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German Pages 422 [424] Year 1999
Germanenprobleme in heutiger Sicht
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1999
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Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer Band 1
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
Germanenprobleme in heutiger Sicht Herausgegeben von Heinrich Beck 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
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Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Reallexikon der germanischen Altertumskunde / von Johannes Hoops. Hrsg. von Heinrich Beck ... - Berlin ; New York : de Gruyter Bis Bd. 4 der 1. Aufl. hrsg. von Johannes Hoops Ergänzungsbände / hrsg. von Heinrich Beck ... Bd. 1. Germanenprobleme in heutiger Sicht. - 2., um ein Vorw. erw. Aufl. - 1999 Germanenprobleme in heutiger Sicht / hrsg. von Heinrich Beck. 2., um ein Vorw. erw. Aufl. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde : Ergänzungsbände ; Bd. 1) ISBN 3-11-016438-8 ISBN 3-11-016439-6
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Vorwort zur zweiten Auflage Zwischen dem Erscheinen des ersten Bandes der Ergänzungsreihe zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde und dem hier vorliegenden Wiederabdruck liegen 13 Jahre — ein Zeitraum, der die Frage weckt, ob dem damaligen Anspruch einer „heutigen Sicht" auch noch nach mehr als einem Jahrzehnt Gültigkeit zukommen könnte. Die Forschung ist seitdem nicht stehengeblieben: Gesamtdarstellungen sind inzwischen erschienen, mehr noch fachspezifische Untersuchungen, die dem Phänomen des Germanischen im letzten vorchristlichen und ersten nachchristlichen Jahrtausend in archäologischer, historischer und philologischer Perspektive nachgehen. Geblieben sind aber doch — ungeachtet gewisser neuer Forschungsergebnisse im Bereich der genannten Fachdisziplinen — wesentliche Fragen der damaligen Publikation. Nach wie vor stellt sich das Problem einer germanischen Altertumskunde als einer Wissenschaft, die es vermöchte, die Einzeldisziplinen auf ein Niveau zu heben, das den Fächer-Absolutismus mit seinem Nebeneinander und Gegeneinander nicht nur verstehbar, sondern auch integrierbar erscheinen ließe. Wenn aus einem sprachhistorisch definierten Germanenbegriff die in der antiken Geschichtsschreibung erstbezeugten Germani (die sog. Germani àsrhenani) als nichtgermanisch auszuklammern sind und der Archäologe erklärt, keine seiner Kultverbände, Kulturen oder Kulturgruppen aus eigener Einsicht als germanisch bezeichnen zu können, so ist die Schwierigkeit eines fächerübergreifend zu definierenden Germanenbegriffs an einem Beispiel genügend angedeutet. Ein weiteres generelles und überdauerndes Problem ist mit den forschungsgeschichtlichen Beiträgen angesprochen. Dabei geht es nicht eigentlich um Forschungsgeschichte im Sinne einer antiquarischen Aufarbeitung der Geschichte der Disziplinen, die als Germanenwissenschaften gelten. Aus der Erkenntnis heraus, daß wir nicht unmittelbar zu den Quellen sind, erwächst vielmehr die Aufgabe, den Voraussetzungen und Bedingtheiten der heutigen Germanensicht nachzuspüren. Die Neigung, dem nordgermanischen Quellenbestand eine hohe Altertümlichkeit zuzubilligen, die ganz im Gegensatz zu seinem absoluten Alter steht, ist nur ein Beispiel, das nach forschungsgeschichtlicher Klärung und hermeneutischer Besinnung verlangt. Ein weiteres Problem verbindet sich mit Termini wie „Germanentum", „Germanität" u. ä. Es gilt, sich bewußt zu werden, inwieweit hier romantisch geprägte Kultur- und Stilbegriffe zugrundeliegen, die einer frühen Zivilisation eine Prägung zuschreiben, die alle Äußerungen materieller und kultureller Art volkstumsmäßig bestimmt sahen. Wieweit reicht ein Begriff „Germanentum" und welche Vorstellungen verbinden wir damit?
VI
Vorwort
Wenn das „heute" in der Titelformulierung als ein Hinweis auf eine sich in Bewegung befindliche und neuen Fragen offene Germanenwissenschaft verstanden würde, wäre dies im Sinne der damaligen Beiträger. Bonn, Dezember 1998
Heinrich Beck
Vorwort Die hier vereinigten Aufsätze zum Germanenproblem gehen in der Mehrzahl zurück auf ein Symposium, das vom 10. bis 13. Oktober 1983 in Bad Homburg v. d. H. stattfand. Die Anregung dazu ging von der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus. Es war die Absicht, die verschiedenen an der Erforschung des Germanischen beteiligten Disziplinen zu einem Gespräch zusammenzuführen, um die Ergebnisse und Denkweisen der jeweiligen Nachbarwissenschaften mit ihren je eigenen Germanenbegriffen besser kennen und verstehen zu lernen. Die Veranstalter waren sich darin einig, daß die Germanenforschung nicht nur ein Quellenproblem darstellt. Wie jede wissenschaftliche Tätigkeit bedarf auch sie der hermeneutischen Reflexion. Auf dieses weite und keineswegs genügend bestellt Feld wollen einige Beiträge dieses Bandes weisen. Den Symposiumsteilnehmern lagen drei Manuskripte bzw. Exposés vor, die nicht in diese Sammlung eingingen: K. von See, Das ,Nordische' in der deutschen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts (inzwischen erschienen im Jahrbuch für internationale Germanistik XV, 1985, S. 8 — 38), M. Fuhrmann, Nationalbegriffe und Nationalklischees bei Alexander von Roes und S. Gutenbrunner (gestorben am 23. 11. 1984), Die Germani cisrhenani. Der Werner Reimers-Stiftung gebührt ein Dank für die großzügige Finanzierung des Symposiums. Sie bot in ihren gastlichen Räumen ideale Voraussetzungen für eine Veranstaltung, die sich das Ziel setzte, zu einem Gespräch zusammenzuführen. Der Band erscheint als Nr. 1 einer Reihe ,Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde'. Es ist daran gedacht, in dieser Reihe Themen aufzugreifen, die über die knappe lexikongemäße Darstellung hinaus der Vertiefung und Diskussion bedürfen. Bonn, Juli 1986
Heinrich Beck
Inhalt Vorwort
V
R . WENSKUS
Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs
1
D . TIMPE
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
22
W . M . ZEITLER
Zum Germanenbegriff Caesars: Der Germanenexkurs im sechsten Buch von Caesars Bellum Gallicum
41
A . A . LUND
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
53
H . v . PETRIKOVITS
Germani Cisrhenani
88
G . NEUMANN
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen
107
Ν . WAGNER
Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff
130
W . P. SCHMID
Alteuropa und das Germanische
155
E . SEEBOLD
Die Konstituierung des Germanischen in sprachlicher Sicht
168
W . MEID
Hans Kuhns „Nordwestblock"-Hypothese. Zur Problematik der „Völker zwischen Germanen und Kelten" 183 H . FROMM
Germanisch-finnische Lehnforschung und germanische Sprachgeschichte 213 Κ . H . SCHMIDT
Keltisch-germanische Isoglossen und ihre sprachgeschichtlichen Implikationen 231 T. L . MARKEY
Social Spheres and National Groups in Germania
248
χ
Inhalt
E . C . POLOMÉ
Germanentum und religiöse Vorstellungen
267
Η.JANKUHN
Das Germanenproblem in der älteren archäologischen Forschung (Von der Mitte des 19. Jh.s bis zum Tode Kossinnas) 298 G . MILDENBERGER
Die Germanen in der archäologischen Forschung nach Kossinna . . . . E . H . ANTONSEN
Die ältesten Runenschriften in heutiger Sicht
310 321
P. SCARDIGLI
Das Problem der suebischen Kontinuität und die Runeninschrift von Neudingen/Baar 344 K . D Ü W E L , H . ZIMMERMANN
Germanenbild und Patriotismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts 358 H . BECK
Andreas Heuslers Begriff des Altgermanischen
396
Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs V o n R . WENSKUS
Die von allen Forschern zutiefst beklagte Verwirrung, die durch den in den verschiedenen Disziplinen in sehr verschiedenartiger Weise aufgefaßten Inhalt und Umfang des Germanenbegriffs hervorgerufen wird, hat gerade in letzter Zeit immer wieder zu Bemühungen geführt, die auf eine gemeinsame Sprachregelung im Interesse interdisziplinärer Zusammenarbeit zielten. Ich verweise dabei vor allem auf jene Abhandlungen zum Rahmenthema IX „Der Begriff des Germanischen", die in den Jahrgängen VII und XIII des Jahrbuchs für Internationale Germanistik erschienen sind und auf die im folgenden noch mehrfach einzugehen ist. In den „Einleitenden Bemerkungen" dazu hat Piergiuseppe Scardigli nun den Herausgebern der 2. Auflage des Reallexikons der germanischen Altertumskunde von Hoops bescheinigt, daß hier „der Begriff .germanisch' in richtiger Weise und mit der hierfür erforderlichen Aufgeschlossenheit gebraucht" werde 1 . Mich jedenfalls hat — als einen der vier Mitherausgeber — dieses Kompliment überrascht, denn mir war durchaus nicht bewußt, daß ein „richtiger" Gebrauch des Germanenbegriffs die Auswahl unserer Stichworte bestimmte, sondern die Notwendigkeit, alles das zu berücksichtigen, was im Laufe der Forschungsgeschichte einmal als „germanisch" angesehen wurde oder in einem wesentlichen Verhältnis dazu stand2. Dieser Bereich war aber nicht nur je nach Disziplin, sondern auch innerhalb jeder Disziplin sehr verschieden weit abgesteckt. Zuweilen schloß das von einer Disziplin benutzte Merkmalsbündel zur Umschreibung dessen, was man unter „Germanen" verstand, wichtige Komplexe, die nach dem Verständnis anderer Fächer wesentlich dafür waren, sogar ganz aus. Dies führte zu der eigentlich absurden Situation, daß ausgerechnet das Ethnikum, von dem der Germanenname in unserem Raum „ausgegangen" war, für die heute in unserem Forschungsbereich bedeutsamsten Disziplinen, Germanistik und prähistorische Archäologie, einfach ins Abseits geriet. Die 1
2
Piergiuseppe Scardigli: Einleitende Bemerkungen. In: Jahrb. f. Intern. Germ. VII, 1, 1977, S. 110. Vgl. das Vorwort zur 2. Auflage S. IX.
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R. Wenskus
Germani cisrhenani Caesars, denen nach Auffassung des Historikers der Germanenname in erster Linie zukommen müßte, werden ausgegrenzt; ausgegrenzt nicht nur von den Archäologen, sondern auch von vielen Sprachwissenschaftlern. Wenn auch die Behauptung von R. Hachmann — den eigenen archäologischen Standpunkt unterstreichend —, daß auch unter dem Namenmaterial dieser Germani „germanisches im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft gewiß nicht vorhanden" 3 sei, etwas überspitzt zu sein scheint, wird die Zugehörigkeit dieses Volkes zu den Germanen der Wissenschaft mehr oder weniger angezweifelt. Man vergleiche etwa die Ausführungen von H. Birkhan, der zum Schluß kommt, „daß ihre Sprache keine LV mitgemacht hatte, d. h., daß sie im linguistischen Sinne keine Germanen waren" 4 , während Hans Kuhn meint, daß der Hauptstamm der Germani, die Eburonen, „wenigstens im Kern Germanen gewesen sein" müssen, da er annimmt, daß sie es gewesen seien, „die den Übergang des Anlauts -K- zu H - . . . ins Land gebracht haben werden" 5 . Gegen diese Sicht hat sich der Archäologe Harald von Petrikovits zum Sprecher der Historiker gemacht, indem er etwa den Vollzug der Lautverschiebung als Kriterium für den germanischen Charakter der Germanen in Frage stellt6. Bezeichnenderweise hat sich diese grundsätzliche Konfrontation zwischen Sprachwissenschaftler und Historiker im gleichen Raum für die Völkerwanderungszeit noch einmal ergeben, als Hans Kuhn mit sprachlichen Argumenten das von Eugen Ewig verteidigte Frankentum der Ripuarier bestritt7. Dieser Sachverhalt deutet auf grundsätzlichere Schwierigkeiten, die sich im Verständnis der Disziplinen eingestellt haben und in dieser Krise gipfelten. Man kann nun versuchen — und das liegt dem Historiker am nächsten —, diese Krise historisch zu erklären. Das ist beim heutigen Forschungsstand nicht einmal allzu schwer. Die Sprache galt Herder und der auf ihm fußenden Romantik als wichtigster Ausdruck des alle Lebensäußerungen einer Gemeinschaft durchdringenden und erfüllenden Volksgeistes. Im Gefolge dieser 3
4
5
6 7
Rolf Hachmann: Der Begriff des Germanischen. In: Jahrb. f. Intern. Germ. VII, 1, 1977, S. 128, vgl. S. 136. Helmut Birkhan: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit. Der Aussagewert von Wörtern und Sachen für die frühesten keltisch-germanischen Kulturbeziehungen (Sitzungsber. d. Österr. Akad. d. Wiss., Phil. hist. Kl. Bd. 272). 1970. S.233; vgl. S.221. Hans Kuhn: Das Rheinland in den germanischen Wanderungen I. In: Rhein. Vierteljahrsbll. 37, 1973, S. 311 (wieder abgedr. in: Kleine Schriften IV, 1978, S. 485). Wolfgang Meid meinte in der Diskussion der Tagung, daß es zwischen Germani und „echten Germanen" keine beobachtbaren Unterschiede gäbe. Harald von Petrikovits: Die Rheinlande in römischer Zeit. Textteil. 1980. S. 44. Vgl. Eugen Ewig: Die Franken am Rhein. Bemerkungen zu: Hans Kuhn: Das Rheinland in den germanischen Wanderungen. In: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter. Hg. v. H. Beumann/W. Schröder. 1978. S. 1 0 9 - 1 2 6 .
Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs
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Grundanschauung wurde auch die germanische Altertumskunde einschließlich der Stammeskunde eine Domäne der Philologen. Das gleichzeitige Aufblühen der sprachvergleichenden Methoden lieferte die Kriterien, nach denen die überlieferten Erscheinungen klassifiziert wurden. Da die Nachfahren als germanisch bezeichneter Völker in der Regel einem bestimmten Sprachtyp mit einigen bezeichnenden Merkmalen (germanische Lautverschiebung usw.) zugeordnet werden konnten, wurde diese Völkergruppe unter den Oberbegriff „Germanen" zusammengefaßt. Das Unglück wollte es dann, daß nun ausgerechnet jenes Volk, das sich selbst Germani o. ä. nannte, im Verlaufe der Forschung in den Verdacht geriet, dieser Sprachgruppe nicht angehört zu haben. Setzen wir dies als wahr voraus, ergibt sich, daß die Ausbreitung des Germanennamens im Verlaufe der Geschichte sich nach anderen Merkmalen orientierte, als dies die Germanistik ursprünglich voraussetzte. Wir werden später sehen, daß dies in der Tat wahrscheinlich ist. Da der romantische Volksgeist — wie gesagt — alle Lebensbereiche durchdringt, war es eigentlich selbstverständlich, daß man auch den archäologisch faßbaren Niederschlag der Kultur in Parallele dazu sah und mit gleichen Kategorien beschrieb. Das gilt nicht nur für den Schüler des bedeutenden Germanisten Karl Müllenhoff, den umstrittenen Gustav Kossinna, sondern auch für dessen schärfste Kritiker, die z. T. unbewußt, z. T. auch bewußt in neu reflektierten Ansätzen die Parallelität von Sprache und Sachkultur und ihre psychologischen und anthropologischen Voraussetzungen zu erfassen suchen, auch um dadurch — wie etwa R. Hachmann — „zu einem objektiven Germanenbegriff' zu kommen8 und damit überhaupt erst die Diskussion zwischen Sprachwissenschaftlern und Archäologen möglich zu machen. Die Nützlichkeit — ja Notwendigkeit — solcher Überlegungen kann nicht bestritten werden, und wir werden solche Denkansätze im Verlaufe der Tagung auch sicher weiter diskutieren. Dennoch muß der methodenbewußte Historiker daran zweifeln, daß damit für ihn eine Begriffsbildung erreicht wird, die allen seinen Erfordernissen entspricht. Dies liegt nun daran, daß der Historiker — bewußt oder unbewußt — neben derartigen Allgemeinbegriffen sehr häufig noch Ausdrücke benutzen muß, die sich einer vorhergehenden Definition entziehen. Die manche Diskussionen über einen Gegenstand oder einen Sachverhalt einleitende Forderung: „Das müssen wir erst einmal definieren, ehe wir ohne Mißverständnisse darüber sprechen können", würde in vielen Fällen sofort auf ein falsches Geleise führen. Die „präskriptive Definition" wirkt also in bestimmten Zusammenhängen nicht nur in Richtung auf größere Klarheit, sondern wirkt im Gegenteil als Prokrustesbett, dem die Realität angepaßt werden muß und 8
Hachmann (vgl. Anm.3), S. 118 (Zitat) und die Überlegungen S. 139 ff.
4
R. Wenskus
dementsprechend die Sachverhalte zurechtgestutzt werden müssen. Ähnliche Erkenntnisse sind es ja auch gewesen, die schon Max Weber zur Einführung der Kategorie der Idealtypen geführt haben. Aber dieser Ansatz löst unsere Schwierigkeiten auch nicht ganz auf. Von den Gründen für diese grundsätzlichen Schwierigkeiten sollen hier einige angedeutet werden. Sie sind großenteils von den jeweils zur Verfügung stehenden Quellen her bedingt. Seit Moritz Hoernes9 wird von Prähistorikern dessen Einsicht, daß wir in dem archäologisch faßbaren Niederschlag der Vergangenheit „im Grunde genommen" immer nur „Kulturgruppen, Zustände, Gewordenes, nicht das Werden und Entstehen" als solches zu erfassen vermögen, immer wieder in methodischer Reflexion ins Bewußtsein gehoben, nachdem schon zwei Jahrzehnte vorher Sophus Müller bemerkt hatte: „Der Fundstoff steht als Wirkung vor uns, dessen Ursache wir kennenzulernen wünschen"10. Will man also nicht in rein antiquarischer Beschreibung der Befunde verharren und das Gegebene in historische Zusammenhänge einordnen, muß man Denkmodelle zu Hilfe nehmen, mittels derer man die „Klüfte" zwischen den aufeinander folgenden Zustandsformationen zu überbrücken versucht. Vor allem die Analogie wird dabei bemüht11. Das heißt aber, daß im allgemeinen nur typische Verläufe, die entweder mit Allgemeinbegriffen beschrieben oder als Idealtypen dargestellt werden können, die Erklärungsmodelle abgeben. Die Geschichte wird als Prozeß oder als Kombination von Prozessen aufgefaßt, wobei auf die Problematik des Begriffs „Prozeß"12 hier nicht näher eingegangen werden soll. Ganz analog werden auch in der vergleichenden Sprachwissenschaft die einzelnen historisch aufeinander folgenden Sprachzustände durch erschlossene Vorgänge (Lautverschiebungen usw.) miteinander verbunden. Auch für einige andere historische Disziplinen gilt dies entsprechend; etwa für die Rechts- und Verfassungsgeschichte in den frühen Zeitabschnitten, die anfangs nur als eine Aufeinanderfolge verschiedener Rechtszustände (der germanischen, der fränkischen Zeit usw.) dargestellt wurden. Schließlich ist daraufhingewiesen worden, daß die ethnographischen Beschreibungen bei Herodot in ihrer „Summe zwar nicht als Kulturgeschichte, aber sehr wohl als Kulturzustände zu bezeichnen" wären. Dennoch 9 10
11
12
Moritz Hoernes: Die Hallstattperiode. In: Archiv f. Anthropologie N.F. 3, 1905, S. 240 f. Sophus Müller: Mindre Bidrag til den forhistoriske Archaeologiske Methode. In: Aarbeger for nordisk Oldkyndighed og Historie, 1884, S. 161 ff. zit. nach Horst Kirchner: Frühgeschichtsforschung und historische Kombination. In: Ur- und Frühgeschichte als historische Wissenschaft (Festschr. f. E. Wahle). 1950. S. 35. Vgl. Kirchner (vgl. Anm. 10), S . 2 8 f f . ; Fritz Tischler: Vorgeschichtliche Völker- und Ideenwanderungen. In: Saeculum 1, 1950, S. 332; vgl. Franz Hancar: Umweltkrise und schöpferische Tat in schriftloser Urzeit. In: Saeculum 1, 1950, S. 124 ff. Historische Prozesse. Hg. v. Karl-Georg Faber/Christian Meier (Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik Bd. 2). 1978.
Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs
5
würde es falsch sein, diese Art der historischen Kombination mit Horst Kirchner als „das eigentliche Anliegen aller Geschichtswissenschaft"13 zu propagieren, denn damit würde ein wesentlicher Aspekt des Geschichtlichen vernachlässigt werden. Damit ist das „narrative Element" unserer historischen Schriftquellen gemeint, das zwar von einigen Strömungen der modernen Geschichtswissenschaft stark relativiert wurde 14 , das aber neuerdings zunehmend wieder m. R. in den Blickpunkt des Interesses rückt 15 . Diese narrativen Quellen (nicht nur Geschichtswerke, sondern auch narrationes von Urkunden usw.) bilden nach wie vor nicht nur das chronologische Grundgerüst unseres Geschichtsverständnisses, trotz aller Tendenz und trotz aller Irrtümer. Sie geben auch einen guten Teil der Analogien her, mit deren Hilfe Archäologen kombinieren. Doch während der Archäologe im allgemeinen die gegebenen aufeinanderfolgenden Zustände mit der Kombination eines abstrakten Prozesses verbindet, steht der Historiker in den narrativen Schriftquellen einer Kette von Ereignissen gegenüber, aus deren Voraussetzungen und Wirkungen er nun seinerseits Ausgangs- und Endzustand zu erschließen sucht. Die Bedeutung des historischen Ereignisses war — nicht unbeeinflußt von der Überbewertung der Tagesereignisse des Sensationsjournalismus und der von ehrgeizigen Politikern gern als „historisch" bezeichneten eigenen Erfolge — von den Anhängern der sog. Strukturgeschichte genau so wie die historisch bedeutsame Persönlichkeit und ihr Handeln abgeschwächt worden. Der Archäologe, dessen Fundgut ja auch vielfach die Summe unzähliger, über lange Zeit hin vollzogener, alltäglicher, z. T. unbewußter und selbstverständlicher Handlungen repräsentiert, konnte sein Tun mit den Methoden und Interessengebieten der Historiker der longue durée viel eher in Einklang bringen als mit denen, die nach wie vor die Völker und ihre politische Geschichte als vornehmsten Gegenstand ihrer Forschung betrachteten16. Da nun aber die Zeitgenossen bewegendes politisches Handeln viel eher schriftliche Zeugnisse hinterließ als 13 14
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Kirchner (vgl. Anm. 10), S. 39. Vgl. die Diskussion zum Problem Narrativität und Geschichte, in: Geschichte — Ereignis und Erzählung. Hg. v. Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel. 1973. S. 519-589. Oskar Köhler: Die vielen „Geschichten" und die eine „Fundamentalgeschichte". In: Saeculum 29, 1978, S. 107-146; vgl. S. Quandt/H. Süssmilch [Hgg.]; Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. 1982. Vgl. zu dieser Affinität zwischen Archäologie und Strukturgeschichte Fernand Braudel: La longue durée, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft. Hg. v. Theodor Schieder/Kurt Gräubig ( = Wege der Forschung CCCXXVIII). 1977. S. 170; vgl. G. G. Iggers: Die „Annales" und ihre Kritiker. Probleme moderner französischer Sozialgeschichte. In: Hist. Zeitschr. 219, 1974, S. 178 ff. Das „Volk als solches" betrachtet etwa Hermann Bengtson: Einführung in die Alte Geschichte, 8. Aufl. 1979, S. 15 nach wie vor als den „vornehmste(n) Gegenstand der Geschichtsforschung".
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R. Wenskus
anonymes alltägliches Tun, muß es notwendig zu Diskrepanzen in den Aussagen der verschiedenen Quellengruppen kommen. Sicher kann man auch im Fundgut der Prähistoriker das Individuum und sein Wirken erkennen17 sowie Ereignisse rekonstruieren, doch hat das kaum Auswirkungen auf die Begriffsbildung und das Geschichtsverständnis. Das Zuständliche seiner Quellen verhindert zudem auch weithin die Feststellung schnell ablaufender Prozesse, wie etwa der Völkerwanderungen18, die zwar in günstigen Fällen nach ein bis zwei Generationen der Wiederseßhaftigkeit im Fundgut faßbar werden können, in den meisten jedoch — wie ζ. B. bei dem Rom erschütternden Kimbernzug — nur wenige äußerst umstrittene Überreste hinterließen. Dazu kommt, daß Ereignisse nicht, wie vielfach angenommen, nur kurzfristige Prozesse sind. Eher kann man sie sich als Knotenpunkte verschiedener Prozesse ansehen. Aber bei ihnen tritt auch die intentionale Komponente als Beweggrund viel stärker in den Vordergrund als bei anonymen alltäglichen Handlungen, die zwar ζ. T. auch durch „Mentalitäten" gesteuert werden, doch ihre Bedeutung im wesentlichen nur durch ihre große Zahl gewinnen. Auch gerade dann, wenn die Absicht nicht dem ungewollten Ergebnis entspricht, ist sie für den Historiker zum „Verstehen" der Beweggründe für das Handeln unabdingbar. Ob ein Ergebnis oder ein Zustand gewollt oder angestrebt war, können wir aus den archäologischen Befunden, aber auch aus systematisch strukturierten Schriftquellen vielfach nicht erkennen.
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Horst Kirchner: Vorgeschichte als Geschichte. In: Die Welt als Geschichte 11,1951, S. 8 3 - 9 6 ; Franz Hancar (vgl. Anm. 11), S. 124ff.; Karl J . Narr: Das Individuum in der Geschichte. Möglichkeiten seiner Erfahrung. In: Saeculum 23, 1972, S. 253 ff. — Zum Problem des Individuellen und des Allgemeinen in der Geschichte vgl. Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. 1971. S. 45 ff. A. C. Haddon: The Wanderings of Peoples. Cambridge 1911, 1927; A. u. E. Kulischer: Kriegs- und Wanderzüge. Weltgeschichte als Völkerbewegung. Berlin/Leipzig 1932; G. Patroni: Espansioni e migrazioni. In: Archivio Glottologico Italiano 32, 1940, S. 21 —69; G. Taylor: Environment, Race, and Migration. 3. Aufl. 1949; Wilhelm E. Mühlmann: Soziale Mechanismen der ethnischen Assimilation. In: Abhh. d. 14. Intern. Soziologenkongresses Rom II, 1951, S. 1—47; Tischler (vgl. Anm. 11); H. Hochholzer: Typologie und Dynamik der Völkerwanderungen. In: Die Welt als Geschichte 19, 1959, S. 1 2 9 - 1 4 5 ; Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. 1961, unv. 2. Aufl. 1977; Edg. Kant: Migrationernas klassifikation och problematik; nigra reflexioner. In: Svensk Geograflsk Arsbok 29, 1953, S. 180 - 209; Kurt Tackenberg: Zu den Wanderungen der Germanen im ersten Jahrhundert vor Chr. Geb. In: Antike und Universalgeschichte (Festschr. f. Hans Erich Stier). 1972. S. 2 3 4 - 2 5 6 ; L. Vajda: Zur Frage der Völkerwanderungen. In: Paideuma 19/20, 1973/74, S. 5 - 5 3 ; Friedrich Schiette: Zum Problem ur- und frühgeschichtlicher Wanderungen und ihres archäologischen Nachweises. In: Archäologie als Geschichtswissenschaft. Studien und Untersuchungen. Hg. v. Joachim Herrmann (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 30). 1977. S. 39 — 44.
Übet die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs
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Die sehr verschiedenartigen beiden Typen der durch die Art der Quellen mitbedingten Fragestellungen in den historischen Einzeldisziplinen können nur in ihrer Kombination ein dem wissenschaftlichen Anspruch nahekommendes Gesamtbild ergeben. Die Bedingungen, unter denen solche Kombinationen möglich und statthaft sind, können hier nicht im einzelnen behandelt werden. Nur dort, wo sich die festgestellten Sachverhalte wenigstens zum Teil überschneiden, können wir mit vertretbaren Ergebnissen rechnen. Das wird aber gerade bei einmaligen, ereignishaften Vorgängen relativ selten der Fall sein. Derartige einmalige, ereignishafte Vorgänge und ihre Akteure werden nun in unseren schriftlichen Quellen mit Ausdrücken benannt, die wir sprachlogisch als „Namen" bezeichnen müssen, wobei nachdrücklich auf die grundsätzliche Verschiedenheit von Namen und Begriffen hingewiesen werden muß. Obwohl dies fast selbstverständlich erscheint, wird in der Praxis gegen diese Einsicht ständig verstoßen 19 . Dazu kommt hinzu, daß — nach dem Gesagten über die quellenbedingten Unterschiede im Ansatz der Fragestellung wohl verständlich — der Historiker den Namen und der mit ihnen befaßten Namenforschung notwendig ein erheblich bedeutenderes Gewicht beimessen muß als die Archäologen, bei denen derartige Überlegungen weithin als „theoretische Spielereien" aufgefaßt werden 20 . Als eins unter vielen Beispielen für derartige Verständigungsschwierigkeiten zwischen Historikern und Archäologen greife ich die Behauptung von Albert A. Genrich heraus, der ebenfalls „an der Ernsthaftigkeit solcher Gedankenspiele" zweifelt und betont, daß der an verschiedenen Stellen Europas auftauchende Ambronenname „für die Geschichte der Ambronen . . . kaum eine Bedeutung" besitzt 21 . Der Historiker wird ihm sofort jene von Plutarch (Marius c. 19) überlieferte Episode bei der Schlacht von Aquae Sextiae entgegenhalten, als die mit den Teutonen verbundenen Ambronen, ihren Namen als Schlachtruf benutzend, auf italische Ligurer im Heer des Marius stießen, die ihrerseits diesen Namen 19
20
21
Darauf weist mit Recht Klaus Frerichs: Begriffsbildung und Begriffsanwendung in der Vor- und Frühgeschichte. 1981. S. 25 hin. Auch Gerhard Dobesch: Zur Ausbreitung des Germanennamens. In: Pro Arte Antiqua (Festschr. f. Hedwig Kenner). Wien—Berlin 1983. S. 78 betont, daß die Entstehung des Begriffes „Germanen" von der Herkunft des Namens „Germani" zu trennen sei. Leider wurde mir dieser Aufsatz, der sich in manchem mit meinen Gedankengängen berührt, erst nach der Tagung zugänglich. So z.B. Ludwig Pauli: In: Die Kelten in Mitteleuropa. 1980. S.20. Vgl. auch „Krieger und Salzherren (Hallstattkultur im Ostalpenraum)" Hg. v. Oberösterr. Landesmuseum — Stadtmuseum Linz 1970, S. 37: „Die Kenntnis der Namen zum Beispiel der Breuner und Genauner allein bedeutet für unser historisches Wissen nicht allzuviel." Albert A. Genrich: Der Ursprung der Sachsen. Eine historisch-archäologische Studie. In: Die Kunde N.F. 21, 1970, S. 95 f.; vgl. S. 73 zu einem anders gelagerten Problem der Namenspropaganda.
8
R. Wenskus
als von ihren Vätern überkommen beanspruchten. Nun wird man sicher darüber streiten können, ob die Namen beider Stämme historisch zusammenhängen — in dem Sinne, daß durch eine Wanderbewegung von Stammessplittern der Name in verschiedene Gegenden übertragen wurde wie der Sachsenname nach England. Aber diese Frage ist nicht eitel und überflüssig, sondern für unser Geschichtsbild von wesentlicher Bedeutung, da sich mit dem Namen normative Vorstellungen verbinden22. Ganz ähnlich wie der Ambronenname ist nun der der Germani\Germanioi über verschiedene Gegenden Europas und Westasiens verbreitet. Genau wie jener ist auch dieser kein einer einzelnen Person zukommender Eigenname, sondern ein sog. Gemeinname mit ganz besonderen logischen Qualitäten, deren Schwierigkeiten hier nicht im einzelnen zu erörtern sind. Es sei hier nur betont, daß solche Gemeinnamen als solche keine Begriffe sind, denn die Merkmale der Begriffe sind „auf eine andere Weise gegeben" als einzelne Gegenstände und Personen im Verhältnis zu dem sie umfassenden Gemeinnamen23. In unserem Fall muß weiter gesagt werden, daß der Gemeinname Germani dadurch, daß er an verschiedenen Stellen vorkommt, noch nicht zu einem Begriff wird, genau so wenig, wie das für den Namen Hans Schmidt zutrifft, so häufig er auch sein mag. Solange der Ausdruck als Nominator verwandt wird, bleibt er Name oder Kennzeichnung. (Ich verwende hier die in der modernen sprachanalytischen Logik gebräuchlichen Termini.24) Dies ist aber hier der Fall, ganz gleich, ob man mit Vittore Pisani25 das Vorkommen des Namens in Spanien, Ligurien und Persien aufgrund der damit verbundenen Namen (Oretani — Oriates — Ori) durch historische Wanderung oder mit W. Steinhauser26 durch analoge Benennung nach gleichen geographischen 22
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Karl Hauck: Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien. In: Saeculum 6, 1955, S. 186—223. Namen — sowohl Volks- als auch Personennamen — sind vor allem für die führenden Gruppen wichtig, die als Traditionskerne die politische Überlieferung pflegen. In diesem Bereich bestimmt der Wechsel viel stärker das Bild als bei archäologischen Quellen, die im allgemeinen die Kontinuitäten der Unterschichten hervortreten lassen und vielfach nur die Rahmenbedingungen für historisches Geschehen veranschaulichen können. Der Historiker muß für ein Gesamtbild beides — Kontinuität und Innovation — berücksichtigen, wenn er der Realität nahe kommen will und historische Tiefe erreichen will. Vgl. Frerichs (vgl. Anm. 19) S.26 Anm.61. Etwa Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen: Logische Propädeutik (Hochschultaschenbuch des Bibl. Inst. 227/227 a). 1967, 2. Aufl. Mannheim 1969. Vittore Pisani: Intorno al nome Germani. In: Beitr. z. Namenforsch. 1, 1949, S. 72 ff.; vgl. dazu Hans Schmeja: Der Mythos von den Alpengermanen. 1968, S. 50 ff. Walter Steinhauser: Herkunft, Anwendung und Bedeutung des Namens „Germani". In: Festschr. f. Dietrich Kralik. Horn 1954, S. 9—25; ders.: Der Name „Germanen" im Süden. In: Zeitschr. f. deutsches Altertum 87, 1956, S. 81 —104. Dazu Schmeja (vgl. Anm. 25), S. 53 ff. — Vgl. auch zum Germanennamen in Iran: Otto Paul: die Γερμάνιοι bei Herodot
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Bedingungen (hier: warme Quellen) erklärt, was nach ihm für Spanien, Persien und den Balkanraum zutrifft, für die inschriftlich bezeugten Germa (ni) der ligurischen Alpen jedoch nicht. Auch er muß also auf die Vorstellung der Namenwanderung wenigstens teilweise zurückgreifen, was wohl auch für Spanien zutrifft 27 . Wenigstens ζ. T. dürfte also der Germanenname durch Wanderbewegungen von Splittergruppen verbreitet worden sein, ζ. T. sogar von Wanderungen aus dem Raum, in dem uns später die Germani cisrhenani bezeugt sind. Wieweit ein Gemeinname wie der der Germani als Begriff benutzt werden darf, hängt davon ab, ob Merkmale dafür namhaft gemacht werden können. Dabei ist zunächst zu fragen, ob diese Merkmale als Zuordnungsgrund von den Betroffenen selbst wahrgenommen und benutzt werden. Nur wenn wir dies bejahen können, dürften wir mit R. Hachmann von einem Germanenbegriff der Germanen selbst sprechen28. Bei Fremdbezeichnungen werden wir — da durch das Distanzerlebnis gefördert — solche Gemeinnamen am ehesten mit wirklichen oder fiktiven Merkmalen versehen können. Für den modernen Forscher werden diese jedoch in jener frühen Zeit kaum greifbar sein und der Ausdruck „Germani" damit nur ein Name bleiben. Haben wir also in dieser Anfangsphase in unseren Zeugnissen praktisch nur Namen für ethnische Einheiten, Splitter oder Gruppen vor uns, so gilt dies für die im Namensatz Tacitus Germania c. 2 beschriebene „pseudologische Gleichsetzung"29, der Zuordnung anderer Stämme durch diese selbst zum Germanen/ra^re«, zwar auch noch, aber nicht mehr in gleicher Weise. Es ist schon aus der Formulierung deutlich erkennbar, daß dies ein in mehreren Phasen verlaufender Prozeß war und die Zugehörigkeit zum nomen Germanorum zeitweilig dadurch ungesichert war, daß die „eigentlichen", die ursprünglichen Germanen diese Zugehörigkeit anfangs nicht akzeptierten. Dieser Vorgang dürfte einige Zeit vor dem Erscheinen der Kimbern in Gallien (110 v. Chr.) anzusetzen sein. Denn der Hauptstamm der Germani cisrhenani, die Eburonen, sind durch den Kimbernsturm ihrer Hegemonialstellung verlustig gegangen. Zur Zeit Caesars war ihr Gebiet in zwei Königreiche zerfallen, von denen das westliche unter Ambiorix den als Kimbernnachkommen (Caes.
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und das heutige Kirman. In: Zeitschr. f. Ortsnamenf. 8, 1932, S. 110—119; ders.: Über iranische Ortsnamen, in: Zeitschr. f. Ortsnamenf. 10, 1934, S. 207 ff.; Joseph Schnetz: Zu dem Thema: Die Γερμάνιοι bei Herodot und das heutige Kirman. In: Zeitschr. f. Ortsnamenf. 10, 1934, S. 2 1 5 - 2 2 1 . Vgl. Birkhan (vgl. Anm. 4), S. 214, der wohl mit Recht die in Iberien und Germanien gemeinsam vorkommenden Namen als Indiz dafür anführt. Rolf Hachmann, in: Rolf Hachmann/Georg Kossack/Hans Kuhn: Völker zwischen Germanen und Kelten. Neumünster 1962. S. 48. Vgl. zu diesem Begriff Wenskus (vgl. Anm. 18), passim.
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R. Wenskus
b. Gall. II 29.4) angesprochenen Aduatuci, die sich bezeichnenderweise nach Atuatuca, einem Oppidum im Lande der Eburonen (Caes. b. Gall. VI 32.3) nannten, tributpflichtig war 30 , während die östliche Hälfte des Landes unter Catuvolcus (Caes. b. Gall. VI 31.5: rex dimidiae partis Eburonum) wie auch die ebenfalls zu den Germant cisrhenani zählenden Condrusi in einem Klientelverhältnis zu den Treverern stand31. Eine solche politische Situation verträgt sich nun überhaupt nicht mit den Bedingungen, die wir voraussetzen müssen, wenn zu den Stämmen, die sich zeitweilig den Germani zuordneten, neben den Nerviern auch die Treverer gehörten, da die Überlegenheit des Stammes, dem man sich zuordnete, außerordentlich sein mußte. Hier, wo die Zuordnung nicht mehr unmittelbar und wie selbstverständlich gegeben war, wird man viel eher auf Merkmale als Gründe für eine solche Zuordnung stoßen. Theoretisch wäre also eine Definition möglich. Aber auch hier ist uns — abgesehen von der als Grund genannten Furcht — nur die Tatsache der Zuordnung überliefert und nicht die Kriterien, die sie intentional begründeten. So ist uns auch für diese Zeit der Germanenname nach wie vor nur als Gemeinname faßbar, ohne daß wir die Möglichkeit haben, hier die damals vorgenommenen Zuordnungen zu dieser Namen-Gemeinschaft auf ihre Berechtigung aufgrund objektiver Merkmale zu prüfen. Erst mit dem Werk Caesars sind wir in der Lage, einen Germanenbegriff mittels einer konstativen Definition zu erarbeiten. Aber das Unglück will es, daß dieser Germanenbegriff Caesars offensichtlich bereits Merkmale bekommen hat, die über das hinausgehen, was wir von einer Selbstbezeichnung erwarten. Dazu kommt die umstrittene Frage, ob es Caesar selbst gewesen ist, der aus Gründen politischer Tendenz diesen Germanenbegriff geschaffen hat32. Daß er nicht der erste gewesen ist, der die Römer mit dem Germanennamen vertraut machte, ist allgemein akzeptiert, doch sind die erhaltenen Poseidoniosfragmente zu dürftig, um eine wirklich sichere Aussage darüber zu erlauben, ob er die Germani als besondere Einheit innerhalb der Keltengruppe oder schon als von diesen durch den Rheinstrom geschiedenes Fremdvolk angesehen hat33. Umstritten ist auch die Annahme von Eduard Norden, die Römer hätten im Verlauf der Sklavenkriege Kelten und Germanen zu unterscheiden gelernt 34 . Der Einwand von R. Hachmann, daß alle Nachrich30 31 32
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Caes. Gall. V 27.2. Caes. Gall. IV 6.4. Gerold Walser: Caesar und die Germanen (Historia, Einzelschriften I). 1956; Hachmann Anm. 28), S . 9 f . und passim. Eduard Norden: Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania. 4. Aufl. 1959. führt die Erwähnung der Rheingrenze bei Strabo III 196 auf Poseidonios zurück. Ihm Hachmann (vgl. Anm. 28), S.44; vgl. S.48. Norden (vgl. Anm. 33), S . 7 8 f f . ; dageg. Hachmann (vgl. Anm. 3), S. 121; Dobesch
(vgl. S. 81 folgt (vgl.
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ten über die Sklavenkriege erst aus caesarischer oder gar nachcaesarischer Zeit stammen und ein Einfluß der Schriften Caesars vorliegen könnte35, ist nicht bündig zu widerlegen, bleibt aber seinerseits auch unbegründbare Hypothese. H. Nesselhauf hat dagegen die Selbstverständlichkeit angeführt, „mit der nicht nur Caesar, sondern auch schon Cicero im Jahr 56 (de prov. [inciis] cons. [ularibus] 13.33) Kelten und Germanen einander entgegenstellt36. Diese Übereinstimmung der beiden nun wirklich nicht durch eine gleiche politische Tendenz verbundenen Politiker kann in der Tat nur erklärt werden, wenn nicht Caesar allein für diese Unterscheidung der beiden Stammesgruppen verantwortlich gemacht wird. Wo ist nun die Quelle für diese Sprachregelung zu suchen? Ich glaube, man kann eine einigermaßen begründbare Hypothese dafür anführen. Den Schlüssel zu dieser Annahme liefert Caesar selbst in seinem Germanenkapitel Buch VI 21, wo er die Germani betont von den Galliern absetzt. Zum Leidwesen der älteren Germanistik sagt er über die sprachlichen Verhältnisse kein Wort, obwohl er für Unterschiede in diesem Bereich durchaus aufgeschlossen war, wie das erste Kapitel des ersten Buches der Kommentarien zum Gallischen Krieg zeigt, wo er die lingua an erster Stelle der Merkmale nennt, durch die sich die drei Stammesgruppen Galliens unterscheiden. Den Ton trägt hier ein ganz anderes Merkmal: Nam ñeque druides habent. Dem Staatsmann Caesar mußte der grundlegende Unterschied, der damit beide Seiten kennzeichnete, unmitelbar einleuchten, denn wenn er auch im Anschluß auf die priesterlichen Funktionen der Druiden abhebt, wußte er doch sehr gut — was aus anderen Wendungen, die ich hier nicht ausführlich erörtern kann, sehr gut belegbar ist —, daß die Druiden — durch ihre Stellung im Rechts wesen (b. Gall. VI 13.5: Nam fere de omnibus controversiis publicis priva Usque constituunf) etwa oder die Erziehung der adligen Jugend — der politischen Organisation eine besondere Struktur verliehen. Gerade das unmittelbar darauf folgende hat eine diffamierende Tendenz. Daß die Germani sich nicht um Opfer bemühten (neque sacrificiis student), ist nicht nur aus allgemeinen Erwägungen unwahrscheinlich, sondern wird durch eine Vielzahl anderer Quellen widerlegt 37 . Verständlich wird die Aussage durch den druidischen Anm. 19), S. 84. Die seit O. Hirschfeld: Der Name Germani bei Tacitus und sein Aufkommen bei den Römern. In: Festschr. f. H. Kiepert. 1898. S. 270 ff. damit verbundene Frage der Zuordnung der Kimbern und Teutonen zu den Germanen soll hier vorerst ausgeklammert bleiben; vgl. unten S. 14. 35 36
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Hachmann (vgl. Anm. 34). Herbert Nesselhauf: Die Besiedlung der Oberrheinlande in römischer Zeit. In: Bad. Fundber. 19, 1951 — hier zit. nach dem Wiederabdruck in: Zur germanischen Stammeskunde ( = Wege der Forschung CCIL). 1972. S. 129 Anm. 6. Vgl. dazu Dobesch (vgl. Anm. 19), S.84. Vgl. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte I. 2. Aufl. 1956. S. 408 ff.
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Anspruch auf das Opfermonopol (b. Gall. VI 13.4: sacrificia publica ac privata procurant). Daß die Germani nur das als göttlich verehrten, was sie wahrnahmen {Sol, Vulcanus und Luna) und die übrigen Götter nicht einmal vom Hörensagen kennen, ist seit Karl Müllenhoff mit Recht als unglaubwürdig hingestellt worden38. Eine Reihe antiker Schriftsteller seit Herodot hat die Verehrung der Himmelskörper und Elemente als Merkmal primitiver Religion betrachtet. Es könnte sich also hier um einen der seit Eduard Norden immer wieder herausgestellten Barbarentopoi handeln, die Caesar in Ermangelung anderer Nachrichten verwendet hätte39. Doch der Zusammenhang mit der Nennung der Druiden deutet in eine andere Richtung. Es wird weithin wohl mit Recht angenommen, daß Caesar viele seiner Kenntnisse über die Germani keltischer Vermittlung verdankte40. Einen seiner Gewährsmänner nennt er selbst: den Aeduer Diviciacus. Als dieser als Sprecher der Gallier Caesar das Leid seiner Landsleute klagt, findet er Worte über die Germani, die in ganz entsprechender Weise abwertend klingen: Das germanische Land könne mit dem gallischen nicht verglichen werden, ebensowenig ihre Lebensweise (b. Gall. I 31.11: ñeque enim conferendum esse Gallicum cum Germanorum agro, ñeque banc consuetudinem cum illa comparandam). Daß dies nicht allein caesarische Vorstellungen Diviciacus in den Mund legt, wird dadurch wahrscheinlich gemacht, daß es wohl eben jener Diviciacus gewesen ist, der für die mit Caesars Auffassung übereinstimmende Ciceros verantwortlich war. Diviciacus besuchte im Jahre 61 Rom, um Hilfe gegen die Sequaner und Ariovist zu erbitten, und trat dabei in Verbindung mit Cicero. Nun ist es aber gerade Cicero, der in seinem Werk über die Weissagungen (De divinatione 190(41)) die der Druiden erwähnt und dabei Diviciacus als solchen bezeichnet. Damit schließt sich der Kreis der Hinweise. Es scheint einigermaßen sicher, daß die Druiden die nördlichen und östlichen Nachbarn als eine Art Heiden betrachteten, die sich weder des rechten Kultus befleißigten noch sich ihren Schiedssprüchen unterwarfen. Die Sprache dieser Nachbarn scheint dabei keine Rolle gespielt zu haben. Die Unterscheidung zwischen Galliern/Kelten und Germani geht also auf die ersteren zurück. Diese
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Karl Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde IV. 1900. S. 31; de Vries (vgl. Anm. 37), S. 355 f. Vgl. de Vries (vgl. Anm. 37), S. 355 Anm. 1 ; er nennt auch den nach herrschender Meinung als Caesarquelle vorausgesetzten Poseidonios als einen derjenigen, die diesen Topos benutzten. Aber abgesehen von der Frage, ob Caesar neben der Keltenmonographie dieses Gelehrten auch die uns verlorene Sonderschrift kannte, ist zu bemerken, daß Poseidonios aus seiner stoisch-pantheistischen Grundeinstellung heraus den Gestirnkult als Verfallserscheinung der pantheistischen Religion der Frühzeit beschreibt; vgl. Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung I. 1972. S. 343 ff. Vgl. etwa Hachmann (vgl. Anm. 28), S.44; Dobesch (vgl. Anm. 19), S . 8 0 f .
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schon früher vertretene aber von Einzelnen bestrittene Anschauung 41 wird noch dadurch verdeutlicht, daß von Seite der Germani — wenigstens zur Zeit Caesars — nicht (oder nicht mehr?) die Neigung bestand, sich von den Galliern zu distanzieren. So setzt eine Wendung in der Rede des Eburonenkönigs Ambiorix (Caes. b. Gall. V27.4) ein Gefühl der Solidarität mit den Galliern voraus: civitati porro banc fuisse belli causam, quod repentinae Gallorum coniurationi resistere non potuerit. So werden es in dieser Zeit nicht mehr nur gewisse nordgallische Stämme gewesen sein, die bestimmte Nachbarn als germanisch bezeichneten42, sondern jene Gesamtheit keltischer Stämme, die ihr geistiges Zentrum im Lande der Carnuten hatte. Daß der Name „Germani" freilich von den Galliern selbst „geprägt" worden sei, wie etwa F. Schiette annimmt43, bleibt solange unwahrscheinlich, wie der Name als unkeltischer gelten muß 44 . Es muß sogar angenommen werden, daß auch einige andere wichtige Aspekte der Germanenvorstellung Caesars aus dem Bereich der Druidenlehre stammen. Die oben genannte Rede des Diviciacus (b. Gall. 131) enthält nicht weniger als dreimal den Hinweis auf ein unberechtigtes Überschreiten der Rheingrenze durch germanische Scharen. Auch hier werden wir nicht einfach Caesars Gedanken, als Vorstellung des Aeduers hingestellt, formuliert finden. Denn wie Timagenes bezeugt, war diese bereits Anschauung der Druiden45. Schwierig ist dabei die Frage zu beantworten, seit wann die Rheingrenze im Denken der Gallier eine Rolle spielen konnte. Der Raum jenseits des Rheins bis zu-den Skythen wird von Strabo 14.3 (63) im Zusammenhang seiner Pytheas-Diskussion hervorgehoben46. Der Rhein scheint also schon im 4. Jahrhundert Grenze zweier Räume gewesen zu sein. Doch wird es sich hier um das Mündungsgebiet gehandelt haben, wo sicher andere Bedingungen 41
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Vgl. z. B. Nesselhauf (vgl. Anm. 36); Wenskus (vgl. Anm. 18), S. 387; Dobesch (vgl. Anm. 19), S. 80 f., der auch die Rede des Diviciacus in ähnlicher Weise wie wir hervorhebt. Zum Romaufenthalt des Diviciacus vgl. Dobesch S. 85. — Die Gegenmeinung vertritt Friedrich Schiette: Werden und Wesen frühgeschichtlicher Stammesverbände. In: Zeitschr. f. Archäol. 5, 1971, S. 23 Anm. 5, der nicht daran glaubt, daß sich die Kelten gegenüber den Germanen „ethnisch distanzierten", weil dann Caesar „nicht so viele Worte bei der Frage der ethnischen Zuordnung zu verlieren" gebraucht hätte. So Hachmann (vgl. Anm. 28), S. 46; ders. (vgl. Anm. 3), S. 127. Für eine Vorstufe in früheren Zeiten ist diese Auffassung wohl berechtigt; Dobesch (vgl. anm. 19), S. 78 f. mit Anm. 20 nimmt gegen Müllenhoff, der Handelsbeziehungen für die Distanzierung verantwortlich macht, wohl zutreffend an, daß Kämpfe der Belgae gegen die Germani zu einer ersten Ausweitung des Germanennamens geführt haben werden.
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Schiette (vgl. Anm. 41), S.23. Vgl. zu dieser Frage Julius Pokorny: Ist der Germanenname keltisch? In: Zeitschr. f. celt. Phil. 20, 1936, S. 461 - 4 7 5 (gegen Zachrisson und Schnetz). Ammianus Marcellinus X V 9.4: et tractibus transrhenanis.
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Vgl. Hans Joachim Mette: Pytheas von Massalia. 1952. Fr. 6 a S. 20.
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R. Wenskus
vorlagen als am Oberrhein, der in der Diviviacus-Rede gemeint sein muß. Hier liegt es nahe, die Entstehung der Vorstellung von der Rheingren2e auf die Zeit der Verdrängung der Helvetier aus Südwestdeutschland und die politische Vormachtstellung der Sueben in diesem Raum folgen zu lassen. Es ist jedoch möglich, wenn auch nicht sicher, daß dies schon früher geschah, denn in der erwähnten, bei Ammianus Marcellinus überlieferten TimagenesStelle über die Druidenlehre47 heißt es, daß ein Teil des Volkes (in Gallien) einheimisch sei, andere von fernen Inseln und aus Gebieten jenseits des Rheins gekommen seien, von wo sie durch häufige Kriege und Sturmfluten {alluvione fervidi maris) vertrieben worden waren. Unter den Zuwanderern von den fernen Inseln können die Druiden diejenigen mit verstanden haben, die nach ihrem Selbstverständnis ihre Lehre von Britannien nach Gallien brachten48. Die Erwähnung der Sturmfluten für diejenigen, die aus den Gebieten jenseits des Rheins gekommen waren, scheint sich dagegen auf die Kimbern und Teutonen zu beziehen, von denen ein Splitter, die Atuatuci, in Belgien zurückgeblieben sein sollen, wobei auch wieder deren Sitze als citra flumen Rhenum betont werden49. Die Polemik des Poseidonios gegen die Auffassung, Sturmfluten hätten die Kimbern aus ihrer Heimat vertrieben, richtet sich dann in der Tat nicht gegen Artemidor, wie E. Norden 50 das annahm, sondern eher gegen seine keltischen Gewährsmänner. Dann aber würde auch die Zuordnung der Kimbern und Teutonen zu den Germanen bereits auf druidische Vorstellungen zurückgehen. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, daß die Rheingrenze schon bei Poseidonios eine Rolle spielte51 und daß dies die Voraussetzung für Caesars Vorstellung war 52 , noch können wir daher sicher sein, daß Poseidonios Kimbern und Teutonen noch nicht als Germanen bezeichnete53. Caesars Anteil an der Festlegung der Rheingrenze wird überbetont, wenn wir der Auffassung sind, daß er diese 47
Vgl. Anm. 45.
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Vgl. Caesar b. Gall. V I 13.11: disciplina in Britannia reperta atque inde in Galliam translata existimatur. Vgl. Caesar b. Gall. II 29.15: ipsi erant ex Cimbris Teutonisque prognati, qui cum iter in provinciam nostram atque Italiam facerent, iis impedimentis, quae secum agere et portare
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non poterant, citra flumen Rhenum depositis custodiam ex suis ac praesidium, sex milia hominum, una relinquerunt. 50
Norden (vgl. Anm. 33), S. 466 ff.; ihm folgt Rolf Hachmann, in: Gnomon 34, 1962, S. 59; dagegen mit F. Jacoby Wolf Steidle: Tacitusprobleme. In: Mus. Helvet. 22, 1965, S. 82 Anm. 9; seiner Auffassung, daß die von der alten griechischen Tradition abweichende Unterscheidung zwischen Kelten und Germanen bei Strabo und Caesar (S. 83 Anm. 15) diesen v o n Timagenes vermittelt sein soll, würde ich eher die druidische Quelle des letzteren
52
vorziehen. Vgl. bei Anm. 33. So Hachmann (vgl. Anm. 28), S. 44.
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Dies gegen Hachmann (vgl. Anm. 3), S. 121. Wenn Strabo 7.2.1,3 über das Menschenopfer
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„willkürlich" festgesetzt habe54. Daß „Caesar an der Ausbreitung der Geltung des Namens einen großen Anteil" hatte55, wird man nicht bestreiten können, doch bestand sein Anteil nicht darin, daß er aus politischen Gründen diese Rheingrenze erfand, sondern darin, daß er die keltisch-druidische, aus dogmatischen Gründen nur mündlich verbreitete Lehre — vielleicht, weil sie seinen Zielen entsprach — schriftlich fixierte und damit die Möglichkeit schuf, daß diese Vorstellung bis in unser Jahrhundert hinein erhebliche politische Folgen hatte. Die Meinung von Chr. Hawkes und C. M. Wells, daß Caesar auf die Sueben fälschlicherweise einen Namen ( nämlich den der Germani) übertrug, auf den sie kein Recht hatten56, belastet den römischen Politiker mit einer Schuld, die er nicht voll zu verantworten hatte. Ein objektives Recht zur Führung des Germanennamens ist ohnehin schwer begründbar, es sei denn für den Bereich der Wissenschaft, wenn es möglich wäre, einen allgemein akzeptierten präskriptiven Germanenbegriff zu erarbeiten. Ein subjektives Recht kann nur für jene Gruppen gelten, die diesen Namen ursprünglich als Selbstbezeichnung führten bzw. jenen, denen dieser Name sekundär von den „eigentlichen" Germani zugestanden wurde, wie das im Namensatz des Tacitus angedeutet wird. Dieser Bereich historischer Realität wird durch jene oben berührten intentionalen Daten57 bestimmt, die dem Archäologen nur schwer und meist überhaupt nicht zugänglich sind. Das gilt auch für die von den Galliern übernommene Germanenvorstellung Caesars und ebenso die des Tacitus. Es ist daher verständlich, wenn für Rolf Hachmann „die Germanen der Jahrhunderte um Christi Geburt . . . also in der Gestalt, in der sie die Antike sah, gewiß keine Realität, sondern eine gelehrte Konstruktion" waren58. Für den Historiker ist jedoch die Realität, die Männer wie Caesar
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57 58
bei den Kimbern auf Poseidonios zurückgeht, wie dies meist angenommen wird, steht dies im Gegensatz zu der bei Caesar überlieferten Behauptung b. Gall. VI 21 „neque sacrificiis student", wenn auch diese auf Poseidonios beruhen sollte. Unter der Annahme, daß letzteres Druidenideologie war, könnte man dann auch die These vertreten, daß schon Poseidonios die Kimbern den Germanen zuordnete, was mir jedoch nicht sicher scheint. Hachmann (vgl. Anm. 28), S.66; vgl. ders. (vgl. Anm. 3), S. 136, wonach er „den Rhein im ersten Jahr des Gallischen Krieges als Grenze zwischen Kelten und Germanen fixierte". Hachmann (vgl. Anm. 3), S. 127. C. M. Wells: The German Policy of Augustus. An Examination of the Archaeological Evidence. Oxford 1972. S. 29: „Caesar has wrongly transferred to them . . . a name to which they have no right"; Christopher Hawkes, in: Celticum 12, S. 1—7. Vgl. oben S. 6. Hachmann (vgl. Anm. 28), S. 16; vgl. S. 43. Es ist bemerkenswert, daß ein Historiker vom Range Gerd Tellenbachs in seinem Beitrag „Zur Geschichte des mittelalterlichen Germanenbegriffs", in: Jahrb. f. Intern. Germ. 7.1, 1977, S. 150 gerade auf dieses Zitat bei der Beschreibung der Schwierigkeiten hinwies, als er die historisch gebundenen Germanenbegriffe in diesem Zusammenhang erörterte.
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nicht nur durch ihre politischen und militärischen Taten, sondern gerade auch mit ihrem Wort geschaffen haben, von unabschätzbarer Bedeutung 59 — in diesem Fall bis weit in unser Jahrhundert hinein. Daher leitet sich die Berechtigung des philologisch arbeitenden Historikers her, zur Abklärung und Verdeutlichung der Rahmenbedingungen, unter denen sich politisches Handeln jeweils vollzog, konstative Definitionen für die in seinen Quellen vorkommenden Prädikatoren zu versuchen. Nur darf er nicht dazu verleitet werden, auf diese Weise gewonnene konstative Definitionen als präskriptive zu gebrauchen, denn erstere sind nach Umfang und Inhalt der von ihnen bestimmten Begriffe nicht ein für allemal im Verlaufe der Geschichte konstant. Es soll hier nicht der unter Historikern schwelende Streit entschieden werden, der nach der Forderung Otto Brunners, grundsätzlich „quellengerechte Begriffe" zu verwenden, aufflammte und der W. Schlesinger die nach „sachgerechten Begriffen" entgegenstellte 60 . Beide Forderungen sind — absolut genommen — unerfüllbar. Wir müssen mit beiden Arten der Begriffe leben. Dabei müssen freilich die Eigenarten beider streng beachtet werden, wenn Mißverständnisse und Fehlurteile vermieden werden sollen. Wir stellen an einen durch präskriptive Definition gewonnenen Begriff zu Recht die Forderung nach Konstanz der Merkmale, während die im Laufe der Überlieferung sich in ihren Merkmalen verändernden, jeweils durch konstative Definitionen zu gewinnenden quellengerechten Begriffe nur in einem Kontinuitätszusammenhang stehen können, der als solcher historisch relevant ist. Wenn also Rolf Hachmann die rhetorische Frage stellt, ob es erlaubt sei, „Chatten und Hessen, Hermunduren und Thüringer, Markomannen und Baiuvaren schlicht gleichzusetzen" 61 , wird man ihm dies erwartungsgemäß mit einem klaren „Nein" beantworten müssen. Aber darauf kommt es dem Historiker ja nicht an. Er fragt nach dem möglichen oder wahrscheinlichen historischen Zusammenhang, durch den diese Gruppenbildungen kontinuierlich verbunden sind. Aus einer ähnlichen historisch unzulässigen Fragestellung — wie beim romantischen Volksbegriff aus einer Überschätzung der Konstanz ethnischer Gebilde entstanden — ergab sich seit der Rezeption der taciteischen Germania 62 59
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Vgl. die Bemerkungen von Otto Seel: Ambiorix. Beobachtungen zu Text und Stil in Caesars Bellum Gallicum. In: Jahrb. f. fränk. Landesforsch. 20, 1960, S. 55. Otto Brunner: Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte. In: Mitt. d. Inst. f. Österreich. Geschichtsforsch. Erg. Bd. 14, 1939, hier zit. nach der Neufassung von 1955 in: Wege der Forschung II. 1956. S. 6 ff. Hachmann (vgl. Anm.28), S.54; ders. (vgl. Anm. 3), S. 130. Neben der bei Hachmann (vgl. Anm.28), S. 17 Anm.26 angeführten älteren Lit.: L. Pralle: Die Wiederentdeckung des Tacitus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Fuldas und zur Biographie des jungen Cusanus (Quell, u. Abh. z. Gesch. d. Abtei u. Diözese Fulda 17).
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die Bezeichnung der Germanen als der „Alten Deutschen"63. Da eine Kontinuität im politischen Bereich schwer auszumachen war, lag es nahe — nachdem Herder die Sprache als Ausdruck des Volkstums herausgestellt hatte —, die sprachliche Kontinuität, die bei mehreren Stämmen der alten Germania bis in die Gegenwart reicht, als Zeugnis für ethnische Kontinuität zu setzen. Mit den gleichzeitig aufblühenden Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaft war die Möglichkeit gegeben, Merkmale für eine präskriptive Definition des Germanenbegriffs zu erarbeiten. Voll gelungen ist dies aber bis heute anscheinend nicht. Gewöhnlich wird angenommen, daß die vollzogene germanische Lautverschiebung ein Wort zu einem germanischen macht. So sieht etwa Hans Krähe solche Flußnamen, die Merkmale der germanischen Lautverschiebung zeigen, als „germanisch" an64. Auch für Hans Kuhn gelten „Wörter und Namen, in denen unsere Lautverschiebung nicht oder nur teilweise durchgeführt ist" als „nicht germanisch im strengen Sinn" 65 , und H. Birkhan verwendet den Begriff germanisch „so, daß es jene in Alteuropa gesprochene Sprache bezeichnet, die außer der Verschiebung der Mediae aspiratae auch die der Tenues und Mediae purae mitgemacht hat und zur Kentumgruppe gehört" 66 , wenn er auch einräumen muß, daß „die Definition des Germ, nach dem Kriterium der vollzogenen LV . . . willkürlich und rein pragmatisch" ist67. Noch radikaler ist Richard Schrodt, dem „ein einziger Lautwechsel (und damit auch die LV) zur Abgrenzung („Definition") eines Ethnos unbrauchbar ist" 68 . Nach Birkhan ist es „sehr wahrscheinlich, daß syntaktische, morphologische Eigenheiten . . . und auch gewisse andere lautliche Entwicklungen . . . älter sind als die LV". Auch Hans Kuhn hat etwa bestimmte Suffixe für die Abgrenzung von Sprachräumen benutzt und ihnen anscheinend gelegentlich mehr Gewicht als den lautlichen Merkmalen zuge-
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1952; Manfred Fuhrmann: Einige Dokumente zur Rezeption der taciteischen „Germania". In: Der altsprachliche Unterricht Reihe 21 H. 1, 1978, S. 3 9 - 4 9 mit Beilage S. 1 1 - 1 7 ; L. Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen „Germania" (Stud. ζ. dt. Lit. 59). 1979. Dazu Theobald Bieder: Geschichte der Germanenforschung I. Teil 1500-1806. 1921. P. Joachimsen: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. 1910. Hans Krähe: Keltisch oder illyrisch? Über die sprachliche bzw. ethnische Zuweisung vordeutscher Ortsnamen. In: Ur- und Frühgeschichte als historische Wissenschaft. Festschr. f. Ernst Wahle. 1950. S.301. Hans Kuhn, in: Rolf Hachmann/Georg Kossack/Hans Kuhn: Völker zwischen Germanen und Kelten. Neumünster 1962. S. 116. Birkhan (vgl. Anm. 4), S. 60. Birkhan (vgl. Anm. 4), S.62. Richard Schrodt: Die germanische Lautverschiebung und ihre Stellung im Kreise der indogermanischen Sprachen. 2. Aufl. Wien 1976. S.5.
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messen69. Schließlich hat P. Scardigli — wohl aber nur aus didaktischen Gründen — in seinen Einleitende(n) Bemerkungen durch Wortschatzgleichungen den Unterschied zwischen germanischen und romanischen Sprachen zu verdeutlichen gesucht70, obwohl der Wortschatz doch allgemein als das Variabelste im Bereich der Sprache gilt. Wollen wir jedoch wenigstens für den sprachlichen Sektor zu einem eindeutigen Germanenbegriff kommen, müßte hier größere Klarheit darüber geschaffen werden, welche Kriterien ausschlaggebend für die „Germanität" (Hachmann)71 bzw. „Germanizität" (Birkhan)72 einer Gruppe sind. Selbst wenn es gelingen sollte, einen derart eindeutigen Germanenbegriff zu erarbeiten, wäre dieser in sehr viel stärkerem Maße eine „gelehrte Konstruktion" als die Germanenbegriffe antiker Schriftsteller73, die weithin schon vorgefundenem Sprachgebrauch folgen. Es kann nicht bestritten werden, daß ein sprachlich definierter Germanenbegriff auch dem Historiker außerordentlich nützlich sein kann, wenn er sich darüber im Klaren bleibt, was er für ihn leisten kann. Denn so wie er sich hüten muß, die durch konstative Definition gewonnenen quellengerechten Begriffe wie solche zu behandeln, die durch präskriptive Definition vorher bestimmt sind, darf er letztere auch nicht unbesehen mit den in den Schriftquellen enthaltenen gleichsetzen. Die Abstraktheit des derart durch eine präskriptive Definition bestimmten Germanenbegriffs ist sehr gut geeignet, Zustände und Prozesse der vorher erwähnten Art zu beschreiben und zum Teil auch wohl zu erklären. Dieser Germanenbegriff muß jedoch sehr vorsichtig benutzt werden, wenn der Germanenname in narrativen Quellen auftaucht und im Zusammenhang von Ereignissen erwähnt wird. Als Beispiel bietet sich der Prozeß der Ausbreitung der Erscheinungen der germanischen Lautverschiebung an, wie ihn Hans Kuhn beschreibt74. Setzen wir voraus, daß seine Darstellung dieser Ausbreitung in den wesentlichen Aspekten den Tatsachen entspricht, dann ergibt sich, daß bestimmte Räume, wie etwa Nordwestdeutschland südwestlich der Weser-Aller-Linie, nur von den jüngsten Akten der Lautverschiebung (anlaut. K- zu CH-/H-) erfaßt worden sind, während entlang der Küste und im Südwesten über Mitteldeutschland/Thüringer Wald bis Nordhessen eine frühere Welle sprachlich germanischer Erscheinungen im Namen gut erkennbar ist. Es wäre nichts 69
70 71 72 73 74
Hans Kuhn: Vor- und frühgermanische Ortsnamen in Norddeutschland und in den Niederlanden. In: Westf. Forsch. 12, 1959, S . 9 f f . ( = Kleine Schriften III. 1972. S. 121 ff.). Scardigli (vgl. Anm. 1), S. 106. Hachmann (vgl. Anm. 3), S. 121. Birkhan (vgl. Anm. 4), S. 198. Vgl. oben bei Anm. 58. Kuhn (wie Anm. 69).
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dagegen einzuwenden, dies als Ergebnis eines Prozesses zu beschreiben, der sich als Summe verschiedener Einzelvorgänge erklären läßt. Kuhn deutet dieses Ergebnis jedoch als Folge eines Eroberungs- und Siedlungsvorgangs, durch den sein „Nordwestblock"75 umklammert wurde, wobei er dies aus der Vorstellung der Kriegsführung historischer Zeit gewonnene Bild keineswegs nur metaphorisch verwendet, wogegen nichts einzuwenden wäre. In dieser Form vorgebracht, muß der Historiker Bedenken anmelden: einmal gegen die Vorstellung Kuhns, im Ausgangsraum der Lautverschiebung, wo alle Akte derselben im Namengut erkennbar sind, hätten „echte und reine Germanen"76 gesiedelt. Abgesehen davon, daß diese Vorstellung noch sehr dem romantischen Volksgeistbegriff verhaftet scheint und die Sprachgemeinschaft zu unbefangen mit einem politischen Komplex gleichgesetzt würde — was unbeweisbar ist —, wird zu fragen sein, ob jene Gebiete, in denen nur die letzten Akte der Lautverschiebung wahrnehmbar sind, sprachlich nur unvollständig germanisiert wurden oder ob sie die Lautveränderung jetzt mitmachten, weil sie inzwischen zur germanischen Sprache übergegangen waren. Das Ergebnis scheint — für einige Räume wenigstens — für das letztere zu sprechen. Dann aber müssen wir auch diese neuen Räume wenigstens im letzten Jahrhundert v. Chr. als „germanisch" bezeichnen. Weiterhin dürfen wir uns nicht der Täuschung hingeben, die im Endergebnis erkennbare Ausweitung des germanischen Sprachraums sei das Ergebnis einsinniger intentionaler politischer Akte, d. h. von Eroberungen und Siedlungsbewegungen, gewesen. Für dieses Endergebnis sind auch ganz anders geartete Vorgänge verantwortlich, wie schon das von Kuhn vorgelegte Material es nahelegt, etwa die Analyse der Personennamen der Cherusker, von denen nach ihm nur ein Teil germanisch sein soll (Ingwiomer, Segimer, Segimund), was er auf „einen großen Anteil der Vorbevölkerung auch in der führenden Schicht"77 zurückführt. Da er auch den Stammesnamen als ursprünglich nichtgermanisch betrachtet, kann für die Interpretation dieses Sachverhalts eigentlich nur ein anderes ethnosoziologisches Denkmodell herangezogen werden: die Übernahme einer fremden Sprache zuerst durch die Führungsgruppen, dann auch durch mehr oder weniger große Teile der übrigen Bevölkerungsgruppen. Dazu ist aber Voraussetzung, daß die Stämme, die die vorbildliche Sprache benutzten, entweder kulturell oder politisch außergewöhnliches Ansehen genossen. Der erste Fall ist wenig wahrscheinlich. Denn gerade die Zeit, in der wir die Ausbreitung germanischer Sprache auf neue Räume annehmen müssen, die letzten Jahrhunderte vor Chr. Geb., ist auch
75 76 77
Kuhn (vgl. Anm. 65), S. 123 f. Kuhn (vgl. Anm. 5), S. 304 bzw. 478. Kuhn (vgl. Anm. 65), S.125f.
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die Zeit, in der der Kultureinfluß aus dem als keltisch angesehenen LatèneBereich bis in die Nordspitze Jiitlands übermächtig wird, so daß einige Forscher sogar dort mit keltischen Stämmen rechneten 78 . Wenn irgendwo, so wird es hier deutlich, daß wir in diesem Zeitraum zwei einander entgegenlaufende Prozesse beobachten können. Gleichzeitig erweist sich hier — wie auch in manchen anderen Fällen — das Bemühen nach einer Harmonisierung der Aussagen verschiedener Quellengruppen als äußerst fragwürdig. Es gibt eben Zeiten und Räume, in denen archäologische und überhaupt Gruppen mit gleicher Lebensform und Sprachgemeinschaften sich nicht zur Deckung bringen lassen. Wer freilich Kulturen ausschließlich als fehlerlose Systeme funktional aufeinander bezogener Subsysteme und Kulturelemente versteht 79 , wird dies als ein Ärgernis begreifen, das möglichst schnell zu beseitigen ist. Der Historiker sollte es dagegen als Chance verstehen, als Möglichkeit gerade in solchen Fällen, wo sich kein übereinstimmendes Bild ergibt, wenigstens einzelne Knotenpunkte der wirklichen Ereignisketten zu erkennen, denn hier haben sie sich noch nicht zu langdauernden Zuständen verfestigt. Gerade in unserem Fall erscheinen die sprachlichen und archäologisch faßbaren Zustände als Ergebnis einer wildbewegten Zeit mit vielfach wechselnden und im einzelnen nicht faßbaren Situationen. Sicher ist dabei nur, daß sich ethnisch hier nicht die kulturelle Übermacht des Südens, sondern nur politische Überlegenheit von Kräften aus anderer Richtung durchgesetzt hat. Politisches Ansehen aber kam damals vor allem zwei Gruppen zu: den zu den Ingwäonen gerechneten Kimbern und Teutonen und dann — vor allem im Süden und in der Mitte — den Sueben, wobei auf Einzelheiten hier nicht näher eingegangen werden kann. Es wäre jedoch nun keineswegs ratsam, der Empfehlung des Ethnologen Heinz Kothe zu folgen und den Begriff „germanisch" durch „suebisch" zu ersetzen 80 , denn nicht nur durch den Sprachgebrauch der antiken Schriftsteller, sondern auch durch die römische politische Begriffsbildung überhaupt 78
Alexander Bugge: Celtic Tribes in Jutland? A Celtic Divinity among the Scandinavian Gods. In: Saga Book of the Viking Society 9,1925, S. 3 5 7 - 3 7 1 ; Waltraut Schrickel: Die Nordgrenze der Kelten im rechtsrheinischen Gebiet zur Spâtlatènezeit. In: Jahrb. d. Röm.-Germ. Zentralmus. 11, 1964, S. 1 3 8 - 1 5 3 .
79
Vgl. noch Joachim Herrmann: Archäologische Kulturen und sozialökonomische Gebiete. In: Ethnograph.-Archäol. Zeitschr. 6, 1965, S. 103, wo eine archäologische Kultur ausdrücklich nicht als „eine wahllose Summierung von Einzelelementen", sondern als „durch funktionell zusammenhängende Elemente" bestimmt wird. Weithin trifft dies wohl zu, doch eben nicht vollkommen. Vgl. dazu Jürgen Mirow: Kultur und System. Bemerkungen zu Grundkategorien historischen Fragens und historischer Darstellung. In: Saeculum 29, 1978, S. 3 0 6 - 3 2 1 .
80
Heinz Kothe: Nationis nomen, non gentis. Das Furchtmotiv im Namensatz der Germania. In: Philologus 123, 1979, S.252.
Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs
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ist der Name „Germania" für den Bereich zwischen Rhein und Weichsel zu einer historischen Realität geworden, an der wir nicht vorbei gehen können, auch wenn sich die Stämme dieses Raumes selbst nicht so nannten. Es ist daher vielleicht kein Zufall, wenn Rolf Hachmann feststellt, daß sich dieser in der älteren römischen Kaiserzeit in sich zwar archäologisch gegliederte Raum dennoch deutlich von der Nachbarschaft absetzt 81 , daß aber „ihre Vielfalt nicht in einer Einheit wurzelt" 82 . Wenn auch Hachmann richtig bemerkt, daß der Archäologe keine Kulturgruppe „aus eigener Einsicht als germanisch" 83 bezeichnen kann, so wird er hier durch den Germanenbegriff der Quellen weithin gerechtfertigt. Diese Einheit ist historisch jung und hatte anders, als etwa die Sprachkontinuität vermuten ließ, auch keinen sehr langen Bestand. Für diese Zeit fallen also präskriptive und konstative Definition des Germanenbegriffs fast zusammen — aber eben nur fast. Denn es fallen aus dem durch die Sprache definierten Germanenbegriff anscheinend eben diejenigen Germani zum großen Teil heraus, die den Namen zuerst führten. Wir können dem Dilemma auch nicht dadurch ausweichen, daß wir nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, um ihre Einbeziehung in einen gemeinsamen Germanenbegriff — etwa in der Art, wie Karl Bosl sich seine „Realtypen" vorstellt — zu ermöglichen, denn es bliebe an gemeinsamen nach außen abgrenzenden Merkmalen kaum etwas übrig. So bleibt uns in diesem Fall nur die Möglichkeit, die quellengerechten Germanenbegriffe durch konstative Definitionen so deutlich wie möglich zu machen und ihre Geltung zeitlich und räumlich zu fixieren. Es muß auch immer stärker ins Bewußtsein gehoben werden, daß sich diese Germanenbegriffe von einem hoffentlich bald zu erreichenden präskriptiv definierten unterscheiden und entsprechend zu benutzen sind. Nur dann werden wir zu wissenschaftlich vertretbaren Aussagen kommen.
81 82 83
Hachmann (vgl. Anm.3), S. 132. Hachmann (vgl. Anm. 3), S. 133. Hachmann (vgl. Anm.3), S. 117.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike V o n D . TIMPE
1. Grundlagen Ethnologische Begriffsbildung ist ein Bereich des Ordnungsdenkens, der als solcher mit der Erfahrung zwar in einem innigen Kontakt steht, aber doch nicht in ihr aufgeht. Als Angelpunkt des Begreifens fremder Völker vor und jenseits aller Empirie ist immer wieder und so noch neuerdings von K. Müller der Ethnozentrismus des Betrachters bezeichnet worden, wie er etwa in dem verbreiteten Begriffsgegensatz Menschen — Unmenschen oder in Mittelpunktsweltbildern zum Ausdruck kommt. Auch für die griechische und römische ethnographische Deskription und ethnologische Reflexion sei diese Vorstellungskategorie grundlegend, der Hellenen-Barbaren-Gegensatz dafür bezeichnend 1 . Nun kann das ethnographische Belegmaterial für ethnozentrische Anschauungen gewiß auch aus der Volkskunde oder Mythologie der Antike ergänzt werden; die wissenschaftlich-literarische Beschäftigung mit der fremdvölkischen Umwelt läßt sich dagegen aus dieser Wurzel nicht ableiten. Ihr ist zwar der Gegensatz des erkennenden Subjekts zum fremdvolklichen Objekt notwendig inhaerent, aber das ist kein Ethnozentrismus, wie ihn der Ethnologe beobachtet; und die zivilisatorische Überlegenheit des antiken Kulturmenschen oder Herrschaftsträgers ist ein Faktum, das von dem Vorurteil, um einen selbst kreise die Welt, wohl unterschieden werden muß. Dem entspricht die Tatsache, daß der Hellenen-Barbaren-Gegensatz nichts Urtümliches ist, denn der Hellenenbegriff ist es selbst nicht 2 . Und den Römern kann der impertinenteste Superioritätsdünkel nachgesagt werden, aber kein Begriffsschema, das dem ethnozentrischen Modell entspräche, denn der Barbarenbegriff ist in seiner geläufigen Bedeutung von den Römern nur übernom1
Κ . E. Müller: Gesch. d. antiken Ethnographie u. ethnolog. Theoriebildung I. 1972. S. 12 f.; W. E. Mühlmann: Gesch. d. Anthropologie. 3 1984. S.25.
2
Hés. erga 528; Archil, fr. 54 Diehl. - Vgl. J. Jüthner: Hellenen u. Barbaren. 1923. S. 1 ff.; H. Schwabl: D. Bild der fremden Welt bei den frühen Griechen. In: Grecs et Barbares (Entr. Fond. Hardt 8, 1961). S. 1 ff.; A. Heuss: D. archaische Zeit Griechenlands als geschichtl. Epoche. Antike und Abendland 2. 1946. S. 31 f. = Z. griech. Staatskunde (Wege d. Forsch. 96, 1969). Hg. v. F. Gschnitzer. S.45.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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men und angepaßt, nachdem sie sich anfangs sogar selbst den Barbaren zugerechnet haben (Plaut, m. gl. 211 u. ö.), und der Weltherrschaftsgedanke ist spät und griechisch vorgeformt 3 . Die ethnologische Begriffsbildung in der Antike, die hier zu verdeutlichen ist, um die immanenten Voraussetzungen des antiken Germanenbegriffs verständlich zu machen, wurzelt nicht in naiver Borniertheit, von der sich das Anschauen und Denken mühsam und unvollkommen befreit hätte. Ihre Grundlagen sind einerseits spezifischer, andererseits haben sie sich dem Begreifen des Fremden in der antiken Denktradition dauerhafter, grundsätzlicher und begrenzender eingeprägt, als jene Vorstellung erwarten ließe. Einige wenige Hinweise sollen das belegen. (1) Die antike ethnographische Beobachtung hat bekanntlich ihren Ausgang bei den Periploi und der Welterkundung der Jonier genommen und ein wesentliches Formgesetz von daher behalten4. Sie registrierte das Ungewöhnliche, Befremdliche und Erstaunliche (θαυμάσια, παράδοξα mirabilia) und gelangte zu jener Addition von Rubriken wie Essen, Wohnen, Herrschaftsordnung, Sexualleben oder Funeralbräuchen, die in den Logoi Herodots ausgebildet erscheint. Diese Betrachtungsweise war nicht unfähig, über den eigenen ethnozentrischen Schatten zu springen (über die Relativierung der δίαιται und νόμοι nämlich); aber sie konnte die Dichotomie zwischen Fremdem und Eigenen nicht überwinden (es gibt keinen Griechenlogos bei Herodot und kann ihn nicht geben!) und sie war zum systematischen Verstehen des Beobachteten nur schwer imstande. Tacitus' Einleitungssatz zum speziellen Teil der Germania, er wolle die instituía ritusque der Einzelstämme entwickeln, quatenus différant, ist eine späte Konsequenz dieses Ansatzes und läßt auch ermessen, welche Willkür und Beliebigkeit sich daraus ergeben konnte 5 . (2) Eine andere, noch tiefer in das griechische Denken eingelassene Grundlage ethnologischer Begriffsbildung ist die Kategorie des νόμος6. Im Sinne von objektiver Lebensordnung, Gattungsgesetz, kommt der Begriff zuerst bei Hesiod (Erga 27 ff.) vor. In dem Maße, in dem die Lebensordnung der Griechen Objekt rationalen Denkens und politischen Handelns wurde, hat er sich auf die Bedeutung ,Gesetz' (als des Instruments planmäßiger menschli3 4
5
6
Jüthner [vgl. Anm.2] S.60ff.; J.Vogt, in: Orbis 1960, S.154ff. F. Gisinger: Periplus. In: Realencyclopädie d. class. Altertumswiss. ( = RE) 19,1937, S. 839 ff.; R. Giingerich: Die Küstenbeschreibung i. d. griech. Lit. 1950; A. Lesley: Gesch. d. griech. Lit. 3 1971. S. 255 f.; Κ. v. Fritz: D. griech. Geschichtsschreibung I. 1967. S. 37 ff. - Κ. Trüdinger: Studien ζ. Gesch. d. griech.-röm. Ethnographie. Diss. Basel 1918. S. 8 ff. Germ. 27; vgl. Caes. Β.G. 6,11,1. 21,1. Zum Topos .διαφέροντα' s. E.Norden: D. germ. Urgeschichte in Tac. Germ. M 923. S. 99 ff. F. Heinimann: Nomos u. Physis. 1945; M.Pohlenz: Nomos. In: Philol. 97, 1948, S. 135ff.; Nomos u. Physis. In: Hermes 81, 1953, S. 418 ff.; J. de Romilly: La loi dans la pensée grecque. 1971.
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cher Schöpfung und Formung einer Gemeinschaftsordnung) verengt. Dieser Begriff fand nun auf Griechen und Nichtgriechen gleichermaßen Anwendung, sprach ihn doch Hesiod sogar Fischen und Vögeln zu. Die νόμοι in ihrer Gesamtheit definieren neben Sprache und Abstammungsgemeinschaft ein Ethnos; sie liefern ein variables Schema zur ethnischen Charakterisierung, und die Exkurse der lateinischen Historiker werden darum durch die stereotype Ankündigung, ,de moribus' zu handeln, eingeleitet. Der νόμος weist aber auch zurück auf seinen göttlichen oder menschlichen Stifter, in der staatlich-politischen Welt die Gesetzgeber und Stadtgründer, die den Schritt aus der Geschichtslosigkeit vollzogen und den βίος ihres Volkes entscheidend formten. Damit sind auch Geschichte (άρχαιολογία) und Ethnographie in Beziehung gebracht; die Abfolge von genetischer Ur- und Gründungsgeschichte und systematischer Auffacherung der in ihr gewonnenen Lebensordnung gibt deshalb der Völkerbetrachtung einen festen Rahmen, mag es um die Beschreibung Indiens bei Megasthenes oder die Roms in der hellenistischen Historiographie gehen 7 . Nicht zuletzt boten die Nomotheten einen Maßstab des Vergleichens, erlaubten, kulturelle Abhängigkeiten zu bestimmen, gaben geradezu das personale Gerüst einer Kulturverbreitungslehre und ein ethnographischen Ordnungssystem 8 . (3) Damit ist ein dritter, für die antike ethnologische Begriffsbildung konstitutiver Gesichtspunkt berührt, das Bemühen um eine Gesamtordnung, die dem Einzelnen seinen Platz weist, das sonst Vereinzelte durch Aufweis eines systematischen Zusammenhanges verständlich macht. Auch diese Intention kann naiv-ethnozentrisch begründet sein und ist es oft genug, wie ethnographische oder antik-mythologische Analogien reichlich belegen (man denke an Völkergenealogien oder Wanderungssagen); aber die entwickelte ethnographische Reflexion ist doch davon nicht entscheidend determiniert worden. Hierher können die von Homer an belegten Einteilungen in Zonen gerechnet werden, die Physis und Charakter der sie bewohnenden Völker prägen, Gedanken, die in der hippokratischen Klimatheorie und ihren Derivaten gipfeln, auch mit der Idealisierung von Randvölkern der Oikoumene zusammenhängen 9 . Die vielfaltigen, von der Sophistik inspirierten Gedanken 7
8 9
Megasthenes, Indika: Fragm. d. griech. Historiker ( = FGrHist 715). — O. Stein, in RE 15, 1931, S. 230 ff.; T. S. Brown: The Reliability of Megasthenes. In: Americ. Journal of Philology 76, 1955, S. 18 ff.; K.E. Müller, [vgl. Anm. 1], S. 245 ff. - Zu Rom: Verf.: Fabius Pictor u. d. Anfange der röm. Historiographie. In: Aufstieg u. Niedergang d. röm. Welt 12, 1972, S. 936 ff. Vgl. Verf.: Moses als Gesetzgeber. In: Saeculum 31, 1980, S. 73. K. Abel: Zone. In: RE S. 14, 1974, S. 989 ff. - περί άέρων 12 ff.; vgl. Triidinger [vgl. Anm. 4] S.37ff.; L.Edelstein: Περί άέρων u. d. Sammlung der hippokrat. Schriften 1931; W.Nestle: Vom Mythos u. Logos. 21941, S.217ff.; M.Pohlenz: Nomos u. Physis. In: Hermes 81, 1953,
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über Kulturentwicklung und soziale Evolution erlaubten, die soziale Differenzierung der physisch gleich ausgestatteten Menschheit zu erklären, endogene und exogene Kräfte in der Entwicklung der Völker zu unterscheiden, Entwicklungsstufen zu bestimmen10. Mit Hilfe solcher Kategorien war für Aristoteles und die peripatetische Schule nicht nur ein differenziertes entwicklungsgeschichtliches Begreifen möglich, sondern auch eine Erfassung fremden Volkstums in einem Koordinatennetz von Umwelt und geschichtlicher Individualität. Die gedankliche und begriffliche Einordnung des Fremden geschah also in mehreren Dimensionen gleichzeitig. Das sind nur grobe Markierungen, genug, wenn sie eine richtige Orientierung geben. Das ethnologische Reflektieren und Begreifen der Griechen bildete keine Fachsprache und Spezialmethodik aus, wie sie ja auch zu keiner Verselbständigung der Ethnologie als wissenschaftlichem Fach führten. Hier verbanden sich vielmehr, wie auf anderen Sachgebieten auch, mit großer Offenheit für Erfahrungen und Konzepte zu ihrer geordneten Verarbeitung die Anschaulichkeit des natürlichen Denkens und Sprechens11. Hierin den Ballast des naiven Ethnozentrismus auf dem graden Weg aus der überall vorfindbaren Befangenheit naturvolklicher Mentalität zu ausnahmsweise erreichter, vorurteilsloser wissenschaftlicher Fremdvölkererfassung zu sehen, verkennt sowohl das Niveau wie auch die bleibende Eigenart griechischer Völkerkunde.
2. Ethnologische Begriffsbildung bei den Griechen
Wie sind nun Leistung und Grenzen der ethnologischen Begriffsbildung bei den Griechen konkret zu beurteilen? Ich möchte darauf Antworten einholen bei Herodot, Aristoteles und Poseidonios als den wichtigsten Vertretern der griechischen Ethnographie. (1) Der pater historiae schaltet seine Logoi dort ein, wo die Fremdvölkerinformation im Gang der Erzählung gefordert ist, und er geht in ihnen von der Beobachtung, nicht von der Theorie aus12. Er reflektiert nicht auf das Gewöhnliche, sondern benutzt es als Kontrast für das ihm und seinen Lesern
10
11
12
S.418 ff.; W.Backhaus: D. Hellenen-Barbaren-Gegensatz u. d. hippokr. Schrift π. α. ύ. τ. In: Historia 25, 1976, S. 170 ff. Nestle [vgl. Anm. 9], S. 252 f., 282 ff. 351; W. Graf Uxkull-Gyllenband: Griechische Kulturentstehungslehren. 1924, 15 ff. (zu Protagoras); M. Untersteiner: I sofisti. 21967, S. 13 ff. Hierzu etwa H. Strasburger in: Herodot als Geschichtsforscher (1980). In: Studien z. Alten Gesch. II. 1982, S.910ff. F. Jacoby: Herodotos. In: RE S. 2, 1913, S. 330 ff. 341 ff.; M. Pohlenz: Herodot. 1937. S. 43 ff; J.L. Myres: Herodotos, Father of History. 1953. S. 70 ff; Κ. v. Fritz: D. griech. Geschichtsschreibung I. 1967. S. 113ff.; H.Strasburger (vgl. Anm.ll), S.824ff.
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Ungewöhnliche, und setzt deshalb auch ethnologische Elementarbegriffe und Zusammenhänge voraus. So sind die Skythen, Babylonier, Karer usw. εθνη und gibt es als Untergliederungen von solchen φΰλα oder μοΐραι, aber Herodot definiert diese Begriffe nicht als Formen der menschlichen Gesellschaft; daß fremde Völker in der Regel eigene Sprachen sprechen, gilt als Erfahrungstatsache und Beobachtungsfeld, aber der Zusammenhang zwischen Sprache und ethnischer Identität wird nicht theoretisch erörtert. Echte Völkernamen werden oft von (eponymen) Stammvätern abgeleitet oder etymologisch gedeutet, also genetisch erklärend durchdrungen 13 ; selten erscheinen künstlich gebildete Namen, die auch dann sicherlich nicht von Herodot erfunden sind, ζ. B. die „Androphagen" (d. h. Kannibalen, aber nicht als Klasse, sondern als individuelles Einzelvolk, έθνος έόν ϊδιον [4,18,2], verstanden) oder die Melanchlainen, die wegen ihrer schwarzen Mäntel so heißen (4,107). Gar nicht verwendet Herodot klassifikatorische Kunsttermini (wie Nordwest-Griechen oder Indogermanen); klassifikatorische Reflexion verrät sich aber in der Zuteilung von Grenzstämmen: Die Adyrmachidai etwa heißen das erste Volk in Libyen, es hat im ganzen ägyptische νόμοι, kleidet sich aber wie Libyer, hat andererseits einige Bräuche, die unter Libyern einmalig sind (4,168); bei der Abwägung scheint vor allem die Lage für die Zuordnung zu den Libyern zu sprechen. — Die Beschreibung einer Reihe libyscher εθνη beschließt der Satz: „dies sind die Küstenbewohner unter den nomadischen Libyern"; die Gesamtheit der Libyer wird also klassifiziert durch die Merkmale παραθαλάσσιοι und νομάδες, entsprechend scheiden sich die Skythen in γεωργοί und νομάδες (4,19). Dies führt auf die inhaltlichen Merkmale der ethnographischen Zuordnung: Sprache, Lebensweise, Sitten, geschichtliche Bedingungen, biologische Voraussetzungen, wobei noch ein Merkmal aus dem anderen abgeleitet sein kann. Daß die Kolcher Ägypter sind, beweist ihr dunkel-kraushaariger Typus noch nicht (weil sie den mit anderen gemeinsam haben), wohl aber die Bräuche der Beschneidung, ihre Leinenherstellung, generell ihre ganze ζόη ( = δίαιτα) und die Sprache, und beiderseitige Überlieferung bestätigt es (2,104—5); die Massageten haben Kleidung und δίαιτα mit den Skythen gemeinsam, in manchen Sitten unterscheiden sie sich aber von ihnen 1,215), trotz der Verwandtschaft stellt sie Herodot einander gegenüber. Das geschieht präzis und bewußt auch in vielen anderen Fällen. Es gibt hier eine in Kürze gar nicht aufzählbare Menge von Möglichkeiten der Zuordnung und Verwendung dieser Kriterien, die Herodot keineswegs mechanisch handhabt oder auch nur nach fester Regel. Er stellt vielmehr einmal dieses, einmal 13
Z.B. 1,94 (Tyrsener), 1,171 (Karer), 4,6 (Skythen), 1,173 (Lyker). (Arimasper).
2,30 (Asmach), 4,27
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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jenes in den Vordergrund und verfügt damit über ein Instrumentarium, das im ganzen feststeht, aber im einzelnen sehr geschmeidig eingesetzt wird. Die Gesichtspunkte der älteren Völkerbeobachtung stellt Herodot in den Dienst der Abgrenzung und inhaltlichen Erfassung von ethnischen Individualitäten; bloße θαυμάσια fehlen durchaus nicht, aber die Tendenz, ihnen mehr abzugewinnen, ist oft genug deutlich. 14 Neben der Vertiefung und Instrumentalisierung der alten ethnographischen Topoi ist diè Einbeziehung von Herkunft und Selbstverständnis der Fremdvölker eine Bereicherung der ethnologischen Typenbildung bei Herodot. Ein Ethnos ist also individualisiert auch durch seine Vergangenheit und die Vorstellung, die es davon hat. Indigene Herkunftsüberlieferungen werden, selbst wo sie der Autor als unglaubwürdig kennzeichnet oder mit anderen kontrastiert (wie bei den Skythen 4,5 — 11), der Mitteilung gewürdigt. Sie unterstreichen den natürlichen biologischen Zusammenhang eines Ethnos, oft geben sie auch Hinweise auf historische Verknüpfungen oder exogene Kultureinflüsse 15 . Schließlich gibt es für Herodot bereits übergeordnete Zusammenhänge des Klimas, der geographischen Zonen, der Höhenlage, die Stufen der Kulturentwickling im Allgemeinen oder Speziellen bedingen, nach denen sich wieder die Ethne unterscheiden. So sind die Perser von Haus aus Bewohner eines armen Landes, aber eben dadurch zäh und kriegstüchtig, die Lyder reich, aber verweichlicht, die Ägypter gesund, weil ihr Klima günstig ist, sind die Völker am Rand der Oikoumene primitiv, die ackerbauenden Skythen den viehzüchternden kulturell überlegen und gibt es eine einheitliche, im Alten Orient ihren Ausgang nehmende kulturelle Evolution von den Wildbeutern über die Nomaden zu den Ackerbauern 16 . Unter diesem Gesichtspunkt konstituieren auch Klima und Geographie eines Landes die Physis seiner Bewohner; diese wieder setzt einen Rahmen für die Möglichkeiten, die ein Ethnos verwirklichen kann. Es ist deutlich, daß damit die Grundlinien der ethnographischen Betrachtung in der Antike überhaupt vorgezeichnet waren, alles weitere, auch Tacitus, nur Ausbau der herodoteischen Konzeption gebracht hat. Die ethnischen Einheiten lassen sich danach historisch deskriptiv fassen, aber auch unter Typen subsumieren; ihre Individualität unterliegt Werden und Vergehen (aber 14
15
16
Zur inhaltlichen oder formalen Begrenzung der herkömmlichen Rubrik θαυμάσια vgl. etwa (unter verschiedenen Gesichtspunkten) Pohlenz [vgl. Anm. 2] S. 45, 49; Strasburger [vgl. Anm. 11], S.883. Aufschlußreich etwa 4,5 (skythische Herkunftssage), distanzierend ώς δέ Σκύθαι λέγουσι (dazu vgl. 2,123,1 über die Erzählungen der Ägypter). Perser: 1,71,4. 1,89. 9,122 (vgl. 7,102,1 von Griechen); Lyder: 1,71; Ägypter: 2,35,2. 2,77,3; ackerbautreibende und viehzüchtende Skythen: 4,19. Zur Evolution s. Müller [vgl. Anm. 1], S. 119 ff.
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nicht Gesetzen des biologischen Lebens!). Sie werden in sich und ihren Untereinheiten geprägt und definiert durch ein Zusammenwirken von Formkräften, das verstanden, aber nicht berechnet werden kann. Diese Grundgedanken durchdringen zudem den bunten Stoff nicht systematisch; die ίστορίη unterwirft sich keinem methodischen Programm. (2) Die Fortschritte, die Aristoteles und seine Schule, auf der Sophistik, auf Demokrit und der hippokratischen Medizin aufbauend, in der ethnologischen Reflexion brachten, bezogen sich auf ein vertieftes Verständnis, auf eine noch mehr ganzheitliche Betrachtung des ethnischen βίος, als dessen Ausdruck νόμος, ήθος und δίαιτα gewertet wurden, auch auf noch stärkere Zusammenschau der geschichtlichen Voraussetzungen (der άρχαιολογία) und der Naturkonstanten mit dem Volksleben17. Kulturentstehungs- und Verbreitungstheorien nehmen im Peripatos einen breiten Raum ein18. In der Politik erörterte Aristoteles etwa den Zusammenhang zwischen Kälte und Mut und mangelnder geistig-technischer Beweglichkeit im nördlichen Europa, was zu Behauptung der Freiheit disponiere, aber zu politischer Organisation und stabiler Herrschaftsordnung weniger befähige, und stellt dem eine entsprechende Beziehung zwischen geistiger Begabung, Mangel an Mut und Bereitschaft zu Unterwerfung bei den Völkern Asiens gegenüber; die Mittellage der Griechen stelle ihnen die Vorzüge beider Extremlagen bereit (Pol. 7,7). Es scheint, daß die Sammlung der νόμιμα βαρβαρικά die barbarischen Volksbioi nach solchen Gesichtspunkten darstellte und zu einer von Klischees nicht freien vergleichenden Völkerpsychologie und Kulturgeschichte tendierte19. Andererseits hat sein teleologischer Grundgedanke Aristoteles auch eine Konzeption des Aufbaus der sozialen Formen entwerfen lassen, in der barbarische Stammesexistenz und griechische Stadt als Stufen einer einheitlichen Entwicklung erscheinen (Pol. 1,2). Polis ist hier ein Begriff, der alle höheren, nach αυτάρκεια strebenden sozialen Organismen umfaßt, barbarisches Königtum ist in dieser Sicht nur eine bei den Griechen überwundene Frühform: auch dies ein ebenso produktiver wie irreführender Gedanke 20 . Das 4. Jh. und die hellenistische Zeit haben ein beträchtlich vermehrtes ethnographisches Material zur Verfügung gehabt; seine gedankliche Durch17 18
Trüdinger [vgl. Anm.4], S.48ff. Dikaiarch, Βίος 'Ελλάδος (F.Wehrli: D.Schule d. Aristot. 1. 1944. fr. S.47ff.), vgl. Wehrli. In: RE S. 11, 1968, S. 530 f. — Theophrast: Νόμοι κατά στοχείον. (Cie. fin. 5,4), s. Regenbogen. In: RE S. 7. 1940. S. 1519.
19
V. Rose: Aristotelis . . . fragmenta. 1886, S. 537 ff. Die hier wie in den Politien angewendete sachliche Ordnung nach Völkern (fr. 556, Athen. 1,23 d) wurde von systematischen Gesichtspunkten (βίος entsprechend Klimazonen, Nahrung, Zivilisationsstand, Lebensformen, vgl. Pol. 1,8) durchkreuzt.
20
Pol. 3,14, 1285a, vgl. 2,8, 1268b.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
29
dringung erweckt dagegen einen zwiespältigen Eindruck. Ein anschaulicheres Beispiel als Aristoteles bietet dafür Hekataios von Abdera, der sich ζ. Z. des l.Ptolemäers als erster Grieche über Moses und die Juden äußerte (Diod. 40,3). Moses gründete nach ihm Jerusalem und den Tempelkult, er schuf die Organisation des jüdischen Volkes in die zwölf Stämme, stiftete Recht und politische Ordnung, ist ein Kolonistenführer voll φρόνησις und άνδρεία wie seine gleichzeitigen Schicksalskollegen Dañaos und Kadmos. Der jüdische Gesetzgeber repräsentiert also die Kulturleistungen der Stadt, der politischrechtlichen Ordnung und des Kultes; die Herkunft aus Ägypten belegt die Kulturpriorität des Nillandes, die Parallelität mit anderen Nomotheten die innere Vergleichbarkeit ihrer Stiftungen. Hekataios hat demnach plausible Ideen und Interesse an seinem Gegenstand, kennt aber jüdische Tradition selbst nicht und ist reich an Fehlurteilen in der Sache. Grundsätzlich deutet er das Fremdvolk nach hellenistischen Kategorien: Moses gründet Apoikien und der Exodus ist ein Ktisis; jüdische Exklusivität (die sonst verpönte άμιξία) nimmt idealstaatliche Züge an, die Priester erscheinen in wohlmeinendem Mißverständnis (wie anderswo die indischen Brahmanen) als eine Art platonischer Philosophenkönige 21 . Dieser Ausprägung ethnologischer Begriffsbildung konnte bei aller Gelehrsamkeit und Gedankenfülle die Wirklichkeit entgleiten, und so scheint es im Hellenismus mit der Ethnologie auch grundsätzlich gegangen zu sein (aber das ist ein weites Feld, das wissenschaftlich auch bisher weithin unbestellt ist)22. (3) Poseidonios, der stoische Universalgelehrte des 1. Jh. v. Chr., hat auch die Ethnologie in seine grandiose Synthese einbezogen und ihre theoretischen Grundlagen in der gleichen Richtung weitergebildet, die schon seine frühhellenistischen Vorgänger verfolgten 23 . Ihm ist das Kaleidoskop menschlicher Gestaltungen in Sitte und Satzung, Lebensweise und sozialer Gesamtordnung, Urgeschichte und zivilisatorischer Entwicklung ein logos-durchwaltetes Sinngefüge (auch er konnte sagen, daß das Wirkliche vernünftig sei!). Daß diese Überzeugung nicht fromme Stimmung oder dogmatisches Vorurteil blieb, sondern Forschungsimpuls wurde, macht die geniale Besonderheit 21
Nach Verf.: In: Saeculum 31, S. 74. Vgl. FGr Hist 264, bes. F 6 mit Kommentar; W.Jaeger: . Diokles v. Karystos. 1938, S. 134ff.; J.G. Gager: Moses in Greco-Roman Paganism. 1972, S. 25 ff. 22 Vielfache Anregungen bietet A.Momigliano: Alien Wisdom. 1974. (dt. ,Hochkulturen im Hellenismus, d. Begegnung der Griechen mit Kelten, Juden, Römern u. Persern'. 1979). 23
Trüdingen [vgl. Anm.4], S.80ff.; K.Reinhardt: Poseidonios. 1921. S.24ff. und in: RE 22, 1953, S. 805 ff. Entsprechend der Überlieferungslage bleibt die Beurteilung der Leistung des Poseidonios abhängig von der, nur durch Analyse von Quellen und gedanklichen Zusammenhängen zu leistenden Zurückgewinnung der Hauptlinien seiner Konzeption; vgl. z.B. G.Pfligersdorffer: Studien zu Poseid. (SB Wien 232,5). 1959, bes. S.85ff.
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des Poseidonios aus. Seine berühmten ethnographischen Exkurse scheinen den Stoff unter die herkömmlichen Topoi geordnet zu haben (der keltische begann mit der mythischen Ethnologie nach einheimischer Überlieferung24), sind aber durch intensive Beobachtung, suggestiv anmutende Gesamtschau und Verinnerlichung des Materials im Sinne eines alle Aspekte verbindenden Charakterisierungsstrebens ausgezeichnet. Das satyrhafte Aussehen der Gallier, das ihre blonde, ,pomadisierte' Haarmähne bewirkt, oder ihre Gelagesitten, die an den Pferden herabbaumelnden Köpfe erschlagener Gegner, das und vieles andere sind realitätsgesättigte Bilder von vorher nicht erreichter Eindringlicheit und Genauigkeit, die zugleich der Darstellung eines vom nordbarbarischen θυμός geprägten Typus dienen, der nordeuropäischen atmosphärischen und klimatischen Bedingungen entspricht. Eine Art von Diffusionstheorie ließ Poseidonios annehmen, daß der Barbarismus (die άγριότης, samt der Neigung, die Nachbarn zu überfallen und Beutekriege zu unternehmen) nach Norden hin weiter zunehme (Diod. 5,32), während die glückliche Mischung zwischen physischer und geistiger Kraft in Italien die Römer zur Weltherrschaft prädestinierte (Vitr. 6,1,II) 25 . Poseidonios hat also eine gar nicht abzuschätzende Fülle von exakten ethnographischen Tatsachen bereitgestellt und sie auf gedankenreichste Weise miteinander verknüpft, aber seine Leistung kam mehr einer umfassenden Typenschau als der Präzisierung der ethnographischen Begriffe zugute. Er bewegte sich jedoch damit ganz in der skizzierten Richtung der Entwicklung der antiken Ethnographie. So hat Poseidonios ζ. B. die Größe der gallischen Stämme (auch sie heißen εθνη) auf je 50 — 200000 Männer beziffert, aber sich damit begnügt zu sagen, daß es von solchen Stämmen ,viele' gebe (Diod. 5,25,1). Er hatte wahrscheinlich größeres Interesse an dem Zusammenhang zwischen dem Säftehaushalt der nördlichen Physis und der Kriegslust der nördlichen Psyche als an der Stammesgliederung oder dem Verhältnis zwischen Namengebung und politischer Organisation, mehr Sinn für die Wesenserfassung von Volkstypen als für die begriffliche Analyse der sozial-politischen Erscheinungswelt des Barbaricum.
3. Der römische Beitrag %ur ethnologischen Begriffsbildung
Es ist merkwürdig schwierig, angemessen zu beurteilen, worin der römische Beitrag zur ethnologischen Begriffsbildung besteht26. 24 25
26
Diod. 5,24,1 ώς φασίν. Η. Strasburger, Poseidonios u. d. Römerherrschaft, Studien z. Alten Geschichte 2, 1982, 920 ff. Er ist aus gleich zu nennenden Gründen historisch nicht in einem Zugriff zu fassen
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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(a) Gewiß ist er literarisch-wissenschaftlich unbedeutend; in dieser Hinsicht rezipierten die Römer eine griechische Form wie anderswo in der Literatur auch. Exkurse in Geschichtswerken liefern ja den zusammenhängenden ethnographischen Hauptstoff, und dieser Sachverhalt ist selbstverständlich nur aus der Übernahme einer Gattung zu verstehen. Ohne die griechische Entwicklung der Ethnographie wäre es unverständlich, daß ausgerechnet Einlagen in der Kunstprosagattung Historiographie Hauptquelle der römischen Völkerkunde wurde. (b) Römische Historiographie ist aber auch sozial gebunden. Bekanntlich haben von Haus aus Senatoren die res gestae populi Romani nicht nur gemacht, sondern auch beschrieben, und das blieb großenteils auch in der Kaiserzeit so. In den Köpfen eines Caesar oder Tacitus mischten sich das Bildungsgepäck und die politische Erfahrung, und wir können schwerlich die Grundelemente wieder herauslösen. Sallust war als Praetor und Propraetor in Afrika, was ihn nicht hindert, im Exkurs Meder, Perser und Armenier aus einem Heer des Herkules nach Afrika gelangen zu lassen — unter Berufung auf einheimische Überlieferung zwar, aber mit Hinweis auf angebliche archäologische Indizien dafür (Jug. 18). Tacitus rechtfertigt seinen Exkurs über die populi Britanniens gegen den Verdacht, nur aus literarischem Ehrgeiz mit seinen Vorgängern wetteifern zu wollen, mit dem sachlichen Bezug zum Thema der Agricola-Biographie: unter Agricola ist Britannien zum ersten Mal richtig unterworfen worden (Agr. 10,1). Offensichtlich konnten also auch sachlich kompetente Autoren völlig im Banne literarischer Klischees schreiben, sie konnten aber auch den traditionellen Stoff ihren Darstellungszwecken unterordnen und in besonderen Fällen (so m. E. bei Caesar) ihn aus eigenem Urteil produktiv modifizieren; völlig übergehen konnten sie ihn nie! Einem gebildeten Betrachter — mochte er im übrigen auch die machtpolitischen Ziele Caesars verfolgen — stellten sich gegenüber fremdvölkischer Realität die Kategorien der ethnographischen Tradition unweigerlich ein, im besten Falle sah er mit so geschulten Augen dann doch vorwärts in die Wirklichkeit, nicht nur rückwärts in die Bücher. Neben der Beobachtung waren Vergleich von typenbestimmenden Merkmalen, Rückschluß von beobachteten Tatsachen auf unbekannte Ursachen, Verallgemeinerung von Einzelheiten zu Gesamtvorstellungen die logischen Wege, die in diesem Falle
und wird einerseits im Bereich der Stereotypen (historisch-philologische Gattungs- und Toposforschung), andrerseits der Praxis (militärische und wirtschaftliche Entdeckungsgeschichte und ihre literarische oder subliterarische — Itinerarien — Verarbeitung), endlich der intellektuellen Antriebskräfte (kaiserzeitliche Philosophie und Weltanschauung, besonders römische Stoa) gesucht; eine eindringende Synthese fehlt. Uberblick über das Material: Müller [vgl. Anm. 1] II. 1980, S. 1 ff.
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eingeschlagen wurden, aber nie aus dem Rahmen der herkömmlichen Vorstellungen ganz herausführten 27 . (c) Ein weiterer Gesichtspunkt sei in aller Kürze wenigstens angedeutet. Die Weltanschauung der Kaiserzeit neigte dazu (und Tacitus liefert Beispiele genug dafür), die Phänomene der beobachtbaren Realität als Ausdruck einer tieferen und abstrakteren Wirklichkeitsstruktur zu verstehen, etwa Verhalten als Ausdruck von Haltung. Die Richtung der ethnologischen Reflexion kam dem entgegen (s. unter 4.), und so dürfte sie durch den römisch geprägten Zeitgeist verstärkt worden sein. Die Tendenz zum ethnographischen Klischee, z. B. das stereotype und weithin erfahrungsresistente Barbarenbild oder die zunehmende Unanschaulichkeit der Ethnographie werden sich aus dieser doppelten Wurzel erklären 28 . (d) Ein letzter Aspekt hängt ebenfalls mit der Fremdbestimmtheit der römischen literarischen Kultur zusammen. Es ist oft auf die praktischen ethnographischen Erkenntnisse der römischen Kaufleute und Militärs hingewiesen worden 29 . Man stößt auf sie auch, etwa bei Strabo, in Melas Choreographie, bei Plinius, natürlich auch in der Historiographie im Zusammenhang mit Feldzugsberichten, ferner in den Itinerarien und der geographischen Fachliteratur. Hier erscheint das Material ganz anders geordnet, im ganzen praktischer, unvoreingenommener und vereinzelter, aber vorwiegend theoriefern und viel weniger bedeutungshaltig; Herakles' Spuren oder Klimatheorien interessieren auf diesem Niveau wenig. Die geistige Situation der Kaiserzeit hat auf diese Weise die beiden Stränge, mit deren Zusammentreten die griechische Ethnologie begann: die traditionelle, in bestimmte Denkmuster gefaßte, literarisch geprägte Ethnographie und die völkerkundliche Praxis, zu beider Nachteil wieder auseinandertreten lassen. Diese Bemerkungen müssen genügen, um zu begründen, daß eine einfache Beurteilung der römischen Leistung wie,Verfall der wissenschaftlichen Ethnologie' in der Kaiserzeit allenfalls bei Dominanz literaturgeschichtlicher Betrachtung möglich ist, aber der komplizierteren Gesamtsituation nicht gerecht wird. 27
Vgl. Verf.: D. germ. Agrarverfassung nach d. Berichten Tac. u. Caesars. In: H.Beck u.a. [Hg.]: Unters, z. eisenzeitl. u. frühmittelalterl. Flur . . . (Abh. d. Ak. d. Wiss. Göttingen 1979). I. 1979, S . 1 8 f f .
28
Hierzu ist die Bildkunst der Kaiserzeit (vor allem das historische Relief, z. B. die Barbarendarstellungen auf der Trajanssäule, oder die Münzbilder) zu vergleichen. Müller [vgl. Anm. 1], E. Norden, Die german. Urgeschichte in Tacitus Germania, 3. Aufl. 1923, S. 428 ff. Auf diesem Gebiet gibt es ein Fortschrittsbewußtsein, siehe z.B. Tac. G. 1,1 (nuper cognitis quibusdam gentibus ac regibus, quos bellum aperuit); Agr. 10,4 (tunc primum . . . incognitis ad id tempus Ínsulas ...); Plin. n. h. 37,45 (litus Germaniae . . . percognitum nuper, von dem eques R., der von Carnuntum aus die Ostseeküste erreichte).
29
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Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
4. Begriffliche
Erfassung von Fremdvölkern in der frühen
Kaiser^eit
Welches Fazit ergibt sich aus alledem für den Stand der begrifflichen Erfassung der Fremdvölker in der frühen Kaiserzeit? Welche geistigen Möglichkeiten hatte der Angehörige des Imperium des 1. Jh. dafür bestenfalls? Die Völkerwelt gliederte sich für ihn in Großgruppen und diese wieder in kleine. Auch die Namen der Verbände höherer Ordnung (Galatai, Thrakes, Skythai usw.) entstammen der Realität, aber dienen zugleich stärker als die von Einzelstämmen als Typenbegriffe und zur klassifikatorischen Ordnung. Deshalb entfernten sie sich leichter von der Wirklichkeit und unterliegt ihr Gebrauch auch der Spekulation. Die Zuordnung von Einzelgruppen konnte strittig werden, auch ohne Rücksicht auf das Selbstverständnis der Betroffenen erfolgen und entgegengesetzte Antworten zulassen, je nach Wahl des Kriteriums (v. a. Abstammung, Sprache, Habitus, Selbstbezeichnung). Die Marsigni und Buri wären nach sermo und cultus Sueben, sagt Tacitus (Germ. 43,1) in offenbar polemischer Absicht, die Cotini und Osi Nichtgermanen ausweislich ihrer Sprache, aber auch ihrer Gesinnung (nämlich: quod tributa patiuntur) 30 . Es konnte auch eine allgemein anerkannte klassifikatorische Ordnung überhaupt mißlingen (der Bereich Thraker—Geten—Moeser—Myser— Daker ist ein solcher Fall, ein weniger krasser die nordafrikanischen Völker). Die ältere Ethnographie gebrauchte den naiven Ausweg der Mischbildungen (Kelt-Iberes, Helleno-Skythai, Liby-Phoinikes); das geschieht später nicht mehr31. Bei den Römern scheint die Terminologie oft den — ethnographisch sicherlich einigermaßen sorglosen — militärischen Etikettierungen gefolgt sein; z. B. hängt die Ausweitung des Namens ,Pannonier' zu einem Oberbegriff mit dem bellum Pannonicum zusammen. Ähnliches ergab sich dann aus dem Sprachgebrauch der Administration, so liefern etwa Provinznamen übergeordnete Völkernamen, z. B. Raeter für nichtraetische Populationen. Jedenfalls hatten Klassifikationen solcher Herkunft eine viel größere Durchsetzungschance als die Benennungen gelehrter Ethnographen. Selten ist das konstante Nebeneinander verschiedener terminologischer Systeme wie v. a. die griechische Erstreckung des Keltennamens auf die Germanen während der Kaiserzeit. Schließlich gibt es oft Gruppen von Stämmen, sozusagen eine mittlere Ebene der terminologischen Hierarchie, die ein ganz entsprechendes Schwan-
30
31
In der Bewertung des subjektiven Verhaltens (tributa pati) als eines Ausdrucksphänomens liegt eine Vertiefung der Völkercharakteristik wie in der scala regia (Germ. 44,1. 45,6); in der Abwägung der Zuordnung ähnlich Dio 51,22,6 (Daker-Sueben, Skythen—Kelten). Echte Mischbildung ist von Zwischenstellung zu unterscheiden und hängt mit dem Topos der Autochthonie und Reinrassigkeit zusammen. Vgl. Anm. 40.
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D. Umpé
ken zwischen Völkereigennamen und ethnographischen Klassennamen aufweisen. Die vier Vindelikerstämme, deren exakte zahlenmäßige Begrenzung ein präzises Zugehörigkeitskriterium verrät (wahrscheinlich kultisch, aber nicht überliefert) illustrieren die eine Möglichkeit, die losere und unschärfere Gruppe der Belger die entgegengesetzte. Terminologisch können nun die verschiedenen Ebenen nicht voneinander unterschieden werden, Iberer, Kelten, Skythen, Thraker können έθνος, φΰλον, gens heißen, einzelne iberische Stämme aber auch. Hi omnes lingua, instituta legibus inter se differunt, sagt Caesar bekanntlich von den Galliern (B. G. 1,1,1), aber von Kelten und Germanen, Kelten und Ligurern, Kelten und Iberern gilt das ebenso. Die poseidonische Charakterisierung der Gallier insgesamt und die caesarische etwa der Belger (fortissimi sunt!) oder einzelner belgischer Stämme stützen sich auf grundsätzlich die gleichen Kriterien. Umgekehrt gibt es die berüchtigte terminologische Variation der ethnischen Bezeichnungen (civitas, populus, gens, natio). Dieses Wortfeld ist nur historisch zu erklären, nicht bedeutungsmäßig aufzugliedern 32 . Hier kann im Einzelnen einmal nuanciert sein, eine objektiv feststehende und durchgehaltene Differenzierung gibt es nicht. Es wird auch nirgendwo versucht, theoretisch zu bestimmen, was ein δθνος „eigentlich" ist, ob also Sprache oder Selbstbewußtsein oder politische Organisation das letztlich Entscheidende sei. Das Ensemble der Kriterien: Sprache, Verwandtschaft, rechtliche und politische Gesamtordnung und Einzelordnungen, soziale Struktur, Religion und Sitte, kultureller Habitus in Kleidung, Wohnung, Waffen usw., räumliche Zusammengehörigkeit, Identitätsbewußtsein, geschichtliche Konstituentien — unterliegt keiner logischen Ordnung und keinem Vollständigkeitsbedürfnis. In ihm leben die Topoi der jonischen und herodoteischen Völkerbeschreibung fort, die ja auch nicht systematisch gedachte Kategorien, sondern Gesichtspunkte der praktischen Beobachtung waren. Die in der Vielfalt der Völker- und Stammesnamen anschaulich werdende ethnische Realität wird über eine gewisse Grenze hinaus nicht begrifflich-systematisch durchdrungen. Die Beobachtung der ethnischen Phänomene lehrte ja auch die unscharfen Grenzen der Sachbereiche, bzw. die Äußerlichkeit der Topoi mit einer gewissen Zwangsläufigkeit: Sitten hingen mit der Religion zusammen, Politisches mit der Sozialordnung, die Grenzen mit der Geschichte, die Kultur mit dem Klima. Nur eine Relativierung des Einzelnen zugunsten einer ganzheitlichen Charakterisierung der ethnischen Individualitäten wurde dem gerecht.
32
Das zeigen Versuche wie der von C. Redlich: Germ. Gemeinschaftsformen i. d. Überlieferung d. Tac. In: R.V.Uslar [Hg.]: Studien aus Alteuropa. II. 1965, S. 186ff.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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(2) Das alles ist der Sache nach triftig und liegt in der modernen Ethnologie grundsätzlich ähnlich. Anders steht es mit der jeder ethnologischen Begriffsbildung notwendig zugrundeliegenden Relation zwischen erkennendem Subjekt und ethnographischem Objekt. Sie ist in der Antike keineswegs immer gekennzeichnet durch die uns geläufige Polarität: überlegene, starke, sichere, kohaerente Kulturzone einerseits — ferne, schwache, unterlegene Naturvölker andererseits. Für Herodot waren die alten Kulturzentren die orientalischen, also der Gegensatz hellenisch—barbarisch nicht gleich: hochkulturell-naturvolklich! Andererseits beschreibt ζ. B. Thykydides die griechischen Ätoler als Halbbarbaren wie ein Fremdvolk oder etwa Cato in den Origines die civitates Italiens als ein buntes Sammelsurium mit teilweise sehr fremdartigen Zügen 33 . Die Stammesstruktur umfaßte ja auch Griechenland und Italien, und entsprechend ist die Terminologie nicht exklusiv: alle griechischen und lateinischen Bezeichnungen für ethnische Organisationsformen, gentilizische Gliederungen, Kultverbände oder pagus-Einteilung werden auf griechische, italische und fremde Verhältnisse angewendet. Demgemäß konstruiert Aristoteles die soziale Welt aus den kleinsten Einheiten der Familie und des Dorfes, aufsteigend zu den autarken und dauerhaften politischen Verbänden, den Staaten (poleis) schlechthin, unter denen die patriarchalischen Königsstaaten homerischer oder rezent-barbarischer Prägung die teleologisch ursprünglichen, die rechtlich verfaßten Gemeindestaaten die höheren sind (Pol. 1,2). Hier gibt es also nur Gradunterschiede und Entwicklungsdifferenzen. Daraus ergeben sich anthropologische Folgerungen; die Fragen nach den Gründen der ethnischen Differenzierung, die nach Monogenese oder Polygenese der Kultur und nach den Möglichkeiten und der Tragweite der Akkulturation stellen sich und die Möglichkeiten der Beantwortung sind begrenzt. In der Kaiserzeit wird das Verhältnis zum Fremdvölkerobjekt anders. Dank der politischen Einigung der mittelmeerischen Kulturinsel fallen der geophysisch-klimatische Typus und der hochkulturelle Habitus jetzt zusammen; die Römer identifizieren sich kulturell mit der griechischen Tradition und konfrontieren dieser die Barbaren, die nun zugleich politische Ausländer werden. Herrschaft und zivilisatorische Assimilierung werden zwei Seiten derselben Sache; ,die ganze Oikoumene (gemeint: das Imperium) wird eine Polis', kann der Kulturoptimismus des 2. Jh. sagen (Ael. Arist., Rede auf Rom 61). Das Beobachtungsfeld des Ethnologen liegt jetzt, kurz gesagt, vor dem Limes. — Auch diese Anschauung hat weitreichende Folgen: Kulturdiffusion heißt in der Konsequenz jetzt Unterwerfung, politische Zuverlässigkeit
33
Thuk. 3,94. 96 (vgl. 1,5); s. auch Polyb. 30,11 -
Cato Or. fr. 31 ff. (Peter).
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und höhere Gesittung konvergieren, und Treulosigkeit wird umgekehrt das Stigma des unverbesserlichen Barbaren34. Die Klimazonenvorstellung, bei Poseidonios am umfassendsten dargestellt, bekommt eine immer stärkere politische Note: Je kälter und nebliger oder auch heißer und dürrer es wird und je extremer entsprechend der θυμός geartet ist, desto ferner ist die Reichszivilisation und umgekehrt; bzw.: unter römischer Herrschaft wird der Himmel milder (Flor. 2,30,27). Jetzt decken sich gentes und Barbaricum und werden die Stämme das ,ganz Andere', zu dem auch nur immer schmaler werdende Brücken des Verständnisses führen. Es gab Erscheinungen in der Umwelt der klassischen Antike, die weder von der einen noch der anderen Warte aus eingeordnet werden konnten, und es fragt sich, auf welchen Begriff sie gebracht wurden. a) Für nicht primär politisch organisierte Verbände (wie die antiken Gemeindestaaten) stellt das antike Denken vor allem das Abstammungs- und Wachstumsmodell zur Verfügung; deshalb wird überall der Topos ,origo' abgefragt. Stämme sind regelmäßig Abstammungsgemeinschaften. Ihnen kommt als solchen legitimerweise ein Name zu und den wissen und verteidigen zunächst die Träger selber. Deshalb ist im ethnographischen Zusammenhang die Angabe des Namens unerläßlich und werden mit besonderer Aufmerksamkeit (weil abweichend von der Norm) irgendwelche Irregularitäten (akzeptierte Fremdbenennung oder sonst ein Namenswechsel) festgehalten. Gewachsene Namensgemeinschaften werden theoretisch auf einen Gründerstammvater zurückgeführt. Auch das Wissen darum ist in erster Linie, wenn nicht überhaupt allein, bei den Abkömmlingen zu erwarten, deshalb der Topos ,indigene Nachrichten über Gründervater und Stammesgenealogien'. Negativ spiegelverkehrt dazu erscheint die Behauptung einer Art Asylgenese: Die berühmte Alamannenetymologie des Asinius Quadratus erklärt die Alamannen wie die Römer des Romulus 35 , sozusagen als Parodie einer Verwandtschaftsgemeinschaft. — Sicherlich konnten nun kompliziertere Vorgänge der Bildung ethnischer Verbände und wechselnder ethnischer Identität mit diesem einfachen Modell nicht gefaßt werden und mußten soziale Formen ganz anderer Herkunft (ζ. B. Kultverbände) mißdeutet werden. 36 b) Entscheidungen, die in einer für den antiken Betrachter weitgehend geschichtslosen Gesellschaft ausnahmsweise geschichtlichen Rang annehmen, werden nach dem Muster verfassungsstaatlicher Entscheidungsfindung ge34
35
36
Vgl. A. Alföldi: D. ethische Grenzscheide am röm. Limes. In: Schweiz. Beitr. z. allg. Geschichte. 1950. S . 3 7 f f . As. Quadr., FGrHist 97 F 21 (Agathias hist. 1,6); zur Asylentstehung W. E. Mühlmann: Colluvies gentium. 1951. In: Homo creator. 1962. S. 303 ff. R. Wenskus: Stammesbildung u. Verfassung. 1961, hat demgegenüber die Formen der Stammesbildung differenziert dargestellt.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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deutet, ζ. B. der Auszug der Helvetier als Ergebnis eines Volksbeschlusses (Helvetii constituerunt), dem gleichsam ein aristokratisches Probouleuma oder senatus consultum vorausgegangen war.37 In sehr vielen Fällen wird der Charakter solcher Beschlüsse zu „öffentlich", ihre Verbindlichkeit zu groß und zu amtlich interpretiert sein. — Das Durchsetzen oder Scheitern von Einzelpersönlichkeiten wird unter Legalitätsgesichtspunkte gerückt (ζ. B. bei dem Helvetier Orgetorix), die der Sache nicht angemessen sind. Vor allem der Bereich der Wanderungen, Beutekriege, Gefolgschaftsraids können in der antiken Begrifflichkeit nicht plausibel gefaßt werden. Es ist Ausdruck von barbarischer Raubgier oder (entsprechend der von Demokrit begründeten Lehre) 38 Folge von Not (χρεία), was Wanderbewegungen treibt; seriöser eingeschätzte Vorgänge wie die Abwanderung der Markomannen unter Marbod scheinen nach dem Muster von Kolonisationszügen und Apoikiegründungen gedacht zu werden. Die komplizierte Organisation und Versorgung solcher Bewegungen und die damit einhergehenden Veränderungen der Verbände versteht und beschreibt kein Autor (was nicht ausschließt, daß in anderer Intention mitgeteilte Nachrichten darüber — ζ. B. die bei Plutarch über Kimbern 39 — einiges darüber erkennen lassen). Ausnahmsweise stellt Caesar seine seltsam anmutende Kombination über die Suebenwanderungen in den klassischen Kontext eines ethnographischen Exkurses (4,1). Bekanntlich erfahren wir aber über die Entstehung der Großstämme in Germanien aus der antiken Literatur fast nichts und dieser Sachverhalt bezeugt doch wohl auch eine Grenze des Verstehens auf der uns dafür richtig erscheinenden Ebene. — Mit diesen beiläufigen Erwägungen zu den Grenzen der ethnologischen Begriffsbildung muß ich es bewenden lassen.
5. Der Germanenbegriff im Lichte der antiken ethnologischen Begriffsbildung Ich versuche zum Schluß, eine Anwendung für den Germanenbegriff zu finden. 1. Germani ist für das antike Verständnis Name einer Großgruppe wie Iberer, Thraker, Inder, die den Raum zwischen Kelten und Skythen füllt, sie sind sozusagen die Keltoskythen 40 . Solche Begriffe können niemals empirisch gewonnen, d. h. von der Selbstidentifikation der Bezeichneten abhängig ge37
38
39 40
Caes. B. G. 1,3,1 vgl. 2 lege confirmant gegenüber 2,1 coniurationem nobilitatis fecit et civitati persuasit . . . Diod. 1,8 u. Tzetzes: Schol. z. Hesiod bei Diels, Vorsokratiker*. II Nachtr. p. XII f.; vgl. Uxkull-Gyllenband [vgl. Anm. 10], S.25ff. Plut. Mar. 11; Strabo 7,2,2, p.293f. So Poseidonios bei Plut. Mar. 11,7 auf Grund des Nomadismus der beteiligten Stämme. Vgl. M. Ninck: D. Entdeckung Europas durch die Griechen. 1945. S. 242 f.
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macht werden; niemand kann auch sagen, ob sich alle Τβηρες für Iberer, alle Σκύθαι für Skythen oder gar welche "Ινδοί sich für Inder hielten. Namen dieser Art sind bestenfalls Ergebnis einer ethnologischen Klassifikation auf Grund einer ausreichenden Menge übereinstimmender Merkmale (also die Schöpfung eines Idealtypus), deshalb aber auch nicht ohne weiteres „gelehrte Konstruktion", wenn damit bloße terminologische Beliebigkeit gemeint ist. Zu diesen Merkmalen brauchte nicht notwendig die Sprache (nach der sich die Kelten), nicht der Volksbios (nach dem sich die Libyer oder Skythen untereinander unterschieden) zu gehören, also auch nicht die (heute noch faßbare) kulturelle Ausstattung, überhaupt nichts bestimmtes Einzelnes unerläßlich, sondern das Ganze, die poseidonisch gedachte Erscheinung. Über die Entstehung solcher Synthese hat m. W. kein antiker Ethnograph Rechenschaft abgegeben, sie haben sie in der Regel vorgefunden und nachträglich mit Anschauung gefüllt. Naturgemäß war dabei immer ein Schluß vom Bekannten auf das Unbekannte beteiligt, eine Verallgemeinerung dabei, denn kaum Caesar hatte ganz Gallien in Augenschein genommen. 2. In der ethnographischen Praxis hießen aber doch .Unterschiede' zweifellos ,Nuancen'; Caesar hat im 1. Kap. B. G. nicht sagen wollen, daß bei den Galliern alles möglich sei, sondern den Reichtum eines Typus an Varianten andeuten wollen. Selbstverständlich geht der antike Autor und Leser davon aus, daß Libyer untereinander mehr gemeinsam haben als einzelne libysche Gruppen mit Nichtlibyern (Grenzfalle vielleicht ausgenommen). In aller Regel gehört zu dieser Gemeinsamkeit auch ein brauchbarer Grad gegenseitigen sprachlichen Verstehens; die Vorstellung gemeinsamer Herkunftsüberlieferung ζ. B. setzt sie voraus. Nur ist das eher eine Selbstverständlichkeit (vgl. Tac. G. 43!) und hat nicht den Rang herderschen Tiefsinns. Beträchtliche Zivilisationsunterschiede, erhebliches Kulturgefalle (so bei Kelten oder Skythen) stellt die im Namen postulierte Gemeinsamkeit nicht in Frage, ist im Gegenteil bei Galliern und Germanen durch die unterschiedliche Entfernung von der Zivilisationsgrenze vorgegeben. Klima- und Zonentheorien mit ihren charakteristischen römischen Modifikationen haben in diesem Zusammenhang für die Empirie eine Entlastungsfunktion. D. h., aus übergeordneten Bezügen ergibt sich ein Vorbegriff, der durch die Erfahrung nur ausgefüllt zu werden braucht (womöglich: kann!). Die Nordvölker sind durch Land und Klima: großgewachsen, hellhäutig, rothaarig, von relativ stumpfem Geist (weil die Luft so dick ist), furchtlos, aber ohne Überlegung im Kampf usw. 41 Weil nun die Germanen noch nördlicher als die Kelten leben, besitzen sie jene Züge notwendigerweise in höherem Grad. Man weiß also von vornherein, was man an ihnen hat. 41
So Poseidonios bei Vitr. de arc. 6,1,3 ff.
Ethnologische Begriffsbildung in der Antike
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Poseidonios bei Diodor (5,32,1) spricht von der Ausdehnung der Galatai nach Norden und bis zum hercynischen Gebirge; „da am wildesten diejenigen sind, die nach Norden zu wohnen und Skythien benachbart sind, sagt man sogar, daß es unter ihnen Kannibalen gäbe" (3); es folgt dann die Erwähnung der Kimbern, deren Zug Ausdruck eines wahrhaft nördlichen wilden Mutes sei. — Strabo (7,290) knüpft wahrscheinlich an Poseidonios an, wenn er sagt, daß die Germanen sich vom Κελτικόν φΰλον wenig unterschieden, sie wären nur noch wilder, größer und blonder. Mit der individualisierenden Typenbildung verträgt sich also die Annahme von Übergängen und graduellen Unterschieden. Umso mehr drängt sich dann die Frage auf, womit unter solchen Voraussetzungen eine Grenzlinie begründet werden kann. Eine Frage ist das aber wohlgemerkt nur dann, wenn Germani als umfassender Name gemeint ist; daß ein Einzelstamm im Rahmen einer Chorographie mit einem Fluß in Verbindung gebracht wird, ist eine ganz geläufige Erscheinung. 3. Caesar verknüpft bei der Abgrenzung des germanischen Ethnos in einer für antike Vorstellung unproblematischen Weise zwei Gesichtspunkte: er spricht von den germanischen Westbewegungen und der germanischen Herkunft der oder vieler Belgier als einem geschichtlichen Prozeß und von der aktuellen Lage am Rhein42. Der ethnographische Beobachter hat vor allem auf den Topos der Abstammung zu achten, aber ebenso auf Assimilationsvorgänge einzugehen und schließlich ein Urteil über den Stand der Dinge nach Abwägung aller Gesichtspunkte abzugeben. So berichtet Herod. (4,108f.) von den skythischen Budinern und beschreibt ihren Habitus. In ihrem Lande liegt die Stadt Gelonos mit griechischen Tempeln, denn die Geloner sind ursprünglich (το άρχαΐον) Griechen, haben in Sprache und δίαιτα noch halbgriechische Züge, aber sind trotzdem keine mehr. „Von den Griechen werden allerdings auch die Budiner Geloner genannt, aber zu Unrecht" (οόκ όρθώς καλεόμενον). — Die Kimbern sind nach Poseidonios (Diod. 5,32,4) ursprüngliche Kimmerier (heißen deshalb so ähnlich), aber jetzt zweifellos Angehörige des nord-mitteleuropäischen Ethnos (Kelten oder Germanen), die Atuatuker sind ursprünglich Kimbern, aber jetzt zweifellos Kelten (Caes. Β. 9.2,29). — Man kann Caesars Behauptung der Rheingrenze formal als eine Stellungnahme dieser Art verstehen, eine Entscheidung über einen Sachverhalt, der vielleicht auch anders beurteilt werden konnte. 43 Auf der anderen Seite hat Caesar als erster (oder nicht als erster) die Sueben den Germanen subsumiert, obwohl er die Sueben für den größten
42 43
Caes. Β. G. 4,33,3. 37,3. 4,1,4. 6,24. Belger: 2,4,2. 6,32,1. Rheinfront: 4,1,1. 6 f. 6,10. 35. G. Walser: Caes. u. die Germanen. 1956. Bes. S. 78 ff.; H. Ament, D. Rhein u. d. Ethnogenese d. Germanen. In: Präh. Zeitschr. 59, 1984, S. 37 ff.
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und repräsentativsten Teil der Germanen erklärt. 44 Er nennt also alle Rechtsrheinischen ,Germanen' (was sich aus Übernahme der poseidonischen Begriffsbildung erklären könnte), betont aber — anders als Poseidonios — den Unterschied zu den Kelten (denn die Sueben als wichtigste germanische Repräsentanten sind ja anders als die unmittelbaren Rheinanwohner von den Kelten deutlich unterschieden. Hätte Caesar den anscheinend vorliegenden Germanen-Begriff erweitert, so wäre das ein mögliches Verfahren gewesen, aber man würde dann nicht erwarten, daß die suebische Ungleichheit betont wird. Wäre dagegen sein Hauptinteresse die Abgrenzung gegen die Kelten gewesen, so müßte man eher erwarten, daß er als Oberbegriff ,Sueben' verwendet und ihnen die Germanen als rheinnahe Teilgruppe untergeordnet hätte. Auf beide Weisen ist ethnographische Begriffsbildung möglich, und vielleicht ist das unausgeglichene Ergebnis bei Caesar weniger Ausdruck besonderen Tiefsinns oder raffinierter politischer Absicht als einer gewissen Sorglosigkeit (für die es auch Beispiele gibt). Der Germanenbegriff hat seinen innersten Jahresring im antiken Sprachgebrauch. Man wird sein merkwürdiges Wachsen nicht verstehen, wenn man nur die äußeren betrachtet. Die Beachtung der antiken, ethnologischen Begrifflichkeit und des antiken Sprachgebrauchs kann zu den meisten Problemen, die sich hier stellen, keine positiven Antworten geben, aber oft Grenzen abstecken, außerhalb derer sie nicht zu suchen sind.
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B . G . 4,1; vgl. Wenskus [vgl. Anm.36], S. 255 ff.; K.Peschel: D. Sueben in Ethnographie u. Archäologie, In: Klio 60, 1978, S. 258 ff.
Zum Germanenbegriff Caesars: Der Germanenexkurs im sechsten Buch von Caesars Bellum Gallicum Von W. M.
ZEITLER
Das Thema, über das ich Bericht zu erstatten habe1, lautet: Der Germanenexkurs im 6. Buch von Caesars Bellum Gallicum. Situs gentium ... retinent ... legentium animum2, „Ethnographien fesseln den Leser". Ich hoffe, diese Feststellung des Tacitus gilt auch für den Hörer — selbst dann, wenn ich über zwei wichtige Problemkreise des Germanenexkurses nicht sprechen werde: Ich werde nicht reden über die Frage der historiographischen Abhängigkeit dieser Kapitel des 6. Buches, und ich werde nicht reden über die Frage der historischen Richtigkeit der Schilderung Caesars3. Als Philologe möchte ich an dieses Thema herangehen mit der Fragestellung: Was ist die Absicht, die Tendenz von Caesars Germanenschilderung? Gestatten Sie mir bitte hierzu, gerade im Hinblick auf unsere ausländischen Gäste, eine kleine Vorbemerkung. Wenn wir über die Tendenz des Germanenexkurses sprechen, so berühren wir einen Bereich, mit dem unser Zusammensein fast unmittelbar praktische Auswirkungen bekommt. Wir legen nämlich hiermit unsere Finger an einen Punkt, in dem sich die Kultusministerien fast aller unserer Bundesländer — und das klingt schon nach singulärem Curiosum — einig sind. Gemeint ist die überraschende Einmütigkeit der für die deutschen Gymnasien gültigen Lehrpläne (für das Fach Latein) hinsichtlich der Lektüreempfehlung des Germanenexkurses4. Sie dürfen also wissen, fast jeder
1
Die Form des mündlichen Vortrages wurde im folgenden unverändert beibehalten, nur die Anmerkungen wurden ergänzt.
2
Tac. Ann. 4,33,3. Eine Zusammenstellung der Literatur zu diesem Bereich findet sich bei G. Walser: Caesar und die Germanen. Studien zur Tendenz römischer Feldzugsberichte. In: Historia Einzelschriften. Bd. 1. 1956. S. 9 5 - 9 9 .
3
4
Ein Überblick über die zur Zeit gültigen Lehrpläne ist zu gewinnen aus F. Maier: Der lateinische Lektüreunterricht auf der Sekundarstufe I (Mittelstufe). In: Fachdidaktisches Studium in der Lehrerbildung. Alte Sprachen 2 (Hg. von J. Gruber/F. Maier). München 1982. S. 37 ff.
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Schüler, der in Deutschland mit lateinischer Lektüre in Berührung kommt, kommt auch mit dem Germanenexkurs in Berührung. Auffallend ist nun: Der feste Platz, den der Germanenexkurs in der Schule beansprucht, ist in der Fachwissenschaft ζ. T. schwankender Boden. Die Echtheit vor allem der Schlußkapitel ist umstritten 5 . Sind es doch Passagen, die über die germanische Tierwelt in einer Weise handeln, wie sie gar nicht in das Bild vom nüchternen Caesar passen will. Es würde mich nun freuen, wenn sich für die Echtheit der Schlußkapitel eine kräftige Stütze finden ließe. Diese Stütze kann, so glaube ich, verankert werden in der, wie es scheint, noch nicht herausgearbeiteten Tendenz der Germanenschilderung. Wir gehen also so vor, daß zuerst die Tendenz der Germanenschilderung in den Blick genommen wird; daran wird sich — das kann dann in aller Kürze geschehen — die Frage nach der Echtheit der Schlußkapitel stellen. Blicken wir auf die Literatur zum Problem, so zeigt sich, daß es F. Klingner war, der nicht nur pointiert, sondern auch die Forschung prägend in seinem Caesaraufsatz hierzu Stellung bezogen hat 6 . Klingners Gedanken lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen: Er geht aus von dem, wie er meint, singulären Verhalten Caesars gegenüber einem Gegner. Den Galliern gegenüber sei Caesar nie so verfahren, wie er jetzt — nach seinem zweiten Rheinübergang — mit den Germanen verfahrt, nämlich mit der Einstellung des Verfahrens. Hiervon ausgehend fragt Klingner, ob der Germanenexkurs, eingeschoben genau vor der Mitteilung des Rückzuges aus dem Germanenland, nicht das militärische Scheitern bzw. die Rücknahme der militärischen Drohgebärde kaschieren oder bestenfalls einleuchtend begründen solle. Kernpunkt dieser Begründung — und damit Kernpunkt des Germanenexkurses — sei es, die militärische Tüchtigkeit der Germanen, basierend auf der Abweichung ihrer Sitten vom keltischen Herkommen, darzutun. Caesar tue dies selbst unter Inkaufnahme eines klaren Gegensatzes zur herkömmlichen Meinung, wie sie u. a. von Poseidonios bestimmt war. Kurz, Klingner versteht den Germanenexkurs als Rechtfertigung für Caesars Nichtvorgehen gegen die Germanen und ordnet die Ausrichtung dieser Kapitel so in die Gesamttendenz des Bellum Gallicum ein. Nun fallt freilich bei einem Überblick über die römische Literatur bis in die beginnende Kaiserzeit folgendes auf. Bei der Fülle an ethnographischen Schilderungen, wie sie gerade Feldzugsberichte bieten 7 , rechtfertigt, soweit 5
Stellvertretend sei hierfür verwiesen auf die Teubneriana von O. Seel, Leipzig 1968, ad loc., sowie auf O. Seel, Caesarstudien. Stuttgart 1967. AU Beiheft 1 zu Reihe 10, S. 192.
6 7
F. Klingner: C. Iulius Caesar. In: Römische Geisteswelt. München 5 1965, S. 90—109. Charakteristisches Material hierzu (mit weiteren Verweisen) findet sich bei G . Walser [vgl. Anm.3], S.79ff.
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ich sehe, die Schilderung eines Stammes oder Volkes in keinem einzigen Falle den Verzicht auf einen Angriff. Immer, so scheint es, dienen die oft bunt ausgemalte Fremdartigkeit der Sitten und insbesondere die kräftige Unterstreichung der militärischen Stärke nur einem argumentativen Ziel: Angriff der Römer, oft auch Zerschlagung der betreffenden Völkerschaft durch die Römer, sollen gerechtfertigt werden. Auch alle anderen ethnographischen Schilderungen, die Caesar im Bellum Gallicum bietet, gerade auch über die Germanen, dienen diesem Zweck, sei es seine Schilderung der Sueben Ariovists im 1. Buch, sei es der Bericht über die Nervier im 2. Buch, Kapitel 15, sei es der Suebenexkurs im 4. Buch, Kapitel 1—4. Bei all diesen Beispielen ließe sich als Motto gewinnen: Je schlimmer der Feind, desto größer nach einem Sieg der eigene Ruhm. Nehmen wir dies zur Kenntnis, so erscheint manches an der von Klingner unserem Autor unterstellten Gedankenfolge nicht mehr so zwingend. Konkret heißt das, Klingner sagt: die Schilderung der militärischen Stärke der Germanen, auf die es Caesar wesentlich ankomme, rechtfertige den Abbruch des Angriffs auf Germanien. So einleuchtend uns diese Aussage erscheint, konnte sie einleuchtend sein in der innenpolitischen Auseinandersetzung, in der Caesar mit seinen Commentarli ja wirken wollte? Ist nicht vielmehr zu fragen: Erstens, besteht nicht die Gefahr, daß auf dem Hintergrund der erwähnten Beispiele aus der Literatur und auf dem Hintergrund der damals jüngsten Zeitgeschichte, nämlich den immer noch weiter ausgreifenden, erfolgreichen Feldzügen des Pompeius gegen starke Gegner, das Argument mit der Stärke der Germanen zu einem Argument für die Schwäche Caesars wird? Zweitens, konnte nicht ein innenpolitischer Gegner Caesars argumentieren: Caesar widerspricht sich selbst, wenn er mit der Stärke der Germanen seinen Rückzug begründen will; denn daß auch gewaltige Kontingente germanischer Armeen zu besiegen waren, zeigt Caesar ja selbst durch seinen Sieg über Ariovist? Und was kann drittens die Betonung der bloßen Andersartigkeit germanischer Sitten, worin Klingner die zweite Aussage des Exkurses sieht, für eine innenpolitisch einleuchtende Rechtfertigung von Caesars Zurückweichen besagen? Waren nicht gerade erst durch Pompeius ganz und gar fremde Völker dem römischen Reich eingegliedert worden, ja bestand nicht das römische Reich zum allergrößten Teil aus weit unterschiedlichen Völkern? Es wäre verwunderlich, wenn dem Taktiker Caesar, dem Feldherrn und Literaten, diese, sagen wir, mangelnde Eindeutigkeit seiner Gedankenführung entgangen wäre. Machen wir uns deshalb von neuem an einen Uberblick über die Kapitel des Germanenexkurses8. 8
Für eine eingehendere Behandlung sprachlicher Erscheinungen gerade auch unter didak-
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Germani multum ab hac consuetudine differunt·. Das adversative Asyndeton, das den neuen Inhalt bestimmende Wort Germani betont und als Subjekt am Satzanfang, die Wörter Germani ... differunt den Satz rahmend und das Wesentliche („die Germanen sind etwas Besonderes") markierend — so setzt sich Caesar gleich mit dem ersten Satz seiner Schilderung der germanischen Lebensweise ab von der bislang gültigen Ansicht, der alle Mittel- und Nordeuropäischen Völker als weitgehend ununterscheidbar galten 9 — waren sie ja auch Römern wie Griechen weitgehend unbekannt. Caesar beginnt die Beschreibung der Germanen in Kap. 21 mit der Schilderung dessen, was sie nicht haben, mit der Schilderung ihres Kultes. Sie kennen keine Druiden, denen im keltischen Bereich eine führende Stellung zukam, sie legen keinen gesteigerten Wert auf Opferhandlungen. Gerade auf dem Hintergrund der Gallierbeschreibung drängt sich für den Leser die Frage auf, was es für ein Volk bedeutet, keine gesellschaftlich und funktional herausragende Priestergilde zu haben. Organisatorisch-politisch ergibt sich größere Gleichheit aller Bürger, religionspsychologisch läßt sich ein Freisein von Ritualängsten, wie sie gerade die Römer entwickelt hatten, ablesen, wenn das Bedürfnis nach Leuten, die ganz genau wissen, wie man z. B. opfern muß, gar nicht aufkommt. Überhaupt ergibt sich für den Leser ein Gegenbild zu den Römern, bei denen ja in allen Bereichen Sicherheit erst erwuchs aus peinlich genauem Einhalten von Regel, Ordnung, Organisation. Der Kontrast, den das Leben der Germanen h i e r z u bietet, ist in Kap. 21 ff. stets unausgesprochener Referenzpunkt. Der unmittelbare Vergleich mit den Galliern tritt dem gegenüber zurück. Dies zu sehen, bedeutet eine wesentliche Hilfe für die Beurteilung des Exkurses. §3 setzt ein mit der Formulierung vita omnis, „das Leben der Germanen, wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet" — die entscheidende, positive Aussage über germanischer Lebensweise wird also eingeleitet. Ein zweiter Blick lohnt sich hier freilich nicht nur, weil Caesar für das antike Ohr selbstverständlich das Gesetz der steigenden Silbenzahl anwendet (venationibus ... studiis rei m ilitar is, a parvulis ...). Wichtiger ist die Wiederholung studiis ... student10, wobei die unter bewußter Vermeidung der variatio wiederholten
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tischer Ausrichtung sei verwiesen auf W. Zeitler: Der Germanenexkurs im 6. Buch von Caesars Bellum Gallicum. In: Auxilia 7, 1983, S. 87—116. Letzteres findet sich ausführlicher begründet bei E. Norden: Der Germanenexkurs in Caesars Bellum Gallicum. Die ethnographischen Abschnitte Caesars über Suebi und Germani. 1920, jetzt in: Caesar. Hg. von D. Rasmussen. Darmstadt 1980. S. 116 —137, 126. Die Gründe für Caesars „grundsätzlich restriktive(n) sprachliche(n) Habitus" sind bekannt. Sie liegen im Stoffbereich, in Caesars attizistischer Stilrichtung und dem literarischen Charakter des commentarius. „Das jeweils Gleiche wird meist auch mit denselben Wörtern bezeichnet". W. Richter: Caesar als Darsteller seiner Taten. Heidelberg 1977. S. 180.
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Wörter die Ziele des studere, des ,eifrigen Einsatzes', rahmen, nämlich res militaris und labor ac duritia. Aufmerksam geworden auf das hier verwendete Wort studere sehen wir, daß es mit negativem Vorzeichen das gerade erwähnte positive Vorkommen umklammert: neque sacrificiis student (21,1) und weiter unten agri culturae non student (22,1). Man wird diesen rahmenden Bezug in der viermaligen Verwendung von studere nicht überinterpretieren, wenn man dadurch betont sieht: Handeln in festgelegten Bahnen, eben sacrificio, produktives Tagewerk, eben agri cultura, stehen bei den Germanen nicht im Zentrum. Ihr geballter Einsatz liegt in Tätigkeiten wie Waffendienst, Anstrengung, Abhärtung, die ihr Ziel nicht in sich selbst tragen, die vielmehr auf Anwendung erst drängen — ein Bild nicht leicht zu ordnender, für Nachbarn durchaus gefahrlicher Dynamik. Genau dies bestätigt sich in den unmittelbar anschließenden §§4 und 5 über die sexuelle Zurückhaltung bei den jungen Germanen. Dies ist nicht nur Untermalung der schon erwähnten duritia, sondern wiederum zeigt sich, es geht um Wachstum, Zunahme (durch Parallelismus, Anapher, dann durch chiastische Stellung auffallig gemacht) ali staturam, ali viris nervosque confirmari. Überblickt man dann in 21,5 die syntaktisch zusammengehörenden Wörter, wird augenfällig, das Hyperbaton taucht in etwa vier Teubnerzeilen fünfmal auf, jedesmal gut begründet. Nimmt man die Alliterationen, so wie die gerade erwähnten Stilfiguren aus §4 hinzu, wird deutlich: Caesar wollte diesem Bereich germanischer Sitte, der aus seiner Sicht ganz besonders zu Wachstum, zu Erstarken führt, herausragende Bedeutung beigemessen wissen. Zum folgenden Passus, über den von Caesar postulierten umfassenden Agrarkommunismus bei den Germanen, wissen wir heute11, daß er zumindest für die Germanen zur Zeit Caesars — es handelt sich ja fast ausnahmslos um seßhafte Stämme — historisch nicht haltbar ist. Ein klares Urteil darüber, ob Caesar bei seiner Schilderung die Grundzüge der sogenannten Feldgraswirtschaft absichtlich oder unabsichtlich mißverstand, läßt sich nicht gewinnen. Ist der von Caesar berichtete Sachverhalt aber historisch unrichtig, dann können, die für diesen Sachverhalt von ihm angeführten Gründe ebenfalls nicht, wie er behauptet, die Meinung der Germanen wiedergeben, sondern nur Caesars eigene Überlegung. Daraus entsteht als Leitfrage für die sich am Ende von Kap. 21 anschließende Schilderung der causae dieses Agrarkommunismus: Von welchen Grundgedanken ließ sich Caesar bei der ja detaillierten Angabe der Gründe leiten? 11
Zum Einzelnen s. D. Tiempe: Die germanische Agrarverfassung nach den Berichten Caesars und Tacitus'. In: Abh. Ak. Wiss. in Göttingen, phil.-hist. Kl. III. Folge Nr. 115, Untersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung. Hg. von H. Beck/D. Denecke/H. Jankuhn, Teill. Göttingen 1979. S . l l - 4 0 , 1 2 f .
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Einmal mag hier der Innenpolitiker Caesar durchgeschlagen haben; der in Rom um Agrarreformen kämpfende Caesar kritisiert indirekt die römischen Agrarverhältnisse. Entscheidend aber ist, Caesar leitet die causae für den Agrarkommunismus betont viermal mit anaphorischem ne ein, eine Anapher, die, soweit ich sehe, nur hier in Caesars Schriften vorkommt. Caesar suggeriert: Es ist leichter festzustellen, was die Germanen nicht wollen, als ein zielgerichtetes Handeln bei ihnen auszumachen — mit der bedeutsamen, an die letzte Stelle gerückten Ausnahme des Zusammenhaltes der Gemeinschaft (ut ... contineant). So stützen alle von Caesar angeführten Gründe des Agrarkommunismus das von unserem Autor bislang skizzierte Germanenbild: Diese Stämme vermeiden es geradezu angestrengt, Stetigkeit zu erreichen, feste Wurzeln zu schlagen (ne adsidua consuetudine capti — ne latos fines parare studeant — ne accuratius ad frigor a atque aestus vitandos aedificent), sind jedoch von großer innerer Geschlossenheit. Ihre Anstrengungen gelten nicht der Förderung von im eigentlichen Sinne 'produktiven Tätigkeiten'. Wohlvertraut ist die Tatsache, daß gerade die Stellen im lateinischen Satz, die besonderen Ton tragen, von Caesar bewußt eingesetzt werden. Überblickt man nun am Beginn von Kap. 23 (es geht hier um die Beziehungen der Stämme untereinander) diese betonten Satzstellen, so ergibt sich: laus est ... habere, Ruhm besteht im Besitz, eine durchaus nicht überraschend erscheinende Verknüpfung. Nimmt man jedoch das Akkusativobjekt zu habere (solitudines) hinzu, so erschließt sich der paradox wirkende Satzinhalt: Ruhm besteht im Besitz von Einöde, Menschen-Leere. Eine Steigerung noch liegt im Zusatz vastatis finibus. Die Öde wird zielbewußt geschaffen, die Leere, die man besitzen will, soll sich quam latissime dehnen. Wahrlich ein wundersames Volk diese Germanen! Wie grundsätzlich anders wäre bei diesen Stämmen das vergilische imperat arvis (Georg. 1,99) zu verstehen! Und selbst germanische virtus, in Caesars Augen läßt sie sich zusammenfassen (hoc proprium virtutis existimant) als ein expeliere, als ein Verhindern des consistere etwaiger Nachbarn (§2)·
Halten wir kurz inne! Gleichgültig unter welchem Stichwort Caesar germanische Lebensweise betrachtet — sei es im Kult, im Ackerbau, in der Beziehung der Stämme untereinander — immer scheint sie ihm zuallererst bestimmt durch das ,nicht', durch ein Verhindern, bei all den ungeheuren Anstrengungen, die sie wachruft, scheint sie nicht produktiv zielgebunden. Sie produziert', ja ,kultiviert' Sicherheit (23,3), aber was darüber hinaus? Umreißen wir den Inhalt der folgenden Paragraphen: cum bellum ... magistrata ... deliguntur; in pace nullus est communis magistratus; latrocinia nullam habent infamiam; hospitem violare fas non putant. Was der Abschnitt an Informationen bietet, läßt sich durch Caesars perspicuitas leicht schon durch diesen Blick
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auf die Tonstellen der Sätze erfassen. Wichtig ist der Eindruck, den Caesar durch diese Auswahl hervorruft. Im Frieden kennen die Germanen keine — oder sollen wir sagen, nicht einmal eine — den Einzelstamm übergreifende, einheitliche Leitung. .Germanische Gefährlichkeit' wird durch dieses gerade in römischen Augen markante Defizit nicht betont, wohl aber verstärkt sich der Eindruck, der oben schon zu gewinnen war, auch in diesen letzten Zeilen über germanische Lebensart: Welch ein ungebundenes, unstetes Volk! Auch bei den latrocinio, deren Entstehen und Durchführung umfassend geschildert ist, wird das Ungeplante, die Spontaneität ihres Zustandekommens klar hervorgehoben: die Germanen, ein Volk von ,Spontis' und Bürgerinitiativen. Die Römer werden dabei kaum anders empfunden haben als stirnrunzelnde Politiker unserer Tage. Wenn wir Caesars Bericht über die Gruppenbildung für ein latrocinium unter der Frage lesen, wo sich in unserer Gesellschaft überraschenderweise genau die gleichen Verfahren für Bildung und Zusammenhalt einer Gruppe zeigen, so finden wir mit der Antwort: „Etwa in Rocker- und Punkgruppen" auch den Schlüssel zum Gefühl, das den gestandenen Römer wohl beschleichen sollte, wenn er jene Zeilen las. Gleich zu Beginn von Kap. 24 erhält der Germanenexkurs, der bislang wesentlich Schilderung war, durch den Vergleich zwischen Kelten und Germanen eine neue, wesentliche Ausrichtung. Sprachlich wird die Wichtigkeit des Vergleichs beider Völker durch Alliteration in der unmittelbaren Gegenüberstellung der Volksnamen und die bewußte Vermeidung der usuellen Wortstellung unterstrichen. Am Ende des Kapitels wird der Vergleich (bzw. die Unmöglichkeit, ihn gut zu bestehen) ausdrücklich als ,Selbstaussage' der Gallier inhaltlich thematisiert. Eine Besonderheit dieses Kapitels 24, nämlich die Form video in § 2, darf nicht unter den Tisch fallen. Caesar durchbricht die Fiktion des objektiven Berichterstatters der Commentarii und spricht von sich in der ersten Person. Nun ist es genau diese einzige Stelle im ganzen Exkurs, in der Caesar ausdrücklich — unter Namensnennung — auf Vorgänger und abweichende Meinungen eingeht. Gerade der geheimnisumwitterte hercynische Wald schien ihm wohl besonders geeignet, sich von den zu seiner Zeit führenden griechischen Geographen, auch dem angesehensten Ahnherrn dieser Zunft, dem Eratosthenes, abzusetzen. Auf diesem Hintergrund klären sich dann die für das Verständnis der Person Caesars wichtigen Motive, aus denen heraus er über den hercynischen Wald schreibt. 1. Er betritt als Römer die bislang griechische Domäne der Geographie. 2. Er übertrifft durch seine Kenntnisse die berühmten griechischen Geographen (selbst Eratosthenes). Sie kannten den hercynischen Wald nur durch
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die fama, vermochten nicht einmal den genauen Namen anzugeben. (Hierher gehört auch, daß Caesar im Jahre 44 eine genaue Vermessung der gesamten oikouméne befahl.) 3. Als weite, unbekannte Gebiete erobernder Feldherr, der für die Wissenschaften, konkret: die Geographie, aufgeschlossen ist, sieht er sich als römischen Alexander. Ein Einblick, wie weit geographische Kenntnis unbeschadet aller vagen Angaben von Caesar vorangetrieben wurde, und zugleich ein Einblick in die Genese von Wissenschaft überhaupt, läßt sich gewinnen, wenn man neben Kap. 25,1—4 (Thema: der hercynische Wald) die kurze Passage aus Plutarch, Marius 11,9 — 10 stellt. Vergleicht man, an welcher Art von Information Caesar gelegen ist, an welcher Plutarch, so klärt sich sofort, welcher der beiden Texte wissenschaftlicher ist; denn Caesar kommt es auf Zahlen an, er legt Wert darauf, wie die Entfernungsangaben Zustandekommen, ihm liegt am Überprüfbaren. Caesar, ein durchaus wissenschaftlicher Kopf! Kaum erscheint diese Folgerung eingängig, da rückt sie durch die Lektüre der anschließenden, ins Fabulose tendierenden, in ihrer Echtheit eben umstrittenen Zeilen (25,5 ff.) schon wieder ins Zwielicht. „Seltsame, nur im hercynischen Wald vorkommende Tiere", das klingt ja ganz nach Plutarch, der sich gerade eben von Caesar noch deutlich unterschieden hatte. Ist es mit Caesars Wissenschaftlichkeit doch nicht so weit her, oder wollen wir Caesar ,retten' und den Text aufgeben? Wir würden dann behaupten, die Passage stamme nicht von Caesar, sie sei vielmehr von einem Abschreiber, der mit seinem Wissen prunken wollte, eingeschoben worden. Wie dem auch — vorerst — sei, halten wir fest, es handelt sich bei den Kapiteln über die Tierwelt des hercynischen Waldes um einen Exkurs im Exkurs oder genauer, um einen Exkurs am Ende des Exkurses. Mit dieser Feststellung aber erweitert sich die Frage nach der Echtheit um einen weiteren Problemkreis. Wenn nämlich schon jeder Exkurs die Frage aufwirft, wie er sich zur Einheitlichkeit des Werkes verhalte, so verschärft sich dieses Problem durch den neuen Einschub. Steht Caesar nach allem nicht nur als Geograph lediglich auf plutarchscher Rangstufe, sondern flicht sich auch in seinen literarischen Lorbeerkranz manch welker Zweig? Folgen wir zuerst dem Schriftsteller Caesar und versuchen wir, seine Finesse zu entdecken. „Wann können wir von Caesars Exkurs sagen, er stütze die thematische Einheit des Werkes?" In aller Kürze geantwortet: „Wenn er ein Thema der rahmenden Partien aufgreift." So werden wir, ehe wir uns mit den umstrittenen Kapiteln befassen zu dem Textpassus geführt, der sich an den Exkurs anschließt.
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Die Kernaussage von 29,1 ist schnell gefunden: Caesar ... constituit non progredì longius. Die Raffinesse dieser Wortstellung klärt sich leicht: longius ist bis zum betonten Satzende aufgeschoben. So wird aus dem Abblasen eines Vorrückens, das noch nicht begonnen hat, ein Abstandnehmen von weiterem Vormarsch. Wenn die Satzstellung hier beschönigen soll, so verweist sie auf die ,Ungewöhnlichkeit' des Schrittes, auf die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. In der Tat, der Abbruch eines Unternehmens scheint Caesars Art zu widersprechen. Daß der Germanenexkurs a u c h die Funktion hat, dieses Caesar constituit zu rechtfertigen, darauf verweist Caesar direkt, indem er in die B e g r ü n d u n g seines Entschlusses die Parenthese fügt ut supra demonstravimus (minime ... agri culturae student). Steht der Germanenexkurs nun unmittelbar vor der Schilderung eines nicht caesarhaften Vorgehens Caesars, so scheint doch zumindest dieses eine Kapitel über den Ackerbau bei den Germanen in die Haupthandlung eingebunden, eben als Rechtfertigung. Wie steht es nun aber hiermit beim Rest des Germanenexkurses? Wenn wir versuchen die Kernaussage des Abschnittes herauszudestillieren, so können wir annehmen, Anfang und Schluß (der ja auch im alltäglichen Gespräch oft entscheidende ,erste Eindruck' und sozusagen das ,letzte Wort') ließen die Absicht des Autors besonders betont und deshalb klar erscheinen. Demnach sind die Sätze festzuhalten, Germani multum ab hac consuetudine differunt (21,1) — ne se ipsi ( Galli) quidem cum Ulis ( Germanis) virtute comparant (24,6). Wir gewinnen als Kernanliegen des Abschnittes: Betonung des Unterschiedes zwischen Galliern und Germanen (womit sich Caesar, wie schon erwähnt, gegen eine zu seiner Zeit geläufige Vorstellung wendet). Aber damit, so scheint es, haben wir noch keinen Fortschritt gegenüber unserem Ausgangspunkt Klingner erreicht, außer dem, daß wir noch viel eindeutiger vor dem Problem stehen; denn wie, so lautet die Frage, löst sich der Widerspruch, daß es Caesar offensichtlich auf die Betonung des Unterschiedes zwischen Germanen und Kelten ankommt, daß er aber andererseits nicht hoffen konnte, in der Herausarbeitung der Besonderheit der Germanen als solcher liege schon eine hinreichende Rechtfertigung für den Abbruch des Unternehmens? Gehörten doch zum Imperium recht verschiedenartige Völker. Die Lösung kann, so glaube ich, nur darin liegen, die Art des von Caesar gemeinten Unterschiedes genauer zu erfassen. Und hierzu müssen wir nach dem Überblick über den Germanenexkurs noch ein Streiflicht auf den Gallierexkurs werfen. In den wenigen Kapiteln des Gallierexkurses (6,16 — 19) betont Caesar nicht weniger als siebenmal gallische crudelitas. (Bei schwerer Krankheit zur Versöhnung der Götter: Menschenopfer. Von Staats wegen: Menschenopfer. Weitere Steigerung: Verbrennen großer Menschengruppen in gewaltigen Göt-
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terbildern aus Weidengeflecht; wenn keine Verbrecher hierfür vorrätig, nimmt man Unschuldige. Kriegsgefangene werden geopfert, Diebstahl aus der Kriegsbeute wird mit Marter und Todesstrafe verfolgt. Feuertod bei Frauen, deren Männer unter ungeklärten Umständen starben. Verbrennen der besonders hochgeschätzten Sklaven und Klienten beim Tod ihres Herren.) Nun hat die crudelitas der Barbaren im politischen Denken der Römer einen eindeutigen Stellenwert, nämlich Rechtfertigung der eigenen Herrschaft über diese Barbaren. So schildert ζ. B. Cicero in seiner Rede gegen Verres (2,4,73) den Raub des Dianabildes von Segesta und erinnert dabei an eine Rede des Scipio Africanus, die dieser bei der Rückgabe des berühmten Stieres des Phalaris an die Einwohner von Sizilien nach dem römischen Sieg über Karthago gehalten haben soll. Dieser metallene Stier hatte dem Tyrannen Phalaris als Folterwerkzeug gedient und Scipio bittet die Sizilier, sie sollten sich überlegen, was für sie nützlicher sei, suisne servire arme populo Romano obtemperare, cum idem monumentum domesticae crudelitatis et nostrae mansuetudinis haberent. Nach Scipios bzw. Ciceros Auffassung muß es also ein Segen für die fremden Völker sein, aus den Sklavenfesseln eigener Grausamkeit unter die Knute römischer Zivilisation zu gelangen. Ganz im Rahmen dieser bekannten römischen Herrschaftsideologie kann Caesar auf der crudelitas der Gallier eine Rechtfertigung, ja Verpflichtung begründen, dieses Volk in den Machtbereich Roms einzugliedern, da es nur so von seiner eigenen Grausamkeit befreit werden und zur ordnenden, mäßigenden Zivilisation gelangen könne. Bei unserem Überblick über die Schilderung der Germanen hatte sich gezeigt, Caesar legt hier auf eine Rechtfertigung dieser Art von Anfang an keinen Wert. Aber auch militärische Tüchtigkeit ist kein durchgehendes Motiv. Hier kam es ihm darauf an, die unbezähmte, ja unbezähmbare, weil nicht zielgerichtete Dynamik der Germanen, ihre tiefverwurzelte Abneigung gegen Festlegung, gegen Stetigkeit zu zeigen. Welche Grundhaltung könnte Römern, diese Frage suggeriert Caesar, ferner liegen? Können Römer aus Feldzügen, auch siegreichen, gegen solch ein Volk Gewinn ziehen? Die Germanen sind ja nicht nur äußerst tapfer, sie sind ,die ganz anderen*. Die Gallier, ein Volk, das es verdient und das es nötig hat, römisch zu werden — die Germanen ein Volk, an dem jede Mühe hierfür vergeblich wäre12. Halten wir die Herausarbeitung d i e s e r Differenz als Kern des Exkurses fest, in welchem Lichte erscheint dann (oder soll aus Caesars Sicht erscheinen) jenes Caesar constituit non progredì longiusì Nicht nur mehr als Rechtfertigung zeigt sich dann der Exkurs, obgleich er das, m i l i t ä r i s c h 12
In diesem Nachweis liegt auch eine nachträgliche Rechtfertigung für den Hinauswurf des Ariovist aus dem .römischen' Gallien.
Zum Germanenbegriff Caesars
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gesehen, gerade auf dem Hintergrund dieser Germanen auch ist. Aber für das Bild, das Caesar von sich als M e n s c h e n zeichnet, ergibt sich m e h r als Rechtfertigung, ergibt sich der Hinweis (gar Beweis?), hier handelt einer mit Augenmaß, einer, der um die Grenzen des Machbaren weiß13. Und es ergibt sich der Rat des P o l i t i k e r s Caesar: Von einer Ausdehnung des Imperiums auf germanisches Gebiet ist abzusehen. (Wie weitsichtig dieser Rat ist, zeigt das katastrophale Scheitern der Pläne des Augustus, die Elbe zur Reichsgrenze zu machen.) Der Exkurs begründet diesen Rat materiell (bei den Germanen gibt es nichts zu holen), militärisch (die Germanen zielen mit ihrem ganzen Lebensvollzug auf größtmögliche Kriegstüchtigkeit), psychologisch (die Germanen sind von ihrer Grundeinstellung her kein Volk, das sich im geordneten Rahmen beherrschen läßt). Der Exkurs ist also weit mehr als eine bloß ethnographische Studie, weit mehr auch als eine bloße Rechtfertigung. Er ist sicherlich auch eine beabsichtigte Empfehlung des Menschen und Politikers Caesar für den Hausgebrauch der römischen Innenpolitik. Wir sehen aber zugleich, diese breite politische Funktion des Exkurses für das Bild, das Caesar von sich erstellt, hängt ganz entscheidend daran, daß der fundamentale Unterschied der Germanen zu den Kelten dem Leser deutlich wird. Deshalb liegt auch in der Verdeutlichung dieses Unterschiedes gewissermaßen ein Test für die Fähigkeit des Schriftstellers Caesar. Wenden wir uns deshalb nach dem Feldherrn, dem Menschen, dem Politiker wiederum dem Schriftsteller Caesar zu und fragen von hier aus nochmals nach Funktion (und damit Echtheit) jenes Exkurses am Ende des Exkurses. Unter welchem Aspekt berichtet Caesar über diese Tiere? Er sagt es selbst. Auswahl und Schilderung betonen Besonderheit und Unterschied zu allen den Römern bekannten Tieren. Schon die .Überschrift' für die Schilderung (25,2) lautet ja quae reliquts in locis visa non sint...
quae maxime différant a ceteris.
Germanien, in dem diese Tiere leben, also wiederum ,das ganz andere Land'. Die Aussage der Passage vom Einhorn, von gelenklosen Elchen und wunderstarken Uren deckt sich also mit der Tendenz des Exkurses insgesamt. Aber sie erreicht Zusätzliches. Nicht mehr an die ratio, wie im Hauptexkurs, sondern an die Phantasie, an das Gefühl richtet sich der Autor hier — wohl wissend um das pädagogische Gesetz aller Zeiten: Informieren, Wissensvermittlung wird erst dann zur In-forma-tion im eigentlichen Sinne, wird erst dann ,formend' oder ein-präg-sam, wenn sie nicht nur den Kopf anspricht, sondern auch tiefere Schichten im Menschen be-eindruckt. Um auf dieser 13
Dies ist wichtig, wenn man davon ausgeht, daß sich Caesar gern als zweiter Alexander sah, und wenn man dann dessen Verhalten am Hydaspes vergleicht. Zum Gedanken vgl. H.Oppermann: Caesar, In: Interpretationen lateinischer Schulautoren. Hg. v. H.Krefeld. Frankfurt 21972. S. 2 8 - 5 0 , 4 7 .
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W. M. Zeitler
zweiten Ebene die grundsätzliche Besonderheit der Germanen dem Leser nochmals zu vermitteln, dafür scheinen Art und Plazierung des Exkurses am Ende des Exkurses meisterhaft gewählt. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit dieses Bild, das Caesar von den Germanen in so deutlichen Kontrastfarben gegenüber der Gallierdarstellung malt, seiner tatsächlichen Ansicht oder nur taktischer Absicht entsprang. Und wir werden erst recht zurückhaltend sein müssen bei der Frage, inwieweit dieses Bild ein Abbild germanischer Wirklichkeit war. Immerhin, in einer Weise bildet der Bericht Wirklichkeit ab: Caesar nahm eine erst später klar werdende, ursprünglich wohl nur ansatzweise vorhandene Trennung — hi Galli, hi Germani — vorweg, prägte und schuf auf diese Weise nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit dem Wort Wirklichkeit 14 . Vielleicht sollte man deshalb den Germanenexkurs nicht so sehr als Exkurs zur Befriedigung antiquarischen Interesses lesen, sondern eher als Exkurs über die Persönlichkeit Caesar.
14
Zum Gedanken vgl. O. Seel; Caesarstudien [vgl. Anm. 5], S. 42f.
Zum Germanenbegriff bei Tacitus Von A. A.
LUND
Veil. 2,117,3 esse homines, qui nihil praeter vocem membraque haberent hominum, quique gladiis domari non poter ant, posse iure mulceri.
Unsere wesentlichste Quelle zu einer Analyse und einer Darstellung von Tacitus' Auffassung von der germanischen Welt ist, kaum überraschend, seine ethnographische Monographie GermaniaS, entstanden im Jahre 98 n.Chr. 2 . Zu dieser Hauptquelle kommen noch verschiedene verstreute Bemerkungen über die Germanen in seinen Spätwerken Historiae und Annales, die ein mit den Jahren und in Übereinstimmung mit den Forderungen dieses literarischen Genos verändertes Bild zeigen3. Schließlich finden wir in seiner ersten Arbeit, der Biographie Agricola, wie die Germania im Jahre 98 entstanden, jedoch vor der letzteren, ethnologisches Material 4 , das Tacitus' theoretische Grundlage und Arbeitsmethode beleuchten und damit auch zum Verständnis seines Germanenbegriffs beitragen kann. Im folgenden wird sich die Darstellung wegen der Verschiedenartigkeit und der ungleichen Verteilung des Materials im wesentlichsten auf die Germania konzentrieren. Die Germania ist bekanntlich in großen Zügen so disponiert, daß die Schrift auf natürliche Art und Weise in zwei fast gleich große Teile zerfallt5. 1
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Vgl. dazu K. Trüdinger: Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie. Basel 1918. S. 146—170; K. E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. Teil II. Wiesbaden 1980. S. 8 0 - 1 0 6 . Vgl. Germ. c. 37,2 sescentesimum et quadragesimum annum urbs nostra agebat, cum primum Cimbrorum audita sunt arma Caecilio Metello et Papirio Carbone consulibus. ex quo, si ad alterum imperatoris Traiani consulat um computemus, ducenti ferme et decern anni colliguntur. Siehe hierzu E Violet: Der Gebrauch der Zahlwörter in Zeitbestimmungen bei Tacitus. Leipziger Studien zur classischen Philologie 5, 1882, S. 155 u. 186. Vgl. dazu K. Christ: Germanendarstellung und Zeitverständnis bei Tacitus. In: Historia 14, 1965, S. 6 3 - 7 5 . Vgl. dazu A. A. Lund: Zu den Rassenkriterien des Tacitus. In: Latomus 41, 1982, S. 845 — 849. Vgl. dazu G. Bielefeld: Der kompositorische Aufbau der Germania des Tacitus. In: Festschrift für Max Wegner. Münster 1962. S. 44 — 54; K. Büchner: P. C. Tacitus, Die historischen
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Der erstere umfaßt die Kapitel 1—27 und schildert die Züge, die allen Germanen gemeinsam sind, der zweite deckt die Kapitel 28 — 46 und beschreibt Züge, die nur für einzelne Stämme oder Stammesgruppen charakteristisch sind6. Für den antiken Ethnographen ist es nämlich kennzeichnend, daß er bemüht ist, jedes einzelne Volk (bzw. jeden einzelnen Stamm) mit seinen Besonderheiten zu schildern, was jedoch in praxi oft mit sich führt, daß er sich auf das Fremdartige konzentriert und dieses beschreibt, als sei es das Typische. Diese unglückliche Tendenz ist auf das große Interesse der antiken Ethnographen für mirabilia zurückzuführen und resultiert oft in einer k o n t r a s t i v e n Beschreibung, da der Verfasser sein eigenes Gesellschaftssystem ethnozentrisch als Maßstab für das ,Richtige' gelten läßt7. Die beschriebene fremde Gesellschaft droht dadurch leicht als die verkehrte Welt dazustehen8. Mit diesen Bemerkungen zu den generellen Voraussetzungen können wir uns nun der Analyse des taciteischen Germanenbegriffs zuwenden, so wie er sich in der Germania darstellt. Während es keine Schwierigkeiten bereitet, das Thema chronologisch abzugrenzen, — die Germania entstand ja im Jahre 98 n. Chr.9 —, verhält es sich anders aus geographischer Sicht. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, Tacitus' Auffassung von der geographischen Ausbreitung Germaniens eindeutig zu interpretieren. Jedenfalls läßt sie sich nicht mit unseren kartographischen Darstellungen der unserer Ansicht nach entsprechenden geographischen Gebiete vergleichen, da ja unser Kartenbild der Gegenwart angehört. Und schließlich fußt Tacitus' Beschreibung der Geographie Germaniens auf speziellen antiken Voraussetzungen, obwohl es nicht unmittelbar diesen Anschein hat: Germ. c. 1,1 Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit latos sinus et insularum inmensa
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Versuche, Agricola, Germania, Dialogus. Stuttgart 1955. Bes. S. 126—134; siehe ferner E. Kraggerud: Verknüpfung in Tacitus' Germania. In: Symbolae Osloenses 47, 1972, S. 7 — 35. G. Wille: Der Aufbau der Werke des Tacitus. Amsterdam 1983, S. 6 6 - 1 1 7 . Vgl. dazu Germ. c. 27,2 Haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus; nunc singularum gentium instituía ritusque quatenus différant quae/que/ nationes e Germania in Gallias commigraverint expediam·, G. Kettner: Die Composition des ethnographischen Teils der Germania des Tacitus. In: ZfdPh 19, 1887, S. 257 - 274. Vgl. dazu W. E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie. Frankfurt am Main/Bonn 2 1968. S. 25 - 28; F. W. Voget: A History of Ethnology. New York u.a. 1975. S . 4 - 2 0 ; und bes. op. cit. ad 1, passim. Zum Begriff siehe H. Kenner: Das Phänomen der verkehrten Welt in der classischen Antike. In: Forschungen ünd Fortschritte 41, 1967, S. 11 — 14. Dieser zeitliche Terminus hat selbstverständlich größeren Wert für die archäologische (historische) Ausforschung der Germania (cf. R. Much/H. Jankuhn: Die Germania des Tacitus. Heidelberg 3 1967. S. 18) als für die literarische Interpretation.
Zum Germanenbegriff bei Tacitus spatia
complectens
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. . . Z u den spezifisch antiken Voraussetzungen gehört das
Interesse f ü r Flußgrenzen 1 0 und die A u f f a s s u n g des mutuus dender
Faktor11.
metus
als grenzbil-
A u ß e r d e m w ü r d e jeder, der versucht, Tacitus' Skizze über
die Grenzen Germaniens mit Hilfe einer modernen K a r t e zu verstehen, eine anachronistische Interpretation begehen. D e r Rhein hat beispielsweise seinen Lauf seit der A n t i k e geändert 1 2 , und außerdem hat Tacitus zweifelsohne, ebenso w i e andere antike Geographen, angenommen 1 3 , daß er in nördlicher Richtung lief (jedoch mit einem kleineren Bogen gegen Westen) 1 4 .
Und
letztlich w i r d man in der taciteischen K a r t o g r a p h i e vergeblich nach der cimbrischen Halbinsel suchen 1 5 . Diese findet nämlich, o b w o h l Plinius d. Ä . sie eventuell mit den W o r t e n Citnbrorumpromuntorium
{nat. 2 , 1 6 7 ) 1 6 umschreibt, erst ihren
bleibenden Platz auf der Weltkarte v o n Ptolemaios (vgl. geogr.
2 , 1 1 ) 1 7 . Bei Taci-
tus dagegen bildet die Küstenlinie Nordgermaniens einen weiten Bogen, also eine Bucht (c. 35,1 in septentrionem Oceanus
ingentiflexure/ce/dit)™,
gibt es einige Inseln, u. a. die Insel der
und nördlich dieser im
Suionen 1 9 .
Das skandinavische
Festland w a r also noch nicht bekannt. 10
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17 18
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Vgl. dazu R. v. Scheliha: Die Wassergrenze im Altertum. In: Historische Untersuchungen, Heft 8, 1931, bes. S.74ff. Vgl. dazu G. Rudberg: Zum antiken Bild der Germanen. Avhandliger utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo, II. Hist.-Filos. Klasse 1933, No. 5, Oslo 1933, passim u. bes. S.40f. Vgl. dazu T. Bechert: Römisches Germanien. München 1982. S. 2 2 - 27; R. Hennig: Die Stromverlagerung des Niederrheins bis zur beginnenden Neuzeit und ihre verkehrsgeographischen Auswirkungen. In: Bonner Jahrbücher 129, S. 1924, S. 166—191. Vgl. dazu W. Reeb: Tacitus Germania. Leipzig/Berlin 1930. S. 73. Germ. c. 1,2 Rhenus ... modico flexu ( = sinu, curvo) in occidentem versus septentrional! Oceano miscetur. Die Stelle besagt demnach nicht, wie es gewöhnlich angenommen wird, daß der Rhein gegen Westen läuft, sondern nur, daß er an irgendeiner Stelle während seines Laufes in nördlicher Richtung einen kleinen westlichen Bogen (oder eine kleine Ausbuchtung) macht, denn er mündet ja schließlich in den n ö r d l i c h e n Ozean. Vgl. dazu B. Melin: Die Heimat der Kimbern. In: Uppsala Universitets Arsskrift 1960, S. 4 0 - 5 1 ; u. bes. R. Hachmann. In: Gnomon 34, 1962, S. 5 6 - 6 5 ; L. Weibull: Upptäckten av den skandinaviska Norden. In: Scandia 7, 1934, S. 80—143; zur Diskussion siehe ferner G. Schütte: Die Sitze der Kimbern. In: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 67, 1939, S. 377-389; ders.: Kimbrerne. In: Scandia 13, 1940, S.277-287; L. Weibull: Kimbrernes boplatser. In: Scandia 13, 1940, S. 284 — 287; E. Koestermann: Der Zug der Cimbern. In: Gymnasium 76, 1969, bes. S. 311 — 314; E. Demougeot: L'invasion des cimbres-teutons-ambrons et les romains. In: Latomus 37, 1978, bes. S. 920—925. Vgl. dazu B. Melin [vgl. Anm. 15], S. 2 2 - 3 1 . Siehe jedoch L. Weibull [vgl. Anm. 15], (1940) S. 286, Anm. 1, der den Quellenwert der genannten Stelle bei Plinius völlig ablehnt. Vgl. dazu B. Melin [vgl. Anm. 15], S. 60 - 74; L. Weibull [vgl. Anm. 15] (1934) S. 106. Die Lesart recedit ist tatsächlich eine coniectura palmaris von der Hand des Heraeus (vgl. B. Melin [vgl. Anm. 15], denn die MSS. lesen alle flexu redit, was heißen würde ,es (sc. Land) bildet einen Bogen' (d. h. einen Zirkel). Germ. c. 44,2 Suionum hinc civitates, ipso in Oceano ... Der Kontext läßt keinen Zweifel übrig,
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Der Grund, weswegen die Schilderung der Geographie Germaniens im ersten Kapitel so kurz und knapp von selten Tacitus' gehalten ist, ist natürlich darin zu suchen, daß nicht die Geographie des Landes als solche ihn beschäftigt, sondern das Land dient als Basis für eine Deutung des Wesens seiner Bewohner. Das Wesentlichste in der geographische Skizze ist dann auch die Hervorhebung der isolierten Position der Bevölkerung zur Umwelt, was durch die Betonung der Grenzen Germaniens nach außen hin markiert wird, insbesondere der Flüsse Rhein und Donau, die gleichzeitig eine unsichtbare kulturelle Barriere zwischen dem Barbaricum und dem Imperium Romanum ausmachen20. Auf dem Hintergrund der natürlichen Abgesondertheit Germaniens von den angrenzenden Völkern im ersten Kapitel wirkt es (logisch) ganz konsequent, wenn Tacitus in der Behandlung der Origo-Frage21, zuerst zwar als Hypothese (c. 2,1), dann jedoch als gesicherte Tatsache (c. 4), schreibt, daß die Germanen als die ursprüngliche Bevölkerung des Landes (indigenae) 22 angesehen werden müssen, und nicht als mit anderen vermischt (non mixti), d.h. auch nicht als d e g e n e r i e r t als Folge einer Vermischung mit anderen Völkern inullis aliis aliarum nationum conubiis infectì)2ì. Sie leben nämlich, wie es deutlich aus Kap. 2 hervorgeht, seit den ersten Menschen immer noch von der Umwelt im allgemeinen und von der zivilisierten Welt im besonderen i s o l i e r t (c. 2,1 adver sus Oceanus raris ab orbe nostro navibus aditur24) und zwar, was durch adversus angedeutet wird, in einer anderen Welt. Die Germanen-müssen also, wie es schon durch ihre biologische Rassenreinheit angedeutet wird, auch ihre kulturelle Eigenart als funktionsfähig bewahrt haben.
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daß von einer wirklichen Insel, also von keiner Halbinsel, die Rede ist, heißt es doch weiter unten (c. 44,3): . . . súbitos hostium incursus prohibit Oceanus (vgl. K. Malone: The Suiones of Tacitus. In: American Journal of Philology 46, 1925, bes. S. 171 f.; anders dagegen S. Bolin: Tacitus kartbild av norra Europa. In: Festskrift till A. Thomsen. Uppsala 1961. S. 19—24). Vgl. dazu A. Alföldi: Die ethische Grenzscheide am römischen Limes. In: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 8, 1950, S.37—50. Vgl. dazu J. Bickermann: Origines gentium. In: Classical Philology 47, 1952, S. 65 —81; Κ. Trüdinger [vgl. Anm. 1] S. 130 ff. u. 149 ff. Vgl. dazu E. Norden: Die germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania. Leipzig 4 1959; F. Pfister: Tacitus und die Germanen. In: Würzburger Studien 9, 1936, S. 73 ff.; A. A. Lund [vgl. Anm. 4]. Vgl. dazu ThLL. VII,1 1414, 43 ff.; L. Canfora: La Germania di Tacito da Engels al nazismo. Napoli 1979. S. 15 ff.; M. Büttner: Über Rasse und Rassismus. Anmerkungen aus biologischer Sicht. In: Das Vorurteil als Bildungsbarriere. Hg. v. W. Strzelewicz. Göttingen 3 1972. S. 2 1 4 - 2 5 7 . Adversus wird von W. Reeb [vgl. Anm. 13, S. 18] folgendermaßen definiert: ^¡¡versus .entgegengesetzt' = ,in einem anderen Erdteil gelegen'". Diese Interpretation wird unten durch den Ausdruck ab orbe nostro bestätigt. Siehe ferner J. Schmaus: Bemerkungen zu einigen Stellen in Tacitus' Germania. In: Blätter für das bayerische Gymnasialwesen 58, 1922, S. 23.
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
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Um zu beweisen, daß die Germanen auch wirklich indigenae in Germanien sind, was nicht notwendigerweise auch bedeutet, daß sie non mixti (vgl. c. 2,1) sind, verweist Tacitus, wie es Tradition war im antiken ethnographischen Genos25, auf die mythische Erzählung der Eingeborenen selbst von ihrem Ursprung. Nach ihr stammen die Germanen vom ersten Menschen Mannus ab, der der Stammvater der Söhne Ingwi, Irmin und Istwi ist, die wiederum Namengeber der drei großen Geschlechtsverbände Ingaevones, Herminones und Istaevones sind26. Bemerkenswert ist auch die Angabe des Tacitus, daß andere römische Gelehrte für eine andere eingeborene Variante der 7»«/o-Genealogie eintreten — es ist nicht die Rede von einer alternativen Ethnogonie27 — nach der es noch außerdem vier Tuisto-Söhnc gegeben haben soll, nämlich Marsus, Gambrivius, Suebus und Vandilius. Wenn Tacitus sich gegenüber der Echtheit dieser Variante abweisend verhält, ist der Grund nicht darin zu suchen, daß sie gegen seine eigene Auffassung vom Ursprung der Germanen spricht, — sie kann ja in Wirklichkeit nur bestätigen, daß die Germanen wirklich indigenae sind, — sondern weil er selbst, wie sich später herausstellt, der Ansicht ist, daß beispielsweise der Name der Sueben ein geographischer Sammelbegriff jüngeren Datums ist (s. u.). Bei der Lektüre der Germania zeigt es sich jedoch, daß die 7«w/o-Genealogie — ungeachtet der Version, die man vorzieht — überhaupt keine Rolle spielt. Mit anderen Worten: Sie ist nur in der konkreten Situation angewandt worden, weil sie als klassisches argumentum e nomine petitum dient, d. h. als .historische' Dokumentation der Origo der Germanen, die auf eingeborenen Informanten basiert (s. Anm. 21). Auf diesem Hintergrund muß der berüchtigte Namensat% gesehen werden28. Er gibt die Theorie anderer Gelehrter von der relativ jungen Genese des Germanennamens wieder, wie es aus den Worten invento nomine (c. 2,3) hervorgeht, die zu vera et antiqua nomina (c. 2,2) im Kontrast stehen. Die Entstehung des Germanennamens (und nicht der Ethnogenese der Germanen) wird mit anderen Worten von gewissen Gelehrten als eine relativ junge Erfindung aufgefaßt29. Nach der Digression vom Namensatç gibt Tacitus die Vermutungen gewisser Gelehrter wieder, daß Hercules und Odysseus, die weitbereisten Helden der ζ i v i l i sie r-
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Vgl. dazu J. Bickermann [vgl. Anm. 21] S. 75. Vgl. dazu R. Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Köln/Wien 21977. S. 234ff.; R. Hachmann/G. Kossack/H. Kuhn: Völkerzwischen Germanen und Kelten. Neumünster 1962. S. 50 ff. Vgl. dazu A. A. Lund: Neue Studien zum Verständnis der Namensätze in der Germania des Tacitus (2,2 und 2,3). In: Gymnasium 89, 1982, S.313, Anm. 53. Vgl. dazu die Übersicht und Literatur [vgl. Anm. 27], S. 305 ff. Vgl. Anm. 27, S. 309 ff.; siehe ferner B. Reischl: Reflexe griechischer Kulturentstehungslehren bei augusteischen Dichtern. Augsburg 1976. S. 14 f. und 86 f.
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ten Welt30 auch Germanien besucht haben sollen31, was, wenn es wahr wäre, gegen Tacitus' Auffassung sprechen würde. Aus dem Obengenannten geht hervor, daß Tacitus per Definition jeden für einen echten Germanen hält, der geographisch gesehen in Germanien lebt, vorausgesetzt, daß sein Geschlecht ethnohistorisch immer dort ansässig gewesen ist. Dieser deutliche Zusammenfall der geographischen und ethnographischen Grenzen Germaniens modifiziert Tacitus jedoch später in den Kapp. 28 — 29, wo er die Ethnohistorie {origo)i2 der rhein-germanischen Stämme behandelt. Selbst wenn man von den dort vorkommenden Modifikationen absieht, kann der Germanenbegriff Tacitus' nicht ohne weiteres in einem modernen Kontext angewandt werden, da der Begriff indigena bei Tacitus eine polygenetische Auffassung vom Ursprung des Menschen vorauszusetzen scheint33 im Unterschied zu unserer monogenetischen Auffasung. Schließlich sind auch unsere Vorstellungen von ursprünglichen Eingeborenenkulturen eine Fiktion34. Obwohl Tacitus' Germanenvorstellung oberflächlich gelesen nur den Zusammenfall von geographischen und ethnographischen Grenzen ausdrückt, ist sie tiefer fundiert. Im vierten Kapitel der Germania kommt er so, nachdem er in den drei vorhergehenden die geographische Isolation und die entsprechende kulturelle Abgesondertheit der Germanen hervorgehoben hat, zur Beschreibung ihres physischen Äußeren und ihres psychischen Inneren {habitus corporum und habitus animorum), zwei Themen, die wie schon durch die Sprache angedeutet, nach antiker Anschauung eng zusammenhängen35: unde habitus quoque corporum, — , idem omnibus: truces et caerulei oculi, rutilae comae, magna corpora et tantum ad impetum valida; laboris atque operum non eadem patientia, minimeque sitim aestumque tolerare, frigora atque inediam caelo solove assueverunt. Zuerst zur Schilderung des äußeren Erscheinungsbildes der Germanen, ihres Phänotyps (habitus corporum)36, der genau wie ihr psychischer Typ {habitus animorum) nach antiker Auffassung unmittelbar von der physischen Umwelt 30
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Vgl. dazu V. Buchheit: Gesittung durch Belehrung und Eroberung. In: Würzburger Jahrbücher für Altertumswissenschaft N.F. 7, 1981, S.194. Germ. c. 3,1 lese ich demnach Fuisse et apud eos Hercúlea memoran!. Die von den Herausgebern herkömmliche Etablierung der Stelle, nämlich Fuisse apud eos et Herculem, ist sowohl im Kontext als von einem römischen Gesichtspunkt her sinnlos (vgl. K. Trüdinger [vgl. Anm. 1], S. 128). Vgl. dazu N. W. Bruun/A. A. Lund: Zu den vermeintlichen Glossemen in der Germania des Tacitus. In: Gymnasium 88, 1981, S. 509 ff. Vgl. dazu A. A. Lund [vgl. Anm. 27] S. 324. Vgl. dazu G. Clark: The Identity of Man. Cambridge 1982. S.87. Vgl. dazu C. E. Evans: Physiognomies in the Ancient World. In: Transactions of the American Philosophical Society Ν. S. 59, Part 5, 1969, passim. Vgl. dazu Α. Α. Lund [vgl. Anm.4]; ders.: Tac. Germ. 46,1—2. In: Gymnasium 86, 1979, S. 7 5 - 8 0 ; ders.: Nochmals Columella 6,1,1. In: Eranos 1982, S. 174.
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
59
geformt wird 37 , weshalb man hätte erwarten können, daß Tacitus aus diesem Grund für die Ursprünglichkeit der Germanen in Germanien argumentiert hätte, aber teils liegt der Hauptakzent der Darstellung auf dem idem omnibus, teils wäre es ihm kaum möglich gewesen, die Germanen ausschließlich anhand biologischer Rassenkriterien von anderen Barbarenvölkern in der nördlichen Klimazone auszusondern38. Was das Äußere der Germanen angeht, bemerkt man, daß alle, d. h. Männer und Frauen, gleich aussehen. Obwohl die Schilderung vor allem darauf abzielt, das homogene Erscheinungsbild der Germanen hervorzuheben39, herrscht doch kein Zweifel darüber, daß Tacitus auch der Ansicht ist, daß der germanische Mann und die germanische Frau gleich groß und gleich stark sind. Dies wird nämlich von einer anderen Stelle in der Germania bestätigt: c. 20,2 sera iuvenum venus, eoque inexhausta pubertas. nec virgines festinantur; eadem iuventa, similis proceritas; pares validaeque miscentur, ac robora parentum liberi referunt. Wer diese Passage ohne Vorurteile liest40, kommt nicht umhin anzunehmen, daß Tacitus — mirabile dictu — behauptet, die germanischen Frauen seien ebenso groß und kräftig wie die germanischen Männer. Wir finden mit anderen Worten nicht den sexuellen Dimorphismus unter den Germanen, den man biologisch gesehen fast überall in der Welt der Primaten vorfindet41. Die Richtigkeit dieser Aussage wird dann auch eindeutig durch Skelettfunde auf Grabfeldern in Germanien aus der älteren römischen Kaiserzeit bestritten, die durchgehend einen ausgeprägten sexuellen Dimorphismus aufweisen42. Die Beschreibung ist also in diesem Punkt idealisiert worden, wohl um die Ursprünglichkeit der Germanen zu unterstreichen43. Die anderen hervorgehobenen Züge am germanischen Phänotyp können jedoch kaum als idealisiert bezeichnet werden, denn Tacitus führt ohne Zweifel nur Charakteristika an, die das schon von selten der Natur Drohende am Äußeren der Germanen unterstreichen44: truces et caerulei oculi, 37
Vgl. dazu K . Trüdinger [vgl. Anm. 1] S. 37 ff. u. 51 ff.; J. Hornyanszky: Von Hippokrates bis Tacitus. Breslau 1929. S . 7 f f .
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Vgl. dazu E. Norden [vgl. Anm. 22] S. 105 ff.; anders dagegen W. Steidle: Tacitusprobleme. In: Museum Helveticum 22, 1965, S. 87, bes. Anm. 34, der den Versuch unternimmt, die Darstellung des Tacitus zu verteidigen. Vgl. dazu J. Hornyanszky [vgl. Anm. 37] S. 12. Das hat, soweit ich sehe, vor mir nur P. Persson getan (Zur Interpretation der Germania des Tacitus. In: Minnesskrift tillägna professor Axel Erdmann. Uppsala 1913. S. 173 f.). Vgl. dazu D. E. Zimmer: Unsere erste Natur. München o. J., S. 264, der Seite 319 den sexuellen Dimorphismus folgendermaßen definiert: „die systematischen Gestaltsunterschiede bei männlichen und weiblichen Vertretern derselben Art". Vgl. dazu Die Germanen. Ein Handbuch in zwei Bänden. Hg. v. B. Krüger. Berlin(-Ost) 1976, I, S. 169. Vgl. App. IV. Vgl. dazu A. A. Lund: Physiognomica in der .Germania' des Tacitus. In: Rheinisches Museum (im Druck).
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rutilae comae, magna corpora. Die Germanen sind nämlich, wie das Land, das sie hervorgebracht hat (vgl. c. 2,2 Celebrant... Tuistonem deum terra editum. ei filium Mannum, originem gentis ... assignant) ungeheuer groß und furchterregend45. Tacitus hat nicht nur einen bestimmten Rassentyp vor Augen, nämlich die in der nördlichsten der drei Klimazonen lebenden Völker, deren Charakteristika uns primär durch Vitruv und Plinius d. Ä. 46 bekannt sind, sondern auch einen bestimmten Charaktertyp, nämlich Senecas Homo iracundas*1, der bei Seneca ganz symptomatisch durch die in der nördlichen Klimazone lebenden Germanen und Skythen exemplifiziert wird: de ira 2,15,1 ,Vt scias' inquit ,iram habere in se generosi aliquid, liberas videbis gentes quae iracundissimae sunt, ut Germanos et Scjtbas'. Was Tacitus' Beschreibung des Aussehens der Germanen anbelangt, muß sie eindeutig als s e l e k t i v bezeichnet werden, da der Verfasser eben die Züge ausgewählt und hervorgehoben hat, die den Charakter des Germanen hervorheben. Es ist mit anderen Worten die Rede von einer physiognomischen Skizze der gleichen Art, wie wir sie beispielsweise aus den Kaiserbiographien Suetons kennen48. Es ist symptomatisch für die Skizze, daß Tacitus sich auf die für die Physiognomen wesentlichsten Charakteristika, nämlich die Augen und das Haar, konzentriert49. Die erste Hälfte der Germania ist folglich biographisch in dem Sinne, daß Tacitus in den Kapiteln 5 — 27 das Wesen der Germanen anhand ihrer Lebensweise (mores) beleuchtet, da er in diesen Kapiteln die Züge zusammenfaßt, die für alle Germanen typisch sind. Er beschreibt mit anderen Worten den germanischen Volkscharakter, die E t h n o p s y c h e . Diese für die damalige Zeit originale Kompositionsform ist nur durchführbar 50 , weil Tacitus in den vier ersten Kapiteln auf geschichtlichem' Wege überzeugend dargestellt hat, daß alle Germanen ein gemeinsames Erbe und ein gemeinsames Milieu haben: Alle sind sie ja Nachkommen von Mannus und alle stammen sie aus Germanien. Deshalb sind sie vom Äußeren und vom Inneren her tantum sui similis gens. Daß sich alle Germanen geähnelt haben sollen, stimmt natürlich nicht und muß vielmehr als Ausdruck einer Stereotypisierung des Germanen 45 46
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Vgl. dazu G. Rudberg [vgl. Anm. 11] passim; C. E. Evans [vgl. Anm. 35], S. 48. Vgl. dazu Vitt. 6 , 1 , 3 - 1 1 ; Plin. nat. hist. 2,189; Veg. mil. 1,2; siehe ferner E. Norden [vgl. Anm. 22] S. 1 0 5 - 1 1 5 . Vgl. dazu Ä. Bäumer: Die Bestie Mensch. Senecas Agressionstheorie, ihre philosophischen Vorstufen und ihre literarischen Auswirkungen. Studien zur klassischen Philologie, Band 4. Frankfurt am Main 1982. Bes. S. 72ff.; W. S. Anderson: Anger in Juvenal and Seneca. In: University of California Publications 19, 1 9 6 3 - 6 4 , S. 1 4 9 - 1 9 5 . Vgl. dazu J. Couissin, Suétone physiognomiste dans les vies des XII Césars. In: Revue des Études Latines 31, 1953, S. 234—256; W. Steidle: Sueton und die antike Biographie. Zetemata 1. München 21963. S. 84. Vgl. dazu C. E. Evans [vgl. Anm. 35] passim. Vgl. dazu K. Trüdinger [vgl. Anm. 1] S. 165.
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
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angesehen werden51, der Tendenz des menschlichen Hirns, in Stereotypen zu denken52, folgend, wie es für die ethnographische Literatur typisch ist, wo die Verwendung von tópoi53, d. h. literarischen Klischees und vorurteilsvollen Formeln, verbreitet ist54. Der berühmteste dieser Topoi in der Germania ist eben die Formel tantum sui similis gens55. Auf .geschichtlichem' Wege ist es Tacitus gelungen, als wahrscheinlich darzustellen, daß die Germanen indigenae und dazu non mixti sind — beide Begriffe fußen auf einer Fiktion —, da keine Einwanderer (advenae) zu ihnen gekommen sind. Dadurch ist es Tacitus gleichzeitig geglückt, zu beweisen, daß das von ihm dargestellte Bild des germanischen Volkscharakters — wieder eine Fiktion — und das dementsprechende homogene germanische Äußere — auch eine Fiktion — eine Realität darstellt, von der man erwarten kann, daß sie den spezifischen anthropogeographischen Lebensbedingungen in Germanien entspricht. Wenn Tacitus jedoch nicht von diesen ausgeht und seine Beschreibung nicht auf den anthropologischen Daten basiert, ist die Erklärung dafür möglicherweise darin zu suchen, wie oben angedeutet, daß die Charakteristika, die er als spezifisch germanische darstellt, bei anderen antiken Autoren als für alle nordischen Barbarenvölker typisch angeführt werden56; bekanntlich werden Kelten — Germanen — Skythen oft durcheinandergebracht, oder, anders ausgedrückt, erst zur Zeit Caesars fangt man an, d.h. fangen die Römer, an, die Germanen als selbständiges Ethnikon auszusondern57. Was Tacitus angeht, scheint er speziell in der moralischen Depravation 51
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Vgl. dazu F. K. Stanzel: Der literarische Aspekt unserer Vorstellungen vom Charakter fremder Völker. In: Anzeiger der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 111. Jahrgang 1974. Nr. 4, S. 6 3 - 8 2 . Vgl. dazu P. R. Hofstätter: Das Denken in Stereotypen. In: Vortragsreihe der niedersächsischen Landesregierung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Niedersachsen, Heft 15. Göttingen 1960. S . 3 - 3 4 . Vgl. dazu E. Mertner: Topos and Commonplace. In: Strena Anglica. Festschrift für Otto Ritter. Halle 1956. S. 178 ff. Vgl. dazu A. Schroeder: De ethnographiae antiquae locis quibusdam communibus observationes. Halle 1921. S. 1 f.; siehe ferner U. Bitterli: Die „Wilden" und die „Zivilisierten". Die europäisch-überseeische Begegnung. München 1976. S. 367 ff. Vgl. dazu E. Norden [vgl. Anm.22] S.54ff. Vgl. dazu Anm. 46. Siehe auch G. Walser: Caesar und die Germanen. Historia, Einzelschriften, Heft 1, 1956. S.55ff. Zur Frage siehe E. Norden [vgl. Anm.22] S.70ff.; F. Jacoby: F GR HIST II C, Berlin 1926, S. 169 f.; G. Walser [vgl. Anm. 56] S. 37 ff.; R. Hachmann/G. Kossack/H. Kuhn [vgl. Anm. 26] S. 43 ff.; R. Nierhaus: Das swebische Gräberfeld von Diersheim. In: Römischgermanische Forschungen. Band 28. Berlin 1966. S. 213 ff.; R. Hachmann: Die Germanen. München 2 1971, S. 36 ff.; ders.: Der Begriff des Germanischen. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 7, 1975, S. 120 ff.; K. Peschel: Anfange germanischer Besiedlung im Mittelgebirgsraum. In: Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Beiheft 12, Berlin 1978, S . l l f f .
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Α. Α. Lund
der Gallier einen grundlegenden Unterschied zwischen ihnen und den Germanen zu sehen 58 . Vier Charakterzüge prägen vor allem die Germanen, nämlich j-implícitas, traf iracundia, inertia und libertas. Von diesen müssen auf jeden Fall die drei letzten ausschließlich als Produkte der physischen Umwelt (bei Tacitus) und die beiden letzten als Folgeerscheinungen der ira/iracundia angesehen werden 59 . Wir bewegen uns hiermit vom Äußeren zum Inneren, d. h. von den magna corpora der Germanen, — was offensichtlich aus logischer Sicht hiermit in Widerstreit steht —, zu ihrer fehlenden, den magna corpora entsprechenden, physischen Ausdauer: (c. 4 magna corpora et tantum ad impetum valida; laboris atque operum non eadem patientia . . . ) . Tacitus stellt also fest, daß die schweren Körper der Germanen keine (ihnen entsprechenden) arbeitsmäßigen Leistungen erwarten lassen. Die Ursache zu ihrer geringen physischen Ausdauer ist im impetus zu suchen, der als Begriff mit der ira eng verbunden, ja mitunter sogar mit ihr identisch ist: (Sen. de ira 2,3,4 ira non moveri tantum debet sed excurrere; est enim impetus·, et. ib. 1,11,1 Quid enim est aliud quod barbaros tanto robustiores corporibus, tanto patientiores labor um comminuat nisi ira infestissima sibi?). Für einen Homo iracundus ist gerade der plötzliche Wutausbruch charakteristisch (vgl. Germ. c. 25,1 occidere soient (sc. Germani servos), non disciplina et severitate sed impetus et ira ( = iracundia)). Die Ursache liegt natürlich in der Natur des leicht erregbaren Menschen: Sen. de ira 2,19,5 Ñeque enim ulla alia causa est cur iracundissimi sint flavi rubentesque, quibus talis natura color est qualis ceteris inter iram solet; mobilis enim Ulis agitatusque sanguis est. Die Menge an Blutplasma, die sich im Körper befindet, ist also der entscheidende Faktor, wie wir es neben Seneca auch aus anderen antiken Werken (vgl. Anm. 46) kennen. Und es ist deshalb kein Witz, wenn Tacitus sagt, daß die Germanen wegen ihrer Trunksucht diesem Laster viel leichter unterliegen werden als der Waffengewalt (vgl. c. 23), denn vinum incendit iras, quia calorem äuget (Sen. de ira 2,19,5). Wir stehen mit anderen Worten vor der Lehre von den vier Temperamenten 60 . Daraus können wir schließen, daß die magna corpora/magni artus der Germanen eben magna/magni genannt werden, weil sie voller Flüssigkeit sind, was wiederum eine Folge des kalten Klimas ist, in dem die Germanen leben. Wegen der Kälte findet keine nennenswerte Verdampfung statt. Das westliche Germanien hat demnach einen höheren Feuchtigkeitsgrad als das süd-östliche (vgl. c. 5,1 Terra — humidior qua 58
59 60
Vgl. dazu Germ. c. 28,4 Treveri et Nervii circa adfectationem Germanicae originis ultro ambitiosi sunt, tamquamper hancgloriarti sanguinis a similitudine et inertia (.Schlaffheit') Gallorum separentur. Siehe hierzu Sen. de ira 1,4,1—3 und Ä. Bäumer [vgl. Anm. 47] S. 81. Vgl. dazu I. v. Wageningen: De quattour temperamentis. In: Mnemosyne N.S. 46, 1918, S. 374—382; siehe ferner K. A. Nowotny: Völkerkunde und europäische Geistesgeschichte. In: Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 95, 1965, S. 162—167.
63
Zum Germanenbegriff bei Tacitus Gallias,
ventosior
qua Noricum
ac Pannoniam
aspicit)61.
Wegen der fehlenden
Verdampfung sind die mit Flüssigkeit gefüllten K ö r p e r der Germanen nicht dura,
sondern molila
sive fluida
sive languida62,
wie es indirekt aus der Beschrei-
bung der Chatten hervorgeht, die als die berühmte A u s n a h m e v o n der Regel v o m sonst so stereotypen Bild des G e r m a n e n abweichen 6 3 : Germ. Ultra locis
hos Cbatti (ut
initium
ceterae
civitates
paulatim
rarescunt,
duriora
genti
sedis ab Hercynio in quas
at Chattos
Germania
suos saltus
c o r p o r a , s t r i d i artus,
saltu incboant; patescit), Hercjnius minax
non ita e f f u s is ac palus durantur:
prosequitur vultus
c. 30,1
si quidem simul
et maior
atque
animi
vigor.
tribus colles deponit: Der
äußeren klimatischen K ä l t e entspricht jedoch bei Tacitus und Seneca die innere W ä r m e {calor) et animosissima)64
des Germanen, was ihn speziell erregbar ( i r a c u n d i s s i m u s
macht, denn es ist die W ä r m e , die das Blutplasma in raschere
Zirkulation beim leicht erregbaren Menschen bringt — jedenfalls solange er noch jung ist 6 5 — und ihn zur W a f f e greifen läßt 6 6 . Deshalb begegnen uns in der Germania
überall bewaffnete und kriegerische Germanen 6 7 . Ja, selbst
im G r a b — oder besser auf dem Scheiterhaufen 6 8 — folgen ihnen die W a f f e n (c. 27,1 sua cuique arma, 61
62
63
64 65
66 67
68
quorundam
igni ( = rogo) et equus adicitur),
was f ü r einen
Ventosior steht hier demnach im Sinne von aridiorjsiccior (vgl. A. A. Lund [vgl. Anm. 44]). Die Stelle muß deshalb eher als eine klimatologische Begründung im Sinne der Alten denn als eine klimatische Beschreibung im heutigen Sinne aufgefaßt werden (vgl. H. Jankuhn: Terra . . . silvis hórrida. In: Archaeologia geographica 10—11, 1961—63, S. 19 —38). Vgl. dazu hist. 2,32,2 tarn Germanos, — , tracto in aestatem bello fluxis corporis mutationem soli caelique toleraturos; vgl. ThLL. VI,1 983,35 ff. et A. A. Lund [vgl. Anm. 44], Zur Etablierung dieser Textstelle siehe A. A. Lund: Neues zu Tac. Germ. 30,1. In: Rheinisches Museum (im Druck). Vgl. dazu Sen. de ira 1,11,3 Germanis quid est animosiusi Quid ad incursum acrius? Vgl. dazu Sen. de ira 2,19,4 Quibus umidi plus inest, eorum paulatim crescit ira, quia non est paratus tllis calor sed motu adquiritur; itaque puerorum feminarumque irae acres magis quam graues sunt leuioresque dum incipiunt. Siccis aetatibus uehemens robustaque est ira, sed sine incremento, non multum sibi adiciens, quia inclinaturum calorem frigus insequitur: senes difficiles et queruli sunt, ut aegri et conualescentes et quorum aut lassitudine aut detractione sanguinis exhaustus et calor·, Cels. 2,1,5 aetas media ..., quae ñeque iuventae calore ñeque senectutis frigore infestatur. Vgl. dazu Sen. de ira 1,il,3 Quid (sc. Germanis) armorum cupidius? Vgl. dazu c. 11,2 ut turbae placuit, considunt armati; et ib. honoratissimum assensus genus est armis laudare·, c. 13,1 Nihil autem ncque publicae neque privatae rei nisi armati agunt. sed arma sumere non ante cuiquam moris, quam civitas suffecturum probaverit. tum in ipso concilio vel principum aliquis vel pater vel propinqui scuto frameaque iuvenem ornant-, c. 14,2 exigunt enim principis sui liberalitate illum bellatorem equum, illam cruentarti victricemque frameam·, c. 15,2 gaudent praecipue finitimarum gentium donis, quae non modo a singulis, sed et publice mittuntur, electi equi, magna arma, phalerae torquesque; c. 18,2 muñera non ad delicias muliebres quaesita nec quibus nova nupta comatur, sed boves et frenatum equum et scutum cum framea gladioque. in haec muñera uxor accipitur, atque in vicem ipsa armorum aliquid viro offert·, c. 22,1 tum ad negotia nec minus saepe ad convivía procedunt armati·, c. 24,1 nudi iuvenes, — , inter gladios se atque infestas frameas saltu iaciunt; c. 27,1 sua cuique arma, quorundam et equus adicitur. Ob Tacitus interpretatione Romana von einer „Bustumbestattung" oder einer „Ustrinenbestat-
64
A.A. Lund
Römer an sich verblüffend klingen mag 69 . Die Aussage soll nur das Faktum unterstreichen, daß der Germane in einer Welt gegenseitiger Furcht (mutuus metus) lebt. Es ist nämlich für den Homo iracundusjferus bezeichnend, daß er, der gern andere erschreckt, auch selbst leicht erschreckt: Sen. de ira 2,11,4 Ita natura constituit ut quidquid alieno metu magnum est a suo non vacet. Leonum quam pavida sunt ad levissimos sonos pectora; acérrimasferas umbra et vox et odor insolitus exagitat: quidquid terrei et trépidât. Deshalb bedeutet der mantische Schlachtgesang der Germanen unmittelbar vor der Schlacht, daß sie entweder dem Feind Furcht einflößen oder selbst Angst bekommen: c. 3,1 terrent enim trepidantveprout sonuit acies10. Es ist jedoch für die germanische Gesellschaft wesentlicher, daß die gegenseitige Furcht so stark ist, daß sie menschenleere Gebiete schaffen kann (vgl. c. 1,1 Germania omnis ... a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur), wie es deutlich aus Seneca de ira 1,2,2 (Aspice solitudinesper multa milia sine babitatore desertas: has ira exbausit)71 hervorgeht.
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tung" redet (vgl. T. Bechert: Zur Terminologie provinzialrömischer Brandgräber. In: Archäologisches Korrespondenzblatt 10, 1980, S. 253—258), läßt sich der Stelle nicht entnehmen. Man bemerke außerdem, daß Tacitus offenbar nicht weiß, daß es zu seiner Zeit in Germanien auch Körperbestattungen gibt (vgl. Anm. 42, S. 183 ff.; G. Mildenberger: Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen. Stuttgart u. a. 21977, S. 88ff.; H. Steuer: Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse 3. Folge, Nr. 128, Göttingen 1982, S. 198 fF.), was damit zusammenhängt, daß Verbrennung bei den Römern die Regel war (vgl. Tac. ann. 16,6,2 corpus non igni abolitum, ut Romanus mos, sed regum externorum consuetudine differtum odoribus conditur tumuloque Iuliorum infertur, siehe ferner J. M. C. Toynbee: Death and Burial in the Roman World. London/ Southampton 1971. S.39ff.) Das römische Grab is beigabenlos (vgl. H. Bürgin-Kreis: Auf den Spuren des römischen Grabrechts in Äugst und in der übrigen Schweiz. In: Provincialia, Festschrift für Rudolf Laur-Belart. Hg. v. E. Schmid u.a. Basel 1968. S.33, Anm. 18; J. M. C. Toynbee, [vgl. Anm. 68] S. 50: „the eyes of the corps were opened when it was placed on the pyre, along with various gifts and some of the deceased's personal possessions. Sometimes even pet animals were killed round the pyre, to accompaning the soul into the afterlife". Die interpretatio Romana verbietet, sozusagen, an dieser Stelle Folgerungen betreffs der Besitzverhältnisse bei den Germanen zu ziehen, wie es von C. Redlich (Erbrecht und Grabbeigaben bei den Germanen. In: Forschungen und Fortschritte 24, 1948, S. 177 ff.) versucht wurde. Tacitus schildert hier deutlich die Germanen als wilde Tiere (vgl. Curt. 8,2,7 . . . (sibi) vivendum esse in solitudine velutferae bestiae terrenti alias timentique) Siehe ferner A. A. Lund: Neues zum mantischen Schlachtgesang der Germanen (Tac. Germ. c. 3,1), Maia 37,1985, S. 39 —43. In Zusammenhang mit dieser Furcht-Theorie soll sicher auch der Umstand, daß die Germanen ,nicht untereinander verbundene Wohnsitze ertragen' (c. 16,1 ne pati quidem inter se iunctas sedes: colunt discreti ac diversi, utfons, ut campus, ut nemusplacuit), gesehen werden. Man vergleiche ferner c. 40,1 Reudigni deinde et Aviones et Anglii et Varini et Eudoses et Suarines et Nuitones fluminibus aut silvis muniuntur (i. e. tuti sunt). Da diese Stellen auf einer voreingenommenen Meinung des Tacitus fußen, würde ich Bedenken haben, sie mit dem Befund der Siedlungsarchäologie zu kombinieren (zur Sache siehe H. Jankuhn: Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung der germanischen Stämme in der Zeit der römischen Angriffskriege. In:
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
65
Wegen ihres angeborenen Charakters haben die Germanen also keine Ausdauer, oder positiv ausgedrückt: Sie sind faul {pigri, inertes). Für den Leser von heute, der Tacitus' Beschreibung des germanischen Charakters liest, besteht das Überraschende wohl darin, daß ihre Faulheit gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zieht. Denn wegen ihrer fehlenden physischen Ausdauer sind die Germanen nicht imstande, ihre Felder in größerem Maß zu bestellen, als es gerade für sie notwendig ist, obwohl ihnen nach Tacitus' Ansicht reichlich Land zur Verfügung steht (c. 26,2 superest ager), das bestellt werden könnte, wenn sie dazu Lust hätten, — was jedoch nicht der Fall ist: c. 26,2 nec enim cum ubertate et amplitudine soli labore contendunt, ut pomaria 12 conserant, ut prata separent, ut hortos rigent; sola terrae seges imperatur . Tacitus beschreibt also nicht irgendeinen konkreten Feldbestellungstypus mit einer Dreifelderwirtschaft oder mit Brachland, sondern veranschaulicht nur die fehlende Ausdauer der Germanen bei physischer Arbeit und verbindet sie mit einer gewissen dementsprechenden fehlenden avaritia, die eine Form ihrer simplicitas ist 73 . Als symptomatisch für die Faulheit der Germanen im allgemeinen sagt Tacitus im Ton der repressiven Toleranz von einem einzelnen Stamm, den Aestiern, daß sie ungewöhnlich ausdauernd seien74 — natürlich im Verhältnis zu den übrigen Germanen: c. 45,3 jrumenta ceterosque fructus patientius quam pro solita Germanorum inertia laborant. Denn für alle Germanen gilt, daß sie desto fauler sind, je kriegerischer sie sind: c. 14,3 . . . nec arare terram aut expectore annum tarn facile persuaseris quam vocare bestem et vulnera mereri; pigrum quin immo et iners videtur sudore adquirere quod possis sanguine parare. Dieses kriegerische Ideal — es ist natürlich die verkehrte Welt, die hier beschrieben wird — wird voll und ganz von der germanischen Krieger-Elite (comités) verwirklicht: c. 15,1 fortissimus quisque ac bellicosissimus nihil agens, delegata domus et penatium et agrorum cura feminis senibusque et infirmissimo cuique ex familia, ipsi hebent, mira diversitate naturae7S, cum idem homines sic
72
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Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 11,5,1. Hg. v. H. Temporini, Berlin/New York 1976, S. 6 5 - 1 2 6 ) . Zur Auslegung dieses Kapitels siehe A. A. Lund: „Agrarverfassung" der Germanen (Tac. Germ. Kap. 26) In: Symbolae Osloenses 60, 1985, S. 1 2 1 - 1 2 7 ; siehe auch D. Timpe: Die germanische Agrarverfassung nach den Berichten Caesars und Tacitus', Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 115, S.34f.; siehe ferner B. Reischl [vgl. Anm.29] S.54f. Vgl. dazu R. Vischer: Das einfache Leben. Göttingen 1965. S. 123 f. Vgl. dazu R. Till: Tacitus als Ethnograph und Geschichtsschreiber. In: Dialogus 10, 1977, S. 99 f. Diese Ausdrucksweise (sc. diversitas naturae) ist charakteristisch für das antike biographische Genos, das sich besonders für gegensätzliche und scheinbar unvereinbare Charakterzüge in ein und derselben Person interessierte (vgl. M. Lausberg: Caesar und Cato im Agricola des Tacitus. In: Gymnasium 87,1980, S. 421, die jedoch nur von gegensätzlichen Vorzügen spricht).
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Α. Α. Lund
ament inertiam et oderint quietem. Die Gesellschaftsform der Germanen muß daher aus ihrem Charakter heraus abgeleitet werden, der wiederum vom Einfluß des Klimas heraus erklärt werden muß: Klima — Charakter — Lebensweise bilden also eine gerade Linie. Tacitus verzeichnet mit anderen Worten aus seinen Voraussetzungen heraus das Bild des Germanen (und der germanischen Gesellschaft), indem er ihn als Homo iracundus beschreibt, der wegen seiner angeborenen ira leicht zu den Waffen greift, dagegen schnell erschöpft ist. Die germanische Gesellschaft wird daher in der Deutung von Tacitus zu einer Kriegergesellschaft, und die Rolle der Landwirtschaft, d. h. des Ackerbaus, wird dementsprechend reduziert76 — denn agricultura war mit Kultur identisch —, und Wohnsiedlungen werden weit voneinander weg piaziert (vgl. Anm. 76). Ein anderer wesentlicher Zug, der den Charakter der Germanen und ihre Lebensweise und daher auch die germanische Gesellschaft prägt, ist die libertas oder, negativ ausgedrückt, die fehlende disciplina der Germanen. Gerade die fehlende disciplina beweist deutlicher als alles andere, daß der Germane ein Homo iracundus oder ferus ist, denn, wie schon angedeutet, ist die ira ein wesentlicher Bestandteil des germanischen Wesens. Die ira ist für den Römer eng mit feritas verbunden, denn beide sind mit der ratio unvereinbar, die zusammen mit der disciplina das Kennzeichen des zivilisierten Menschen ausmacht77: Sen. de ira 2,16,1 ,Ammalia' inquit generosissima habentur quibus multum inest i rae. Errat qui ea in exemplum hominis adducit quibus pro ratione est impetus: homini pro impetu ratio est'. Der Trennstrich läuft also zwischen homo und fera oder, wenn man so will, zwischen humanitas und feritas, denn der Barbare {homo ferus) ist (wie) ein wildes Tier (fera)78: Sen. de ira 2,15,1 ,Ut scias' inquit ,iram habere in se generosi aliquid liberas videbis gentes quae iracundissimae sunt, ut Germanos et Scythas'. Quod evenit quia fortia solidaque natura ingenia, antequam disciplina molliantur, prona in iram sunt1. Homo iracundus kann also auch mit Recht Homo ferus genannt werden, weil er als ein noch wildes und ungezähmtes Tier aufgefaßt wird 79 . Folglich lebt er 76
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Diese Tatsache muß man sich selbstverständlich vergegenwärtigen, wenn man die schriftlichen Quellen als Zeugnisse für das Vorherrschen der Viehwirtschaft heranzieht (vgl. G. Mildenberger [vgl. Anm. 68], S. 3 6 - 4 5 u. bes. S.43; und Anm. 42, S. 463 ff.). Vgl. dazu Ä. Bäumer [vgl. Anm. 47] S. 86 ff.; Y. A. Dauge: Le Barbare, Collection Latomus. Vol. 176. Bruxelles 1981. S. 209 et passim. Vgl. dazu Κ. v. See: Der Germane als Barbar. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 13, 1981, S. 50 ff. Man beachte den Sprachgebrauch in den folgenden Beispielen: Agr. c. 13,1 (Britanni) iam domiti ut partant, nondum ut serviant·, ib. c. 13,4 domitae gentes ...; ib. c. 24,1 (Agricola) ignotas ad id tempus gentes ... domuit\ symptomatisch heißt es dagegen von den kriegerischen unbesiegten Chatten: Germ. c. 31,2 ne in pace quidem vultu mitiore mansuescunt (man vergleiche hierzu Lucan. 4,238 Mansuevere ferae et volt us posuere minaces), denn die Germanen haben alle ,inmansueta ingenia', ut ait poeta, ,suo simillima caelo' (Sen. de ira 2,15,5).
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
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zwar in Freiheit (libertas), aber es ist ein völlig chaotischer Freiheitszustand (/icentia)80, denn nur derjenige ist imstande zu regieren, der auch selbst von anderen Befehle entgegennehmen kann: de ira 2,15,4 . . . omnes istae fer i tat e liberae gentes leonum luporumque ritu ut servire non possunt, ita nec imperare; non enim hum ani vim ingenti, sed f e r i et intractabilis habent; nemo autem regere potest, nisi qui et regi. Dies ist die Erklärung dafür, daß die Germanen nicht pünktlich zur Volksversammlung erscheinen: c. 11,1 illud ex liberiate Vitium, quod non simul nec ut iussi conveniunt, sed et alter et tertius dies cunctatione coeuntium absumitur. Ja, sogar die Sklaven genießen ein gewisses Maß an Freiheit (c. 25,1 frumenti modum dominus aut pecoris aut vestis ut colono iniungit, et servus hactenusparef). Als der die Regel bestätigende Ausnahme begegnen wir diesmal den chattischen Kriegern, die wie Anti-Germanen oder Römer, wenn man so will, beschrieben werden. Weil sie ein gewisses Maß an ratio und disciplina besitzen, vertrauen sie mehr auf den Heerführer als auf das Heer81. Während libertas auf dem persönlichen Gebiet positiv ausgedrückt unserem Individualismus entspricht, entspricht die libertas auf dem politischen Gebiet der Republik (libera respublica) in Tacitus' Sinne82. Hier liegt natürlich die einfache Erklärung dafür, daß Tacitus Kap. 7,1 den Inhalt dieser interpretatio Romana stark modifiziert83: Reges ex nobilitate, duces ex virtute summt, nec regibus infinita aut libera potestas. Und es ist ebenfalls die Unregierbarkeit der Germanen, die die Erklärung dafür abgibt, daß sie seit jeher als die gefahrlichsten Feinde der Römer gelten: c. 37,2 sescentesimum et quadragesimum annum urbs agebat, cum primum Cimbrorum audita sunt arma ...: tarn diu Germania vincitur. medio tarn longo aevi spatio multa in vicem damna, non Samnis, non Hispaniae Galliaeve, ne Parthi quidem saepius admonuere: quippe regno Arsacis acrior est Germanorum libertas. Wenn die Römer ca. 210 Jahre lang vergeblich versucht haben, Germanien zu erobern, ist die Erklärung darin zu suchen, daß die Germanen im Unterschied und im Gegensatz zu den Parthern eine sowohl äußere politische Freiheit wie einen inneren angeborenen Freiheitsdrang besitzen. Der Akzent liegt deshalb auf acrior, denn die Reaktionen der Germanen sind heftiger als Folge des Untergrundes und des Klimas in Germanien84. Der Germane repräsentiert also den freien Menschen. Den
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Vgl. auch mut. mutand. Liv. 38,17,17 Uberrimo agro, mitissimo cáelo, clementibus accolarum ingeniis omitís ¡Ha, cum qua vénérant, mansuefacta e s t f e r i t a s , und Cie. de leg. 1,8,24 . . . ipsisque in bominibus nulla gens est ñeque tarn mansueta (¡zivilisiert) ñeque tarn fera (,wil¿ ) ... Vgl. dazu R. Till [vgl. Anm. 74] S. 103. Vgl. dazu Germ. c. 30,2 plus reponere in duce quam in exercitu. Vgl. dazu W. Jens: Libertas bei Tacitus. In: Hermes 84, 1965, S. 349 ff. Vgl. dazu W. Suerbaum: Interpretationen zum Staatsbegriff des Tacitus. In: Gymnasium, Beiheft 4, Heidelberg 1964, S. 127. Vgl. dazu Sen. de tra 1,11,3 Germanis quid est animostus? Quid ad ineursum acriusi Germ.
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A.A. Lund
Gegensatz hierzu bilden ein anderes Barbarenvolk, die unterdrückten Parther, und als tertium comparationis natürlich die Römer, die eine gemischte Regierungsform besitzen85. Der Kontrast zwischen den beiden Barbarenvölkem ist nicht zufallig, sondern typisch für die antike Ethnographie, die es liebte, Asien mit Europa zu vergleichen, d. h. den Süden mit dem Norden 86 . Ein Vergleich, in dem Asien das weibliche Element und die Germanen das männliche Gegenstück 87 dazu repräsentieren, jedoch mit der Variante im Verhältnis zur Tradition, daß die Germanen bei Tacitus die übliche Rolle der Skythen eingenommen haben. Ein Blick auf die hippokratische Schrift Περί άέρων ύδάτων τόπων beweist dies. Bei Hippokrates ist die Diktatur der Asiaten ein kulturelles Produkt, bedingt durch die üppigen klimatischen Verhältnisse in Asien, und der Überfluß Asiens ist also die Ursache dafür, daß die Einwohner faule, schlappe und feige Sklavennaturen werden und folglich empfänglich sind für eine Despotie 88 . Überfluß und Luxus führen nun einmal nach antiker Anschauung physische wie psychische Depravation mit sich89. Diese Degenerationstheorie war natürlich auch Tacitus nicht unbekannt 90 , weshalb er mehrere Male in der Germania hervorhebt, daß die Zivilisation und ihre positiven Seiten bisher nur zum Grenzland vorgedrungen sind91. Wahrscheinlich muß die sogenannte climax regia in der Germania im Zusammenhang mit dieser Depravationstheorie gesehen werden 92 , d.h. der Umstand, daß Tacitus, je weiter er sich in seiner Beschreibung nach Norden bewegt und nördlich der Donau in das Territorium der Sueben
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c. 29,3 cetera similes (sc. Mattiaci) Batavis, nisi quod ipso adbuc terrât suae solo et cáelo acrius animantur. Vgl. dazu Agr. c. 3,1 . . . quamquam primo statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim dissociabiles miscuerit, principatum ac libertatem ... Vgl. dazu W. Backhaus: Der Hellenen-Barbaren-Gegensatz und die hippokratische Schrift Περί άέρων ύδάτων τόπων. In: Historia 25, 1976, S. 170-185; F. M. Snowden: Blacks in Antiquity: Ethiopians in the Greco-Roman Experience. Cambridge/Mass. 1970. S. 169 ff.; W. Zacharasiewicz: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik. In: Wiener Beiträge zur englischen Philologie 77, 1977, S. 24—33. Vgl. dazu Y. A. Dauge [vgl. Anm. 77] S. 203. Vgl. dazu H. Diller: Hippokrates Schriften. Hamburg 1962. S.99ff.; Δ. Δ. Λυπουρλή; 'Ιπποκρατική 'Ιατρική, θεσσαλονίκη 1972. S. 181 ff. Vgl. dazu B. Reischl [vgl. Anm. 29] passim. Vgl. dazu F. Pfister: Tacitus und die Germanen. In: Würzburger Studien 9, 1936, S. 80; R. F. Thomas: Lands and Peoples in Roman Poetry. The Ethnographical Tradition. Cambridge 1982. S. 124-132. Vgl. c. 5,3 . . . proximi (sc. ripae) ob usum commerciorum aurum et argentum in pretto habentformasque quasdam nostrae pecuniae agioscunt atque eligunt: interiores simplicius et antiquius permutatione mercium utuntur; c. 17,1 gerunt et ferarum pelles, proximi ripae neglegenter, ulteriores exquisitius, ut quibus nullus per commercia cultus\ c. 23 proximi ripae et vinum mercantar. Vgl. dazu W. Jens [vgl. Anm. 82],
Zum Germanenbegriff bei Tacitus
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kommt, sich desto stärker die Regierungsformen in Richtung des Unfreien ausarten läßt93. Von den Suionen heißt es daher nachdrücklich, daß sie wegen ihres Materialismus ihre Freiheit verloren hätten: c. 44,3 est apud illos et opibus bonos, eoque unus imperitat, nullis iam exceptionibus, non precario iure parendi. Daher sind ihre Waffen, die ansonsten das Symbol ihrer Freiheitsbehauptung sind, weggeschlossen und werden von einem Sklaven bewacht: nec arma ut apud ceteros Germanos in promiscuo, sed clausa sub custode, et quidem servo. Sie sind also reelle Sklaven. Umgekehrt war das freiheitsliebende Germanien sonst generell durch sein fehlendes Interesse an materiellen Werten gekennzeichnet, was natürlich Ausdruck einer Idealisierung ist94: c. 5,3 possessione et usu haud perinde afficiuntur: est videre apud illos argentea vasa, legatis et principibus eorum muneri data, non in alia utilitate quam quae humo finguntur,95. Obwohl die Germanenauffassung Tacitus' im Prinzip jeden umfaßt, der in Germanien geboren und aufgewachsen ist und dessen Geschlecht auf den Urmenschen Mannus zurückgeführt werden kann, bestehen trotzdem, obwohl Tacitus dem Leser im ersten Teil ein ansonsten homogenes Bild des Germanen und der germanischen Gesellschaft beschrieben hat, radikale Unterschiede zwischen den verschiedenen nationes, die von der libertas bis zur servitus reichen96, abhängig vom Grad des Materialismus und der Degeneration. Diese Stämme, es dreht sich um die nordostgermanischen Stämme97, haben sich also verändert. Zwar läßt sich die menschliche Natur nur schwerlich verändern, wenn das Mischverhältnis der Flüssigkeiten ein für allemal bei der Geburt mitgegeben ist (vgl. Sen. de ira 2,20,2 Naturam quidem mutare d i f f i c i l e est, nec licet semel mixta nascentium elementa convertere), aber die Gewohnheit (consuetude) ist doch sehr stark (s. Sen. ib.) und kann mit der Zeit zur anderen Natur werden. An dieser Stelle muß hinzugefügt werden, daß nach antiker Anschauung jede Veränderung der ursprünglichen Natur einer Sache oder eines lebenden Wesens per Definition eine Degeneration darstellt98. Und es scheint wohlge93 94
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96 97
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Vgl. dazu G. Bielefeld [vgl. Anm.5] S.50ff. Vgl. dazu H. Jankuhn: Archäologische Bemerkungen zur Glaubwürdigkeit des Tacitus in der Germania. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Phil.-hist. Klasse, Jahrgang 1966, Nr. 10. S.414f. Man vergleiche hierzu die folgende Stelle bei Seneca epist. 5,6 Magnus ille est, qui fictilibus sic utitur quemadmodum argento, nec ille minor est, qui sic argento utitur quemadmodum fictilibus. Infirmi animi est pati non posse divitias\ siehe ferner Β. Reischl [vgl. Anm. 29] S. 151 ff. Vgl. dazu Α. N. Sherwin-White: Racial Prejudice in Imperial Rome. Cambridge 1970. S. 38 ff. Vgl. dazu E. Wolff: Das geschichtliche Verstehen in Tacitus' Germania. In: Tacitus. Wege der Forschung. Hg. v. V. Pöschl, Darmstadt 1969, S. 282 ff.; G. Bielefeld [vgl. Anm. 93]; W. Suerbaum [vgl. Anm. 83] S. 128 ff.; W. Jens [vgl. Anm. 82] S. 349 ff. Man beachte die folgenden Beispiele: Germ. c. 23 potui humor ex bordeo aut frumento, in qutmdam similitudinem vini corruptus; Germ. c. 4 Ipse eorum opinionibus accedo, qui Germaniaepopulos nullis aliis aliarum nationum conubiis infectos proprium et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse
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Α. Α. Lund
merkt die Rede von einer irreversiblen Veränderung zu sein. Deshalb hebt Tacitus, wie schon erwähnt", an mehreren Stellen hervor, daß die materielle Kultur der Römer nur bis zur Grenze (ripa) vorgedrungen ist und möchte dem Leser damit einschärfen, daß das ursprüngliche Wesen der Germanen, — in unserem Zusammenhang ihre insita feritas\ferocia\virtus bellica, die die Voraussetzung dafür ist, daß sie ihre libertas bewahren können —, intakt ist. Die Richtigkeit dieser Deutung wird durch eine negative Parallele bestätigt: Agr. c. 11,4 plus tarnen ferociae Britanni praeferunt, ut quos nondum longa pax emollierit. nam Gallos quoque in bellis floruisse accepimus; mox segnitia cum otio intravit, amissa virtute pariter ac libertóte100. Um diesem zu entgehen, suchen viele junge vornehme Germanen von sich aus dorthinzukommen, wo gerade ein Krieg stattfindet: c. 14,2 si civitas in qua orti sunt longa pace et otio tor peat, plerique nobilium adulescentium petunt ultro eas nationes quae tum bellum aliquod gerunt. Denn was einen germanischen Stamm erwartet, der nicht mit Stärke seine Freiheit zu behaupten vermag, zeigt das Schicksal der Cherusker auf exemplarische Weise101. Simplicitas ist auf der einen Seite ein Zeichen der kulturellen Unberührtheit der Germanen, auf der anderen Seite ihres niedrigen kulturellen Niveaus. Die Völker im Innern des Landes geben sich beispielsweise i m m e r noch mit dem recht primitiven und ursprünglichen Tauschhandel ab, was symptomatisch ist (c. 5,3 interiores simplicius et antiquius permutatione utuntur), während römische Münzen nur nahe der Grenze als gültige Währung angesehen werden. Alle Germanen haben eine einfache, d.h. nicht spezialisierte, Kriegsausrüstung (c. 6,1 et eques quidem scuto frameaque contentus est). Die Art, wie sie wahrsagen, ist einfach (c. 10,1 sortium consuetudo simplex). Ihre Kleidung ist primitiv (c. 17,1 gerunt et ferarum pelles, proximi ripae neglegenter, ulteriores exquisitius, ut quibus nullus per commercia cul tus). Die Germanen begnügen sich mit einer Frau (c. 18,1 . . . prope soli barbarorum singulis uxoribus contenti sunt), was jedoch auch am Klima liegen kann102, das — dies muß zu ihrer Rechtfertigung gesagt werden — auch die einfache, um nicht zu sagen einfältige Denkweise der Germanen verursacht hat (c. 22 gens non astuta nec callida). Ihre Eßgewohnheiten sind einfach und primitiv (c. 23 cibi simplices, agrestia poma, arbitrantur (vgl. Liv. 38,17,13 Est generosías, in sua quidquid sede gignitur; insitum alienae terrae in id quo alitur, natura vertente se, degenerai·, siehe ferner Anm. 23). 99 Vgl. Anm. 91. 100 Ygi s zu rechnen.) Als Namensdeutung schlägt er deshalb p. 65 vor: „Heer-Schar, in der die Treuebindung eine große Rolle spielte". Um das Element con- noch stärker einzubeziehen, könnte man das modifizieren zu: „die durch drusi-jdrusti- { — „Verpflichtung gegenseitiger Treue") miteinander verbunden sind". d) Eburones. Hier wäre lautlich an sich sowohl eine Verknüpfung mit dem german. Wort „Eber" wie mit dem kelt. Wort für „Eibe, taxus bacata" möglich. Die Entscheidung zugunsten des Keltischen wird durch die Nachricht bei Caesar, bell. Gall. VI 31, nahegelegt, daß sich Catuvolcus, einer der beiden Könige der Eburonen, mit Eibengift getötet habe. Das ist gewiß so zu verstehen, daß er sein Leben mit Hilfe des seinem Volke heiligen Baumes beendet habe. (Ausführlicher dazu G. Neumann, in: RGA2, s. v. Eburonen.) e) Talliates. Dieser VN ist nur durch die in Ripsdorf bei Dollendorf gefundene Inschrift CIL 13, 2, 7777, belegt. - Zeiß, PWRE s.v., vermutet, daß er einen Teilstamm der Germani cisrhenani bezeichnet und hält ihn für keltisch, 9
Zu den bisher vorgeschlagenen Etymologien vgl. G. Neumann, in: RGA2, s. v. Condrusi, § 1.
112
G. Neumann
— ohne aber eine genauere Anküpfung von Stamm und Suffix vorzunehmen. Denkbar wäre vielleicht ein Anschluß an die altir. (denominale) Verbform -te lia (-talla) „es ist Raum da für etwas", die ein Substantiv * teIIa „Raum, Platz" voraussetzt. Dies könnte als Grundlage für einen ON gedient haben, ist freilich bisher im Gallischen sonst nicht belegt 10 . — Das Suffix -(i)atfindet sich mehrfach in keltischen Stammesnamen, vgl. die oben unter a) Caeracates gebuchten Parallelen. 2) die
germanischen
f) CubernijCugerni. Dieser VN ist in zwei Varianten belegt: die Form mit -gmehrfach epigraphisch, sowie bei Tacitus, dagegen die Form mit -b- bei Plinius (und einmal inschriftlich). Beide Varianten stammen demnach vermutlich aus verschiedenen Traditionen, beide sind jedenfalls als unverstümmelte echte Uberlieferungen ernst zu nehmen. (Dagegen scheint mir der Vorschlag von J. Bogaers, in: Naamkunde 16, 1984, S. 33 —39, in einer neugefundenen Xantener Inschrift den Namensrest ÇIB zu einem ON CIBfERNODURI] zu ergänzen, keineswegs zwingend, da er eine bisher unbelegte Variante des Ethnonyms postuliert und zwei der drei erhaltenen Buchstaben unsicher sind.) Eine Deutung war bisher nicht geglückt 11 , ein neuer Versuch soll hier vorgelegt werden. Vermutlich läßt sich das Nebeneinander der beiden Varianten am ehesten so auffassen, wie das von Naristi und 1Zaristi usw., d. h. es existieren für denselben Volksstamm zwei nebeneinander benutzte Namen, die aneinander anklingen — vielleicht auch ähnliche Bedeutung haben —, die etwa im Sinne einer poetischen Variation abwechselnd gebraucht werden, aber etymologisch nicht miteinander zusammenhängen 12 . 10
Zur weiteren idg. Anknüpfung des keltischen Stammes
telp-, 11
12
*tella
vgl. Pokorny, IEW 1062, s. v.
R. Muchs Vorschlag in: PBB 17, 1983, S. 157 und 213, Cugirni als „Kühe - begehrend, Sodomie treibend" aufzufassen, hat mit Recht keine Anhänger gefunden. Auch seine Deutung von Cuberni als „Kuhknechte" nennt Weisgerber, Rhen., S. 335, „unbehaglich". Eher erwägenswert wären Anknüpfungen an den keltischen VN Cubi, der seinerseits — trotz des Schwankens im Vokalismus — vielleicht zu altir. cob „Sieg" (Pokorny, IEW 610) zu stellen ist, oder an die germanische Wortsippe, zu der ahd. chubtsi „Hütte", ags. cofa „Gemach", mhd. kobel „enges Haus" gehören. Die beiden Lautformen erlauben weder eine Deutung der Art, daß die eine der beiden Varianten keltisch, die andere germanisch wäre, noch die Auffassung als eine ältere und jüngere germanische Form. (Da die Belege mit b schon aus dem 1. nach-chr. Jh. stammen, muß diese Graphie auch nicht als Ausdruck für ein w angesehen werden. Damit wird eine etwaige Verknüpfung mit dem bekannten germanischen Übergang von -w- zu -k-j-g-, über den zuletzt E. Seebold, in: IF 87, 1982, S. 172 ff., gehandelt hat, eher unwahrscheinlich.)
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen
113
Da die Belege durchweg alt sind (1.—2. Jh. nach Chr. Geb.), darf das cdes Anlauts — wie das in Cimbri, Vacalis usw. — als Graphie für german. χ aufgefaßt werden (darauf deutet schon das Chi von Χουβερν[οι, der einzigen griechischen Bezeugung des VN 13 ). Deshalb sei an das Nebeneinander von german. *xubila- (ahd. hubil, nhd. Hiibel, vor allem in ON) und *xugila- (nhd. Hügel) „kleine Anhöhe" erinnert (Pokorny, IEW 591 bzw. 589). - Nun sind beide Substantiva auch als r-Stämme bezeugt (ags. hofer, ahd. hovar „Buckel" bzw. mhd. hoger „Höcker"), daher kann die Konsonanz -rn- hier wie öfter durch Anfügung eines -n- an einen r-Stamm entstanden sein14. Beide Varianten des VN würden dann etwa „Bewohner der Hügelkuppen" bedeuten, vgl. Burgundiones usw. g) Frisiavones. Sie sind zwar in der antiken Literatur nicht als cisrhenani Germani bezeichnet, wohl aber für den gleichen niedergermanischen Raum bezeugt. Frisiavones, die bei Plinius bezeugte Namensform, ist die mit Hilfe der germanischen „schwachen" Deklination gebildeten Variante von Frisiavi. Dies seinerseits gehört mit einer suffixalen Erweiterung -avo- zum VN Frisii, meint also wohl etwa „die zu den Friesen Gehörenden, von den Fr. abstammenden". Für Frisii selbst ist eine schlagende, allseits angenommene Etymologie noch nicht gefunden. Der Anlautvokal f- legt aber von vornherein eine Deutung aus dem Germanischen nahe. Ohne jeden Anhalt ist dagegen der Vorschlag H. Kuhns, Kl. Sehr. III, 1972, S. 277-285, den VN mit balkan-idg. Namen wie Brisia, Bri^idia, Bri^inus (deren Bedeutung und genaue lautliche Relationen zur idg. Grundsprache wir nicht kennen), sowie mit Βρισα 15 , dem Namen eines Vorgebirges auf Lesbos, usw. zu verknüpfen. Er will ihn also im Rahmen seiner Hypothese von einem sogen. „Nordwestblock" als vorgermanisch auffassen; ausführlicher dazu Neumann, in: RGA2, s. v. Frisii. h) Lugnesses. Dieser Name ist nur einmal bezeugt, in CIL 13, 7640 aus Gondorf. Er ist vermutlich formal eine Adjektivbildung mit dem lateinischen Suffix -ensi-, das hier vulgären Schwund des η aufweist. Dies Suffix tritt sowohl an Gelände- und Ortsnamen wie auch an appellativische Ortsbezeich-
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15
Das mehrfach handschriftlich auftretende G im Anlaut ist bloße Majuskel-Verschreibung. Denkbar bleibt aber weiterhin, daß das aus dem VN Bastarnae, got.tt>idtm>airnausw. bekannte Suffix -rn- vorliegt. Dann wäre mit den Grundwörtern *x«ba- bzw. *xuga- zu rechnen. Zu welcher Sprache der ON Brisa gehört, ist unbekannt: Phrygisch, Hethitisch, Griechisch. Wäre er griechisch, dann ließe sich Kuhns wilde Verknüpfung strikt widerlegen: griechisch -s- geht nicht auf idg. -s- zurück.
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G. Neumann
nungen an; zum letzteren Typ, mit dem wohl auch hier zu rechnen ist, vgl. lat. (Plur.) amneses (zu amnis), Diana Nemorensis (zu nemus) usw. Der Wortstamm lugn- läßt sich mit dem german. Adjektiv *lugna-, */ugni„ruhig, still" verknüpfen, von dem ζ. B. altnord. Ion „ruhige Stelle in einem Fluß", dän. (dialektal) lune „Wasserloch" abgeleitet sind (Pokorny, IEW 689), der also für Stellenbezeichnungen durchaus geeignet war. Allerdings läßt er sich sonst nur aus dem Nordgermanischen belegen. i) Sunuces / Sunuci j Sunici. Sowohl als konsonantischer Stamm (Nom. Sing. Sunux), wie als o-Stamm belegt. Eine zwingende Etymologie dieses VN ist noch nicht gefunden. Der älteste Vorschlag stammt von R. Much, ZfdA 39, 1895, S. 22 f.: es liege eine Weiterbildung von idg. *sü- „Schwein" vor, bei welcher der Stamm mit einem Suffix -«- erweitert worden sei. Als verwandt zog Much altnord. sonar-gqltr und langobard. sonor-pair heran, die beide „Zuchteber" bedeuten und deren Vorderglied auf einen german. -a^-i^-Stamm *suna%- zurückweise. Den Stamm *sunu- faßt Much als Variante zu *suna%- auf. An ihn sei das german. Suffix -k- < idg. -g- (mit deminutiver Bedeutung) angetreten, vgl. ags. bulluc „junger Ochse" usw. — Gutenbrunner, GGAI S. 88, nimmt diese Deutung als e i n e Möglichkeit auf. Er meint, der Name Sunuci sei wohl den Germanen wie den Kelten verständlich gewesen. — Aber Muchs Deutung ist mit mehreren Schwierigkeiten behaftet. Erstens wird in der neueren Forschung, z. B. bei Jan de Vries, Altnord. etym. Wb., 21962, 530, der Stamm sonarausdrücklich — und überzeugend — von dem idg. Wort für „Schwein, Sau" getrennt, d. h. für die angebliche Erweiterung von *sü- mit einem «-Suffix gibt es keine stützende Parallele. Zweitens ist nicht ohne weiteres wahrscheinlich, daß neben *suna^¡-i^ ein gleichbedeutendes *sunu- gestanden hat. Als alternative Möglichkeit erwägt Gutenbrunner a. O., daß der VN von einem keltischen Gebirgsnamen *Sunukon „Sau-Wald" abgeleitet sei. Aber auch im Keltischen ist ein Stamm *sunu- „Schwein" nicht belegbar, ja sogar das Erbwort *sü- ist in diesem Sprachzweig nur höchst unsicher bezeugt. Wiederum anders W. Kaspers, in: PBB Halle 80,1958, 407, der vorschlägt, im Vorderglied mit dem Adjektiv *su-, *sü- „gut" (Pokorny, IEW 1037 f.) zu rechnen, das sowohl im Keltischen wie im Germanischen (hier aber nur spärlich, z. B. im VN Sugambri) belegt ist. Im Hinterglied nuc- sieht er eine Erweiterung der idg. Wurzel *neu- und übersetzt dann „die sich gar nichts gefallen lassen, die trotzig Drohenden (im Sinne von „Krieger")". Doch ist das semantisch gewaltsam und kann nicht überzeugen, die Wurzel *neu(Pokorny, IEW 767) heißt in den westidg. Sprachen „nicken, winken". Auch A. Tovar, in: Zschr. celt. Philol. 34, 1975, S.32 und 37, hat schon die Verknüpfung des VN german. *sü- „Eber" abgelehnt. Als eigene Deutung
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen
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schlägt er vor, der VN bedeute „von großem oder von gutem Umfang". Im Vorderglied sucht auch Tovar das Adj. *su-, sü- „gut". Im Hinterglied will er eine germanische (ablautende) Wurzel finden, die in got. binah „es ist erlaubt", Adj. ganöhs „reichlich, genug", ahd. ginuht „Genüge" usw. vorliege. Der Velar dieser Wurzel (die dem idg. *enek-, *enk-, *nek-, Pokorny, IEW 316 f., entspricht) wäre hier freilich am ehesten in der Schreibung h oder ch zu erwarten, vielleicht auch in schwankender Graphie, doch ist eine Schreibung c in der Tat nicht völlig auszuschließen. Über den Kompositionstyp spricht sich Tovar nicht deutlich aus: infrage kommt entweder ein Possessivkompositum (er vergleicht griech. εΰ-ογκος) oder ein Determinativkompositum (Hinterglied Adjektiv, Vorderglied verstärkendes Adverb wie aitisi, sü-svqrt „die ganz schwarze [Amsel]"). — Aber es bleiben Einwände: german. VN, die formal Possessivkomposita sind, kennen wir sonst kaum; zudem muß wohl gefragt werden, ob ein solcher Bedeutungsansatz für einen VN wahrscheinlich sei und ob speziell die Wurzel *nuh- im Germanischen benutzt wurde, um Menschen zu kennzeichnen. Birkhan, GKAR, S. 191, hält zwar an der von Much vorgeschlagenen Verknüpfung fest, erwähnt aber als Alternative die Möglichkeit, als Etymon das german. Subst. *sunu- „Sohn" (Pokorny, IEW 913 f.) heranzuziehen. Das ist ein entscheidender Fortschritt. Wenn man — wie schon Much (s. oben) — mit dem german. -/è-Suffix (mit deminuierender Bedeutung) rechnet, das z.B. W. Meid, Wortb. §153, bucht 16 , dann ließe sich der VN als ganzes germanisch auffassen. Er würde etwa „die jungen Söhne" bedeuten. An eine Bildung, bei der an einen german. Stamm das keltische ^-Suffix angetreten ist, wird man weniger gern denken, schon deshalb nicht, weil der offenbar germanisch gebildete GN fem. Sunucsalis doch wohl voraussetzt, daß die Germanen selbst die Form Sunuc- benützten 17 . — Da es mehrere Ethnonyme gibt, die „Nachkommen" und ähnliches bedeuten, ist hier die semantische Seite befriedigend; und da das Subst. *sunu- zwar im Indo-Iran., German., Bait, und Slaw. vorhanden ist, aber gerade im Keltischen fehlt, wäre damit die Zuweisung des VN innerhalb der hier infrage kommenden beiden Sprachen zugunsten des Germanischen entschieden. k) Texuandri. Dieser VN gehört eindeutig zu dem german. Adjektiv *texsn>a„rechts, südlich", das durch gotisch taihswa-, ahd. pesava- usw. belegt ist. 16
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Dies /è-Suffix ist im Niederdeutschen z. B. in Familiennamen sehr beliebt, vgl. Gerke, Helmke, Meinehe, Nildeke, Remeke, Schmiedeke usw.; der Name Soennecken entspräche recht genau dem VN Smuri. Meid a. O. S. 215 f. erwägt noch, das Suffix könne ein Relikt aus einer vorgermanischen, aber idg. Substratsprache sein, dann wäre also hier ebenfalls mit einer hybriden Bildung zu rechnen.
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G. Neumann
(Richtig schon Much, P B B 17, 1893, S.156f.; M. Schönfeld, G R M 4, 1912, S.251; Grienberger, I F Anz. 32, 1913, S. 42 ff., bes. 52, so ganz überwiegend auch die neuere Forschung.) — Was die Konsonantenfolge -ndr- angeht, so ist bei der Analyse der „schwache" Stamm *texsu>an- zugrundezulegen und mit dem kontrastierenden Suffix *-dra- des Germanischen zu rechnen, das ζ. B. auch in nhd. „der andere", „der vordere"16 vorliegt. Der „schwache" Stamm, der semantisch die „Bestimmtheit" markiert, wird hier von der Bedeutung des Adjektivs geradezu gefordert: es gibt nur „rechts" in Opposition zu „links", aber nicht „eine rechte Gegend" o. ä. (Vgl. auch das ahd. Adj. %esan>ünlth „rechts befindlich", mhd. %eswenhalp, wo ebenfalls der schwache Stamm vorliegt.) H. Kuhn, in: Westfäl. Forschungen 12, 1959, S. 17 f. = Kl. Sehr. III, S. 132, will diesen V N seinem hypothetischen „Nordwestblock" zuweisen; sein Einfall, es liege dasselbe Suffix vor wie in den kleinasiatischen Flußnamen Skamandros und Maiandros, ist weit hergeholt und abwegig. (Für das Element texswa- Anknüpfungen zu finden, hat Kuhn übrigens nicht versucht.)
3) die in der Überlieferung
schwankenden oder etymologisch
unklaren
1) Aduatuci / Atuatuci. Mehrere Deutungsversuche stehen nebeneinander, eine zwingende Lösung ist noch nicht gefunden. A. Carnoy, Mededeel. v. d. vereeniging vor Naamkunde te Leuven etc. 30, 1954, 96, rechnete mit dem kelt. Präfix at(e)-, einem Stamm ivatu- „durchwatbarer Platz" (zu lat. vadum usw.), der aber im Keltischen nicht sicher bezeugt ist, und dem Suffix -ucawie im ON Namucum „Namur", carruca „Pflug". — Dagegen nahm Pokorny, in: Zschr. celt. Phil. 21, 1940, 106, ein kelt. Determinativkompositum aus adu- „Wasser, Fluß" und *atu- „Furt" an. — Beide Forscher halten also den ON für die primäre Bildung, den V N für davon abgeleitet. Grundsätzlich ist aber der umgekehrte Vorgang wahrscheinlicher. — Wieder anders verknüpft Birkhan, G K A R 190 ff., den V N mit germanischen Wörtern (wie ahd. wadd), die etwa „Beuge, Knie" bedeuten. — Am plausibelsten erscheint der Vorschlag M. Gysselings, Bull. Comm. Roy. de Toponymie et Dialectologie 53, 1979, 39, die idg. Wurzel *wät- „in Ekstase befindlich" (Pokorny I E W 1113) heranzuziehen. Mittelirisch fäth „Prophezeiung u. ä." wird auf *wätuzurückgeführt. Der V N würde dann ursprünglich eine Kriegerschar bezeichnen, die sich zum Kampf in Ekstase versetzt: etwa „die ganz Ekstatischen"; kelt. ate- hat ja öfter steigernde Funktion. — Gysseling a. O. erinnert auch 18
Vgl. auch griech. δεξιτερός neben
δεξψός
(im Mykenischen und im pamphylischen Dialekt
belegt), also mit Ausstoßung des nur dem Positiv gehörenden Suffixes -uo-, — Zur Etymologie dieses V N — und speziell zum „schwachen" Stamm — zuletzt G. Neumann: Substrate im Germanischen?, N A W G 1971, S . 9 2 .
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen
117
schon an den Matronennamen Vatvims. Zu diesem vgl. noch Neumann, Sprachv. 1078 Anm. 28. m) Baetasii. Von den bisher vorgelegten Deutungsversuchen erscheint der R. Thurneysens (bei Holder, Altcelt. Sprachschatz I, 327) am ehesten annehmbar. Er stellt den VN zum alt- und mittelir. Adj. baith „stultus; töricht, launisch", freilich ohne zu erläutern, ob ein Name mit solch negativer Bedeutung wahrscheinlich sei. W. Meid weist aber brieflich darauf hin, daß mit einer älteren Bedeutung des Adjektivs zu rechnen sei, die Wildheit, Ausgelassenheit, im heroischen Bereich Tollkühnheit oder heldischen Furor umfaßt habe. Eine solche positiv markierte Bedeutung liege wohl schon in dem PN Baetorix vor; vermutlich komme bei diesem eine Übersetzung als „König des wilden Heeres" dem Sinn nahe. — Damit sind die dem Vorschlag Thurneysens anhaftenden semantischen Schwierigkeiten in einleuchtender Weise behoben. — Zur Etymologie des Adjektivs vgl. Pedersen, VKG I 56. Das Suffix -asio- als Bildung denominaler Substantiva liegt auch vor in gallisch mercasius „Sumpf (vgl. Pokorny, IEW 739), ferner in gallischen PN wie Crippasius, Muccasius, Multasius usw.; dagegen hat es im Germanischen kaum Anschluß. Demgegenüber sind die vorgeschlagenen Anknüpfungen des VN Baetasii an das Germanische schwächer. Gutenbrunner, GGAI S. 152, will den VN mit german. *baita- „Schiff, Boot, Einbaum" verknüpfen. Dazu erinnert er an die mittelalterlichen Schiffsumzüge mit religiösem Charakter, doch erscheint das als zu weit hergeholt, zumal wir sonst keine german. VN kennen, die auf Kultfeiern hinweisen. (Die an sich naheliegende unmittelbare Deutung als „Schiffer, Seefahrer" kommt kaum infrage, da die Baetasii im Binnenland gewohnt haben.) — Auch formal macht diese Deutung Schwierigkeiten: in Anm. 2 räumt Gutenbrunner ein, daß sich für ags. bât, altnord. beit nicht nachweisen lasse, daß sie auf einen alten -a%¡-i%-Stamm zurückgingen. — Kaspers, PBB Halle 80, 1958, S. 408-410, stellt den VN zu der Wurzel, die in nhd. „beißen", altnord. baita „jagen, töten" vorliegt und deutet ihn als „die scharf Zupackenden, die Jäger, Verfolger" (im kriegerischen Sinn). Das würde zwar semantisch passen — jedenfalls sobald man die nordgerman. Bedeutungsnuance schon für diese frühe Zeit und diesen Raum voraussetzt — ; dagegen ist seine Erklärung des -s- Suffixes abwegig. — Von derselben Wurzel geht Gysseling, in: Akten des VI. Internat. Kongresses für Namensforschung, Bd. II, 1961, S. 323, aus, wenn er vorschlägt, den VN mit dem got. Adj. baitrs „bitter" zu verknüpfen. Weder Gutenbrunner noch Kaspers oder Gysseling vermögen aber parallele german. Bildungen mit dem Suffix -asioaufzuweisen. — Birkhan, GKAR S. 193 f., betont mit Recht, daß der VN „ganz unklar" sei. Seinerseits weist er vorsichtig auf die Möglichkeit hin, an
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G. Neumann
kymr. baedd „Eber" anzuschließen. (Damit hält er letztlich ebenfalls an der idg. Wurzel *bheidh- „spalten", Pokorny, IEW 116 f., fest, zu der auch „beißen" gehört.) n) Paemani. Neben dieser Form findet sich in den Caesar-Handschriften der Beta-Klasse (die als die dem Archetypus nächststehende gilt) und bei Orosius die Variante Caemani. Zweifellos beruht e i n e der beiden auf einem sehr alten Schreibfehler; so könnte in bell. Gall. 2, 4, 10 ζ. Β. die Lesart Caemanos durch das vorangehende Caerosos mit dem gleichen Anlautbuchstaben verursacht worden sein. Zudem wird Paemani durch das Vorkommen des VN Poemaneni in Galatien und des GN Poemana im kelt. Hispanien gestützt, die offenbar — trotz des leichten Unterschieds im Diphthong der Stammsilbe — verwandt sind. Für keltische Herkunft aller drei Namen spricht schon ihre geograpische Verteilung; auch das anlautende p- ist durchaus kein Gegenargument, — es kann ja regelrecht aus idg. k• entstanden sein, so daß eine der idg. Wurzeln *k~eivorläge. Doch ist eine überzeugende Etymologie noch nicht gefunden. Klar abzuraten ist davon, das griech. Subst. ποιμήν „Hirt" als verwandt heranzuziehen, wie das Pokorny, in: Vox Romanica 10, 1948/49, S. 228, erwogen hat. (Idg. p- im Anlaut würde im Keltischen regelrecht schwinden 19 ; und die idg. Wurzel *pö(i)- „weiden", Pokorny, IEW 839, ist gerade im keltischen Sprachzweig n i c h t belegt.) — Auch der alte Vorschlag Muchs in RAG 1 II 184, Paemani in *Palmani zu korrigieren und es mit dem (erst Jahrhunderte später bezeugten) ahd. Gau-Namen Falmenna zu identifizieren (unter Annahme von Lautsubstitution), war gewiß zu kühn. — Ebenso unannehmbar erscheint der Vorschlag Gutenbrunners, in: Volk und Rasse 7, 1932, 159, von einem german. *Faimanös auszugehen; dabei sei p- Lautsubstitution für das dem Keltischen ungeläufige Phonem f . Etymologisch gehöre *Faimanö^ entweder zu *faimö- „Vereinigung, Zunft" (vgl. mittelniederländ. veime) oder zu aitisi, feiminn „blöde, scheu" (als Spottname). o) Segni. Auch hier stehen mehrere vage Möglichkeiten nebeneinander. Man könnte an die kelt. Wortstämme *sego- „Stärke" (Pokorny, IEW 888 f.) oder *seg- „säen" (ebd. 887) erinnern. (Weitere Deutungsvorschläge bei Birkhan, GKAR S. 202 Anm. 354. Dort bucht er auch einen Vorschlag Bj. Collinders: es liege eine Keltisierung von german. *pegnö% „die Gefolgsmannen" vor. Semantisch würde das passen; die Schwierigkeit liegt auf der f o r m a l e n Seite, weil es für die da vorausgesetzte Lautsubstitution im Anlaut keine Parallelen gibt.) 19
Einige wenige Ausnahmefalle mit erhaltenem p- scheint es an den Rändern des keltischen Sprachgebiets gegeben zu haben.
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen
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Eine neue Überlegung sei hier zur Diskussion gestellt. Da die lateinische Graphie -gn- in den VN Reudigni, Marsigni usw. für german. -ng- steht, könnte man an sich durchaus auch die german. Verbalwurzel * setig- „brennen (trans.), dörren" (idg. *senk-) (Pokorny, IEW 907) heranziehen. Ein nomen actoris „die Sengenden" scheidet freilich aus, da dies in der Wurzel den Ablautvokal -a- aufweisen müßte. Denkbar wäre aber wohl, von einer ^-Ableitung auszugehen, etwa *sengjö^ „die im Trockengebiet wohnenden". Das Grundwort hätte vielleicht *sengö fem. (Typ got. bida „die Bitte" usw.) gelautet, vgl. zur Semantik mhd. senge „Trockenheit, Dürre". — Bei Segni müßte man dann erhaltenes e voraussetzen, wie z. B. im VN Tencteri. p) Supeni I Sopeni. Dieser Name ist nur ein einziges Mal belegt, und zwar in dem — mit vielen Fehlern behafteten — Itinerarium Antonini (wohl aus dem 3. Jh. nach Chr. Geb.). Dort heißt es p. 373 über den Ort Zülpich: Tolbiaco vicus supenor (so Handschrift D, dagegen V supenorum). Demgegenüber sagt Tacitus, hist. 4,79, über die Einwohner von Zülpich: Tolbiaci in finibus Ubiorum. — Man wird damit rechnen müssen, daß die Form supenor korrupt ist, etwa entstellt aus Ubiorum oder superior, superorum2®, superiorum, — weniger wahrscheinlich aus Cugernorum. (supra in der Bedeutung „nördlich" und das dazugehörige Adj. superior treten in geographischen Angaben häufig auf.) Angesichts dieser unsicheren Überlieferung verbietet es sich jedenfalls, diesen angeblichen VN oder Gaunamen etymologisch zu deuten. q) Tungri. Bei diesem VN gibt es kaum graphische Varianten, die griech. Schreibung bei Ptolemaios 2, 9, 5 lautet Τοΰνγρον, der heutige ON, der an den VN anknüpft, Tongern. — Keine der bisher vorgetragenen etymologischen Anknüpfungen erscheint zwingend. Auf J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, 1848, p. 788, geht der Vorschlag zurück, german. *tungön- „Zunge" heranzuziehen; der VN bedeute „Schreier". Doch bleiben dabei die Fragen der Wortbildung ungelöst. — Mehrfach wiederholt werden in der Literatur ferner die Verknüpfungen mit ahd. jangar „beißend, scharf, munter", mittelniederdt. tanger „dass." (Pokorny, IEW 201) oder mit german. *tungla- „Gestirn" (got. tuggl, an. tungt), wobei dann der VN als „die Hellen, Leuchtenden" aufgefaßt wird. Ferner sind ahd. tunc „unterirdische Webestube" oder tunga „Düngung" herangezogen worden. Dem steht als Verknüpfung mit dem Keltischen der von Zeuß, Gramm. Celt, S. 778, stammende und seither ebenfalls mehrfach wiederholte Hinweis auf einen keltischen Wortstamm für „Eid, schwören" gegenüber: kymr. twng, ir. tong- (Pokorny, IEW 1055) usw. 20
So P. Joerres, in: Bonner Jbb. 100, S. 114 ff., und Korrespondenzblatt der Westdt. Zschr. für Geschichte und Kunst 25, 1906, S. 2 8 - 3 1 .
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G. Neumann
Eine ausführliche Würdigung des Forschungsstandes (mit der Anführung weiterer etymologischer Vorschläge) gibt Birkhan, GKAR, p. 199 Anm. 348. Auch er urteilt: „Die Etymologie entzieht sich weiterhin unserem Zugriff. Auch hier sei eine eigene Überlegung vorgetragen. Rein formal möchte man den VN am ehesten als ein Adjektiv auf -ro- auffassen. Diese sind überwiegend primäre deverbale Bildungen mit meist aktivischer (oder intransitiver) Bedeutung und oft schwundstufig, vgl. Meid, Wortb. §81. Wenn der VN german. Herkunft wäre, könnte man deshalb auch mit einer Wurzel *tengoder *tveng- rechnen. Für die erstere findet sich kein Anhalt im Germanischen, dagegen liegt *tveng-2X vor in den Verben ahd. %wangan, £mengen „kneifen, zwacken", ags. twengan „klemmen, kneipen". Darf man eine solche Verbalbedeutung in einem german. VN annehmen? III. Die
'pagus'-Namen
Zur Kaiserzeit finden sich im Gebiet der Tungri mehrere ^wg».r-Namen, in deren Attribut (Gen. Plur., Gen. Sing, oder Adjektiv in Kongruenz mit pagus) sich vielleicht die Namen von Ethnien verbergen, die ursprünglich selbständig gewesen waren. a) pagus Carucum. Der Gen. Plur. weist daraufhin, daß ein Ethnonym *Caruces zugrundeliegt, das freilich noch keine weitere Deutung gefunden hat. Möglich erscheint, daß es zu dem kelt. Wort für „Hirsch" gehört, das in kymrisch carw, kornisch carow, bretonisch karo vorliegt und mit lat. cervus unmittelbar verwandt ist. (Dagegen ist eine Verknüpfung von Caruces mit Caeracates s. o. aus mehreren Gründen wenig wahrscheinlich: erstens wegen des Unterschiedes im Vokalismus der Stammsilbe, und zweitens erscheint eine Verkürzung des auf Tektal ausgehenden Tiernamens *kairak- zu *karu- nicht plausibel.) — Andere Deutungen bleiben daneben zu erwägen. b) pagus Vellaus. Dieser pagus-Name enthält wohl denselben Wortstamm wie das gallische Ethonym lSellavi, etwa ein Subst. *uelno- „Vorzug, Wahl" (Pokorny, IEW 1137), ist also vermutlich ein PN mit rühmender Bedeutung. c) Vilciat-. Belegt ist nur der Genetiv pagi Vilciatis\ der Nominativ dazu kann * Vilcias gelautet haben. — Das Suffix weist eindeutig auf eine keltische Bildung vgl. oben S. llOf. unter Caeracates. — Der Wortstamm könnte an sich sowohl keltisch wie germanisch gewesen sein: der idg. Befund führt auf eine 21
Diese germanische Wurzel läßt sich nicht unmittelbar auf eine idg. zurückfuhren, sondern ist vielleicht mit Hj. Falk—A. Torp: Wortschatz der germanischen Spracheinheit. 4 1909, S. 174, kontaminiert aus *pveng- „besiegen, zwingen" und *ta(n)g- „reißen, kneifen". Die letztere Wurzel liegt im oben erwähnten ahd. Adj. ganger vor.
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Wurzeldublette *uelk-¡*uelg- (Pokorny, IEW 1145). Erstere ist bezeugt u.a. durch altir. fole „Wasserflut", ahd. weih „feucht", lett. valka „fließendes Wasser, feuchter Platz" usw.; die zweite durch ahd. welc „feucht", lit. vtlkSnas „feucht" usw. — Beide können leicht die Grundlage für eine Stellenbezeichnung gebildet haben. Hier ist es wegen des keltischen Suffixes wohl wahrscheinlicher, daß auch das Grundwort keltisch war. — Die ältere Forschung hält den luxemburgischen Flußnamen Wilt% für verwandt, vgl. Weisgerber, Rhen. 331. d) Catualium. Hierher gehört vermutlich auch das Hapax Catualium, das auf der Tabula Peutingeriana als Name einer Station an der von Noviomagus (Nijmegen) nach Atuaca ( = Atuatuca, heute Tongern) führenden Straße erhalten ist. Es läßt sich als Gen. Plur oder auch als Adjektiv auf -io- auffassen; in jedem Fall führt es zurück auf einen Nom. Plur. *Catuali bzw. *Catuales, der sich als ^«¿«i-Ñame verstehen läßt. Das Vorderglied ist sicher keltisch catu- „ K a m p f , der ganze Name läßt sich als entstanden aus *catu-valo- „kampftüchtig" (mit Synkope) erklären, vgl. A. Holder: Alt-celt. Sprachschatz. Bd. 1. S. 848. IV. Die Personennamen Hierzu besitzen wir mehrere wichtige Aufsätze Weisgerbers, vor allem „Das römerzeitliche Namengut des Xantener Siedlungsraumes", „Zum Namengut der Germani cisrhenani" und „Erläuterungen zur Karte der römerzeitlich bezeugten rheinischen Namen", alle drei wiederabgedruckt in „Rhenania Germano-Celtica". Neumann, Sprachv., bes. S. 1068 ff., hat mehrere der PN, die bei Weisgerber als einheimisch oder zum „undurchsichtigen Restbestand" gehörend gelten, an lat.-griech. PN angeschlossen. Diese PN sind überwiegend auf Inschriftsteinen der Kaiserzeit belegt, also wahrscheinlich in ihrer Mehrzahl jünger als Caesars Bericht. Wir können demnach nicht immer sicher sein, ob sie den cisrhenani Germani zuzuordnen sind oder späteren Einwanderungswellen, etwa den Ubiern. Sprachlich gehören sie zu mehreren Gruppen: a) lateinisch-griechischer Herkunft: Antiquus, Gracileius, Ingenuus, Libo, Oclatio (zu oculus), Verecundus, Vervecco (zu vervex), Vitorias (zu victor), bzw. Abascantus (identisch mit άβασκαντός), Compsa (zu κομψός), Chartius (zu χαρτός, dem Verbaladjektiv von χαίρω), ferner die zahlreichen Bildungen mit den Suffixen -ino- und -into- wie ζ. B. Probinus oder Securinius. b) Aus dem Imperium Romanum sind von den verschiedensten Provinzen her Fremde an den Rhein gekommen. Die PN Aulutra, Aurotra, Bititralis, Mucatra, Mucatralis oder Eptacentis ζ. B. zeugen für Thraker. Aber auch mit
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G. Neumann
PN aus anderen Bereichen des Balkans, aus Kleinasien, aus Syrien, Palästina, Ägypten, Hispanien usw. ist durchaus zu rechnen. c) keltnische: Zweistämmige Vollnamen liegen vor in Ambiorix, wohl auch in Velugnius.
Catuvolcus'22,
d) germanische: Bei ihnen finden sich bemerkenswerterweise nur wenige der typischen zweistämmigen Vollnamen, ζ. B. Freioverus, Giboaldus (zu diesem vgl. R. Egger, Bonner Jbb 154, 1954, S. 152 ff.). Von den einstämmigen Bildungen ist hier vor allem die Gruppe Lubainis, Vanaenia, Vasaenis zu erwähnen, vgl. schon Sprachv. S. 1071 f. Alle drei Namen sind zweifellos germanisch, formal sind es Abstraktbildungen mit den Bedeutungen „Hoffnung", „Mangel" 23 und vielleicht „Stärke". Dafür, daß solche Abstrakta als PN benutzt werden, gibt es im germanischen Bereich dieser Jahrhunderte kaum Parallelen. Völlig germanisch ist vielleicht auch Sedavo, den schon Gutenbrunner, GGAI p. 13, einleuchtend mit german. *sedu- „Sitte" verknüpft. Da liegt Hochstufe des Suffixes vor, eine Ablauterscheinung, die z. B. auch in der uDeklination des Gotischen noch in Resten erhalten ist. (Weitere PN mit diesem Wortstamm bei Förstemann, Ahd. Namenbuch I, S. 1315f., z.B. Siduger, Sidugath.) Auch beim PN fem. Gamaleda sind wahrscheinlich sowohl Stamm (gamal„alt", vgl. ahd. Gamalberga, Gamaltrudis usw.) wie Suffix (-eda, vgl. Veleda und wohl auch den GN fem. Ricagambeda) germanisch. Für Hurmio sei hiermit eine Verknüpfung mit dem gut bezeugten germanischen PN-Element *wurmi- „Schlange, Wurm, Drachen" vorgeschlagen 24 . Das H am Wortanfang wäre dann — wie in zahlreichen anderen Fällen (vgl. z. B. die VN Herminones, Hermmduri, Helvecones und unten den PN Haldacco) als rein graphisch aufzufassen. Die Schreibung mit u (statt vu oder ähnlich) entspräche der von got. Ulfila (zu wulfs), Uldila (zu wulpus), Unscila (zu wünsch), u.a. — Das (in PN mask, dieses Raums häufige) Suffix -iön-\-jönkann sowohl lateinisch wie germanisch sein. Häufiger aber sind solche Bildungen, bei denen der Namensanfang von einem germanischen Nominalstamm gebildet wird, dem jeweils ein kaum als 22 23
24
Anders aber Birkhan, GKAR, S.21 Off. So nach H. Krähe, in: IF 66, 1961, S. 37. Allerdings wäre die negative Bedeutung des Namens erklärungsbedürftig. Anders, aber kaum wahrscheinlich, Birkhan, GKAR S. 204, Anm. 361: vieil, zu gallisch κοΰρμι „Bier". Zum Namenselement wurmaji- vgl. G. Schramm, Namenschatz und Dichtersprache, 1957, III und G. Müller, Die theriophoren Personennamen der Germanen, 1970, 64 ff.
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germanisch aufzufassendes suffixales Element folgt. Für diesen Typ geben wir fünf Beispiele: 1) Friatto / Friattius. Bei ihnen liegt sicherlich der german. Adj.-Stamm frija„frei" und das romanische Suffix -//- vor (vgl. Bonitta, Caritta, Iulitta, Suavitta, Verattius usw.). 2) Nev(i)tto weist das gleiche Suffix auf; sein Stamm gehört zu german. *niwja- „neu", vgl. Vollnamen wie Νεβιογαστης, ahd. Niwirat usw. 3) Der PN Gangusso gehört vermutlich zu einem germanischen Vollnamen wie etwa Gangulf, hat aber ein gallo-romanisches hypokoristisches Suffix angenommen, das ζ. B. auch im Gen. Atussonis vorliegt, ferner wohl auch (mit -w-Erweiterung) in Iedussius, sowie in den bei Weisgerber, Rhen., S. 285, gebuchten Bildungen. 4) Bei Haldacco liegt vermutlich der in PN beliebte Stamm aida- (mit irrationalem h-) vor und ein nicht-germanisches -¿r-Suffix25. 5) Auch Leubasnius (mit mehreren Varianten wie Lobasinus, Loubasnus, Laubasnianus, dazu zuletzt Neumann, Sprachv. 1071) gehört wohl zu diesem Typ; für den Ausgang -as(i)n- gibt es mindestens zwei Erklärungsmöglichkeiten: entweder ist an einen Stamm leuba- ein Suffixkonglomerat -s-n- angetreten, oder es liegt ein -/^/-^-Stamm *liuba^-¡lauba^- zugrunde (so Much, Der Name Germanen, S. 31). Ob das -«-Suffix dann eher dem Galloromanischen oder dem Germanischen zuzuweisen ist, wird man am besten offen lassen. Insgesamt gibt es für diesen hybriden Bildungstyp mehrere Parallelen. Unmittelbar vergleichen lassen sich westgotische PN wie Gumellus oder Gundellus, 25
Das mehrfach in den vorletzten Silben der Konsonant verdoppelt wird, halte ich für eine (vielleicht regionale) Erscheinung des Vulgärlateinischen. Sie findet sich in mehreren Namen, die rein-lateinisch sind wie Apriliis, Belliccus, Germaniccus, Lucillius, Magina (zu griech. μάγειρος „Koch), Regima, Severra, Tertinnius (mit Suffix -innio- statt häufigem -inio-), Vervecco. Auch der zum VN der Sunuci gehörende PN Sunucco ist nach diesem Muster gebildet, der keltische PN Cobrmnis gehört unmittelbar zu den PN Covruna fem., Cobrunus usw., die Lochner von Hüttenbach, in: Römisches Österreich 11/12, 1983/84, S. 202 f., überzeugend in die Elemente cob- „Sieg" und run- „Geheimnis" zerlegt. Der keltische PN Exsobinno (aus Exobnus „ohne Furcht") schließlich ist mit Hilfe eines anaptyktischen Vokals an diesen Typus angeglichen worden. So entstehen Ausgänge wie -icco-, -ecco-, -ucco- usw., die als Suffixe empfunden und dann an fremde, d. h. keltische oder germanische Namen angehängt werden. — Taluppa ist vermutlich aus lat. talpa „Maulwurf" (wiederum mit Anaptyxe und zwar mit velarem Sproßvokal nach l pingue) entstanden. (Ein lat. PN Talponius ist belegt.) — Anders aber zu dieser Namengruppe Birkhan, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 108, 1972, S. 206 ff. - Vgl. Sommer-Pfister, Handbuch der lat. Laut- und Formenlehre, 1977, §118 14 Anm. 3: „In der späteren Vulgärsprache findet sich Gemination in allen möglichen Stellungen ...".
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G. Neumann
bei denen J. M. Piel—D. Kremer, Hispano-gotisches Namenbuch, 1976, S. 341 f., mit Recht annehmen, daß an einen germanischen Stamm ein lateinisch-romanisches Suffix angetreten ist. (Auch viele noch heute übliche spanische Namen sind so gebaut: Fernande% besteht aus dem german. PN Ferdinand und einem roman. Suffix; oder vgl. französ. Herriot, Chariot, wo an die fränk. Namen Henrich, Karl ein Dentalsuffix angetreten ist, das mit dem in Friatto, Gumattius verwandt ist.) — Genau Entsprechendes läßt sich auch gelegentlich an den langobardischen PN in Italien beobachten; so enthalten z.B. die PN Grimacio und Guarnucio jeweils einen germanischen Stamm, an den ein romanisches Suffix angetreten ist. Dazu vgl. etwa noch den italienischen Familiennamen Bertolucci, der aus germanisch *Berht-wald- und dem romanischen Suffix -uccio- besteht. Vergleichbar ist auch ein PN-Typ, wie er anderthalb Jahrtausende später im deutsch-slawischen Übergangsgebiet entsteht: Hansak, Hensellek, Furmanek, Fri tische (zum deutschen Vornamen Frit%, der eine Kurzform von Friedrich mit hypokoristischem J·-Suffix darstellt), Schneidr^ik, Schwar^at usw. Auch hier ist an ein germanisches (bzw. deutsches) Namenselement jeweils ein Suffix aus einer slaw. Sprache angetreten: die zahlenmäßig dominierende slawische Bevölkerung übernimmt deutsche PN, paßt sie jedoch mittels verschiedener Suffixe in ihr eigenes Namensystem ein. — Aus dem deutsch-litauischen Berührungsgebiet vgl. PN wie Henseleit, Kirschnereit, Schneidereit, usw. Alle diese Fälle haben gemeinsam, daß sich eine germanische Sprache gegenüber einer übermächtigen anderen im Rückgang befindet. In der Personennamengebung, wo man erfahrungsgemäß besonders konservativ ist, halten sich bestimmte Namenstämme noch, aber sie werden eben mit Hilfe der galloromanischen bzw. slawischen (und baltischen) Suffixe den PN-Typen dieser Sprachen angeglichen. Zum Schluß sei noch auf einige PN (in Auswahl) hingewiesen, bei denen ein etymologischer Anschluß an eine der beteiligten Sprachen noch nicht überzeugend gelungen ist: Madicua, Pagadunus, Taneh(i)us, Tausius26, Velmada. Hier muß künftige Forschung weiterhelfen. V. Die Götternamen Die grundlegende Monographie ist S. Gutenbrunners Werk „Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften" (GGAI) aus dem Jahre 1936. Auf ihr konnten neuere Aufsätze aufbauen. Eine zusammenfassende Behandlung dieses Themas ist seitdem nicht wieder erschienen. 26
Vgl. Birkhan, GKAR 187 Anm. 298. Die Verknüpfung mit altnord. pausn „Lärm, Getümmel", ahd. dösön „brausen" erscheint möglich. Das Erscheinen von t statt zu erwartendem th ließe sich am einfachsten als graphisches Phänomen erklären, vgl. oben zu Tungri.
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a) Halamardus. Die in Horn bei Roermond (NL) gefundene Inschrift CIL 13, 8707, bietet Marti Halamardo sacrum. Aufgrund dieses Fundorts erscheint es als möglich, daß dieser Gott von einem der Stämme der cisrhenani Germani verehrt wurde. Den Beinamen Halamardus hat N. Wagner, in: BNF N.F. 18, 1983, 63 ff., überzeugend als Rektionskompositum „helden-tötend" erklärt. Seiner Untersuchung gelingt es, die formalen Schwierigkeiten zu beseitigen, die den im Kern richtigen älteren Erklärungen von Th. von Grienberger, in: ZfdA 35, 388 ff., und Gutenbrunner, GGAI 50 f., noch anhafteten. b) Magusanus. Die Weihesteine, die Herculi Magusano (Dat.) dediziert waren, stammen aus den Gebieten der Batavi, Marsaci, Ubier, aber auch der Cugerni und Baetasii. Auch die Tungri haben diesen Gott offenbar verehrt. Die letzte — und beste — Deutung dieses GN stammt auch hier von N. Wagner, in: Bonner Jbb. 177, 1977, 417—422. Er erklärt ihn als germanisch *Magu%jsna- „der zur Kraft, Stärke Gehörende; mit Kraft Ausgestattete". (Die älteren Deutungen sind a. O. ausführlich diskutiert.) c) Sunucsalis fem. Daß der Name dieser Göttin zum VN der Sunuces (s. oben 114 f.) gehört, ist deutlich; daher wird man ihn als ursprüngliches Epitheton einer Stammesgöttin ansehen. Die beiden Glieder des Namens Stäben miteinander, genau wie im GN fem. Garmangabis. Das Hinterglied sal(i)- hat Gutenbrunner, GGAI 87ff., umsichtig diskutiert; über den damaligen Stand ist die Forschung bis heute kaum hinausgekommen: Allgemein — und wohl mit Recht — wird angenommen, daß für sal(t)- eine Deutung aus dem Germanischen zu suchen sei. Drei Vorschläge stehen nebeneinander: 1) Die Verknüpfung mit got. sëlei „Güte", die semantisch passen würde, scheitert daran, daß altes ê in dieser Zeit in Westgermanien noch erhalten ist (vgl. VN Suebi usw.). Und von der idg. Wurzel 6. sei- „günstig, guter Stimmung; begütigen" (Pokorny, IEW 900) gibt es offenbar weder im Germanischen noch in einer anderen idg. Sprache die ablautende Variante *söl-, die für sali- als Voraussetzung zu fordern wäre. 2) Der neue Vorschlag Tovars, in: Zschr. celt. Phil. 34, 1975, 38 Anm. 28 a, identifiziert sal(i)- mit dem germanischen Suffix -sia- (got. skohsl „böser Geist", wörtlich etwa „Schüttler, Vorgang des Schütteins" usw.; zum Typus vgl. Meid, Wortb. §90). Aber — von lautlich-formalen Einzelheiten abgesehen — haftet dem die Schwierigkeit an, daß dies Suffix d e v e r b a l e Nomina bildet, und nicht denominale. So muß auch dieser Ansatz gewiß beiseite bleiben. 3) Der bei Gutenbrunner, GGAI 89, gebuchte Vorschlag Muchs, an aitisi. salr „Boden, Halle" sowie lat. solum anzuknüpfen und den GN Τ (erra Batav(o)r(um) zum Vergleich heranzuziehen, macht im Semantischen Schwierig-
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keiten, denn aitisi, salr heißt eben nicht ,terra', wie Much postulierte. (Lat. solum bleibt vermutlich als unverwandt fern 27 .) Das heißt, die Deutung als Erdgöttin scheidet aus. — Trotzdem kann die hier herangezogene germanische Wortsippe, die zur idg. Wurzel 1. *sel- „Wohnraum" (Pokorny, IEW 898) gehört, wohl zum Verständnis des Namens helfen. Formal ist das Hinterglied -sali- des GN am ehesten als -iö- Stamm (got. bandi- „Band", eigentlich „das Bindende") im Wert eines nomen actoris aufzufassen 28 . Entsprechend ließe sich *Sunuc(a)-saliöübersetzen als „die den Sunuker Wohnmöglichkeit, Siedlungsraum verschafft, die die Sunuker behaust". Es läge der in altgermanischen Namen besonders häufige Typus des Rektionskompositums vor. — Ein solcher Name erscheint sinnvoll, zumal er gerade in Bereichen auftritt, wo die Sunucer anscheinend innerhalb des Ubier-Gebiets verstreute Siedlungen besaßen. d) Vagdavercustis. Mit Gutenbrunner, GGAI S. 102, ist dieser weibliche GN zum Teil im Gebiet der Cugerner bezeugt. Den Forschungsstand muß man hier als unbefriedigend bezeichnen. Doch ist jedenfalls die germanische Herkunft des Namens wahrscheinlich, was für unsere Fragestellung wichtig ist. — Anscheinend liegt ein dreiteiliges Kompositum vor; die beiden letzten Elemente ver-custi- hat Kluge, Urgerman. p. 130, als ein Kompositum aus wer„Mann" und dem Verbalsubstantiv *kusti- „Wahl" aufgefaßt. Das ist plausibel. Die altisländ. Parallele mann-kostr deutet darauf hin, daß dies Kompositum etwa „männliche Tugend" bedeutet. — Das Vorderglied vagda- dagegen ist bis heute nicht sicher gedeutet, daher bleibt der Sinn des Namens insgesamt im Dunkeln. (W. Steinhausers Vorschlag, in: Wiener prähist. Zeitschr. 23, 1936, S. 172, den GN als „die gefeierte Tüchtigkeit" oder „die Kriegstüchtigkeit" zu übersetzen, vermag kaum zu überzeugen.) Vielleicht enthält vagdadas german. Suffix -da, mit dem Abstracta, ζ. Β. nomina actionis, gebildet werden; schon Schönfeld, in: GRM 4, 1912, S. 255, vergleicht ahd. kiwegida „vegetamen, belebende Kraft". e) Vihansa fem. Dieser Name einer Göttin steht auf einer in Tongern gefundenen Bronzetafel. Daß er germanisch ist, darüber herrscht Einigkeit, die Zugehörigkeit speziell zum Tungrischen ist jedenfalls wahrscheinlich. Das Hinterglied ist german. *ansu- „Gott, Göttin", das wohl hier im lateinischen Kontext in ein lat. Femininum auf -a umgeformt worden ist. Das Vorderglied gehört entweder zu *wtga- „Kampf" oder — lautlich wahrscheinlicher — zu wika- „heilig" (vgl. Gutenbrunner, GGAI S. 101 ff.). 27
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Es gehört eher zur idg. Wurzel *sgel-, Pokorny, IEW 1046. Anders aber Ernout-Meillet, DEL. Vgl. den GN fem. Garmangabis, wörtlich etwa „die das Begehrte gibt", zu *gabiö- „Geberin".
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VI. Schlußfolgerutigert Sowohl unter den Ethnonymen wie — noch deutlicher — unter den Personennamen und Götternamen gibt es solche mit eindeutig germanischer Etymologie 2 9 . Bei den Ethnonymen überwiegen freilich die keltisch zu deutenden 30 , bei den P N treten auch zahlreiche lateinische 31 auf. Bei den G N schließlich ist die interpretatio Romana mehrfach so eingetreten, daß der germanische Name als B e i n a m e hinter einer lateinischen Gottesbezeichnung steht: Mars Halamardus, Hercules Magusanus. — Dieser Befund insgesamt läßt sich durchaus so auffassen, daß die germanischen Elemente R e s t e sind, sprachliche Relikte, die eine Bevölkerung sich bewahrt hat, welche einen vehementen Prozeß der Akkulturierung an ihre gallo-römische Umgebung durchläuft. Dann läge hier ein Phänomen vor, das sich auch sonst häufig beobachten läßt: wenn eine Volksgruppe zu einer neuen Sprache übergeht, behält sie doch ihre ererbten P N noch lange bei; ein gutes Beispiel dafür liefern die Völkerschaften im südlichen Kleinasien, die sich nach dem Alexanderzug zwar sehr rasch hellenisieren, aber ihren Kindern doch viele Generationen lang die tradierten (letztlich luwischen) P N geben. — Noch näher liegt es, auf die zahllosen Familiennamen fränkischer Herkunft (vom Typ Flaubert, Guillaume, Rejnaud usw.) im heutigen Frankreich hinzuweisen. Man wird — durchaus mit Recht — fragen, warum sich so viele dieser Ethnonyme und P N nicht sicher deuten lassen. Bei dem Versuch einer Antwort ist mehreres zu bedenken. Zunächst muß man darauf hinweisen, daß uns sowohl das Germanische wie das Keltische dieser Zeit ja fast ganz unbekannt sind (und durch sprachhistorische Erwägungen nur in Umrissen erschlossen werden können). Zweitens ist in dieser Epoche eines gewaltigen Einschmelzungsprozesses eben auch mit h y b r i d e n Namensbildungen zu rechnen: so wie ein germanischer oder keltischer P N im Kontext einer lateinischen Inschrift mit Selbstverständlichkeit die lateinische Kasusendung erhielt, so mag er auch ein vulgärlat. hypokoristisches Suffix angenommen haben und zudem der einen oder anderen Eigenheit der provinzial-lateinischen Orthographie unterworfen sein. Oder ein von Haus aus germanischer Name mag nach den lateinischen Akzentuierungsregeln ausgesprochen worden sein, wobei dann etwa die Nebenton-Vokale Veränderungen erlitten haben. Vor
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Die Bemerkung Aments a. O. S. 45: „Germanisches fehlt also" beruht auf einem schlichten Mißverständnis. Vgl. noch die tabellarische Übersicht bei Birkhan, G K A R 203. Anstelle seiner Rubrik „weder — noch" würde sich dort aber wohl als vorsichtiger eine Überschrift „ungedeutet" oder „noch unerklärbar" empfehlen. Ferner ist in dieser Provinz des Imperium Romanum mit Namen von Zuwanderern aus allen Teilen des Reichs zu rechnen.
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allem erscheint es als v o r e i l i g u n d u n v o r s i c h t i g , w e n n ζ. B. bestimmte Substratanhänger n u n das gesamte, g e w i ß nicht h o m o g e n e Material, das sich bisher nicht glatt als germanisch, keltisch o d e r lateinisch hat deuten lassen, in einen T o p f w e r f e n , es als einheitlicher H e r k u n f t ansehen u n d daraus die Existenz einer v i e r t e n Sprache f o l g e r n . D a ß spätere A u t o r e n , e t w a Tacitus, die cisrhenani Germant
nicht m e h r
e r w ä h n e n , läßt sich n u n w o h l so v e r s t e h e n , daß diese S t a m m e s g r u p p e diejenigen M e r k m a l e , die sie als G e r m a n e n erscheinen ließen, inzwischen a u f g e g e b e n hatte, daß also jeder G r u n d zu einer unterscheidenden B e n e n n u n g w e g g e f a l l e n war. Literatur H. Ament: Der Rhein und die Ethnogenese der Germanen. In: Praehistorische Zeitschrift 59, 1984, S. 3 7 - 4 7 . Autorenkollektiv unter B. Krüger: Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Band 1: Von den Anfangen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Berlin-Ost 1976. H. Beck, H. Jankuhn, K. Ranke, R. Wenskus: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde [zitiert als: RGA 2 ]. H. Birkhan: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit, = SB Österr. Akad. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl., 272. Bd., 1970; bes. Kapitel „Zur Ethnosbestimmung der Germani cisrhenani", S. 181 ff. [zitiert als GKAR], H. Birkhan: Der Gepide Trapstila, der Römer Drusus, der Kelte Tristan und ihre Sippschaft. In: A. Ebenbauer (Hg.): Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz, 1984, S. 51 —78. O. Bremer: Ethnographie der germanischen Stämme. 1904. E. Gamillscheg: Romania Germanica, Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs. Bd. 1. Zu den ältesten Berührungen zwischen Römern und Germanen. 21970. S. Gutenbrunner: Die Geschichte der linksrheinischen Germanen bis auf Caesar. In: Volk und Rasse 7, 1932, S. 150-162. S. Gutenbrunner: Die germanischen Götternamen der antiken Inschriften. 1936 [zitiert: GGAI]. R. Hachmann: Germanen und Kelten am Rhein in der Zeit um Christi Geburt. In: Hachmann/ Kossack/Kuhn: Völker zwischen Germanen und Kelten. 1962. S. 9—55. R. Hachmann: Der Begriff des Germanischen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 7, 1975, S. 113-144. W. Jungandreas: Sprachliche Studien zur germanischen Altertumskunde. 1981 [bes. S. 1—3]. W. Meid: Wortbildungslehre = H. Krahe/W. Meid: Germanische Sprachwissenschaft. Bd. III (Sammlung Göschen). 1967 [abgekürzt: Wortb.]. R. Much: Germanen. PWRE Suppl. III. 1918. S.545f. R. Much: Der Name Germanen, = SB Akad. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl. 195. 1920. F. H. Mutzschier: Erzählstil und Propaganda in Caesars Kommentarien. 1975. G. Neumann: Die Sprachverhältnisse in den germanischen Provinzen des Römischen Reiches. In: ANRW 29. Band, 2. Teilband. 1983. S. 1061-1088, bes. 1068 ff. [zitiert als: Sprachv.]. E. Norden: Die Germanische Urgeschichte in Tacitus Germania. M 923, Nachdruck 1959 [bes. S. 379 ff.]. H. von Petrikovits: Rheinische Geschichte. Band 1,1 Altertum. 1978.
Germani cisrhenani — die Aussage der Namen M. Schönfeld: Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen. 1911. E. Schwarz: Germanische Stammeskunde. 1956 [bes. S. 135 ff.]. G. Walser: Caesar und die Germanen. 1956. J. L. Weisgerber: Die Namen der Ubier. 1968. J. L. Weisgerber: Rhenania Germano-Celtica. 1969 [zitiert als: Rhen.]. K. Zeuß: Die Deutschen und ihre Nachbarstämme. 1837. Nachdruck 1925.
Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff V o n N . WAGNER
Für die Erörterung des völkerwanderungszeitlichen Germanenbegriffs1 wird im wesentlichen von der konventionellen Eingrenzung des Zeitraums — Zusammenbruch des Ostgotenreiches in Südrußland um a. 370 als Beginn, Einzug der Langobarden in Italien a. 568 als Ende — ausgegangen. Was man in dieser Periode als Germanen und als germanische Verbände (Stämme) zu betrachten hat, ist kaum strittig: Das Kriterium ist, ob die ihnen Zugehörigen als Sprecher germanischer Dialekte anzusehen sind. Der eigentliche Gegenstand der Darlegungen ist nun, welche Auffassungen von diesen Germanen und ihren Teilen, den Verbänden, im Bewußtsein dieser Periode selbst bestanden. Dabei ist zweckmäßigerweise zu trennen zwischen Auffassungen von Betrachtern von innen und von solchen von außen. Bei der Darstellung wird eine reinliche Scheidung allerdings des öfteren nicht möglich sein. Zwar kamen Germanen in Berührung etwa mit Finnen und Lappen, nichtromanisierten Kelten und Thrakern, nordiranischen Sarmaten und Alanen, dem Sassanidenreich, Turkvölkern wie Hunnen und Bulgaren, Balten, Slawen, doch sind Aussagen über sie nahezu ausschließlich in Aufzeichnungen griechisch oder lateinisch schreibender Angehöriger des spätantiken Imperiums sowie der Nachfolgestaaten von dessen Westhälfte erhalten geblieben. Durch dieses Medium werden selbst nahezu sämtliche bekannten Eigenaussagen überliefert.
1
Zum Germanenbegriff insgesamt etwa: Alfred Dove: Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-histor. Kl. Jg. 1916. 8. Abhandlung. Heidelberg 1916; Theodor Birt: Die Germanen. Eine Erklärung der Überlieferung über Bedeutung und Herkunft des Völkernamens. München 1917; Sigmund Feist: Germanen und Kelten in der antiken Überlieferung. Halle (Saale) 1927; Karl Wührer: Germanische Zusammengehörigkeit. I. Teil: Die altgermanische Zeit (bis etwa 600 n. d. Ztw.). Jena 1940; Otto Höfler: Germanische Einheit. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung 2, 1941, S. 3 —35; Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Wien Ί 9 6 1 , 2 1977, besonders S. 1 4 3 - 4 6 0 ; Rolf Hachmann: Der Begriff des Germanischen. In: JbIG 7, 1975, S. 1 1 3 - 1 4 4 . Eine ausschließlich dem völkerwanderungszeitlichen Germanenbegriff gewidmete Darstellung liegt nicht vor.
Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff
131
Bei der Darstellung und Bewertung dieser Aussagen spätantiker wie frühmittelalterlicher Autoren ist zu bedenken etwa die Gattung der Schriften — etwa breite historische Darstellung gegenüber knappem chronistischem Eintrag oder Preisrede und Dichtung —, der Erhaltungszustand — etwa gegenüber der Aussage eines Fragments oder Exzerpts das möglicherweise umfassendere und wohlstrukturierte Konzept eines vollständig erhaltenen Werkes —, der Einfluß von Tradition, von geographischer, ethnographischer, historiographischer, poetischer Topik auf die Darstellung der Verhältnisse der eigenen Zeit. Zur Reihenfolge in der Darlegung der Quellenzeugnisse: Umfänglichere Aussagenkomplexe bieten etwa Cassiodor/Jordanes, der mit letzterem zeitgleich schreibende Prokop, dessen Fortsetzer Agathias, der diesem zeitgleiche Gregor von Tours vom Ausgang der Periode, aus deren Mitte etwa Priskos, aus deren Anfang Ammian und der etwas jüngere Orosius. Knappe, punktuelle Aussagen von Bedeutsamkeit bei weiteren Autoren werden chronologisch zugeordnet. Vereinzelt heranzuziehen sind selbst noch spätere Quellen wie etwa die ,Origo gentis Langobardorum' oder Paulus Diaconus und Beda, wobei dann zu bedenken ist, ob ihre Angaben für die völkerwanderungszeitliche Periode gültig sind. Angesetzt wird zunächst jeweils daran, ob der Autor aus der Tradition überkommene Begriffe wie Germani (-oí), gentes Germaniae usw. überhaupt verwendete; wenn dies der Fall war, welche Geltung diese Begriffe bei ihm hatten, sodann, ob er und wenn ja, welche Feststellungen er zu nicht von ihm, doch von der modernen Wissenschaft als germanisch benannten Verbänden trifft, vor allem im Hinblick auf das moderne Kriterium der Sprache, zumal aber, ob er dabei zu diese Verbände übergreifenden Gemeinsamkeiten und Benennungen gelangt. Die Angaben, selbst innerhalb eines Werkes, werden, sogar wo dies geboten erscheinen möchte, nicht harmonisiert, da selbst Diskrepanz aussagekräftig zu sein vermag. Dabei ist stets zu bedenken, daß vieles bekannt war, was als selbstverständlich und alltäglich gar nicht aufgezeichnet wurde und vieles mit einzelnen Büchern oder den Werken ganzer Autoren verlorenging. Die Verluste sind zumal unter den für das Verständnis der Verbände von sich und allenfalls zu übergeordneten Einheiten aussagekräftigen Stammesüberlieferungen konstatierbar groß. Zur Erhellung des Selbstverständnisses sind neben diesen Traditionen die Erkenntnisse heranzuziehen, welche sich aus Stammesverbände und Dialektgrenzen übergreifenden Beziehungen gewinnen lassen, wie sie sich etwa im Runengebrauch, in der Personennamengebung, in der sich schließlich als Heldensage manifestierenden Traditionspflege, in der Religionsausübung und anderem zeigen.
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Ν. Wagnet
Aus der Zusammenschau von alledem wird sich wohl das etwas fragmentarische Bild des Germanenbegriffs ergeben, welches man in der völkerwanderungszeitlichen Periode hatte. Dem Programm gemäß wird also mit Cassiodor und Jordanes begonnen, die insofern zusammenzustellen sind, als dessen in der Mitte des 6. Jh.s abgefaßte ,Getica' einen mit eigenen Zusätzen angereicherten Auszug aus der zwischen a. 526 und 534 abgeschlossenen ,Gotengeschichte' Cassiodors darstellen, zu welcher dieser von Theoderich (f a. 526) angeregt worden war 2 . Die Behandlung der ,Getica' an den Anfang zu stellen, empfiehlt neben dem Umfang ihrer Aussagen der Umstand, daß sich bei ihnen nahezu sämtliche Probleme einstellen. Die ,Getica'3 verwenden die Termini Germani und Germania in folgenden Aussagen: innerhalb des geographischen Überblicks, der, wie herkömmlich, zu Beginn geboten wird. Da heißt es: Die Scythia wird im Westen von den Germani und der Weichsel begrenzt (Get. 31), welche in den Sarmatischen Bergen entspringt, gegenüber der Insel Scand^a in den nördlichen Ozean mündet und Germania von Scythia trennt (Get. 17). Vor diesem geographischen Hintergrund sind die Formulierungen zu sehen, daß der Ostgotenkönig Ermanarich sich alle Nationen der Scythia und der Germania unterworfen (Get. 120) und der Hunnenkönig Attila Scythica et Germanica regna besessen habe (Get. 257). Germanorum terras, quas nunc Franci optinent, [...] erscheint dann in der Nachricht, diese seien unter der Regierung des Königs Buruista von den Goten verheert worden (Get. 67). Diese Tat konnte den Goten auf Grund ihrer Gleichsetzung mit den Geten zugeordnet werden. Aus dieser Nachricht geht zum einen hervor, daß die ,Getica' die Franken nicht mit Germani gleichsetzen, zum andern, da das Schwergewicht der Franken zu Cassiodors Zeiten westlich des Rheins, der traditionellen Grenze der eigentlichen Germania lag, die hiermit in etwa stimmige eine der beiden alten Reichsprovinzen mit dem Namen Germania, nämlich die Germania inferiorj II, vorgeschwebt haben dürfte4. Die Germani werden ferner innerhalb der Beschreibung von Scand^a für die Charakterisierung einer Reihe ihrer Völker bemüht: Germanis corpore et animo grandiores, pugnabant beluina saevitia (Get. 24). Hier liegt lediglich Emporstilisierung der Skandinavier mittels eines Vergleichs mit einer der aus der literarischen Tradition wohlbekannten topi2
3 4
Vgl. H. Callies: Cassiodor. In: Reallexikon der Gennanischen Altertumskunde, begr. von Johannes Hoops, 4. Berlin/New York 21981, S. 347 - 350, bes. S. 348 f., die Literaturangaben S. 350; Norbert Wagner: Rezension von Rolf Hachmann [vgl. Anm. 89], In: AfdA 84, 1973, S. 199-207; Ders.: Bemerkungen zur Amalergenealogie. In: BNF N.F. 14, 1979, S. 26 - 4 3 , S. 2 6 - 3 2 . Iordanis Romana et Getica, ree. Theodorus Mommsen, MGH. AA. 5,1. Berlin 1882. Vgl. unten Anm. 61.
Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff
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sehen Eigenschaften der Germani vor. Allerdings ist daraus zu ersehen, daß die ,Getica' die nordgermanischen Skandinavier nicht unter den Begriff Germani subsumierten. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als Cassiodor, hierfür nun allerdings gotischer Tradition folgend, die Vorfahren der Goten aus Skandinavien {Scandio) als ihrer Urheimat ausziehen läßt. Er zählt als darauffolgende Sitze von ihnen auf: in Scjthiae solo, dann Mjsiam (gleich Moesia) Thraciamque et Daciam (Get. 38), die gutenteils tatsächlich historisch sind. Akzeptiert wird in den ,Getica' sodann neben der Gleichsetzung mit den Skythen 5 die ebenfalls traditionelle, sich außer durch die Gleichheit der Sitze durch den Anklang der Namen nahelegende Identifizierung von Getae und Gothi unter Berufung auf Orosius (Get. 58) 6 . Dies alles erlaubt es Cassiodor, mit den über diese Völkerschaften in der Tradition überlieferten Nachrichten seine Geschichte der Goten auszustaffieren 7 . Nun findet sich in den ,Getica' auch eine Notiz, welche zwar die Inkongruenz zwischen Germani und Gothi bestätigt, dies indessen mittels einer Aussage, welche in bezug auf beide Vertrautheit mit einem sprachlichen Faktum, nämlich mit ihrer Namengebung zu verraten scheint. Zunächst wird referiert, daß Dio (Chrysostomus) in seinen ,Getica' einen Gotenkönig Telefus, Sohn des Hercules, Schwager des Trojanerkönigs Priamus, erwähne. Dessen Königreich sei Moesia gewesen (Get. 58 f.). Die Mythologie kennt ihn als König von Mysien 8 . Seine Vereinnahmung für die Goten ermöglicht eine jener bereits zitierten territorialen Gleichsetzungen. Es erscheint nun überaus bemerkenswert, daß Cassiodor aus seiner Leserschaft, als welche die gebildeten, senatorischen 5
Üblich seit Cassius Dio und Dexippos: Vgl. Ludwig Schmidt: Die Ostgermanen. München 1941. S. 17, 200f., 228, des weiteren die umfangreiche Zusammenstellung von Belegen etwa durch Carl Schirren: De ratione quae inter Iordanem et Cassiodorium intercédât commentatio. Phil. Diss. Dorpat 1858, Dorpat 1858. S. 4 2 - 4 5 , S.42f.: auch Heruler und Juthungen von Dexippos als Skythen bezeichnet, zu welch letzterem Kapar Zeuß: Die Deutschen und die Nachbarstämme. München 1837, Nachdruck Heidelberg 1925. S. 313 f.; J. Svennung: Zur Geschichte des Goticismus. Skrifter utgivna av K. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Uppsala 44:2B. Stockholm 1967. S . 6 - 1 0 . Üblich bei Autoren mit Julian in der Mitte des 4. Jh.s, etwa mit Claudian, SHA, Hieronymus seit dem Ende des Jahrhunderts: Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung von Belegen etwa durch Schirren [vgl. Anm. 5], S. 54—58; Svennung [vgl. Anm. 5], S. 5—7, 9 f. Inschriftlich bereits für Claudius II. (a. 268-270) und Aurelian (a. 270-275): Otto Fiebiger/Ludwig Schmidt: Inschriften zur Geschichte der Ostgermanen. Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philos.-histor. Kl. Denkschriften, 60. Bd., 3. Abhandlung. Wien 1917, Nr. 152, 154. — Zur Anwendung des Namens auf Slawen im 6. und 7. Jh. Ernest Stein: Histoire du BasEmpire, II. Paris/Brüssel/Amsterdam 1949. S. 106, Anm. 1, S. 308, Anm. 1; Karl Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, II. Berlin ph usw.), müssen derartige Alternationen (bhfb usw.) praktisch noch in die idg. Zeit zurückreichen. Der niedrige sprachliche Status dieser Wörter, der sie ungeeignet zur Kommunikation in einem gemeinsprachlichen Rahmen machte, war ein Hindernis für ihre Verbreitung, weshalb sie sich auch nicht in größerer Zahl in Form von weitverbreiteten Wortgleichungen in die indogermanischen Einzelsprachen vererben konnten. So konnte, mangels Gleichungen, der Trugschluß entstehen, daß es ein idg. /b/ überhaupt nicht gegeben hatte. Im regionalen Spätindogermanisch ist b dann, aufgrund der Diffusion von lautgesetzlich aus bh entstandenem b aus Arealen des Zusammenfalls von Media Aspirata und Media in solche, wo beide differenziert bleiben (wie im Germanischen der Vor-Lautverschiebungs-Zeit), häufiger geworden. Anlautend ist b jedoch nach wie vor selten, und darum gilt, cum grano salis, auch Kuhns Kriterium, wonach der häufige p- Anlaut nicht gut germ, ρ < idg. b repräsentieren könne.
Hans Kuhns „Nordwestblock"-Hypothese
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Ploen, Gut bei Duiven, Gelderland, zu lat. planus Powe, bei Osnabrück, aus idg. *pä- „weiden" (lat. pä-scö usw.) Vor allem Plore ist bemerkenswert, weil das Namenswort das vermittelnde Glied bildet zwischen dem Keltischen und Germanischen; in lárj Ρlore ¡floor haben wir eine Kette, die drei benachbarte Sprachgruppen verbindet. Auch anderes Wort- und Namengut hat lautverschobene Entsprechungen im Germanischen: * pagin-, in Peine, zu idg. *pag- „befestigen", = germ. *fakin- „Fischwehr" *pan-, aus idg. *pan- „Moor", = got. fatti, dt. Fenn *pep-, in Pithe, aus idg. *ped- „Boden, Niederung" (griech. πεδίον „Ebene"), = an. fit „niedriges Land am Wasser" Von diesen Namenwörtern haben, was Kuhn nicht vermerkt, *pan- und *pep- auch keltische Entsprechungen: altir. on „Wasser" und ed „Ort". Aus dem appellativischen Vulgärwortschatz sei noch erwähnt pe^el (niederländ.-niederdt.), german. Form fise/ „Penis". Auch die suffixlose Form pees kommt vor, Grundform ist idg. *pesos. Wenn man an den anderen Etymologien zweifeln mag, die Herleitung dieses Wortes ist so eindeutig, daß man nicht daran vorbeigehen kann 8 . Weitere gute Etymologien aus der Arbeit 1961 „Anlautend p im Germanischen" sind: pooien (niederländ.) „trinken" aus idg. *pöi- gleicher Bedeutung püe und püne (niederdt.) „Geschwür"; vgl. einerseits lat. püs „Eiter", griech. πδον, πύη, an. fúi „Fäulnis", andererseits, für die «-Bildung, lett. pünis „Faulendes, Eiterndes" pramen „pressen", zu lat. premere *pratt- „Schlauheit, List"; das Wort reicht über den eigentlichen NWBlock hinaus: ae. preett „Schlauheit", an. prettr „Betrug"; german. Form in got. frapi „Verstand" Das Kriterium der unverschobenen Verschlußlaute verfolgt Kuhn weiter in 1962 a „Angelsächsisch cöp „Kappe" und Seinesgleichen". Hier geht es um erhaltenes k, genauer gesagt um Wörter der Lautfolge k + Vokal + p, wobei die unverschobenen Konsonanten sich gegenseitig stützen. Gegen echtgermanischen Lautstand spricht hier auch das Argument der indogerma-
8
Eine zusätzliche Bestätigung findet dies noch dadurch, daß auch der korrespondierende weibliche Geschlechtsteil sich gleichermaßen verhält: *putt- / *futt- (u. ä.); Kuhn 1961, S. 6 f.
192
W. Meid
nischen Wurzelstruktur: Die Tenues, falls lautverschoben, müßten auf idg. Mediae zurückgehen. Wurzeln mit anlautender und schließender Media, also vom Typ *gab-, gab es im Indogermanischen aber nicht 9 . Daher ist dies ein Argument für den un verschobenen Charakter der betreffenden Tenues. Zwei Beispiele: Zu lat. capere „nehmen" stellt sich ae. copian „plündern" und wohl auch ne. keep (german. Lautstand in got. hafjan und habati)\ zu lat. cupere „begehren" stellen sich me. copnien „sich sehnen", ne. dial, copen „heftig verlangen" (dazu mit „halbgerm." Lautstand, k verschoben, aber p un verschoben, engl, hope, dt. hoffen). Auch hier sehen wir das dem Substrat zugeschriebene Wortgut über die Grenzen des NW-Blocks hinaus verbreitet, bzw. überhaupt nur außerhalb bezeugt. Nach Kuhn sind die Wörter, nachdem sie einmal ins Germanische aufgenommen wurden, mit der germanischen Expansion (an der die ursprüngliche ethnische Komponente wesentlich mitbeteiligt war) weiter gewandert. In der Arbeit 1970 „Fremder /-Anlaut im Germanischen" geht es schließlich um den Nachweis von erhaltenem t. Da t viel früher verschoben worden sei als die anderen Tenues 10 , und außerdem statistisch weniger häufig war, sei es weniger gut nachweisbar. Die Zahl plausibler Etymologien ist hier tatsächlich auch sehr gering. Sehr häufig ist in Kuhns Namenmaterial ein Suffix: Aleke, Bilici, Peseke usw., VN Sunuci usw. In diesem Suffixkonsonant sieht Kuhn ebenfalls unverschobenes idg. k. In den idg. Sprachen ist -k- ein sehr häufiger Suffixkonsonant. Wären die Namen germanischen Ursprungs, so müßte ein durch die Lautverschiebung gegangenes idg. g zugrundeliegen. Idg. g ist als Suffixkonsonant jedoch wesentlich seltener als k, so daß auch hier das Häufigkeitskrite-
9
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Nach der gängigen Wurzeltheorie (Meillet) durfte es sie nicht gegeben haben; vgl. O. Szemerényi: Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. Darmstadt 1970, S. 92 (mit Literatur). Doch gibt es vereinzelte Ansätze in Pokornys Indogermanischem etymologischen Wörterbuch, die — bei allem Vorbehalt — erahnen lassen, daß es sie doch in beschränktem Maße gegeben haben mochte, gerade wohl wiederum in niederem Sprachmilieu. Zwei mögliche Fälle sind IEW 96 *bed- „schwellen" (?) in aksl. bedro „Schenkel", armen, port (*bodro-) „Nabel, Bauch" sowie allenfalls ai. badva-m „Haufe, hohe Zahl" und IEW 349 *gag-, gög- „Rundes, Klumpiges" in lit. gúogé „ K o h l k o p f , norw. kok „Klumpen", isl. norw. schwed. kaka „Kuchen, rundes Brot". Im regionalen Spätindogermanisch, als der sich in bestimmten Arealen anbahnende Zusammenfall von Media und Media Aspirata Verwirrung schuf, scheinen Wörter mit der verpönten Struktur sich vermehrt und diffundiert zu haben. Daß sie aber gerade im Vorgermanischen zur besonderen Häufigkeit gekommen sein sollten, wäre aber doch sonderbar, und so behält Kuhns Argument, daß es sich bei den meisten der germanischen Wörter vom Typ k + Vokal + ρ um Fälle mit unverschobener Tenuis, also Fremdelemente, handelt, seine prinzipielle Gültigkeit. Warum dies so gewesen sein soll, sagt Kuhn nicht, und es ist mir auch unerfindlich, warum dies den Nachweis erschweren sollte.
Hans Kuhns „Nordwestblock"-Hypothese
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rium für unverschobenes idg. k, d.h. für nichtgermanisches Namengut, spricht. Ein Fremdsuffix ist nach Kuhn auch -st-, das ebenfalls häufig in Ortsnamen ist. Früher galt dieses Suffix als „illyrisches" Leitsuffix par excellence. Sein gehäuftes Vorkommen weist auf jeden Fall auf prähistorische Sprachschichten, auch wenn das Etikett „illyrisch" heute nicht mehr verwendbar ist11, sthaltige Suffixe sind im Germanischen zwar nicht unbekannt, aber wenig charakteristisch12. So verwundert es nicht, daß Kuhn für seine st-Bildungen, z. B. Alisti, Bilisti, Segaste, usw., Parallelen in Süddeutschland und im Mittelmeerraum aufzeigen kann: Alista in Korsika, zu Bilisti den Namen der Philister, das mehrmalige Segesta u. ä. im Mittelmeerraum. Weiteres: Börnst, vgl. VN Burnistae in Dalmatien, Werste, vgl. VN Varisti in Bayern, usw. Die Grundwörter sind z. T. solche, die auch in der alteuropäischen Hydronomie mit verschiedenen Suffixen vorkommen, und auch Kuhns Namenmaterial zeigt diese Verschwisterung verschiedener Suffixe beim selben Grundelement, z. B. zwischen -k- und -st-: Alisti/Aleke, Bilisti/Bilici. Diese Vernetzung — und man könnte weiteres anfügen — verstärkt den Eindruck, daß wir es hier nicht nur mit einzelnen Fremdelementen, sondern mit einer zusammenhängenden Sprachstruktur zu tun haben, die vom Germanischen überdeckt wurde. Ich übergehe anderes, auf das ich später noch einzugehen habe, und füge nur hinzu, daß Kuhn alle die erwähnten Elemente (Anlaut p-, -k- und -stSuffix) auch in friesischen Personennamen gehäuft findet (und im Angelsächsischen, in Namen aus unteren Ständen): 1960 a „Vorgermanische Personennamen bei den Friesen". Bemerkenswert ist wiederum die Verzahnung der Elemente unter sich und die Verzahnung der friesischen Personennamen mit gleichartigen Ortsnamen anderwärts, z. B. fries. PN Allust mit ON Alo st, Alisti usw. Eine auswärtige etymologische Entsprechung hat der friesische PN *Pikul- in litauisch pikülas „Teufel", und es darf hinzugefügt werden, daß J. Pokorny auch die gallischen Ρtetones, Pictavi und den Pikten-Namen zu dem damit verwandten lit. piktas „böse" gestellt hat13 — auch diese Namen 11
12
13
Vgl. H. Krähe: Die Sprache der Illyrier, II. Wiesbaden 1964. S. V f . ; derselbe: Vom Illyrischen zum Alteuropäischen. Methodische Betrachtungen zur Wandlung des Begriffes „Illyrisch". In: Indogerm. Forschungen 69, 1964, S. 201—212; W. Meid: Beiträge zur Namenforschung 15, 1964, S. 108 f. Die anscheinenden //-Bildungen in den german. Sprachen sind ihrer Entstehung nach uneinheitlich. Vgl. W. Meid: Über s in Verbindung mit /-haltigen Suffixen, besonders im Germanischen. In: Indogerm. Forschungen 69, 1965, S. 218—255. Gleiches kann natürlich für das „illyrische" ¿/-Suffix gelten, doch ist dieses offenbar ein chronologisch älteres Konglomerat, das anders und früher als das st im Germanischen in eine von seinen Ursprüngen abgelöste „freie", produktive Verwendung geraten ist. IEW 795.
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W. Meid
also Bewahrer von idg. p und Zeugen derselben, einst weiter verbreiteten Sprachschicht14. Daß Friesland spät germanisiert wurde, ist die Aussage auch einer späteren Arbeit, 1968 a „Die ältesten Namenschichten Frieslands". In der Arbeit 1968 c „Warist, Werstine und Warstein" plädiert Kuhn dafür, daß eine größere Zahl von Namen auf -stein Umbildungen alter //-Namen sein können, in 1975 c „Die -acum-Namen am Rhein" spricht er von einer Durchmischung und Verfilzung dieser gallo-romanischen Namen mit ^-Ableitungen anderer Herkunft, und in 1973 a „H^e/irA-Namen zwischen Weser und Rhein" sieht er Indizien für eine in Zusammenhang mit den Latène-Burgen stehende vorgermanische Bevölkerung im mittleren Deutschland. Wichtig ist die große zweiteilige Arbeit 1973 b und 1974, „Das Rheinland in den germanischen Wanderungen". Hier wird noch einmal, und in präziserer Weise, der Verlauf der Germanisierung anhand der Verschiebung k > h in Ortsnamen verfolgt und dabei eine bisherige Lücke im Rheinland geschlossen. Die Situation im Rheinland wird bis in die Völkerwanderungszeit verfolgt, die Rolle der Franken dabei in einem skeptischen Licht gesehen. Der fränkische Strom sei nur schwach gewesen, die nun meist romanisierte Bevölkerung habe im Großen und Ganzen ihre ethnische Eigenart bewahrt, und sei „fränkisch" erst unter dem politischen Druck der Merowinger geworden. In der Arbeit von 1976 „Zur zweiten Lautverschiebung im Mittelfränkischen", wird noch einmal hervorgehoben, daß viele der rheinländischen Ortsnamen mit Suffix der zweiten Lautverschiebung entgangen sind, womit die Beharrlichkeit der alten ethnischen Komponente weitere Bestätigung erfahrt. Dazwischen publizierte Kuhn noch eine wichtige Arbeit: 1975 a „Chatti und Mattium. Die langen Tenues des Altgermanischen". In den Geminaten dieser Namen sieht Kuhn ebenfalls einen Zug seiner sprachlichen Vorbevölkerung. Den Namen der Chattij Hessen verbindet er mit dem der lateinischen gens Cassia. Die Beziehung seines Sprach- und Namenmaterials zum Italischen, also Lateinischen und Osko-Umbrischen und zu den sonstigen Sprachresten des Mittelmeerraumes, ist ja ein rekurrentes Thema in Kuhns Forschungen. Zweifellos gibt es solche Beziehungen oder Anklänge; vieles aber ist und bleibt unsicher, und nicht selten unterliegt Kuhn der Versuchung, zuviel des Guten zu tun, d. h. zu vieles in seinem Sinne zu interpretieren. Dies ist ζ. B. der Fall in der 1972 erschienenen Besprechung von J. L. Weisgerber, „Die Namen der Ubier", wo viele der lateinisch-mittelmeerländischen Namen, deren Träger doch wohl Angehörige der Besatzungsmacht und solche Einheimische sind, die der römischen Namenmode folgten, als echte Namen seiner einheimischen Bevölkerung reklamiert werden15. 14 15
Siehe Anm. 23. Dieses Verfahren wurde von G. Neumann mit Recht als unmethodisch kritisiert in seinem
Hans Kuhns „Nordwestblock"-Hypothese
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Die vorletzte Arbeit, 1977, trägt den Titel „Kracht es im Nordwestblock? Zur Kritik meiner Namenforschung", und für uns ist es ein opportuner Anlaß, zu Punkt 3, den kritischen Äußerungen zu Kuhns NW-Block-Hypothese, überzugehen. 3. Die Kritik an Kuhns
Nordwestblock-Hypothese
Die Kritik von Seiten der Germanistik und der Sprachwissenschaft (die Prähistorie kann ich hier nicht berücksichtigen) stößt sich vor allem daran, daß ein größerer Raum dem frühen Germanentum entzogen und vieles bisher als „germanisch" betrachtetes Wort- und Namengut anders zu erklären sein würde, wenn Kuhns Vorstellungen stimmen sollten, und sie versucht daher, dieser Konsequenz zu entgehen, indem sie das Material bzw. dessen Interpretation bzw. die von Kuhn vertretene Begrenzung oder Ausdehnung der sprachlichen Erscheinungen in Frage stellt. Einige der Hauptargumente der Kritik (die ich hier nur ganz pauschal wiedergeben kann)16 sind folgende: Kuhns Material (besonders das Namenmaterial, auf das er sich hauptsächlich stützt) ist nicht genügend kritisch gesichtet und aufbereitet. Die Belege werden mehr gesammelt als durchdiskutiert, vielfach erfolgt eine nur summarische Vorführung (oder gar Nichtvorführung) der Beweismittel; die Quantität des Materials muß die fehlende Qualität ersetzen. Das Namenmaterial wurde nicht genügend quellenkritisch überprüft; zum Teil handelt es sich überhaupt um moderne (aus amtlichen Verzeichnissen u. dgl. entnommene) Namen, die sprachgeschichtlich nicht zurückverfolgt wurden oder zurückverfolgt werden können. Etymologische Deutungen bzw., bei Namen, auswärtige Entsprechungen und Parallelen wurden gegeben, ohne daß die lautlichen oder sonstigen Implikationen dieser Vergleiche, ihr Wahrscheinlichkeitsgrad überprüft und diskutiert worden wäre; es scheint, daß Kuhn sich der Eigenproblematik des für seine Zwecke herangezogenen Vergleichsmaterials nicht immer voll bewußt war. Was das durch den Anlaut p- repräsentierte lautliche Kriterium betrifft, so wären außer der Erhaltung von idg. p auch andere Möglichkeiten zu erwägen gewesen; z. B. könnte das sekundär im Gallischen aus dem indogermanischen Labiovelar /è* entstandene p in Betracht kommen, ferner gallisches
16
Beitrag „Die Sprachverhältnisse in den germanischen Provinzen des Römischen Reiches", in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 29.2. Berlin 1983. S. 1076 f. Vgl. im besonderen S. Gutenbrunner, in: Germanistik 4, 1963, S. 564 f., W. Meid (Zitat in Anm. 1), L. Weisgerber: Die Namen der Ubier. Köln-Opladen 1968. S.427 - 436, G. Neumann: Substrate im Germanischen? Göttingen 1971. S. 89—95, ders. (Zitat in Anm. 15), H. Birkhan: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit. Wien 1970. S. 110—118.
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b aus mehreren Quellen (idg. b, bh, das durch die germanische Lautverschiebung gegangen wäre, schließlich natürlich idg. b in seiner germanischen Vertretung p. Ferner könnte, germanischer Ursprung vorausgesetzt, das p durch Spirantenreduktion aus f , oder durch Verhärtung aus b entstanden sein17; schließlich könnte das p hypokoristischen Charakters sein („Lallwörter", Kindersprache, expressive Lautgebung). Also das weitverbreitete p könnte zwar viele Quellen haben, müßte aber nicht notwendigerweise ungermanisch sein. Bei k und / wären die verschiedenen Möglichkeiten von Lautersatz in keltischem, lateinischem, romanischem Munde und die entsprechenden orthographischen Praktiken zu erwägen gewesen. Das heißt mit anderen Worten, daß man wohl von germanisch artikulierten χ, θ, also von Spiranten, ausgehen könnte, die in nicht-germanischem Mund durch die unspirantischen Laute k, t ersetzt und entsprechend schriftlich wiedergegeben worden wären. Kuhn ist es nicht gelungen, oder er hat sich nicht bemüht, eine kohärente Lautlehre seiner Substratsprache aufzustellen; die Inlautvertretung der Verschlußlaute ist schwankend, und überhaupt unklar, und auch im Anlaut werden (dialektische?) Varianten angenommen, so bei idg. bh, das einerseits als b, andererseits als f vertreten sein soll, ζ. B. in den als verwandt angesehenen Namen Belgae und Villigst. Die von Kuhn definierten Grenzen des Nordwestblocks sind dadurch in Frage gestellt, daß die als charakteristisch angesehenen Phänomene doch darüber hinaus reichen, wie ζ. B. bei dem //-Suffix, das im alteuropäischen Bereich weit verbreitet war und außer im süd- und südosteuropäischen Bereich im Norden, im Baltischen, vorkommt. Jüngeres Wort- und Namengut wird, wie Kuhn selbst betont, über die Grenzen hinausgetragen und breitet sich in der übrigen Germania aus. Diese Situation macht aber die Beweislage unklar: Handelt es sich wirklich erst oder nur um eine sekundäre Ausbreitung oder hatte nicht etwa die eigentliche Germania auch ein solches Substrat? Oder ist doch letzten Endes alles „germanisch"? Namhafte Kritiker, wie besonders G. Neumann, bemühen sich daher, möglichst viel von dem Kuhnschen Material für das Germanische zu retten; für Neumann sind einige von Kuhns ^/-Bildungen in Wirklichkeit keine, sondern /-Bildungen, die auf einem Vorderglied auf -s-, und zwar auf germanischen j-Stämmen, erwachsen sind. So steckt nach ihm in Bilisti das Bilsenkmut, in Reemst german. *hrami%„Bärenklau", in Seguste ein Wort für „Riedgras" {Segge, ahd. sahar), in Faristina ein altes Wort für „Stier" (Farren, Färse), in Lamesten das Wort Lamm, während Kuhn seine Vergleiche weit herholt. Auch bei den -»¿//--Bildungen bemüht sich Neumann, Kuhn Belege zu entreißen. 17
Neumann (Zitat in Anm. 16) S. 89 f. mit Hinweis auf entsprechende Literatur.
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Diese Andeutungen mögen vorerst genügen. Der Tenor der Kritik ist der, daß Kuhn mit dem Material in einer Weise umgeht, die man als leichtfertig bis (in schweren Fällen) unverantwortlich charakterisieren könnte und daß durch diese anscheinend doch etwas sorglose Verfahrensweise der Wert seiner Untersuchungen beeinträchtigt und die Gültigkeit seiner Ergebnisse in Frage gestellt wäre. Mit der Frage nach der Berechtigung dieser Kritik werden wir uns im folgenden zu befassen haben. 4. Metakritik Den Kritikern muß zugestanden werden, daß ihre Kritik prinzipiell oder in konkreten Fällen, jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad, berechtigt ist. Ganz unzweifelhaft ist, daß das Material seine Schwächen hat und die kritische Aufbereitung zum Teil zu wünschen übrig läßt. Doch ist Kuhn sich dieser Mängel durchaus bewußt und ist selbst der erste, der sie eingesteht. Alles, was man an methodischen Argumenten gegen Kuhns Material und seine Auswertung einwenden kann und eingewendet hat, war ihm wohl bewußt und findet sich in Form von Kautelen und Vorbehalten an vielen kritischen Stellen seiner Untersuchungen, nur hat er diese Bedenken in der Regel nicht ausdiskutiert, sondern sich in, wie ihm schien, begründetem Optimismus darüber hinweggesetzt. Vor die Wahl gestellt, entweder minutiös jeden einzelnen Beleg auf seine Stichhaltigkeit zu überprüfen, dabei aber viel Zeit und Mühe auf letztlich unprofitable Nebenarbeiten verwenden zu müssen, oder aber das Material großzügig zu erfassen, dabei aber ein größeres Risiko eingehen zu müssen, hat er sich für letzteres entschieden, da es ihm nur auf solche Weise möglich erschien, seinem Ziel näher zu kommen. Er vertraute darauf, und die Ergebnisse haben ihm recht gegeben, daß die großen Linien hervortreten würden und daß Mängel des Materials oder der Beurteilung im einzelnen keinen großen Schaden anrichten würden, da sie durch die Evidenz des Ganzen kompensiert würden. Dieses Verfahren mag als Provisorium vertretbar sein, es ist trotzdem nur schwer zu rechtfertigen, da es die Risiken bagatellisiert. Es ist daher notwendig, daß die quellen- und erkenntniskritische Detailarbeit nachgeholt und dadurch eine Flurbereinigung erzielt wird. Dies ist eine Aufgabe für die Zukunft. Ein gewichtiger Mangel des Materials, der Unsicherheit erzeugt, besteht darin, daß ein größerer Teil davon inkonklusiv, d. h. weder in dem einen noch in einem anderen Sinne beweisend ist, weil er etymologisch bzw. der Herkunft nach nicht sicher bestimmbar ist. In solchem Zweifelsfalle, oder wenn nur geringe Indizien dafür sprechen, rechnet Kuhn das betreffende Material seiner Bevölkerungsschicht zu, während andere ihm zunächst eher germanischen (bzw., je nach den Umständen, keltischen, lateinischen usw.)
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Charakter unterstellen und davon nur abgehen, wenn absolut keine Indizien für eine solche Zuweisung zu finden sind. Hier offenbart sich ein wichtiger methodischer Unterschied, der sich — was Sicherheit betrifft — nachteilig für Kuhn auswirkt 18 . Kuhns Thesen hätten an Festigkeit gewonnen, wenn er sich zunächst auf die ganz sicheren oder sehr wahrscheinlichen Fälle fremder Herkunft gestützt hätte, etymologisch oder durch plausible auswärtige Entsprechungen abgesichertes Material also, und wenn er dann erst seine Kreise weiter gezogen hätte. Da er aber von der Existenz einer dritten Gruppe überzeugt war, hat er von vornherein alles aufgenommen, was ihr möglicherweise zugerechnet werden konnte. Unsichere Möglichkeiten schaffen aber allein noch keine kumulative Evidenz. Hier wird also weiterhin manches in der Schwebe bleiben müssen. Im Großen und Ganzen wird man Kuhn aber zubilligen dürfen, daß er für seine Thesen hinreichende Beweise geliefert hat, und wenn man wenigstens einen Teil des unsicheren Materials in seinem Sinne interpretieren darf, sind es sogar überwältigende Beweise. Klar erwiesen durch plausible Etymologien und zusätzliche strukturelle Argumente ist die Bewahrung von idg. p und damit auch die Bewahrung anderer Verschlußlaute in unverschobener Form, wenngleich bei k und t die Beweislage nicht so gut ist. Was die Möglichkeit von Lautsubstitution bei fremder schriftlicher Wiedergabe betrifft, so ist davon natürlich der in den modernen Dialekten erhaltene Vulgärwortschatz nicht betroffen (da er ja nicht geschrieben wurde). Die Möglichkeit anderweitiger Herkunft von p muß eingeräumt werden, diese kann jedoch nur in begrenztem Umfang oder für Einzelfalle, nicht für die große Masse zutreffen. Auch das Flußnamenelement -apa hat zweifellos bewahrtes idg. p, da es eher mit dem altindischen Wasserwort ap- und lit. ùpé usw. zusammenhängt als mit etwas anderem19. Strukturelle Argumente im Verband mit etymologischen Entsprechungen so gebildeter Wörter sichern auch das -^-Suffix als direktes indogermanisches Erbe; die Kombinationsmöglichkeit der Grundwörter mit verschiedenen Suffixen, z. B. -k- und -sí-, läßt größere Strukturkomplexe erahnen. Dieser systematische Zusammenhang, in dem sich die verschiedenen Elemente — 18
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Ein besonders krasser Fall ist der oben schon erwähnte, und von Neumann kritisierte, der Ubier-Namen. Die Namen einer — soweit sich dies in der Dokumentation niederschlägt — weitgehend römischen oder romanisierten Urbanen Bevölkerung sind kein brauchbares Material, um Schlüsse auf die ethnische und sprachliche Struktur der einheimischen Bevölkerung im Ganzen zu ziehen. Möglicherweise war *apâ schon eine idg. Variante von *akfä. Die Herkunft von p aus Labiovelar ist bei diesem Wort daher allenfalls ein Problem im Indogermanischen selbst, und nicht eines, das das Verbreitungsgebiet von *ap- betrifft.
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sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch — gegenseitig stützen, spricht meines Erachtens eher für Kuhns Auffassung der ¿/-Bildungen als die von Neumann, obwohl einige seiner Deutungen zutreffen könnten20. Aber einige germanische Deutungen schaffen nicht das ¿/-Suffix aus der Welt, das als Bildungstyp sicher in „alteuropäische" Zusammenhänge gehört. So möchte ich mich im Zweifelsfall eher Kuhn anschließen. Der Ortsname Reemst, der nach Kuhn mit dem pannonischen ON Ramista vergleichbar ist, hat auch ein baltisches Gegenstück, Ramstaw (Kr. Königsberg). Diese Parallelen (und in anderen Fällen andere) müßte man aufgeben, wenn man den germanischen Deutungen Neumanns folgen wollte. Auch das -«¿/r-Suffix, das Kuhn für ein nichtidg. Überbleibsel und mit kleinasiatischen Bildungen vom Typ Σκάμανδρος verknüpft, kann Neumann nicht ganz entkräften. Ob indogermanisch oder nicht, das sei hier dahingestellt; es kann aus beiden Quellen zusammengeflossen sein; hervorheben möchte ich, daß schon J. Pokorny — und vor ihm andere —21 nichtidg. Herkunft erwogen hatten. Wenn man bedenkt, daß um etwa 4500 v. Chr. sich langsam eine von Südosteuropa und letztlich aus Kleinasien und Mesopotamien stammende Ackerbaukultur über den Donauraum auch in Mittteleuropa bis zum Norden hin ausbreitete22, von der Megalithkultur ganz zu schweigen, hat man genügend Gründe, die Annahme eines nichtidg. Substrates zu rechtfertigen, das noch Spuren sprachlicher Beziehungen zu seinem Herkunftsbereich aufweist. 5. Schluß Wenn ich zum Schluß meine eigene Meinung über den Erfolg der Kuhnschen Bemühungen und den Wahrscheinlichkeitsgrad seiner Hypothese abgeben soll, so muß ich vorerst gleich bekennen, daß ich die Problematik in ihrer 20
Im Prinzip müßte natürlich jeder einzelne Fall auf seine Meriten geprüft werden. Im Fall von Seguste, wo Kuhn mittelmeerländisches Segesta vergleicht, Neumann dagegen, an sich nicht unplausibel, ein Wort für „Riedgras" vermutet, muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Ansatz *se%az- / segus^- auf die germanischen Vergleichswörter (ahd. sahar, mnd. segge, altengl. secg) nicht paßt, da diese germanisches a (dem «-Umlaut zu e unterliegend) voraussetzen. Altes e hat das verwandte, in der Bildung aber abweichende keltische Wort (mittelir. seise „Binse", kymr. hesg). Natürlich wäre auch eine Form des germanischen Pflanzennamens mit e, wie von Neumann angesetzt, möglich, doch die prima-facie-^\\Ae.nz spricht nicht ohne weiteres dafür. Einer anderen Sprache kann — bei der zugrundeliegenden Etymologie (Wurzel *sek- „schneiden") — der vermutete Pflanzenname nicht zugeschrieben werden, da *seg- ja hinsichtlich des g nur als germanisch (Alternationsform nach Verners Gesetz) interpretiert werden könnte.
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Vgl. J. Pokorny, in: Zeitschrift für celtische Philologie 21, 1940, S. 100f. sowie G. Neumann (vgl. Anm. 16) S.91, Anm. 2 mit weiteren Nachweisen. St. Piggott: Vorgeschichte Europas. München 1974, S. 95, 9 9 - 1 0 1 .
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Gesamtheit nicht überblicke und weit davon entfernt bin, das ganze einschlägige Material beurteilen zu können. Aber ich glaube, es geht jedem so; und in dieser Situation wird man Kuhn soweit Kredit einräumen müssen, als nicht Zweifel oder besseres Wissen dies verbieten. Das Gesamtproblem hat drei unterscheidbare Aspekte: 1. Die Anwesenheit einer ursprünglich nicht-keltischen, nicht-germanischen, jedoch sprachverwandten Bevölkerung im NW-Raum 2. Die Frage der Ausdehnung dieses sprachlichen Substrates 3. Die späte Germanisierung des NW-Raumes. Punkt 1, die ursprüngliche Anwesenheit einer anderssprachigen Bevölkerung, halte ich für absolut erwiesen. Einschränkungen bestehen nur hinsichtlich der Beweiskraft des Materials im einzelnen, die unterschiedlich ist. Bei Punkt 2 und 3 bleiben Fragen offen; diese Punkte bedürfen weiterer Klärung. Die Begrenzung des NW-Blocks ergibt sich in negativer Weise von außen, und zwar im Süden durch die Grenze zum Keltischen, ansonsten durch die Umklammerung durch das Germanische. Es ist dabei nicht klar, wie weit, ζ. B. im Osten, diese ethnisch-sprachliche Schicht reichte, ehe sie durch die germanische Überflutung unterging. Es weist ja ζ. B. das Kriterium der stBildungen weit über den Raum des NW-Blocks nach Osten und Süden hinaus; hier liegt eine alte Schicht vor, an der der NW-Block zwar teilhat, aber durch die er nicht definiert wird. Besser steht es mit dem Kriterium der ίΖ/w-Namen, die in diesem Raum eine besondere Dichte haben. Da im baltischen Bereich (und ζ. T. auch anderswo) der Wurzelvokal u ist (lit. upe), hebt sich der ^«-Bereich schärfer ab. Das Kriterium idg. p reicht in den Bereich des Keltischen hinein. Auch in diesem Raum gibt es — in Kontrast zu dem normalen keltischen Verlust — Fälle von erhaltenem idg. p, was auf die gleichzeitige Anwesenheit von Sprachträgern hinweist, die nicht keltisch sprachen und daher nicht dem /»-Schwund unterlagen. Diese Wörter und Namen konnten nach dem Untergang dieser Sprache(n) im Gallischen weiterleben, da diesem inzwischen ein neues p (aus idg. kf) erwachsen war. Dieses /»-Substrat auf keltischem Boden 23 kann mit dem /»-Substrat des NW23
Der Nachweis dieser Schicht im später keltischen Bereich wird vornehmlich J. Pokorny verdankt. Er hat mehrfach Zusammenstellungen von Wörtern und Namen mit erhaltenem idg. ρ aus Hispanien, Gallien und Britannien gegeben, die er für „illyrisch" hielt; so an verschiedenen Stellen seiner großen Abhandlung „Zur Urgeschichte der Kelten und Illyrier" (Halle 1938) oder in Feil-Sgríbhinn Eóin Mhic Néill (Dublin 1940), S. 239 ff. Später ersetzte er diesen inzwischen diskreditierten Begriff durch „veneto-illyrisch". Der Name ist ohne Belang; wichtig allein ist der Umstand, daß es sprachliche Zeugen für die Existenz von Idiomen mit idg. ρ im später keltischen Gebiet noch zu einer Zeit gab, als idg. p im
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Blocks in Verbindung gestanden haben24. In ganz Westeuropa einschließlich der britischen Inseln ist ja die alteuropäische Hydronymie Krahes verbreitet, deren Träger ja nicht die späteren Kelten waren, sondern diesen vorauslaufende Wellen von Indogermanen25. Das gleiche gilt für den germanischen Bereich. Daß Reste dieser älteren (früher „Illyrisch" genannten) indogermanischen Idiome sich der Keltisierung bzw. Germanisierung eine Zeitlang entziehen konnten, erscheint einleuchtend. Auch im Norden dürften daher in der Frühzeit des Germanischen noch andere Sprachträger existiert haben, aus deren Sprache und Namenschatz einiges ins Germanische gelangt sein kann. Kuhn rechnet eher damit, daß das NW-Block-Idiom im Zuge der germanischen Expansion über seine Grenzen hinausgetragen wurde, nach England (was einleuchtet), aber auch nach dem Norden. Kuhn rechnet aber mit unverschobenen Wörtern auch im Gotischen, weshalb diese auf goto-nordische Zeit zurückgehen müßten (got. tekan, an. takd). Hier eine Ausbreitung vom spätgermanisierten NW-Block anzunehmen, ist chronologisch unmöglich. Will man diesen und andere Belege in diesem Sinne gelten lassen, muß das gleiche Substrat schon im Germanischen vorhanden gewesen sein. Damit werden aber die Grenzen des NW-Blocks fließend. Die angeblich späte Germanisierung des NW-Raumes wirft auch ihre Probleme auf. Germanen (und ich meine damit Sprecher von Germanisch im Sinne der germanischen Sprachwissenschaft) scheinen doch mindestens 200 Jahre vor der Römerzeit den Rhein überquert zu haben26, und seitdem waren die Völker ständig in Bewegung. Sie waren es offenbar auch schon früher. Die Dichte der germanischen Besiedlung wird vielleicht nicht groß oder nicht
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Keltischen schon geschwunden war. Hierzu zählen auch die Zeugnisse für idg. p im „Treverischen", soweit sie stichhaltig sind. Vgl. zuletzt W. Jungandreas: Sprachliche Studien zur germanischen Altertumskunde. Wiesbaden 1981, S. 6—8. Die diesbezüglichen Arbeiten von Jungandreas enthalten jedoch vieles, was verfehlt oder anfechtbar ist, so daß man sie nur sehr kritisch, und mit entsprechender Vorsicht, verwerten kann. Vgl. K. H. Schmidt: Zeitschrift für celtische Philologie 33, 1974, S. 332 ff. in bezug auf eine frühere Arbeit Jungandreas' über die Treverer. Die Beziehung des Kuhnschen NW-Block-Idioms zu dem /»-Substrat im keltischen Bereich wurde schon anhand von *Pikul-\Picti usw. angedeutet. Ein Beispiel aus dem appellativischen Wortschatz des Keltischen mit erhaltenem idg. p (also ein Lehnwort aus dem /»-bewahrenden Substrat) ist kymr. paxur „Weide" (wozu pori „grasen"), das sicher eine Bildung von der Wurzel idg. *pä- ist ( < *pä-ro-\ J. Pokorny, in: Zeitschrift für celtische Philologie 25, 1956, S. 87), die von Kuhn im Namen Powe (s. o.) angenommen wird. Vgl. außer Krahes eigenen Arbeiten (etwa: Die Struktur der alteuropäischen Hydronymie. Wiesbaden 1963, mit Flußnamenkatalog) im besonderen die Britannien betreffenden seines Schülers W. Nicolaisen: Die alteuropäischen Gewässernamen der britischen Hauptinsel. In: Beiträge zur Namenforschung 8, 1957, S. 209 - 268 (bes. S.267f.). Great Britain and Old Europe. In: Namn och Bygd 59, 1971, S. 8 6 - 1 0 2 . S. Gutenbrunner, in: Volk und Rasse 7, 1932, S. 161.
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überall gleich groß gewesen sein, aber es war doch offenbar Zeit genug für eine sprachliche und kulturelle Germanisierung zumindest der oberen Schichten. Beide Idiome, das germanische und das ihm offenbar nahe verwandte nichtgermanische, werden längere Zeit koexistiert haben. Eine räumlich und sozial distribuierte Diglossie (oder gar Polyglossie, wenn man Gallisch miteinbezieht, das vor der Römerzeit einen hohen Prestigewert hatte) war offenbar die Voraussetzung, unter der das ältere Idiom überleben und die germanische Lautverschiebung unbeschadet oder nur wenig betroffen überdauern konnte, um erst dann als Lehngut in die nun allgemeine germanische Umgangssprache einzugehen. Es wird daher schwer vertretbar sein, zu behaupten, die Cherusker oder die Chatten seien keine oder noch keine Germanen gewesen. Der Germanisierungsprozeß war offenbar schon weit gediehen. Segestes, den Namen des bekannten Cherusker-Fürsten, hält Kuhn wegen seines st für nichtgermanisch, aber er ist keine eigentliche ^/-Bildung, sondern eine /-Bildung auf der Basis eines /-Stammes27; das s ist hier vor dem Dentalsuffix erhalten, während es in den anderen Namen der Sippe wie Segimerus verloren ist; diese aber sind gut germanisch. Die als Germani bezeichneten Völker dürften zwar ursprünglich keine Germanen in linguistischem Sinn gewesen sein, denn die Namen der linksrheinischen Germanenstämme sind meistens nur schwer oder überhaupt nicht aus dem Germanischen erklärbar 28 . Die Stammesnamen sind aber gewissermaßen Etiketten aus älterer Zeit, während in der historischen Zeit eine wenigstens teilweise, die oberen Schichten erfassende Germanisierung schon eingetreten war. 6.
Nachträgliches
Soweit der (nur in unwesentlichen Einzelheiten veränderte, und durch Anmerkungen vermehrte) Text meines beim Germanen-Symposium vorgetragenen Referates. Ich hätte damals gerne meine eigene Stellungnahme etwas ausführli27 28
Got. sigis „Sieg" = altind. sáhas- „Gewalt", aus idg. *seghes-. Die ausführlichste (und umständlichste) Diskussion der Stammesnamen der Germani cisrbenani (im weitesten Sinne verstanden) findet sich bei Birkhan (vgl. Anm. 16), S. 181—250, „Zur Ethnosbestimmung der Germani cisrbenani"·, mit Verarbeitung der gesamten bisherigen Literatur. Die Erklärungsmöglichkeiten aus dem Keltischen, oder aus einer Sprache, die nicht „germanisch" war, überwiegen dabei bei weitem die aus dem Germanischen. Bei den Personennamen, die ja einen rezenteren soziologischen Zustand wiederspiegeln, ist das germanische Element etwas häufiger geworden, das gallische zurückgetreten (Ausnahme die gallischen Prunknamen Ambio-rix und Catu-volcus, Könige der Eburones, die ebenfalls einen gallischen Namen führen); unverkennbar ist jedoch auch hier die Gruppe der „weder-noch"Namen, die Zeugen einer dritten sprachlichen Schicht sind, die als aktuelle „Sprache" vielleicht schon nicht mehr existierte, deren ehemalige Existenz sich aber in einem traditionellen Namenschatz noch manifestiert.
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cher gestaltet, mußte aber aus Gründen der notwendigen zeitlichen Beschränkung darauf verzichten. Andererseits ergab sich in der auf das Referat folgenden sehr eingehenden Diskussion Gelegenheit zu weiterführenden Bemerkungen, so daß ich — gerade auch im Hinblick auf in der Diskussion oder in anderen Referaten des Kolloquiums zum Ausdruck gekommene Feststellungen und Meinungsäußerungen — hier einzelne Aspekte des Problems noch einmal aufgreifen möchte, in der Hoffnung, die Sachlage noch etwas verdeutlichen und in dem einen oder anderen Punkt größere Klarheit erzielen zu können. 6.1. „Sprache" oder „Dialekt" Ì Daß es linguistische Argumente gibt, die für eine sprachliche Sonderstellung des von Kuhn so genannten „Nordwestblocks" sprechen, wurde von den Teilnehmern an der Diskussion ohne weiteres eingeräumt und das Schlüsselargument, unverschobene Erhaltung von idg. p (und implizit der anderen stimmlosen Verschlußlaute) ausdrücklich anerkannt (wenngleich betont wurde, daß letztere nicht sich immer konform mit p verhalten). Was dies jedoch letztlich beweise, darüber gingen die Meinungen auseinander. Es wurde eingewendet, daß der Schluß von unverschobenen Verschlußlauten auf eine besondere, vom Germanischen verschiedene Sprache nicht zwingend sei, da die Lautverschiebung ja nur eines von mehreren Merkmalen sei, die im Verband den Charakter des Germanischen ausmachen, und dialektische Merkmale nicht uniform ein ganzes Gebiet zu umfassen brauchten, sondern daß im Zuge der Ausbreitung dieses Merkmals in Raum und Zeit auch Gebiete davon ausgenommen sein (und bleiben) könnten. Das NW-BlockIdiom müsse somit nicht notwendigerweise als eine vom Germanischen separate S p r a c h e , sondern könne unter Umständen auch als ein D i a l e k t des G e r m a n i s c h e n angesehen werden, der ein bestimmtes Merkmal nicht durchgeführt habe, sondern hinsichtlich dessen auf einem archaischen Stand verharre. Sicher ist einzuräumen, daß es „Germanisch" als dialektales Diasystem (definiert durch ein Ensemble von lautlichen, morphologischen und lexikalischen Merkmalen) auch schon vor dem Eintreten der germanischen Lautverschiebung gegeben hat. Das Bewußtsein einer gemeinsamen Sprache wird ja auch durch andere Faktoren, Bewußtsein gemeinsamer Abstammung und Besitz besonderer Stammestraditionen, Kulturgüter usw., unterstrichen. Doch sind dialektale Merkmale von sehr unterschiedlicher Gewichtung, und die Verschiebung des gesamten Verschlußlautsystems ist ein sehr gewichtiges Merkmal, das eine sehr viel stärkere Verfremdung bewirkt als die Veränderung eines einzelnen Merkmals. Einem so starken Trend wie der Lautverschiebung konnte sich ein größeres Areal, das sich bewußtseinsmäßig zum Germanischen
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zugehörig fühlte, nicht für so lange Zeit entziehen. Daß die Lautverschiebung hier nicht eintrat, spricht eher dafür, daß es sich bei dem betreffenden Areal nicht um einen Dialekt des Germanischen handelte, sondern um den Dialekt eines sprachgeschichtlich älteren Kontinuums (des „alteuropäischen" Indogermanisch), von dem das spätere Germanisch selbst auch nur ein Dialekt war. Aus diesem alteuropäischen „Dialekt" konnte natürlich eine „Sprache" entstehen; bzw., bei der Sprachwerdung des Germanischen auf der einen, des Keltischen auf der anderen Seite mußte sich das dazwischen liegende Gebiet ebenfalls als „Sprache" herausheben. „Sprache" und „Dialekt" sind, in diachroner Betrachtung, Begriffe, die nicht scharf voneinander abzugrenzen sind, sondern die ineinander verfließen. Was „Sprache", was „Dialekt" ist, ist eine Funktion des realen oder sozialen Raumes, der Zeit, der Verständlichkeit. Das Bewußtsein, eine Sprache zu sprechen, läßt Dialekte als Sprechweisen dieser Sprache erleben (denn das meint „Dialekt", διάλεκτος). Solange ein überregional verständliches „Indogermanisch" (des späten, alteuropäischen Typs) gesprochen wurde, war das NWBlock-Idiom zweifellos ein Dialekt davon, ebenso wie die Vorläufer von Keltisch und Germanisch Dialekte in diesem Kontinuum waren. Später gliederten sich Keltisch und Germanisch als Sprachen aus, und dazwischen das NW-Idiom. Es kann sein, daß diesem der volle soziolinguistische Status einer Sprache nicht lange zukam, weil es bald in den Einflußbereich von Gallisch und Germanisch hineingezogen und, soweit es später germanisiert wurde, dann doch schließlich zu einem germanischen Dialektgebiet wurde. Aber im eigentlichen Sinne kann es kein Dialekt des frühen Germanischen gewesen sein. Mit dem gleichen Recht könnte man es dann auch für einen archaischen Dialekt des Keltischen halten, nämlich einen solchen, der den Schwund von idg. p nicht mitgemacht hat. Die Nähe zum Keltischen ist genauso gegeben wie die zum Germanischen, wie sich aus dem lexikalischen Vergleich ersehen läßt. Das im folgenden angeführte lexikalische Vergleichsmaterial, mit dem ich dies veranschaulichen möchte, ist nicht nur den Arbeiten von Kuhn, sondern ergänzend auch zwei Büchern von G. Lerchner entnommen: „Studien zum nordwestgermanischen Wortschatz" (Halle 1965), „Zur II. Lautverschiebung im Rheinisch-Westmitteldeutschen" (Halle 1971). In diesen beiden, von Kuhn kaum oder gar nicht herangezogenen Büchern ist der nordwestgermanische Sonderwortschatz gesammelt und verarbeitet, allerdings nicht mit Hilfe von Etymologie und Lautgeschichte auf seine mutmaßliche Herkunft untersucht. Soweit er undurchsichtig ist, harrt er weiterhin der etymologischen Deutung. Dieser Sonderwortschatz, der soziolinguistisch einem sprachlich niederen Bereich angehört (Alltagssprache im häuslichen, bäuerlichen und handwerklichen Bereich; Intim- und Vulgärwortschatz), macht, was seine Herkunft
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betrifft, einen gemischten Eindruck: Ein Teil davon ist zweifellos germanisch, ein bedeutender Teil ist etymologisch undurchsichtig, ein weiterer Teil zeigt Indizien anderartiger Herkunft — insgesamt aber ist dieser Wortschatz kaum in Schichten oder Komponenten analysierbar. Beziehungen zum Germanischen einerseits, zum Keltischen andererseits sind gegeben; ein Grundstock dieses Wortschatzes kann durchaus der Herkunft nach vorindogermanisch sein; es gibt aber zu wenig Handhaben, um diese Möglichkeit wirklich fassen zu können. Bemerkenswert in Kuhns und Lerchners Material sind lexikalische Übereinstimmungen zwischen NW-Block und Germanisch, die z. T. so eng sind, daß die Lexeme den Eindruck lautlicher Dubletten machen: pe^el I fisel „Penis" 29 *putt- ¡futt „Vulva"30 * prati- I got. frapi „Verstand"31 *bagi- I *baki- „Bach" 32 Kotten (engl, cot) / Hütte {hut) leep I as. ags. /¿/"„schwach, schlecht" 33 Solche Fälle können tatsächlich zu der Annahme verleiten, daß das NWBlock-Idiom nichts anderes sei als ein germanischer Dialekt mit erhaltenen frühen Merkmalen. Einer solchen Auffassung stehen aber doch Bedenken gegenüber, wenn man sieht, daß manche solcher Wortpaare, die wie Dubletten aussehen, in Wirklichkeit Wortketten bilden, die auch das Keltische umfassen, somit gemeinsames Erbe aus älterer Zeit sind, und aus diesem Grunde nichts für eine engere einseitige Beziehung beweisen können. Solche Fälle, die den NW-Block mit Germanisch einerseits, Keltisch andererseits verbinden, sind: *pep- (s. o. S. 191) / an. fit „Boden, Niederung" / altir. ed „Ort" (vgl. gr. πέδον usw.: idg. Erbwort) 34 *pan- (s. o. S. 191) / got .foni, dt. Fenn / altir. on „Wasser"35 *plär- (s. o. S. 190)/ engl, floor, dt. Flur / altir. lár „Fußboden" 36 else I hochd. Eller, Erle / gall, alisä37 Möglicherweise steht kaag, koog „höher gelegenes Landstück außerhalb des Deichs", „eingedeichtes Land" zu Hag einerseits, gali, caio, kymr. cae 29 30
32 33 34 35 36 37
Kuhn 1961, S . 4 f „ Lerchner 1965, S. 214f. Kuhn 1961, S. 6f., Lerchner 1965, S.220f. Kuhn 1961, S.7f., Lerchner 1965, S.215. Kuhn 1959, S . 8 f . Lerchner 1965, S. 179 {leep). Kuhn 1959, S.7; 1961, S. 5, 25. Kuhn 1959, S. 7. Kuhn 1959, S.8; 1961, S.25. Lerchner 1965, S.74f.
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„(eingezäuntes Stück) Feld" (frz. quai) andererseits in Beziehung, doch sind auch andere Möglichkeiten denkbar 38 . Das typische Küstenwort Düne (altengl. dün, ne. down, nl. duin) kann ein Zwischenglied zwischen gall, -dünum (altir. dun) „Befestigung mit Ringwall" und germ. *tüna- sein. Wenn letzteres Erbwort ist, müßte idg. d- zugrundeliegen und die Sippe von Düne aus dem Substrat stammen; doch existiert kein brauchbarer idg. Wurzelansatz mit d-. Pokorny, der kelt. düno- und die Sippe von Düne unter einer Wurzel mit dhvereint, wobei letztere dann als echtgermanisch anzusehen wäre, muß germ. *tüna- als Entlehnung aus dem Keltischen betrachten 39 . Da Düne aber eine „natürliche" Bedeutung hat und *düno-\*tüna- eine übereinstimmende technische, braucht Düne nicht unbedingt als Glied in einer ursprünglichen Kette verstanden zu werden 40 . Die Beziehungen zum K e l t i s c h e n sind überhaupt intrikater Natur. Nordwestliches Wortgut, das solche Beziehungen aufweist, kann entweder unverschoben geblieben oder im Zuge der Germanisierung der germanischen Lautverschiebung unterworfen worden sein. Letzterer Fall kann in puin „Wurzelstock" vorliegen, das an ir. bun, kymr. bon gleicher Bedeutung erinnert. Die weitere etymologische Zuordnung ist nicht klar (vielleicht zu *bbudhno- / bbundho- in dt. Boden, altir. bond, lat. fundus41 oder zu *bhen- „abhauen" 42 ); jedenfalls scheint — wenn die Zusammenstellung richtig ist — der zugrundeliegende ¿-Anlaut der germanischen Lautverschiebung unterlegen zu sein. Weitere Wörter mit — wenngleich nur oberflächlichen — keltischen Assoziationen sind dobbe „Morast" 43 , das zu altir. dobur (kelt. *dubro-) „Wasser" bzw. zu dub „schwarz" gehören kann (die Semanteme „tief", „schwarz", „Wasser" bilden bei dieser Wurzel einen semantischen Komplex), sowie zwei Fälle, wo p als ^-keltische Lautvertretung des idg. Labiovelare k? angesehen werden kann: pier „Wurm", mit ^-Suffix pirek44, wo wurzelhafter Vergleich mit altir. cruim, kymr. p r j f „Wurm" aus idg. -mi-45 möglich ist, und die Wortsippe von dt. pflegen, Pflicht, engl, play „spielen", wenn mit altir. cluiche „Spiel", cless „Waffenkunststück", clecbt „Gewohnheit", clechtaid „pflegt" zu verbinden. Das über den engeren Bereich des NW-Blocks verbreitete westger38
39 40 41 42 43 44 45
Lerchner 1965, S. 126 setzt aufgrund der Vokalrelation äjö *kauga- an; doch kann ein fremdes a auch in eine spezifische germanische Lautentwicklung hineingeraten sein. Bei Zutreffen von *kauga- könnte eine Verbindung zu got. hauhs „hoch", an. haugr „Hügel" gesucht werden. IEW 263. Lerchner 1965, S. 220. IEW 174. J. Vendryes: Lexique étymologique de l'irlandais ancien. Β. Dublin —Paris 1981. S. 117 f. Lerchner 1965, S. 60 f. Lerchner 1965, S. 216. IEW 649.
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manische Wort hätte, falls ein Fremdelement, unverschobenes p (aus gall. p < idg. jedoch verschobenen, und Verners Gesetz unterlegenen, wurzelauslautenden Guttural. Zu pflegen kann Pflug gehören; der Räderpflug ist ja eine technische Neuerung, die (nach Plinius) von den „Rätern" ausgegangen sein soll. An anderer Stelle46 habe ich der Meinung Ausdruck gegeben, daß germanische Wörter, die bei plausibler Etymologie einen nicht erwartungsgemäßen Lautstand aufweisen, der Entlehnung aus Nachbarsprachen verdächtig sind. Ich habe in diesem Zusammenhang germ. *papa- „Pfad" und ahd. usw. spell aus dem Keltischen hergeleitet, ersteres unter einem Ansatz idg. *g?a-to-s „gangbar" (Wz. *g-ä-) über kelt. * batos zu germ., mit regulärer Lautverschiebung, *papa-, letzteres als Reflex einer /¡-keltischen Entsprechung *spetlo- zu altir. scél „Sage", aus idg. *skfetlo- (sk?- Schwundstufe von *sek?- „sagen"), und habe weiters auch auf Seebolds vermeintliches Lautgesetz idg. gh- > germ, b- (etwa bitten < *ghedh-)A1 angespielt, dessen plausible Fälle ich auch eher aus sprachlicher Diffusion erklären möchte. All diese Beispiele zeigen, daß sich in dem Kontaktbereich zwischen Keltisch und Germanisch sehr differenzierte sprachliche Bewegungen abgespielt haben, die keinesfalls mit einem vereinfachenden Schlagwort erfaßt werden können. Wir ahnen hier Spuren von Gallisch und von jenem belgischen Keltisch, das vom bekannten Gallisch dialektisch verschieden gewesen sein mußte48, ehe es gallisiert, und dann nacheinander von den Nordwestblock-Orzra»/ und den „echten" Germanen transformiert und ersetzt wurde. Wir ahnen auch Spuren eines Indogermanisch, das sich der Klassifizierung als Keltisch, Germanisch oder sonstwie entzieht. Solche indogermanische Anklänge sind etwa ter „zart"49, vgl. gr. τέρην, altind. tarunautter „letzterer in einer Reihe" 50 , vgl. altind. úttara- „der obere, höhere", gr. υοτερος „der spätere" (sofern nicht germ. *ütar-, ahd. ü^aro „der äußere" vorliegt) stut- „prahlen"51, vgl. altind. stu-(t)- „loben" puinen „stampfen"52, vgl. lat. pavïre 46
47
48 49 50 51 52
In meinem Beitrag „Bemerkungen zum indogermanischen Wortschatz des Germanischen" (siehe Anm. 2), S. 109f. Siehe Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 81, 1967, S. 104—133; neuere, ausführlichere Fassung in: Lautgeschichte und Etymologie (Hg. v. M. Mayrhofer u. a.). Wiesbaden 1980, S. 4 3 5 - 4 8 4 . Vgl. Caesars Zeugnis, Bellum Lerchner 1971, S.248. Lerchner 1971, S.248. Lerchner 1971, S.248. Lerchner 1965, S.220.
Gallicum I
1,1—2.
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Welcher Schicht, welchem Volkstum im NW-Raum diese Elemente ursprünglich zuzuschreiben sind, wissen wir nicht. Jedenfalls haben wir es mit räumlich, zeitlich, soziologisch sehr verschiedenen Reflexen mehrerer Sprachen und Dialekte zu tun, was die Ausarbeitung einer kohärenten „Lautlehre", die ja eine Lautgeschichte sein müßte, in diesem Bereich zu einem von vornherein wenigversprechenden Unterfangen macht. Kuhn selbst hat sich dieser Aufgabe befremdlicherweise entzogen und scheint auch gar nicht daran interessiert. Zumindest einige Sondierungen auf diesem Gebiet sind aber nötig, um die verschiedenen Möglichkeiten erkenntnismäßig in den Griff zu bekommen. 6.2. „Germanische" oder „indogermanische"
Lautverschiebung?
Es sei an dieser Stelle die Bemerkung angefügt, daß wir allen unseren Erörterungen über Germanisch und sein Verhältnis zum Indogermanischen und zu den verwandten Sprachen, einschließlich der von Kuhn vermuteten Substratsprache(n), das traditionelle Bild zugrundegelegt haben, wonach das Germanische in bezug auf sein Verschlußlautsystem eine Verschiebung der ursprünglichen Artikulationen erfahren habe, die es von den umgebenden Sprachen, die eine solche Verschiebung nicht (oder nur teilweise) durchgemacht hätten, abhebe. Diese bisher allgemein akzeptierte, und von uns mit Selbstverständlichkeit zugrundegelegte Sicht der Dinge ist jedoch — und dies muß wenigstens einmal ausdrücklich gesagt werden — heute nicht mehr unangefochten gültig. Es hat sich (wie oben Anm. 7 schon angedeutet), eine (schon früher durch H. Pedersen begründete), heute vor allem von Gamkrelidze vertretene Gegenposition ausgebildet53, die — aufgrund ausschließlich typologischer Erwägungen — dem indogermanischen Verschlußlautsystem andere artikulatorische Lautwerte zuschreibt und dieses (unter Anlehnung an Gegebenheiten der kaukasischen Sprachen postulierte) Lautsystem54 am ehesten im Germani53
In mehreren Publikationen seit 1972. Vgl. im besonderen: Sprachtypologie und die Rekonstruktion der gemeinindogermanischen Verschlüsse. In: Phonetica 27, 1973, S. 150—156; Language Typology and Linguistic Reconstruction. In: Proceedings of the Xllth International Congress of Linguists (Hg. v. W. U. Dressler/W. Meid). Innsbruck 1978. S. 4 8 0 - 482; Hierarchical Relationships of Dominance as Phonological Universale and their Implications for Indo-European Reconstruction. In: Festschrift für O. Szemerényi (Hg. v. Β. Brogyani). Amsterdam 1979. S. 283—290. Ähnliche Standpunkte vertreten P. Hopper und andere Autoren. Der Kürze halber verweise ich auf die Literaturliste in dem in Anm. 56 zitierten Aufsatz von Th. Vennemann.
54
Statt bisher (traditioneller Ansatz) ζ. B.
d
dh
t
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sehen und Armenischen bewahrt findet — Sprachen, die man früher als lautverschiebend betrachtet hatte. Wenn diese nun aber das indogermanische Verschlußlautsystem (in dessen neuer Sicht) quasi unverschoben bewahrt haben, dann müssen konsequenterweise die anderen indogermanischen Sprachen (die früher als die konservativeren galten) die lautverschiebenden sein; mit anderen Worten, die ursprünglich geltenden Ansichten wären damit quasi auf den Kopf gestellt. Es ist einleuchtend, daß die Frage: „Welche Sprache hat verschoben, welche nicht verschoben?" von entscheidender Bedeutung für unser Problem ist, je nachdem, wie man sie zu beantworten geneigt ist. Folgte man der neuen Theorie, so hätten das Keltische, das Nordwestblock-Idiom verschobenen, das Germanische unverschobenen Lautstand. Hätten dann die Germanen ein sprachlich fortschrittlicheres Gebiet überlagert, oder verlaufen vielleicht die Bewegungen in entgegengesetzter Richtung? Mit diesen Fragen wollen wir uns hier nicht auseinandersetzen, nur unserer Meinung Ausdruck geben, daß die neue Theorie ein Konstrukt im luftleeren Raum ist, das als reine Gedankenkonstruktion mit der historischen Realität nichts gemein hat und zweifellos konkreten sprachhistorischen Argumenten — beispielsweise der absoluten und relativen Chronologie der Lehnwörter im Zusammenhang mit kulturgeschichtlichen Erwägungen über ihre Herkunft und ihren Wanderweg 55 — nicht standhalten wird. Kurzum, ich halte diese neue Theorie —
jetzt (revidierter Ansatz)
55
/' dh¡d tb\t Der Hauptunterschied gegenüber dem alten Ansatz liegt darin, daß statt stimmhaft-unbehauchtem d jetzt ein stark markiertes, glottalisiertes t' erscheint; die Opposition stimmhaft — stimmlos ist, mit optionaler, phonologisch nicht relevanter Behauchung, auf die Glieder d(h) — t(h) beschränkt. Ein Beispiel soll die Problematik erläutern: Aus linguistischen wie kulturhistorischen Gründen war und ist es wahrscheinlich, daß die Wortsippe von reich, Reich (germ. *rik- in got. reiks „Mächtiger", rtkja- in as. Adj. rìki, Subst. η. riki usw.) aus dem keltischen Königswort *rig- und seiner Ableitung *rïgio- entlehnt ist (vgl. gall, -rix, Plur. -riges „König", altir. rige „Königreich"). Zugrunde liegt (nach traditionellem Ansatz) idg. *rig-, *ré¿-¡o- (vgl. lat. rix, rigius). Der Lautwandel i > / ist ein typisch keltisches Merkmal, der Wandel g > k wurde der germanischen Lautverschiebung zugeschrieben, die das entlehnte keltische Wort im Germanischen mitgemacht hätte. All dies ist historisch plausibel, was nicht weiters erörtert zu werden braucht. Die „neue" Theorie hat sich 1. mit dem „keltischen" Merkmal /, 2. mit dem Merkmal k auseinanderzusetzen, das germanisch und in diesem Sinne ursprünglich, und nicht „lautverschoben" (Reflex von idg. k' nach dem revidierten Ansatz) sein müßte. Dies ist klarerweise ein Widerspruch. Wenn k ursprünglich, dann müßte das Wort als solches echtgermanisch (Erbwort!) sein; dem widerspricht aber die keltische Lautgebung (/). Die einzig mögliche Alternative wäre, daß das Wort vom Keltischen ins Germanische gelangt sein müßte, ehe im Keltischen die „Lautverschiebung" k' > g stattgefunden hätte, jedoch nach dem Lautwandel i > i. Allem Anschein nach ist aber der zu postulierende Wandel
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jedenfalls mit den Implikationen, die die Interpretation Gamkrelidzes nach sich zieht — für einen zwar geistreichen, aber doch einen Irrtum, der unser Problem folglich nicht wirklich tangiert. Ganz kürzlich hat, in eigenständiger Weiterentwicklung des Gamkrelidzeschen Modells, Th. Vennemann versucht, die anzunehmenden Lautverschiebungen im außergermanischen, außerarmenischen Sektor des Indogermanischen zu bestimmen und nach ihrer Distribution und relativen Chronologie zu ordnen56. Der Versuch ist, als methodisches Exerzitium, bewundernswert, aber auch er ist im Wesen ahistorisch und wird sich erst noch im Lichte historischer Argumentation zu bewähren haben. Mir sind die Implikationen dieser neuesten Theorie noch nicht voll durchsichtig, und ich muß mir daher ein endgültiges Urteil vorbehalten; ich bekenne jedoch, daß ich aus den gleichen obengenannten Gründen skeptisch bin. 6.3. Zum
Germanenproblem
Was nun (um nach diesem Exkurs zum Hauptthema zurückzukehren) das G e r m a n e n p r o b l e m im weiteren Sinne betrifft, so hatte ich im Verlauf der Schlußdiskussion meine Meinung dazu in einigen knappen Thesen resümiert. Ich wiederhole hier abschließend diese Feststellungen, ohne in die Argumentation im einzelnen einzutreten — die entsprechenden Probleme sind ja in vielfaltiger Weise in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes diskutiert. 1. Die eigentlichen Germanen haben sich offenbar, im Sinne einer Gesamtbezeichnung, selbst nicht so genannt. 2. Sie haben sich ζ. T. nur deshalb an den Namen „Germanen" (Germani) gewöhnt, weil die Gallier, und vor allem dann die Römer, es sich in den Kopf gesetzt hatten, sie so zu nennen, und das Gesamtgebiet Germania; und die Römer waren ja tonangebend.
56
k' > g älter, d. h. eher in die Vorgeschichte des Keltischen anzusetzen, als der keltische Wandel ê > i. Solange die neue Theorie nicht imstande ist, die lautlichen Probleme im Zusammenhang mit den Lehnwörtern besser zu erklären, muß der alten der Vorzug gegeben werden. Da es allerdings nur wenige Lehnwörter oder Namen gibt, die für die Frage relevant werden können und bei denen nicht auch mit Lautsubstitution u. ä. operiert werden könnte, steht zu befürchten, daß die neue Theorie — da ihre Regelanordnungen alle unkontrollierbar in die Vorgeschichte piaziert werden — weder bewiesen noch falsifiziert werden kann. In diesem Fall muß der Theorie der Vorzug gegeben werden, die am wenigsten Erklärungsaufwand benötigt. Th. Vennemann: Hochgermanisch und Niedergermanisch. Die Verzweigungstheorie der germanisch-deutschen Lautverschiebungen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 106,1984, S. 1 — 45 (über die „idg." Lautverschiebungen speziell S. 28—38).
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3. Der Germanen-Name (Germani) haftete ursprünglich an einer (kleineren) Gruppe rechtsrheinischer Stämme, die linguistisch möglicherweise gar keine „Germanen" waren. Im Zuge der Rheinüberquerung wurde der Name linksrheinisch bekannt und auf alle tatsächlichen oder vermeintlichen Verwandten rechts des Rheines ausgeweitet. 4. In der Folge war Germani ein von außen auferlegter Begriff für die Gesamtheit der rechtsrheinischen Völker, umfassend die ursprünglichen Germani wie auch die eigentlichen „Germanen". 5. Es setzt dies voraus, daß zwischen den urspünglichen Germani und den „echten" Germanen kein größerer (beobachtbarer) Unterschied in Wesen und Habitus bestand. 6. Das Sprachproblem ist davon nicht berührt, weil es der Antike nicht als solches bewußt war. Es herrschten überall (und vor allem in den Grenzgebieten) gemischte sprachliche Verhältnisse — Diglossie (oder Polyglossie) und Bi- (oder Multi)linguismus bei nicht wenigen Sprechern, so daß weder Gallier noch Römer irgendwelche Verständigungsschwierigkeiten hatten. 7. Es ist daher durchaus möglich, daß eine Substratsprache in dem Kontaktgebiet von Gallisch und Germanisch existiert hat, und zuletzt vielleicht nur noch als Sonderwort- (und Namen)schatz fortlebte. 8. Später haben wir es nur noch mit „Germanen" und „Germanisch" im Sinne der germanischen Sprachwissenschaft zu tun; „germanisch" ist dabei in heutigem Sinne ein wissenschaftlicher Begriff. 9. Die Germanen selbst haben sich in älterer Zeit als Menschen mit einer Sprache empfunden, in der Erscheinungsform von Stämmen, deren Verwandtschaft (basierend auf gleichem Ursprung, und bekräftigt durch Gemeinsamkeiten in Mythologie, Kultus und Recht) ihnen — bei aller Verschiedenheit im einzelnen — evident war. 10. In der Spätantike, als die Stämme an Selbständigkeit gewinnen, zu Völkern werden, und in zunehmendem Maße eigenes sprachliches Profil ausbilden, ist der Germanen-Name nicht mehr von Bedeutung und kommt außer Gebrauch. In einem begrenzten Sinne, der wieder auf die Ursprungslandschaft zurückverweist, sind die Franken die Nachfolger der Germani.
Bibliographie der einschlägigen Arbeiten Hans Kuhns Kuhn 1959: Vor- und frühgermanische Ortsnamen in Norddeutschland und den Niederlanden. In: Westfälische Forschungen 12, 1959, S . 5 - 4 4 = Kleine Schriften III, S. 1 1 5 - 1 7 3 . Kuhn 1960a: Vorgermanische Personennamen bei den Friesen. In: Festschrift J. H. Brouwer. Assen 1960. S. 3 7 9 - 3 8 8 = Kleine Schriften III, S. 1 7 4 - 1 8 3 .
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Kuhn 1960 b: Die alten germanischen Personennamen des Typs Hariso. In: Festschrift W. Krause. Heidelberg 1960. S. 6 3 - 7 1 = Kleine Schriften III, S. 1 8 4 - 1 9 2 . Kuhn 1961: Anlautend ρ im Germanischen. In: Zeitschrift für Mundartforschung 28, 1961, S. 1 — 31 = Kleine Schriften I, S. 3 6 1 - 3 8 9 . Kuhn 1962 a: Angelsächsisch cöp „Kappe" und Seinesgleichen. In: Festgabe für L. L. Hammerich. Kopenhagen 1962. S. 1 1 3 - 1 2 4 = Kleine Schriften I, S. 3 9 0 - 3 9 9 . Kuhn 1962 b: Das Zeugnis der Namen. In: R. Hachmann/G. Kossak/H. Kuhn: Völker zwischen Germanen und Kelten. Neumünster 1962. S. 1 0 5 - 1 2 8 = Kleine Schriften III, S. 2 0 2 - 2 3 2 . Kuhn 1963: Grenzen vor- und frühgeschichtlicher Ortsnamentypen. Mainz, Akademie der Wissenschaften und der Literatur. 1963, 4. = Kleine Schriften III, S. 2 5 6 - 2 7 6 . Kuhn 1967: Besprechung von: H. Krähe: Unsere ältesten Flußnamen. Wiesbaden 1964. In: Anzeiger für deutsches Altertum 78, 1967, S. 1 - 2 2 = Kleine Schriften III, S. 3 2 0 - 3 4 3 . Kuhn 1968 a: Die ältesten Namenschichten Frieslands. In: Philologia Frisica a. 1966. Grins 1968, S. 20 - 29 = Kleine Schriften III, S. 3 4 4 - 3 5 5 . Kuhn 1968 b: Die Nordgrenze der keltischen Ortsnamen in Westdeutschland. In: Beiträge zur Namenforschung. Neue Folge 4, 1968, S. 3 1 1 - 3 3 4 = Kleine Schriften IV, S. 3 3 3 - 3 5 4 . Kuhn 1968 c: Warist, Werstine und Warstein. Zu den Orts- und Personennamen auf -st und -stein. In: Beiträge zur Namenforschung. Neue Folge 3, 1968, S. 109—124 = Kleine Schriften III, S. 3 5 6 - 3 7 0 . Kuhn 1970: Fremder /-Anlaut im Germanischen. In: Gedenkschrift W. Foerste. Köln—Wien 1970. S. 3 4 - 5 2 = Kleine Schriften IV, S . l - 1 7 . Kuhn 1971: Ein zweites Alteuropa. In: Namn och Bygd 59, 1971, S. 5 2 - 6 6 = Kleine Schriften IV, S. 3 7 7 - 3 8 8 . Kuhn 1972: Besprechung von: J. L. Weisgerber: Die Namen der Ubier. Köln—Opladen 1968. In: Anzeiger für deutsches Altertum 83,1972, S. 9 7 - 1 2 1 = Kleine Schriften IV, S. 3 8 9 - 4 1 5 . Kuhn 1973 a: Welsch-Namen. zwischen Weser und Rhein. In: Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 8, 1973, S. 3 0 9 - 3 4 2 = Kleine Schriften IV, S.416 - 4 4 7 . Kuhn 1973 b: Das Rheinland in den germanischen Wanderungen. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 37, 1973, S . 2 7 6 - 3 1 4 = Kleine Schriften IV, S. 448 - 4 8 8 . Kuhn 1974: Das Rheinland in den germanischen Wanderungen II. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 38, 1974, S. 1 —31 = Kleine Schriften IV, S. 4 8 9 - 5 2 2 . Kuhn 1975 a: Chatti und Mattium. Die langen Tenues des Altgermanischen. In: Festschrift K. Bischoff. K ö l n - W i e n 1975. S . l - 2 6 = Kleine Schriften IV, S . 6 1 - 8 2 . Kuhn 1975 b: Name und Herkunft der Westfalen. In: Westfälische Forschungen 27, 1975, S. 1 - 7 = Kleine Schriften IV, S. 5 3 1 - 5 4 1 . Kuhn 1975 c: Die -acum-Namen am Rhein. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 39,1975, S. 3 9 1 - 3 9 5 = Kleine Schriften IV, S. 5 2 3 - 5 3 0 . Kuhn 1976: Zur zweiten Lautverschiebung im Mittelfränkischen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 105, 1976, S. 8 9 - 9 9 = Kleine Schriften IV, S. 8 3 - 9 2 . Kuhn 1977: Kracht es im Nordwestblock? Zur Kritik an meiner Namenforschung. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 106, 1977, S. 3 2 1 - 3 4 6 . Kuhn 1978: Das letzte Indogermanisch. Mainz, Akademie der Wissenschaften und der Literatur. 1978.
Germanisch-finnische Lehnforschung und germanische Sprachgeschichte V o n H . FROMM
I.
Die Forschungen über die frühen und frühesten Lehnbeziehungen zwischen germanischen und ostseefinnischen Sprachen haben in den letzten fünfzehn Jahren nicht nur zu einer Fülle neuer Ergebnisse im einzelnen geführt; sie standen und stehen vor allem, anders als alle früheren Bemühungen, dadurch unter einem veränderten Vorzeichen, daß sie in enger Fühlungnahme mit der sprachhistorischen Forschung zum Ostseefinnischen (Urfinnischen) vorangetrieben werden. Diejenigen, die das neue Bild der Entwicklung vom Frühurfinnischen zum Späturfinnischen mitgestaltet haben — ich nenne nur Lauri Posti, Terho Itkonen und Mikko Korhonen —, sind auf Jorma Koivulehtos Lehnwortuntersuchungen angewiesen, und dieser nutzt die historischen Differenzierungen, die heute möglich sind. Eine so enge Zusammenarbeit war vorher höchstens in der Personalunion von E. N. Setälä gegeben, aber er konnte das eine für das andere zu seiner Zeit nur begrenzt fruchtbar machen. Koivulehto hat bekanntlich mit zunehmender Sicherheit und Überzeugungskraft zeigen können, daß 1. die urfi. Sprachgeschichte sich entgegen älterer Anschauung vielfach als hilfreicher erweist als die länger erforschte germanische; 2. Quantität und Qualität der germ. Lehnwörter im Osfi. nicht nur auf Verkehrsberührungen beruhen können, sondern ihre geschichtliche Grundlage in einem Substrat-Superstrat-Verhältnis haben müssen — eine Anschauung, der früher schon T. E. Karsten und K. B. Wiklund zugeneigt hatten; 3. die Kontaktwellen, die E.N. Setälä (1906), Björn Collinder (1932/41) und ich (1957/58; vgl. Kylstra 1961) seinerzeit als die frühesten zu bestimmen gesucht hatten, nicht die jeweils ältesten sein können, sondern daß ihnen eine um mehrere, wenn nicht viele Jahrhunderte frühere vorausgegangen sein muß. Koivulehto setzte die Zeit der ältesten Entlehnungen in die frühostseefinnische ( = frühurfinnische = frosfi.) Periode, d.h. archäologisch ausgedrückt, in die jüngere Bronzezeit oder, in absoluter Chronologie, an die Wende vom 2. zum 1. vorchristlichen Jahrtausend.
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4. es möglich ist, auf systematischem Wege zur Ermittlung neuer Lehnwörter zu gelangen, und zwar auf dem Wege des phonotaktischen Vergleichs (zusammenfassend Koivulehto 1981c). Diese Methode hatte sich bereits 1953 L. Posti zunutze gemacht, als er die These aufstellte, daß die umfangreichen Lautwandlungen der urfi. Zeit vielfach mit der Inakzeptabilität von frosfi. Phonemsequenzen für ein germanisches Superstrat und der Rückwirkung von entsprechenden Substitutionen auf das Substrat zusammenhängen. Damit sind alte Verhältnisse umgedreht: die Datierung einer Entlehnung kann verläßlicher mit Hilfe des lappischen Vokalismus der Stammsilbe vorgenommen werden (vgl. Koivulehto 1976) als mit Hilfe einer stark theorieabhängigen Chronologisierung phonologisch-morphologischer Vorgänge im Germanischen. Damit aber ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob die germanische Sprachgeschichte aus den Ergebnissen der Lehnwortforschung ihrerseits Nutzen ziehen kann und ob ihr überhaupt auch in ihren neueren strukturalen Überlegungen ein Recht auf kritische Mitsprache eingeräumt werden kann. Koivulehto hat stets der germanischen Lehngeberseite viel Aufmerksamkeit gewidmet, hatte aber wenig Anlaß zu kritischer Überschau; denn ihm mußte es auf die Zuverlässigkeit der jeweiligen Ausgangsform und die Beurteilung ihrer phonologischen, morphologischen und semantischen Merkmale ankommen. Paradigmatisch hat er einmal in einem sehr umfangreichen Aufsatz zur Lautqualität des germ. /ê'/-Phonems vorgeführt, was aus den Lehnwörtern zu lernen ist (1981a). Ich komme später auf diese Arbeit zurück. Nicht nur auf uralistischer, sondern auch auf indogermanistisch-germanistischer Seite sind heute trotz verschiedenen Harmonisierungsversuchen die Erkenntnisse der Sprachhistoriker und der Archäologen nicht recht zur Deckung zu bringen. Das gibt dem Sprachforscher, wie jüngst Terho Itkonen noch einmal betont hat (1983, 208), die Freiheit, unbeeinflußt mit seinem eigenen Instrumentarium zu arbeiten. Andererseits wird eine Sprache ohne Sprecher immer mißlich bleiben, zumal neuere Methoden in der Archäologie ihr in Fragen der Chronologisierung ein Mitspracherecht erlauben. Man sollte daher immer wieder einen Blick über den Zaun werfen — mit aller Vorsicht gegenüber der eigentümlichen Zeitgeist-Gebundenheit der Ansätze, wie sie die Geschichte der Archäologie bisher begleitet haben.
II. In meinen Ausführungen kommt es mir nicht darauf an deutlich zu machen, in welchem Ausmaß die neueste Lehnwortforschung durch neue Etymologien das Korpus urgerm. Wurzel- oder Stammansätze gefördert hat; ich weise auch nicht auf Einzelheiten hin, die an diesem oder jenem Wort in Erscheinung treten und auf die Koivulehto in der Regel aufmerksam gemacht hat,
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sondern es geht mir um Probleme genereller Art. In ihrer Behandlung ist zu zeigen, in welcher Weise heute germ.-finn. Lehnwortforschung und germ. Sprachgeschichte aufeinander bezogen sind. An sich geht die Frage nach dem Nutzen, den die germ. Sprachforschung aus den Beobachtungen der Lehnwortspezialisten ziehen könnte, bis in die Frühzeit zurück. So hat man beispielsweise seit je aus der Tatsache, daß die germ. Tenuis in der weit überwiegenden Zahl der Lehnwörter durch die entsprechende Geminata vertreten wird, auf die besondere Fortisqualität der germ. stl. Verschlußlaute geschlossen. T. E. Karsten hat besonders auf diejenigen Fälle aufmerksam gemacht, die im Finn, durch einfachen Klusil wiedergegeben werden. Er hat diese Fälle, von denen ihm nur eine Handvoll bekannt war, konsequent als Substitutionen für eine sth. Madia aufgefaßt und sie als idg. oder vorgerm. etikettiert. Diese Benennung hat wegen ihrer scheinbaren Wichtigkeit die Gemüter einer ganzen Generation erhitzt. Der Ansatz von Entlehnungen „vor oder nach der Lautverschiebung" wurde zum Schibboleth, diese Lautverschiebung selbst zu einer Wand zwischen einem idg. und einem germ. Raum, die nur unter bestimmten Vorkehrungen durch eine Tür zu durchschreiten war. Auch Koivulehto beschreibt verschiedentlich den genannten phonetischen Prozeß als eine Entwicklung von einem Laut mit ausgeprägterer Lenisqualität zu einem mit stärkerem Fortischarakter, wobei er ausdrücklich hinzufügt, daß er diese Feststellung unabhängig von Lautverschiebungsdatierungen treffe und auch nicht auf eine Epoche vor der Lautverschiebung zielen wolle (1979, 292). Mir erscheint es prinzipiell richtig, wenn man das Problem so formuliert und die alte Entscheidung in den Hintergrund drängt. Sie unterstützt eine Tendenz, die germanistisch noch kaum deutlich artikuliert, aber wahrnehmbar ist. Ich stelle folgende Beobachtungen zusammen: 1. Nach wie vor ist die Tendenz erkennbar, den Beginn der germ. Sprachperiode an einen sprachlichen Vorgang zu binden. Es wird gewöhnlich die Lautverschiebung oder die Akzentfestlegung genannt. 2. Dabei ist aber der alte Konsens über die Anzahl der phonologischen Vorgänge, welche als ,Lautverschiebung' zusammengefaßt werden sollen, und über die Reihenfolge der einzelnen Prozesse in Auflösung begriffen. Allein eine Abfolge, welche die Medienverschiebung an den chronologischen Anfang und die Tenuisverschiebung ans Ende setzt, wurde bisher von niemandem erwogen; alles übrige erscheint denkbar (Schrodt 1973, 245). 3. Gerade die strukturalistische Betrachtung der Lautverschiebung, deren Einsetzen mit dem Namen Jean Fourquets verbunden ist, hat nicht nur die gegenseitige Systemabhängigkeit der einzelnen Prozesse betont, sondern auch die Tatsache, daß die einzelnen Systemschritte sich in großen Zeiträumen vollzogen haben können. Fourquet hat es in der Weise getan, daß er die
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bekannte griechische Parallele zur Lautverschiebung heranzog (1954), und nach ihm Hammerich, der den Übergang der asp. Medien zu sth. Spiranten von der Lautverschiebung ablöste und ihn dem Idg. zu einer Zeit „enger Nachbarschaft" der Germanen, Kelten und Italiker zuwies (1955, 21; übrigens auch schon Kluge 1913, §33 sowie Porzig 1954, 71 f. mit weiterer Lit.). „Das Urgerm. (entsteht erst), wenn die asp. Tenues zu stl. Spiranten und die stl. Medien zu Tenues werden" (1955, 22; Schrodt 1973, 249). Ob das gleichzeitig geschieht, was vom Standpunkt des phonologischen Systems möglich wäre, oder ob viele hundert Jahre dazwischen liegen, bleibt dabei offen. Die „Entmythologisierung" der Lautverschiebung wird noch weiter getrieben in einer revolutionären neuen Theorie der Lautverschiebungen von Theo Vennemann, wenn man sieht, wie der urgerm. Stufe, deren Beginn mit der Entstehung von stl. Spiranten aus stl. Klusilen zusammenfallt, noch zwei „palaeogerm." Stufen vorgeordnet und zugeordnet sind (1984, 18 ff. mit Schemaübersicht 23). Der „urgerm." Sprachstufe gehen bei Vennemann die Spirantisierung der aspirierten Tenuis (Tb > p), der Vernersche Lautwandel und der Übergang vom freien dynamischen Akzent zum dynamischen Stammsilbenakzent voraus, d. h. das Urgerm. ist hier erst konstituiert durch den vollendeten Übergang zur Spirans. Man braucht nicht so weit zu gehen wie V. Pisani, der die Realität eines konsistenten Urgermanischen überhaupt in Frage stellte (Pisani 1965, 41). Zu überzeugend sind die Neuerungen, die den gesamten Sprachraum erfassen, unter ihnen sicherlich sehr eindrücklich die Entwicklung der stl. Spirans aus dem stl. Verschlußlaut und morphologische Veränderungen im Nominal- und Verbalbereich; aber sehr berechtigt sind die Hinweise auf die zahlreichen Isoglossen, die das Germanische oder Teile seines Sprachgebiets mit den westindogermanischen Nachbarn verbinden. Dazu gehören, um aus den bekannten Zusammenstellungen nur ganz wenige wichtige Verbindungen herauszugreifen (ausführliche Auflistungen z. B. bei Porzig 1954,106 ff. 123 ff. [mit Lit.], Krähe 1954, 71 ff., Polomé 1972, 51 ff.): 1. Germ, ist mit Ital. und Kelt, verbunden durch den Übergang vom Tonhöhenakzent zum Druckakzent; durch die Entwicklung von *-//- über *-ts- > -ss- (vgl. lat. sessus zu sedere und anord. sess m. ,Sitz, Ruderbank'); 2. Germ, ist mit Ital. verbunden durch die Distributivzahlen mit dem Morphem *-no- (lat. bini < *dtvisno- und anord. tvennr < germ. *twi%na-); durch gemeinsame neue Stammbildung bei den Durativverben auf -jound -e- (lat. tacere ~ got. pahart .schweigen'); durch den Aufbau eines Zeitstufensystems auf der Grundlage des idg. Perfekts und nicht des Präteritums;
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durch die Richtungsadverbien mit -nê- (vgl. lat. superne ~ got. ütana ,νοη
außen'); durch die gleichartige Bildung der Negation (vgl. alat. noenum < *ne-oinom ~ a h d . nein < *ne- b z w . ni-ein);
3. Germ, ist mit dem Bait, oder Teilen davon verbunden durch den Übergang vom freien zum delimitativen Akzent; durch den Phonemzusammenfall von /ä/ und /ö/, den seinerzeit schon van Coetsem nach Vorgang von N. van Wijk als Sprachbunderscheinung in Anspruch nahm (1970, 27 f.; vgl. auch Krähe 1959, 15 ff. und Fromm 1977, 146 ff. Krähe sah überhaupt im Bait, die dem Germ, am nächsten stehende Sprachfamilie Alteuropas). Es fehlt bei vorsichtigem Hinschauen noch sehr viel zur Absicherung von lexikalischen und grammatischen Isoglossen, vor allem auch zur chronologischen Einordnung und gegenseitigen Stufung der Erscheinungen. Aber so viel läßt sich doch heute erkennen, daß es in der Spätphase des Indogermanischen zwischen den europäischen idg. ( = westidg.) Sprachen vielerlei ethnische Verschiedenheiten überbrückende sprachliche Verbindungen und Gemeinsamkeiten gegeben hat, daß man schon sehr früh mit starken dialektischen Gliederungen rechnen muß, die Randlagen und Übergangslagen hervorbrachten, daß insgesamt aber ein ,Alteuropäisch', wie es Hans Krähe aus der Hydronomie erschloß, als eine Stufe ernstzunehmen ist (ablehnend, weil von der Vorstellung einer durchaus einheitlichen Sprache ausgehend, W. P. Schmid 1968). Mit anderen Worten: Ein ,Vorgermanisch', dem natürlich nicht die Realität eines .geschlossenen' Idioms zuzubilligen ist, in dem es aber vielleicht schon Veränderungen des Akzentes und Obstruentenverschiebungen gegeben hat, ist als Vorstellung in die Lehnwortforschung einzubringen. Diese kann umgekehrt das Bild wesentlich bereichern, vor allem, wenn sie einmal nicht mehr bait, und germ. Lehnwörter in der Behandlung strikt getrennt hält, wie es bisher gewöhnlich der Fall war (vgl. aber jetzt Koivulehto 1983, 136 ff. und oben Anm. 1). Vorerst noch der Kontur bedürftig bleiben Versuche, den dem Urgerm. vorausgehenden, mit dem horror vacui belasteten ,vorgermanischen' Zeitraum mit Veränderungen auf morphologischer Ebene inhaltlich aufzufüllen. W. P. Lehmann (1961, 74) hat es versucht. Er siedelte in diesem Stadium den gesamten Umbau des flexivischen Systems von Nomen und Verb an. Stützende Hinweise scheint es nur für ein paar der morphologischen Wandlungen zu geben. Für das Zeitstufensystem und die Bildungsweise von Durativa wurde vorgerm. Entstehung erwogen (Porzig 1954, 87 f. 91 f.). Die engen protoitalischen und proto-germanischen („vorgermanischen") Kontakte dauerten (nach E. Polomé 1972, 49) bis in das letzte Drittel des 2.
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vorchristlichen Jahrtausends. Das ist, nach heute vorherrschender Meinung, der Zeit der bait, und auch der ältesten germ. Lehnwörter im Frosfi. Die lexikalischen Isoglossen der italisch-germanischen Symbiose bevorzugen Fischereiwesen, Jagd und landwirtschaftliche Terminologie. Das sind Sachbereiche, die zu gleicher Zeit im hohen Norden auf der Exportliste standen.
III. Im folgenden zweiten Teil meiner Ausführungen kommt es mir darauf an, an einem Beispiel anzudeuten, wie sich die Lehnwortforschung an der germanistischen Diskussion beteiligen kann. Ich wähle dazu die schon erwähnte große Arbeit Koivulehtos über das germ, /ë1/, nicht zuletzt deswegen, weil er selbst schon hier expressis verbis die Wichtigkeit der Mitsprache ausgedrückt hat (1978, 313). Die Argumentation bewegt sich in zwei Richtungen (vgl. die Ergebnisse 1981a, 363 ff.): 1. Die bekannte Opposition got. è vs. nordgerm./westgerm. ä (lëtan vs. lâta bzw. lâsgan) unterstützt als eine wichtige Isoglosse die heute mehrheitlich verfochtene Anschauung einer Zweigliedrigkeit des germ. Sprachgebietes gegenüber der traditionell verfochtenen Dreigliederigkeit von Nord-, Westund Ostgerm. Die Lehnwörter lassen mit fi. -te- ( < í)-Reflex und fi. -â( < a) den jeweiligen Lehngeber noch gut erkennen (vgl. urgerm. *mëkja- > mêkeis ,Schwert' ~ osfi. *mèkka > fi. miekka ,id.' gegen urgerm. > nwgerm. *häba% > an. háfr .Fischreuse' ~ sposfi. *haßas > fi. bavas,Netzgewebe für Fischereigeräte'). 2. Aus den Lehnwörtern ist zu schließen, daß der Gegensatz älter ist, als bisher angenommen wurde und daß nicht etwa der Abzug der Goten aus dem geschlossenen Sprachgebiet ihn hervorgebracht habe. Schon das 1. vorchristliche Jahrhundert müsse -ä- gekannt haben (Beisp. unten). Selbstverständlich bleibt dabei, daß die Entwicklung über das offene œ ging. Das Problem des germ, /ë1/ ist einfach gegenüber dem der kontroversen Entstehung von /ë2/, aber es bietet trotzdem Fragen genug. Nur auf einiges wenige gehe ich ein. Man muß die beiden /ë/ in einem Systemzusammenhang sehen in der Weise, daß die Herausbildung von /ë2/ (als Kontraktionsprodukt?) das System der germ. Langvokale auf einer verhältnismäßig späten Stufe änderte. Der Zeitpunkt ist offen. Man wertet die Tatsache, daß das Got., das Altfriesische und große Teile des Ags. nur ein /ë/-Phonem kennen, entweder als Hinweis auf späte, einzelsprachliche Entstehung von /ë2/ (Ramat 1981, 24) oder als einen sekundären Zusammenfall von /ë1/ und /ë2/ in diesen Dialekten (van Coetsem 1970, 54 ff.). Jedenfalls besaß /ë1/ bereits eine offene
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Lautqualität, als /ë2/ dazutrat. Sonst wäre der Zusammenfall auch einzelsprachlich überall erfolgt. Die finn. Lehnwörter — darunter z. B. malja .Trinkschale, Schüssel' germ. *mäl(i)ja > ags. male , id.'; kaljama .Glatteis' germ. *χάΙ(i)ja > ahd. hält .glatt'; paljas .entblößt u. ä.' germ. jäl(i)ja> an. fair .feil, verkäuflich' — erweisen nun als unzutreffend oder unwahrscheinlich folgende beiden Annahmen: 1. daß das idg. ê ( = è1) schon im Früh-Urgerm. die offene Lautqualität und damit ein Langvokalsystem */!/ *M
*/ü/ */3/
besaß (Antonsen 1972, 139 f.), 2. daß die «-Qualität erst unmittelbar vor ihren ersten Bezeugungen in den alten Runeninschriften aufkam (Ramat 1981, 24). Unter den Lehnwörtern ist fi. kalja-ma .Glatteis', dessen anlautendes kbeweist, daß die Entlehnung vor dem urfi. Wandel */ > h geschehen ist, der die Substitution eines germ, x durch osfi. h- möglich machte. Auf germ. Seite ist aber noch der Phonemzusammenfall von /ä ö/ zu /ö/ zu überlegen. Die Strukturalisten scheinen sich heute einig zu sein, daß er mit dem Zusammenfall der Kurzvokale etwa gleichzeitig und damit in Zusammenhang vor sich ging (van Coetsem 1964, §48, Antonsen 1972, 139). Verschiedene Zeitpunkte verteidigte W. Krause (1968, § 35,4), der sagte, daß man den Übergang der Langvokale „ebensowohl als späturgerm. wie als gemeingerm." bezeichnen könne, und führte an, daß got. Rümoneis aus lat. Romàni), sipöneis (aus kelt. *sepänios) und ahd. Tuonoutva (aus kelt. *Dänovios) „erweisen, daß jener Übergang zur Zeit der Entlehnung noch nicht abgeschlossen war". Für Bäcenis silva, das bekannte Paradebeispiel, billigte auch van Coetsem eine Formulierung von E.Schwarz (1951, 21), wonach „im 1.Jh. v.Chr. noch ein germ. Laut gesprochen (wurde), der im Kelt, oder Lat. durch ä wiedergegeben werden konnte". Auch Guy Tops (1973) kam in Weiterentwicklung von Ansätzen van Coetsems zum Ergebnis zweier zeitlich differenter, weil auf je verschiedene Systemänderungen zurückgehender Lautwandel, wobei der Phonemzusammenfall der Langvokale die spätere Erscheinung darstellt. Soweit ich sehe, entsprechen der Auffassung eines Phonemzusammenfalls zu verschiedenen Zeitpunkten auch die aus den Lehnwörtern zu gewinnenden Erkenntnisse. Wir haben verschiedene Lehnwörter, die auf germ, ä zurückgehen müssen, aber noch keine sichere Etymologie, die ein vorgerm. o bezeugt. Fi. otsa ,Stirn' und ohja ,Graben' substituieren nach Koivulehto ein dunkles a mit einem frosfi. o, und das einzige, jüngst beigebrachte Wort joukko,Menge,
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Menschengruppe, Tierherde u. ä.', für das Koivulehto vorgerm. o erwägt (1981b, 199 ff., bes. 205; vorgerm. *jougo- > aisl. eykr .Zugtier, Pferd'), scheint mir nicht über allen Zweifel erhaben, zumal eine permische Entsprechung, die Erkki Itkonen mitgeteilt hat, vorliegt und ich auch nicht sehe, womit sich auf idg./germ. Seite die Konsonantenverbindung -gj- bzw. -kj-, die als Quelle für die osfi. Geminate angegeben wird, rechtfertigen läßt. Koivuloehto seinerseits läßt die Möglichkeit einer Entlehnung nach dem Phonemzusammenfall ausdrücklich zu. Sieht man aufgrund dieser Überlegungen im Übergang von germ, ä > δ eine späte, aber noch die gesamte Germania erfassende Erscheinung, muß man entweder die Entstehung eines nwgerm. ä erst in die Zeit um Chr. Geburt setzen, um einen Zusammenfall beider /a/-Phoneme zu vermeiden, oder man entschließt sich anstelle eines symmetrischen Systems zu dem asymmetrischen System, das Antonsen für die späturgerm. Langvokale vorgeschlagen hat: */I/
*/ü/
* m */£/
*/o/
Koivulehto scheint, so wichtig ihm ein frühes -ä- auch ist, auch mit dieser zweiten Möglichkeit zu liebäugeln, denn er möchte solche Wörter wie fi. käydä (urfi. *käve-) ,gehen' und fi. väsyä (urfi. *väse-) .ermüden (intrans.)' hier anschließen (1981a, 365 Anm. 56). Die doppelte Vertretung im Osfi. könnte, zusammen mit den unterschiedlichen einzelsprachlichen Entwicklungen auf germ. Seite, dem -e- im Kentischen, Anglischen und Friesischen, dem sehr engen -è- im Bibelgot. und dem -ä- im übrigen West- und Nordgerm., einen Zeugniswert für frühe regionale Differenzierungen besitzen. Wenn die Lehnwortforschung an der Diskussion über die Binnengliederung des Germanischen interessiert ist, so ist es ihr wohl am meisten um den negativen Aspekt der Zurückdrängung einer „gotonordischen" Einheit zu tun, wie sie besonders von E. Schwarz (1951) vertreten wurde und wie sie seither von verschedener Seite, besonders von Hans Kuhn (1969, 198), aber auch von Th. L. Markey (1976) und anderen, kritisiert wurde. Schon die alte Lehnwortforschung zu Zeiten Thomsens, Setäläs und Karstens wurde von dem Gegensatz „nordischer" und weichselgotischer Entlehnungen beherrscht; er spielt auch heute noch eine berechtigte Rolle. Lexikalische Isoglossen wird man nicht überschätzen dürfen, und wenn man um der westgerm./nordgerm. (= nwgerm.) Verbindung willen darauf hinweist, daß eine Reihe von Lehnwörtern allein .westgermanisch' ist (Koivulehto 1981a, 343), kann die Beleglücke in anderen Dialekten reiner Zufall sein; und ein Blick auf die Karten über die germanischen Wanderungen in unseren historischen Atlanten belehrt
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uns über die unzähligen Möglichkeiten von lexikalischen Wanderungen und die Schwierigkeiten, hier gemeinsamen Innovationen o. dgl. auf die Spur zu kommen. Überhaupt sollte man der heute wohl gewachsenen Verführung zur Vorstellung von einer nur durch mehr oder weniger lockere Isoglossenbündel zusammengehaltenen Sprachgemeinschaft nicht nachgeben; denn es bleibt die Ausnahmslosigkeit nach wie vor erstaunlich, mit der noch römerzeitliche Lautwandel, von denen ich hier nur stellvertretend etwa die Hebung des -evor Nasal + Kons. (Fentii -> Φίννοι) erwähnen will, das ganze große Siedlungsgebiet erfassen. Die Beobachtung dieses Phänomens war bekanntlich für O. Höfler der Anlaß zum Entwurf seiner Entfaltungstheorie (1955, 41 ff., vgl. auch Lehmann 1977, 285 ff.). Hans Kuhn hat zu Recht immer wieder betont, daß die Sprachgemeinschaft noch lange über erkannte und beschriebene Blockbildungen hinaus eine Verständigungsgemeinschaft gewesen ist. Die Beobachtungen, die der Heldensagenforscher zu frühen Sagenwanderungen, die keineswegs nur Wanderungen ungeformten Stoffes waren, machen kann, besitzen ihre sprachgeschichtliche Relevanz. Wie dialektal .durchbrochen' dabei das Sprachgebiet in urgerm. Zeit war, liest man etwa an dem sogen. „Nordwestblock" ab, jenem binnenländischen nordwestdeutschen, bis in die heutigen Niederlande und nach Nordfrankreich hineinreichenden Sprachreduit „von Unterweser, Aller und Harz nach Süden und Westen" bis zur Oise, das Hans Kuhn als eine von der Tenuisverschiebung jahrhundertelang nur wenig berührte Sprachlandschaft, als Substratrest, eingekeilt zwischen dem Germanischen und dem Keltischen, auf der Grundlage der Namen beschrieben hat (1972, 202—232). Nicht nur unvollzogene Lautverschiebungsakte, sondern auch bis in die Römerzeit bewahrtes vorgerm. δ (statt germ, a) läßt sich hier entdecken (H.Kuhn 1972, 229). Archäologen haben mit den Mitteln ihrer Wissenschaft, auch von Seiten der modernen Siedlungsarchäologie, das sprachhistorische Bild bestätigt (R. Hachmann, G. Kossack 1962; einzelnes G. Kossack mündlich), die Kritik (G.Neumann 1971) scheint mir bisher keine wirklich entscheidenden Einwände vorgebracht zu haben; denn auch eine große Anzahl doch noch als germanisch zu erklärender Etymologien beseitigen das Gesamtphänomen nicht (vgl. auch Kuhn 1977). Substrate unter dem Germanischen sind wahrscheinlicher als das Gegenteil (vgl. Gimbutas 1968, 554, Lehmann 1977, 281). Im sogen. ,Nordwestblock' scheinen sich die Spuren jenes vorhin skizzierten alteuropäischen Vorgermanischen zu finden. Kuhn selbst spricht von einer besonderen Nähe zu Merkmalen des Italischen, aber auch von der Verwandtschaft zum Keltischen und Germanischen (1972, 230), und bevor eine solche Region in ihrer Sprache bis zu ein paar für den Historiker noch verstehbaren Kennmerkmalen .verkommen' ist, muß sie einmal ein lebendiger Dialektbereich gewesen sein, der mit seiner Nachbarschaft durch Isoglossen getrennt und durch
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Interferenzen verbunden gewesen ist. Für die Lehnwortforschung scheint sich mir die Beschäftigung aus zwei Gründen zu lohnen: sie mahnt zur Zurückhaltung, einzelne ungewöhnliche phonetisch-phonologische Erscheinungen einfach der unreflektierten Handbuchdatierung auszusetzen, und bildet, positiv, Erfahrung in der Behandlung synchroner Modelle in diachroner Projektion, wie sie ähnlich der ostseefinnisch-lappischen Sprachgeschichte in jüngerer Zeit sehr wichtig geworden sind (M. Korhonen 1976 ab, T. Itkonen 1972 und 1983).
IV. Mein nächstes Beispiel ist der Morphologie entnommen. Morphologische Fragen haben die Untersuchungen zum germanisch-ostseefinnischen Sprachkontakt selten beschäftigt. Immer standen lexikalische Entlehnungen im Vordergrund des Interesses. Bei den idg.-fiugr. Kontakten war das anders. Hier luden zutageliegende Ähnlichkeiten zwischen den Flexionsmorphemen beim Nomen und Verbum seit je ein, Morphologisches einzubeziehen (ζ. B. Collinder 1964, 35 ff.; Joki 1973). In unserem Bereich wurde am ehesten im Zusammenhang mit dem bekanntlich durchaus unfiugr. aussehenden ostseefinn.-lappischen Verbalsystem Lehneinfluß erwogen. Bait, und germ. Einwirkung standen hier zur Diskussion, ohne daß man der Frage ausführlich nachgegangen wäre (Ikola 1953, E. Itkonen 1966, 284, Korhonen 1981, 303 f., Fromm 1982, 103 ff.). Hier soll uns nur eine Einzelheit beschäftigen. Jorma Koivulehto hat die Beobachtung gemacht, daß der weitaus größte Teil der ins Osfi. aus dem Germ, entlehnten Verben aus den sogen, sw. Klassen der germ. Verbalflexion stammt, also im Germ, auf *-jan (-ian), *-δη, *-ên auslautet, und hat als Grund dafür vermutet, daß diese Verben „sich offenbar eher den anderen fi. Verbtypen angepaßt haben" (1974, 119 f.). Diese Begründung erscheint deswegen unbefriedigend, weil man sich nur schwer vorstellen kann, daß bequemer formaler Anschluß und nicht semantische Gründe für eine Entlehnung maßgebend sind. .Unbequeme' Phonemstruktur im morphonologischen Bereich führt gewöhnlich zu radikalen Eingriffen und Klassenzuweisungen, nicht aber zur Zurückweisung des Lexems. Sucht man nach anderen Gründen, wird man darauf geführt, daß das von Koivulehto konstatierte Faktum mit dem hier wie dort in der geschichtlichen Entwicklung wechselnden Verhältnis von Aspekt bzw. Aktionsart und Zeitbezug in den jeweiligen Verbalsystemen zusammenhängen könnte. Nach J . Budenz' und E. N. Setäläs Vorstellungen hat in den fiugr. Sprachen eine dem Idg. vergleichbare Entwicklung von einem primär aspektbezeichnenden zu einem primär den Zeit- oder Zeitstufenbezug anzeigenden System stattgefunden (vgl. E. Itkonen 1966, 285 und W.Meid 1971, 9 f.). Bekanntlich haben
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die idg. Sprachen für das Verhältnis zwischen den beiden Kategorien und ihren formalen Korrelationen ganz verschiedene Lösungen gesucht (vgl. J. Korylowicz 1964). Für die germ, (oder vorgerm.?) Umstrukturierung des Systems scheint charakteristisch zu sein, daß für die in der Entwicklung verblaßte aspektive oder aktionsartbestimmte Komponente kompensatorische Möglichkeiten entwickelt wurden, um sie mit dem Zeitstufensystem in irgendeiner Weise zu verbinden. Dazu gehörten nicht nur die neue Verbindung des Verbs mit dem Präverb *ga-, d.h. die Grammatikalisierung dieses Präverbs (über die Beziehung zu lat. con- zuletzt Bammesberger 1981), die Bildung periphrastischer Konstruktionen nach der Art der engl, progressive form, und weiterhin die (erst einzelsprachliche, weil im Bibelgot. fehlende) Bildung periphrastischer Tempora mit ,haben' oder ,sein', die neben verfeinerter Zeitbezugbestimmung auch, z. B. im Plusquamperfekt, den perfektiven Aspekt zum Ausdruck bringen können. Dazu gehörten schließlich in besonderer Weise die vier Klassen der sw. Verben, deren Bildungsmorpheme Aspektund Aktionsartbedeutung besitzen: kausative, iterative, durative und inchoative (vgl. P.Krämer 1971, 7 8 - 8 1 [Zusammenfassung]; Ramat 1981, 167). Man muß sich diese Bedeutungsmerkmale, die dann einzelsprachlich schneller Abnutzung ausgesetzt waren, zur Zeit der Systembildung als klar profiliert vorstellen. Eine erkennbare Opposition bilden z. B. noch neben zahlreichen anderen ahd. Huben (< *-jan) ,liebmachen' φ liubön ,lieben' (Krämer 1971, 67 ff.). Kurylowicz hat in der Festschrift für Wolfgang Steinitz auch die Entstehung des germ. Dentalpräteritums der sw. Verben in diesem Zusammenhang gesehen, dessen komplizierte Forschungsgeschichte mit den beiden Anknüpfungen (idg. *dhö-jdhe- ,tun' oder das intransitive Partizip auf *to- > germ. *âa-) mich hier nicht beschäftigen soll (vgl. die Lit. bei Tops 1974 und van Coetsem 1970, 77-80). Er schreibt: Das allomorphe Verhältnis, d. h. die semantische Gleichwertigkeit, des st. und sw. Präteritums muß das Ergebnis eines Zusammenfalle zweier ursprünglich funktionell differenzierter Flexionsformen darstellen . . . Eine naheliegende Erklärung wäre, daß es sich . . . um eine Erneuerung des ererbten idg. Imperfekts handelt (1965, 246).
Das heißt: Es gab, nach Kurylowicz, Dentalpräterita ursprünglich für den gesamten verbalen Wortbestand des Germ. Relikte des urgerm. Zustands möchte er noch in den verba praeterito-praesentia mit ihren aus einem st. Präteritum hervorgegangenen Präsens und in den bindevokallosen Präterita vom Typ ivaúrkjan : waúrhta ,wirken : ich wirkte' erkennen. Sei dem, wie dem sei, ich halte es, um auf die Ausgangsfrage zurückzuleiten, für möglich, daß das semantische Merkmal von Resultativität bzw. Vorgängigkeit eines Prozesses, das im germ. sw. Verbum zum Ausdruck kommt (vgl. W. Meid 1971, 107 ff., bes. 112), einen bestimmenden Anreiz für
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die Entlehnung ins Osfi. darstellte. Der Anlaß ist dabei nicht leicht anzugeben; zwei Möglichkeiten erscheinen denkbar: 1. Die frosfi. Periode befand sich in einer geschichtlich vergleichbaren Situation wie die urgerm. Sie entwickelte mit der Umschichtung ihres Verbalsystems entsprechende Kompensationen, um sich aspektive Ausdrucksmöglichkeiten zu bewahren. Dazu mögen gehört haben: a. die Hinzufügung einer Kopula bei partitivischem Prädikat bzw. Prädikativ: fi. mies kaatunut —• mies on kaatunut ,der Mann gefallen —• der Mann ist gefallen', lp. aü'üe vuol'gam —• al'üe la vuol'gam ,der Vater gekommen —> der Vater ist gekommen' b. die Bildung der dem Germ, ganz entsprechenden Syntagmen fi. hän oli lukemassa, lp. son lai lokkàmin ,er war beim Lesen' c. die Bildung periphrastischer Tempora — vor dem Germ. d. die Bildung neuer Derivationssuffixe mit Aktionsartbedeutung (fi. anello ~ lp. âd'dalit