer erkennen, nach welchen Gesichtspunkten und mit welchem Ergebnis weitere Einzelfälle aus diesem Bereich zu entscheiden sind; die Fülle des dargebotenen Entscheidungsmaterials gibt dafür m. E. ausreichend sichere Anhaltspunkte. Angesichts dieses positiven Eindrucks von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den §§19, 30, 31 G m b H G bedauere ich die Entscheidung B G H Z 69, 274, 282 ff, die die Abtretung des Erstattungsanspruchs aus §31 Abs. 1 G m b H G an einen Gesellschaftsgläubiger zuläßt, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob der Gläubiger ohne die Abtretung aus dem Gesellschaftsvermögen hätte Befriedigung erlangen können oder nicht. Nach dem Grundgedanken dieser Bestimmungen scheint mir die Annahme, den Erstattungsanspruch der Gesellschaft wegen verbotswidrig zurückgezahlter Einlagen rechtlich ebenso wie die Einlageforderung der Gesellschaft zu behandeln, nicht nur naheliegend, sondern geboten zu sein, nämlich weil sie beide demselben Zweck, der Erhaltung des Stammkapitals, dienen. Die Erwägung des Bundesgerichtshofes, der Gesellschaft sei es grundsätzlich nicht verwehrt, zunächst die Erstattungsforderung einzuziehen und sodann den entsprechenden Betrag an diesen bestimmten Gläubiger weiterzuleiten, rechtfertigt nicht die Annahme, deshalb sei auch die Abtretung der Erstattungsforderung an diesen Gläubiger zulässig, weil sie wirtschaftlich zu dem gleichen Ergebnis führe. Schon die Tatsache, daß mit dieser Begründung auch die Abtretung einer fälligen Einlageforderung an einen Gesellschaftsgläubiger mit einer nicht vollwertigen Forderung gerechtfertigt werden könnte, hätte m. E. einen Revisionsrichter stutzig machen müssen. Ubersehen hat der Bundesgerichtshof aber offenbar die Vorschrift des §851 ZPO, wonach die abtretbare Forderung auch pfändbar ist, und die sich daraus ergebende Folgerung, daß auf diese Weise die sachgerechten Erwägungen, die die Rechtsprechung schon seit langem 43

B G H Z 15, 52, 57/58 = GmbH-Rdsch. 1955, 11. B G H , LM Nr. 4 zu § 19 G m b H G ; vgl. dazu auch B G H Z 53, 71 = GmbH-Rdsch. 1970, 122. 44

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

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zur Begründung einer nur ausnahmsweisen Zulassung der Pfändung der Einlageforderung herangezogen hat45, mit dieser Entscheidung in ihrem Kern in Frage gestellt werden. 2. Die Unterkapitalisierung

als eigenständiger

Haftungstatbestand

Schon verhältnismäßig frühzeitig hat der Bundesgerichtshof an Hand der § § 3 0 , 31 G m b H G ein anderes, im Lauf der Zeit immer dringlicher werdendes Problem von großer praktischer Tragweite zu lösen versucht, nämlich das Problem der Unterkapitalisierung. Zum ersten Mal hat sich der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 14. Dezember 1959 46 mit diesem Problem befaßt; in den letzten 10 Jähen ist es sodann wiederholt Gegenstand weiterer Entscheidungen gewesen 47 . Die Rechtsprechung zur Unterkapitalisierung vermittelt einen aufschlußreichen Einblick in die rechtsfortbildende Tätigkeit eines Revisionsgerichts bei der Entwicklung eines neuen Rechtsinstituts, der dabei auch - und gerade das ist, wie ich meine, interessant - unvermeidbare Mängel und notwendige Korrekturen im allmählichen Fortschreiten dieser Tätigkeit deutlich werden läßt. Mit der Entscheidung B G H Z 31, 258, 268 ff hat der Bundesgerichtshof bei der Bewältigung des Problems der Unterkapitalisierung bewußt Neuland betreten und versucht, im Rahmen der § § 3 0 , 31 G m b H G einen eigenen Haftungstatbestand der Unterkapitalisierung zu schaffen. Dabei löst er sich von der Vorschrift des § 8 2 6 B G B , der noch für das Reichsgericht die (unzureichende) Haftungsgrundlage in Fällen dieser Art gebildet hatte, und eröffnet dadurch die Möglichkeit, diesen Haftungstatbestand zu objektivieren. Die Generalklausel des § 242 B G B und die Rechtsfigur des widersprüchlichen Verhaltens geben dabei den rechtlichen Anhaltspunkt zur Begründung und Rechtfertigung dieser neuen Rechtsprechung. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist m. E. das offensichtliche Bemühen, sich bei der Lösung ganz eng an die Besonderheiten des zu entscheidenden Falls anzulehnen 48 und Formulierungen generalisierender Art zu vermeiden. Das kommt deutlich auch im Leitsatz der Entscheidung zum Ausdruck, der sehr betont auf die Abwendung der Konkursantragspflicht abstellt. Die Entscheidung B G H , W M 1972, 74, 75/76 entwickelt das in der ersten Entscheidung gewonnene Ergebnis mit leichter Hand weiter; 45 Vgl. R G Z 156, 2 3 ; B G H L M N r . 4 zu § 1 9 G m b H G ; B G H Z 53, 71 = Rdsch. 1970, 122. 46 B G H Z 31, 258 268 ff.

GmbH-

47 B G H , W M 1972, 7 5 / 7 6 ; B G H Z 67, 171 = G m b H - R d s c h . 1977, 105; 68, 312 = G m b H - R d s c h . 1977, 198; 75, 334 = G m b H - R d s c h . 1980, 2 8 ; Betr. 1980, 1159. 48 Vgl. dazu den Satz: „Zur Lösung des vorliegenden Falls braucht das Problem der Unterkapitalisierung nicht in seiner ganzen Breite entschieden zu werden." A. a. O . , S. 270.

286

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

dabei betont sie im Sinn der ersten Entscheidung, daß es für den neuen Haftungstatbestand „nicht auf den Zustand nach der Darlehensgewährung, sondern darauf an(kommt), ob die Gesellschaft ohne sie zusammengebrochen wäre". Sodann wird dem Fall des Konkurses ein weiterer Fall, nämlich die Liquidation des Unternehmens ohne Konkurs (und zwar mangels Masse) angefügt. Die Entscheidung B G H Z 67, 171 bleibt im wesentlichen auf dem Boden der bisherigen Rechtsprechung, betont aber - und das wird für die weitere Entwicklung wichtig - , daß die sich ständig vergrößernde Liquidationslücke bei der G m b H (d. h. die Unterkapitalisierung) nicht von vornherein bestanden zu haben brauche, sondern auch erst später habe eintreten können. Dabei verflüchtigen sich die scharfen Konturen, die die Entscheidung B G H Z 31, 258 mit ihrer engen Anlehnung an die Besonderheiten des konkreten Sachverhalts aufwies, in eine immerhin bemerkenswerte, generalisierende Art der Formulierung 49 . Die folgenden Entscheidungen bringen sodann einen Bruch in die rechtsfortbildende Ausformung des neuen Haftungstatbestandes bei der Unterkapitalisierung, zunächst die Entscheidung des VIII. Zivilsenats in B G H Z 68, 312, die sich in die Gedankengänge der sich neu entwickelnden Rechtsfortbildung in diesem Bereich nicht recht einfügen läßt, und sodann die Entscheidung des II. Zivilsenats in B G H Z 75, 334, die insoweit auch als Replik auf die vorausgegangene Entscheidung des VIII. Zivilsenats verstanden werden kann50 und die, wahrscheinlich durch die Besonderheiten des konkreten Sachverhalts veranlaßt51 und auf die rückblickend nun nicht ganz ungefährlich erscheinenden Formulierungen in B G H Z 67, 171 aufbauend die Grenzen des neuen Haftungstatbestandes m.E., zu weit zieht. Die letzte der bisher vorliegenden Entscheidungen zur Unterkapitalisierung in Betrieb 1980, 1159 bringt sodann die notwendige Korrektur. Dabei scheinen mir in diesem Urteil die Ausführungen zur wirtschaftlichen Berechtigung von Gesellschafterdarlehen, die bei der heute weitverbreiteten Fremdfinanzierung unserer Unternehmen gar nicht entbehrt werden können, für

49 Typisch in dieser Hinsicht ist m . E . folgender Satz: „Der tragende Grund für die Behandlung von Gesellschafterdarlehn als haftendes Kapital im Sinn der §§ 30, 31 G m b H G ist, daß ein Gesellschafter, der die sonst konkursreife Gesellschaft anstatt durch die wirtschaftlich gebotene Zufuhr neuen Eigenkapitals durch Darlehn zu stützen sucht, sich zu seinem eigenen Verhalten und dem Zweck der gesetzlichen Kapitalerhaltungsvorschriften in Widerspruch setzt, wenn er der Gesellschaft die als Kapitalgrundlage benötigten Mittel wieder entzieht, obwohl sie noch nicht ohne diese lebensfähig ist." A. a. O., S. 175. 50 Vgl. auch die Kritik des II. Zivilsenats in N J W 1977, 1683, 1688. 51 Vgl. die Formulierung in der folgenden Entscheidung B G H , Betr. 1980, 1160: „Insofern sind die fallbezogenen Ausführungen im Urteil des Senats vom 26. November 1979, die sich nur mit dem damals vorliegenden Tatbestand der Konkursreife zu befassen hatten, klarzustellen."

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

287

das Verständnis des neuen Haftungstatbestandes bei einer unterkapitalisierten G m b H von besonderer Bedeutung zu sein52. 3. Die Informationsrechte

des einzelnen

Gesellschafters

Während das Aktienrecht seit dem Aktiengesetz 1937 eine gesetzliche Regelung für das Auskunftsrecht des einzelnen Gesellschafters enthält und während die Informationsrechte des einzelnen Gesellschafters bei den Personengesellschaften ebenfalls gesetzlich geregelt sind, fehlte bisher eine derartige Ausformung dieses Rechts im GmbH-Gesetz. Das hängt nicht damit zusammen, daß hier eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers gegen den einzelnen Gesellschafter getroffen worden ist, sondern beruht allein darauf, daß in der zurückliegenden Zeit die wiederholt unternommenen Versuche, zu der allseits für notwendig gehaltenen Neuordnung des GmbH-Rechts zu kommen, keinen Erfolg gehabt haben. Bei dieser Sach- und Rechtslage war es naheliegend, wenn nicht geboten, daß die Rechtsprechung diesem Problem ihr Augenmerk zuwandte und sich darum bemühte, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung Informationsrechte auch für den einzelnen Gesellschafter einer G m b H anzuerkennen. Der Bundesgerichtshof hat diese Aufgabe schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wahrgenommen und demzufolge bereits in der Entscheidung B G H Z 14, 53 ein Einsichts- und Auskunftsrecht für den einzelnen Gesellschafter bejaht. Dabei ist es für die heutige Beurteilung dieser Entscheidung interessant, daß sie sich in der Sache an das Recht der Personenhandelsgesellschaften anlehnt und den personalistischen Charakter der hier in Betracht kommenden G m b H besonders hervorhebt. Aus dieser Sicht, aber auch im Hinblick auf die gestellen Anträge in dem zur Entscheidung gestellten Fall wird es verständlich, daß das Einsichtsverlangen in den Vordergrund gerückt" und gegenüber dem Auskunftsrecht als das schwächere Recht angesehen wird, für dessen Zubilligung demzufolge auch weniger gewichtige Gründe als für das Auskunftsrecht zu verlangen sind. Diese verschiedenartige Gewichtung beider Rechte wird man heute wohl nicht mehr vertreten können, da sich sachliche Gründe für sie nicht anführen lassen54. Ähnliches gilt für die Voraussetzung, an die der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung die Zubilligung des Auskunfts- und Einsichtsrechts knüpft, nämlich das Vorliegen eines wichtigen Grundes. Auch diese Forderung muß inzwischen als überholt betrachtet werden. 52 Wie sich die Rechtsprechung zur Unterkapitalisierung angesichts der gesetzlichen Regelung in §§ 32 a, 32 b G m b H G durch die Novelle 1980 weiterentwickeln wird, ist nicht Gegenstand dieser Darstellung. 53 Vgl. dazu §§118, 166 H G B . 54 Vgl. dazu die Kritik bei Hachenburg/Schilling, §45 Rdn.26; ferner die Gleichstellung beider Rechte in dem jetzt neu eingefügten §51 a G m b H G .

288

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Die Rechtsfortbildung des Bundesgerichtshofes in diesem Bereich leidet an der immer wieder zu beobachtenden und aus richterlicher Sicht bedauerlichen Tatsache, daß das Revisionsgericht zuweilen nicht die Gelegenheit erhält, seine Rechtsprechung zu dieser oder zu jener Rechtsfrage weiter auszuformen und auszufeilen, und daß sie dadurch bei einem Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung, wie er sich z. B. seit dem 2. Weltkrieg bei der Anerkennung allgemeiner Minderheitenrechte in einem besonderen Maß vollzogen hat, einer Kritik unterliegt, zu der sie nichts weiter sagen und vor allem auch nichts weiter tun kann55. Das gilt auch für das Urteil B G H Z 14, 53, das vor mehr als 25 Jahren einen wichtigen Fortschritt bei der Anerkennung allgemeiner Minderheitenrechte darstellte, andererseits aber doch noch eine gewisse Vorsicht walten ließ, indem es das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Zubilligung von Auskunfts- und Einsichtsrechten verlangt hat. Diese Einschränkung war bei den damaligen Verhältnissen sehr naheliegend, weil bei dem gegebenen Tatbestand das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die mit der Klage verlangten Informationsrechte nicht zweifelhaft war und die Nagelprobe für die Frage, Auskunftsrecht auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes, nicht in Betracht kam. Ein behutsames Vorgehen bei der richterlichen Rechtsfortbildung kann unter diesen Umständen auch seine Nachteile haben; jedenfalls läßt sich zu dem Urteil B G H Z 14, 53 so viel sagen, daß der Bundesgerichtshof bei der Gestaltung des zur Entscheidung stehenden Falls keine Veranlassung zu dem Ausspruch hatte, daß für die zugesprochenen Informationsrechte ein wichtiger Grund nicht zu verlangen sei. Das wäre ein oft getadeltes obiter dictum gewesen. 4. Die Grenzen bei der Ausübung des Stimmrechts

a) Die gesetzliche Regelung über die Ausübung des Stimmrechts geht in § 47 Abs. 4 G m b H G dahin, daß dem einzelnen Gesellschafter ein Stimmrecht in bestimmten, tatbestandlich festgelegten Fällen nicht zusteht. Diese Formulierung des Stimmrechtsausschlusses hat den Vorteil der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit, weil sie nicht darauf abhebt, ob im konkreten Fall eine aktuelle Gefährdung schutzwerter Interessen der Gesellschaft, einzelner Gesellschafter oder der Gesellschaftsgläubiger vorliegt, sondern sich mit der potentiellen Gefährdung begnügt, die beim Vorliegen der formalisierten Ausschlußtatbestände vom Gesetzgeber vorausgesetzt wird. Diese Regelung enthebt die Gerichte jedoch nicht der Pflicht, im einzelnen Fall durch Auslegung zu ermitteln, wieweit dieser formalisierte Stimmrechtsausschluß in 55

Vgl. dazu Robert Fischer (Fn. 1) S. 12/13 [hier S. 38 ff].

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

289

bestimmten Fallgruppen greift, inwieweit er gegebenenfalls extensiv und inwieweit er restriktiv zu verstehen ist. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bietet in dieser Hinsicht eine Reihe bemerken; werter Beispiele. Dabei muß hervorgehoben werden, daß sich der Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang stets der Tatsache bewußt gewesen ist, daß der Zweck der Ausschlußvorschrift des §47 Abs. 4 G m b H G dahin geht, durch eine Formalisierung der Ausschlußtatbestände Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu gewährleisten und daß die Rechtsprechung diesen Zweck bei einer (extensiven oder restriktiven) Auslegung des §47 Abs.4 G m b H G nicht in Frage stellen darf. Das hai der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung B G H Z 68, 107 auch klar zum Ausdruck gebracht. Danach kann der Rechtsgedanke des §47 Abs. 4 G m b H G nicht schon immer dann zu einem Stimmrechtsausschluß führen, wenn sich ein Gesellschafter überhaupt in einem Interessenkonflikt befindet, weil eine solche Lösung auf Kosten der Rechtssicierheit ginge. Andererseits schließt es der Zweck des § 47 Abs. 4 GmbFfG, nämlich die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsklar]leit, nicht aus, diese Vorschrift auf bestimmte typische Fälle sinngemäß anzuwenden oder, wie man im Hinblick auf die Entscheidung BG H Z 18, 205 ergänzen kann, ihre Anwendung in bestimmten Fällen auszuschließen. Der Bundesgerichtshof wendet im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsgerichts die Vorschrift des §47 Abs. 4 G m b H G nicht an, wenn es um die Bestellung oder Abberufung eines GesellschafterGeschäftsführers geh :, über die die Gesellschafter durch Beschluß zu befinden haben56. Das ist sachgerecht und steht mit dem Grundgedanken des Stimmrechtsausschlusses nicht in Widerspruch, da es sich bei der Wahl des Vertretung; organs um die Ausübung von Mitverwaltungsakten handelt, zu der alle Gesellschafter der Sache nach berufen sind, auch wenn es dabei um ihie eigene Person geht. Das gleiche gilt „wegen der Einheitlichkeit und Untrennbarkeit der Verhältnisse"" auch für die Beschlußfassung der Gesellschafter über den Anstellungsvertrag, insbesondere über die Festsetzung des Gehalts und der Ruhestandsbezüge eines Gesellschafter-Geschäftsführers. Andererseits erfordert der Grundgedanke des §7 Abs. 4 G m b H G die Anwendung dieser Bestimmung, wenn gegen .;inen Gesellschafter Maßnahmen aus wichtigem Grund, z.B. die Abberufung als Geschäftsführer aus wichtigem Grund, beschlossen werden58.

56 57 58

R G Z 74, 278; B G H ^ 18, 210 = GmbH-Rdsch. 1955, 226; B G H Z 51, 216. B G H Z 18, 210 = G n b H - R d s c h . 1955, 226. B G H Z 34, 371; N J W 1969, 1483.

290

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

Auch für eine andere Fallgruppe hat sich der Bundesgerichtshof im Bereich des § 47 Abs. 4 G m b H G mit einer entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift befaßt und ist dabei m. E. zu sachgerechten Ergebnissen gelangt. Er billigt die im Schrifttum vertretene Meinung, daß das Stimmrechtsverbot des §47 Abs. 4 G m b H G auch eingreift, wenn das in Frage stehende Rechtsgeschäft, über das die Gesellschafter Beschluß fassen, nicht mit dem abstimmenden Gesellschafter, sondern mit einer anderen G m b H abgeschlossen wird, deren Alleingesellschafter dieser Gesellschafter ist, oder wenn es sich um den Abschluß eines Rechtsgeschäfts mit einer Personenhandelsgesellschaft handelt, deren persönlich haftender Gesellschafter der abstimmende GmbH-Gesellschafter ist59. Denn auch hier wird dem Grundgedanken des Stimmrechtsverbots des § 47 Abs. 4 G m b H G nur durch eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmung Rechnung getragen, dabei aber auch zugleich die Rechtssicherheit nicht gefährdet, weil die Einbeziehung dieser Fallgruppe dem Zweck des formalisierten Stimmmrechtsausschlusses nicht widerspricht60. Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist auch der Tatbestand der Entscheidung B G H Z 68, 107, der einen guten Einblick in die Vielgestaltigkeit der hierbei in Betracht kommenden Tatbestände vermittelt und zugleich die Tragweite der Einbeziehung dieser Fallgruppe in den Anwendungsbereich des §47 Abs. 4 G m b H G deutlich macht. Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch auf die Entscheidung BGH, LM N r . 24 zu §47 G m b H G verwiesen, die im Einklang mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen den Stimmrechtsausschluß auf einen Umgehungstatbestand anwendet und demgemäß das Stimmrecht versagt, wenn die Abtretung des Geschäftsanteils zur Umgehung der Stimmrechtsverbote vorgenommen worden war. N u r in einem Fall hat der Bundesgerichtshof dem Grundgedanken des formalisierten Stimmrechtsausschlusses m. E. nicht in dem gebotenen Umfang Rechnung getragen. In B G H Z 51, 209, 215 hat er nicht beachtet, daß die Regelung des §47 Abs. 4 G m b H G eine Sonderregelung gegenüber dem §181 BGB darstellt und diese Bestimmung daher verdrängt. Ich habe das in einem anderen Zusammenhang näher dargelegt und kann hier zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Ausführungen verweisen". b) Die Rechtsentwicklung hat gezeigt, daß es nicht möglich ist, die notwendigen Schranken für die Ausübung des Stimmrechts allein durch 59

B G H , N J W 1973, 1039 = GmbH-Rdsch. 1973, 153. Vgl. ferner die etwas verwickelte gesellschaftsrechtliche Gestaltung in der Entscheidung B G H , N J W 1973, 1039 = GmbH-Rdsch. 1973, 153; die der B G H mit Recht ebenfalls in den Anwendungsbereich des §47 Abs. 4 G m b H G einbezogen hat. 61 Robert Fischer, FS Hauss 1978 S. 73 ff [hier: S. 237 ff]; zustimmend Hachenburg/ Schilling, §47 Rdn.46. 60

16. Die G m b H in der Rechtsprechung des B G H

291

formalisierte gesetzlicne Regelungen näher zu bestimmen. Mehr und mehr hat sich dabei die Erkenntnis durchgesetzt, daß neben der formalen Betrachtung, die di;m gesetzlichen Stimmrechtsverbot eigen ist, auch eine inhaltliche Prüfung der jeweiligen Stimmrechtsausübung notwendig ist, um die rechtlich gebotenen Schranken der Stimmrechtsmacht bei Interessenkonflikten bestimmen zu können. Das gesetzliche Stimmrechts verbot erweist sich damit nur als eine von mehreren Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht, es wird ergänzt durch bewegliche Schranken wie das Verbot mißbräuchlicher Rechtsausübung und die Bindung an die gesellschaftliche Treuepflicht 62 . Der Gedanke von den immanenten Schranken der Stimmrechtsausübung hat schon verhältnismäßig früh in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Ausdruck gefunden und, wie ich hinzufügen möchte, einen überaus prägnanten und auch heute noch modern anmutenden Ausdruck 63 . In der Folgezeit hat sich dieser fruchtbare Gedanke in der Rechtsprechung des Reichsgerichts wieder verflüchtigt und hat recht farblosen und wenig aussagekräftigen Formulierungen weichen müssen. Lediglich auf die Schranken, die jeder Rechtsausübung immanent sind und in der Rechtsfigi r des Verbots mißbräuchlicher Rechtsausübung ihre rechtliche Gestaltung gefunden haben, sowie auf die Schranken, die das Aktiengesetz 193!' im §101 Abs. 1 für die Stimmrechtsausübung gezogen hat (Verbot der Stimmrechtsausübung zur Erlangung gesellschaftsfremder Vorteil; zum Schaden der Gesellschaft), wurde insoweit Bezug genommen 64 . Der Bundesgerichtshof hat in seiner ersten Entscheidung zu den Schranken der Stimmrechtsausübung betont, daß das Stimmrecht nicht mißbräuchlich ausgeübt werden darf und daß insbesondere die Treuepflicht des Gesellscharters gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den anderen Gesellschaftern der Ausübung des Stimmrechts Grenzen setzt65. Mit diesen Ausführungen hat der Bundesgerichtshof die Intensität der Aussage des Reichsgerichts im 132. Band, die das für die Stimmrechtsausübung wichtige Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit zutref62

Vgl. dazu Zöllner, Schi anken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht pp. S 97 ff, 366. R G Z 132, 149, 162: „Aus der Befugnis, im Wege des Mehrheitsbeschlusses zugleich auch für die Minderheit zu beschließen und damit mittelbar über deren in der Gesellschaft gebundene Vermögenswert« zu verfügen, ergibt sich ohne weiteres die gesellschaftliche Pflicht der Mehrheit, im Rai- men des Gesamtinteresses auch den berechtigten Belangen der Minderheit Berücksichtigung angedeihen zu lassen und deren Rechte nicht über Gebühr zu verkürzen." 64 Vgl. R G Z 149, 311/12 für die Aktiengesellschaft noch vor dem Aktiengesetz 1937; aber auch Scholz, G m b H - K o m m . 4.Aufl. 1958-1960, §47 Rdn.7: „Jeder Gesellschafter ist der Gesellschaft gegenüber völlig frei, nach seiner Meinung und seinen Interessen zu stimmen. Aber Rechtsmißbi auch ist auch hier unzulässig." 15 B G H Z 14, 37/38 = GmbH-Rdsch. 1954, 123. 63

292

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

fend charakterisiert hatte, noch keineswegs wieder erreicht, wenngleich der Hinweis auf die gesellschaftliche Treuepflicht als immanente Schranke für die Ausübung des Stimmrechts wichtige Ansätze für eine weitere Konkretisierung der Rechtsfigur der mißbräuchlichen Stimmrechtsaussübung enthält. Für eine zutreffende Würdigung dieser ersten Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist es geboten, auch darauf hinzuweisen, daß sie sich noch nicht voll von der damals im Schrifttum herrschenden Ansicht vom Stimmrecht als eines grundsätzlich eigennützigen Mitgliedschaftsrechts hat lösen können, indem sie den in die Zukunft weisenden Ausführungen über die Bedeutung der gesellschaftlichen Treuepflicht als immanenter Schranke für das Stimmrecht - wie einen Pferdefuß - die Einschränkung anfügte, daß der Gesellschafter bei der Stimmrechtsausübung seine eigenen Interessen nicht hinter die der Gesellschaft zurückzustellen brauche. Der Bundesgerichtshof war nicht in der Lage, die hoffnungsvollen Ansätze, die die Entscheidung B G H Z 14, 37/38 für ein zutreffendes Verständnis der immanenten Schranken der Stimmrechtsmacht bei Interessenkonflikten aufwies 66 , im Laufe der Zeit langsam auszubauen und weiterzuführen. Er erhielt in den folgenden mehr als 20 Jahren nicht wieder die Gelegenheit, sich zu dieser Frage im Zusammenhang zu äußern. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Stellungnahme des Bundesgerichtshofes in seiner Entscheidung B G H Z 14, 37/38 langsam veraltete und hinter dem Meinungsstand in der Rechtslehre mehr und mehr zurückblieb, da diese sich im Anschluß an das grundlegende, in die Zukunft weisende Werk von Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht 1963, zunehmend mit dem Problem der immanenten Schranken der Stimmrechtsausübung beschäftigte und dabei die notwendigen Grenzen jeglicher Stimmrechtsmacht auch in der G m b H deutlich machte. Erst mit der Entscheidung B G H Z 65, 15 fand der Bundesgerichtshof die Gelegenheit, Anschluß an den Meinungsstand in der Rechtslehre bei dieser Frage zu finden und damit ersichtlich zu machen, daß die in der Rechtslehre insoweit herausgearbeiteten Grundsätze auch für die Rechtsprechung ganz allgemein richtungweisend sind. Dabei wird es angesichts der zutreffenden Zurückhaltung des Bundesgerichtshofes der Zukunft vorbehalten bleiben müssen, in welcher Weise er diese allgemeinen Grundsätze im einzelnen noch konkretisieren wird.

5. Die Vorgesellschaft und die Haftungsvorschrift des §11 Abs. 2 GmhHG a) Die Probleme der Vorgesellschaft haben den Bundesgerichtshof von Anfang an in zahlreichen Entscheidungen beschäftigt, ohne daß man " Vgl. dazu auch die vorausgegangene Entscheidung B G H Z 9, 157, 163/64 = Rdsch. 1953, 72.

GmbH-

16. Dil G m b H in der Rechtsprechung des B G H

293

sagen kann, daß diese Probleme im Lauf der zurückliegenden 30 Jahre durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eine abschließende Klärung gefunden haben, die den Instanzgerichten die für sie notwendige Rechtssicherheit und Rechtsklarheit vermittelt. Im Gegenteil, man muß m. E. einräumen, daß die 25 Entscheidungen, die im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes verzeichnet sind67, die gerade in diesem Bereich so wichtige Rechtssicherheit nicht gebracht haben, und man muß wohl auch hinzufügen, daß angesichts dieses Befundes der Gesetzgeber in einem besonderen Maß zu einer gesetzlichen Regelung der Vorgesellschaft aufgerufen ist, weil er sich insofern nur schwerlich auf die Möglichkeiten der Rechtsprechung berufen kann 68 . b) Schon verhältnismäßig frühzeitig hat sich der Bundesgerichtshof mit der seinerzeit überaus streitigen Frage zu befassen gehabt, nach welchen rechtlichen Vorschriften die Vorgesellschaft zu beurteilen ist". Er hat dabei den Standpunkt vertreten, daß es sich bei der in der Entstehung befindlichen GmbH nicht etwa um einen nicht rechtsfähigen Verein, um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder um eine offene Handelsgesellschaft handle, sonc ern um eine Organisation, die einem Sonderrecht untersteht, nämlich dem Recht der GmbH mit Ausnahme derjenigen Vorschriften, die die Rechtsfähigkeit voraussetzen. An dieser Auffassung hat der Bundesgerichtshof bis heute festgehalten 70 und sie in verschiedener Hinsicht näher konkretisiert. So kann auf den Namen einer Vorgesellschaft ein Bankkonto errichtet werden, auf die die gesetzlich oder gesellschaft ¡vertraglich vorgesehenen Einzahlungen mit be-

67 Hiervon entfallen auf die letzten 13 Jahre 11 Entscheidungen, von denen die beachtliche Zahl von 9 Er tscheidungen zum Abdruck in die Entscheidungssammlung gekommen, also von dem e 'kennenden Senat als besonders bedeutsam angesehen worden sind. 68 Ich habe seinerzeit in der Sachverständigen-Kommission des Bundesjustizministeriums, die sich in den Jahren 1 9 5 8 - 1 9 6 2 mit den Vorarbeiten zur Reform des G m b H Rechts befaßt hat, auf diese Notwendigkeit hingewiesen und bemängelt, daß der Entwurf zum Aktiengesetz 1965 von einer solchen Regelung Abstand genommen hat. Leider haben sich in der Folgezeit alle Entwürfe für ein neues GmbH-Gesetz dieser gesetzgeberischen Pflicht entzogen und diese Zurückhaltung damit begründet, es sei zweckmäßiger, die bestehenden Streitfragen dei Wissenschaft und Rechtsprechung zur Klärung zu überlassen. Diese Begründung offenbar ein bedauerliches Versagen des Gesetzgebers und steht zu der Rechtswirklichkeit in den letzten 30 Jahren in einem deutlichen Widerspruch. Ähnlich insoweit auch die Beurteilung von Fleck, A n m . LM Nr. 18 zu § 1 1 G m b H G und von Huber, FS Robert Fischer : 979 S . 2 6 4 und andere. " B G H Z 21, 242 = G n b H - R d s c h . 1956, 139; vgl. schon vorher B G H Z 17, 385; 20, 281 = GmbH-Rdsch. 1956 108; beide für die Genossenschaft. 70 Vgl. B G H Z 51, 32 = GmbH-Rdsch. 1969, 80; B G H Z 72, 48/49 = GmbH-Rdsch. 1978, 232.

294

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

freiender Wirkung geleistet werden können 71 ; ferner können auf ihren Namen Rechte im Grundbuch eingetragen werden 72 , so wie sie auch berechtigt ist, eine Firma zu führen, wenn sie Trägerin eines Handelsgeschäfts ist73. Den Status einer Organisation, die einem Sonderrecht untersteht und die in BGHZ 72, 45, 48/49 als eine „besonderen Rechtsgrundsätzen unterliegende, gesamtschuldnerische Personenvereinigung" bezeichnet wird, behält die Vorgesellschaft, solange ihre Eintragung noch betrieben wird 74 ; wird ihre Eintragung jedoch nicht mehr angestrebt, dann wird sie eine offene Handelsgesellschaft, sofern sie Trägerin eines Handelsgeschäfts ist75. Die Liquidation der Vorgesellschaft ist nach den für eine Personengesellschaft geltenden Grundsätzen, also nicht nach der Vorschrift des § 6 6 GmbHG durchzuführen, da diese Vorschrift auf die Verhältnisse einer juristischen Person zugeschnitten ist76. Das bedeutet, daß im Liquidationsstadium die Vorgesellschaft von allen Gesellschaftern gemeinschaftlich und nicht durch die Geschäftsführer vertreten wird. Der Bundesgerichtshof hat keine Gelegenheit gehabt, zu weiteren Fragen der Vorgesellschaft und den für sie geltenden Rechtsgrundsätzen Stellung zu nehmen, weil ihm dazu geeignetes Entscheidungsmaterial nicht unterbreitet worden ist. Aber nach meiner Meinung liegt es im Sinn dieser Rechtsprechung, wenn im Schrifttum die Vorgesellschaft als eine Handelsgesellschaft besonderer Art angesehen wird, sofern sie ein vollkaufmännisches Gewerbe betreibt, mit der Folge, daß auf die in ihrem Namen abgeschlossenen Rechtsgeschäfte die §§ 343 ff HGB anzuwenden sind. Auch ist die Anwendung der §§ 38 ff HGB über Handelsbücher (zur Buchführungspflicht vgl. BGHSt. 3, 26) geboten. c) In einer sehr großen Anzahl von Entscheidungen hat sich der Bundesgerichtshof mit der Frage befaßt, wer Handelnder im Sinn des §11 Abs. 2 GmbHG ist. Es ist schon oben in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen worden, daß insoweit eine Entscheidung des IV. Zivilsenats manche Verwirrung gestiftet hat77 und daß der II. Zivilsenat erst im Jahre 1967 die Gelegenheit erhielt, die notwendige Klarheit für die Rechtspraxis in diesem Punkt herbeizuführen 78 . Dabei hat der Senat den 71 BGHZ 15, 68; 37, 75 = GmbH-Rdsch. 1963, 147; BGHZ 45, 347 = GmbH-Rdsch. 1966, 140. 72 BGHZ 45, 348/49 = GmbH-Rdsch. 1966, 140. 73 BGH, W M 1965, 246. 74 BGHZ 51, 30 = GmbH-Rdsch. 1969, 80. 75 BGH, WM 1965, 246. 76 BGH, NJW 1963, 859 = GmbH-Rdsch. 1963, 107; BGHZ 51, 34 = GmbH-Rdsch. 1969, 80. 77 Vgl. oben S. 277. 78 BGHZ 47, 25.

16. Di< G m b H in der Rechtsprechung des B G H

295

Begriff des Handelncen wesentlich eingeengt und ausgesprochen, daß Handelnder nicht schon der ist, der der Eröffnung des Geschäftsbetriebes zugestimmt hat, und nicht auch der, der zwar die Geschäftsaufnahme veranlaßt, nicht aber zum Geschäftsführer bestellt worden ist79. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist vielmehr der Geschäftsführer und der, der laufend wie ein Geschäftsführer aufgetreten ist, als Handelnder nach §11 A b s . 2 G m b H G haftbar 80 , und zwar unabhängig davon, ot er dies auch bei dem einzelnen in Frage stehenden Geschäft getan hat81. Auch haftet der Geschäftsführer, der einen Bevollmächtigten für sich handeln läßt82, wohingegen den Bevollmächtigten die Haftung als Handelnden nicht trifft 83 . Damit hat sich die Rechtsprechung des Bundesgeri ;htshofes zum Begriff des Handelnden im Sinn des §11 Abs. 2 G m b H G dahin konkretisiert, daß die Handelndenhaftung „keine bloße Veranlassungshaftung, sondern eine Haftung aus rechtsgeschäftlichem Handeln" 8 4 oder, wie Karsten Schmidt m. E. zutreffend formuliert hat, Organhaftung, nicht aber Gesellschafterhaftung ist85. Der Bundesgericht! hof hat in seinen Entscheidungen wiederholt zum Zweck dieser Haftung Stellung genommen. Dabei tritt in dieser Hinsicht nach meinem Eindruck eine gewisse Unsicherheit zutage, die wohl dadurch bedingt ist, daß sich in der Tat dieser Zweck nur schwer erschließen läßt, vor a lern, wenn man diese Vorschrift als rechtspolitisch verfehlt, entbehrlich und obsolet bezeichnet 86 . In B G H Z 47, 29 ist der Zweck der Haftung dahin umschrieben, sie solle dafür „sorgen, daß ein Dritter, der sich auf Geschäfte mit der werdenden G m b H einläßt, einen Schuldner hat, wenn es nicht zur Entstehung der juristischen Person kommt oder sie sich weigert, die Verpflichtung aus dem Geschäft zu übernehmen 87 . Daneben soll die Vorschrift zur Vorsicht mahnen und dazu beitragen, im Gründungsstadium den Abschluß überflüssiger Geschäfte zu verhindern und die Eintragung der Gesellschaft ins Handelsregister zu beschleunigen." In B G H Z 65, 381 wird der Zweck der Haftungsvorschrift ni r noch darin gesehen, dem Vertragspartner einen Schuldner zu geben, wobei in B G H Z 66, 361/362 dieser Zweck an B G H Z 65, 378 = GmbH-Rdsch. 1976, 65. B G H Z 51, 35 = GmbH-Rdsch. 1969, 81; B G H Z 65, 380 = GmbH-Rdsch. 1976, 65; N J W 1980, 287. 81 B G H Z 51, 36 = GmbH-Rdsch. 1969, 81. 82 B G H Z 53, 206 = GmbH-Rdsch. 1970, 123; NJW 1974, 1284 = GmbH-Rdsch. 1974, 153. 83 B G H Z 66, 359 = GnibH-Rdsch. 1976, 194. 84 B G H Z 53, 214 = GrrbH-Rdsch. 1970, 155; B G H Z 65, 380 = GmbH-Rdsch. 1976, 65. 85 NJW 1978, 1980. " Vgl. Fleck Anm. LM Nr. 20 zu § 11 G m b H G . 87 So übrigens schon R G Z 75, 206. 79

80

296

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

praktischer Bedeutung noch weiter dadurch verliert, daß § 11 Abs. 2 G m b H G nicht dazu dienen soll, dem Gläubiger einen (wirtschaftlich) sicheren Schuldner zu geben. In B G H Z 69, 95, 104 wird in der Haftung nach § 11 Abs. 2 G m b H G „nur eine Ersatzlösung für den Fall (gesehen), daß die beiderseits (allein) gewollte Verpflichtung der G m b H nicht zustande kommt". d) Mit der Entscheidung B G H Z 65, 378 hat der Bundesgerichtshof für das Recht der Vorgesellschaft eine weitreichende und entscheidende Änderung vollzogen, ohne sie freilich als solche kenntlich zu machen. Während der Bundesgerichtshof in B G H Z 47, 25 die Klage des Dritten, die dieser gegen einen der Gründer der G m b H gerichtet hatte, noch abgewiesen hatte, weil der Gründer nicht Handelnder im Sinn des § 11 Abs. 2 G m b H G gewesen war - dieser hatte lediglich der Aufnahme des Geschäftsbetriebes schon vor der Eintragung der G m b H zugestimmt - , hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung B G H Z 65, 378 einer solchen Klage gegen einen Gründer stattgegeben. Er hat die Verurteilung damit begründet, daß dieser als Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft auch persönlich hafte, allerdings nur beschränkt bis zur Höhe seiner Einlagen, weil eine solche Haftungsbeschränkung durch die Erklärung im Namen einer „GmbH" handeln zu wollen, ausreichend zum Ausdruck gebracht worden sei. Diese Auffassung hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung B G H Z 72, 45 noch näher erläutert und dargelegt, daß ein Handeln im Namen der noch nicht eingetragenen G m b H die Auslegung nicht ausschließe, daß durch dieses Handeln auch die Vorgesellschaft verpflichtet sein sollte, daß also bei einem derartigen Geschäftsabschluß eine vertragliche Verpflichtung sowohl der künftigen G m b H als auch der Vorgesellschaft in Betracht komme. Die Tragweite dieser neuen Beurteilung ist bedeutsam, wenn man dabei zugleich an dem Vorbelastungsverbot 88 festhält, wie es der Bundesgerichtshof tut89. Denn dadurch kann es dazu kommen, daß der einzelne Gründer-Gesellschafter doppelt zahlen muß, wenn die eingetragene G m b H für eine Schuld der Vorgesellschaft nicht in Anspruch genommen werden kann und wenn er (oder soweit er) seine Einlage noch nicht mit befreiender Wirkung auch gegenüber der eingetragenen G m b H geleistet hat90. Dadurch gewinnt die Entscheidung B G H Z 37, 75, die die Unverbindlichkeit einer Bareinzahlung vor Eintragung der 88 Vgl. dazu B G H Z 17, 391; 53, 212 = GmbH-Rdsch. 1970, 155; Huber, FS Robert Fischer 1979 S. 272 ff. 89 B G H Z 65, 383 = GmbH-Rdsch. 1976, 65. 90 B G H Z 65, 384 = GmbH-Rdsch. 1976, 65; B G H Z 72, 50 = GmbH-Rdsch. 1978, 232.

16. Die GmbH in der Rechtsprechung des B G H

297

G m b H über die gesetzlich oder gesellschaftsvertraglich gebotene Höhe hinaus ausspricht, eine Dimension, an die seinerzeit noch gar nicht gedacht worden ist. Durch diese entscheidende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat die Einengung des Begriffs der Handelndenhaftung viel an ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren, weil nunmehr auch immer die Gesellschafter, die der Aufnahme des Geschäftsbetriebs zugestimmt haben, als Gesellschafter der Vorgesellschaft persönlich zu haften haben. Dabei hat der Bundesgerichtshof bisher noch nicht die Frage erörtert, ob nicht die Rechtsnatur der Vorgesellschaft die Annahme nahelegt, daß diese ein selbständiges Verpflichtungssubjekt nach Art einer offenen Handelsgesellschaft (vgl. § 1 2 4 H G B ) ist, so daß in erster Linie eine Haftung der Vorgesellschaft und unter Umständen überhaupt keine persönliche Haftung der einzelnen Gesellschafter in Betracht kommt, die bei der offenen Handelsgesellschaft erst durch die besondere Haftungsvorschrift des § 128 H G B begründet wird. Eine solche Annahme ist freilich nur möglich, wenn man den kritischen Stimmen im Schrifttum folgt" und endgültig Abschied von dem Vorbelastungsverbot nimmt. In diesem Fall würde die unbeschränkte und persönliche Haftung des Handelnden wieder einen, wenn auch abgewandelten Sinn finden, nämlich den einer zusätzlichen Gläubigersicherung, die so lange erforderlich ist, bis die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen für eine allseits beschränkte Haftung (Prinzip der Normativbestimmungen) geprüft und eingehalten sind92. e) Es ist nicht der Sinn dieser Darstellung, über die weitere Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung Vermutungen zu äußern. Aber eine Aussage mag in dieser Hinsicht gestattet sein, nämlich die, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Verlauf der zurückliegenden 30 Jahre jetzt bei der Vorgesellschaft wohl einen Punkt erreicht hat, der noch nicht den Abschluß dieser Entwicklung bildet und den Bundesgerichtshof nach dem Versagen des Gesetzgebers ernsthaft vor die Frage stellt, ob er im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nicht jetzt seinerseits genötigt und aufgerufen ist, unter Verwertung der fruchtbaren Anregungen, die die Rechtslehre in den letzten Jahren gegeben hat, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung das Recht der Vorgesellschaft von Grund auf neu zu ordnen. Ich würde mich als Revisionsrichter in einer solchen Lage wohl dazu entschlossen haben.

91 92

Vgl. die Zusammenstellung bei Huber a . a . O . (Fn. 88), S. 276 ff. Karsten Schmidt, N J W 1978, 1979, 1980; Huber a.a.O., S.276f.

298

Beiträge zum Gesellschaftsrecht

6. Weitere

Sachgebiete

Angesichts der großen Anzahl von Entscheidungen auf dem Gebiet des GmbH-Rechts ist es nicht möglich, hier die Entwicklung der Rechtsprechung in allen Teilbereichen nachzuzeichnen. Es sei daher nur noch auf einige Entscheidungen hingewiesen, die von einer allgemeinen Bedeutung sind. a) Die Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Sachgründung ergangen sind93, dienen dazu, die Aufbringung des Stammkapitals zu sichern und damit in diesem Zusammenhang den notwendigen Gläubigerschutz zu gewährleisten. Dabei wird in der ersten der ergangenen Entscheidungen das Problem der Uberbewertung einer Sacheinlage mit ihren nachteiligen Folgen für Gesellschaft und Gesellschaftsgläubiger zwar durchaus zutreffend erkannt, aber angesichts des damaligen Stands der Meinungen in der Rechtslehre doch noch erstaunlich vorsichtig und zurückhaltend angegangen94. Der Bundesgerichtshof hat damals die Nichtigkeit eines Sacheinlageversprechens wegen Uberbewertung des einzubringenden Gegenstandes nur dann für nichtig erklärt, wenn die Bewertung „in einer nach kaufmännischen Grundsätzen überhaupt nicht mehr zu verantwortenden Weise" vorgenommen ist95. Die zweite der genannten Entscheidungen geht, was die Sicherung der Aufbringung des Stammkapitals bei einer Sachgründung anlangt, schon weiter; sie verpflichtet für den Fall, daß der einzubringende Gegenstand mangelhaft ist, den Sacheinleger in jedem Fall dazu, den Differenzbetrag in Geld zu zahlen, ohne daß es dabei darauf ankommt, wie groß dieser Sachmangel ist. Die letzte dieser Entscheidungen bildet den Abschluß der Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Problem der Uberbewertung der Sacheinlage und bringt dabei mit der wünschenswerten Deutlichkeit die Haftungsfolgen für den Sacheinleger in einem Fall dieser Art zum Ausdruck. „Jedes Uberschreiten dieses Spielraums (gemeint ist ein gewisser Beurteilungsspielraum, der für die Bewertung von Sacheinlagen und namentlich von Handelsgeschäften besteht) m u ß . . . die Differenzhaltung des Einlegers auslösen, weil nur so die gesetzmäßige Kapitalgrundlage der Gesellschaft zu sichern ist 96 ." - Die genannten drei Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur Uberbewertung einer festgesetzten Sacheinlage vermitteln zugleich ein anschauliches Bild von einer richterlichen Rechtsfortbildung, wie sie sich von Entscheidung zu Entscheidung weiterentwickelt. 93 B G H Z 29, 300 = G m b H - R d s c h . 1959, 149; B G H Z 45, 345 = G m b H - R d s c h . 1966, 139; B G H Z 68, 191 = G m b H - R d s c h . 1978, 9. 94 ,s

Vgl. dazu aus damaliger Zeit meine Anm. bei L M N r . 1 zu § 5 G m b H G . B G H , a . a . O . , S.307.

96 A . a . O . , GmbHG.

S. 1961; vgl. dazu auch den von der Novelle 1980 neu gefaßten

§9

16. E'ie GmbH in der Rechtsprechung des B G H

299

b) Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang noch die bedeutende Entscheidung B G H Z 65, 15, die nach Form wie nach Inhalt bemerkenswe't ist. Sie ist für das Verständnis der Pflichten, die

dem einzelnen Gesellschafter einer GmbH gegenüber seiner Gesellschaft sowie gegenüber seir, en Mitgesellschaften obliegen, und damit für seine Stellung als Gesellschafter bei der Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte von entscheidender Bedeutung. Zugleich bildet die Entscheidung unter GmbH-konzernrechtlichen Gesichtspunkten einen wichtigen Markstein, der auch in Zukunft noch von großer Wichtigkeit sein wird97. Da diese Entscheidung in einem ganz besonderen, aber, wie ich meine, auch verdienten Ausmaß in der Rechtslehre gewürdigt98 und dabei auch ihre konzernrechtliche Bedeutung hervorgehoben worden ist, erscheint es mir nicht geboten, hier darauf noch einmal im einzelnen einzugehen. c) Das Mitbestimmungsgesetz 1976 hat zahlreiche gesellschaftsrechtliche Fragen aufgeworfen, von denen eine große Anzahl in gleicher Weise für die G m b H und für die A G von Bedeutung ist. So gilt die für das Recht der Aktiengesellschai ten ergangene Entscheidung B G H Z 64, 325 über die gesetzliche Verschwiegenheitspficht der Aufsichtsratsmitglieder, insbesondere auch der Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat ebenfalls für die mitbestimmte G m b H . Auch jedes Aufsichtsratsmitglied einer mitbestimmten G m b H hat die eigenverantwortliche Pflicht zur selbständigen Prüfung darüber, „wann Schweigen Pflicht und wann es erlaubt oder sogar nötig ist, über eine bestimmte Angelegenheit offen zu reden" 99 . Besondere Schwieiigkeiten bereitet das Mitbestimmungsgesetz 1976 für die mitbestimmte GmbH und nur für diese bei der Frage, in welchem Ausmaß der Gesellschaftsvertrag der Gesellschafterversammlung als dem obersten Organ der G m b H Befugnisse zur Erteilung von Weisungen an die Geschäftsführung übertragen kann. In dieser Hinsicht wird es auf eine sorgsame Abwägung der besonderen Gesellschafterinteressen sowie der schutzwürdigen Arbeitnehmerinteressen an der Wahrung ihrer Mitbestimmungsrechte zum Besten des Unternehmens ankommen. Es ist zu wünschen, daß dem II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes diese schwierige Aufgabe gelingt und er auf diese Weise - ähnlich wie ihm das mit seiner Entscheidung B G H Z 64, 325 gelungen ist - zum Arbeitsfrieden im Bereich der mitbestimmten Unternehmen beitragen kann.

97 98 99

Vgl. dazu Rebbinder, ZGR 1976, 386; 1977, 581. Vgl. Mertens, FS Robert Fischer 1979, S. 461 ff und die dort in Fn.2 Genannten. B G H a . a . O . , S.327.

17. Das Entsendungs- und Weisungsrecht öffentlich-rechtlicher Körperschaften beim Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft"" Das Recht zur Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedem in einer Aktiengesellschaft und die Befugnis, diesen bei ihrer Amtsführung verbindliche Weisungen zu erteilen, haben in den letzten 100 Jahren eine wechselvolle Entwicklung genommen, die in mancher Hinsicht widersprüchlich zu sein scheint. N u r aus der Sicht dieser Entwicklung ist es m. E.verständlich, daß in diesem Bereich Meinungsverschiedenheiten über den Bestand und den Umfang eines solchen Entsendungsrechts aufgetreten sind, und daß vor allem über die Weisungsbefugnis öffentlich-rechtlicher Körperschaften bei Eigengesellschaften und bei gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen die unterschiedlichen Auffassungen zeitweise sehr weit auseinandergegangen sind. Betont öffentlich-rechtliche und betont aktienrechtliche Auffassungen haben dabei vor allem den hier bestehenden Meinungsstand bestimmt, der bei der Beurteilung der Frage, ob insoweit dem öffentlichen Recht oder dem Aktienrecht der Vorrang zu geben sei, zudem nicht immer von gewissen emotionalen Erwägungen frei geblieben ist. Demgegenüber hat nach meinem Eindruck der Gedanke von der Einheit der Rechtsordnung bei diesem Meinungsstreit eine zu geringe Beachtung gefunden. Die Entwicklung, die das Recht zur Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern in einer Aktiengesellschaft sowie die Befugnis öffentlichrechtlicher Körperschaften zur Erteilung von Weisungen an die entsandten Aufsichtsratsmitglieder in den zurückliegenden Jahren genommen hat, hat sich im wesentlichen in drei Abschnitten vollzogen. Diese Abschnitte sind in ihrer Aufeinanderfolge durch die gesetzliche Ausgestaltung dieser Befugnisse im Handelsgesetzbuch (und vorher im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch), im Aktiengesetz 1937 (in Verbindung mit der Deutschen Gemeindeordnung 1935) sowie im Aktiengesetz 1965 bestimmt und geprägt. I. Kein Entsendungs- und Weisungsrecht nach der Regelung des H G B 1. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch hatte zunächst keine Regelung über die Wahl von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern getroffen. Daraus wurde damals - zutreffend - der Schluß gezogen, daß * A u s : Die Aktiengesellschaft 1982, 85-93. - Verlag D r . O t t o Schmidt K G , Köln, 1982.

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demzufolge die Gründer bei der Errichtung einer Aktiengesellschaft nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit im Gesellschaftsvertrag die Bestellung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern regeln und sich dabei insbesondere selbst einen weitgehenden Einfluß, etwa durch Begründung eines entsprechenden Entsendungsrechts in Form eines mitgliedschaftlichen Sonderrechts sichern dürfen. Von dieser rechtlichen Möglichkeit wurde weitgehend, nach der damaligen Überzeugung zu weitgehend Gebrauch gemacht, so daß die Aktiennovelle 1884 Veranlassung nahm, diese Befugnis einzelner Aktionäre zur Bestellung von Verwaltungsmitgliedern zu beseitigen und die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder ausschließlich der Generalversammlung anzuvertrauen 1 . Es sollte auf diese Weise sichergestellt werden, daß sich die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder „in Tat und Wahrheit (als) Organe der Gesellschaft" 2 betrachten, die ausschließlich die Interessen des Unternehmens zu vertreten haben und deshalb bei ihrer Amtsführung als Aufsichtsratsmitglieder nicht weisungsgebundene Beauftragte einzelner Aktionäre sein dürfen. Dabei wurde zusätzlich auch noch ausdrücklich betont, daß insoweit für den Staat als Aktionär keine Ausnahme gemacht werden könne'. Diese Regelung ist dann auch vom Handelsgesetzbuch in §243 Abs. 1 übernommen worden, wonach das Recht der Generalversammlung, die Mitglieder des Aufsichtsrats zu bestellen, zwingend und damit ein ausschließliches Recht der Generalversammlung ist, also nicht einem Dritten anvertraut werden darf 4 . Dabei hat das Reichsgericht dieser Regelung ein besonderes Gewicht beigemessen, indem es alle Abreden, die das freie Wahlrecht der Gesamtheit aller Gesellschafter, nämlich der Generalversammlung, in irgendeiner Weise beeinträchtigen oder schmälern, für sittenwidrig und damit für nichtig erklärte, so etwa ein Schuldverhältnis, das einen Gesellschafter im Interesse anderer Gesellschafter verpflichtet, das ihm durch Wahl angetragene Amt eines Aufsichtsratsmitglieds nicht anzunehmen oder ein ihm übertragenes Amt niederzulegen5, des weiteren eine Abrede unter einzelnen Gesellschaftern, die diese verpflichtet, bei der Wahl zum Aufsichtsrat für eine bestimmte Person zu stimmen 6 . ' Vgl. dazu die Begründung zur Aktien-Novelle 1884 in RT-Drucks. Nr. 21, S. 139; ferner KG, KGJ 32 A 136. 2 R G Z 83, 377, 382. 3 KG, KGJ 32 A 138: „Auch der Staat muß sich dem Wesen der AG entsprechend in dieser Beziehung mit demjenigen Einfluß begnügen, welcher ihm sein Aktienbesitz gewährt." 4 Rudolf Fischer, Ehrenberg H d b . des ges. HR, 3. Bd. 1. Abteilung, S. 239/40; StaubPinner H G B , 14. Aufl. §243 A n m . 2 d m. w . N . 5 RGZ 57, 205, 208. 6 Dazu R G Z 131, 179, 183.

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2. Ungeachtet dieser klaren gesetzlichen Regelung und ihrer Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung machte sich in der Praxis in zunehmendem Umfang das Bedürfnis bemerkbar, bei der Bestellung des Aufsichtsrats einzelnen Aktionären das Recht zur Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern zu gewähren. Diesem Bedürfnis wurde durch entsprechende Stimmabreden unter den Aktionären Rechnung getragen, die trotz der entgegenstehenden Rechtsprechung des Reichsgerichts im allgemeinen befolgt wurden und sich damit im Rechtsleben auch durchsetzten 7 . Ein solches Bedürfnis für die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern durch einzelne Aktionäre machte sich namentlich bei den gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen bemerkbar, um auf diese Weise den beteiligten öffentlichen Körperschaften eine sachgerechte Berücksichtigung der mit ihrer Beteiligung verfolgten Interessen in dem Unternehmen zu ermöglichen 8 . So kam es, daß sich etwa seit der Mitte der 20er Jahre entgegen der gesetzlichen Regelung - namentlich mit Hilfe von Stimmrechtsvereinbarungen - ein Entsendungsrecht bei der Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern praktisch durchsetzte und im Schrifttum zum Teil auch mehr oder weniger deutlich anerkannt wurde 9 . Auch die in der 2. Hälfte der 20er Jahre einsetzenden Bestrebungen für eine Reform des Aktienrechts befassen sich ausdrücklich mit der Frage nach der gesetzlichen Anerkennung eines solchen Entsendungrechts und kommen nach „langwierigen Überlegungen, die sich auf das grundsätzliche Problem der Einflußnahme öffentlicher Körperschaften auf den Aufsichtsrat bezogen haben" 1 0 , in § 7 4 des damaligen Entwurfs eines neuen Aktiengesetzes zu einer Bejahung dieser Frage". Unter diesen Umständen erscheint es geradezu zwangsläufig, daß dieser allgemeine Meinungswandel auch 7 Vgl. dazu Junck, LZ 1914, 1642, schon zu Beginn des 1. Weltkriegs: „In der Regel werden die zugrundeliegenden Vereinbarungen glatt erfüllt. Man kann nicht sagen, daß das ein Fehler sei. Man erfüllt einfach, was zugesagt wurde und weil es zugesagt wurde. Das sind die natürlichen Verbindlichkeiten des redlichen Verkehrs." Ferner die etwas resignierenden Bemerkungen von Brodmann Aktienrecht, 1928 §243 Anm.2a am Ende und Goldschmit, Das Recht des Aufsichtsrats, 1922, S. 65. 8 Vgl. dazu Klaus Vogel, Öffentliche Wirtschaftseinheiten in öffentlicher Hand 1959, S. 163. ' Typisch erscheinen mir in dieser Hinsicht die Bemerkungen von Jacusiel LZ 1924, 363 und Friedländer Konzernrecht, 1927, S.283, zu sein, die bei ihren Ausführungen die Zulässigkeit eines solchen Entsendungsrecht als selbstverständlich voraussetzen. 10 Schmölder J W 1930, 2623, 2627; vgl. dazu den damals vom Reichsjustizministerium ausgearbeiteten Fragenkatalog, dessen Beantwortung durch die Wirtschaft als Grundlage für die Beratungen über die Aktienrechtsreform dienen sollte, und der sich in seinem Teil VIII zu B und C - insoweit abgedruckt bei Bergmann, Die Einflußnahme öffentlicher Körperschaften auf den Aufsichtsrat, 1929, S. 137 ff - eingehend mit den Besonderheiten der gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen befaßt. 11 Vgl. dazu Heymann-Bergmann ZHR 97, 57.

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seine Wirkungen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts ausübte, indem das Gericht nunmehr unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung Stimmrechtsabreden unter den Aktionären über die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern als zulässig anerkannte 12 . 3. Bei diesem Stand der Meinungen, der die Anerkennung eines Entsendungsrechts zugunsten einzelner Aktionäre, namentlich zugunsten öffentlicher Körperschaften jedenfalls de lege ferenda nahelegte, wenn nicht sogar forderte 13 , mußte nunmehr auch die Frage nach einem Weisungsrecht des Entsendungsberechtigten gegenüber den entsandten Aufsichtsratsmitgliedern wesentliches Gewicht gewinnen. Denn für die Verfechter eines Entsendungsrechts zugunsten öffentlicher Körperschaften mußte die Anerkennung eines Weisungsrechts eine notwendige Folgerung darstellen, weil nur beide Befugnisse zusammen, Entsendungsrecht und Weisungsrecht, die Wahrung der als schutzwürdig angesehenen öffentlichen Interessen bei der Tätigkeit des Aufsichtsrats gewährleisten konnte 13 . Bei einer rückschauenden Betrachtung mutet es heute erstaunlich an, daß im Rahmen der damaligen Reformdiskussion um die gesetzliche Anerkennung eines Entsendungsrechts die Frage nach einem Weisungsrecht nicht die ihr zukommende Beachtung fand 14 . In dem umfangreichen Fragebogen des Reichsjustizministeriums zur Aktienrechtsreform 15 wurde diese Frage überhaupt nicht erwähnt. Auch der Bericht des zuständigen Referenten im Reichsjustizministerium Schmölders über den Entwurf eines neuen Aktiengesetzes 15 läßt erkennen, daß der Entwurf insoweit einer klaren Entscheidung ausweicht und die Frage nach einem Weisungsrecht offen läßt". Abschließend wird man aus der damaligen Diskussion um ein Weisungsrecht 17 nur so viel entnehmen 12 R G Z 133, 90, 95; vgl. schon vorher O L G R (Naumburg) 27, 349; ferner StaubPinner H G B , 14. Aufl., §243 A n m . 2 d ; Friedländer Aktienrecht, 1932, §243 Anm. 1. 13 Röttgen, Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift Deutscher Juristentag 1960, S.610, spricht davon, daß die innere Konsequenz eines solchen Weisungsrechts unbestreitbar sei, weil nur auf diese Weise der um der Zweckbindung willen erforderliche Einfluß der Gemeinde auf ihre privatrechtlich organisierten Unternehmungen sichergestellt werden kann. 14 Die Äußerung von Heymann-Bergmann Z H R 95, 57/58: Die Frage, „ob der Einfluß der öffentlichen Körperschaften auf die Tätigkeit der von ihnen entsandten Verwaltungsmitglieder gesichert werden kann, . . . i s t praktisch außerordentlich b e d e u t s a m . . . " , blieb vereinzelt. 15 Vgl. oben Fn. 10. " Vgl. insoweit die Sätze aus diesem Bericht, a . a . O . S.2627: „Die Rechte des entsandten Vertreters sind die eines gewöhnlichen Aufsichtsratsmitglieds . . . Daraus folgt, daß er bei der Stimmrechtsausübung auch die Interessen der Gesellschaft zu berücksichtigen habe. Daß dies - vor allem bei Behördenvertretern - zu Interessenkonflikten führen kann, muß in Kauf genommen werden." 17 Vgl. dazu die Nachweise bei Vogel a. a. O . (Fn. 8), S. 169.

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können, daß die öffentlich-rechtliche Körperschaft die von ihr entsandten Aufsichtsratsmitglieder jedenfalls nicht durch eine solche Weisung veranlassen darf, sich nach § 312 H G B strafbar zu machen, d. h. vorsätzlich zum Nachteil der Gesellschaft zu handeln 18 . Das aktienrechtliche Schrifttum selbst ließ sich damals durch die tatsächliche Anerkennung eines Entsendungsrechts und durch die Reformdiskussion, die auch die gesetzliche Anerkennung eines solchen Entsendungsrechts verlangte und auf die alten Bedenken der Aktiennovelle 1884 gegen ein solches Entsendungsrecht" nicht mehr zurückgekommen war, in seiner bisherigen Meinung, daß ein Weisungsrecht gegenüber entsandten Aufsichtsratsmitgliedern nicht anerkannt werden könne, nicht irre machen 20 . Das aktienrechtliche Schrifttum blieb vielmehr bei seiner bis dahin immer folgerichtig vertretenen Meinung, daß der Aufsichtsrat ein Organ der Gesellschaft sei, das dem Interesse der Gesellschaft verpflichtet sei, und daß jedes Aufsichtsratsmitglied diese Aufgabe im Dienst der Gesellschaft bei seiner Amtsführung zu beachten habe. Dabei war es für diese Meinung auch ohne Bedeutung, ob das Aufsichtsratsmitglied im Einzelfall praktisch - etwa durch eine Stimmrechtsvereinbarung — oder rechtlich von einem Aktionär in sein Amt berufen wurde; denn auch in einem solchen Fall wird es nach dieser Meinung Mitglied eines Organs der Gesellschaft und nicht Beauftragter und Interessenvertreter des entsendungsberechtigen Aktionärs. Schließlich blieb es im aktienrechtlichen Schrifttum unbestritten und selbstverständlich, daß die Einhaltung von Pflichten, die jedes Aufsichtsratsmitglied zu erfüllen hat, durch eine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz gesichert sein muß, falls eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten vorliegt. 4. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die damaligen Bemühungen um eine Reform des Aktienrechts in der 2. Hälfte der 20er Jahre und zu Beginn der 30er Jahre, die wegen der schwierigen parlamentarischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Zeit nur zu der kleinen Aktienrechtsreform des Jahres 1931 geführt haben 21 , einen eigenartigen Schwebezustand zurückließen, der einmal - namentlich im Interesse der gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen - nach der gesetzlichen Anerkennung eines Entsendungsrechts bei der Bestellung des Aufsichtsrats drängte, und der zum anderen die Stellung des Aufsichtsrats als Organ Bergmann a . a . O . (Fn. 10), S. 61, 63, 68 Anm.33. " Vgl. oben bei Fn. 1. 20 Friedländer Aktienrecht, §243 Anm.4; Brodmann Aktienrecht, 1928, §243 Anm. 2 a; Staub-Pinner § 243 Anm. 2 e. 21 Vgl. dazu Schlegelberger-Quassowski V O über Aktienrecht v. 19.9.31, Komm. 1932, Vorwort. 18

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der Gesellschaft nicht in Zweifel zog, dabei aber zugleich die mit dem Entsendungsrecht eng in Zusammenhang stehende und vom öffentlichen Organisationsrecht wesentlich bestimmte Frage nach einem Weisungsrecht gegenüber den entsandten Aufsichtsratsmitgliedern im Grunde unbeantwortet und damit noch offen ließ, und der schließlich das Bestehen einer Schadensersatzverpflichtung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder wegen Verletzung ihrer Pflichten als selbstverständlich ansah. II. Das Entsendungsrecht im Aktiengesetz 1937 und das Weisungsrecht in der Deutschen Gemeindeordnung 1935 1. Auf dem Boden dieses eigenartigen Schwebezustandes am Beginn der 30er Jahre ergingen in der Folgezeit die zwei wichtigen Reichsgesetze, die das Entsendungsrecht und das Weisungsrecht bei der Bestellung und bei der Amtsführung des Aufsichtsrats neu regelten und dabei an die bisherigen Reformbemühungen anknüpften. Bemerkenswert an dieser Regelung ist die Tatsache, daß die zeitlich vorausgehende Deutsche Gemeindeordnung in §70 Abs. 2 die Zulässigkeit eines Entsendungsrechts bei der Bildung des Aufsichtsrats in einer Aktiengesellschaft ohne weiteres voraussetzt und daran anschließend das Weisungsrecht des Bürgermeisters regelt, der auf Grund eines der Gemeinde zustehenden Entsendungsrechts Beamte oder Angestellte in den Aufsichtsrat entsandt hat. Mit der zwei Jahre später folgenden Regelung des Entsendungsrechts in §88 AktG 1937 wurden etwaige Bedenken gegen die Vorschrift des §70 Abs. 2 D G O , soweit es sich um die aktienrechtliche Zulässigkeit eines Entsendungsrechts überhaupt handelte, behoben und insoweit die Ubereinstimmung zwischen diesen beiden gesetzlichen Regelungen hergestellt. Dabei ist hervorzuheben, daß die Beschränkungen des Entsendungsrechts durch die aktienrechtliche Bestimmung des § 88 - Entsendungsrecht nur für ein Drittel aller Aufsichtsratsmitglieder und nur für Inhaber von vinkulierten Namensaktien - nach allgemeiner Auffassung auch für das Entsendungsrecht der Gemeinden in Eigengesellschaften und in gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen gelten22, daß also insoweit das in § 70 Abs. 2 D G O ohne weiteres vorausgesetzte Entsendungsrecht einer Gemeinde seine nähere Ausgestaltung und eine bedeutsame Einschränkung durch die aktienrechtliche Regelung erhält. Anders verhält es sich hingegen mit dem in der Deutschen Gemeindeordnung positiv geregelten und ausdrücklich anerkannten Weisungsrecht der Gemeinden gegenüber den von ihnen entsandten Aufsichtsratsmitgliedern. Diese Regelung schien in einem unaufhebbaren Widerspruch zu der aktienrechtlichen Regelung zu stehen. Denn nach aktien22

Vgl. dazu zuletzt Quack DVB1. 1965, 349 m . w . N .

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rechtlicher Auffassung verblieb es auch unter der Geltung des Aktiengesetzes 1937 bei dem bisherigen Rechtszustand, daß nämlich der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft ein Organ der Gesellschaft sei, das allein und ausschließlich die Interessen des Unternehmens wahrzunehmen habe, eine Verpflichtung, die auch jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied persönlich trifft, ganz gleichgültig, ob dieses durch die Hauptversammlung bestellt oder von einem Aktionär in den Aufsichtsrat entsandt worden ist. Daher kann das einzelne Mitglied nach aktienrechtlicher Auffassung auch nicht irgendwelchen Weisungen unterworfen werden, die ihm von dritter Seite oder, wie es in § 70 Abs. 2 D G O vorgesehen ist, von der entsendungsberechtigten Gemeinde erteilt werden. Sein besonderes Gewicht erhielt der Widerspruch, der bei einer solchen Betrachtung zwischen diesen beiden gesetzlichen Regelungen auftrat, dadurch, daß sich der Gesetzgeber einerseits bei der Bestimmung des § 70 Abs. 2 D G O , wie die Amtliche Begründung deutlich ergibt 23 , durchaus darüber im klaren war, daß dieses Weisungsrecht gegenüber dem bisherigen Rechtszustand eine Neuerung darstellte, die er im Gemeindeinteresse für unvermeidlich hielt, und daß der Gesetzgeber andererseits ein solches Weisungsrecht zwei Jahre später bei der aktienrechtlichen Regelung des Entsendungsrechts nicht anerkannte, insbesondere für den Bereich des § 70 Abs. 2 D G O keine Ausnahme von der persönlichen Eigenverantwortung eines jeden Aufsichtsratsmitglieds vorsah. 2. Der Meinungsstreit, der sich an dieser unterschiedlichen Regelung in den beiden Reichsgesetzen entzündete, wurde von dem rechtlichen Standort des jeweiligen Beurteilers bestimmt. Man glaubte, die als widersprüchlich empfundene gesetzliche Regelung dadurch lösen zu können, daß man entweder dem öffentlichen Recht oder dem Aktienrecht den Vorrang einräumte 24 . Dabei begründeten die Vertreter des öffentlichen Rechts den Vorrang des öffentlichen Rechts damit, daß dieses zur Durchsetzung öffentlicher Zweckverfolgung und öffentlicher Interessen geboten sei; denn „das Zivilrecht (sei) ungeeignet, auf die Dauer Fragen zu lösen, die solche der Durchsetzung des öffentlichen

21 Vgl. Nr. 2 zu §70, abgedruckt bei Kiefer-Schmid, Deutsche Gemeindeordnung, 1937, S. 735. 24 Vgl. etwa einerseits Suren-Loschelder, Die Deutsche Gemeindeordnung, 1940, §70 Anm.2b, bb; Pfundtner-Neubert, Das neue deutsche Reichsrecht, Deutsche Gemeindeordnung, §70 Anm.3; Ipsen JZ 1955, 5971 Berkemann, Die staatliche Kapitalbeteiligung an Aktiengesellschaften, 1966, S.36; vgl. auch Ballerstedt DÖV 1951, 452; und andererseits Schlegelberger-Quassowski Komm. AktG 1937, § 88 Anm. 13; Schmidt/Meyer-Landrut Großkomm. AktG, 2. Aufl., §88 Anm. 16; Baumbach-Hueck Komm. AktG, 12. Aufl. 1964, §88 Anm.4; Ritter Komm. AktG, 2. Aufl. 1939, §88 Anm. 2 c ; Hengeler AG 1962, 89 f.

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Interesses sind" 25 . Auch sei es nicht gerechtfertigt, die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates mit der eines Privatmannes gleichzusetzen. Schließlich dürfe und könne die Bindung des Beamten an Weisungen seiner Vorgesetzten nicht mit der Berufung auf aktienrechtliche Vorschriften unterlaufen werden. Demgegenüber schien es den Vertretern, die dem Aktienrecht den Vorrang einräumten, zwingend und selbstverständlich zu sein, daß eine öffentlich-rechtliche Körperschaft eigene Unternehmen oder Unternehmen mit eigener wesentlicher Beteiligung als Aktiengesellschaft nur in der Form betreiben könne, die das Aktienrecht für eine solche Gesellschaft zwingend zur Verfügung stelle, daß die öffentliche Hand also insoweit die auch für sie zwingende privatrechtliche Ausgestaltung dieser Gesellschaftsform zu beachten habe. Das gelte um so mehr, weil die vom Reichsjustizministerium seinerzeit in seinem Fragebogen 26 aufgeworfene Frage, ob man für die gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen neben der Form der Aktiengesellschaft eine besondere Gestaltungsform (Sondertypus) schaffen solle, in der Folgezeit verneint worden sei27. Damit sei das Bedürfnis für eine Berücksichtigung öffentlich-rechtlicher Besonderheiten bei dem Betrieb solcher Unternehmen durch die öffentliche Hand vom Gesetzgeber selbst verneint worden 28 . 3. Ich halte bei der Auslegung der hier fraglichen Bestimmungen die scharfe Entgegensetzung des privaten und öffentlichen Rechts nicht für richtig, weil sie der Einheit der Rechtsordnung, die das private und das öffentliche Recht in gleicher Weise umfaßt, nicht gerecht wird. Die Auslegung der zeitlich dicht aufeinander folgenden Reichsgesetze, die, wie die Reformbemühungen in den 20er Jahren deutlich machen, in einem engen sachlichen Zusammenhang bei der Ausgestaltung des Entsendungsrechts sowie der Rechtsstellung der entsandten Aufsichtsratsmitglieder zueinander stehen, muß diesem Zusammenhang Rechnung tragen und zugleich die mit der gemeinderechtlichen und die mit der aktienrechtlichen Regelung verfolgten gesetzgeberischen Zwecke sachgerecht berücksichtigen. Berkemann a . a . O . (Fn.24), S.34. Oben bei Fn. 10. 27 Bergmann a . a . O . (Fn. 10), S. 138; Berkemann a . a . O . (Fn.24), S. 11; vgl. dazu auch Potthoff, der noch im Jahre 1972 die damalige gesetzgeberische Entscheidung gegen die Einführung eines gesetzlichen Sondertyps für die gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen bedauert hat - Festschrift f. Hans Ritsehl, S. 177. 28 Ergänzend mag aus dieser Sicht auch noch darauf hingewiesen werden, daß die Vertreter des öffentlichen Rechts bei der Frage nach Umfang und näherer Ausgestaltung des Entsendungsrechts auch im Rahmen des § 70 Abs. 2 D G O auf die aktienrechtlichen Vorschriften des §88 AktG 1937 zurückgreifen, also die Einschränkungen des Entsendungsrechts durch das Aktiengesetz gelten lassen, obwohl § 70 Abs. 2 D G O dafür keinerlei Anlaß bietet. 25 26

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Bei dem Versuch einer solchen Auslegung kann man m. E. an dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers, in Abänderung des bisherigen Zustands dem Bürgermeister ein Weisungsrecht zuzubilligen, weil das „im Gemeindeinteresse unvermeidlich" 29 ist, nicht vorbeigehen. Man kann daher ein solches Weisungsrecht auch nicht mit irgendwelchen aktienrechtlichen Erwägungen in Frage stellen. Das würde zu dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers in Widerspruch stehen. Mit der Bestimmung des § 70 Abs. 2 D G O ist das bestehende dienstrechtliche Weisungsrecht des Bürgermeisters gegenüber Beamten und Angestellten auf die Tätigkeit der entsandten Aufsichtsratsmitglieder in den Eigengesellschaften und in den gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen erstreckt worden 30 . Das bedeutet, daß diese Bestimmung das Dienstverhältnis eines Beamten oder Angestellten, den eine Gemeinde auf Grund eines ihr zustehenden Entsendungsrechts in den Aufsichtsrat entsandt hat, näher regelt, soweit es sich um die Ausübung der Aufsichtsratstätigkeit handelt. Damit besagt diese Bestimmung zweierlei. Zum einen gibt sie eine zusätzliche Regelung für die Ausgestaltung des Dienstverhältnisses zwischen dem entsandten Aufsichtsratsmitglied und seinem Dienstherrn, der Gemeinde, und zum anderen greift sie durch die Anerkennung eines Weisungsrechts in die Amtstätigkeit eines entsandten Aufsichtsratsmitglieds ein. Damit verbleibt die Bestimmung des § 7 0 Abs. 2 D G O zum einen in den Rahmen, den eine Gemeindeordnung zu regeln und auszufüllen hat, zum anderen weist sie einen aktienrechtlichen Regelungstatbestand auf, soweit sie nämlich auf die Tätigkeit eines entsandten Aufsichtsratsmitglieds einwirkt. Dagegen befaßt sich die Bestimmung des § 70 Abs. 2 D G O nicht mit den Rechtsbeziehungen des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds zu seiner Gesellschaft und regelt daher auch nicht die Pflichten, die dieses gegenüber seiner Gesellschaft zu erfüllen hat. Dieser Regelungstatbestand ist ein solcher des Aktienrechts und wird auch im vollen Umfang vom Aktiengesetz erfaßt. Dabei verbleibt die aktienrechtliche Regelung insoweit bei dem bisherigen Rechtszustand, wonach der Aufsichtsrat ein Organ der Gesellschaft ist, das allein die Interessen des Unternehmens wahrzunehmen hat. Diese Pflichtenbindung, die allein an dem Interesse des Unternehmens ausgerichtet ist, gilt auch für das einzelne Aufsichtsratsmitglied; jedes Aufsichtsratsmitglied ist gehalten, bei seiner Amtsführung die Interessen der Gesellschaft im Auge zu behalten und zu wahren. Diese Pflichtenbindung gegenüber der Gesellschaft erhält ihre besondere Sicherung durch eine Schadensersatzpflicht eines jeden Auf29 Amtliche Begründung zur Deutschen Gemeindeordnung bei Nr. 2 zu § 70, abgedruckt bei Kiefer-Schmid, Die Deutsche Gemeindeordnung, 1937, S.735. 30 Quack, DVB1. 1965, 348.

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sichtsratsmitglieds, wenn er seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft schuldhaft verletzt und diese dadurch einen Schaden erleidet. Die vorstehend skizzierte gesetzliche Regelung birgt die Gefahr von Interessenkonflikten in sich, weil sie die Pflichten der entsandten Aufsichtsratsmitglieder, soweit es sich um Beamte oder Angestellte einer Gemeinde handelt, verschiedenartig, ja gegensätzlich festlegt, und zwar im Verhältnis zur Gemeinde in der Weise, daß sie die Weisungen ihrer Dienstvorgesetzten zu befolgen haben, und im Verhältnis zur Gesellschaft in der Weise, daß sie allein die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen haben. Diese Gefahr von Interessenkonflikten ist bei den Vorarbeiten zum Entwurf eines neuen Aktiengesetzes in der 2. Hälfte der 20er Jahre durchaus erkannt und damals, wie der Referent im Reichsjustizministerium berichtet, auch bewußt in Kauf genommen worden 31 . Desgleichen war sich der Gesetzgeber beim Erlaß der Deutschen Gemeindeordnung der Tatsache bewußt, daß das Weisungsrecht des Bürgermeisters den einzelnen Beamten oder Angestellten in seiner Eigenschaft als entsandtes Aufsichtsratsmitglied in eine Lage bringen kann, die ihn seiner Gesellschaft gegenüber wegen Verletzung seiner Aufsichtsratspflichten schadensersatzpflichtig macht 32 . Der Gesetzgeber der Deutschen Gemeindeordnung hat dieser besonderen Konfliktlage dadurch Rechnung getragen, daß er in § 70 Abs. 3 zugunsten der entsandten Aufsichtsratsmitglieder eine Schadensfreistellungspflicht der Gemeinde begründet hat, wenn die Mitglieder sich durch Ausführung der ihnen erteilten Weisungen gegenüber ihrer Gesellschaft schadensersatzpflichtig machen. Mit dieser Bestimmung erkennt die Deutsche Gemeindeordnung an, daß die von einer Gemeinde entsandten Aufsichtsratsmitglieder besondere Pflichten gegenüber ihrer Gesellschaft haben, insbesondere die Pflicht, bei ihrer Amtsführung, in gleicher Weise wie jedes andere Aufsichtsratsmitglied, ausschließlich die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen, und daß die Ausführung von Weisungen der Gemeinde, die diese zur Wahrung ihrer eigenen Interessen erteilt, zu einer Verletzung dieser besonderen Pflichten führen kann. Das Weisungsrecht der Gemeinde in § 70 Abs. 2 D G O stellt somit die besonderen aktienrechtlichen Pflichten der von ihr entsandten Aufsichtsratsmitglieder nicht in Frage, die Schadensfreistellungspflicht gemäß § 7 0 Abs. 3 D G O erkennt diese Pflichten vielmehr ausdrücklich an und trägt ihnen in sachgerechter Weise Rechnung. Die Schadensfreistellungspflicht ist gewissermaßen der Preis, den die Gemeinde für das 31 Vgl. Schmölder J W 1930, 2627: „Daß dies - vor allem bei Behördenvertretern - zu Interessenkonflikten führen kann, muß in Kauf genommen werden." 32 Aus der Amtlichen Begründung zur Deutschen Gemeindeordnung (s. dazu oben bei Fn.23) geht das sehr deutlich hervor.

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Weisungsrecht zu zahlen hat, und sie gewährt aus der Sicht der Gesellschaft, namentlich aus der Sicht der Minderheitsaktionäre und Gläubiger, den notwendigen Ausgleich, um für diese das Weisungsrecht erträglich erscheinen zu lassen. Damit geht die Befolgung einer dienstrechtlichen Weisungspflicht nicht zu Lasten der Gesellschaft, vielmehr m u ß die Gemeinde durch ihre Freistellungspflicht den Schaden ausgleichen, der durch eine weisungsgemäße, aber für die Gesellschaft schädliche Tätigkeit eines entsandten Aufsichtsratsmitglieds entstanden ist, weil diese eine Verletzung der Sorgfaltspflicht des Aufsichtsratsmitglieds gegenüber seiner Gesellschaft ist". Diese in einem inneren Zusammenhang stehende Regelung der Deutschen Gemeindeordnung und des Aktiengesetzes 1937 erkennt somit das besondere Interesse der Gemeinde an einer Einflußnahme auf die von ihr entsandten Aufsichtsratsmitglieder an, lastet aber zugleich die etwa nachteiligen Folgen des Weisungsrechts nicht der Gesellschaft und namentlich nicht den anderen Aktionären und auch nicht den Gesellschaftsgläubigern auf. D e n n es wäre von der Sache her ungerechtfertigt, wenn dieser Personenkreis die wirtschaftlichen Einbußen, die für die Gesellschaft mit der Verfolgung öffentlicher Interessen durch Ausübung des Weisungsrechts verbunden sind, tragen müßte und nicht die Allgemeinheit, in deren Interesse eine derartige Weisung erteilt und die in einem solchen Fall durch die Gemeinde repräsentiert wird. Dabei ist es für diese Beurteilung ohne Belang, ob es sich bei der Gesellschaft um eine Eigengesellschaft handelt, deren Aktien sich allein in der H a n d einer Gemeinde befinden, um ein gemischt-öffentliches Unternehmen, dessen Aktien mehreren Gemeinden gehören, die ihrerseits gleichgerichtete öffentliche Zwecke verfolgen, oder um ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen, dem Privatpersonen und eine oder mehrere Gemeinden als Aktionäre angehören. Denn in allen diesen Fällen müssen durch die Schadensfreistellungspflicht der weisunggebenden Gemeinde die Gesellschaftsgläubiger geschützt werden, wenn durch die A u s f ü h r u n g der Weisung die Gesellschaft einen Schaden erleidet und damit für die Gläubiger ihr Zugriffs- oder Haftungsobjekt geschmälert wird. Diese Regelung ist sachgerecht, sie nimmt Gedanken des heutigen Konzernrechts vorweg und versucht auf diesem Wege die bestehenden Gegensätze zwischen den öffentlichen und privaten Interessen auszugleichen. Diese Regelung ist auch wirklichkeitsnah, weil sie einen Sachverhalt, der mit dem Entsendungsrecht eines Dienstvorgesetzten tätsächlich in der Regel verbunden ist, nämlich die Bereitschaft des Beam33 Jäckel, Die Unabhängigkeit der A b s c h l u ß p r ü f e r bei der P f l i c h t p r ü f u n g von Aktiengesellschaften, 1960, S. 147; Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen U n t e r n e h men, 1969, S. 196; vgl. dazu auch Kiefer-Schmid a. a. O . (Fn. 29), § 70 A n m . 2.

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ten oder Angestellten, etwaige Weisungen seiner Dienstvorgesetzten bei Ausübung des Aufsichtsratsamts zu befolgen54, erkennt und ihn durch Zubilligung eines Weisungsrechts in die gesetzliche Regelung aufnimmt, in der zutreffenden Erkenntnis, daß man in Fällen dieser Art die Erteilung und Befolgung von Weisungen ohnehin nicht verhindern kann. Die Zubilligung eines Weisungsrechts für die Gemeinde dient der Legalisierung eines Zustands, der sich schon in der früheren Zeit mit der tatsächlichen Ausübung eines Entsendungsrechts tatsächlich herausgebildet hatte, und ermöglicht zugleich, die Gesellschaft von den Schadensfolgen, die mit der Erteilung und der Befolgung von Weisungen verbunden sind, freizustellen. 4. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erhielt diese durch die Deutsche Gemeindeordnung und durch das Aktiengesetz 1937 gestaltete Rechtslage eine andere Rechtsgrundlage. Diese Änderung trat dadurch ein, daß sich nach Art. 70 G G die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes nur auf die Gegenstände erstreckt, für die dem Bund die Gesetzgebungsbefugnis ausdrücklich verliehen ist, und daß zu diesen Gegenständen das Kommunalrecht nicht gehört. Demgemäß konnte seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes die Deutsche Gemeindeordnung in den einzelnen Bundesländern nur noch als Landesrecht, nicht mehr als Bundesrecht weitergelten. Damit erhob sich für die Weitergeltung des §70 Abs. 2 D G O als Landesrecht die Frage, ob diese Bestimmung einen Eingriff in den Regelungsbereich des Aktienrechts darstellt, also eines Gesetzgebungsgegenstands, der zum bürgerlichen Recht gehört und nach Art. 74 N r . 1 G G ein Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ist, und daran anschließend die weitere Frage, ob das Aktienrecht durch das Aktiengesetz 1937 eine abschließende und damit die Landeskompetenz ausschließende (Art. 72 Abs. 1 GG) gesetzliche Regelung erfahren hat. Für die Beantwortung dieser Fragen ist es von Bedeutung, daß die aktienrechtlichen Bestimmungen über das Entsendungsrecht von Aktionären bei der Bestellung des Aufsichtsrats und die gemeinderechtliche Bestimmung über das Weisungsrecht der Gemeinden in einem engen sachlichen Zusammenhang zueinander stehen. Dabei bezieht sich das Weisungsrecht der Gemeinde zunächst nur auf das Innenverhältnis, auf das Rechtsverhältnis der Gemeinde zu ihren Beamten und Angestellten, erstreckt sich sodann aber auch auf die Stellung und die Amtsführung des entsandten Aufsichtsratsmitglieds selbst, das vorbehaltlich seiner Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft der Weisung seines 34

Berkemann a . a . O . (Fn.24), S.210; Nesselmüller, Rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten der G e m e i n d e n auf ihre Eigengesellschaften, 1977, S. 72; Emmerich a.a.O. (Fn. 33), S.211; auch B G H Z 36, 308 spricht von dem tatsächlichen Einfluß des Entsendungsberechtigen.

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Dienstherrn unterworfen ist. Damit greift diese gemeinderechtliche Regelung in den Regelungsbereich des Aktienrechts ein, zu dem die Vorschriften über die Aufgaben des Aufsichtsrats und die Pflichtenstellung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder innerhalb einer Aktiengesellschaft gehören. Das bedeutet, daß die Bestimmung über das Weisungsrecht der Gemeinde gegenüber den von ihr entsandten Aufsichtsratsmitgliedern seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes als Landesrecht einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung regelt. Für die Weitergeltung der Bestimmung über das Weisungsrecht der Gemeinde als Landesrecht kommt es somit darauf an, ob das Aktiengesetz 1937 diesen Bereich abschließend selbst geregelt hat und damit den Ländern insoweit die Befugnis zur Gesetzgebung nicht mehr zusteht (Art. 72 Abs. 1 G G ) . Bei der Beurteilung dieser Frage ist die Vorgeschichte entscheidend, die für die Gesetzgebung der Jahre 1935 und 1937 maßgeblich war und die im Anschluß an die Reformdiskussion in der 2. Hälfte der 20er Jahre den engen sachlichen Zusammenhang zwischen der Zubilligung des Weisungsrechts in der Deutschen Gemeindeordnung und der daran anschließenden Neuregelung des Aktienrechts im Jahre 1937 deutlich werden läßt. Hieraus muß entnommen werden, daß das Aktiengesetz 1937 die kurz zuvor getroffene Regelung über das Weisungsrecht der Gemeinde nicht berührt und in seinem Bestand nicht beeinträchtigt; es hat vielmehr insoweit von einer eigenen Regelung bewußt Abstand genommen und in dieser Hinsicht von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht. Damit stand der Weitergeltung des § 70 Abs. 2 D G O als Landesrecht nichts im Wege, so daß auch die einzelnen Bundesländer bei der Neuregelung ihres Gemeinderechts die Befugnis hatten, das Weisungsrecht gegenüber den entsandten Aufsichtsratsmitgliedern zu übernehmen oder auch in Einzelheiten anders zu regeln35. III. Der konzernrechtliche Schadensausgleich bei Einflußnahme auf die beherrschte Gesellschaft im Aktiengesetz 1965 1. Durch das Aktiengesetz 1965 erfuhr dieser Rechtszustand eine grundlegende Änderung. Zwar verblieb es nach den Bestimmungen des neuen Aktiengesetzes sachlich bei der bisherigen Regelung über das Entsendungsrecht der Aktionäre bei der Bestellung des Aufsichtsrats (vgl. § 88 AktG 1937 einerseits und §§ 101 Abs. 2, 103 Abs. 2 AktG 1965 andererseits). Die grundlegende Änderung des bisherigen Rechtszustands trat dadurch ein, daß nunmehr die aktienrechtliche Regelung über die Rechtsstellung der entsandten Aufsichtsratsmitglieder und über ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft einen ausschließlichen Charakter 35

Ebenso Nesselmüller a. a. O. (Fn. 34), S. 73 ff m. w. N.

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erhielt und eine landesrechtliche Ausnahmeregelung zugunsten von Gemeinden, die als Aktionäre von einem ihnen zustehenden Entsendungsrecht bei der Besetzung des Aufsichtsrats Gebrauch machen, nicht mehr zuläßt. Das ergibt sich aus den § § 3 9 4 , 395 A k t G 1965 und den parlamentarischen Beratungen im Wirtschafts- und sodann im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages, die zur nachträglichen Einfügung dieser Bestimmungen in das Aktiengesetz geführt haben. Dabei ist zunächst hervorzuheben, daß die gesetzliche Uberschrift über den genannten Bestimmungen „Sondervorschriften bei Beteiligung von Gebietskörperschaften" nach einer besonderen Beratung im Rechtsausschuß und aufgrund einer besonders angeforderten Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums von dem Rechtsausschuß beschlossen worden ist36 und damit für die Auslegung und für die Tragweite dieser Bestimmungen von einer besonderen Bedeutung ist. Sodann wurden in den Beratungen des Wirtschafts- und des Rechtsausschusses weitergehende Sonderrechte für öffentlich-rechtliche Körperschaften ausdrücklich abgelehnt, weil sie dem für das private Gesellschaftsrecht wesentlichen Grundsatz der Gleichbehandlung widersprächen und weil die öffentliche Hand sich anderer Rechtsformen, z. B. Anstalt oder Regiebetrieb, bedienen könne, wenn die aktienrechtlichen Vorschriften für ihre Zwecke nicht ausreichten 37 . Unter diesen Umständen muß die Auslegung der §§ 394, 395 A k t G nebst der dazugehörigen gesetzlichen Überschrift dazu führen, daß es sich hierbei um eine abschließende aktienrechtliche Regelung handelt, die weitere Sonderrechte zugunsten öffentlich-rechtlicher Gebietskörperschaften ausschließt und insbesondere auch keinen Raum mehr für eine dahingehende landesrechtliche Regelung läßt 38 . Das bedeutet, daß die landesrechtlichen Vorschriften des Gemeinderechts, die sich mit einem besonderen Weisungsrecht der Gemeinden gegenüber den von ihnen entsandten Aufsichtsratsmitgliedern befassen, ihre gesetzliche Grundlage verloren haben, weil der Bundesgesetzgeber mit dem Aktiengesetz 1965 insoweit eine abschließende und jedes Landesrecht ausschließende Regelung getroffen hat. 2. Diese für das Gemeinderecht wesentliche und auch für andere öffentliche Körperschaften bedeutsame Änderung der Rechtslage geht wohl

36 Vgl. Protokoll der 127. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 2.4.65, S. 17 und Protokoll der 128. Sitzung vom 7.4.65, S. 11. 37 Vgl. Protokoll der 121. Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages vom 25.2.65, S. 14 und der 127. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 2.4.65, S. 12 ff. 38 Im Ergebnis ebenso Nesselmüller a.a.O. (Fn.34), S. 75/76; Keese, Regierungsmitglieder als Vertreter der öffentlichen Hand in den Aufsichtsräten der öffentlichen Hand, 1969, S.69ff; Mertens, in: Kölner Kommentar, §101 Rdn.51.

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auf eine grundlegende Veränderung der allgemeinen Rechtsauffassung zurück, die mehr und mehr einer Zubilligung von Sonderrechten für öffentliche Körperschaften in diesem Zusammenhang kritisch gegenübersteht. a) So mag in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes Lindrath vor dem Deutschen Bundestag im Jahre 1958 hingewiesen werden, die sich auf eine parlamentarische Anfrage hin mit den Einwirkungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand auf die von ihr entsandten Aufsichtsratsmitglieder befaßt und die die selbständige Stellung des entsandten Aufsichtsratsmitglieds anerkennt 39 . Diese deutliche Äußerung des für das Bundesvermögen zuständigen Ministers mußte für die Bildung der allgemeinen Rechtsüberzeugung und für die Rechtspraxis - jedenfalls im Bereich des Bundes - von wesentlicher Bedeutung sein und werden. b) In dieselbe Richtung weisen Vorfälle, die sich in den Aufsichtsräten der Volkswagenwerk A G und der Veba ereigneten, in denen sich hohe Bundesbeamte (Staatssekretäre) weigerten, den Weisungen ihrer Minister Folge zu leisten, und es ablehnten, als entsandte Aufsichtsratsmitglieder in einem bestimmten Sinn abzustimmen. So wurde auf diese Weise gegen den Wunsch der Bundesregierung im Jahre 1962 eine Preiserhöhung beim Volkswagenwerk durchgesetzt und bei der Bestellung des Vorstands in der Veba eine Weisung des zuständigen Ministers nicht befolgt 40 . Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder rechtfertigen ihr Verhalten mit dem Bemerken, sie seien als Aufsichtsratsmitglieder unabhängig und nur dem Wohl des Unternehmens verpflichtet. c) Auch die landesrechtlichen Gemeindegesetze haben dieser geänderten Rechtslage, wie sie das Aktiengesetz 1965 dann herbeigeführt hat, vielfach Rechnung getragen. Während noch in einigen Gemeindeordnungen an dem alten Weisungsrecht des Bürgermeisters ohne Einschränkungen festgehalten wird 41 , haben andere Gemeindeordnungen davon Abstand genommen, ein Weisungsrecht des Bürgermeisters in ihre

59 Die Äußerung Lindraths lautet: „Das Aufsichtsratsmitglied hat nach den Vorschriften des Aktienrechts das Wohl der Gesellschaft wahrzunehmen. Steht diese Wahrnehmung nicht im Einklang mit der Politik der Bundesregierung, dann kann diese das Aufsichtsratsmitglied abberufen und ein neues bestellen. Weiteren Einfluß geltend zu machen, ist nicht möglich. So ist die Rechtslage." (Stenografischer Bericht des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, 30. Sitzung vom 12.6.58, S. 1641). 40 Vgl. dazu im einzelnen Reese a. a. O. (Fn. 38), S. 65 ff. 41 Vgl. § 1 2 5 Abs. 2 der Hessischen Gemeindeordnung vom 2 5 . 2 . 5 2 i . d . F . der Bekanntmachung vom 1 . 7 . 6 0 ; §§104 Abs. 2, 25 der Gemeindeordnung für SchleswigHolstein vom 11.11. 77.

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Regelung aufzunehmen 42 , und andere haben die Bindung an eine Weisung des Bürgermeisters nur zugelassen, soweit nicht Bestimmungen des Gesellschaftsrechts entgegenstehen 43 . 3. Die Bedeutung des Aktiengesetzes 1965 besteht in diesem Zusammenhang nicht nur darin, daß es den landesrechtlichen Sondergesetzen für ein Weisungsrecht des Bürgermeisters die gesetzliche Grundlage entzogen, sondern vor allem auch darin, daß es für ein solches Weisungsrecht im Rahmen des nunmehr geregelten Konzernrechts eine neue allgemeine Regelung getroffen hat. Damit trägt das Aktiengesetz 1965 dem besonderen Anliegen des Gesetzgebers Rechnung, im Interesse der Gleichbehandlung über die Bestimmungen der §§ 394, 395 hinaus keine weiteren Sonderrechte für öffentliche Körperschaften zu schaffen44. Die Aufgabe des Konzernrechts besteht darin, in konzernbeherrschten Gesellschaften die sog. konzernfreien Aktionäre sowie die Gesellschaftsgläubiger vor Maßnahmen zu schützen, die von dem herrschenden Unternehmen ausgehen und die für das abhängige Unternehmen von Nachteil sind. Solche besonderen konzernrechtlichen Schutzvorschriften sind notwendig, weil die allgemeinen Vorschriften des Aktienrechts, die die Eigenverantwortung und Pflichtgebundenheit der Gesellschaftsorgane, des Vorstands und des Aufsichtsrats, im Interesse des Unternehmens sichern (§§76, 93, 111 AktG), im Konzern weitgehend wirkungslos sind45. Denn es entspricht einer allgemeinen Erfahrung, daß sich in einem Konzern der Einfluß des herrschenden Unternehmens auf die Geschäftsführung des abhängigen Unternehmens tatsächlich durchsetzt und dabei vielfach den besonderen Interessen des herrschenden Unternehmens zu Lasten des abhängigen Unternehmens der Vorrang gegeben wird. Angesichts dieses Sachverhalts ist es die Aufgabe des Konzernrechts, die konzernfreien Gesellschafter und die Gesellschaftsgläubiger eines abhängigen Unternehmens gegen die Folgen fremdbestimmter wirtschaftlicher Macht von Seiten des herrschenden Unternehmens zu schützen, wie sie sich rechtlich oder rein tatsächlich auf die Leitung des abhängigen Unternehmens auswirkt.

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Vgl. § 105 Abs. 1 Satz 3 der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg vom 25.7.52 i.d. F. der Bekanntmachung vom 22.12.75; §111 der Niedersächsischen Gemeindeordnung vom 18.10.77: In diesen Fällen nur Weisungsrecht für Vertretung in der Gesellschafterversammlung; §88 der Gemeindeordnung für das Land NordrheinWestfalen vom 1.10. 79; §93 Abs. 1 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern vom 31.5. 78: N u r Weisungen bei Beschlüssen über Kreditaufnahme. 43 Vgl. §88 Abs. 3 der Gemeindeordnung für Rheinland-Pfalz vom 4.12.73; §110 Abs. 3 des Kommunalgesetzes für das Saarland vom 1. 9. 78. 44 Vgl. B G H Z 69, 334, 340. 45 Zöllner JuS 1968, 298.

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Das Konzernrecht nimmt die weitgehenden Einflußmöglichkeiten (Einflußnahmen), die das herrschende Unternehmen auf die Geschäftsführung des abhängigen Unternehmens hat, in seine Regelung auf und erkennt sie damit auch von Rechts wegen an. Dabei gehören zu solchen Einflußmöglichkeiten namentlich Weisungen, die von den Organen des herrschenden Unternehmens an Organe des abhängigen Unternehmens erteilt werden und denen durch die konzernrechtliche Regelung unter bestimmten Voraussetzungen bindende Wirkung beigelegt wird. Im einzelnen unterscheidet das Gesetz bei den Fragen, wie weit ein solches Weisungsrecht gegenüber dem abhängigen Unternehmen reicht und in welcher Weise das herrschende Unternehmen für die Ausübung des Weisungsrechts haftet, danach, ob ein Beherrschungsvertrag geschlossen ist oder nicht, mit anderen Worten, ob ein vertraglicher Konzern oder ob ein sog. faktischer Konzern vorliegt. 4. Für die Anwendung der konzernrechtlichen Vorschriften auf Eigengesellschaften der öffentlichen Hand und der gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist es zunächst von Bedeutung, daß insoweit nur die Anwendung der §§311 ff AktG über die Verantwortlichkeit eines herrschenden Unternehmens bei Fehlen eines Beherrschungsvertrags in Betracht gezogen werden kann. Denn in Fällen dieser Art wird man ganz allgemein davon ausgehen können, daß die öffentliche Hand keine Beherrschungsverträge mit den von ihr abhängigen Unternehmen unter Beachtung der für Unternehmensverträge geltenden Bestimmungen (§§293 ff AktG) abschließt46. Des weiteren kommt es hier für die Anwendung der konzernrechtlichen Vorschriften darauf an, ob eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, insbesondere eine Gebietskörperschaft, eine Gemeinde, ein Bundesland oder die Bundesrepublik selbst, ein Unternehmen im Sinn des Rechts der verbundenen Unternehmen (§§ 15 ff AktG) und damit ein herrschendes Unternehmen (§17 Abs. 1 AktG) sein kann. Diese Frage ist im Schrifttum lange Zeit außerordentlich streitig gewesen-und auch in der Unternehmenskommission hat man sich über diese Frage nicht einigen 46 Dieser Auffassung entspricht es, daß im Schrifttum insoweit immer nur von einer Anwendung der §§311 ff AktG gesprochen wird: vgl. etwa Pagenkopf, Kommunalrecht Bd. 2, 2. Aufl. 1976, S. 184; Nesselmüller a . a . O . (Fn. 34), S. 116 f, 118 f; Lutter-Timm BB 1978, 838 ff; Karsten Schmidt ZGR 1981, 461, 462; Emmerich a . a . O . (Fn. 33), S.227ff; wenn Emmerich S. 229 in diesem Zusammenhang auch den Vertragskonzern erwähnt, so soll damit ersichtlich nur gesagt werden, daß die öffentliche Hand auch einen Beherrschungsvertrag abschließen könnte. In dieselbe Richtung weist das Rundschreiben des Bundesministers der Finanzen vom 10.7.78 (MinBl. Fin. 1978, 314 ff), das dieser im Anschluß an die Entscheidung B G H Z 69, 334 erlassen hat. Unter Tz. 47 dieses Rundschreibens heißt es: „Es sollte von der Geltung der §§311, 317 AktG ausgegangen werden."

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können 47 . Immerhin wird man diese Frage nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 13. Oktober 1977 48 , der die Frage bejaht hat, für die Rechtspraxis 49 , aber angesichts der weitgehenden Zustimmung, die die Entscheidung im Schrifttum gefunden hat 50 , auch für die Rechtswissenschaft als geklärt ansehen müssen. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes ist es für die Anwendung einzelner Vorschriften aus dem Bereich der §§ 311 ff A k t G entscheidend, ob die in Frage stehende Vorschrift nach ihrem Zweck Minderheiten 51 gegen die Folgen fremdbestimmter Macht, wie sie bei Unternehmensverflechtungen typischerweise anzutreffen sind, schützen soll. Eine solche Konfliktlösung durch Anwendung aktienrechtlicher Schutzvorschriften kann auch gegenüber der öffentlichen Hand geboten sein, wenn sich diese nämlich privatrechtlich in einem Umfang betätigt, daß sich hieraus für private Aktionäre die Gefahr ergibt, daß das Interesse der Gesellschaft und damit ihre eigenen Interessen einem fremden Unternehmensziel aufgeopfert werden. Der Bundesgerichtshof hat unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt eine Anwendung des § 320 Abs. 5 Satz 3 A k t G auch bei der öffentlichen Hand bejaht, weil diese Bestimmung zu der Gruppe von Vorschriften gehört, die vor allem Minderheitsaktionäre (und gegebenenfalls auch Gläubiger) vor den Gefahren schützen soll, die ihnen durch eine Beherrschung ihrer Gesellschaft von außen her drohen. Dieselbe Beurteilung ist bei der Frage nach einer Anwendung des § 3 1 1 A k t G geboten; auch bei § 3 1 1 A k t G handelt es sich um eine Vorschrift, die typischerweise Minderheitsaktionäre und Gläubiger vor der Gefahr fremdbestimmter wirtschaftlicher Machtausübung durch ein herrschendes Unternehmen schützen soll52. 5. Die Anwendung des §311 A k t G auf Eigengesellschaften und gemischtwirtschaftliche Unternehmen, bei denen die öffentliche Hand ihre tatsächliche Leistungsmacht in einem solchen Unternehmen durch Weisungen oder sonstige Einflußnahmen ausnutzt, besagt nicht etwa, daß der Weisungsempfänger die ihm erteilte Weisung befolgen muß, daß also die Weisung für ihn verbindlich ist (so § 308 Abs. 2 A k t G für den 47 Vgl. Bericht über die Verhandlungen der Unternehmensrechtskommission, herausgegeben vom Bundesminister der Justiz 1981, Tz. 1441 ff. , s B G H Z 69, 334. 49 Vgl. insoweit auch das oben (Fn. 46) genannte Rundschreiben des Bundesministers der Finanzen vom 10.7.78, das die Bundesbehörden anweist, die Grundsätze dieser Entscheidung zu beachten. 50 Lutter-Timm BB 1978, 836; Borggräfe Betr. 1978, 1433; Emmerich JuS 1978, 202; Koppensteiner ZGR 1979, 91; vgl. aber auch Zöllner AG 1978, 40; Wiedemann Gesellschaftsrecht Bd. 1, S. 129/130. 51 Das gilt nicht nur für Minderheitsaktionäre, sondern auch für Gesellschaftsgläubiger. 52 Lutter-Timm BB 1978, 840.

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Vorstand als Weisungsempfänger beim sog. Vertragskonzern). Vielmehr bleibt im faktischen Konzern die Selbständigkeit und die Eigenverantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat bestehen. Das Gesetz läßt es aber zu, daß die Organe der abhängigen Gesellschaft die Weisungen freiwillig befolgen, und zwar selbst dann, wenn das herrschende Unternehmen das abhängige Unternehmen auf diesem Wege zu ihm nachteiligen Geschäften oder Maßnahmen veranlaßt. Voraussetzung für die Befolgung solcher Weisungen ist jedoch stets, daß das herrschende Unternehmen die Nachteile ausgleicht, die dem abhängigen Unternehmen durch die freiwillige Befolgung der erteilten Weisungen oder sonstiger Einflußnahmen entstehen. Damit beugt das Gesetz in geeigneter Form den Gefahren vor, die dem abhängigen Unternehmen aus der Ausübung tatsächlicher Leitungsmacht drohen; denn in Fällen dieser Art wird jedes Verwaltungsmitglied einer abhängigen Gesellschaft allzu leicht geneigt sein, solchen Einwirkungen des herrschenden Unternehmens unbeschadet ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit nachzukommen 53 . Damit wird die Tatsache, daß auch ohne einen Beherrschungsvertrag Konzernleitungsmacht ausgeübt werden kann und ausgeübt wird, rechtlich anerkannt und daraus die notwendigen rechtlichen Folgen gezogen. Die Ausübung solcher Leitungsmacht wird nicht unterbunden, sondern sie wird vielmehr durch die gesetzliche Regelung hingenommen, sofern die für das abhängige Unternehmen entstehenden Nachteile ausgeglichen werden 54 . D a der Gesetzgeber ausdrücklich davon abgesehen hat, über die Vorschriften der § § 3 9 4 , 395 A k t G hinaus Sondervorschriften bei der Beteiligung von Gebietskörperschaften, etwa im Hinblick auf die von ihnen verfolgten öffentlichen Zwecke, zu erlassen, sondern insoweit dem Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung Raum gibt 55 , ist es auch nicht möglich, bei einem öffentlichen Unternehmen mit Rücksicht auf die ihm obliegenden öffentlichen Aufgaben von einer Anwendung des §311 A k t G abzusehen 56 . Denn die Verfolgung solcher öffentlicher Zwecke kann nicht einseitig zu Lasten einzelner Aktionäre oder Gläubiger vorgenommen werden, wie das bereits der Gesetzgeber bei Erlaß der Deutschen Gemeindeordnung zutreffend erkannt hat57. In dieser Beurteilung bewährt sich „der rechtsstaatliche Gehalt des Privatrechts" 58 , dem nach heutiger Rechtsauffassung ein besonderes Gewicht zukommt 53 Vgl. dazu Biedenkopf-Koppensteiner Kölner Komm., §311 Rdn. 1; Adler-DiiringSchmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl. Tz. 30, 32. 54 Vgl. dazu Gessler-Hefermehl Komm. AktG, § 3 1 1 Rdn. 28. 55 Vgl. oben Fn. 36. 56 Dazu neigt wohl Wiedemann a . a . O . (Fn.50) m . w . N . 57 Vgl. oben F n . 3 3 . 5 » Emmerieb a. a. O . (Fn. 33), S. 233.

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und der in der Ausformung des bereits in § 75 Einl. Pr. ALR anerkannten Rechtsgedankens durch die Rechtsprechung 59 allgemeine Anerkennung gefunden hat. Danach ist der einzelne Minderheitsaktionär oder Gesellschaftsgläubiger nicht genötigt, ein Sonderopfer auf sich zu nehmen, das ihm die öffentliche Hand als herrschendes Unternehmen durch eine nachteilige Einflußnahme auf die Verwaltungsmitglieder seines abhängigen Unternehmens im öffentlichen Interesse aufbürdet. Die öffentliche Hand ist vielmehr gehalten, die von ihr veranlaßten Nachteile beim abhängigen Unternehmen wieder auszugleichen und damit die Minderheitsaktionäre und Gesellschaftsgläubiger des abhängigen Unternehmens vor Schäden durch Ausübung der tatsächlichen Konzernleitungsmacht zu bewahren. IV. Zusammenfassung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß im Verlauf der letzten 100 Jahre seit der Aktiennovelle 1884 das Entsendungs- und Weisungsrecht öffentlicher Körperschaften bei der Bestellung und der Amtsführung des Aufsichtsrats sich im Grunde folgerichtig ohne inneren Widerspruch entwickelt und ausgebildet hat, nachdem sich in der Rechtspraxis herausgestellt hatte, daß das gesetzliche Verbot eines solchen Entsendungs- und Weisungsrechts nicht durchzusetzen ist. Die gesetzliche Anerkennung des Entsendungsrechts vollzog sich unter Wahrung des Gleichheitssatzes in der Weise, daß hierbei kein Unterschied zwischen der öffentlichen Hand und privaten Aktionären gemacht wurde, wenngleich das besondere Bedürfnis der Gemeinden an einer solchen Anerkennung den wesentlichen Anstoß für die neue gesetzliche Regelung gegeben hatte. Dagegen ist die gesetzliche Anerkennung eines besonderen Weisungsrechts zugunsten der Gemeinden zunächst auf diese beschränkt geblieben und hat zu Unklarheiten über die Bedeutung und Tragweite dieses Weisungsrechts geführt, die noch heute insoweit im Schrifttum in der Zubilligung eines besonderen Privilegs für die öffentliche Hand nachklingen 60 . Allein die praktische Bedeutung dieses Privilegs war für die betroffene Gesellschaft ohne besonderes Gewicht, weil das Privileg mit einer Freistellungspflicht der Gemeinden für Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen die von der Gemeinde entsandten Aufsichtsratsmitglieder verbunden war. Mit dieser Freistellungspflicht der Gemeinde hat der Gesetzgeber in zutreffender Weise die Lasten des Weisungsrechts dieser aufgelastet und insoweit von den übrigen Gesellschaftern und den Gesellschaftsgläubigern kein Sonderopfer im öffentli59 60

Vgl. dazu B G H Z 60, 304 mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen. Vgl. Fn. 56.

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chen Interesse verlangt. Bei diesem Rechtszustand verblieb es auch unter der Geltung des Grundgesetzes, soweit das Landesrecht in den neuen Gemeindeordnungen das Weisungsrecht und damit verbunden die Freistellungspflicht der Gemeinde übernommen hat. Mit dem Aktiengesetz 1965 fand diese Entwicklung ihren Abschluß; Entsendungs- und Weisungsrecht fanden nunmehr für alle Aktionäre - also kein Sonderrecht mehr für die öffentliche Hand - eine allgemeine aktienrechtliche Regelung, die an dem Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung aller Aktionäre ausgerichtet war und in dem neuen Konzernrecht ihre gesetzliche Grundlage erhielt. Im Konzernrecht fand das Weisungsrecht eine besondere gesetzliche Regelung, wobei für die öffentliche Hand praktisch die Vorschriften über den faktischen Konzern allein von Bedeutung sind. Das bisherige Weisungsrecht der Gemeinde wurde für den Bereich des faktischen Konzerns abgeschwächt, indem es nicht mehr eine ausdrückliche gesetzliche Anerkennung erfuhr, sondern rechtlich hingenommen wird, sofern der Nachteil solcher Weisungen bei dem beherrschten Unternehmen ausgeglichen wird. Damit blieb der Grundgedanke der bisherigen Regelung — nämlich ein Weisungsrecht nur für den Fall einer Freistellung der Gesellschaft von den mit der Weisung verbundenen Schäden - erhalten, und zwar in der zutreffenden Erkenntnis, daß niemandem ohne Entschädigung ein Sonderopfer im öffentlichen Interesse aufgelastet werden darf. Dabei hat die Regelung im Aktiengesetz 1965 den Vorteil, daß sie für alle Aktionäre gilt und dadurch der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung auch insoweit im Aktiengesetz gewahrt bleibt.

18. Die Verantwortung des Aufsichtsrats bei Interessenkollisionen* Der Aufforderung des Dekans der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Mannheim, auf der akademischen Gedächtnisfeier für Konrad Duden einen Vortrag über ein aktienrechtliches Thema zu halten, bin ich sehr gern nachgekommen. Mich haben schon seit der Mitte der 50er Jahre freundschaftliche Beziehungen mit Konrad Duden verbunden, als ich mit ihm in verschiedenen Schiedsgerichtsverfahren als Schiedsrichter eng zusammengearbeitet habe. Ich habe damals nicht nur den persönlichen Charme dieser Persönlichkeit nachhaltig empfunden, sondern vor allem auch sein unbestechliches Gerechtigkeitsempfinden mit seinem menschlichen Verständnis für wirtschaftliche und soziale Belange. Später haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Schon die räumliche Nähe von Mannheim/Heidelberg und Karlsruhe gab dafür immer wieder Gelegenheit, so in der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe, deren Vorstand er lange Jahre ebenfalls angehörte, oder auch in der Vereinigung für den Gedankenaustausch zwischen deutschen und italienischen Juristen. Seine letzte wissenschaftliche Arbeit ist wohl sein Beitrag in der mir gewidmeten Festschrift gewesen, deren Erscheinen er nicht mehr erleben und für den ich ihm meinen Dank nicht mehr sagen konnte. So mag denn jetzt dieser Vortrag meinem Dank für seinen Beitrag Ausdruck geben, der Vortrag, der sich ebenso wie sein Beitrag in meiner Festschrift mit der Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft befaßt. I. Die gesetzliche Ausgestaltung des Aufsichtsratsamts in den Vorschriften der §§95/116 AktG und vor allem die tatsächliche Handhabung dieser Vorschriften in der Praxis fördern Interessenkollisionen in diesem Bereich in einem besonderen Maß. Das nötigt in einer Zeit wie der heutigen, die unverkennbar eine verstärkte Neigung zeigt, Verantwortung für Fehlverhalten im Wirtschaftsleben zu aktualisieren und die sich daraus ergebenden Haltungsfolgen zu realisieren, in erhöhtem Umfang zur kritischen Aufmerksamkeit gegenüber diesem Phänomen. * A u s : In Memoriam Konrad Duden. Theorie und Praxis im Wirtschaftsrecht. Akademische Gedächtnisfeier der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Mannheim am 15.Mai 1981. Mit Beiträgen von Wolfgang Frisch u . a . - Bibliographisches Institut, Mannheim, 1982, 55-75.

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Fragt man sich, wodurch diese Interessenkollisionen bei der Ausübung des Aufsichtsratsamts bedingt sind und gefördert werden, so kommen dafür zunächst zwei Umstände besonderer Art in Betracht, die diesem Amt eigen sind. Einmal die Tatsache, daß die Aufsichtsratstätigkeit vom Gesetzgeber als eine berufliche Nebentätigkeit konzipiert ist, und sodann die weitere Tatsache, daß in der Praxis als Mitglieder des Aufsichtsrats vielfach solche Personen ausgewählt werden, die mit ihrem Hauptamt in geschäftlichen Beziehungen zu dem Unternehmen stehen und deshalb auch in der Lage sind, dem Unternehmen durch ihren Rat oder auf andere vielfältige Weise Hilfe zu leisten. Diese Interessenverflechtung zwischen dem Hauptamt des Aufsichtsratsmitglieds und seinem Nebenamt als Aufsichtsratsmitglied und häufig auch weiterer Aufsichtsratsämter ist die hauptsächliche Ursache für die Interessenkollisionen, die - so gesehen - als eine unvermeidbare Folge der heute praktisch gehandhabten Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder erscheinen. Verstärkt wird die Möglichkeit für solche Interessenkollisionen noch durch eine besondere Pflicht, die der Vorstand dem Aufsichtsrat gegenüber zu erfüllen hat, nämlich die Pflicht, dem Aufsichtsrat uneingeschränkt Auskunft über die Geschäftsvorfälle zu geben und ihm gegenüber dabei auch die Geschäftsgeheimnisse zu offenbaren. Das führt angesichts der vorliegenden Interessenverflechtungen zu einer möglichen Gefährdung des Unternehmens, die durch die Schweigepflicht der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder erfahrungsgemäß nicht immer gebannt werden kann. Bei dieser Sachlage ist es zutreffend, wenn Marcus Lutter von einer „besonderen, durchaus konfliktfördernden Sondersituation in den Aufsichtsräten" spricht 1 . Für eine rechtliche Beurteilung dieser Interessenkollisionen ist es notwendig, die Auswahlkriterien für die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern, wie sie sich im Laufe einer langen Entwicklung herausgebildet haben, und die dafür maßgeblichen Gründe einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Bei diesen Auswahlkriterien steht die ursprüngliche gesetzliche Aufgabe des Aufsichtsrats, den Vorstand in seiner leitenden Geschäftstätigkeit zu kontrollieren, keineswegs im Vordergrund; vielmehr sind für diese Kriterien Gesichtspunkte maßgebend, die auf eine andere Aufgabe des Aufsichtsrats hinweisen, die für die Praxis seit langem eine besondere Bedeutung besitzt und die im Laufe der Zeit allerdings auch einen gewissen Wandel erfahren hat. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die sich zunächst praeter legem vollzogen hat und die das Aufsichtsratsamt, wie es heute im Wirtschaftsleben Gestalt angenommen hat und weitgehend gehandhabt wird, entscheidend geprägt hat. 1

Marcus Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 1979, S.98.

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Schon seit der Jahrhundertwende wurde in der Praxis bei den großen Gesellschaften eine wesentliche Aufgabe des Aufsichtsrats darin gesehen, beratend und helfend dem Vorstand zur Seite zu stehen 2 . Demzufolge wurde bei der Bestellung zum Mitglied des Aufsichtsrats darauf geachtet, daß die Mitglieder die persönlichen und fachlichen Fähigkeiten zur Erfüllung gerade dieser Aufgabe aufweisen. Daraus entwickelte sich weitgehend die Übung, bestimmte Personengruppen in den Aufsichtsrat zu berufen, und zwar neben etwaigen Großaktionären namentlich Vertreter der Haus- und Emissionsbanken sowie solche Personen, die infolge ihrer Kenntnisse oder geschäftlichen Verbindungen dem Unternehmen nützlich sein können, z . B . ehemalige Vorstandsmitglieder, Geschäftsfreunde oder auch technische oder juristische Sachverständige3. Diese Entwicklung bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder wurde gefördert durch die Meinung, dem Aufsichtsrat sei es im Grunde nicht möglich, die ihm gesetzlich zugewiesene Aufgabe einer umfassenden Kontrolle des Vorstands bei der Leitung des Unternehmens zu erfüllen 4 , und durch die weithin verbreitete Uberzeugung, der Aufsichtsrat stelle als Überwachungsorgan „ein ungelöstes Problem der Unternehmensführung" 5 dar. Dieser Übung entsprach es, daß die Vorstellung des Gesetzgebers auf den Aufgaben des Aufsichtsrats, die Interessen der Aktionäre gegenüber dem Vorstand wahrzunehmen 6 , sich in der Praxis im allgemeinen nicht durchsetzten und daß sich der Aufsichtsrat nicht zu einem neutralen Überwachungsorgan entwickeln konnte 7 . Er verblieb vielmehr innerhalb der Interessenverflechtung, die mit der Auswahl und der Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder geknüpft wurde, sei es, daß der Aufsichtsrat zum Interessenorgan des (der) Großaktionärs (e) wurde, sei es, daß er in 2 Vgl. statt anderer Riesser, Verhandlungen des 28. Deutschen Juristentags (1906), Bd.3, S.216: „der Aufsichtsrat der treue Berater der A G " ; Walther Rathenau, Vom Aktienwesen, 1918, S.20: „Die Tätigkeit des Mitglieds ist vorwiegend eine gutachtliche und beratende; sie erfordert Erfahrung und Autorität."; Albert Pinner, Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentags (1926), Bd. 2, S.647: „im wesentlichen ist er Berater und Wegweiser des Vorstands". 3 Vgl. dazu W. Rathenau, a . a . O . (Anm.2), S. 16; Richard Passow, Die Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1922, S. 416 ff; Julius Lehmann, Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentags (1926), Bd. 1, S. 290; A. Pinner, ebd., Bd. 2, S.645. 4 R. Passow, a . a . O . (Anm. 3), S.441, 443; Riesser, a . a . O . (Anm.2), S.214; J. Lehmann, a . a . O . (Anm. 3), S. 300; A. Pinner, a . a . O . (Anm.2), S. 648 ff; Hugo Horrwitz, Festschrift für Albert Pinner, 1932, S.447, bemerkt dazu: „Die Erkenntnis, daß die dem Aufsichtsrat in § 246 H G B auferlegte allgemeine Uberwachungspflicht eine lebensfremde Unmöglichkeit sei, hat sich fast allgemein durchgesetzt." 5 Rudolf Wiethölter, Interessen und Organisation der Aktiengesellschaft, 1961, S.270. 6 Vgl. Begründung zur Aktiennovelle - RT 1884 Drucks. Nr. 21 S. 139; ebenso KGJ 32, 136. 7 Klaus Hopt, Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, 1975, S. 138.

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den großen Publikumsgesellschaften unter den maßgeblichen und entscheidenden Einfluß des Vorstands geriet8. Das hatte zur Folge, daß er sich zu einem „Herrschafts- oder Hilfsorgan der Verwaltung", nicht aber zu einem Vertretungsorgan der Aktionäre herausbildete9 und daß seine Tätigkeit in „einer besonderen, durchaus konfliktfördernden Sondersituation" 10 verhaftet blieb. Aus dieser Sicht ist der Ausspruch Mestmäckers aus dem Jahr 1958 verständlich und zutreffend, nämlich daß „der Aufsichtsrat . . . zum Spiegelbild der verschlungenen Geschäftsbeziehungen des Unternehmens" geworden sei". Gegenüber dieser Auffassung, die die tatsächliche Wirksamkeit des Aufsichtsrats im Wirtschaftsleben weitgehend bestimmt hat und noch bestimmt, verblieb der Gesetzgeber zunächst bei seiner Vorstellung, daß der Aufsichtsrat die Leitung des Unternehmens durch den Vorstand zu kontrollieren und dabei die Interessen der Aktionäre und auch die der Gläubiger 12 zu vertreten habe. Mit der Einführung der Pflichtprüfung durch unabhängige Wirtschaftsprüfer im Jahr 1931 verschoben sich jedoch ganz allmählich die Gewichte bei den Funktionen des Aufsichtsrats. Der Zweck dieser gesetzlichen Änderung bestand nach den Vorstellungen des Gesetzgebers an sich nur darin, die lediglich nebenberuflich tätigen und zur Ausübung der Kontrolle fachlich vielfach nicht vorgebildeten Aufsichtsratsmitglieder mit ihrer Kontrolltätigkeit in einem wichtigen Punkt zu entlasten und dadurch vor allem die Wirksamkeit dieser Kontrolle durch Einschaltung von fachlich geeigneten, hauptberuflich tätigen und namentlich auch unabhängigen Wirtschaftsprüfern im Interesse der Aktionäre und der Gesellschaftsgläubiger zu verstärken. Diese Entlastung des Aufsichtsrats führte im Laufe der Zeit aber auch zu einer Änderung der Auffassung des Gesetzgebers von dem Inhalt der Kontrollaufgaben, die dem Aufsichtsrat als Überwachungsorgan der Gesellschaft obliegen. Nunmehr wurde in zunehmendem Maß die Bedeutung einer beratenden Teilnahme an der Geschäftsführung für die Effizienz einer besonderen Kontrolle der Geschäftsführung erkannt, die allmählich zur hauptsächlichen Aufgabe des Aufsichtsrats wurde. Die Kontrolle des Vorstands nach Art der Tätigkeit eines Rechnungshofs, also die nachträgliche Prüfung und die rückblickende Beurteilung der Geschäftsführung des Vorstands, wurde die eigentliche Aufgabe der unabhängigen Wirtschaftsprüfer, während für die Kontrollaufgaben des Aufsichtsrats der innere sachliche Zusammenhang von Kontrolle und R. Wiethölter, a.a.O. (Anm.5), S.303. * Ernst-Joachim Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 96; vgl. auch Hans Würdinger, Aktien- und Konzernrecht, 2. Aufl. 1966, S. 128 f. 10 Vgl. oben Anm.l. 11 A . a . O . (Anm.9), S.91. 12 So schon RGZ 48, 44 f. 8

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Beratung des Vorstands ein zunehmendes Gewicht erhielt; dabei wurde vom Gesetzgeber anerkannt, daß diese beiden Tätigkeiten, Kontrolle und Beratung, nicht unabhängig voneinander sind, nicht nebeneinander stehen, sondern eng miteinander verwoben sind. Neben der nachträglichen Kontrolle der Geschäftsvorfälle durch Prüfung des Jahresabschlusses von Seiten der Wirtschaftsprüfer erhielten die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats mit ihrem hauptsächlich vorbeugenden Charakter sowie - als ein sehr wesentlicher Bestandteil der Uberwachungspflicht die Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat ihre entscheidende Bedeutung 13 . Damit wird eine schon früh gewonnene Erkenntnis wieder aufgegriffen und für die heutige Beurteilung der Aufgaben des Aufsichtsrats nutzbar gemacht, nämlich eine Erkenntnis, die bereits in der Allgemeinen Begründung zur Aktiennovelle 1884 ihren Niederschlag gefunden hatte: „Ein Organ, welches der Verwaltung und dem Geschäftsbetrieb völlig fern steht, kann in dieselben einen Einblick nur schwer gewinnen, und wird seine Aufgabe meist auf die formale Geschäftsführung . . . beschränken, deshalb aber kaum in der Lage sein, Mißgriffen oder betrüglichen Handlungen des Vorstands rechtzeitig vorzubeugen" 1 4 . Diese Erkenntnis, daß die Überwachung des Aufsichtsrats schon bei der Entscheidungsvorbereitung einsetzen muß 15 , ist die Grundlage der heutigen gesetzlichen Regelung. So kann nach § 111 Abs. 4 Satz 2 A k t G die Vornahme bestimmter Geschäfte an die Zustimmung des Aufsichtsrats gebunden werden; damit wird dem Aufsichtsrat zum Zweck der Überwachung ein unmittelbarer Einfluß auf die Geschäftsführung eingeräumt. Eine ähnliche Bedeutung hat die Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 Nrn. 1 und 4 A k t G (vgl. dazu auch § 90 Abs. 2 Nr. 4 A k t G ) , die dem Aufsichtsrat Gelegenheit geben soll, vor dem Vollzug bedeutsamer Geschäftsmaßnahmen zu diesen Stellung zu nehmen und damit nötigenfalls vorbeugend tätig zu werden 16 . Diese nunmehr auch gesetzlich vollzogene Verlagerung bei der Gewichtung der Aufgaben des Aufsichtsrats zu einer vorbeugenden Überwachung mit einer entsprechenden Beratungspflicht gegenüber dem Vorstand hat den Aufsichtsrat auch nach den Vorstellungen des " Dazu Ernst Geßler / Wolfgang Hefermehl / Ulrich Eckardt / Bruno Kropff, Komm. AktG, § 111 Rdn. 26, 36; ferner Hans-Joachim Mertens, Kölner Komm. AktG, Rdn. 2 vor §95; ähnlich auch schon Baumhach/Hueck, Komm. AktG, 13. Aufl. 1968, §111 Rdn. 5, 7; ferner Gustav Saage, Handbuch des Aufsichtsrats, 2. Aufl. 1977, S.413. 14 Verhandlungen des Reichstags 1884, 3. Band, S.289. 15 Dazu H.-J. Mertens, a.a.O. (Anm. 13). 16 Dazu M. Lutter, a . a . O . (Anm. 1), S. 8: „Hier wird deutlich, daß der Aufsichtsrat nicht nur .Kontrolleur' des Vorstands ist, sondern vor allem auch sein institutioneller Ratgeber. Dazu aber muß er im Unternehmen ausreichend informiert sein."

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Gesetzgebers in eine größere Nähe zu dem Vorstand gerückt als das bisher nach dem gesetzlichen Leitbild der Fall gewesen war. Diese Entwicklung wurde noch dadurch verstärkt, daß heute eine unbeschränkte Auskunftspflicht des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat allgemein anerkannt wird, um der vorbeugenden Überwachung im Interesse der Aktionäre und im Interesse der Gesellschaftsgläubiger die gewünschte Effizienz zu geben. Das alles hat dazu geführt, daß die potentielle, aber auch die aktuelle Gefährdung des Unternehmens durch Interessenverflechtungen, die bei der Auswahl der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder geknüpft werden, eine immer stärkere Bedeutung erhielt und für die Öffentlichkeit immer mehr sichtbar wurde. Die Wirksamkeit des Aufsichtsrats ist in einer besonderen Weise davon abhängig, daß die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder bei einer Verletzung ihrer Pflichten zur Verantwortung gezogen werden können und damit nicht sorglos ihres Amtes walten. Damit gewinnt die Sorgfaltspflicht und die Haftung des Aufsichtsrats für die Wirksamkeit seiner Kontrolle, für seine vorbeugende Überwachungs- und Beratungspflicht eine wesentliche Bedeutung. Denn erst diese Haftung stellt sicher, daß die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgabe ernst nehmen und damit ihrerseits als Kontrollorgan vom Vorstand ernst genommen werden. Für die Wirksamkeit dieser Haftung kommt es auf zwei Voraussetzungen an, nämlich auf den Umfang ihrer Aufgaben, für deren ordnungsgemäße Erfüllung sie einzustehen haben, sowie auf den Sorgfaltsmaßstab, der für die Annahme einer schuldhaften Verletzung ihrer Pflichten maßgeblich ist. Was den Umfang der Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats im allgemeinen anlangt, so darf dieser nach den langjährigen Erfahrungen nicht überspannt werden, um nicht von vornherein von den einzelnen Mitgliedern des Aufsichtsrats Unmögliches zu verlangen und damit die tatsächlichen Gegebenheiten des Lebens außer acht zu lassen. Namentlich ist in dieser Hinsicht zu beachten, daß der Gesetzgeber selbst das Amt des Aufsichtsrats als ein Nebenamt konzipiert und damit zu erkennen gegeben hat, daß das einzelne Aufsichtsratsmitglied seiner Überwachungsaufgabe nicht die gleiche Zeit und Aufmerksamkeit wie seinem Hauptberuf zuwenden kann. Die Bestimmung des §110 Abs. 3 AktG, wonach in der Regel vier Sitzungen des Aufsichtsrats im Jahr vorgesehen sind, sowie die Bestimmung des § 100 Abs. 2 AktG, wonach jemand bis zu 10 Aufsichtsratssitze in verschiedenen Unternehmen innehaben darf, geben einen gewissen Anhalt dafür, welchen Umfang die Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats nach den Vorstellungen des Gesetzgebers haben sollten. Jedenfalls ist der heute weitgehend vertretenen Meinung im Schrifttum zuzustimmen, wenn sie mit Rück-

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sieht darauf, daß das Aufsichtsratsamt ein Nebenamt ist, davor warnt, den Pflichtenkreis des Aufsichtsrats zu überspannen 17 . Für die Beurteilung von Interessenkollisionen ist es bedeutsam, daß für diese die gebotene Zurückhaltung bei den Anforderungen an den Umfang der Überwachungspflicht nicht angebracht ist, und daß demgemäß eine Haftung bei Interessenkollisionen im allgemeinen auch nicht mit dem Hinweis, man dürfe den Pflichtenkreis des Aufsichtsrats nicht überspannen, ausgeschlossen werden kann. Denn das Besondere solcher Interessenkollisionen besteht darin, daß das einzelne Aufsichtsratsmitglied, das sich in eine solche Kollision verstrickt, diese erkennt und sich daher auch entsprechend verhalten und entscheiden kann. Der Grund dafür, den Umfang der Pflichten des Aufsichtsratsmitglieds nicht zu weit zu ziehen, nämlich daß das einzelne Mitglied im allgemeinen nicht die gleiche Zeit für dieses Amt wie für seinen Hauptberuf aufwenden kann, trägt hier gerade nicht, weil die Interessenkollision für ihn von vornherein erkennbar ist und sie ihm nicht erst durch besondere Nachforschung und entsprechenden Zeitaufwand deutlich gemacht werden muß. Man kann und muß daher bei auftretenden Interessenkollisionen von dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied in jeder Hinsicht ein faires Verhalten verlangen, das der besonderen Vertrauensstellung, die der Aufsichtsrat als Uberwachungs- und Beratungsorgan innehat, und der besonderen Treuepflicht, die dieser dem Unternehmen gegenüber zu wahren hat, voll gerecht wird. Die Auffassungen darüber, welches Maß an Sorgfalt von dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied zu verlangen ist, haben im Laufe der Zeit geschwankt. Lange wurde dabei die Meinung vertreten, daß bei Aufsichtsratsmitgliedern insoweit ein strenger Maßstab anzulegen und es nicht angebracht sei, mit Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse des einzelnen, etwa mit Rücksicht darauf, daß ihm notwendige Kenntnisse oder Erfahrungen fehlen, geringere Anforderungen an seine Sorgfalt zu stellen. Denn jedes Aufsichtsratsmitglied habe dasjenige Maß an Sorgfalt zu erbringen, das man von einem Menschen seiner Stellung verlangen kann, d. h. „von einem Menschen, der in geschäftlichen und finanziellen Dingen ein größeres Maß an Erfahrung besitzt als der durchschnittliche Kaufmann" 1 8 . Diese strenge Auffassung wird in neuerer Zeit, u. a. wohl 17 Karl Geiler, Die wirtschaftlichen Strukturwandlungen und die Reform des Aktienrechts, 1927, S. 17; A. Pinner, J W 1932, 2279; Staub/Pinner, Komm. H G B , 14. Aufl. 1933, § 2 4 6 Einl. Anm. I I ; Hans-Günther Zempelin, AcP 155, 213 f; Joachim Meyer-Landrut, G r o ß k o m m . A k t G , § 1 1 1 Anm. 2; E.Geßler / W.Hefermehl / U.Eckardt / B.Kropff, a . a . O . (Anm. 13), § 1 1 1 Rdn. 14; Sylvester Wilhelmi, Handbuch des Aufsichtsrats, 2. Aufl. 1977, S . 2 7 1 f ; zu weit geht bei der Konkretisierung der Uberwachungspflicht Gustav Saage, D B 1973, 116 (117). 18 H. G. Zempelin, A c P 155, 212 m. w . N .

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auch unter dem Einfluß der Gesetzgebung zur Mitbestimmung und der Beteiligung von Vertretern der Arbeitnehmer bei der Besetzung der Aufsichtsräte, nicht mehr mit derselben Strenge durchgehalten wie früher. Heute wird vielfach die Meinung vertreten, daß die individuellen Verhältnisse der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, wie Vorbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten, nicht außer Betracht gelassen werden könnten und daß deshalb der Maßstab der Sorgfaltspflicht bei den einzelnen Mitgliedern ein verschiedener sein kann 19 . Es mag hier offenbleiben, ob dem uneingeschränkt zuzustimmen ist oder ob nicht von jedem Aufsichtsratsmitglied doch wenigstens ein Mindestmaß an allgemeinen wirtschaftlichen, sozialpolitischen und organisatorischen Kenntnissen zu verlangen ist, mit der Folge, daß sich das einzelne Mitglied innerhalb dieses Rahmens nicht mit Unkenntnis entschuldigen kann 20 . Denn nach meinem Eindruck ist für die Haftung bei Interessenkollisionen die Frage nach einer mehr oder weniger starken Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabs ohne Belang, und zwar deshalb, weil bei solchen Kollisionen die Frage nach einem schuldhaften Verhalten wohl stets zu bejahen sein wird. II. Wenden wir uns nunmehr dem Phänomen der Interessenkonflikte in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds im einzelnen zu, so ist es m. E. nicht möglich, diesem Phänomen durch eine pauschale Beurteilung gerecht zu werden 21 . Das gilt vor allem für eine Beurteilung, die in diesem Zusammenhang im Schrifttum vielfach vertreten wird und die von dem Satz ausgeht, die Aufsichtsratsmitglieder hätten grundsätzlich den Interessen der Aktiengesellschaft den Vorrang vor ihren persönlichen oder vor den Interessen ihres Dienstherrn in ihrem Hauptberuf zu geben 22 . Auch die Strafsenate des Reichsgerichts haben, allerdings im Unterschied zu den Zivilsenaten des Reichsgerichts 23 , diesen Standpunkt vertreten und in mehreren Entscheidungen dargetan, daß bei einem Widerstreit der Pflichten gegenüber der Gesellschaft und anderer privater Interessen, insbesondere der eigenen Interessen der Aufsichtsratsmitglieder die Pflichten gegenüber der Gesellschaft vorgingen 24 . " Vgl. etwa J. Meyer-Landrut, a. a. O. (Anm. 17), § 116 Anm. 5; E. Geßler / W. Hefermehl / U. Eckardt / B. K r o p f f , a. a. O. (Anm. 13), § 116 Rdn. 10. 20 Marcus Lutter, ZHR 145, 228. 21 Vgl. dazu auch M. Lutter, ZHR 145, 239 ff. 22 Vgl. etwa Carl Ritter, Komm. AktG, 2. Aufl. 1939, §95 Anm. 2 a, ee; J. MeyerLandrut, a.a.O. (Anm.17), § 1 1 Anm.5; E.-J. Mestmäcker, a.a.O. (Anm. 9), S.215; S. Wilhelmi, a. a. O. (Anm. 17), S. 292 f. 23 RG, LZ 1927, 44; J W 1932, 2279; RGZ 148, 361. 24 RG, Recht 1929, Nr. 46; 1930, Nr. 823.

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Andererseits ist es aber auch nicht angebracht, an die Beurteilung derartiger Interessenkonflikte ganz allgemein einen milden Maßstab anzulegen, etwa mit der Begründung, daß diese Konflikte vielfach eine unvermeidbare Folge der heute üblichen Auswahlkriterien bei der Besetzung der Aufsichtsräte seien und daß es unerwünscht sei, eine Besetzung der Aufsichtsräte nach diesen Gesichtspunkten zu erschweren oder sogar in Frage zu stellen 25 . Eine solche Beurteilung wäre mit Rücksicht auf die Bedeutung der Uberwachungs- und Beratungstätigkeit des Aufsichtsrats, die den schutzwerten Interessen des gesamten Unternehmens, insbesondere der Anteilseigner, der Arbeitnehmer und der Gesellschaftsgläubiger, dient und die gerade auch nach heutiger Auffasung von hohem Wert ist, nicht vertretbar. Es ist in jeder Hinsicht unangemessen, die bei der Besetzung des Aufsichtsrats vielfach geknüpften Interessenverflechtungen zum Anlaß dafür zu nehmen, die Wirksamkeit der wichtigen Kontroll- und Uberwachungstätigkeit des Aufsichtsrats in bedenklicher Weise zu beeinträchtigen 2 '. Eine sachgerechte Beurteilung der Interessenkonflikte in der Person der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder erscheint mir nur möglich, wenn man die verschiedenartigen Fallgruppen, die insoweit in Betracht kommen, in ihren für sie typischen Besonderheiten betrachtet und diesen Besonderheiten dabei die ihnen zukommende Berücksichtigung zuteil werden läßt. In erster Linie sind in diesem Zusammenhang Interessenkollisionen anzuführen, bei denen ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied in seiner Eigenschaft als Organ der Gesellschaft handelt. Bei einem solchen Handeln sind drei Bereiche zu unterscheiden, in denen das einzelne Mitglied in seiner Stellung als Organ der Gesellschaft tätig werden kann, nämlich bei der unmittelbaren Ausübung seiner Uberwachungs- und Beratungstätigkeit, die dem Aufsichtsrat als Hauptaufgabe obliegt, sodann bei der Teilnahme eines jeden Mitglieds an der Beschlußfassung innerhalb des Aufsichtsrats und schließlich beim Auftreten des Aufsichtsrats als Vertretungsorgan der Gesellschaft in den gesetzlich besonders vorgeschriebenen Fällen (vgl. § § 1 1 2 , 111 Abs. 2 Satz 2, 246 Abs. 2, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG). Für alle diese Fälle gilt der Grundsatz von dem unbedingten Vorrang der Interessen der Gesellschaft gegenüber anderen Interessen, die für das Aufsichtsratsmitglied in seinem Hauptberuf, in einem anderen Nebenamt oder auch für ihn persönlich von Bedeutung sind. Insoweit gelten ohne Einschränkung die von Mestmäcker klar und deutlich formulierten Sätze: „Wer kollidierende Rechtspflichten übernimmt, hat für ihre Erfüllung einzustehen. Kann er eine Rechtspflicht 25 26

Dazu Peter Ulmer, N J W 1980, 1607. H. Würdinger, a. a. O. (Anm. 9), S. 129; K. Hopt, a. a. O. (Anm. 7), S. 294.

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nicht erfüllen, ohne die andere zu verletzen, so haftet er einem Gläubiger auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung" 2 7 . Dabei ist es nicht Voraussetzung einer solchen Haftung, daß die im Einzelfall aktuell gewordene Kollision von Rechtspflichten für das einzelne Aufsichtsratsmitglied von vornherein voraussehbar war; vielmehr hat jedes Mitglied dafür einzustehen, daß es die von ihm übernommenen Organpflichten ordnungsgemäß erfüllt und nicht mit Rücksicht auf eine andere von ihm übernommene Pflichtenbindung oder mit Rücksicht auf seine eigenen persönlichen Interessen sehenden Auges verletzt. Insoweit gelten der Grundsatz von der Unteilbarkeit der Aufsichtsratsverantwortung 28 und der Grundsatz einer Ablehnung der Theorie von der „Spaltung einer Person mit kollidierenden Pflichten" 25 . So kann bei der Interessenkollision eines Aufsichtsratsmitglieds, das in dieser Eigenschaft zwei verschiedenen Gesellschaften angehört, die Pflichterfüllung gegenüber der einen nicht die Pflichtverletzung gegenüber der anderen rechtfertigen. Interessenkollisionen bei der eigentlichen Überwachungs- und Beratungstätigkeit können praktische Bedeutung erlangen, wenn es um die Frage geht, in welchem Umfang ein Aufsichtsratsmitglied sein Wissen bei dieser Tätigkeit der Gesellschaft zur Verfügung stellen muß. Diese Frage wird problematisch, soweit es sich um ein Wissen handelt, daß ein Aufsichtsratsmitglied nur unter Verletzung seiner Schweigepflicht gegenüber einem anderen Unternehmen preisgeben könnte. Hier kommt es zu einer echten Kollision gegensätzlicher Interessen verschiedenartiger Unternehmen, die m . E . nur in der Weise gelöst werden kann, daß das einzelne Aufsichtsratsmitglied bei seiner Beratungstätigkeit nicht zur Preisgabe eines Geschäftsgeheimnisses verpflichtet sein kann, das ihm in einer anderen Eigenschaft, etwa als Aufsichtsratsmitglied eines anderen Unternehmens oder auch in seiner hauptberuflichen Tätigkeit anvertraut worden ist. Denn billigerweise kann niemand erwarten oder sogar beanspruchen, daß jemand seine Überwachungsund Beratungstätigkeit als Aufsichtsratsmitglied so vollständig erfüllt, daß er dabei auch seine Schweigepflicht gegenüber einem anderen Unternehmen verletzt. Das kann von Rechts wegen nicht verlangt werden. Eine andere Frage ist es, wie sich das einzelne Aufsichtsratsmitglied bei einer solchen Interessenkollision im einzelnen zu verhalten hat, ob es insbesondere mitteilen muß, daß es bei seiner Überwachungs- oder Beratungstätigkeit durch ein Geschäftsgeheimnis gegenüber einem anderen Unternehmen gebunden ist, oder ob es darüber mit Schweigen A . a . O . (Anm.9), S.255. Vgl. etwa H.-J. Mertens, a . a . O . (Anm. 13), § 9 3 , R d n . 2 2 : „Im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Gesellschaft haben die Verwaltungsmitglieder stets deren Interessen wahrzunehmen. Ihre Pflicht zu Sorgfalt und Treue ist insoweit unteilbar." 29 B G H , N J W 1980, 1629 (1630). 27

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hinweggehen darf. Ich glaube, daß man darüber keine allgemeinen Regeln aufstellen kann, sondern daß man dies im jeweiligen Einzelfall dem pflichtgebundenen Ermessen des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds überlassen muß. Dieses wird sich dabei als Richtschnur davon leiten lassen müssen, daß es durch sein Verhalten bei seinen Aufsichtsratskollegen oder bei dem Vorstand keinen falschen Eindruck erwecken darf. Treten Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Beschlußfassung innerhalb des Aufsichtsrats in der Weise zutage, daß das einzelne Mitglied mit Rücksicht auf seine Aufgaben und Pflichten im Hauptberuf oder in einem anderen Nebenamt geneigt sein könnte, sich bei der Abstimmung im Aufsichtsrat nicht allein von den Interessen dieser Gesellschaft leiten zu lassen, so ist ein solches Verhalten nicht gerechtfertigt. Das einzelne Aufsichtsratsmitglied darf bei Abstimmungen im Aufsichtsrat die Interessen der Gesellschaft nicht beeinträchtigen; insoweit hat jedes Aufsichtsratsmitglied seine Treuepflicht gegenüber seiner Gesellschaft voll zu erfüllen. Zweifelhaft ist hingegen, in welcher Weise solchen Interessenkollisionen rechtlich zu begegnen ist. Hier bietet sich ein Stimmrechtsausschluß in analoger Anwendung des § 34 B G B an, der mit seinen formal umschriebenen Stimmrechtsausschluß-Tatbeständen schon jede potentielle Gefährdung der Interessen der Gesellschaft bei Abstimmungen zu verhindern sucht. Einem solchen Stimmrechtsausschluß kommt in anderen Fällen einer Interessenkollision die Pflicht zur Stimmenthaltung für das Aufsichtsratsmitglied gleich30. Eine solche Stimmenthaltung ist im allgemeinen ausreichend, um einer Interessenkollision Rechnung zu tragen; darüber hinaus von dem betreffenden Aufsichtsratsmitglied zu verlangen, daß es gegen den nachteiligen Beschluß stimmt 31 , scheint mir zu weit zu gehen und auch nicht zur Behebung der aufgetretenen Interessenkollision geboten zu sein. Eine andere Frage ist es, ob in einem besonderen Einzelfall das betreffende Aufsichtsratsmitglied gehalten ist, seine Kollegen im Aufsichtsrat auf die Nachteile hinzuweisen, die der vorgesehene Beschluß für die Gesellschaft mit sich bringen kann. Eine solche Hinweispflicht dürfte zu bejahen sein, wenn die Aufsichtsratskollegen die nachteiligen Konsequenzen des Beschlusses nicht übersehen und diese Konsequenzen andererseits dem betreffenden Aufsichtsratsmitglied - z . B . gerade im Hinblick auf die ihn berührende Interessenkollision - deutlich vor Augen stehen. Voraussetzung für eine solche Hinweispflicht ist aber 30 H.-J.Mertens, a.a.O. (Anm. 13), § 9 3 R d n . 2 2 ; Baumbach/Hueck, a.a.O. (Anm. 13), § 1 1 1 Rdn. 4; für Pflicht zur Stimmenthaltung in einer Einzelfrage J.MeyerLandrut, a . a . O . (Anm. 17), §111 A n m . 5 ; M. Lütter, Z H R 145, 247 m . w . N . 31 So E.Geßler / W.Hefermehl / U. Eckardt / B.Kropff, a . a . O . (Anm. 13), § 9 3 Rdn. 27.

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stets, daß ihr ohne Verletzung der Schweigepflicht gegenüber einem anderen Unternehmen entsprochen werden kann. Ferner ist zu erwägen, ob bei bestimmten Interessenkollisionen das betreffende Aufsichtsratsmitglied verpflichtet ist, sein Amt niederzulegen. Eine solche Verpflichtung ist m. E. zu bejahen, wenn die Art der aufgetretenen Interessenkollision erkennen läßt, daß es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt, sondern daß eine solche Kollision mit Rücksicht auf den Hauptberuf oder mit Rücksicht auf ein anderes Nebenamt des Aufsichtsratsmitglieds auch in Zukunft erneut und wiederholt auftreten kann. In einem solchen Fall ist die Stimmenthaltung nicht ausreichend, um der Interessenkollision sachgerecht zu begegnen, weil dadurch die Mitwirkungspflicht dieses Aufsichtsratsmitglieds in zu starker Weise beeinträchtigt werden würde. Der wiederholte Ausfall eines Aufsichtsratsmitglieds mit Rücksicht auf bestehende Interessenkollisionen, der durch seine Person oder seine sonstigen Berufspflichten bedingt ist, macht ihn ungeeignet und damit unfähig, in dieser Gesellschaft als Mitglied des Aufsichtsrats tätig zu sein". Ich halte es entgegen einer von Lutter neuerdings vertretenen Ansicht 33 dagegen nicht für richtig, solche Interessenkollisionen unter Umständen zu privilegieren. Das tut Lütter für den Fall, daß eine Person als Mitglied mehrerer Aufsichtsräte in diesen jeweils über einen bestimmten Punkt abzustimmen hat, wobei die Interessen der verschiedenen Unternehmen miteinander kollidieren. Lutter meint, daß ein Aufsichtsratsmitglied in einem solchen Fall, z. B. bei der Entscheidung, ob jemand, der als Vorstandsmitglied bei mehreren Unternehmen in Betracht gezogen wird, in diesem oder in jenem Unternehmen als solches anzustellen ist, sich frei nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden darf. Ich finde, daß ein Aufsichtsratsmitglied durch eine solche Mitwirkungspflicht bei der Beschlußfassung in mehreren Aufsichtsräten überfordert wird, und ich meine, daß es angemessener ist, das Mitglied in einem solchen Fall von der Beschlußfassung in allen beteiligten Unternehmen freizustellen. Wird ein Aufsichtsratsmitglied als Vertretungsorgan der Gesellschaft im Rahmen der §§112, 111 Abs. 2 Satz 2, 246 Abs. 2, 249 Abs. 1 Satz 1 A k t G tätig, so hat es sich ausschließlich von den Interessen der von ihm vertretenen Gesellschaft leiten zu lassen. Das verlangt die ihm obliegende Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft. Entgegenstehende Interessen, deren Wahrung ihm aus einem anderen Rechtsgrund obliegen mögen, lassen eine andere Beurteilung nicht zu. 32

Baumbach/Hueck,

(Anm. 17), § 1 1 1 Anm. 5. 33

a.a.O.

M. Lutter, ZHR 145, 247 f.

(Anm. 13),

§111

Rdn.4;

J. Meyer-Landrut,

a.a.O.

18. D i e V e r a n t w o r t u n g des Aufsichtsrats bei Interessenkollisionen

335

Von dieser Fallgruppe, bei der das einzelne Aufsichtsratsmitglied in seiner Eigenschaft als Organ der Gesellschaft tätig wird, ist die weitere Fallgruppe zu unterscheiden, in der das einzelne Aufsichtsratsmitglied nicht im Rahmen seiner Organtätigkeit handelt, in der aber sein Handeln mehr oder weniger deutliche Berührungspunkte zu seiner Organstellung aufweist. Fälle dieser Art sind die Verletzung der Schweigepflicht, die ein Aufsichtsratsmitglied, etwa im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Hauptberuf, begeht, ferner die Ausnutzung oder Verwertung von Kenntnissen (Insiderinformationen), die es im persönlichen Interesse oder im Interesse Dritter vornimmt, und schließlich der Abschluß von Rechtsgeschäften mit dem Vertretungsorgan der Gesellschaft, bei dem es in eigenem Namen oder im Namen eines anderen Unternehmens auftritt. Bei der Verletzung seiner Schweigepflicht, der sich ein Aufsichtsratsmitglied schuldig macht, wird dieses zwar nicht in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsmitglied tätig, aber gleichwohl verletzt es durch sein Handeln eine unmittelbare Rechtspflicht, die ihm als Aufsichtsratsmitglied obliegt, und für die es nach den §§116, 93 Abs. 1 Satz 2 A k t G verantwortlich und gegebenenfalls seiner Gesellschaft gegenüber auch schadensersatzpflichtig ist. Diese Schweigepflicht ist ernst zu nehmen, weil es ohne diese Pflicht nicht zu verantworten ist, dem Vorstand die uneingeschränkte Verpflichtung zur Auskunft und zur Offenbarung von Betriebsgeheimnissen jeder Art dem Aufsichtsrat gegenüber aufzuerlegen. Ohne die Schweigepflicht eines jeden Aufsichtsratsmitglieds ist ein rückhaltloses Vertrauen des Vorstands, das die notwendige Grundlage für die uneingeschränkte Offenbarungspflicht des Vorstands bildet, nicht denkbar und auch nicht möglich. Daher ist die Verantwortung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds bei einer Verletzung seiner Schweigepflicht unabdingbar. Eine wie auch immer geartete Rücksichtnahme auf andere Interessen, deren Wahrnehmung dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied aus einem anderen Rechtsgrund obliegen mag, kann eine solche Verletzung nicht rechtfertigen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Schweigepflicht selbst eine Interessenkollision innerhalb des Unternehmens auslöst. Das ist z. B. der Fall, wenn die Preisgabe eines Betriebsgeheimnisses für die Gesellschaft in bestimmter Hinsicht nachteilig ist (z. B. Verlust von Vertrauen bei einem Geschäftspartner), dagegen für diese in anderer Hinsicht von Nutzen ist (z. B. Verhinderung von Unruhe in der Belegschaft) 34 . In einem solchen Fall muß jedes Aufsichtsratsmitglied diesen Interessenkonflikt in eigener Verantwortung selbst entscheiden, indem es das Für und Wider einer Preisgabe und einer Wahrung des Geheimnisses sorgfälJ4

Vgl. d a z u M. Lutter,

a. a. O . ( A n m . 1), S. 109; auch B G H Z 64, 325 (331).

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tig abwägt und sich dabei allein von den Interessen des Unternehmens leiten und sich nicht von irgendwelchen Drittinteressen beeinflussen läßt. Die Verschwiegenheitspflicht gilt nicht nur für die Wahrung solcher Geheimnisse, die einem Aufsichtsratsmitglied im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat bekannt geworden sind, sondern auch für die Kenntnis solcher Geheimnisse, die das Mitglied von dritter Seite erlangt hat35. Das erfordert die umfassende, nicht teilbare Treuepflicht, die jedem Aufsichtsratsmitglied gegenüber der Gesellschaft obliegt und sich auch bei der Pflicht zur Wahrung solcher, anderweit bekannt gewordener Geheimnisse bewährt. Im Rahmen von Interessenkonflikten gewinnt die Schweigepflicht des Aufsichtsrats bei den Banken Vertretern, die heute in erheblichem Umfang in den Aufsichtsräten anderer Unternehmen sitzen und deren Zugehörigkeit für diese durchaus von Nutzen sind, oft eine praktisch sehr große Bedeutung. Dessen müssen sich die Bankenvertreter bewußt sein und sich mit besonderer Aufmerksamkeit davor hüten, Kenntnisse, die sie in ihrer Eigenschaft als Aufsichtsratsmitglieder erworben haben, bei ihrer hauptberuflichen Tätigkeit in ihrer Bank, etwa bei der Effektenberatung, den Bankkunden preiszugeben. In dieser Hinsicht wird man heute bei der Neigung unserer Zeit, Verantwortung für Fehlverhalten im Wirtschaftsleben zu aktualisieren und die sich daraus ergebenden Haftungsfolgen zu realisieren, der Schweigepflicht der Bankenvertreter besondere Aufmerksamkeit zuwenden und auch zuwenden müssen. Die Banken ihrerseits werden angesichts der Gefahren, die, jedenfalls mittelbar, gerade für sie aus solchen Interessenkonflikten drohen, gut daran tun, durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, daß nicht durch die Bankenvertreter Informationsströme aus der Geheimsphäre der Aufsichtsräte anderer Unternehmen in die verschiedenen Abteilungen der Bank in Bewegung gesetzt werden36. Dabei ist m. E. stets zu beachten, daß der Bankkunde, z.B. bei einer Effektenberatung durch seine Bank, nicht erwarten kann, daß ihm Kenntnisse, die ein Vertreter der Bank als Aufsichtsratsmitglied in einem Unternehmen erlangt hat, unter Verletzung der Schweigepflicht preisgegeben werden37. Eine praktisch noch größere Bedeutung haben im Zusammenhang mit möglichen Interessenkollisionen die Fälle, in denen es zu einer Ausnutzung oder Verwertung von Kenntnissen (Insiderinformation) kommt, die ein Aufsichtsratsmitglied in seiner Eigenschaft als solches erlangt hat, und die es in seinem Hauptberuf oder auch für sich persönlich nutzbar 35 36 37

M. Lutter, a . a . O . ( A n m . l ) , S. 112. Vgl. dazu eingehend und überzeugend K.Hopt, Ebenso M. Lutter, Z H R 145, 244.

a . a . O . (Anm. 7), S.475ff.

18. Die Verantwortung des Aufsichtsrats bei Interessenkollisionen

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macht. Bei einer solchen Ausnutzung oder Verwertung handelt es sich in der Regel nicht um eine Verletzung der Schweigepflicht des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds, weil es seine Kenntnis von einem etwaigen Geheimnis der Gesellschaft nicht einem Dritten preisgibt oder es sonstwie offenbart, sondern lediglich mit Hilfe dieser Kenntnis die Richtung und den Inhalt seines eigenen Handelns bestimmt. Ein solches Verhalten muß als eine Verletzung der umfassenden Treuepflicht, die jedem Aufsichtsratsmitglied obliegt, angesehen werden, wenn dadurch der Gesellschaft ein Schaden entsteht; dabei braucht es sich nicht um einen materiellen Schaden im Sinne der §§ 249, 252 BGB zu handeln, auch ein immaterieller Schaden genügt, der etwa in der Minderung des Ansehens oder in dem Verlust von Vertrauen bei den Geschäftsfreunden der Gesellschaft bestehen kann38. So liegt eine Verletzung der Treuepflicht vor, wenn ein Aufsichtsratsmitglied Kenntnisse, die es im Aufsichtsrat der Gesellschaft erlangt hat, in seinem eigenen Betrieb dazu benutzt, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber der Gesellschaft zu verschaffen". Auch darf ein Aufsichtsratsmitglied seine Kenntnis von besonderen Maßnahmen, die die Gesellschaft zur Kurspflege ihrer Aktien an der Börse ergreift, nicht zum Anlaß nehmen, um schnell seine eigenen Aktien dieser Gesellschaft zu verkaufen 40 . Alles in allem sollte man bei der Verwertung von Insiderinformationen durch ein Aufsichtsratsmitglied in seinem Hauptberuf oder in seinem persönlichen Bereich einen strengen Maßstab anlegen und auf diese Weise sicherzustellen suchen, daß durch eine solche Verwertung der Gesellschaft nicht ein Schaden erwächst41. Umstritten ist die Frage, inwieweit ein Aufsichtsratsmitglied Rücksicht auf die Interessen der Gesellschaft nehmen muß, wenn es im eigenen Namen mit dieser Rechtsgeschäfte abschließt. Die Strafsenate des Reichsgerichts haben zu dieser Frage in zahlreichen Entscheidungen einen betont strengen Maßstab angelegt und in ständiger Rechtsprechung die Meinung vertreten, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder hätten auch dann die Pflicht, den Vorteil der Gesellschaft zu wahren und Schaden von ihr abzuwenden, wenn sie im eigenen Namen Rechtsgeschäfte mit der Gesellschaft abschließen42. Dieser Meinung liegt, wie es 31 Vgl. dazu M. Lütter, a . a . O . (Anm. 1), S. 103, dessen Ausführungen sich zwar unmittelbar nur auf die Verletzung der Schweigepflicht beziehen, aber doch auch für die Fälle einer unzulässigen Verwertung von Insiderinformationen von Bedeutung sind. 39 Vgl. P. Ulmer, N J W 1980, 1606 rechte Spalte oben. 40 Vgl. dazu H.-J. Mertens, a. a. O . (Anm. 13), § 93 Rdn. 20, der insoweit freilich etwas andere Akzente setzt. 41 In dieser Hinsicht scheinen mir die Ausführungen von H.-J. Mertens, a . a . O . (Anm. 13), §95 Rdn. 25 zu weitherzig zu sein. 42 RGSt. 26, 136; 58, 391; Recht 1929, N r . 4 6 ; 1930, Nr.823; H R R 1935, Nr. 1116; ähnlich auch J. Meyer-Landrut, a. a. O. (Anm. 17), §93 Anm. 12.

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in einer der Reichsgerichtsentscheidungen heißt 43 , die Auffassung zugrunde, daß die Eigenschaft als Organ der Gesellschaft diesem unablösbar anhafte und sich daher auch dann äußere, wenn es nicht als Organ der Gesellschaft tätig wird. Allein, das geht m. E. zu weit; dabei wird namentlich nicht genügend beachtet, daß es in einem Fall dieser Art grundsätzlich die Aufgabe der im Namen der Gesellschaft auftretenden Personen ist, die Interessen der Gesellschaft sachgerecht wahrzunehmen und zu vertreten 44 . So wird man von einem Verwaltungsmitglied, das mit der Gesellschaft über seine Vergütungsansprüche verhandelt, nicht verlangen können, dabei den Vorteil der Gesellschaft zu wahren und sein eigenes Interesse an einer vertretbar günstigen Vergütung für sich zurückzustellen. Auch kann ein Aufsichtsratsmitglied nicht für verpflichtet gehalten werden, mit der Gesellschaft einen Vertrag abzuschließen, dessen Abschluß diese zwar wünscht, der aber nicht den persönlichen Intentionen des Aufsichtsratsmitglieds entspricht 45 . In Fällen dieser Art ist jedoch zu beachten, daß das einzelne Aufsichtsratsmitglied bei den Verhandlungen und dem Abschluß von Verträgen mit der Gesellschaft seine Stellung als Verwaltungsmitglied nicht in unzulässiger Weise mißbrauchen und sich nicht auf diese Weise Vorteile verschaffen darf, die es sonst nicht erlangt haben würde 46 . Ein solcher, rein tatsächlicher Mißbrauch der Organstellung kann sich leicht ergeben, wenn die Stellung des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds in der Gesellschaft und namentlich gegenüber dem Vorstand sehr stark und gewichtig ist. Es wird daher die Tatsache, daß das abgeschlossene Rechtsgeschäft die Rechte und Pflichten der Vertragspartner nicht abgewogen regelt, ein Indiz dafür sein, daß das beteiligte Aufsichtsratsmitglied seine Organstellung unzulässig ausgenutzt und damit mißbraucht hat. Dasselbe gilt, wenn ein Aufsichtsratsmitglied ohne rechtliche oder kaufmännische Rechtfertigung dem Vorstand den Abschluß eines für die Gesellschaft schädlichen Rechtsgeschäfts mit einem Dritten nahelegt 47 . Auch hier ist das Aufsichtsratsmitglied für den Schaden verantwortlich, der dadurch der Gesellschaft entsteht, weil seine Einwirkung auf den Vorstand eine mißbräuchliche Ausnutzung seiner Stellung als Aufsichtsratsmitglied darstellt. Unzulässig sind in diesem Zusammenhang alle Geschäfte, die das einzelne Aufsichtsratsmitglied im Rahmen seiner Uberwachungsfunktion beanstanden müßte, wenn sie der Vorstand auf Grund eigener Entschließung mit einem Dritten abgeschlossen hätte48. 43 44 45 46 47 48

Vgl. RGSt. 26, 136 (137). So richtig RG, JW 1932, 2279 (2280). RG, LZ 1927, 44; vgl. auch H.-J. Mertens, Vgl. dazu RGZ 148, 357 (361). BGH, NJW 1980, 1629. Ähnlich auch M. Lutter, ZHR 145, 241.

a. a. O. (Anm. 13), § 93 Rdn. 23.

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Die dritte Fallgruppe, die im Zusammenhang mit möglichen Interessenkollisionen bei einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern eine Rolle spielt, umfaßt die Fälle, in denen ein Aufsichtsratsmitglied nicht als Organ der Gesellschaft tätig wird und in denen sein Handeln auch keine irgendwie gearteten Berührungspunkte mit seiner Organstellung aufweist, aber doch Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, der es als Aufsichtsratsmitglied angehört. Hier handelt es sich um Tätigkeiten, die ein Aufsichtsratsmitglied in seinem Hauptberuf oder in einem anderen Nebenamt entfaltet. In diesem Bereich muß man dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied die Befugnis zugestehen, seine eigenen Interessen oder die seines Dienstherrn wahrzunehmen, auch wenn das im Einzelfall für die Gesellschaft, deren Aufsichtsrat es angehört, nachteilig sein mag. Die Förderungspflicht, die ein Aufsichtsratsmitglied zugunsten der Gesellschaft zu erfüllen hat, geht nicht so weit, daß sie seinen ganzen Lebensbereich erfaßt und sich auch auf seine Tätigkeit in seinem Hauptberuf erstreckt 49 . In dieser Hinsicht gewinnt die Tatsache, daß der Gesetzgeber das Aufsichtsratsamt selbst als eine nebenberufliche Tätigkeit konzipiert hat, entscheidende Bedeutung. Mit dieser Ausgestaltung des Aufsichtsratsamts würde es in Widerspruch stehen, wenn die Treuepflicht aus dem Nebenamt den Inhalt der hauptberuflichen Tätigkeit des Aufsichtsratsmitglieds in der Weise bestimmen könnte oder sogar bestimmen müßte, daß dieses die ihm in seinem Hauptberuf obliegenden Interessen unter keinen Umständen auch zum Nachteil der Gesellschaft, deren Aufsichtsrat es angehört, vertreten dürfte 50 . Vielmehr erstreckt sich die Treuepflicht des Aufsichtsratsmitglieds grundsätzlich nur auf den Bereich, in dem dieses als Organ der Gesellschaft tätig wird oder in dem seine Tätigkeit Berührungspunkte mit seiner Organstellung in dem oben erörterten Sinn aufweist. Außerhalb dieses Bereichs darf es schutzwerte Interessen, deren Wahrung ihm in seinem Hauptberuf oder in einem Nebenamt anvertraut sind, vertreten, auch wenn damit Nachteile für seine Gesellschaft verbunden sind. So ist es zulässig, daß ein Aufsichtsratsmitglied, das ein anderes Unternehmen als Vorstand leitet, in diesem Unternehmen die für notwendig erachteten Rationalisierungsmaßnahmen oder Produktionsumstellungen durchführt, auch wenn solche Maßnahmen für die Gesellschaft, deren Aufsichtsrat es angehört, nachteilig sind. Aus dieser Beurteilung folgt, daß der häufig vertretene Grundsatz, das Aufsichtsratsmitglied habe bei Interessenkollisionen grundsätzlich

49 Auch M. Lutter, ZHR 145, 249 warnt davor, „das Unternehmen des Hauptamts nicht durch ausufernde Treuepflichten des Aufsichtsratsmitglieds . . . zum Protektor des anderen Unternehmens werden zu lassen". 50 Ebenso P. Ulmer, N J W 1980, 1606 linke Spalte; vgl. auch H.-]. Mertens, a . a . O . (Anm. 13), Rdn.23; im Grundsatz anders M. Lutter, ZHR 145, 244 ff.

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dem Interesse der Gesellschaft den Vorrang vor anderen Interessen zu geben 51 , für diesen Bereich nicht haltbar ist. Indem der Gesetzgeber dem Aufsichtsratsamt in seiner gesetzlichen Ausgestaltung den Charakter eines Nebenamts gegeben hat, erkennt er an, daß der Inhaber eines Aufsichtsratsamts in seinem Hauptberuf auch andere Aufgaben zu erfüllen hat, die nicht von vornherein als geringerwertig angesehen werden können. Die danach notwendige Abgrenzung zwischen den verschiedenen Aufgabenbereichen im Haupt- und Nebenberuf kann m. E. nur so vorgenommen werden, daß diese verschiedenen Aufgaben im allgemeinen unabhängig voneinander erfüllt werden können und erfüllt werden dürfen, und daß Pflichtenkollisionen nur dann die Verantwortung für eingetretenen Schäden auslösen können, wenn das einzelne Aufsichtsratsmitglied ihm obliegende gesetzliche Pflichten verletzt, indem es anderen Verpflichtungen den Vorrang einräumt. Eine darüber hinausgehende Haftung würde zu einer Uberbewertung der Pflichten aus dem Nebenamt führen, die mit dem Charakter des Aufsichtsratsamts als eines Nebenamts nicht zu vereinbaren ist. Abschließend möchte ich noch einmal hervorheben, daß man nach meiner Uberzeugung den verschiedenartigen Interessenkollisionen beim Aufsichtsrat nicht durch eine generelle Beurteilung gerecht zu werden vermag, sondern daß man den jeweiligen Besonderheiten der hier in Betracht kommenden Fallgruppen die notwendige Beachtung schenken und infolgedessen zu einer differenzierenden rechtlichen Beurteilung gelangen muß.

51

Vgl. oben Anm. 22.

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Rede zur Übergabe der Festschrift an Robert Fischer von MARCUS LUTTER*

Robert Fischer, dem Sie diese Stunde widmen, ist ein ungewöhnlicher Mann. Dem haben Herausgeber, Autoren und Verlag bei der Schaffung einer Festschrift, seiner Festschrift, nach Kräften versucht, Rechnung zu tragen. Das begann vor zwei Jahren hier in Karlsruhe, als Herr Wiedemann die wissenschaftliche Laudatio auf Sie, lieber Herr Fischer, vortrug und Ihnen dann - einen leeren Buchdeckel überreichte: und dieses Damals hat heute zur Folge, daß ich nun, wo der Deckel gefüllt ist und es die rechte Zeit dafür wäre, eben diese Laudatio nicht wiederholen kann. Ich will nun nicht reden von den dann beginnenden Anstrengungen der Autoren, der Person und den Verdiensten von Robert Fischer, aber auch der damals gehörten Laudatio von Herrn Wiedemann mit ihren eigenen Beiträgen gerecht zu werden. Aber ich kann durchaus berichten, daß Herausgeber, Druckerei und Verlag sich dann redlich bemüht haben, den Druck dieser Festschrift mit so vielen Pannen anzureichern, daß diese Festschrift auf jeden Fall von daher dem Format von Robert Fischer voll entspricht. Und schließlich: auch der heutige Tag als solcher ist ohne Bedeutung; kein 60., kein 65. oder 70. Geburtstag, keine Übernahme oder Aufgabe des Amtes. Einfach nur Sie: Robert Fischer. Kann ich also nicht, wie es üblich wäre, den Autor Robert Fischer zum Zentrum meiner Worte machen, so bleibt mir das noch größere Vergnügen, über die Person von Robert Fischer nachdenken zu können. Ich habe Sie, lieber Herr Fischer, wie wohl die meisten unter uns, zunächst einmal in und aus der Literatur kennengelernt. Höchst ambivalent übrigens; denn ich saß an meiner Habilitationsschrift und jedesmal wenn ein Abschnitt fertig war und ich die Fußnoten überlas, stand da: ebenso Fischer, so auch Fischer, vgl. Fischer. Das hat mir natürlich zunächst sehr imponiert, mich dann aber doch heftig enerviert; denn die Mainzer Fakultät sollte ja mich und nicht Robert Fischer habilitieren. Es hat mich viel Mühe gekostet, wenigstens eine, wie ich glaubte, angreifbare Stelle zu finden, an der ich dann mein wissenschaftliches Jugendfell scheuern konnte.

* Aus: Reden anläßlich der Übergabe der Festschrift für Robert Fischer am 22. Juni 1979. Mit Reden von Marcus Lutter, Robert Fischer und Gerd Pfeiffer. - Walter de Gruyter, Berlin, 1980, 3-8.

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In dieser Zeit - 1962 - habe ich Sie dann auch persönlich kennengelernt. Mein Lehrer Bärmann hielt Vortrag vor der hiesigen Juristischen Studiengesellschaft und nahm mich mit; anschließend traf man sich, wie üblich, zum Glas Wein. Diejenigen, die sich kannten, hatten sich herzhaft die Hand geschüttelt, die anderen, wie üblich, den rechten Moment verpaßt, um sich vernünftig bekanntzumachen. Neben mir saß, wie ich messerscharf schloß, ein temperamentvoller Anwalt, der aber der höheren wissenschaftlichen Weihen zu entraten schien und daher von mir eingehend über eine Fülle von dogmatischen Fehlurteilen des B G H belehrt werden mußte. Nach lebhafter Debatte stoppte mein Nachbar die Seminarstunde mit der Frage: „Nun sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?" Und während ich mich mühsam aus der Person meines Lehrers zu definieren hatte, war seine Antwort auf meinen fragenden Blick nur: ich bin Robert Fischer. Sagt' es und wandte sich auf das Charmanteste meiner Frau zu. Erst knapp 10 Jahre später traf ich Sie wieder. Sie hatten gerade das höchste Amt in der ordentlichen Gerichtsbarkeit übernommen und waren offenbar der Meinung, daß Sie die eigene schriftstellerische Tätigkeit künftig reduzieren müßten. Deshalb waren Sie bereit, an dem Projekt einer neuen gesellschaftsrechtlichen Zeitschrift mitzuarbeiten und dadurch andere anzuregen und anderen Gelegenheit zur Erörterung von Themen zu geben, die Sie beschäftigen, die Sie aber - mindestens vorerst - nicht mehr selbst behandeln konnten. Seither hatte ich den Vorzug, Sie zweimal im Jahr einen ganzen Tag zu erleben. Und damit bin ich endlich ganz bei Ihnen und Ihrer Person.

Wohl jeder, der Sie mehr als zufällig traf, hat Sie zuvörderst kennengelernt als den vollständigen Juristen; mit Leidenschaft und Disziplin sind Sie dem Recht als der Berufung Ihres Lebens zugewandt. Es muß Ihnen dafür - selten genug bei Juristen - eine Urbegabung mit auf den Lebensweg gegeben worden sein: vom Vater, dem hochangesehenen Rechtsprofessor in Gießen, ihrem Geburtsort, dann in Halle, Jena und Breslau; von der Mutter, selbst Tochter eines Juristen. Fraglos daher die Wahl des Studienfaches, vielfältig die Studienorte: Tübingen, Breslau und Jena; breit angelegt, mit vielfältigen historischen Bezügen und Exkursen das Studium selbst. In Tübingen waren Sie Mitglied der Studentenverbindung Igel, der Männer wie Stoll und Karl Heck nicht nur angehörten, sondern in ihr auch lebhaft teilnahmen. Schon früh auch die nahe Bekanntschaft mit eindrucksvollen Rechtslehrern wie Rümelin und Philipp Heck. Später ihr Doktorvater Alfred Hueck, der Ihnen das Gesellschaftsrecht nahebrachte und mit dem Sie ein Leben lang herzlich und fachlich verbunden blieben. In der Referendarzeit Assistent bei

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de B o o r in Marburg, dem Sie nach Leipzig folgten. 1938 das Assessorexamen in Berlin. Und dann werden Sie nicht Richter sondern Mitglied in der Rechtsabteilung der Deutschen Bank. Ich weiß nicht, ob Sie damals den Beruf des Richters ernsthaft in Erwägung gezogen haben oder nur intuitiv fühlten, daß die damalige Art des Judizierens Ihrer Vorstellung von dieser Aufgabe ganz und gar nicht entsprochen hätte. So nahmen Sie, bewußt oder unbewußt Ihrer ganzen Natur folgend, die Chance wahr, in der unpolitischen Exklave eines großen Unternehmens - ich stelle mir vor: verpuppt - zu überwintern. Nicht lange allerdings; denn dann folgen 6 Jahre Krieg, den Sie fast nur an der Front - Rußland, später im Westen und zum Schluß gar noch in der Nähe von Berlin - trotz dreier schwerer Verwundungen glücklich überstehen. Und dann finden Sie sich in Göttingen wieder, bei Ihrer Schwester, der promovierten Juristin und dem Juristenschwager Welzel; Frau und Kinder kommen dazu und leben mit Ihnen zuletzt in 3 Zimmern in 3 verschiedenen Wohnungen. Und plötzlich meldet sich die Deutsche Bank, nicht aus Berlin, aber aus der neuen Hauptverwaltung in Hamburg: Sie möchten doch kommen, auch ein Zimmer stünde zur Verfügung. Und nun sagt die Familienchronik: hätte man wenigstens zwei Zimmer geboten, so wären Sie mit der Familie nach Hamburg gezogen und hätten die arme Deutsche Bank in den schrecklichen Konflikt gestürzt, ob man nun Sie oder Herrn Dr. Werner zum Chefjustiziar hätte machen müssen. So aber - nur ein Zimmer - habe man sich nach all den Jahren der Trennung nicht schon wieder trennen wollen. Das ist sicher ganz und gar richtig, und doch, so bin ich überzeugt, nur die halbe Wahrheit. Denn Sie sind nicht nur vollständiger Jurist, sondern vor allem auch der urbegabte Richter nicht im Sinne eines Spitzwegschen Kreisrichters, sondern im Sinne des intellektuellen Richters in einer entwickelten und traditionsreichen Rechtskultur, der dem Recht stets engagiert, dem konkreten Fall aber ebenso distanziert gegenübersteht. So war es für die niedersächsische Justiz ein Glücksfall — man denke nur: da kommt ein 34jähriger Hauptmann aus dem Krieg, legt glänzende Zeugnisse seiner acht und mehr Jahre zurückliegenden Examina vor und hat doch nicht die leisesten braunen Flecken - also ein Glücksfall für die Justiz, für Sie aber, davon bin ich fest überzeugt, geahnte Berufung. Denn anders ist auch die nun einsetzende Entwicklung gar nicht zu verstehen: Ende 1945 Assessor, 1946 Landgerichtsrat, 1947 Landgerichtsdirektor, 1949 Vizepräsident des Landgerichts Göttingen, 1950 Richter am Bundesgerichtshof: trotz 6jähriger juristischer Pause und obwohl Sie zuvor nie als Richter tätig waren, durchmessen Sie in 5 Jahren eine Laufbahn, die man heute von der Anmeldung zum Assessorexamen über den Richter auf Probe gerade bis zum Richter am Landgericht braucht.

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Über dieses Phänomen an sich hinaus sind vier Aspekte der Göttinger Jahre von Bedeutung: - Einmal die Tatsache, daß Sie nicht nur eine ungewöhnliche Karriere gemacht, sondern durchaus Spuren hinterlassen haben: man erinnert sich noch heute in Göttingen deutlich des souveränen, ja glänzenden Vorsitzenden der Großen Strafkammer. - Zum anderen die Tatsache, daß die Justiz des Instanzgerichtes Sie nicht nur ertrug, sondern sogar förderte: wer die hausbackene, oft von Mißgunst erfüllte Atmosphäre in Instanzgerichten kennt, ahnt, wie stark Ihre Person und Ihre menschliche Ausstrahlung auf Ihren damaligen Präsidenten Meierhoff gewirkt haben muß: ich nehme an, daß für Herrn Meierhoff das Wort Elite kein Unwort war, vielmehr seine Vorstellung vom Richter bestimmte. - Und weiter Ihre Bereitschaft zu Einsatz und Risiko. Vielleicht haben Sie früh einmal Goethes Satz in Maximen und Reflexionen gelesen und ein Leben lang befolgt: „Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun." - Und schließlich die Familie; Sie sind im großen Kreis mit fünf Geschwistern aufgewachsen; und mir scheint, daß damals in Göttingen die Gewißheit, künftig ungefährdet in der 1940 selbst gegründeten Familie leben und diese wachsen sehen zu können - im Krieg wurden die beiden ältesten Töchter geboren, in Göttingen die dritte Tochter und zwei Söhne, in Karlsruhe dann der jüngste Sohn - daß diese Gewißheit damals wie das Sprengen von Fesseln auf Sie wirkte und zu einer Leichtigkeit des Geistes und einer Gewißheit des Herzens führte, die Menschen selbstsicher und gelassen werden läßt. Ich habe bislang Ihre besondere richterliche Begabung nur aus dem raschen Gang vom Assessor zum Bundesrichter erschlossen. Sie ist aber für jeden Kollegen, mag er Ihrer konkreten Tätigkeit auch noch so ferne stehen, unmittelbar einsichtig, wenn er auch nur einige Ihrer Urteilsanmerkungen in L M gelesen hat. Die Überlegungen des Notanten Fischer führen nämlich, quasi spiegelbildlich, zum Richter Fischer, mit den vier großen richterlichen Tugenden: - Der Klarheit beim Erfassen und bei der Darstellung des Sachverhalts, über den entschieden werden soll, seine Besonderheiten gegenüber früheren Fällen und die Bedeutung dieser Besonderheiten für die rechtliche Beurteilung. - Die Sicherheit der Rechtskenntnis, die Souveränität, mit der eine Rechtsmaterie nicht nur gedanklich beherrscht, sondern, immer wieder faszinierend bei Ihnen, auch völlig präsent in Gedanken

Marcus Lutter, Rede anläßlich der Übergabe der Festschrift

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gespeichert ist, um dann, wie eine sorgsam bereitete und kostbare Masse behutsam gestaltet zu werden. - Die fast schon beängstigende Sicherheit des Judizes, das ja mitnichten „Nase", „Geruch" oder - modisch - „feeling" ist, sondern intellektuell beherrschte Erfahrung verbunden mit der Gabe, die entscheidende Besonderheit im sonst Allgemeinen zu erschauen. - Und schließlich die strikte Bescheidung auf die Entscheidung des konkreten Falles, ja mehr, die Kenntnis, daß es sich dabei um einen Vorzug handelt. Wer, wie Professoren, am System zu arbeiten hat, muß spekulieren und antizipieren; ohne Frage ist auch das höchst reizvoll und Sie haben in anderer Funktion auch daran teilgenommen. Der Richter aber kann und muß auf das Risiko der Spekulation verzichten und das Recht im einzelnen Fall in der konkreten Lebenswirklichkeit feststellen und finden. Auf dieses Richterprivileg haben Sie immer hingewiesen, zuletzt in einer Philippika in Lutterum, und mit seinen Vorzügen geworben: wer weiß, so könnten Sie sagen, welche Arabesken die Lebenswirklichkeit uns, den Richtern, später noch vor Augen stellen wird; hüten wir uns also vor verfrühten allgemeinen Aussagen. Aber dann haben Sie die Feder in die Hand genommen und in Ihren Anmerkungen und Kommentierungen eben genau das geschrieben: wenn uns Richtern keine Besonderheiten künftig auffallen werden, dann wird man eines Tages zu der oder jener allgemeinen Aussage kommen können; aber bis dahin möchten wir Richter noch weitere konkrete, nicht spekulative Sachverhalte überschaut haben können. Diese ganz seltene Begabung der richterlichen Bescheidung verbunden mit dem Sinn für Systembildung und damit Ihr Wissen um die Notwendigkeit der Spekulation in die Zukunft des Rechts, hat auch Ihr Verhältnis zur Kautelarpraxis bestimmt. Nie haben Sie rechthaberisch die Mühen der Anwälte und Notare beiseite geschoben, immer waren Sie bereit, die gedanklichen Grundlagen der Rechtsprechung insbesondere Ihres Senates zu erhellen und gleichzeitig in hohem Maße sicherzustellen, daß eben diese Basis nicht unvermerkt verloren würde. So entstand ein System von Rechtssicherheit im Handels- und im Gesellschaftsrecht, das nicht etwa auf Versteinerung beruhte, sondern auf der Offenlegung von Überlegungen und damit auf der Bereitschaft zum literarischen Gespräch zwischen dem Richter, der Praxis und der Universität. Damit bin ich auch schon bei einer weiteren herausragenden Eigenschaft von Robert Fischer: er war und ist ein literarischer Jurist. Nun mag das geradezu tautologisch klingen; denn schreiben muß jeder Jurist, schrecklich viel und dauernd. Wenn ich Sie also einen literarischen Juristen nenne, so meine ich damit eine Qualität: die Eleganz und

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Klarheit Ihrer Sprache, Ihren hochentwickelten Sinn für Differenzierungen. O b w o h l Sie als Student der historischen Rechtsschule näher standen als etwa der philosophisch-begrifflichen Richtung Ihres Vaters, blieb Ihre Sprache stets völlig frei von allen Mystifikationen, von morphologischen Scheindifferenzierungen, von unklaren und überflüssigen Epitheta, kurz: von der Scheinwissenschaftlichkeit, der die Sprache der Gesellschaftswissenschaften so leicht erliegt. Wenn, wie stereotyp und häufig, das Klagelied von der trockenen Jurisprudenz erklingt, dann rate ich jedenfalls älteren Studenten, zur Erholung einmal Robert Fischer zu lesen. Aber nicht nur zur Erholung, sondern auch zum Lernen; denn Sie sagen auf einer Seite oft mehr, als dem Durchschnitt auf zweien oder gar dreien gelingt. Aber diese leichte Hand, mit der Sie komplexe Sachverhalte und Gedankengänge sprachlich deutlich machen können, ist, so glaube ich, überhaupt ein Grundzug Ihrer Person. Bitte mißverstehen Sie das „Leicht" nicht als leichthin; nichts wäre unangebrachter. Am besten sagt es Ihre Frau, wenn Sie erzählt, sie habe es ein Leben lang als Glück empfunden, nach Kindheit und Jugend im konservativ-strengen, vom preußischen Offizier als Vater geprägten Celler Elternhaus mit dem liberalen Manne zusammenzuleben, dem stets gesprächsbereiten Vater, der auch nicht jede Schwierigkeit mit heranwachsenden Kindern gleich als Angriff auf die familiäre Grundordnung mißversteht, sondern Hilfe und Zusammenleben ermöglicht. Nichts macht das deutlicher als die Tatsache, daß alle Ihre jetzt erwachsenen Kinder viel und gerne ins Elternhaus kommen: „Wer von den Kindern kommt diesmal?", soll Ihre stete und selbstverständliche Frage lauten, wenn Sie in der Wochenmitte ans kommende Wochenende denken. Diese Haltung aus kluger Selbstbeschränkung, sorgsamer Bewahrung der für wichtig, richtig und notwendig erkannten Positionen in der Familie, in Beruf und Gesellschaft, und die Offenheit, eben diese Positionen stets neu zu bedenken und also auch in Frage zu stellen, waren und sind Kennzeichen Ihrer Person, nicht nur Aspekte des Familienvaters oder des Richters oder des Wissenschaftlers. So kann es nicht verwundern, daß eben dies auch Kennzeichen Ihrer Zeit als Präsident des Bundesgerichtshofs war. „Der Richter ist nicht der Erzieher des Volkes", waren Ihre Worte bei der Übernahme des Amtes. Auf der anderen Seite aber haben Sie nie einen Zweifel daran gelassen, daß eben dieser Richter und seine Einbindung in ein klug gebautes Justizsystem für eben dieses Volk, sein Wohlbefinden und seine Chance der Konfliktlösung völlig unabdingbar ist und daß er - eben weil der Richter nicht Volkserzieher ist und es auch nicht werden soll - vom tagespolitischen Geschehen frei sein muß. Ich habe daher gerade Ihre Ernennung zum Präsidenten des Bundesgerichtshofs stets als Signum für eine kluge

Marcus Lutter, Rede anläßlich der Übergabe der Festschrift

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und souveräne Politik verstanden, die eben diese Zusammenhänge zu berücksichtigen bereit ist. Diese liberal-konservative Souveränität im Denken und Handeln macht aber immer noch nicht die ganze Person von Robert Fischer aus. Es fehlt ein Zug, der diese Haltung ins Besondere hebt: Sie sind und waren stets ein nobler Mann, ein Herr. Das ist, so sehe ich es, eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Sie wird gekennzeichnet durch ihre unverbrüchliche, ganz und gar fraglose Unabhängigkeit, durch ihre Fairneß und ihre Loyalität dem Anderen gegenüber, durch Bildung, Geduld, Klugheit, Selbstbewußtsein und Kompetenz. In früheren Zeiten hätte man von Dienstadel gesprochen. Nie würden Sie um eines augenblicklichen Vorteils willen einen anderen zum Stolpern bringen, nie mit Ihrem Wissen prunken, nie einen anderen vor aller Welt bloßstellen - wenn jemand gar zu töricht ist, sind Sie schlimmstenfalls eben still. Einen Verriß haben Sie nie geschrieben. Eine humane Scheu, den anderen in seinem Kern zu treffen, hat Sie stets ebenso begleitet wie das Wissen um unsere Schwächen und die Beschränktheit unserer Erfahrung. Kurt Ballerstedt, mit dem Sie viel zusammengearbeitet haben, war von ähnlicher Art, und Carl Hans Barz, unser Mitherausgeber, und Alfred Hueck, Ihr akademischer Lehrer. Man kann daher mit Ihnen auch weder lästern noch klatschen: Sie haben sehr wohl gewußt, weshalb Sie dem Ruf des klatschsüchtigen und lästermäuligen Universitätsvolkes damals auf den Kölner Lehrstuhl nicht gefolgt sind. Die Vollständigkeit Ihrer Zuwendung zum Recht, die Entwicklung, Ausbildung und ständige Vervollkommnung Ihrer sprachlichen und richterlichen Begabung, die Gewißheit und Unverbrüchlichkeit der familiären Bindung, die Bereitschaft zu Einsatz und Engagement und das Noble des Herren bestimmen Ihre Person. Sie waren nicht unus ex multis und wollten es nicht sein. Alle, die hier in diesem Räume sind, wissen das. So übergebe ich Ihnen diese Festschrift, diese beste Form akademischer Ehre und Anerkennung als Zeichen unseres Dankes, daß wir mit Ihnen und um Sie sein, von Ihnen lernen und Sie als Vorbild haben durften und dürfen.

Walter de Gruyter Berlin-New York Festschrift für Robert Fischer Herausgegeben von Marcus Lutter, Walter Stimpel, Herbert Wiedemann Groß-Oktav. XIV, 9 3 0 S e i t e n . Mit einem Frontispiz. 1979. Gebunden DM 3 2 0 -

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Inhalt: Volker Beuthien: Die Miterbenprokura - Hans Erich Brandner: Abnehmerschutz im Wettbewerbsrecht - Claus-Wilhelm Canaris: Die Rückgewähr von Gesellschaftereinlagen durch Zuwendung an Dritte - Helmut Coing: Die Vertretungsordnung juristischer Personen und deren Haftung gemäß § 31 BGB - Arved Deringer: Ungelöste Fragen der Preisbildung im Gemeinsamen Markt Konrad Duden: Überwachung: wen oder was - Hans-Joachim Fleck. Stimmrechtsabspaltung in der GmbH? - Ernst Gessler: Zur handelsrechtlich verdeckten Gewinnausschüttung - Reinhard Goerdeler: Die freiwillige Prüfung von Jahresabschlüssen - Waither Hadding: Korporationsrechtliche oder rechtsgeschäftliche Grundlagen des Vereinsrechts? - Wolfgang Helermehl: Entwicklungen im Recht gegen den unlauteren W e t t b e w e r b - Theodor Heinsius: Rechtsfolgen einer Verletzung der Mitteilungspflichten nach § 20 AktG - Klaus J. Hopt: Berufshaftung und Berufsrecht der Börsendienste, Anlageberater und Vermögensverwalter - Ulrich Huber: Die Vorgesellschaft mit beschränkter Haftung - de lege ferenda betrachtet - Ulrich Immenga: Möglichkeiten der Konzernrechtsvergleichung - Alfred Kellermann: Einfluß des Kartellrechts auf das gesellschaftsrechtliche Wettbewerbsverbot des persönlich haftenden Gesellschafters - Alfons Kraft: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Publikums-KG zwischen Vertragsauslegung und Rechtsfortbildung - Gerda Krüger-Nieland: Anwendungsbereich und Rechtsnatur des Namenrechts - Georg Kuhn: Haften die GmbH-Gesellschafter für Gesellschaftsschulden persönlich? - Otto Kunze: Unternehmensverband und Unternehmensgröße - Manfred Lieb: Schadensersatzansprüche von Gesellschaftern bei Folgeschäden im Vermögen der Gesellschaft - Rudolf Liesecke: Die Stellung der kreditgebenden Banken beim Dokumenten-Inkasso und Dokumenten-Akkreditiv - Marcus Lutter: Zur Wirkung von Zustimmungsvorbehalten nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG auf nahestehende Gesellschaften Klaus-Peter Martens: Der Ausschluß des Bezugsrechts: BGHZ 33, S. 175 Hans-Joachim Mertens: Die Geschäftsführung in der GmbH und das ITT-Urteil Joachim Meyer-Landrut: Zur Suspendierung eines Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft - Wemhard Möschel: Die Sanierungsfusion im Recht der Zusammenschlußkontrolle - Otto Mühl: Zur Rechtsfindungsmethode des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs im Gesellschaftsrecht - Klemens Pleyer: Das Zivilgesetzbuch der DDR - seine Auslegung und seine Bedeutung für Wissenschaft und Praxis - Peter Raisch: Zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe im Kartellrecht durch den Bundesgerichtshof am Beispiel der Preismißbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle - Ernst Steindorff: Die Anwaltssozietät - Eckard Rehbinder: Zehn Jahre Rechtsprechung zum Durchgriff im Gesellschaftsrecht - Dieter Reuter: Der Partizipationsschein als Form der Mitarbeiterbeteiligung - Fritz Rittner: Vakanzen im Ausschuß nach § 27 Abs. 3 MitbestG - Franz-Jürgen Säcker: Vorkehrungen zum Schutz der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht und gesellschaftsrechtliche Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder - Otto Sandrock: Der Ausgleichsanspruch des Vertragshändlers: der Bundesgerichtshof auf den Spuren von Odysseus Wolfgang Schilling: Die Rechtsstellung des Aufsichtsratsmitglieds in unternehmensrechtlicher Sicht - Karsien Schmidt: Der kartellverbotswidrige Beschluß - Ungelöste Probleme „unwirksamer" Beschlüsse im Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsrecht und Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen Herbert Schneider: Vom alten zum neuen norwegischen Aktienrecht - Uwe H. Schneider: Geheime Abstimmung im Aufsichtsrat - Thomas Raiser: Die Zukunft des Unternehmensrechts - Walter Stimpel: Anlegerschutz durch das Gesellschaftsrecht in der Publikums-Kommanditgesellschaft - Peter Ulmer: Vertretung und Haftung bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts Hugo von Wallis: Die offene Handelsgesellschaft und die Besteuerung ihres Gewinns - Winfried Werner: Anstellung von GmbH-Geschäftsführern nach dem Mitbestimmungsgesetz - Harm Peter Westermann: Bestellung und Funktion „weiterer" Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden in mitbestimmten Gesellschaften - Harry Westermann: Gesellschaftsrechtliche Schiedsgerichte Übersicht und Erfahrungsbericht - Franz Wieacker: Geschichtliche Wurzeln des Prinzips der verhältnismäßigen Rechtsanwendung - Herbert Wiedemann: Die Zukunft des Gesellschaftsrechts - Wolfgang Zöllner: Das Teilnahmerecht der Aufsichtsratsmitglieder an Beschlußfassungen der Gesellschafter bei der mitbestimmten GmbH. Verzeichnis der Schriften von Robert Fischer.