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German Pages 418 Year 2015
Georg Friedrich Meier (1718–1777)
Werkprofile Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts
Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Merio Scattola und John Zammito
Band 7
De Gruyter
Gideon Stiening, Frank Grunert (Hrsg.)
Georg Friedrich Meier (1718–1777) Philosophie als „wahre Weltweisheit“
De Gruyter
Abbildung S. 5: Kupfer Georg Friedrich Meiers als Hallenser Ordinarius. In: Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle im Magdeburgischen: Hemmerde, 1748, Bd. 1, Frontispiz. Bayerische Staatsbibliothek München L.eleg.g. 255-1. urn:nbn:de:bvb:12-bsb10574308-6
ISBN 978-3-11-040179-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040226-1 e-ISBN (ePuB) 978-3-11-040235-3 ISSN 2199-4811 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Georg Friedrich Meier (1718‒1777)
Inhaltsverzeichnis FRANK GRUNERT, GIDEON STIENING Einleitung: Georg Friedrich Meier und die Philosophie als ›wahre Weltweisheit‹ ......................................... 13
I. BIOGRAPHIE UND HISTORISCHER KONTEXT HANS-JOACHIM KERTSCHER Georg Friedrich Meiers Platz im geistig-kulturellen Leben der Stadt Halle ............................... 25 MARCUS CONRAD Verlag und Vertrieb von Publikationen Georg Friedrich Meiers bei Gebauer und Hemmerde ............................................................................................................ 43 KAY ZENKER Zwei Jahrzehnte Volksaufklärung (1748–1768). Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften ............................................... 55
II. METAPHYSIK ANDREE HAHMANN Georg Friedrich Meier über Substanz und Akzidenz .................................................................... 83 GIUSEPPE MOTTA Meiers transzendentale Definition einer Ontologie der Zufälligkeit ........................................... 99 FALK WUNDERLICH Meiers Verteidigung der prästabilierten Harmonie ........................................................................ 113 ALEXEI N. KROUGLOV Die Wahrheit der Welt in Meiers Kosmologie ............................................................................... 123
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Inhaltsverzeichnis
III. LOGIK UND PSYCHOLOGIE ACHIM VESPER Selbstdenken und Zeugnis anderer in Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre.............................. 145 PAOLA RUMORE Georg Friedrich Meiers Theorie einer Unsterblichkeit der Seele im zeitgenössischen Kontext............................................................................................................. 163 UDO ROTH »Erlernung der Gesetze der Natur der Seele« Die Rezeption von Georg Friedrich Meiers Seelenlehre in der zeitgenössischen Medizin ...... 187
IV. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE NELE SCHNEIDEREIT Unwissenheit, Irrtum und Zweifel in Georg Friedrich Meiers Moralphilosophie ..................... 211 ALEXANDER AICHELE »Der Mensch denckts, Gott lenckts«. Georg Friedrich Meiers Versuch eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs ............................ 231 DOMINIK RECKNAGEL Georg Friedrich Meiers »Recht der Natur« im Kontext des hallischen Naturrechtsdiskurses ........................................................................... 245 DIETER HÜNING Das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden«. Naturrecht und Naturzustand in Georg Friedrich Meiers Recht der Natur .................................. 259
V. ÄSTHETIK UND SPRACHE STEFANIE BUCHENAU Weitläufige Wahrheiten, fruchtbare Begriffe, Georg Friedrich Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften .................................................. 287
Inhaltsverzeichnis
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GIDEON STIENING »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste« Georg Friedrich Meiers ästhetische Theorie................................................................................... 299 JUTTA HEINZ Die »Wissenschaft der Beurtheilungskunst«. Georg Friedrich Meiers Abbildung eines Kunstrichters ....................................................................... 323 HANS-PETER NOWITZKI Von den Seelen der Tiere und ihren Sprachen. Johann Jacob Plitts Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere .................................................................... 337
VI. ANHANG Zeittafel. ............................................................................................................................................... 379 Bibliographie. ...................................................................................................................................... 382 Personenregister ................................................................................................................................. 414
EINLEITUNG
FRANK GRUNERT, GIDEON STIENING
Einleitung Georg Friedrich Meier und die Philosophie als ›wahre Weltweisheit‹ Ein wahrer Weltweiser erinnert sich dass er ein Mensch ist, und philosophirt als ein Mensch, unter Menschen, auf eine menschliche Art. G. F. Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen
1. Das Programm einer ›wahren Weltweisheit‹ Das Programm einer »wahren Weltweisheit« hat Georg Friedrich Meier bereits früh formuliert. Ein Jahr bevor er 1746 mit achtundzwanzig Jahren in Halle zum Extraordinarius für Philosophie berufen wurde, hatte der junge Privatdozent die Abbildung eines wahren Weltweisen1 publiziert. Diese Selbstverständigungsschrift eines deutschen Aufklärungsphilosophen stellt bei Lichte besehen nichts weniger als eine Programmschrift dar, die Anspruch auf eine längerfristige Geltung erhebt. So kann sie schon deswegen nicht als Frühwerk abgetan werden, weil Meier sie für wichtig genug hielt, um sie 1762 ein weiteres Mal zu publizieren; zudem greift er in der 1752 veröffentlichten Vernunftlehre so offenkundig auf seine zuvor angestellten Überlegungen zurück, dass die Abbildung bisweilen als partieller Vorläufer der Vernunftlehre angesehen wird.2 Schon der Titel macht unmissverständlich klar, worum es dem Autor geht, jedes Wort fungiert als markantes Signal. Obwohl es ausdrücklich um den »Weltweisen« geht, handelt es sich bei dem Text tatsächlich um eine Abhandlung über die im 18. Jahrhundert als »Weltweisheit« apostrophierte Philosophie.3 Dabei wird mit der im Titel prononcierten Figur des »Weltweisen« bereits angedeutet, dass die Philosophie hier nicht als bloß theoretische Unternehmung aufgefasst wird, 1
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Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745 [ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean Ecole u.a. Hildesheim, Zürich New York 1962ff., Abt. 3: Materialien und Dokumente, Bd. 100]. Vgl. Mirjam Reischert in ihrer Einführung zu dem obengenannten Neudruck, S. XI. Reischert bestätigt und bekräftigt eine Beobachtung von Günter Schenk im Anhang zu der von ihm besorgen Neuausgabe der Vernunftlehre, vgl.. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Nach der bei Johann Justinus Gebauer in Halle 1752 erschienenen ersten Auflage in zwei Teilen herausgegeben, bearbeitet und mit einem Appendix versehen von Günter Schenk. 3 Bände. Halle 1997, S. 841. Vgl. Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne. In: Studia leibnitiana XV/1 (1983), S. 2–18. Wiederabgedruckt in: Ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 343–364 sowie: Winfried Schröder: »Weltweisheit«. Marginalien zum Philosophiebegriff der deutschen Aufklärung. In: Heinrich P. Delfosse u. Hamid Reza Jousefi (Hg.): »Wer ist weise? Der gute Lehr von jedem annimmt«. Festschrift für Michael Albrecht zum 65. Geburtstag. Nordhausen 2005, S. 17–29.
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vielmehr ist sie als »wahre« Philosophie darauf angewiesen, dass der Weltweise sie als denkender und tätiger Mensch lebensweltlich und lebenswirklich einlöst. Die Betonung des »wahren« Weltweisen grenzt diesen von einem falschen ab. Meier macht damit auf ein von ihm konstatiertes Krisenphänomen aufmerksam: Inmitten »philosophische[r] Zeiten« hat – wie es später im Text heißt – die zur »Mode« gewordene Weltweisheit falsche Philosophen auf den Plan gerufen. Diese mit zorniger Entschiedenheit von Meier als »unächte Weltweise«, »gelehrter Pöbel«, »Windmacher« »After-Weltweise« oder gar als »philosophisches Ungeziefer« bezeichneten falschen Weltweisen diskreditieren die Philosophie und zerstören ihren vielfältigen Nutzen. Angesichts dessen soll die »Abbildung« eines wahren Weltweisen zeigen, »wie die wahren Weltweisen von ihren Affen unterschieden sind« (S. 6). Damit sollen zum einen die sich formierenden »Feinde der Weltweisheit« widerlegt werden, die angesichts der verbreiteten falschen Weltweisheit leichtes Spiel haben, und zum anderen soll »allen angehenden Weltweisen ein Muster« vorgestellt werden, aus dem sie »die Regeln herleiten können, die sie ausüben müssen, wenn sie zu der Gesellschaft der wahren Weltweisen […] gerechnet werden wollen« (S. 7). Die Abbildung eines wahren Weltweisen ist daher als Vorbild nicht zuletzt eine Anleitung, und darin sieht Meier ihren »grösten Nutzen«. Meier verfolgt mit seinem Unternehmen keine bescheidenen Ansprüche: Es geht ihm nicht um die Integrität einer von außen wie von innen in Frage gestellten Disziplin, vielmehr will er als Vertreter des Fachs die Emanzipation der Philosophie von ihrer Rolle als ancilla theologiae unterstützen und damit helfen, ihre Ambitionen als Leitwissenschaft durchzusetzen.4 In diesem Sinne definiert Meier die Weltweisheit grundlegend und in expliziter Abgrenzung von theologischen Ansprüchen als »eine Wissenschaft der allgemeinern Beschaffenheit der Dinge […] in so fern dieselben ohne Glauben können erkannt werden« (S. 13). Diese Definition verbindet Meier später mit der Überzeugung, dass eine jede philosophische Wahrheit als Resultat der wahren Weltweisheit »ihre Früchte durch alle Teile der Gelehrsamkeit, durch das ganze Reich der Wahrheiten« verteilt. Weil auf diese Weise durch ein Mehr an philosophischen Wahrheiten ein Mehr an allgemeinem Nutzen gestiftet wird, kann sich ein wahrer Weltweiser »allen Gelehrten verbindlich, und sich ihnen unentbehrlich machen« (S. 24). Denn »alle Wissenschaften brauchen seiner Hülfe, und er sucht und entdeckt die Quellen, die er der ganzen Welt eröffnet, und woraus alle Künste und Wissenschaften ihre Nahrung und ihren Wachsthum schöpfen können«, die Weltweisheit – so erklärt Meier abschließend – wird so »zu einer Mutter aller Künste und Wissenschaften« (S. 68). Den Anspruch auf die Rolle einer bzw. der Leitwissenschaft kann die Weltweisheit freilich nur als »wahre« Weltweisheit erheben. Daher muss es Meier darum gehen, Kriterien zu benennen und festzulegen, die die Wahrheit der Weltweisheit ausweisen. Als ein in Halle ausgebildeter und sich als Schüler von Alexander Gottlieb Baumgarten verstehender Philosoph kann Meier dabei auf Traditionen zurückgreifen, die sich schon seit den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Halle formiert hatten und im Umfeld von Christian Thomasius und später von Christian Wolff mit unterschiedlichen epistemologischen Voraussetzungen diskutiert wur4
Vgl. dazu Hans Erich Bödeker: Von der »Magd der Theologie«zur »Leitwissenschaft«. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14 (1990), Heft 1, S. 19–57, sowie Hanspeter Marti: Plädoyer für Unbekannt. Bemerkungen zum Streit der Fakultäten im vorkantschen Gelehrtenschrifttum. In: Delfosse u. Jousefi (Hg.): »Wer ist weise? (s. Anm. 3), S. 173–184.
Einleitung
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den. Meier differenziert zwischen insgesamt acht Merkmalen: »Ein wahrer und rechtschaffener Weltweiser« – so führt er in § 14 der Abbildung aus – »ist derjenige, der 1) so viele, 2) so edele« – d. h. wichtige – »3) so fruchtbare philosophische Wahrheiten zu erkennen sucht als ihm möglich ist, und das 4) in der grösten Klarheit, 5) auf die richtigste Art, 6) mit der grösten Gewisheit, und 7) auf die lebendigste Weise, als möglich ist« (S. 21f.). Das von Meier angeführte achte Merkmal benennt den hauptsächlichen Beweggrund für das Bemühen um eine wahre Weltweisheit, und der besteht in dem »Bestreben Gott nachzuahmen und die Ehre desselben zu befördern« (S. 22). Dieses achte Merkmal ist deswegen von besonderem Interesse, weil hier deutlich wird, dass die theoretisch selbstständige und unabhängig von theologischen Ein- und Ansprüchen begründete Philosophie dennoch in einen religiösen Kontext eingebunden bleibt. Dies mag man als eine pragmatisch-politische Rückversicherung gegenüber den in Halle noch immer einflussreichen Pietisten lesen, deren Zögling Meier in jungen Jahren immerhin war und die bekanntlich einen entscheidenden Anteil an Wolffs 1723 erfolgter Vertreibung hatten. Doch fünf Jahre nach Wolffs Rückkehr hatte sich die Situation zweifellos geändert, und Meiers emphatisches Bekenntnis zu der »bürgerlichen Pflicht in der Stadt Gottes« (S. 176) stellt sicher mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis dar, das nur einem klugen Kalkül geschuldet ist, wobei es zudem noch fraglich ist, ob ausgerechnet die Pietisten mit der von Meier verlangten philosophischen Orientierung an der Vollkommenheit Gottes einverstanden sein konnten. Verfolgt man Meiers Erläuterungen zu den von ihm in Anschlag gebrachten Merkmalen der wahren Weltweisheit, dann wird ein Philosophiebegriff sichtbar, der unterschiedliche und bisweilen widerstreitende Momente des zeitgenössischen philosophischen Diskurses aufgreift, sie nicht zuletzt mit Mitteln der Hierarchisierung integriert und schließlich mit eigenen Akzenten versieht. Ungeachtet der oben angeführten noch recht abstrakten Definition der »Weltweisheit im engern Verstande« ist Meiers Philosophiebegriff dezidiert praktisch perspektiviert: Weltweisheit zielt auf »das allgemeine beste der gantzen besten Welt, und des menschlichen Geschlechts« (S. 176), es geht – wie es an einer anderen Stelle heißt – um die »Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts« und um die »Vollkommenheit des gantzen Reichs der Wahrheit« (S. 196). Philosophische Wahrheiten sind daher »insgesamt practisch« (S. 161), und der wahre Weltweise besitzt »eine practische Erkenntnis der philosophischen Wahrheiten« (S. 159), die sowohl in der Einsicht in ihre praktische Relevanz als auch in dem von ihm geforderten Bemühen besteht, philosophisches Wissen »so practisch zu machen, als ihm möglich ist« (S. 167). Das kann allerdings nur gelingen, wenn die Erkenntnisse selbst »lebendig« sind, d.h. wenn die »philosophischen Wahrheiten dergestalt« erkannt werden, dass der Weltweise selbst als auch sein Adressat »dadurch gerührt, und zu freyen Handlungen bestimt« (S. 158) werden. Weltweisheit ist als lebendige Erkenntnis insofern praktisch als sie die »Begehrungskraft reitzt und bestimmt« (S. 158) und daher nicht nur den Verstand verbessert, sondern auf den Willen einwirkt. Um dieses »grösten, meisten, und seeligsten Vortheil[s]« (S. 159) der Weltweisheit sicher zu sein, müssen alle Erkenntnisse des wahren Weltweisen »rührend und bewegend« sein, weswegen er sich vor »aller todten, matten und speculativischen Erkenntniß« (S. 167) zu hüten hat. Dergleichen lebendige, wahre und solcherart vollkommene »philosophische Wahrheiten haben eine unvergleichliche Schönheit« (S. 164), die der wahre Weltweise mit Vergnügen empfindet. Das philosophische Erkenntnisprogramm wird bei Meier also ästhetisch erweitert, denn die Schönheit wird nicht nur intellektuell wahrgenommen, sondern über die Anschaulichkeit implizieren-
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de lebendige Erkenntnis auch sinnlich vermittelt. Insofern legt Meier entschiedenen Wert darauf, dass ein rechtschaffener Weltweiser »nicht bloß seine obern Erkenntnißvermögen, den Verstand und die Vernunft, sondern auch die untern Kräfte« (S. 98) kultiviert. Die Vernachlässigung des »untern, sinnlichen, und thierischen« Teils der Seele lässt die Weltweisen zu Missgeburten werden, die sich von ihren unteren Kräften doch nicht befreien können und von diesen auf ihrem Weg zur Wahrheit deswegen behindert werden, weil die Weltweisen ihre unteren Kräfte nicht kennen und nicht »ausgebessert« haben. Zur notwendigen Verbesserung der unteren Kräfte verlangt Meier vom wahren Weltweisen die Kenntnis der schönen Wissenschaft. Wenigstens in der Theorie habe er »Poet und Redner« zu sein, so dass er seine »dergestalt verbesserten, sinnlichen Erkenntnißkräfte in der Untersuchung und dem Vortrage der Weltweisheit« einsetzen kann. »Dadurch« – so fährt Meier fort – »wird seine Erkenntniß und Vortrag nicht nur gründlich, sondern auch schön, und gefält auf eine unendliche Art« (S. 99). Bei allem steht für Meier allerdings außer Frage, dass der wahre Weltweise sich um die »allerrichtigste Erkenntniß« zu bemühen habe; Wahrheit der Erkenntnis ist nämlich die »GrundVollkommenheit«, ohne die »die Erkenntniß gar keine Vollkommenheiten« haben kann. Denn alles Edle, Fruchtbare, Überzeugende und Rührende »ist ein blosses Blendwerk und ein Schatten der Vollkommenheit, wenn es in einem Irrthume angetroffen wird« (S. 108f.). Die Richtigkeit der Erkenntnis wird bei Meier in der Nachfolge Wolffs durch die Anwendung von dezidiert rationalistischen Erkenntnisprinzipien gewährleistet: Die Wahrheit besteht in der Ordnung des mannigfaltigen eine Sache; oder, in der Uebereinstimmung mit den allgemeinen Gründen der menschlichen Erkenntniß. Ein rechtschaffener Weltweiser sucht also, in seiner gantzen Erkenntniß, und in einem jeden Theile derselben, die gröste Ordnung, indem er die gröste Uebereinstimmung derselben, mit den allgemeinen Gründen der menschlichen Erkenntniß zu erhalten trachtet. Er verknüpft alles mannigfaltige in seiner Erkenntniß, nach dem Satze des Widerspruchs und des zureichenden Grundes, so viel als ihm möglich ist. (S. 116f.)
Es sind die schon für Leibniz und Wolff konstitutiven obersten Prinzipien des Denkens und des Seins,5 die auch für Meier die notwendigen Kriterien philosophischer Erkenntnis ausmachen: der Satz des Widerspruchs und der Satz des zureichenden Grundes. Eine wahre Weltweisheit ist erst dann gegeben, wenn durch die richtige Anwendung dieser Erkenntnisprinzipien Gewissheit erlangt wird, und so fordert Meier – im Anschluss an Wolff6 – vom ›wahren Weltweisen‹, alles daran zu setzen, die »möglichste Gewißheit zu erreichen«: Die Gewisheit unserer Erkenntniß entsteht, aus der Einsicht einer Wahrheit, aus ihren Gründen, als welches ich aus der Vernunftlehre annehme. […] Die gröste Gewisheit entsteht durch die Beweise, die man Demonstrationen nennt. […] Ein wahrer Weltweiser legt unumstößliche Gründe zum Grunde, und leitet die Wahrheiten, die es werth sind, daraus auf eine unumstößliche Art her. […] Wer gar keine philosophischen Wahrheit demonstrirt. Weil er entweder nicht kan, oder nicht will, verdient den Namen eines Weltweisen gar nicht. (S. 140–142)
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Siehe hierzu Gertrud Kahl-Furthmann: Der Satz vom zureichenden Grund von Leibniz bis Kant. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), S. 107–122. Vgl. Christian Wolff: Discursus praeliminaris de Philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Übers., eingel. u. hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 37: »In der Philosophie muß man sich um völlige Gewißheit bemühen«.
Einleitung
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Dieses rationalistische Bekenntnis dürfte geeignet sein, die bekannten Aussagen zu relativieren, die auf ein eklektisches Philosophieverständnis Meiers hindeuten. Meier kommt verschiedentlich darauf zu sprechen, dass der wahre Weltweise »sich nicht an die Schriften einer philosophischen Secte binde«, vielmehr weiß er »alle Weltweisen und ihre Schriften« je nach ihren Verdiensten zu schätzen. Der wahre Weltweise gleicht einer »fleißigen Biene […], welche in einer weiten Gegend herum schwärmt, und aus tausend Blumen, diejenigen Theilchen samlet, aus welchen sie durch ihre Kräfte den Honig bereitet« (S. 47f.). Wenn in diesem Sinne der wahre Weltweise sich zu keiner Partei schlägt, die »Wahrheit unter allen Secten« sucht und sie annimmt, wo er sie findet, so ist doch für Meier zugleich klar, dass er nur das als Wahrheit akzeptieren kann, »wovon er die Uebereinstimmung mit den allgemeinen Gründen der menschlichen Erkenntniß, nach den Regeln der Vernunftlehre, erkennt« (S. 130). Ohne Zweifel plädiert Meier hier für einen weiten Horizont, der jenseits von dogmatischen Verengungen für die Wahrnehmung von einer Vielfalt von Phänomenen und theoretischen Zugängen grundsätzlich offen ist, doch hält er zugleich und entschieden an dem rationalistischen Erkenntnisparadigma fest, das offenkundig als ein theoretischer Filter zu wirken hat. Der eklektischen Sammlung ist hier eindeutig die dann erst alles entscheidende theoretische Bewährung nachgeordnet.7 Diese in letzter Konsequenz durch die Vernunftlehre regulierte Offenheit galt für Meier ganz prinzipiell, verlangte er doch vom wahren Weltweisen ausgesprochen breite Kenntnisse. Diese betrafen die eigene Disziplin, denn »ein Theil der Weltweisheit« kann nicht ohne die Kenntnisse der ganzen Weltweisheit verstanden und »auf die gehörige Art eingesehen werden« (S. 37f.), und wurden von Meier schließlich auf »alle Theile der Gelehrsamkeit« und sogar auf diejenigen »Stücke des Lebens« ausgedehnt, »die zur Glückseligkeit der Menschen«, nicht aber zu Gelehrsamkeit gehören. Meier selbst hat dieser letzten Maxime seiner Theorie eines wahren Philosophen mit großem Engagement zu entsprechen gesucht. Sein philosophisches Werk, an dem er von den frühen 1740er Jahren bis 1776 und damit bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1777 kontinuierlich arbeitete, zeigt den Versuch, in allen sachlichen Bereichen der Philosophie auf akademischer wie auf populärer Ebene zu wirken, um damit jene »Vollkommenheit« zu erzielen, die er schon 1745 vom ›wahren Weltweisen‹ verlangte.
2. Meiers Profil als ›wahrer Weltweiser‹ Georg Friedrich Meier, dessen intellektuelle Biographie schon mehrfach skizziert wurde und daher hier nur angedeutet sei,8 hat die europäische Aufklärung zwischen 1750 und 1780 maß7
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Siehe dazu: Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 576–578. Während Albrecht mit Blick auf Meiers Nähe zum Wolffianismus diesen nicht für einen Eklektiker hält, hält Mirjam Reischert in Auseinadersetzung mit Albrecht eine genau umgekehrte Sichtweise für gerechtfertigt. Siehe Reischert: Einführung (wie Anm. 2), XVIf. Vgl. hierzu die umfassend angelegte Studie von Günter Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, die biographische Skizze bei Ricardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 63–88 sowie den Beitrag von Hans-Joachim Kertscher im vorliegenden Band.
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geblich beeinflusst, und zwar sowohl innerhalb aller Teilbereiche der Fach- oder Schulphilosophie als auch im Kontext literarischer und populärphilosophischer Diskurse der sich entwickelnden und an Dynamik gewinnenden Öffentlichkeit. Meier nahm Einfluss auf die wichtigen Debatten, Kontroversen und Forschungsentwicklungen seiner Zeit, man denke nur an die ins Zentrum des aufklärerischen Selbstverständnisses führende Frage nach den Gründen und Funktionen von Vorurteilen9 bzw. des Aberglaubens.10 Als Professor für Philosophie wirkte Meier zeitlebens in Halle, wo sich nach der 1694 erfolgten Gründung der Universität ein intellektuelles Zentrum der Aufklärung in Deutschland etabliert hatte, das in der Wahrnehmung der Zeitgenossen über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg von außerordentlicher Attraktivität war.11 Der Philosoph zog Studenten aus ganz Deutschland und Europa an und hatte somit nicht nur an dieser Entwicklung Halles als geistiges Zentrum, sondern an der deutschsprachigen und der europäischen Aufklärung insgesamt bis in die 1770er Jahre maßgeblichen Anteil. Die bedeutenden Autoren des mittleren 18. Jahrhunderts bezogen sich entweder ausdrücklich affirmativ auf Meiers Arbeiten, oder gaben eine genaue Kenntnis seiner Werke zu erkennen, wie Immanuel Kant,12 Moses Mendelssohn13 oder Gotthold Ephraim Lessing.14 Christoph Martin Wieland ließ sich am Beginn seiner Karriere von Meier fördern.15 Dieser bedeutenden Stellung in der kulturellen und wissenschaftlichen Landschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts spiegelt sich allerdings nicht in der aktuellen Forschung zu diesem Autor. Für viele Disziplinen – so die Philosophiegeschichte, die Germanistik, die Geschichtswissenschaften und die Wissenschaftsgeschichte – nehmen die Texte Georg Friedrich Meiers einen gewichtigen Stellenwert bei der entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion der eigenen
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Vgl. hierzu u. a. Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 203–232 sowie Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen 2007, S. 94ff. u. S. 164ff. Vgl. hierzu Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007. Vgl. Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989 sowie Hans-Joachim Kertscher: Literatur und Kultur im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zu geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt. Hamburg 2007. Vgl. hierzu die Arbeiten von Terry Boswell: Quellenkritische Untersuchungen zum Kantischen Logikhandbuch. Frankfurt a. M. 1991 sowie Elfriede Conrad: Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Francesco Tomasoni: Mendelssohn’s concept of the human soul in comparison with those of Georg Friedrich Meier and Kant. In: Reiner Munk (Hg.): Moses Mendelssohn’s metaphysics and aesthetics. Dordrecht [u.a.] 2011, pp. 131–157. Siehe hierzu Hans-Joachim Kertscher: Gotthold Ephraim Lessings Kritik an Georg Friedrich Meiers MessiasRezension. In: Manfred Beetz u. Giuseppe Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 237–255. Vgl. hierzu Hans-Joachim Kertscher: Georg Friedrich Meier und Christoph Martin Wieland. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Weimar [u.a.] 1997, S. 125–137.
Einleitung
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Gegenstände während der mittleren Aufklärung ein.16 Gleichwohl wurde diese zentrale ideengeschichtliche Stellung der Texte Meiers nur äußerst ungleichgewichtig bearbeitet und dessen originäre Leistungen im Ausgang von Wolff und Baumgarten in der Regel unterschätzt. Ein Schwerpunkt der bisherigen Forschung liegt auf Meiers popularphilosophischer Ästhetik, die ihm eine durchaus gewichtige Stellung innerhalb der sich im 18. Jahrhundert entwickelnden Disziplin der wissenschaftlichen Philosophie des Schönen zwischen Alexander Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant sichert.17 In gewichtigen, allerdings nur vereinzelt gebliebenen Ansätzen wurden auch Meiers prägende Beiträge zur Hermeneutik und zur Logik untersucht.18 Darüber hinaus hat sich insbesondere die germanistische Forschung mit Meiers einflussreichem Beitrag zu den in der Mitte des Jahrhunderts erfolgreichen moralischen Wochenschriften bemüht.19 In diesem Zusammenhang galt die Aufmerksamkeit der bisherigen Forschung Meiers Beitrag zur Formierung und Ausgestaltung der so genannten Popularphilosophie, die zwischen 1740 und 1780 einen lebensweltlichen Philosophiestil bevorzugte und dabei auf ältere, gegenüber der Schulphilosophie kritisch eingestellte und in Halle noch lebendige Traditionen zurückgreifen konnte. 20 Zu allen vier Schwerpunkten der bisherigen, insgesamt eher begrenzten Meier-Forschung – der Ästhetik, der Logik und Hermeneutik, der Popularphilosophie und seiner Position innerhalb der literarischen Aufklärung – bemüht sich der nachfolgenden Band ebenfalls Stellung zu beziehen. Darüber hinaus bietet er mit Studien zur Metaphysik Meiers, zu dessen Moral- und Rechtsphilosophie sowie zu seiner Sprachtheorie genuin neue Forschungsergebnisse. Der Band 16
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Vgl. hierzu den kurzen Überblick bei Riccardo Pozzo: Art. Meier, Georg Friedrich. In: Heiner F. Klemme u. Manfred Kuehn (Ed.): The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. London, New York 2010, pp. 767–773. Vgl. die ältere Arbeit von Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911 sowie neuere Studien von Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 481–506; Michael Jäger: Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim 1984; Gabriele Dürbeck: Fiktion und Wirklichkeit in Philosophie und Ästhetik. Zur Konzeption der Einbildungskraft bei Christian Wolff und Georg Friedrich Meier. In: Daniel Fulda u. Thomas Prüfer (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt a. M. 1996, S. 25–42 sowie Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin 2005, S. 365–402. Zur Hermeneutik vgl. Oliver Scholz: Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier. In: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1994, S. 158–191; Claudio La Rocca: Il conflitto delle interpretazioni. Kant, Meier, Eberhard e l'ermeneutica filosofica. In: Fenomenologia e Società 18 (1995), S. 84–108 sowie Manfred Beetz: Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik. In: Ders. u. Giuseppe Cacciatore (Hg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln [u.a.] 2000, S. 17–31; zur Logik vgl. die Arbeit von Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 8). Vgl. hierzu u.a. Wolfgang Martens: Nachwort des Herausgebers. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift. Hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 6 Theile. Halle 1748–1750. Mit einem Nachwort neu hg. von Wolfgang Martens. Hildesheim, Zürich, New York 1987, Bd. 3, S. 401– 431. Vgl. hierzu Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Populärphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 37–52.
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unternimmt vor allem den Versuch, die bislang nur vereinzelt erforschten internen Bezüge des Werkes von Georg Friedrich Meier zu integrieren, um auf diese Weise zumindest ein konturenreicheres Bild seines Œuvres zu vermitteln. Die Rekonstruktion eines tatsächlichen Gesamtbildes dürfte angesichts der Reichhaltigkeit und der Komplexität des meierschen Werkes vorderhand kaum möglich sein. Immerhin gilt es, dem hier entwickelten Bild durch einen Rekurs auf die zeitgenössischen Diskussionen und Kontroversen die historisch angemessene Kontextualität zu verschaffen. Gerade weil Meier – wie Günter Gawlick bereits 1989 betont hatte – in seinem umfangreichen Werk »fast jedes Teilgebiet der Philosophie«21 behandelt, werden seine Metaphysik, seine Logik und Psychologie sowie insbesondere seine noch weitgehend unbehandelten Moral- und Rechtsphilosophie einer eingehenden Rekonstruktion und Kritik unterzogen. Der Band will so auf der Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse Neuland der Aufklärungsforschung betreten und vermessen. Indem Meiers Beitrag zu den grundlegenden Teilbereichen der Philosophie in je gesonderten Sektionen ausführlich behandelt wird, soll sowohl die systematische Einheit von Meiers Werk als auch die spezifische Produktivität seiner publizistischen Initiativen herausgearbeitet werden.
3. Aufbau und Beiträge des Bandes Um das weit gespannte Œuvre Georg Friedrich Meiers zu erfassen und in seinem Zusammenhang darzustellen, wurden vier systematische Schwerpunkte seiner Philosophie ausgemacht und durch einzelne Studien bearbeitet. Einen ersten Schwerpunkt bilden historische Arbeiten zum sozio-kulturellen Umfeld und Kontext, in dem Meier lehrend und publizierend agierte. Hans-Joachim Kertscher, seit Jahrzehnten einer der besten Kenner von Meiers Leben und Werk, eröffnet den Band mit einer ebenso differenzierten wie anschaulichen Skizze zur Biographie des Hallenser Aufklärers und den politischen und kulturellen Konstellationen, die sich in der Universitätsstadt Halle für Meiers intellektuelle Aktivitäten anboten. Marcus Conrad ergänzt diese kontextuellen Bezüge durch eine Darstellung der Zusammenarbeit Meiers mit den Hallenser Verlegern Gebauer und Hemmerde. Dabei konnte Conrad auf Material zurückgreifen, das er zusammen mit Manuel Schulz im Rahmen eines Projektes zur Erschließung des vollständig überlieferten Archivs der Firma Gebauer-Schwetschke im Internet zugänglich gemacht hat.22 Kay Zenker beschließt diesen ersten Abschnitt mit einer ausführlichen Darlegung der organisatorischen und intellektuellen Arbeit an der Herausgabe verschiedener moralische Wochenschriften, die Meier zwischen 1748 und 1768 in Halle erscheinen ließ. Zenker kann die Begründungen und die Funktionen für diese arbeitsintensive Betätigung Meiers an den Schnittstellen zwischen akademischer und populärer Aufklärung rekonstruieren.
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Günter Gawlick: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Hinske: Halle (s. Anm. 35), S. 157. Vgl. http://www.gebauer-schwetschke.halle.de.
Einleitung
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Der zweite Abschnitt des Bandes bietet Studien, die sich mit Meiers Metaphysik beschäftigen. Diese von dem Hallenser Philosophen wie schon von Christian Wolff als »HauptWissenschaft«23 bezeichnete philosophische Disziplin konnte Meier nach jahrelanger Vorarbeit endlich zwischen 1755 und 1759 in vier Bänden in Halle veröffentlichen. Das noch insgesamt vernachlässigte Standardwerk der Metaphysik des 18. Jahrhunderts24 wird zunächst von Andree Hahmann im Hinblick auf den in ihm entwickelten Substanzbegriff interpretiert. Hahmann kann aufzeigen, dass Meier zwar in vielerlei Hinsichten auf dem Boden der wolffschen Metaphysikkonzeption steht, dennoch eigentümliche, wenngleich nicht immer tragfähige Modifikationen zu begründen sucht. Giuseppe Motta konturiert anschließend den Begriff der Zufälligkeit in Meiers Ontologie. In einer minutiösen Rekonstruktion von Begriff und Funktion der transzendentalia bei Kant und Baumgarten kann Motta Meiers eigentümliche Stellung innerhalb der rationalistischen Tradition bestimmen, die allerdings mit einem von der Forschung behaupteten Lockeanismus Meiers nicht zu vermitteln ist. Alexei Krouglov führt diese Linie fort, indem er Meiers Kosmologie einer eingehenden Analyse in ihrem Verhältnis zu Wolffs Konzept unterzieht. Der dritte Teil des Bandes enthält Studien zu Meiers Logik und zu seiner Psychologie. Achim Vesper korreliert Meiers Position zu den Themen Selbstdenken und Zeugnis anderer mit aktuellen Konzepten zu diesen Themen, wobei Vesper zu zeigen vermag, dass Meiers Argumente – allerdings unter Abstrichen – zu dieser Debatte eigenständige Überlegungen liefert. Paola Rumore beschäftigt sich mit den Begründungen, die Meier in der Auseinandersetzung um die Unsterblichkeit der Seele aufbietet. Durch eine genaue Lozierung in den komplexen zeitgenössischen Debatten-Kontext gelingt es Rumore, die Konturen von Meiers Stellungnahme präzise zu erfassen. Udo Roth ergänzt diese Abteilung mit Ausführungen zur Rezeption der Psychologie Meiers in der zeitgenössischen Medizin. Der vierte Abschnitt des Bandes enthält Beiträge zu Meiers praktischer Philosophie; vor allem die Studien dieses Abschnittes zeigen einen eigenständigen und in mancher Hinsicht durchaus innovativen philosophischen Autor, der von der Forschung in dieser Weise bislang nicht zur Kenntnis genommen wurde. Nele Schneidereit eröffnet diese Sektion mit einer Interpretation der Begriffe Unwissenheit, Irrtum und Zweifel, wie sie aus Meiers allgemeiner praktischer Weltweisheit abgeleitet werden. Alexander Aichele führt durch Meiers verzweigte Argumentationsgänge zur Begründung einer kompatibilistischen Freiheitskonzeption, die der Hallenser Philosoph in verschiedenen Schriften unternimmt. Aichele kann zeigen, dass es Meier – wie schon Leibniz, Baumgarten und vielen anderen Autoren des 18. Jahrhunderts vor Kant – nicht gelingt, einen überzeugenden Freiheitsbegriff zu entwickeln. Dominik Recknagel interpretiert Meiers Naturrecht und zeigt dabei auf, dass der Philosoph auf diesem Gebiet am deutlichsten von wolffschen und baumgartenschen Vorgaben abrückt, und zwar in Richtung einer eigen23
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Zur Bestimmung der Metaphysik als »Haupt-Wissenschaft« vgl. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen Schriften, die in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt=Weisheit herausgegeben. Frankfurt a. M. 1733, S. 7 (§ 4). So auch Michael Albrecht: Vorwort. In: Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Theile. 2. Aufl. Halle 1765. (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 108.) Mit einem Vorwort von Michael Albrecht. Hg. von Jean Ecole [u.a.]. 4 Bde. Reprint. Hildesheim, Zürich, New York 2007, S. 5*–14*.
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ständigen Interpretation ursprünglich thomasianischer Motive. Diesen Befund bestätigt die Studie Dieter Hünings, der neben grundlagentheoretischen Rekonstruktionen nachweisen kann, dass Meier in Bezug auf eine naturrechtliche Toleranz von Suizid und vorehelichem Geschlechtsverkehr als eigentümlich liberal zu bezeichnen ist. Die fünfte und letzte Abteilung bietet Studien, die sich mit Meiers Positionen zur Ästhetik und zur Theorie der Sprache beschäftigen. Stefanie Buchenau eröffnet diese Sektion mit Ausführungen zu den Grundlagen der meierschen Ästhetik im Verhältnis zu denjenigen Baumgartens. Gideon Stiening ergänzt diese Überlegungen mit Analysen zum spezifisch metaphysischen Charakter von Meiers Ästhetik. Jutta Heinz betrachtet die frühe und einflussreiche Schrift Meiers Abbildung eines Kunstrichters von 1745 und kann dabei präzise aufzeigen, dass dieser eine durchaus eigenständige Position zu der im mittleren 18. Jahrhundert blühenden Debatten um die Kompetenz eines Kritikers entwickelt. Und Hans-Peter Nowitzki beschließt den Band mit einer fulminanten Studie zu Meiers Kontroverse mit Johann Jakob Plitt über die seit Descartes intensiv debattierte Frage, ob Tiere eine Seele haben und welche Auswirkungen die jeweiligen Antworten auf die Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts aufweisen. Abgerundet wird der vorliegende Band durch eine Zeittafel, eine von Ronny Edelmann erstellte Bibliographie der Werke von Georg Friedrich Meier und der bisher erschienenen Forschungsliteratur sowie ein Personenregister. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im März 2013 mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung und des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale stattgefunden hat. Für die wertvollen praktischen und administrativen Hilfen vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle den Sekretärinnen des Zentrums, Christine Peter und Kornelia Grün, sowie Ronny Edelmann BA ganz herzlich gedankt. Zu danken ist darüber hinaus Dr. Oliver Bach (München), der sich erneut mit Geduld und Umsicht des Typoskripts angenommen hat. Schließlich gilt ein letzter Dank dem Verlag Walter de Gruyter – und dabei insbesondere der verantwortlichen Lektorin Dr. Gertrud Grünkorn –, die sich für unseren Sammelband zu Georg Friedrich Meier mit großem Engagement eingesetzt haben. Köln und Halle/Saale im Juni 2015
I. BIOGRAPHIE UND HISTORISCHER KONTEXT
HANS-JOACHIM KERTSCHER
Georg Friedrich Meiers Platz im geistig-kulturellen Leben der Stadt Halle
1. Kindheit und Jugend Samuel Gotthold Lange, der Sohn des pietistischen Theologen Joachim Lange, berichtet in der Vorrede zu seiner Biographie Georg Friedrich Meiers von einer »Abrede« zwischen dem Verstorbenen und ihm, »daß, wer von uns beyden den andern überlebt, dem abgegangenen ein Gedächtniß stiften, und sein Leben beschreiben soll«.1 Da er der Überlebende der beiden Freunde war, fühlte er sich herausgefordert, sofort seiner Pflicht nachzukommen. Bereits ein Jahr nach Meiers Tod am 21. Juni 1777 lag die Biographie, verlegt von dem halleschen Verleger Johann Jakob Gebauer, vor. Neben eigenen Erinnerungen an den Freund standen ihm handschriftliche Ausführungen des Verstorbenen zur Verfügung, die Lange wörtlich in den eigenen Text platziert hat.2 Leider stehen die Originale nicht mehr zur Verfügung. Der am 29. März 1718 in Ammendorf bei Halle geborene Georg Friedrich Meier wurde von früh an mit der singulären geistigen Situation in der Stadt Halle, dem widerspruchsvollen Neben-, Gegen- und Miteinander von früher Aufklärung und Pietismus vertraut; ja, man könnte sogar davon sprechen, dass er selbst als ein geistiges Geschöpf dieser merkwürdigen Konstellation betrachtet werden kann. Sein Vater, der aus dem im Bördekreis gelegenen Eimersleben stammende Gebhard Friedrich Christoph Meier, hatte sich, nach einem an der Helmstedter Universität begonnenen Theologiestudium, am 3. Mai 17043 in die Matrikel der Theologischen Fakultät der halleschen Fridericiana eingetragen und war als Theologiestudent mit dem pietistischen Geist dieser Fakultät vertraut gemacht worden. Nach seinem 1713 erfolgten Abgang von der Universität betreute er als Seelsorger die in der Nähe Halles gelegenen Dörfer Ammendorf und Beesen.4 Im gleichen Jahr heiratete er am 16. Mai Dorothea Kußkopf, die Witwe seines 1 2 3 4
Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778, S. 11. Lange berichtet, dass diese »im Oct. 1765« niedergeschrieben worden seien; vgl. ebd., S. 37. Sie werden hier durch ›‹ gekennzeichnet. Vgl. Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1 [1690–1730]. Unter Mitwirkung von Franz Zimmermann bearb. von Fritz Juntke. Halle 1960, S. 287. Vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 6: Biogramme Me–P. Leipzig 2007, S. 24f.
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Hans-Joachim Kertscher
Amtsvorgängers Heinrich Matthias Spielberg. Aus der Ehe mit Spielberg gingen zwei Kinder hervor, darunter der Sohn Nikolaus Heinrich, der später als Pfarrer in Markt Alvensleben (Bördekreis) amtierte.5 Zu den zwei Kindern aus erster Ehe kamen noch fünf Kinder aus der zweiten, drei Söhne und zwei Töchter.6 Die Eltern kümmerten sich um die geistige Entwicklung des von Geburt an kränkelnden Knaben selbst. Die Mutter brachte ihm das Lesen bei, der Vater Latein, Schreiben und Rechnen. Dieser hatte sich, noch als Student, nicht ungeschickt als Verfasser von Kasualgedichten betätigt, beispielsweise beim Ableben des Magdeburger Domkapitulars Moritz von Hagen, der am 27. September 1712 verstarb. Da finden sich u. a. folgende Verse: Izt lesen andre Wein / Du weist von nichts als weinen / Dein Freuden-Becher wird von Wermuths-Säfften voll. Am hellen Tage muß Dir ein Comet erscheinen / Dein Mann und Vater reicht der Zeit den lezten Zoll.7
Der solchermaßen als Literat ausgewiesene Vater verbot dem Knaben, seiner labilen Gesundheit wegen, sich mit gleichaltrigen Bauernjungen abzugeben. Auch Ausflüge in die Auenlandschaft seiner Heimat blieben aus. Meier registrierte dies mit großer Dankbarkeit: Weil ich niemand meines gleichen hatte, mit dem ich in der Kindheit spielen konnte, so vertrieb ich mir die Zeit auf eine andere Art. Mein Vater führte mich zuerst an, die grossen gedruckten Buchstaben nachzumahlen. Er konnte selbst etwas mahlen, und ich sahe sehr fleißig zu, wenn er um meinetwillen ein Pferd, oder eine Blume, oder dergleichen zeichnete, und ich bemühete mich, ihn nach zu ahmen. Ich erinnere mich, daß ich die Kirche des Dorfs, blos aus freyer Hand abzeichnete, und mein Vater bezeugte mir deshalb seine Freude und seinen Beyfall sehr lebhaft. Ich sehe nunmehr nachher, wie mein Vater auch bey meinen kindischen Zeitvertreiben mein Genie und mein Herz zu bilden gesucht. Ich habe beständig einen Eckel an den gewöhnlichen Kinderspielen gehabt.8
Gebhard Friedrich Christoph Meier baute mit am Fundament einer Biographie, die sich durch eine vorwiegend geistige Ausrichtung auszeichnen sollte. Auf einen bemerkenswerten Umstand macht Meiers Biograph aufmerksam: Da die theologische Facultät [der Fridericiana, H.-J. K.] das Amt Beesen an der Elster mit den dazu gehörigen Dörfern besaß, so war sie auch Patronin von Ammendorf, dem Geburtsort unsers Meiers. Dies war die Gelegenheit, welche ihn mit diesen grossen Männern [Professoren der Fakultät, H.-J. K.] schon in den zarten Jahren in Bekanntschaft brachte.9
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Vgl. ebd., Bd. 8: Biogramme Schr−To. Leipzig 2008, S. 311f. Namentlich ist, neben Georg Friedrich, der Bruder Gebhard Gottlob nachweisbar. Er wurde am 28. Januar 1721 geboren, studierte in Halle Theologie und versah von 1757 bis zu seinem Tod (1787) das Pfarramt in Ohrsleben (Bördekreis); vgl. Pfarrerbuch (s. Anm. 4), S. 25. Als Der Hochwürdige und Hoch-Wohlgebohrne Herr, Herr Moritz von Hagen, sonst Geist genannt, Eines Hochwürdigen Dohm-Capituls des hohen Stiffts zu Magdeburg Sub-Senior &c. Erb-Herr zu Brüningen etc. Den 27. Septembr. Anno 1712. Durch eine seelige Auflösung die Mühseligkeit dieser Zeit mit der ewigen Herrlichkeit verwechselt, solte an dem Tage der solennen Beerdigung, War der 12. Octobris, Seinem hohen Wohlthäter zu unsterblichen Andencken, der sämmtl. Leidtragenden Hoch-Adel. Familie, durch folgende Trauer-und Trost-Worte, seine Ergebenheit bezeugen Gebhard Friedrich Christoph Meier [...]. Halle [1712], unpag. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 24. Ebd., S. 5.
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Was heißen will, dass Meier bereits in früher Kindheit mit den führenden pietistischen Theologen der halleschen Universität in Berührung kam. Kurzzeitig besuchte er 1726/27 die Lateinschule der Franckeschen Stiftungen in Glaucha vor Halle, musste diese allerdings bald aus gesundheitlichen Gründen verlassen. Zwei Jahre später, 1729, wechselt er nach Halle und wohnt nun bei seinem Stiefbruder Nicolaus Heinrich Spielberg, der in Halle Theologie studiert. Meier erhält Privatunterricht bei Christoph Semler, dem Oberdiakon der halleschen Ulrichskirche, der ihn 1730 in seinem Haus aufnimmt. Semler gehörte in jenen Jahren zu den schillerndsten Gestalten der halleschen Schulgeschichte. Mit der Etablierung einer, wenn auch nur kurzzeitig bestehenden Realschule erwarb er den Ruf eines Begründers der deutschen Realschulbewegung. Sein Bildungskonzept machte sich August Hermann Francke für seine eigenen Bemühungen um einen praxisverbundenen Unterricht in seinen Schulen zueigen. Semler selbst fertigte für den Unterricht in den Franckeschen Stiftungen verschiedenste Modelle, die als Anschauungsmittel dienen sollten. Seinem Eleven Meier brachte er die Realien nahe. Der berichtet euphorisch über die Zeit in der Obhut des Oberdiakons: Diesem rechtschaffenen Mann habe ich sehr viel zu verdanken. Er war ein ungemeiner Liebhaber der Mathematik. [...] In seinem Hause war gleichsam eine mechanische Fabrique. Er ließ beständig Globos terrestres et coelestes verfertigen, und wir Kinder waren dabey beschäftiget. Er flößte uns spielend die Liebe zur Mathematik ein.10
Freilich muss er auch konstatieren: [...] ich hatte den Nachtheil, daß überhaupt die humaniora bey unserm Unterrichte weniger getrieben wurden, daher ich das Meiste von dem, was ich davon weiß, durch meine eigene Lecture gelernt habe. Und ich bestärke mich, durch mein eignes Beyspiel, in der Meinung, daß es, überhaupt davon zu reden, besser ist, wenn ein Kind, welches zur Gelehrsamkeit erzogen werden soll, auf einer öffentlichen Schule unterrichtet wird.11
Die Studienzeit Meiers an der Fridericiana, der erst zwölfjährige Knabe wurde bereits am 19. Juni 1730 an der Theologischen Fakultät immatrikuliert, begann im eigentlichen Sinne Ostern 1735. Er nutzte sie u. a., um sich in den bislang von ihm vernachlässigten Humaniora zu vervollkommnen. Maßgeblich prägten ihn darüber hinaus die Vorlesungen der Brüder Siegmund Jacob und Alexander Gottlieb Baumgarten bzw. die täglichen Gespräche mit ihnen. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen berichtet Meier: Weil ich den beiden Baumgartens täglich vor den Augen saß, und durch Disputiren und Antworten in den Collegiis ihre Liebe gewonnen, so wurden sie meine wahren Gönner und Beförderer. Sie würdigten mich ihres besondern Umgangs, und ihnen habe ich vorzüglich mein Glück zu danken.12
Zu den Literaturempfehlungen Siegmund Jacobs gehörten die Werke des von Halle 1723 vertriebenen und größtenteils an der Fridericiana verbotenen Christian Wolff. Meier studierte sie intensiv und machte sich eine ganze Reihe von Gedankengängen Wolffs zunutze. Ein Wolffianer im eigentlichen Sinne, wie das gelegentlich in der Forschung zum Ausdruck kommt, wurde er indes nicht. Vielmehr kann man ihn, ähnlich wie Alexander Gottlieb Baumgarten, als einen Mediator bezeichnen, der versuchte, einen, wenn auch nicht unproblematischen Mittelweg zwi10 11 12
Ebd., S. 27f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 35f.
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schen Wolffianismus und Pietismus zu begehen – »die Mitte«, so betont auch Günter Schenk in seiner Meier-Biographie, »gilt ihm [Meier, H.-J. K.] als Maß von Konfliktbewältigung«.13 Während seines Studiums ist er in den Jahren 1738/39 als Informator am Halleschen Waisenhaus tätig, wo er offenbar auch wohnte. Das Ende seines Studiums markiert die am 25. April 1739 unter dem Orientalisten und Theologen Christian Benedikt Michaelis erfolgte Promotion zum »Mag. phil.«.14 Im selben Jahr habilitiert er sich mit einer mathematischen Arbeit und ist somit berechtigt, an der Fridericiana Lehrveranstaltungen abzuhalten. Meier wohnt fortan in Baumgartens Haus in der Großen Märkerstraße.
2. Meier als Hochschullehrer Ebenfalls 1739 beginnt die lebenslange Freundschaft Meiers mit Samuel Gotthold Lange. Sie erwuchs aus einem Briefwechsel, den Letzterer, der in diesem Jahr das Pfarramt in dem der Stadt Bernburg benachbarten Laublingen übernommen hatte, in Gang brachte. Er hatte erfahren, dass der Magister Meier seinen studentischen Hörern, die »gegen einige wolfische Sätze Zweifel« hegten und diese schriftlich vorbrachten, versprochen hatte, darauf in der nächsten Lektion zu antworten. Das imponierte Lange, und es »entstand endlich der freundschaftlichste Briefwechsel, ehe wir uns persönlich kennen lernten«.15 Zum Beruf des Hochschullehrers musste sich Meier auf Grund seiner angegriffenen Gesundheit entscheiden, obwohl er offenbar auch dem geistlichen Beruf Neigungen entgegenbrachte. Lange vermeldet, dass Meier, ihm zur »Gefälligkeit«, in der Kirchgemeinde von Laublingen gepredigt habe, und meint: Hätte es seine Brust gelitten, die auf der Canzel weit mehr als auf dem Catheder angegriffen ward, so würde er auch im geistlichen Amte sehr nützlich geworden seyn. [...] aber der academische Lehrstuhl war der eigentliche Ort, zu welchem er am besten ausgerüstet war[.]16
Meiers Lehrveranstaltungen beginnen bereits im Sommersemester 1739. Nach seinen eigenen Angaben las er »›Logic, Metaphysik und Mathesin puram‹« und meint, »›für einen ersten Anfänger, guten Adplausum‹«17 gehabt zu haben. Insgesamt habe Meier, so teilt er mit, im Laufe seiner Hochschullehrertätigkeit die Logic, Metaphysic, Ius Naturae und die philosophische Ethic gelesen. Ausserdem habe ich dann und wann gelesen, Mathesin puram, die hebräische Grammatic, die Hermenevticam universalem, die Aesthetic, eine Einleitung in die Philosophie, den Cursum philosophicum über Gottsched und Thümmig, und die Philosophiam socialem, sammt der Homiletic.18
Und er fügt hinzu: 13
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Günter Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, S. 12f. Meier sei, so Schenk, »ein liberaler Denker von christlich-tugendhafter Gesinnung« gewesen, »der sich für keine Partei, Schule oder Denkrichtung gänzlich [habe] vereinnahmen« lassen, vgl. ebd. S. 12. Matrikel (s. Anm. 2), S. 287. Schenk: Leben (s. Anm. 13), S. 12. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 36. Ebd., S. 37. Ebd.
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Ich hielt auch in den ersten 12 Jahren meines academischen Lehrstandes Collegia examinatoria und disputatoria. Da mir es aber eine unangenehme Arbeit wurde, unendlich ofte von mir schon gehobene Einwürfe und Mißverständnisse der Anfänger der Philosophie zu beantworten, so habe ich diese Arbeit jungen Docenten überlassen.19
Ab 1740, also nach Alexander Gottlieb Baumgartens Berufung an die Viadrina in Frankfurt (Oder), übernahm er, auf Verlangen seiner »›zahlreichen Zuhörer‹«,20 dessen Vorlesungen, d.h. die Logik nach Christian Wolff, Philosophiehistorie nach Johann Franz Budde und Metaphysik bzw. Ethik nach Baumgartens eigenen Entwürfen.21 Meiers Lehrveranstaltungen wurden offensichtlich von Hörern aller Fakultäten gut besucht. Lange berichtet darüber dem Schweizer Literaturtheoretiker Johann Jakob Bodmer: »Dieser geschickte Mann ist von grosser Autorität. Die zahlreichen Hallerischen Musensöhne hangen ihm an. Er hat zum wenigsten in seinen Stunden 300 Auditores. Er hat mehr als alle Professores der philosophischen Fakultät zusammen«.22 Immerhin: In Meiers Auditorium versammelte sich etwa ein Drittel der gesamten halleschen Studentenschaft. Anfängliche Unsicherheiten im Auftritt hat Meier offenbar schnell überwunden. Verwundert äußerte sich später Johann Peter Uz, ein Hörer Meiers, gegenüber Johann Wilhelm Ludwig Gleim: »Was für ein muthiger Kunstrichter ist aus ihm [Meier, H.-J. K.] geworden! Sie werden sich noch wohl der Zeit erinnern, da wir ihn, in Halle, nicht so muthig, sondern auf dem Catheder zitternd und bebend gekannt haben«.23 Auch der Dichter und Kritiker Karl Wilhelm Ramler, der ab 1742 wohl auch die eine oder andere Vorlesung Meiers besucht hat, meinte, dass dieser Dozent ein Mann sei, »auf deßen Wort ein Student alles glaubt und ließt«.24 So gehörten, um nur einige zu nennen, die schon genannten Dichter Uz und Gleim ebenso zu seinen Schülern wie der Dichter Johann Nikolaus Götz und die Brüder Christoph Joseph und Johann Josias Sucro. Der später bedeutende Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld zählte zu ihnen, auch der spätere Kultusminister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz und Leipe und der nachmalige Kanzler der Fridericiana Carl Christoph von Hoffmann. Über eine Innovation im halleschen Universitätsbetrieb, »Meyers Privat-Lectiones«, berichtet Lange mit Stolz: Sie [deren Teilnehmer, H.-J. K.] lernten bey Meyern Tugend. Sie lernten aber noch etwas, das der Tugend zur Empfehlung und Zierde so nöthig ist, daß sie oft ohne dasselbe verkannt, ja verachtet ist. Sie lernten einen guten Anstand und Beobachtung des Wohlstandes, und der, auch zierlichen, Sitten, ohne Zwang und Pedanterey. Dis war eine neue Art von practischen Lehrstunden. Diese erfand Meiers ge19
20 21 22
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Ebd., S. 38. Zu den an der Philosophischen Fakultät der Fridericiana der Jahre 1738 bis 1778 angekündigten Vorlesungen vgl. Philosophisches Denken in Halle. Abt. 1: Philosophen des 18. Jahrhunderts. Bd. 3: Alexander Gottlieb Baumgarten. Georg Friedrich Meier. Bearb. u. hg. von Günter Schenk u. Regina Meyer. Halle 2006, S. 191–231. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 37. Vgl. Schenk, Meyer: Philosophisches Denken (s. Anm. 19), S. 191ff. Lange an Bodmer, 5.7.1746, zit. nach: Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex.[ander] Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911, S. 128. Uz an Gleim, 30.7.1747, zit. nach: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Hg und erläutert von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899, S. 181f. Ramler an Gleim, 28.2.1750, zit. nach Carl Schüddekopf (Hg.): Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Bd. 1. Tübingen 1906, S. 218.
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Hans-Joachim Kertscher selliger Geist. Bey ihm wurden Jünglinge in Gesellschaft solcher Männer gebracht, die zwar alle Hochachtung verdienten, weil sie aber durch keinen lächerlichen Stolz solche forderten, und vielmehr Meiers Absicht zu befördern sich auf alle tugendhafte Art herabliessen, alle Ehrfurcht erhielten, die ihm um so viel grösser und seltner war, da sie nicht nur in schmeichelnden Worten, sondern in würklicher Bildung der Seele nach Meiern und seiner vortreflichen Gesellschaft bestand.25
Und Lange ergänzt: Ich behaupte, daß hiedurch von Meiern ein neues Collegium Practicum der Sittenlehre, der Geselligkeit und der feinsten Lebensart gehalten wurde. Die Kosten solches Collegii kamen aus seinem Beutel. Doch da er keine Kinder hatte, sahe er alle hoffnungsvolle Jünglinge für seine Kinder an.26
Hervorzuheben ist auch Meiers Verhältnis zu seinen Studenten außerhalb des offiziellen Lehrbetriebs an der Fridericiana: »Er gönnte guten Jünglingen seinen Umgang«, so berichtet Lange, »er widmete ihnen manche Abendstunden, er zog sie, nachdem sie sich verhielten, zu seinen vertraulichern und freundschaftlichern Gesellschaften«.27 Das war an einer preußischen Universität des 18. Jahrhunderts eher die Ausnahme denn die Regel. Es dauerte freilich geraume Zeit, ehe Meier in den Professorenstand berufen wurde. Erst durch Vermittlung seines Lehrers Siegmund Jakob Baumgarten wurde man am Berliner Hof aufmerksam auf den Hallenser. Ab 1746 durfte er als außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät der Fridericiana wirken. Zwei Jahre später wurde er deren Ordinarius – allerdings mit einer geringen Besoldung, die später, so sicherte ihm sein Gönner am Preußischen Hof, der Oberkurator Freiherr Samuel von Cocceji zu, um 150 Taler erhöht werden sollte. Zu Irritationen innerhalb der Gelehrten und Denunziationen am preußischen Hof gab der Streit um die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, den Meier mit seiner Schrift Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (Halle 1746) eröffnete, Anlass. Hier differenzierte der Philosoph zwischen Vernunftwahrheiten und geoffenbarten Wahrheiten. Letztere seien göttlicher Natur und mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen nicht beweisbar. Daraufhin wurde dem Verfasser unterstellt, dass er die Schrift »den Gegnern der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele heimlich zu Gefallen geschrieben hätte«.28 Durch Meiers Einlenken mit der Schrift Vertheidigung seiner Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode (Halle 1748) und der gleichzeitigen Vermittlung des mit Meier befreundeten preußischen Obristen Christoph Ludwig von Stille am Hof konnte dort das Ansehen Meiers erheblich verbessert werden. In Parenthese sei gesagt, dass Christian Wolff, der 1740 nach Halle zurückgekehrt war, dem Gelehrtentypus, den Meier in Halle kreierte, höchst befremdet gegenüberstand. An Johann Daniel Schumacher, den Bibliothekar der Akademie in St. Petersburg, schrieb er enttäuscht im Mai 1748: Die Gelehrten, welche gründliche Erkäntnis lieben, nehmen an allen Orten sehr ab, und es nimmet ein seichtes Wesen überhand, nachdem man mit einer sogenannten Newtonischen Philosophie das
Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 99. Ebd., S. 100. 27 Ebd., S. 98f. 28 Ebd., S. 55. 25 26
Meiers Platz im geistig-kulturellen Leben der Stadt Halle
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Frantzösische Fladder-Wesen verknüpft, da man blosz durch angenehme Worte die Aufmerksamkeit von dem Verstande auf die Seite der Einbildungskraft zurücke ziehet.29
Ein Kuriosum hinsichtlich Meiers Lehrtätigkeit soll hier nicht unerwähnt bleiben. Anton Friedrich Büsching berichtet in seinen Beiträgen über einen Besuch Friedrichs II. im Juni 1754 in Halle. Der preußische König, der seinen Universitäten ansonsten nicht allzu viel Interesse entgegenbrachte,30 ließ, gelegentlich dieses Besuches, »in dem Hause, in welchem Er abtrat«,31 die Professorenschaft der Fridericiana versammeln. Konsterniert, »daß der Professoren so viele wären«,32 befragte er einige von ihnen, »und als Meier Ihm vorgestellt wurde, der über seine eigne Lehrbücher die philosophischen Wissenschaften zu lehren bekannte, befahl Er ihm über Lockes Essai sur l’entendement humain ein Collegium zu lesen«.33 Meier selbst vermerkt dazu: Als der König 1754 durch Halle ging, hatte ich die Gnade eine Unterredung mit ihm zu halten. Ueberhaupt habe ich aus dem Erfolge gemerkt, daß er mit mir zufrieden gewesen. Es gefiel ihm nicht, daß ich ihm unbekannte Compendia in meinen Collegiis zu Grunde legte. Er befahl mir über Locks Versuch vom menschlichen Verstande zu lesen. Ich unterstand mich nicht, ihm zu zeigen, daß dieses Buch nicht bequem sey, Anfängern ein Collegium darüber zu lesen. Ich gehorchte, und die Erfahrung lehrte mich, daß es kein Lesebuch sey. Ich hatte kaum vier beständige Zuhörer, und ich habe dieses Collegium nur einmal gehalten.34
Meier, der, wie bereits bemerkt, vor einer weitaus größeren Hörerschaft zu lesen gewohnt war, konnte die Lehrveranstaltung bequem in seinem neuen Haus am Großen Berlin halten. Dieses hatte ihm im selben Jahr Johann Justinus Gebauer »als Verleger seiner herrausgegebenen Logik und Metaphisic [...] zum Geschenk«35 gemacht. Das Kolleg zu Locke, das kann getrost gesagt werden, gehört zu den marginalen Erscheinungen in der Geschichte der Fridericiana. Aber immerhin zählten zu den vier Hörern drei, die später einmal zu Einfluss in preußischen Diensten gelangen sollten: der spätere Kultusminister Karl Abraham von Zedlitz und Leipe, der zehn Jahre später an die Fridericiana zum Ordinarius für Theologie berufene Johann August Nösselt und der nachmalige Kanzler der Fridericiana Carl Christoph von Hoffmann. Über den vierten im Bunde schweigen sich die Quellen aus. Es ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass es sich um Karl Gustav Struensee, den älteren Bruder des 1772 in Kopenhagen hingerichteten Ministers am dänischen Hof Johann Friedrich Struensee handelt. Der spätere preußische Staatsminister studierte Anfang der 1750er Jahre an der Fridericiana Theologie und anschließend Mathematik und Philosophie. Hoffmann war während seiner Studienzeit mit ihm eng befreundet und stand auch später in brieflichem Kontakt zu ihm. So ist es nicht ausgeschlossen, dass beide zusammen das Locke-Kolleg besuchten. 29
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Wolff an Schumacher, 6.5.1748, zit. nach Briefe von Christian Wolff aus den Jahren 1719–1753. Ein Beitrag zur Geschichte der Kaiserlichen Academie der Wissenschaften zu St. Petersburg. St. Petersburg 1860 [ND Hildesheim, New York 1971], S. 143. Anton Friederich Büsching: Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer. Fünfter Theil, der den Character Friederichs des zweyten, Königs von Preussen, enthält. Halle 1788, S. 79. Ebd. Ebd. Ebd., S. 79f. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 38f. Christian Gottlieb August Runde: Chronik der Stadt Halle 1750–1835. Hg. v. Thüringisch-Sächsischen Geschichtsverein, bearb. von Bernhard Weißenborn. Halle 1933, S. 203.
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Zweimal wurde Meier zum Prorektor der Fridericiana gewählt, ein Amt, das er trotz permanenter gesundheitlicher Probleme gewissenhaft versah. Das erste Prorektorat (1759/60) musste er in den Wirren des Siebenjährigen Krieges wahrnehmen. Die Besatzung der Stadt Halle durch österreichische Truppen und die damit verbundenen Kontributionszahlungen, die auch der Universität auferlegt wurden, brachten den Prorektor in Bedrängnis. Die Universität konnte die geforderten Kontributionsgelder nicht aufbringen, ihr Prorektor musste deshalb in Arrest gehen. In Rundes Chronik kann man unter dem 9. August 1759 lesen: »Es wurden auch an diesem Tage von der Universität der Prorektor Professor Meier [...] auf das Rathhaus gebracht, weil die Universität auser dem, was sie bereits freiwillig gegeben hatte, noch 17000 Thl. aufbringen solte«.36 Meier kam allerdings nach drei Tagen wieder frei. Auch das 1768/69 zu absolvierende zweite Prorektorat stellte an den Amtsinhaber beträchtliche Anforderungen. Es war begleitet vom Beginn einer tiefgreifenden Universitätsreform. Der preußische König sah sich in den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg mit einem bedenklichen Absinken der Leistungsfähigkeit der Hohen Schulen in Preußen konfrontiert. Die Göttinger Universität hatte dank einer intelligenten Berufungspraxis der Fridericiana mittlerweile den Rang abgelaufen – Reformen waren nicht mehr zu umgehen. In einem Brief eines Genfers über Erziehung an Herrn Burlamaqui, datiert auf den 18. Dezember 1769, fasste der König die Gründe des Niedergangs zusammen: »Eigennutz und Faulheit der Professoren«37 seien daran schuld, dass sie obsolet gewordenen Lehrmethoden den Vorzug gäben, die Schulung des Urteilsvermögens vernachlässigten und die Studenten statt dessen Wissen akkumulieren ließen, das nur wenige oder gar keine Beziehungen zu der angestrebten beruflichen Praxis bot. Erste Maßnahmen zur Veränderung waren seitens der Universitätsleitung einzuleiten, die eigentliche Reform erfolgte 1771, dem Jahr, in dem der bereits genannte Karl Abraham von Zedlitz und Leipe zusammen mit dem Ministerium des Geistlichen Departements auch das Oberkuratorium über die preußischen Universitäten übernommen hatte.
3. Meier und die hallesche Geselligkeit Wenn anfangs von dem widerspruchsvollen Mit- und Gegeneinander von Pietismus und Rationalismus gesprochen wurde, das die Durchsetzung der deutschen Frühaufklärung speziell in Halle begleitete, muss auch auf den Ruf verwiesen werden, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Stadt und ihre Bevölkerung charakterisierte: der Verweis auf deren ungesellige, introvertierte Lebensführung. In den von dem Leipziger Philosophen Johann Christoph Gottsched angeregten Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks konnte man 1744 darin sehr viel Lobendes über den Fortgang der Aufklärung finden, die von den Angehö-
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Ebd., S. 600. Vgl. Brief eines Genfers über Erziehung an Herrn Burlamaqui, Professor in Genf. In: Friedrich’s des Großen Pädagogische Schriften und Äußerungen. Mit einer Abhandlung über Friedrich’s des Großen Schulregiment nebst einer Sammlung der hauptsächlichsten Schul-Reglements, Reskripte und Erlasse übersetzt und herausgegeben von Dr. Jürgen Bona Meyer. Langensalza 1885 [ND Königstein 1978], S. 222.
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rigen der halleschen Universität ihre entscheidenden Konturen erhalten habe. »Aber«, so liest man weiter, die Poesie, die Beredsamkeit und die Critik haben bey diesem so hellen Lichte der Wissenschaften bey uns doch noch niemals durchbrechen können, ob sie gleich zuweilen hervorgeschimmert haben; sondern unsre hohe Schule hat sich [...] stets müssen nachsagen lassen, daß sie eine Feindinn dieser Art von freyen Künsten und Wissenschaften wäre, besonders in so fern sie in deutscher Sprache ausgeübet würden.38
Hinter dieser Bemerkung ist gewiss etwas Häme verborgen, vor allem, wenn weiter unten die benachbarte Universität von Leipzig hervorgehoben wird, wo die »Ausübung der schönen Wissenschaften [...] schon seit vielen Jahren«39 praktiziert werde. Im Wesentlichen kann der Behauptung jedoch zugestimmt werden. Die Gründe für die so geschilderte Situation sind im Wirken des halleschen Pietisten August Hermann Francke und seiner Anhänger zu suchen. Diese hatten um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert den nach dem Tod Luthers (1546) einsetzenden – und ergebnislos bleibenden – Streit um die Adiaphora, die Mitteldinge also, wie Tanzen, Spaziergang, Theater und andere Vergnügungen, die in der Bibel weder als gut noch böse konnotiert erscheinen, wieder aufgenommen und nunmehr einer Entscheidung zugeführt. Dies geschah mit der ihnen eigenen Rigorosität, indem die Mitteldinge generell als böse deklariert wurden. Das Adiaphora-Verdikt hatte unübersehbare Folgen für die Etablierung eines geselligen Lebens in Halle. So vermerkt Gustav Freytag, »daß die Frauen sich nonnenhaft von Tanz und Lustbarkeiten zurückzogen, das Weintrinken in Verruf kam, die Komödie nicht besucht wurde und jeder Tanz für eine gefährliche Frivolität galt«.40 Bescheidene Anfänge einer gelehrten Geselligkeit können in Halle erst seit Beginn der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts konstatiert werden. 1731 etablierte sich die ›Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit‹, zu deren Gründern bemerkenswerterweise die Pietisten Samuel Gotthold Lange und sein Bruder Johann Joachim gehörten. 1735 rief der Extraordinarius der Philosophischen Fakultät der Fridericiana Martin Heinrich Otto eine ›Musikalische Gesellschaft‹ ins Leben, die allerdings mit dem Tod des Initiators ihr vorläufiges Ende fand. 1736 war mit der ›Prüfenden Gesellschaft‹ eine Gelehrtenrunde entstanden, die auf das geistige Klima Halles einen entscheidenden Einfluss ausüben sollte. Zu ihren Gründern zählte der Wolffianer Johann Friedrich Stiebritz, seit 1743 Ordinarius der Philosophischen Fakultät an der Fridericiana. Mitglied war auch der Privatgelehrte Samuel Lenz. Der studierte Historiker kam 1739 nach Halle, widmete sich wissenschaftlichen Arbeiten und lud gelegentlich zu Gesprächsrunden in sein Haus ein. Das 1748 besiegelte Ende der ›Prüfenden Gesellschaft‹ apostrophierte der Hofrat mit einem bedauernden »Hala non est sociabilis«.41 Diesem Umstand zu begegnen gehörte zu den dringlichsten Aufgaben, denen sich Meier in den vierziger Jahren stellen wollte. Offenbar bestärkt durch das Diktum seines Lehrers Sieg38 39 40 41
Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks. Neuntes Stück. Anderer Band. Halle 1744, S. 6 (Vorrede). Ebd., S. 8. Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Bd. 3: Absolutismus und Aufklärung. Hg. von Heinrich Pleticha mit einem Vorwort von Horst Fuhrmann. Gütersloh, München 1998, S. 156. Zit. nach Johann Salomo Semler: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Erster Theil. Halle 1781, S. 113.
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mund Jakob Baumgarten (»Der Mensch ist von geselliger Art, und zum gesellschaftlichen Leben gemacht und verpflichtet«42) ermunterte er die Angehörigen der beiden halleschen Dichterschulen, der pietistischen, mit Samuel Gotthold Lange und Immanuel Jacob Pyra auf der einen, und der anakreontischen, mit den Jurastudenten Johann Peter Uz und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, dem Theologiestudenten Johann Nikolaus Götz und dem Fecht- und Sprachlehrer Paul Jacob Rudnick auf der anderen Seite, zu dichterischen Produktionen. Langes und Pyras Gedichte, die anfangs noch sehr stark von einer pietistischen Innerlichkeit geprägt waren, finden bald neue Töne lyrischen Sprechens. Sie feiern die Freundschaft, empfinden Naturerlebnisse poetisch nach und stellen damit der in Deutschland dominierenden gelehrten Dichtung deutlich neue lyrische Akzente entgegen. Meier ist fasziniert davon. An Lange schreibt er 1745: »Die Pyraische Muse bezaubert mich ganz. Mein jetziges Collegium ästheticum soll sie allen meinen Zuhörern anpreisen«.43 Die Ansprüche, die sich die anakreontischen jungen Dichter stellten, sind ihren Gedichten deutlich zu entnehmen. Dem pietistischen Erweckungserlebnis wollten sie die scherzhafte, eben anakreontische Erweckung gegenüberstellen. An die Stelle des rigorosen Pragmatismus der Pietisten, der alle Lebensbereiche berührte, setzten sie das allzumenschliche Recht auf Genuss. Auch ihnen gilt Meiers Interesse, feiern sie doch im Gedicht eine von ihm schmerzlich vermisste Form der Geselligkeit, in der der Scherz, der poetische Einfall, die pointierte Sentenz eine Rolle spielen. Er selbst beschäftigte sich sehr eingehend mit Fragen des scherzhaften Umgangs der Menschen untereinander und publizierte 1744 die Schrift Gedancken von Schertzen. Hier entwickelte Meier eine ›Ästhetik des Scherzes‹, die geradezu kathartische Züge trägt: »Der Schertz muß das Gemüth auf eine angenehme Art erschüttern, und die verwirrte Bewegung verursachen, die wir das Lachen nennen«.44 Zwei Jahre später erscheint seine Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in der er sich noch einmal über den Umgang der Deutschen mit dem Scherz äußert: Es scheint bey nahe, als fehle es der deutschen Nation überhaupt betrachtet an dem Sinne, die feine Satyre und das feurige in einem Schertze zu empfinden. Eine deutsche Seele scheint so starr zu seyn, daß sie keines sanften und vernünftigen Lächelns fähig ist. Sie muß durch einen fühlbaren und rüchbaren Spaß erschüttert werden, wenn sie lachen soll, und denn lacht sie auch, daß die Lenden beben.45
Fragen des geselligen Lebens standen auch im Mittelpunkt der Gespräche, die im Pfarrhaus bzw. -garten von Laublingen stattfanden. Lange und seine Gattin Anna Dorothea bewährten sich hier als Gastgeber für gesellige Treffen, an denen u. a. Meier, Pyra, Gleim, Christoph Ludwig von Stille, der Schweizer Naturforscher und Ästhetiker Johann Georg Sulzer sowie der Schweizer Arzt und Schriftsteller Hans Kaspar Hirzel beteiligt waren. Die in den Literaturgeschichten als Laublinger Dichterkreis verzeichneten Runden hatten vornehmlich literarische Themen zum Gegenstand. Anhand eigener, aber auch fremder Texte wurden Maßstäbe für eine 42 43 44 45
Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...]. Erster Theil. [...] Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten. Halle 1744, S. 25 (Vorrede). Meier an Lange, 18.10.1745, zit. nach Samuel Gotthold Lange: Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. Erster Theil. Halle 1769, S. 172f. Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen. Halle 1744, S. 106. Georg Friedrich Meier: Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften. Halle 1746, S. 26.
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den gegenwärtigen Bedingungen angemessenen Literatur besprochen. Einig war man sich, dass nicht die von Gottsched favorisierte Gelehrtenpoesie, deren Schönheit sich aus einem möglichst genau beachteten Regelkanon ableitet, Kriterien für modernes Schreiben abgeben könne. Vielmehr sollte stärker das Ingenium des Poeten, seine ihm eigene Schaffens- und Einbildungskraft, sein Erfindungsreichtum, sein Geschmack in den Vordergrund gerückt werden. Einig war man sich auch, dass die gegenwärtige Poesie noch längst nicht jenen Vollkommenheitsgrad erreicht habe, den es zu erreichen gelte. Der Begriff der Vollkommenheit, der Perfektibilität, stand ohnehin im Mittelpunkt der Gespräche in Laublingen. Alexander Gottlieb Baumgarten hatte mit seinem Diktum in den Meditationes, »Oratio sensitiva perfecta est POEMA« (»Das Gedicht ist eine vollkommene sinnliche Rede«46), die Grundlage für solche Gespräche geboten. Eng damit verbunden war auch die Forderung der Teilnehmer nach einer wirksamen Literaturkritik. Sie sollte sich nicht an Fragen der Regelkenntnisse des Poeten entzünden, sondern sich vielmehr dem eigentlichen Prozess des Schreibens, des Umgangs des Poeten mit der Sprache widmen. Sie sollte Schönheiten am Text des Poeten deutlich aufzeigen, aber auch Schwächen markieren, die der Vollkommenheit des Gedichtes abträglich sind. Davon ausgehend schalteten sich die Laublinger in die laufende Auseinandersetzung der Züricher Literaturkritiker Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit dem Leipziger Literaturpapst Gottsched und seinen Anhängern, in der der ›gute Geschmack‹ und dessen Definition eine wesentliche Rolle spielten, ein. Der von Lange so bezeichnete »dreyßigjährige poetische Krieg«,47 gelegentlich in der Literaturgeschichte auch als ›großer Dichterkrieg‹ apostrophiert, fand in den Hallensern um Meier schlagkräftige Kombattanten. Pyra, mittlerweile Conrektor am Cöllnischen Gymnasium in Berlin, eröffnet 1743 den ›kleinen Dichterkrieg‹ mit einer Streitschrift, deren Titel bereits auf die Problematik verweist: Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe. Ein Jahr später entwickelt er in einer Fortsetzung des Erweises seine eigene, den Gottschedianern entgegen gesetzte, Poetologie. Der frühe Tod Pyras (1744) unterbrach die Auseinandersetzungen mit den Leipzigern für kurze Zeit. Meier setzt sie 1745 mit seiner Abbildung eines Kunstrichters fort. Kritik an Gottsched war für Meier in erster Linie Kritik an dessen einseitiger Geschmacksauffassung, die dieser den Deutschen zu vermitteln suchte: »Derjenige Geschmack ist gut, der mit den Regeln übereinkömmt, die von der Vernunft, in einer Art von Sachen, allbereit fest gesetzet worden«.48 In dieser Schrift versucht Meier, eine Theorie des Geschmacksurteils zu entwickeln. Dieses versteht er als ein Urteil, das auf eine Kompetenz zurückzuführen ist, die aus einem jahrelangen Umgang mit künstlerischen Produkten herrührt. Das Geschmacksurteil erfolge auf der Grundlage individueller sinnlicher Erfahrungen und sei demzufolge auch dem Irrtum unterworfen. Gleichwohl bilde es die unmittelbare Voraussetzung für die Vervollkommnung der oberen Beurteilungskräfte. Polemisiert wird in dieser Schrift darüber hinaus gegen die anmaßende Rolle Gottscheds im deutschen Literaturbetrieb. An Lange, dem er die Schrift im Oktober 1745 übersendet, schreibt Meier denn auch: »Sie werden daraus sehen, wie 46
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Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus – Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übers. und mit einer Einl. hg. von Heinz Paetzold. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1983, S. 10f. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 42. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke u. Brigitte Birke. Bd. 6.1. Berlin, New York 1973, S. 176.
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ich wünschte, mit Gottscheden zu controvertiren«. Und fügt ironisch hinzu: »Man gewinnt seine Feinde, wenn man liebreich mit ihnen umgeht und ihre Verdienste erkennt«.49 »Hier«, so Lange über Meiers Kritik, »war es nicht um eine Lesart zu thun, nicht um ein kleines Stück aus dem Alterthum, nicht um eine untergeschobene Stelle, da es zuletzt gleich viel gilt, welches wahr sey. Nein, es war um den Geschmack, um die Denkungsart einer ganzen Nation zu thun«,50 ein Streit, so stellt Lange befriedigt fest, der »mit einem solchen Sieg des guten Geschmacks endete, dem wir noch jetzt den Ruhm des Vaterlandes, und solche Schriftsteller zu danken haben, die wir den Alten beygesellen«.51 Wahrscheinlich geht der Plan zur Gründung einer Moralischen Wochenschrift auch auf die Gespräche in Laublingen zurück. Der dort häufig anwesende Christoph Ludwig von Stille gilt als Anreger Langes und Meiers zu einem solchen Unternehmen. Stille wurde nach dem Studium an den Universitäten von Helmstedt und Halle von Friedrich II. zum Erzieher seines jüngeren Bruders Heinrich erkoren. Danach bewährte er sich als General in den beiden ersten Schlesischen Kriegen, musste jedoch wegen eines asthmatischen Leidens den Offiziersdienst quittieren. Er ließ sich in Aschersleben nieder, befasste sich mit den ›Schönen Wissenschaften‹ und galt weiterhin als ein enger Vertrauter des preußischen Königs. Immerhin konnte er es wagen, gegenüber Friedrich II. die deutsche Literatur gegen die französische zu verteidigen, was diesen freilich nicht hinderte, weiterhin der Letzteren seine Sympathie zu schenken. Der General fand sich auch bereit, Beiträge für die zu gründende Wochenschrift zu schreiben. Meier und Lange fanden mit Johann Justinus Gebauer einen halleschen Verleger, der den Geselligen von 1748 bis 1750 publizierte, obwohl mit der Moralischen Wochenschrift ein Medium bemüht wurde, das im deutschen Sprachraum bereits als obsolet erschien. Die Herausgeber waren jedoch in der Lage, diesem neue Impulse zu verleihen. Der Gesellige wurde 1751 in modifizierter Weise fortgeführt und erhielt nunmehr den Titel Der Mensch. Diese Schrift stellte ihr Erscheinen 1756 ein. Ihr folgte von 1757 bis 1762 Das Reich der Natur und der Sitten, wo, wegführend vom Gesamtanliegen einer solchen Wochenschrift, auch der Bereich der Natur Berücksichtigung fand. Nach dem Hubertusburger Frieden von 1763 gab Lange, nunmehr in alleiniger Verantwortung, Der Glückselige heraus. Letzterer erschien von 1763 bis 1768 und wollte »ein Kampfplatz seyn, auf welchem Aberglaube, Unglaube und das Laster beschrieben«,52 gleichermaßen aber auch Verhaltensweisen paradigmatisch vorgestellt werden sollten, die der Erlangung von Glückseligkeit förderlich seien. Dem Philosophen Meier, dem ohnehin an einer öffentlichen Wirksamkeit seiner Forschungen gelegen war, stand mit den Wochenschriften ein Medium zur Verfügung, das höchst wirksam in den Kampf um die Durchsetzung eines geselligen Umgangs der Menschen mit- und untereinander einzugreifen vermochte. Unter ›Moral‹ verstand man im 18. Jahrhundert den gesamten Bereich des Menschlichen. Im Gegensatz dazu stand das Physische oder Physikalische. Moralische Wochenschriften widmeten sich also Themen, die den Menschen unmittelbar betrafen. So werden in den halleschen Journalen, neben literarischen Fragestellungen, mannigfaltige Bereiche des menschlichen Lebens – seien es Modefragen, Erziehungsprobleme, das 49 50 51 52
Meier an Lange, 18.10.1745, zit. nach Lange: Sammlung (s. Anm. 43), S. 176. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 141. Ebd., S. 42f. Der Glückselige, eine moralische Wochenschrift. Erster Theil. Halle 1763, unpag. (Vorrede).
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Trinkverhalten von Studenten, die Gartenkunst oder die Vorzüge weiblicher Bildung – berührt. Bereits die Titelwahl Der Gesellige verweist darauf, dass die Herausgeber der Durchsetzung eines geselligen Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft große Aufmerksamkeit schenken wollten. Musterhaft sollten den Deutschen die Vorzüge des geselligen Umgangs, der im realen Leben so schwierig durchzusetzen war, deutlich vor Augen gestellt werden. Praktiziert wurde das literarisch Demonstrierte bereits in dem genannten Laublinger Refugium. Aber auch in Halle fanden sich bald Gelegenheiten, im erweiterten familiären Umkreis gesellige Umgangsformen zu üben. Der Dichter Johann Georg Jacobi beschreibt eine ›bacchantische‹ Feier im Hause Meiers. Der Halberstädter Kanonikus Gleim war ungewollt deren Urheber. Er hatte dem ehemaligen Lehrer und nunmehrigen Freund Krammetsvögel geschickt. Meier kam auf den Gedanken, diese in einer größeren Tafelrunde zu verzehren. Dazu hatte er eine Reihe von Freunden in sein Haus am Großen Berlin geladen. Auch Jacobi war dabei und berichtet nun dem Spender von der Feier: Stellen Sie sich, mein Freund, eine aufgehobene kleine Tafel vor, voll ausgeleerter Bouteillen und Gläser, an dieser Tafel unsern metaphÿsischen Freund, in eine Wolke von Tobacksrauch gehüllt, der mit satÿrischer Miene seine Verse vorließt; ihr Jacobitchen, mit einem Frauenzimmer auf einem Stuhle, der, wie eine Dithÿrambe glüht, und wegen Mangels der reelleren Talente in der Liebe verspottet wird; die kleine Chloe mit der schüchternen Miene eines Mädchens, das zum ersten Mahle das Bachusfest feÿert, u.s.w. das ganze Zimmer tönt von lautem Gelächter, und der Nahme Gleim wird unter beständigem Frohlocken genant. Ein schöner Abend! Solche Feste kan nur mein Freund veranstalten. [...] In unserem steifen, finsteren Halle, wo viele gar nicht auf den Einfall kommen, daß sie auch wol lachen könten, ist so etwas unerhört. Die Art, wie wir das Mahl begingen, ist unsere Danksagung an Sie.53
Allmählich werden auch in anderen halleschen Häusern gesellige Zusammenkünfte initiiert. So informierte Jacobi Gleim von einer Teegesellschaft, die die Fürstin Maria Josepha von AnhaltBernburg-Schaumburg wöchentlich in ihrem Hause gab. Sie war die Gattin des Fürsten Franz Adolph von Anhalt-Bernburg-Schaumburg, der ab 1759 dem Halleschen Regiment vorstand. Zur Teegesellschaft wurden, neben Offizieren des Regiments, auch Mitglieder aus halleschen Bürgerfamilien und Professoren der Universität, wie Jacobi, Meier und Christian Adolf Klotz, geladen. Bei schönem Wetter tagte die Gesellschaft zuweilen im Ambiente eines von dem Pädagogen Johann Simonis auf der Westseite der Moritzburgruine eingerichteten Gartenkunstwerks. Derlei Festivitäten wurden freilich von pietistischen Eiferern misstrauisch aufgenommen. Als im Jahr 1756 einige Enthusiasten die Neugründung einer ›Musikalischen Gesellschaft‹ nutzten, um mit einem Konzertangebot das gesellige Leben in Halle zu bereichern, reagierten die Eiferer mit heftigen Protesten gegen solcherlei ›Anmaßungen‹. Meier antwortete in seinem Journal mit einer Philippika: Wenn nun an einem Orte das Besuchen der musicalischen Gesellschaften für unehrbar und unanständig gehalten wird, so muß man einen solchen Ort beklagen, dessen allgemeines Urtheil von der Anständigkeit der Sitten von einem solchen Schwindelgeiste beherrscht wird. An einem solchen Orte stelt man sich die Ehrbarkeit der Sitten als ein Frauenzimmer vor, welches in den Gesellschaften und auf den Strassen die Augen immer niederschlägt, eine unbegreiflich dumme und nichts bedeutende 53
Jacobi an Gleim, 14.10.1767, zit. nach Hans-Joachim Kertscher: »Amor« und die Schönen Wissenschaften – Johann Georg Jacobis Aufenthalt in Halle. In: Manfred Beetz, Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005, S. 239–274, hier S. 261f.
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Hans-Joachim Kertscher Mine macht, das Mäulchen vest zusammenkneipt; welches, es mag gehen, sitzen oder stehen, so steif ihren Cörper trägt, als wenn es einen Pfal im Rücken hätte; welches die Hände vor sich creutzweis über einander schlägt, und keine weitere Bewegung in Gesellschaften macht, als dann und wann einen Knicks, der im Anfange dieses Jahrhunderts Mode war.
Und dann kommt er auf die Vorteile einer »Musikalischen Gesellschaft« »in unsern aufgeklärten Zeiten«54 zu sprechen, auf die Bekanntschaften der Bürger, die dort gepflegt bzw. geschlossen werden können. Deren Mitglieder würden souveräner in ihrem Auftreten, auch das Miteinander der Geschlechter löse allmählich die Verkrampftheiten, das heißt, Männer und Frauen erhielten zunehmend ein »freye[s] Wesen«, »die wahre Geselligkeit und die anständige Freyheit [werde] in der äusserlichen Aufführung bey vielen Personen befördert« und damit würden »unsere Sitten feiner und immer anständiger«.55 Der Bann war damit gebrochen, in Halle konnte sich nunmehr unangefochten ein geselliges Leben entfalten. So verwies beispielsweise der Direktor der Franckeschen Stiftungen, August Hermann Niemeyer, in der Rückerinnerung an seine Studienjahre in Halle auf die »ästhetische Stimmung«,56 die das geistige Klima in den sechziger und siebziger Jahren in der Saalestadt zunehmend bestimmte. Meiers Rolle in dieser Hinsicht wird von einer ganzen Reihe von Augenzeugen bestätigt. »Keinen angenehmern Gesellschafter habe ich je gekannt«, meint der in Halle geborene und später in Berlin ansässige Prediger Johann Heinrich Friedrich Ulrich, [s]eine vielfältige Erfahrungen, und der häufige Umgang mit Menschen aus allerley Ständen und Lebensarten, machten ihn, ohnerachtet aller Kränklichkeit seines Körpers, der täglich einzustürzen drohte, zum gesprächigsten, aufgewecktesten und oft lustigsten Mann. – Er ward daher von den vornehmsten und besten Familien in Halle, und überall, auch auswärtig, wo man ihn kannte, geliebt und geschätzt.57
Das unterstreicht auch Lange: die Stadt Halle habe Meier eine wahre, aber beynahe unerkannte Wohlthat zu danken. Vor seiner Zeit war der Umgang und die Gesellschaft in Halle steif, es herrschte eine Entfernung der Seelen, es war alles entweder finsterer Ernst, oder ungesittetes Betragen. Liebloses Beurtheilen der wohlgezogensten Freymüthigkeit, und der durch Höflichkeit und Offenherzigkeit zuvorkommenden Sitten, war fast allgemein. Ja gewisse edler denkende Seelen waren zu furchtsam vor die Urtheile derer, die die Welt gar nicht kannten, derer so Mißtrauigen, und immer Arges denkenden, auch das unschuldigste Betragen, übel auslegenden, als daß sie sich gleichsam herauswagen sollten. Gute, lebhafte Freunde, mußten gleichsam im Verborgenen zusammenkommen, und der unschuldigste Umgang beyder Geschlechter war verdächtig. Meier und seine edle Gattin waren wegen ihres guten und menschenfreundlichen Herzens stark genug, durchzu-
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[Georg Friedrich Meier:] Über eine Musikgesellschaft in Halle. In: Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift. Hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. Neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens. Teil 2, 458. Stück (1756). Hildesheim, Zürich, New York 1992, S. 62. Ebd., S. 64. August Hermann Niemeyer: Beobachtungen auf Reisen in und außer Deutschland. Nebst Erinnerungen an denkwürdige Lebenserfahrungen und Zeitgenossen in den letzten funfzig Jahren. Erster Band. Halle, Berlin 1820, S. 342. Mit dem Wirken Niemeyers in den Franckeschen Stiftungen beginnt generell eine Öffnung der ehemals vom Pietismus geprägten Anstalten im Hinblick auf spätaufklärerische Fragestellungen. [Johann Heinrich Friedrich Ulrich:] Bemerkungen eines Reisenden durch die königlichen preußischen Staaten in Briefen. Erster Theil. Altenburg 1779, S. 126f.
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brechen. Halle sahe dieses, erstaunte, sprach davon, und folgte endlich nach. Kurz, Meier hat die gute, die feinere, die treuherzigere Lebensart in Halle befördern helfen.58
Nicht nur den in Halle wirkenden jungen Dichtern galt Meiers Aufmerksamkeit. Seinen halleschen Verleger Carl Hermann Hemmerde vermochte er zu bewegen, sich des jungen Friedrich Gottlieb Klopstock anzunehmen. Die ersten drei Gesänge von dessen Messias-Dichtung waren 1748 in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, den so genannten ›Bremer Beiträgen‹, veröffentlicht worden. Meier hatte den Eindruck, dass hier ein literarisches Werk im Entstehen begriffen war, das seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen entgegenkam. Zudem angeregt durch den Züricher Literaturkritiker Bodmer entschloss er sich, publizistisch für Klopstocks Dichtung zu sorgen. So erscheint 1749 bei Hemmerde seine Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Im gleichen Jahr publizierte Hemmerde die ersten Gesänge der Dichtung, deren letzte verließen 1772 dessen Verlag. Zwei Jahre später, 1751, erhält Meier das Manuskript eines jungen Dichters. Es handelt sich, wie sich später herausstellen wird, um den erst 17jährigen Christoph Martin Wieland und dessen Erstling, das Lehrgedicht Die Natur der Dinge. Das Manuskript hatte der Autor dem halleschen Professor anonym zukommen lassen, weil er sich durch Meiers Beurtheilung so angeregt fühlte, dass er keine Bedenken trug, dem Ästhetiker die Entscheidung über die Druckwürdigkeit seiner Arbeit zu überlassen. Dieser verfasste eine Vorrede und ließ Hemmerde für die Publikation sorgen, die 1752 erfolgte. In dem Lehrgedicht konnte man so auch folgende Eloge Wielands auf Meier lesen: O Meyer, den mit Lust das kluge Deutschland liest, Von dessen weisem Mund platonscher Honig fließt, Wie deutlich hast du uns die Möglichkeit gelehret, Daß sich auch in dem Vieh der Seele Werth vermehret.59
Vermutlich stammt auch das Heldengedicht auf Hn. Klopstock, das von einem Anonymus in den Anhang der Sammlung einiger Schriften der Geselschafft der Freunde der schönen Wissenschafften (Halle 1752) eingerückt wurde, von Wieland. Zu den Initiatoren der halleschen Gesellschaft gehörte Gottlob Samuel Nicolai. Der Bruder des berühmten Aufklärers Christoph Friedrich Nicolai hatte an der Fridericiana ab 1743 Theologie, Philosophie und Philologie studiert. Meier, so vermerkt Christoph Friedrich in seiner Biographie, galt ihm hier als wichtiger Ansprechpartner in philosophischen Fragen. »Mein guter Bruder, ein Schüler und Freund des Professor Meyer’s, schätzte die Philosophie über alles«.60 Gedruckt wurde die Sammlung von dem halleschen Drucker Carl Christian Kümmel. Es ist durchaus möglich, dass Meier, der enge Verbindungen zu der Gesellschaft unterhielt, für die Publikation des Gedichtes in der Sammlung Sorge trug.61 58 59
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Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 84f. Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge. In: Wielands Werke (Akademieausgabe). Erster Band: Poetische Jugendwerke. Erster Teil. Hg. von F. Homeyer. Berlin 1909, S. 109. Angespielt wird hier auf Meiers Schrift Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. Halle 1749. Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß. Hg. von Leopold Friedrich Gunther von Göckingk. Berlin 1820, S. 9. Zu der Gesellschaft und deren Sammelband vgl. Hans-Joachim Kertscher: Gottlob Samuel Nicolai und die »Gesellschaft der schönen Wissenschaften« in Halle. In: Dieter Bähtz u.a. (Hg.): Dem freien Geiste freien Flug. Beiträge zur deutschen Literatur für Thomas Höhle. Leipzig 2003, S. 15–25.
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Ebenfalls ist es nicht unwahrscheinlich, dass Meier seinem Verleger Hemmerde die Schriften einer jungen philosophierenden Frau empfahl. Deren erste erschien 1751 in dessen Verlag unter dem Titel Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer. Im gleichen Jahre ließ die Autorin den Grundriß einer natürlichen Historie und einer Naturlehre für das Frauenzimmer folgen. Es handelt sich hier um Johanne Charlotte Unzer. Die begabte Tochter des Bachschülers, Komponisten und Organisten an der halleschen Ulrichskirche, Johann Gotthilf Ziegler, erwies sich im schriftstellerischen Bereich als äußerst produktiv. Im gleichen Jahr kam auch ihr Versuch in Scherzgedichten, ebenfalls verlegt von Hemmerde, auf den Buchmarkt. Diese in anakreontischer Manier verfassten Gedichte waren so erfolgreich, dass ihnen der Verleger 1753 eine zweite und 1766 eine dritte, jeweils vermehrte, Auflage folgen ließ. Freilich muss auch ein Missgriff Meiers hinsichtlich seiner Autorenförderung benannt werden. Lange publizierte 1747 unter dem Titel Horatzische Oden die erste deutsche am horazschen Silbenmaß orientierte Übersetzung des Römers, der Meier eine Vorrede vom Werthe der Reime beigesellte – und wurde daraufhin allgemein als ›deutscher Horaz‹ gefeiert. Meier ermunterte ihn zu weiteren Übersetzungen. Doch nun begegnete beiden Ungemach. Langes Übersetzung Des Quintus Horatius Flaccus’ Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch (Halle 1752) erregte das Missfallen Gotthold Ephraim Lessings, der dieses deutlich im Hamburgischen Correspondenten (178. u. 179. Stück) zum Ausdruck brachte. Der zum Jähzorn neigende Pastor erwiderte unsachlich und diffamierend, was Lessing schließlich mit dem vernichtenden Ein VADE MECUM für den Hrn. Sam. Gotth. Lange (Berlin 1754) beantwortete, in dem er Lange »eine sehr niederträchtige Art zu denken« und »Unwissenheit«62 vorwirft. Sicher war Lessings Verriss überzogen und dem Anlass nicht angemessen. Dennoch hatte er Recht. Das konzedierte ihm auch Samuel Gottlob Nicolai, den Lessing zuvor gebeten hatte, sich über die Übersetzung und eine mögliche Kritik seinerseits zu äußern. »Bedenken Sie, was Sie fordern«, antwortete Nicolai in einem Brief an Lessing bestürzt. Was soll ich tun? Herrn Professor Meier habe ich nie etwas gesagt; denn ich glaube fast nach der genauen Freundschaft, in welcher er mit Herr Langen stehet, ist Ihm selbst die Revision aufgetragen worden. Ich aber habe nie geglaubt, daß Latein zu verstehen, seine Stärke sei. Zu Herr Langens Bruder dem Professor und zu verschiedenen andern habe ich mit großer Bescheidenheit deswegen gesprochen, und meine unmaßgebliche Gedanken, wie man jetzt sagt, unvorgreiflich entdeckt. Ach ein Sohn eines Vaters, der so schön Latein verstand, wie hat den der poetische Taumel bis in das Land der Fehler entzückt! der Professor ist meiner Meinung, in so weit es ein Bruder sein kann, und ich habe bis jetzt vergeblich gedacht, dem Übel abzuhelfen.63
Lessing ließ sich freilich nicht von seinem Vorhaben abbringen und trug mit seinem VADE MECUM dazu bei, dass Lange über Jahre hinweg in Misskredit innerhalb der deutschen Literaturgesellschaft geriet. Und Meier war mit seiner »Revision« des langeschen Manuskripts nicht unwesentlich an dem Zustandekommen der Publikation, samt ihren Fehlern, beteiligt.
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Gotthold Ephraim Lessing: Ein VADE MECUM für den Hrn. Sam. Gotth. Lange. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 3: 1754–1757. Hg. von Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 2003, S. 143. Nicolai an Lessing, Juni 1752, zit. nach Briefe von und an Lessing 1743–1770. In: Lessing: Werke und Briefe (s. Anm. 62), Bd. 11.1. Hg. von Helmuth Kiesel unter Mitw. von Georg Braungart u. Klaus Fischer. Frankfurt a. M. 1987, S. 40.
Meiers Platz im geistig-kulturellen Leben der Stadt Halle
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Der Philosoph starb am 21. Juni 1777 in seinem Gartenhaus am Giebichenstein. Sein Tod wurde in der halleschen Presse − und auch anderswo − kaum zur Kenntnis genommen. In den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen konnte man lediglich folgende kurze Notiz lesen: Den 21sten dieses verlohr unsere Universität durch den Tod des ordentlichen Lehrers der Weltweisheit, Herr Georg Friedrich Meiers, ein sehr würdiges Mitglied, dessen ädler Character, lesenswürdige Schriften und wichtige Verdienste um unsere Universität seinen Ruhm unvergeßlich machen.64
Ein den Verdiensten angemessenes Andenken gestaltete dem Verblichenen hingegen sein Schüler und Freund Carl Christoph Hoffmann. In seinem englischen Garten im Halle nahegelegenen Dieskau ließ er ein Denkmal errichten, das an den Freund erinnern sollte. »In der angenehmsten Gegend erhebt sich ein Hügel«, so weiß Lange zu berichten, auf welchem beyde Freunde die schöne Natur betrachteten, und sich mit den angenehmsten Unterredungen unterhielten. Dieser Hügel bekam von diesen Besuchen den Namen Meiers Höhe [...]. Den Namen wird er bis auf die spätesten Zeiten behalten. Dieser Hügel wird ein daurendes Denkmal der Tugend, eine geweihete Stätte der heiligen Freundschaft, und des edlen Gemüths des vortreflichen Hofmanns seyn.65
Das 1778 auf der Höhe errichtete Denkmal trug die Inschrift: »Geb. den 29 März 1718. gest. den 21 Jun. 1777. / Dem Professori / Georg Friedrich Meier / seinem Lehrer und Freunde / Hofmann«.66 Es ist dies offenbar das erste Denkmal in Deutschland, welches das Andenken eines bedeutenden Bürgers öffentlich feiert – und nimmt somit eine Sonderstellung innerhalb der deutschen Denkmalkultur ein. Über dessen Entstehung gibt uns ein Brief Langes vom März 1778 an den halleschen Verleger Gebauer Auskunft. Lange berichtet hier, dass er in seiner Meier-Biographie u.a. »H. Knorrens vortreffliches Gedicht, bey Gelegenheit des Hoffmannischen Denkmahls, welches ein Meister-Stück, und Zierde des gantzen Werckes ist«,67 publizieren wolle. »Da das lezte Gedicht sich auf das Denckmal in Dieskau beziehet, und die Vignette desselben gleich hinter daß Gedicht kommt, so habe eine Abschrifft an den H. Cammer Director gesendet«.68 Das Gedicht stammt aus der Feder des anhalt-dessauischen Regierungsadvokaten Karl G. Knorre und trägt den Titel Empfindungen an einem Sommerabend bey dem Denkmal auf Meiers Höhe. Es feiert den Verstorbenen als »das höchste Kleinod« des Schlossherren, »den er stets mit warmen/Herzen liebte«, und weiht gewissermaßen den Ort. Es endet: »Schaut! des Weisen Denkmal schuf die Freundschaft hier!«69
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Vgl. Hallische Neue Gelehrte Zeitungen. 52tes Stück, 26. Juni 1777, S. 414. Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 79. Ebd., S. 80. Lange an Gebauer, 18.3.1778, zit. nach Hans-Joachim Kertscher: »[...] die Natur pflanzt nichts nach der Schnur« – Carl Christoph v. Hoffmann und sein englischer Garten in Dieskau. In: Ders. (Hg.): Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zum geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt. Hamburg 2007, S. 227–246, hier S. 238. Ebd. Karl G. Knorre: Empfindungen an einem Sommerabend bey dem Denkmal auf Meiers Höhe. In: Lange: Leben (s. Anm. 1), S. 176 u. S. 180.
MARCUS CONRAD
Verlag und Vertrieb von Publikationen Georg Friedrich Meiers bei Gebauer und Hemmerde
1. Meiers Beziehung zu den halleschen Verlegern Gebauer und Hemmerde Man kann wohl davon ausgehen, dass Meier häufig an den gelehrt-geselligen Zusammenkünften in Gebauers Haus oder seinem Garten oder Weinberg teilnahm, die dem Nachruf auf Gebauer zufolge »viele Jahre das Ansehen einer kleinen Akademie bekamen«.1 Dort heißt es weiterhin, dass Siegmund Jacob Baumgarten bei diesen Runden »bis an seinen Tod gleichsam die Seele war«.2 Diesem Kreis dürfte Meier nicht zuletzt deswegen zuzurechnen sein, da er von früh an zu den Stammautoren gehörte und von beiden Baumgarten engagiert gefördert wurde. Unter Siegmund Jacob Baumgarten verteidigte Meier bereits am 19. Dezember 1738 eine moraltheologische Dissertation, in dessen Haus in der halleschen Märkerstraße er kurz darauf auch eine Wohnung bezieht.3 Dass im Verlagsarchiv Gebauer-Schwetschke im Stadtarchiv Halle kaum Schreiben Meiers an Gebauer oder Hemmerde vorhanden sind, liegt zunächst daran, dass für den Zeitraum des Wirkens von Meier nur die Verlagskorrespondenz Gebauers, nicht aber Hemmerdes überliefert ist.4 In diesem Fall war der Briefverkehr wohl nicht nötig, da man unweit voneinander entfernt lebte und persönlich miteinander verkehren konnte. Ähnliches gilt übrigens von Siegmund Ja1
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Die vornehmsten Lebensumstände und der persönliche Karakter des seligen HERRN Johann Justinus Gebauers, Buchdruckerherrns und Buchhändlers, wie auch Pfänners und Achtmanns bey der Kirche zu St. Ulrich in Halle, aufgesetzt im Namen seiner Freunde. Halle 1772, S. 19. Ebd. Günther Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, S. 18. Zur freundschaftlichen Verbundenheit Meiers mit Hemmerde vgl. Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre« – eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 111f.; Erich Neuß: Gebauer & Schwetschke. Geschichte eines deutschen Druck- und Verlagshauses 1733–1933. Halle 1933, S. 86f. Der Bestand des Verlagsarchivs Gebauer-Schwetschke ist online zugänglich unter www.gebauer-schwetschke.halle.de. Die Schriftstücke sind unter dieser URL über Indices und inhaltliche Schlagworte gezielt recherchierbar und auch in digitalisierter Form einsehbar.
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Marcus Conrad
cob Baumgarten, von dem ebenfalls keine Briefe an Gebauer vorliegen, obwohl er zu Lebzeiten der wichtigste Verlagsautor gewesen sein dürfte. Ausnahmen bilden eine von Meier gezeichnete Quittung vom 30. März 1772 in Erbangelegenheiten, weitere amtliche Dokumente nach dem Tod Johann Justinus Gebauers, in denen Meier als Procurator der gebauerschen Erben auftritt, eine Bestellung Meiers auf die Akademie der Grazien von Christian Gottfried Schütz und schließlich eine Quittung der Witwe Johanne Concordia Meier aus Halle vom 5. Dezember 1803, in der der Empfang von 62 Reichstalern bescheinigt wird, wobei der genauere Zusammenhang unklar ist.5 Erich Neuß führt in seiner firmengeschichtlichen Darstellung zu Gebauer-Schwetschke von 1933 aus: »An den Werken des Philosophen Georg Friedrich Meier muß Gebauer riesige Summen verdient haben, denn er entschloß sich nach der Angabe Rundes in seiner Chronik [der Stadt Halle] […], seinem Autor ein Haus auf dem Gr. Berlin zum Geschenk zu machen, das nach dem Tode Meiers im Jahre 1777 von der Witwe an den Tischler Riemenschneider verkauft wurde«.6 Auf dem Großen Berlin befand sich ab 1744 auch der Privat- und Firmensitz Gebauers sowie die Druckerei, bevor 1764 der Umzug in das nur wenige Meter entfernte vormalige Haus Christian Wolffs in der Märkerstraße 10 erfolgte. Auch vor 1744 hatte sich der Standort der Firma nur wenige Meter entfernt an der Rannischen Straße befunden.7 Bei Gebauer erschienen von Meier ca. 10 Traktate, zumeist größeren Umfangs, d. h. zwischen 100 und 300 Seiten, und 5 umfangreichere Werke, nämlich die Vernunftlehre 1752 und die vier Teile der Metaphysik zwischen 1755 und 1759.8 Als der eigentliche Hauptverlag Meiers muss freilich Hemmerde in Halle gelten. Hemmerde bestand zu Lebzeiten Meiers unabhängig von Gebauer, allerdings wurde nach dem Tod Carl Hermann Hemmerdes 1782 von dessen Witwe Carl August Schwetschke als Faktor und später als Mitbesitzer aufgenommen. Da Schwetschke 1797 eine Tochter Johann Jacob Gebauers und nach deren Tod 1804 ihre Schwester heiratete, wurden dann unter seiner Ägide die Firmen Gebauer sowie Hemmerde & Schwetschke unter der Firma Gebauer-Schwetschke letztlich vereint. Bei Hemmerde erschienen von Meier nicht weniger als 50 Traktate, überwiegend größeren Umfangs, und zwölf größere Werke, darunter die drei Teile der Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften 1748 bis 1750 und die 5 Teile der Philosophischen Sittenlehre zwischen 1753 und 1761,9 außerdem noch die Lehre von den Gemüthsbewegungen, die Allgemeine practische Weltweisheit, das Recht der Natur und die beiden Teile der Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten
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Stadtarchiv Halle, Verlagsarchiv Gebauer-Schwetschke [VAG], Quittung von Georg Friedrich Meier (Halle), 30. März 1772, Sign. 19113; Georg Friedrich Meier (Halle) an die Gebauersche Buchhandlung, 31. Oktober 1774, Sign. 19114; Johanna Concordia Meier (Halle) an Carl August Schwetschke, 5. Dezember 1803, Sign. 39099. Neuß: Gebauer-Schwetschke (s. Anm. 4), S. 234, Anm. 26. Das betreffende Gebäude wurde 1907 abgerissen, es befand sich auf dem heutigen Grundstück Rannische Str. 11. Vgl. Arbeitskreis Innenstadt Halle e.V.: Die Rannische Staße (= Sonderheft der Halleschen Blätter vom Dezember 2007), S. 42ff. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle: Gebauer 1752; Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Teile. Halle: Gebauer 1755–1759. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Teile. Halle: Hemmerde 1748–1750; Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. 5 Teile. Halle: Hemmerde 1753–1761.
Publikationen Meiers bei Gebauer und Hemmerde
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der Menschen.10 Auch im Falle von Meiers Vorläufiger Antwort auf die neueste ungeschliffene Schrift eines Herrnhuthers wider den Hern Doctor Baumgarten unter der Ortsangabe Frankfurt und Leipzig, was im 18. und frühen 19. Jahrhundert sehr häufig zur Verschleierung des wahren Erscheinungsortes verwendet wurde, war Hemmerde der eigentliche Verlag.11 Zu Lebzeiten Meiers erschienen eigenständige Publikationen von ihm lediglich noch in den Verlagen Grunert, Hendel und Hundt in Halle, das sind jedoch zumeist nur kleinere Gelegenheitsdrucke,12 außerdem noch bei Christoph Peter Francke in Halle und Heidegger in Zürich. Schon Ernst Bergmann in seiner Habilitationsschrift von 1911 nennt für Meier »in den drei Jahrzehnten seiner schriftstellerischen Tätigkeit (1740–1770) die stattliche Anzahl von etwa 65 Publikationen, darunter mehrbändige Werke […], ferner zwei Zeitschriften […] und eine Reihe anonym veröffentlichter Artikel«.13 Über diese Zahl kann man diskutieren, je nachdem, ob man hier kleinere Aufsätze, Periodika und Herausgeberschaften mit einbeziehen will, aber so oder so ist das bei Meiers reger Publikationstätigkeit relativ niedrig angesetzt. Der weitaus größte Teil erschien wie gesagt bei Hemmerde, Neuß nennt insgesamt 72 Werke Meiers bei Hemmerde.14 In jedem Fall ist die hohe Anzahl mehr oder weniger umfangreicher, aber in der Regel nicht über 300 Seiten starker Traktate auffällig, deren besondere Bedeutung im Rahmen von Meiers Gesamtwerk Yvonne Wübben anhand der 1747 gleichfalls bei Hemmerde erschienenen gut vierzigseitigen Gedancken von Gespenstern herausgearbeitet hat.15 Merkmale dieser generellen Textform bei Meier, die rein äußerlich durch den begrenzten Umfang und die vorrangige Konzentration auf singuläre Wissensgegenstände gekennzeichnet ist, sind etwa ihre Diskursivität und die allgemeinverständliche Darstellungsform, durch die nicht nur Gelehrte, sondern auch weitere Publikumskreise angesprochen werden. Zahlreiche Beispiele liefern auch die von Meier bei Hemmerde publizierten Schriften im Zusammenhang der zeitgenössischen literaturkritischen Debatten, angefangen bei Meiers Besprechung von Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias, der nach den ersten drei Gesängen 1748 in den Bremer Beyträgen ab 1749 bei Hemmerde erschien. Meiers lobende Besprechung erschien 1749 mit einem Umfang von reichlich 60 Seiten ebenfalls bei Hemmerde unter dem Titel Beurtheilung des Heldengedichts, Der Messias.16 Die Anregung zu dieser Stellungnahme ging von Bodmer aus, der Meier zunächst ein Eingehen auf den Messias im Rahmen seiner Ästhetik nahegelegt hatte, deren Ausarbeitung zu diesem Zeitpunkt aber schon zu weit fortgeschritten war.17 Die stattdessen separat publizierte Beurtheilung ist also vor allem im Kontext des Literaturstreites 10
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Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle: Hemmerde 1744; Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle: Hemmerde 1764; Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Halle: Hemmerde 1767; Georg Friedrich Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen. 2 Teile. Halle: Hemmerde 1770–1773. Georg Friedrich Meier: Vorläufige Antwort auf die neueste ungeschliffene Schrift eines Herrnhuthers wider den Hern Doctor Baumgarten. Frankfurt, Leipzig [Halle: Hemmerde] 1747. Vgl. u.a. die Meier-Bibliographie im Anhang zu Schenk: Meier (s. Anm. 3), S. 207ff. Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911, S. 27. Pozzo: Vernunftlehre (s. Anm. 4), S. 111; Neuß: Gebauer-Schwetschke (s. Anm. 4), S. 86. Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007. Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Halle: Hemmerde 1749. Für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. Hans-Joachim Kertscher.
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zwischen den Zürichern Bodmer und Breitinger und den Leipzigern um Gottsched zu sehen. Der sich hieraus ergebende polemische Hintergrund ist auch für mehrere weitere Publikationen Meiers in diesem Zusammenhang bestimmend. Noch im selben Jahr erschien bei Hemmerde Meiers 16-seitige Vertheidigung seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias in Reaktion auf einen Artikel im 75. Stück der Hallischen Zeitungen vom 13. Mai 1749.18 Im Herbst 1751 folgte als Fortsetzung Meiers Beurtheilung des 4. und 5. Gesangs des Messias, was ihm u. a. den von Gottsched erhobenen Vorwurf der Käuflichkeit eintrug, den Gottsched in der vierten Auflage seiner Critischen Dichtkunst von 1751 öffentlich machte.19 Auch in der Critischen Bibliothek, die in Leipzig erschien und Gottsched nahe stand, ist von einer »Buchführerlist des Verlegers des klopstockischen Messias, Hemmerde«, die Rede, der Meiers »Anpreisung« in Auftrag gegeben habe.20 Dass diese Allianz zwischen Meier und Hemmerde neben der progressiven literatur- und kulturpolitischen Intention durchaus auch ökonomischer Natur war, belegt etwa Meiers Herausgabe von Christoph Martin Wielands Erstlingswerk, dem Lehrgedicht Die Natur der Dinge, das 1752 mit einer Vorrede Meiers bei Hemmerde erschien.21 In der Vorrede schreibt Meier, dass der Text durch seine »Vermittelung, zum Drucke befördert worden« sei.22 Der anonyme Autor habe Meier das Gedicht übersandt und es ihm überlassen, »ob ich es wollte drucken lassen«.23 Dieser Fall zeigt, dass nicht nur ein Großteil der Publikationen Meiers von Hemmerde verlegt wurde, sondern dass sich Meier seinerseits dieser verlegerischen Instanz gezielt bediente und zugleich seinen Verleger aktiv förderte. Im zuvor angedeuteten Kontext der Leipzig-Züricher Kontroverse ist auch Meiers knapp 70-seitige Gegenschrift Vorstellung der Ursachen, warum es unmöglich zu seyn scheint, mit Herrn Profeßor Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen, zu sehen, in der Meier den zuvor erwähnten Vorwurf der Käuflichkeit von sich weist und seine ästhetische Konzeption verteidigt.24 Dass sich Meier dennoch in dieser Auseinandersetzung keiner der beiden Parteien eindeutig zuordnen lässt, zeigt seine zunehmende Distanzierung von Bodmer seit Anfang der 1750er Jahre.25 Ein anderes Beispiel, das ähnlich ambivalent zu bewerten ist, aber in jedem Fall die Kooperation oder vielmehr Koalition zwischen Autor und Verleger zeigt, ist die diesmal bei Gebauer 1748 publizierte Satire unter dem Titel Verurtheilung der Baumgartischen Anmerkungen zu der Alge-
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Georg Friedrich Meier: Vertheidigung seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias, wider das 75. Stück der Hallischen Zeitung. Halle: Hemmerde 1749. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer kritischen Dichtkunst, durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. Leipzig 41751, S. 485. Vgl. Bergmann: Ästhetik (s. Anm. 13), S. 198. Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge, in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle. Halle: Hemmerde 1752. Ebd., Vorrede (unpag.), fol. a2r. Ebd., fol. a2v. Georg Friedrich Meier: Vorstellung der Ursachen, warum es unmöglich zu seyn scheint, mit Herrn Profeßor Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen. Halle: Hemmerde 1754. Vgl. Bergmann: Ästhetik (s. Anm. 13), S. 202ff.
Publikationen Meiers bei Gebauer und Hemmerde
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meinen Welthistorie, eine Erzehlung vom Blocksberge.26 Auslöser war hier eine kritische Rezension der Teile 5 und 6 der von Gebauer verlegten Allgemeinen Welthistorie, die in den von Bodmer herausgegebenen Züricher Freymüthigen Nachrichten von neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen erschienen war. Darin wird dem Herausgeber der Allgemeinen Welthistorie Baumgarten kleinliche Pedanterie im Umgang mit der englischen Vorlage innerhalb seiner kritischen Anmerkungen vorgeworfen. Meier lieferte in seiner satirischen Gegenschrift gegen die Züricher Kritik eine Verteidigung seines alten Mentors Baumgarten und damit auch der Allgemeinen Welthistorie, die genauso wie Meiers Satire bei Gebauer erschien und in dieser Phase ein zentraler Bestandteil des gebauerschen Verlagsgeschäfts war.27 Singuläre philosophische und literaturkritische Themen werden von Meier auch in verschiedenen Stücken der bei Gebauer erschienenen Moralischen Wochenschriften behandelt, die hier ebenfalls zu nennen sind und die das breite Spektrum von Publikationen Meiers bei Gebauer ebenso wie bei Hemmerde veranschaulichen. Die Titel waren Der Gesellige von 1748 bis 1750, Der Mensch von 1751 bis 1756, Das Reich der Natur und der Sitten 1757 bis 1762 und Der Glückselige ab 1763. Dabei handelt es sich im Grunde um ein- und dasselbe Journal, das jeweils mit verändertem Titel von Meier gemeinsam mit Samuel Gotthold Lange herausgegeben wurde, allerdings ist die durchgehende Herausgeberschaft Meiers für alle vier Wochenschriften umstritten. Im Fall des Geselligen, des Menschen und des Reichs der Natur und der Sitten lässt sich das mit Sicherheit behaupten und anhand der zahlreichen Briefe von Lange an Gebauer auch zweifelsfrei belegen. In der Forschung war man allgemein davon ausgegangen, dass Meier an allen vier Moralischen Wochenschriften als Herausgeber beteiligt war, so auch Wolfgang Martens in seiner Reprint-Ausgabe des Menschen von 1992.28 Aus Langes Briefen an Gebauer aus dem Jahr 1762 geht jedoch eindeutig hervor, dass Meier beim Glückseligen wohl nicht mehr mit von der Partie war. So heißt es in Langes Brief an Gebauer vom 25. August 1762: »Aus Dero Schreiben habe mit Vergnügen ersehen, daß Sie mit dem ersten Stück, oder der Einleitung zu frieden sind. Auch es billigen, daß ich der alleinige Autor bleibe«.29 Aus der Vorrede des 12. Teils vom Reich der Natur 26
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[Georg Friedrich Meier:] Verurtheilung der Baumgartischen Anmerkungen zu der Algemeinen Welthistorie, eine Erzehlung vom Blocksberge. Mitgetheilt von Hans Erlenbach dem jüngern, Subrector zu Kiphausen unweit des Blocksberges. Halle: Gebauer 1748. Vgl. auch Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 185; Marcus Conrad: Geschichte(n) und Geschäfte. Die Publikation der »Allgemeinen Welthistorie« im Verlag Gebauer in Halle (1744–1814). Wiesbaden 2010, S. 60. Samuel Gotthold Lange, Georg Friedrich Meier (Hg.): Der Mensch, eine moralische Wochenschrift. Neu hg. und mit einem Nachwort vers. von Wolfgang Martens. Hildesheim, Zürich, New York 1992. Vgl. ebd., Nachwort des Herausgebers, S. 413*; Hans-Joachim Kertscher: Der Verleger Johann Justinus Gebauer. Halle 1998, S. 38–44, der bereits damals anhand des Verlagsarchivs Gebauer-Schwetschke ein Zerwürfnis zwischen den Herausgebern und Meiers Rückzug nachweisen konnte. Als neuere Publikation vgl. auch Katrin Bojarzin: Auf den Stufen zur Glückseligkeit. Zum Wochenschriftenzyklus von Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange 1748–1768. In: Misia Sophia Doms, Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern [u. a.] 2012, S. 339–358, die sich in dieser Frage der Kooperation zwischen Meier und Lange über den gesamten Erscheinungszeitraum hinweg mit einer definitiven Festlegung zurückhält (vgl. ebd., S. 341, Anm. 7). Samuel Gotthold Lange (Laublingen) an Johann Justinus Gebauer, 25. August 1762 (VAG, Sign. 7340).
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und der Sitten wird deutlich, dass auch Lange in diesem Fall nur bis zum 100. Stück beteiligt war, als Thomas Abbt als Mitarbeiter hinzutritt, der aber auch nur bis zum 190. Stück dabei bleibt.30 Diese Vorrede zum 12. Teil des Reichs der Natur und der Sitten ist datiert auf den 28. August 1762 und gezeichnet »J. P. M.«, was auf Johann Peter Miller hindeuten könnte, der zu diesem Zeitpunkt Rektor am lutherischen Gymnasium in Halle war und dem Haus Gebauer persönlich sehr nahe stand. Im Brief vom 28. Juni 1762 schreibt Lange, er habe »mit H. Prof. Meier vom Wochen Blatt geredet« und nicht mit ihm »eins werden können«, stattdessen plane Meier eine andere Wochenschrift gemeinsam mit dem Rektor Miller,31 was die Hypothese mit Miller als Mitherausgeber der späteren Teile des Reichs der Natur und der Sitten bekräftigt, nachdem sich auch Lange verabschiedet hatte. In derselben Vorrede heißt es dann auch, dass ab dem 226. Stück ein »hiesiger berühmter Lehrer auf der Universität« zu den Mitarbeitern hinzugekommen sei, der seine Beiträge »bisweilen mit, bisweilen ohne Zeichen« publiziert habe.32 Vielleicht ist damit wiederum Meier gemeint. Beim Glückseligen ist Lange alleiniger Herausgeber, zumindest gilt das für die ersten Teile, wie Langes Briefe an Gebauer belegen. In jedem Fall wird Meier von Lange in dessen Lebensbeschreibung als Mitherausgeber des Geselligen und des Menschen genannt, der seine Beiträge jeweils mit F gezeichnet und im Menschen alle ohne Unterschrift verfasst habe.33 Nimmt man das für bare Münze, dann müsste Meier besonders um 1749 zwischen dem 96. und dem 186. Stück als Beiträger aktiv gewesen sein, denn da ist nahezu jeder zweite bis dritte Beitrag mit F signiert. In diesen kurzen, meist 5- bis 10-seitigen Texten werden häufig allgemeinmenschliche, gesellschaftlich ausgerichtete Themen in populärer Form dargestellt, oft in Verbindung mit anekdotischen Erzählungen, historisch-mythologischen Beispielen, Gedichten, und besonders mit (fiktiven) Leserbriefen etc. Über die mit F gekennzeichneten Beiträge hinaus kann man wohl annehmen, dass weitere nicht signierte von Meier stammen, da immer wieder Themen erörtert werden, die Meier auch in separaten Publikationen monographisch behandelt oder mit denen er sich anderweitig intensiver auseinandergesetzt hat. Das gilt etwa für die Betrachtung Von der Ehre im 36. Stück des Geselligen, Vom Glück und Unglück im 114. Stück, Von Gespenstern im 133. Stück, oder der Beurteilung des Werts der Reime im 155. Stück des Geselligen. Die Gedanken von der Ehre (1746, 343 S.), die Gedanken vom Glück und Unglück (1753, 168 S.), oder die Gedancken von Gespenstern (1747, 47 S.) erschienen bekanntlich zuvor oder danach auch als umfangreichere Traktate Meiers. Hieran sieht man, wie sich diese Publikationsformen wechselseitig ergänzen und das Medium der Moralischen Wochenschrift Meiers Intention einer punktuellen populärphilosophischen Behandlung verschiedenster Themen und Phänomene in besonderer Weise entgegenkommt.
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Das Reich der Natur und der Sitten, eine moralische Wochenschrift. Zwölfter Theil. Halle: Gebauer 1762. Vorrede (unpag.), fol. *3r. Brief Lange an Gebauer, 28. Juni 1762 (VAG, Sign. 7337). Das Reich der Natur und der Sitten, eine moralische Wochenschrift. Zwölfter Theil. Halle: Gebauer 1762. Vorrede (unpag.), fol. *3v. Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle: Gebauer 1778, S. 111f.
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2. Die Publikation der Vernunftlehre bei Gebauer Auf die Moralischen Wochenschriften folgen im Verlag Gebauers als größere Schriften die Vernunftlehre sowie der Auszug aus der Vernunftlehre, die beide im selben Jahr 1752 erscheinen.34 Die Publikation von so genannten ›Auszügen‹ aus gelehrten Werken größeren Umfangs, besonders historischen, theologischen, philosophischen etc., ist eine im 18. Jahrhundert immer wieder geübte verlegerische Praxis. Das geschieht vor allem mit Blick auf unterschiedliche Publikumsinteressen und Rezipientengruppen. Neben der vordergründigen Reduzierung des Umfangs, die mehr oder weniger stark ausfallen kann, wird häufig eine bestimmte stilistische oder inhaltliche Akzentsetzung angestrebt. Aus verlegerischer Sicht spielt dabei jedoch nicht selten auch die Umgehung von verlagsrechtlichen Regulierungen bzw. Privilegien eine gewisse Rolle.35 Worin liegt nun im Fall der Vernunftlehre der entscheidende Unterschied und wie schlägt sich das in der Verlagskorrespondenz und Käuferresonanz nieder? Der augenfälligste Unterschied besteht natürlich zunächst im Umfang beider Bände, der bei gleichem Format (Großoktav) beim Hauptwerk 834 paginierte Seiten und beim Auszug schlanke 155 beträgt. Die Struktur und die einzelnen Abschnitte entsprechen einander bzw. folgen analog, sie stehen allerdings im gleichen Umfangsverhältnis, d. h. die Abschnitte des Auszugs betragen durchschnittlich etwa nur ein Siebentel bis ein Fünftel des Umfangs des entsprechenden Abschnitts im Hauptwerk. Vergleicht man etwa den vierten Hauptteil, »Von dem Character eines Gelehrten«, dann zeigt sich, dass im Auszug die gleichen Aussagen und Begriffsbestimmungen enthalten sind wie im Hauptwerk, allerdings in wesentlich konziserer, definitorisch bestimmter Form und ohne die ausführlichen Erläuterungen wie im Hauptwerk. So kann die Intention des Auszugs in diesem Fall nicht in einer besseren Allgemeinverständlichkeit liegen, wie das bei anderen Auszugsprojekten dieser Zeit bisweilen durchaus der Fall ist, sondern es handelt sich um ein inhaltliches Konzentrat des Hauptwerks, das eher wie ein Lehrwerk anmutet.36 In der Vorrede des Auszugs führt Meier diesbezüglich aus: »Da diese gegenwärtige Schrift ein blosser Auszug aus meiner grössern Vernunftlehre ist, welche zu gleicher Zeit mit dieser ans Licht trit; so habe ich nichts weiter zu erinnern, als daß ich diesen Auszug zum Gebrauch in meinen Lesestunden verfertiget habe«.37 Was lässt sich anhand des Verlagsarchivs zur Nachfrage von Seiten des Publikums und zur Verbreitung der beiden Fassungen sagen? Nach den in der Verlagskorrespondenz überlieferten Bestellungen fand das größere Hauptwerk deutlich höheren Absatz, vor allem auch in den ersten Jahren nach dem Erscheinen.38 Beim Auszug setzt das eigentlich erst mit den 1760er Jahren 34
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Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle: Gebauer 1752; Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle: Gebauer 1752. Die Vernunftlehre erschien im Januar und der Auszug im Mai 1752 (vgl. Pozzo: Vernunftlehre [s. Anm. 4], S. 113). Vgl. Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels. Bd. 3: Vom Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740–1804). Leipzig 1909, S. 461–470. Zu Meiers eigener Intention in diesem besonderen Fall vgl. Pozzo: Vernunftlehre (s. Anm. 4), S. 113. Vgl. ebd., S. 115. Meier: Auszug (s. Anm. 34), Vorrede, unpag. Vgl. Pozzo: Vernunftlehre (s. Anm. 4), S. 121ff., ebd. auch zu diversen Neuauflagen und Neudrucken des Auszugs zwischen 1760 und 1765.
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ein und erreicht dann bei weitem nicht den Umfang wie beim größeren Werk, jedenfalls im Hinblick auf das Zeugnis der Verlagskorrespondenz. Grundsätzlich ist hierzu zu sagen, dass auch andere Vertriebs- und Kommunikationswege eine wichtige Rolle gespielt haben könnten, wie insbesondere der Verkehr auf den Leipziger Messen, der durch das Verlagsarchiv kaum umfassend dokumentiert sein dürfte. Trotzdem ist die Überlieferung für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts so dicht, dass man die vorliegenden Materialien als Hinweise auf die Nachfrage werten kann, auch wenn allgemeine Aussagen schwierig zu treffen sind – eben aufgrund der Tatsache, dass man nicht weiß, inwiefern das Verlagsarchiv Gebauer vollständig ist und welche anderen Austausch- und Kommunikationskanäle mit welcher Gewichtung zu berücksichtigen sind. Durch das von Gebauer praktizierte Pränumerationsverfahren, das als Verlagsfinanzierung durch Vorschussgelder nach vorläufiger Ankündigung funktioniert, gingen bereits Bestellungen vor dem eigentlichen Erscheinungstermin ein, so von den Buchhändlern Johann Friedrich Kunckel in Stettin oder Friedrich Christian Pelt in Kopenhagen, der unter dem Datum des 27. September 1751 sechs Exemplare von Meiers größerer Vernunftlehre bestellt.39 Der Höhepunkt hinsichtlich der Bestellhäufigkeit lag eindeutig in den 1760er Jahren, in den 1770er Jahren fällt die Frequenz etwa auf den Stand der 1750er Jahre zurück und dann in den 1780er und 1790er Jahren nochmals rapide ab. Die letzte Bestellung stammt aus dem Jahr 1803 von dem Buchhändler Friedrich Perthes aus Hamburg, der unter dem Datum des 18. September 1803 neben zahlreichen anderen Abhandlungen und Traktaten Meiers auch ein Exemplar der Vernunftlehre anfordert, allerdings bei Hemmerde & Schwetschke, die damals noch unabhängig neben Gebauer bestanden.40 Der Auszug wurde verstärkt in den 1770er und 1780er Jahren bestellt, die letzte Bestellung kommt von dem halleschen Buchhändler Johann Christian Hendel am 28. Oktober 1793.41 Es sind in der Tat fast ausschließlich Buchhändler, von denen Schreiben oder Bestellungen zu Meiers Vernunftlehre vorliegen, und zwar aus verschiedenen Teilen Europas. Zu nennen sind hier Schlesien und die nordöstlichen Gebiete im Ostseeraum in Ostpreußen und im Baltikum, dann Pommern, Mecklenburg, Schleswig und Holstein, die Gebiete Braunschweig-Lüneburg und Hannover, der mitteldeutsche Raum, Hessen, die Region Franken, Schwaben und Zürich, Basel und Bern in der Schweiz. Eine herausragende Rolle spielen dabei Breslau als wichtiges Buchhandelszentrum mit Bestellungen durch die Firmen Pietsch, Meyer, Korn und Loewe; Kopenhagen mit Bestellungen durch Pelt, Mumme und Rothe; Berlin mit zahlreichen Bestellungen durch Friedrich Nicolai, Voss, Haude und Spener, Rüdiger, die Realschule, Himburg, Lange und Hesse; das nordwestdeutsche Buchhandelszentrum Hamburg mit Bestellungen durch Hertel und Alberti, Bohn, Brandt und Perthes; dann natürlich Leipzig mit Bestellungen durch Breitkopf, Lanckisch, Wendler, Gollner, Heinsius, Müller, Weidmanns Erben und Reich, 39
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Friedrich Christian Pelt (Kopenhagen) an Johann Justinus Gebauer, 27. September 1751, Sign. 5517. Zu den Spezifika und der Funktionsweise des Pränumerationsverfahrens im Buchhandel des 18. Jahrhunderts vgl. insbesondere den Tagungsband von Franz Stephan Pelgen (Hg.): Pränumerationen im 18. Jahrhundert als Geschäftsprinzip und Marktalternative. Ruhpolding, Mainz, Wiesbaden 2009. Friedrich Christoph Perthes (Hamburg) an Carl August Schwetschke, 18. September 1803, Sign. 38869. Johann Christian Hendel (Halle) an Johann Jacob Gebauer, 28. Oktober 1793, Sign. 31790.
Publikationen Meiers bei Gebauer und Hemmerde
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Junius, Hilscher, Gleditsch, Schreuder oder Crusius; auf der anderen Seite aus dem katholisch dominierten Zentrum des Reichsbuchhandels Frankfurt am Main mit Bestellungen durch Garbe, Keßler, Kochendörffer, Varrentrapp, Eßlinger, Brönner, Fleischer, Gebhard und Körber oder Hermann; schließlich die protestantische Enklave Nürnberg mit Bestellungen durch die Firmen Lang, Felsecker, Monath, Ammermüller, Schwarzkopf oder Stein. Dass diese Frage der konfessionellen Zugehörigkeit der Absatzgebiete für den Vertrieb von Schriften Meiers eine außerordentlich wichtige Rolle spielte, wird sich später noch zeigen. Neben der Korrespondenz mit anderen Buchhändlern liegen auch Schreiben von Gelehrten und diversen Privatpersonen vor, die ihre Bestellungen von Meiers Vernunftlehre bzw. dem Auszug direkt bei Gebauer aufgeben, sich mit Anfragen in diesem Zusammenhang unmittelbar an ihn wenden oder als Kollekteure fungieren, die unter ihren Bekannten und weiteren Interessierten Pränumeranten werben. Als Vergütung für eine bestimmte Anzahl eingeworbener Pränumeranten erhielten sie in der Regel Freiexemplare. Durch dieses Verfahren waren Gebauers Korrespondenzpartner häufig in einer Person Käufer bzw. Rezipienten und Zwischenhändler, zudem betätigten sich die meisten Verlagsautoren zugleich als Kollekteure für ihre eigenen oder andere Verlagswerke. Solche Schreiben zu Bestellungen von Meiers Vernunftlehre gibt es im Verlagsarchiv u. a. von dem Philosophen Johann Christian Gottlieb Schaumann, der zunächst Lehrer am königlichen Pädagogium, dann Privatdozent an der halleschen Universität und schließlich ab 1794 Ordinarius für Philosophie in Gießen war. In seiner Mitteilung an Gebauer vom 25. August 1762 schreibt er: »So viel ich weiß ist in Ew. Wolgeb. Verlage Meyers große Vernunftlehre und der Auszug daraus herausgekommen. Ich erbitte mir in diesem Fall sowohl das größere als das kleinere Werk«.42 Leider ist das Dokument nicht datiert, es dürfte aber erst in der zweiten Hälfte der 1780er oder der ersten Hälfte der 1790er Jahre entstanden sein. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche weitere Schreiben Schaumanns als Verlagsautor vor, von dem bei Gebauer 1792 die Ideen zu einer Kriminalpsychologie und das Wissenschaftliche Naturrecht, 1793 sein Versuch über Aufklärung, Freyheit und Gleichheit und die Philosophie der Religion überhaupt und des christlichen Glaubens insbesondere, 1795 die Kritischen Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre, 1796 der erste Teil seines Versuchs eines neuen Systems des natürlichen Rechts und schließlich 1798 die Geschichte der Republik Frankreich unter der Directorial-Regierung erschienen. Frühere Bestellungen kamen etwa von dem Gymnasialrektor Christoph Matthias Mölling aus Herford, der im Schreiben vom 7. Oktober 1751 an seine Pränumeration auf Meiers Vernunftlehre erinnert, die demnach geraume Zeit vor dem Erscheinungstermin erfolgt sein muss.43 Von Mölling erschien dann zwei Jahre später 1753 bei Gebauer sein Entwurf einer Chronologie der heiligen Schrift. Ein weiteres Beispiel ist der Superintendent, Konsistorialrat und Pastor in Petershagen in Westfalen Nikolaus Friedrich Herbst, der ab 1755 bei Gebauer mehrere theologische Schriften u. a. über die göttliche Offenbarung und die christliche Sittenlehre publizierte. Aus seinem Schreiben vom 13. November 1754 geht hervor, dass er für Gebauer als Kollekteur aktiv ist und neben diversen Schriften Baumgartens, der Wochenschrift Der Mensch und weiteren vor 42 43
Johann Christian Gottlieb Schaumann (Halle) an Johann Justinus Gebauer, 25. August 1762, Sign. 36118a. Christoph Matthias Mölling (Herford) an Johann Justinus Gebauer, 7. Oktober 1751, Sign. 2416.
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allem theologischen und historischen Werken Käufer für Meiers Vernunftlehre eingeworben hat, weshalb er Gebauer für drei Exemplare der Vernunftlehre vier Reichstaler übersendet, was dem Vorschusspreis von einen Reichstaler und acht guten Groschen pro Band entspricht.44 Die verspätete Zahlung erklärt er mit der Nachlässigkeit vieler Interessenten, für die er den Betrag habe vorstrecken müssen. Über die betrachteten Fälle hinaus ist zu konstatieren, dass es sich bei vielen Käufern von Meiers Vernunftlehre um Theologen bzw. Geistliche handelt.
3. Meiers Metaphysik im Verlag Gebauer Noch besser ist der Verlag und Vertrieb der Metaphysik dokumentiert, was sicher auch mit deren Erscheinungsdauer zusammenhängt. Als erster Teil erschien 1755 die Ontologie, als zweiter 1756 die Cosmologie, als dritter 1757 die Psychologie und als vierter und letzter Teil 1759 Die natürliche Gottesgelahrheit.45 Das königlich polnische und kurfürstlich sächsische Privileg auf die Metaphysik wurde Gebauer gemeinsam mit dem auf die Vernunftlehre bereits 1751 erteilt, wie aus dem Schreiben des Leipziger Bücherinspektors Christian Ernst Haubold vom 10. Juli 1751 hervorgeht.46 Die Pläne und Vorbereitungen zur Publikation der Vernunftlehre und der Metaphysik fallen demnach zeitlich zusammen. Das auf zehn Jahre befristete sächsische Privileg, das Gebauer das alleinige Verlags- und Vertriebsrecht in Sachsen und insbesondere auf den Leipziger Messen sicherte, wurde zehn Jahre später verlängert, wie aus Haubolds Schreiben vom 7. Januar 1761 hervorgeht.47 Dieses Privileg schützte Gebauer nur vor dem Nachdruck im Herrschaftsbereich des sächsischen Kurfürsten, für weitere Territorien musste Gebauer dann ebenfalls entsprechende Privilegien erlangen. Allerdings sind auf den Titelblättern aller vier Teile der Metaphysik jeweils nur die königlich polnischen und kurfürstlich sächsischen Privilegien erwähnt, so dass vermutlich auch keine weiteren vorlagen. Dennoch erfolgte der Vertrieb der Metaphysik weit über die sächsisch-polnischen Grenzen hinaus. Dabei sind dieselben Absatzgebiete zu nennen wie bei der Vernunftlehre, als besonders wichtige Vertriebsknotenpunkte wiederum Breslau, Kopenhagen, Berlin, Hamburg, Leipzig, Frankfurt am Main und Nürnberg. Hinzu kommt jetzt verstärkt auch Jena, wo es ebenfalls wichtige Verlagsbuchhändler gab, das jedoch als Buchhandelszentrum an sich nicht die Rolle spielte wie die zuvor genannten Orte. Die Bestellungen im Verlagsarchiv häuften sich ab Anfang der 1760er Jahre, also nach dem kompletten Erscheinen aller vier Teile der Metaphysik, mit einem Höhepunkt in den Jahren 1761 und 1762 und lassen dann in den 1770er und 1780er Jahren deutlich nach. Die letzte vorhandene Bestellung kommt von dem Hamburger Buchhändler Benjamin Gottlob Hoffmann am 17. Februar 1797.48
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Nikolaus Friedrich Herbst (Petershagen) an Johann Justinus Gebauer, 13. November 1754, Sign. 5428. Georg Friedrich Meier: Metaphysik, Teil 1: Die Ontologie. Halle: Gebauer 1755; ders.: Metaphysik, Teil 2: Die Cosmologie. Halle: Gebauer 1756; ders.: Metaphysik, Teil 3: Die Psychologie. Halle: Gebauer 1757; ders.: Metaphysik, Teil 4: Die natürliche Gottesgelahrheit. Halle: Gebauer 1759. Christian Ernst Haubold (Leipzig) an Johann Justinus Gebauer, 10. Juli 1751, Sign. 2351. Christian Ernst Haubold (Leipzig) an Johann Justinus Gebauer, 7. Januar 1761, Sign. 6577. Benjamin Gottlob Hoffmann (Hamburg) an Johann Jacob Gebauer, 17. Februar 1797, Sign. 33745.
Publikationen Meiers bei Gebauer und Hemmerde
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Interessant ist die Tatsache, dass Meiers Metaphysik Anfang der 1780er Jahre etwa auch nach Wien über dort ansässige wichtige Buchhandlungen wie Gerold oder Kurzbeck bestellt wurde.49 Bemerkenswert ist das vor allem deswegen, weil die Metaphysik 1776 durch die rigoros katholische habsburgische Zensur für Österreich ohne Einschränkung verboten worden war.50 Möglicherweise hängen die Bestellungen und Lieferungen nach Wien Anfang der 1780er Jahre mit dem Herrscherwechsel von Maria Theresia auf Joseph II. und dem ›josephinischen Tauwetter‹ zusammen. Die Zensurverbote betrafen allerdings nicht nur die Metaphysik, sondern zahlreiche weitere Schriften Meiers in beiden Verlagen wie die Moralischen Wochenschriften Das Reich der Natur und der Sitten und Der Glückselige, die Philosophische Sittenlehre sowie zahlreiche Publikationen Meiers zu religionsphilosophischen Themen, zur Sittenlehre und zum Verhältnis von Weltweisheit und Theologie. Als Besteller mit einem gewissen gelehrten Hintergrund sind etwa der spätere Gymnasialrektor Andreas Samuel Gesner aus Rothenburg ob der Tauber zu nennen, der im Schreiben vom 8. April 1758 den zweiten und folgende Teile der Metaphysik bestellt;51 der Verwandte Friedrich Schillers, Übersetzer und spätere Mainzer Buchdrucker Johann Friedrich Schiller, der am 27. Dezember 1758 sowohl die Vernunftlehre und den Auszug als auch die Metaphysik bestellt;52 der Diakon Erich Fabricius aus Apenrade in Nordschleswig;53 der Gymnasialrektor, Historiker und Verlagsautor Johann Gottfried Arndt aus Riga, der im Schreiben vom 20. Dezember 1760 die drei ersten Teile der Metaphysik bestellt;54 der Theologe und Schulrektor Friedrich Wilhelm Mascho aus Bergedorf;55 der Professor der Philologie und Pfarrer Johann Caspar Sunten aus Dortmund, der sich im Schreiben vom 21. Mai 1765 nach dem Preis für den vierten Teil der Metaphysik, also Die natürliche Gottesgelahrheit erkundigt, und reichlich ein Jahr später seine Rechnung begleicht;56 der Jenaer Philosoph Justus Christian Hennings, der im Schreiben vom 18. August 1773 Meiers Metaphysik als typographisches Vorbild für seine Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere anführt, die im folgenden Jahr 1774 bei Gebauer erschien;57 der als Kollekteur tätige Landsyndikus Johann Gottlieb Pistorius aus Neubrandenburg, der sich im Schreiben vom 29. September 1779 für die Zusendung eines Freiexemplars
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Vgl. u.a. Joseph Edler von Kurzbeck (Wien) an Johann Jacob Gebauer, Michaelismesse 1780, Sign. 19015; Joseph Gerold (Wien) an Johann Jacob Gebauer, Zuordnung zur Korrespondenz 1781–1790, Sign. 25709. Siehe dazu die Datenbank zur Erfassung der in Österreich zwischen 1750 und 1848 verbotenen Bücher unter der URL http://www.univie.ac.at/censorship/info.html. Andreas Samuel Gesner (Rothenburg o. d. T.) an Johann Justinus Gebauer, 8. April 1758, Sign. 3962. Johann Friedrich Schiller an Johann Justinus Gebauer, 27. Dezember 1758, Sign. 4235. Zu Schiller vgl. u.a. Helmut Mathy: Das Mainzer Druckerei-Privileg für Johann Friedrich Schiller aus dem Jahre 1784. In: Gutenberg-Jahrbuch 1978, S. 198–201; Alfred Boerckel: Der Buchdrucker und Sprachmeister J. F. Schiller. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 8 (1904), S. 58–71 u. S. 210–211; Friedrich Schneider: Johann Friedrich Schiller. Mainz 1905. Eric Fabricius (Apenrade) an Johann Justinus Gebauer, 21. Februar 1760, Sign. 4726. Johann Gottfried Arndt (Riga) an Johann Justinus Gebauer, 20. Dezember 1760, Sign. 4624. Friedrich Wilhelm Mascho (Bergedorf) an Johann Justinus Gebauer, 15. März 1765, Sign. 8773. Johann Caspar Sunten (Dortmund) an Johann Justinus Gebauer, 21. Mai 1765, Sign. 8810; Johann Caspar Sunten (Dortmund) an Johann Justinus Gebauer, 9. Juli 1766, Sign. 9200. Justus Christian Hennings (Jena) an Johann Jacob Gebauer, 18. August 1773, Sign. 13006.
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der Metaphysik bedankt.58 Bestellungen von Meiers Metaphysik kommen außerdem von mehreren Studenten oder Kandidaten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin – es gibt Belege für Angehörige aller drei höheren Fakultäten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Mitteilungen von Kollekteuren, häufig Pastoren oder Justizbeamte, die vom Absatzerfolg bzw. dessen Misserfolg aufgrund der Beeinträchtigungen durch den Siebenjährigen Krieg, Plünderungen, Transportbehinderungen usw. berichten. Der Siebenjährige Krieg, der mit dem Publikationszeitraum der Metaphysik weitgehend zusammenfiel, bedeutete für den nordostdeutschen Buchhandel einen schweren Einbruch und eine tiefgreifende Zäsur, was in der Verlagskorrespondenz ebenfalls deutlich wird.59 Trotz dieser Beeinträchtigungen, die die literarische Kommunikation sehr hart trafen und Nachfrage sowie Vertrieb teilweise zum Erliegen brachten, konnte Gebauer mit Meiers Metaphysik beträchtliche Umsätze verbuchen und mit seinem weit gespannten Vertriebsnetz seine Multiplikatorfunktion für die europaweite Rezeption der Werke Meiers effektiv erfüllen. Das gilt selbstverständlich ebenso für Hemmerde.
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Johann Gottlieb Pistorius (Neubrandenburg) an Johann Jacob Gebauer, 29. September 1779, Sign. 17310. Zu den buchhandelsgeschichtlichen Entwicklungen im Zuge des Siebenjährigen Krieges, der gewissermaßen als Katalysator in der Umstellung der verlegerisch-buchhändlerischen Strukturen sowie im Übergang vom Tausch- und Konditionsverkehr zum Nettohandel anzusehen ist, vgl. u. a. Goldfriedrich: Geschichte (s. Anm. 35), S. 269 und passim; Helmuth Kiesel, Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München 1977, S. 125 und passim.
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Zwei Jahrzehnte Volksaufklärung (1748–1768) Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften
1. Als Schulphilosoph hat sich Georg Friedrich Meier, der Ende 1739 an der Fridericiana in Halle die Lehrveranstaltungen Alexander Gottlieb Baumgartens übernommen und fortgeführt hat, bereits früh und intensiv mit allen Teildisziplinen der Philosophie beschäftigt.1 Diese Vielseitigkeit ist beachtlich, aber keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal Meiers; vielmehr zeichneten sich in der Frühen Neuzeit, v. a. aufgrund der noch relativ geringen disziplinären Zersplitterung der artes liberales, etliche akademische Lehrer durch eine ähnlich immense thematische Breite ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung aus. Verstärkt wurde diese Weitflächigkeit der Gelehrsamkeit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nochmals durch das zunehmend dominierende und auch für Meier zunächst bestimmende Wissenschafts- und Philosophieverständnis Christian Wolffs (1679–1754), der mit seinem (zumindest dem Anspruch nach) universellen Ansatz die Behandlung aller wissenschaftlichen Disziplinen nach einer einzigen Methode forderte. Eine detailliertere Sichtung der Schriften Meiers deutet allerdings darauf hin, dass es bestimmte Themengebiete und Disziplinen gab, die ihn in besonderem Maße interessierten. An erster Stelle ist hier die seinerzeit noch junge ›Ästhetik‹ zu nennen, um deren Positionierung vor dem Hintergrund des traditionellen Kanons philosophischer Teildisziplinen zu Meiers Zeit – und nicht zuletzt unter Meiers starkem Einfluss – bekanntlich noch heftig gerungen wurde. Diese Kontroversen, von denen die zwischen Meier und Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) zu den bekannteren zählen dürfte, waren es, die Meiers metaästhetische und metaphilosophische Reflexionen zunächst maßgeblich motivierten. Meier ist – trotz vielfältiger Anknüpfungen seines Denkens an die Philosophie Wolffs – kein Wolffianer im engeren Sinne des Wortes. Anders als viele unmittelbare Wolff-Schüler war Meier in erkennbarem Maße um eigenständige Positionen bemüht und ging – durch Alexander Gottlieb Baumgarten, zweifellos aber auch durch den in Halle damals durchaus noch wirksa1
Samuel Gotthold Lange: Leben des Herrn Professor Meier. Halle 1778, S. 37; vgl. Günter Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle a. d. Saale 1994, S. 19.
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men Thomasianismus angeregt – in mancherlei Hinsicht von Wolff ab oder vielmehr über ihn hinaus.2 Der Anspruch, mit einer universell anwendbaren Methode ein ebenso universelles wissenschaftliches System zu entwickeln, ist bei Meier, wenn überhaupt, so doch längst nicht im selben Maße zu erkennen wie bei Wolff und dessen Schülern. So spricht sich Meier in seiner Abbildung eines wahren Weltweisen (1745) einerseits gegen alle Sektiererei in den Wissenschaften (v. a. in der Philosophie) aus und fordert, die Wahrheit prinzipiell und ohne Ansehen der Person dort anzunehmen, wo man sie finde,3 andererseits bekleidet er »den Begriff des ›wahren Weltweisen‹ einfach mit allem, was ihm gut und teuer erscheint«.4 Weder der von Meier formulierte Auswahl-Gedanke noch sein Idealbild eines Philosophen lässt sich spannungsfrei mit der wolffischen Systemphilosophie in Einklang bringen. Noch deutlicher erkennbar wird Meiers philosophische Selbständigkeit durch sein fortgesetztes Bemühen, die Ästhetik durch eine »Verwissenschaftlichung der Sinnlichkeit« den zunehmend als »einseitig-rationalistisch« gedeuteten Konzepten im Fahrwasser des Wolffianismus entgegenzustellen.5 Damit ist nicht gesagt, dass sich Meier ausdrücklich gegen den Wolffianismus wandte, sondern dass er ihn aufgriff und in bestimmten Richtungen über ihn hinausging. Anders als Wolff war Meier nicht nur als Autor schulphilosophischer Lehrbücher und Abhandlungen mit einem vorrangig akademischen Adressatenkreis überaus produktiv, sondern auch als Herausgeber verschiedener Wochenschriften und als Autor zahlreicher popularphilosophischer Beiträge. Obwohl Wolffs Schriften auch unter wissenschaftlich interessierten Laien sehr verbreitet waren, richtete sich seine Lehre als Schulphilosophie primär an professionelle Wissenschaftler. Einer Popularisierung wurde sie erst von einigen seiner Schüler unterzogen. Auch zielte Wolffs Lehre, anders als etwa diejenige Christian Thomasius’, unmittelbar v. a. auf wissenschaftliche Erkenntnis und erst mittelbar (wenn auch durchaus ebenso ausdrücklich) auf das Gemeinwohl und die moralische Besserung der Menschen. Die Vermittlung neu gewonnener Erkenntnisse oder gar die Vermittlung wissenschaftlicher und philosophischer Kompetenzen im Sinne einer Volksaufklärung lag zwar auch Wolff nicht völlig fern, aber seine ›philosophische Methode‹ war vor allem eine Wissenschaftsmethode, und keineswegs war es Wolffs Ziel, alle Menschen zu Wissenschaftlern oder Philosophen zu machen. Volksaufklärung er2
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Die trockene Systematik der wolffischen Schule blieb Meier weitgehend fremd. Zudem bleibt die schon für seinen Lehrer Alexander Gottlieb Baumgarten zentrale Bedeutung der Ästhetik auch bei ihm erhalten und lässt ihn im Urteil der Nachwelt als einen der Begründer dieser Disziplin in Deutschland gelten. Zugleich tritt die aufgrund seiner Biographie enge Beziehung zur praktischen Theologie im Sinne des Pietismus stärker zu Tage als bei Wolff und seinen Schülern. Vermutlich erklärt sie die Entstehung der innigen und produktiven Freundschaft mit Lange, der als Sohn des Hallenser Pietisten und Theologieprofessors Joachim Lange (1670–1744) ebenfalls das Hallesche Waisenhaus besuchte und in Halle Theologie studierte. Eines haben der Pietismus und die Popularphilosophie Meiers und Langes jedenfalls gemein: Beide richten sich grundsätzlich an alle Menschen, also ausdrücklich auch an die Frauen, und sie zielen beide auf moralische Besserung, zunächst auf individueller, letztlich auf gesellschaftlicher Ebene. Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745 (²1762, ND d. 1. Aufl. m. e. Einführung v. Mirjam Reischert. Hildesheim u. a. 2007 [Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. u. bearbeitet v. Jean École u. a., Hildeheim 1988ff., hier Abt. III, Bd. 100]), S. 129. Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 578. Schenk: Meier (s. Anm. 1), S. 37.
Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften
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streckte sich bei Wolff wesentlich auf die Vermittlung einzelner Fertigkeiten und Kenntnisse.6 Faktisch hielt er die Verbreitung philosophischer bzw. wissenschaftlicher Kompetenzen auf breiter gesellschaftlicher Ebene zwar für wünschenswert, aber für weniger dringlich als die Beförderung der professionellen Wissenschaft. So hatte Wolff bekanntlich vor, ein Philosophielehrbuch für Frauen zu verfassen, doch hat er dieses Vorhaben, das er ohnehin erst recht spät, nämlich mit fast sechzig Jahren, ins Auge gefasst zu haben scheint, nie in die Tat umgesetzt und anderen Projekten den Vorrang gegeben.7 In dieser Hinsicht steht Meier der auf praktischen Nutzen ausgerichteten Lehre des Thomasius näher: Wie dieser suchte Meier nicht nur nach Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern zugleich auch nach Möglichkeiten der Aufklärung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene. In diesem Sinne griff er – gemeinsam mit dem Laublinger Pfarrer Samuel Gotthold Lange (1711–1781), mit dem ihn seit 1739 eine enge Freundschaft verband – auf das inzwischen auch in Deutschland etablierte Medium der Wochenschriften zurück. Als Professor für Philosophie an der Universität Halle publizierte Meier zwischen 1748 und 1768 gemeinsam mit seinem Freund Lange vier »moralische Wochenschriften«: Der Gesellige (1748–1750), Der Mensch (1751–1756), Das Reich der Natur und der Sitten (1757–1762) und schließlich Der Glückselige (1763–1768).8 Mit dem Untertitel »Eine moralische Wochenschrift« wurden alle vier Periodika versehen. Die sich über mehr als zwei Dekaden erstreckende editorische Erfolgsgeschichte belegt nicht nur die immense Produktivität der beiden Herausgeber, die den Großteil der Beiträge selbst verfasst haben, sondern auch das anhaltend große Interesse der Leser an den Themen, die von ihnen behandelt wurden, und sie verweist letztlich auch auf eine Facette des seinerzeit verbreiteten literarischen Geschmacks.9 Heute bieten die Wochenschrif6
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Vgl. hierzu Holger Böning: Der Wandel des gelehrten Selbstverständnisses und die Popularisierung aufklärerischen Gedankengutes. Der Philosoph Christian Wolff und der Beginn der Volksaufklärung. In: Harro Segeberg (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der deutschen Literatur (1770– 1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988. Tübingen 1991, S. 91–114. Vgl. hierzu ausführlich: Werner Schneiders: Das philosophische Frauenzimmer. In: Frank Grunert u. Claude Weber (Hg.): Tradition und Emanzipation. Katalog der Ausstellung. Luxembourg 1991, S. 50–94; ND in: Werner Schneiders: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 365–397 (danach im Folgenden zit.), hier bes. S. 377ff. Alle diese Wochenschriften erschienen in Halle im Verlag Johann Justinus Gebauers. Zu Gebauer siehe Hans-Joachim Kertscher: Der Verleger Johann Justinus Gebauer. Mit einem Anhang: Ungedruckte Briefe aus dem Geschäftsnachlaß der Druckerei Gebauer & Schwetschke u.a. Halle a. d. Saale 1998. – Zudem publizierte Meier zwischen 1761 und 1767 Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion in 8 Stücken (Halle). Die Erforschung der so genannten gelehrten Journale und anderer Zeitschriften der Aufklärungsepoche hat in den letzten Dekaden einige bemerkenswerte Fortschritte erzielen können. So hat Thomas Habel vor wenigen Jahren eine umfassende Studie über deutschsprachige Rezensionszeitschriften vorgelegt: Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007. – Die Grundlage für die Erforschung der hier in den Blick genommenen Wochenschriften hat v. a. Wolfgang Martens gelegt, im größeren Zusammenhang mit seinem Standardwerk Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971 (1. Ausg. Stuttgart 1968), im Speziellen durch seine Nachworte zu den Reprints der beiden Wochenschriften Der Gesellige und Der Mensch sowie durch seinen Aufsatz Moralische Wochenschriften in Halle. In: Günter Jerouschek, Arno Sames (Hg.): Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806).
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ten und ähnliche Literaturgattungen die Möglichkeit, eine der wesentlichen Verbreitungsstrategien ursprünglich akademischen Denkens zu erforschen, jedenfalls dann, wenn ihre Hauptverfasser, wie Meier, Gelehrte von akademischer Profession waren. Ein Werkprofil Meiers darf diese Seite seines Schaffens nicht ignorieren – ermöglicht es doch den Blick auf Aspekte seines Denkens, die über das, was die Analyse seines schulphilosophischen Werks zutage fördern kann, hinausgehen. Im Folgenden geht es in erster Linie darum, einige mögliche Ansätze entsprechender Forschungen sichtbar zu machen und auf den Erkenntnisgewinn, den sie erbringen können, anhand eines Fallbeispiels, nämlich Meiers Gedanken zur Frauenbildung, hinzuweisen. Dieser thematische Aspekt ist dabei nur einer von vielen, die von Meier nicht im Rahmen der Schulphilosophie, sondern ausschließlich in seinen Beiträgen zu den Moralischen Wochenschriften behandelt worden sind. Aber auch in Meiers philosophische Denkweise können wir durch die Lektüre seiner populärwissenschaftlichen Abhandlungen Einblicke gewinnen, die sich uns durch die bloße Lektüre seiner Lehrbücher und Disputationen nicht bieten; zumindest nach Einschätzung seines langjährigen Freundes Lange zeigen sich nämlich Meiers »Laune« und »Swiftische Denkungsart« ausschließlich in dessen Aufsätzen zu Der Gesellige und Der Mensch.10
2. Die trotz des umrissenen Erkenntnispotentials nur beiläufige Behandlung der vier Wochenschriften in den Forschungen zu Meier und Lange mag verschiedene Gründe haben.11 Einer
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Hanau, Halle 1994, S. 86–94. Wolfgang Martens: Nachwort zu Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Wolfgang Martens. 6 Teile in 3 Bdn. Hildesheim, Zürich, New York 1987, hier: Bd. 3, S. 401*– 431*; Wolfgang Martens: Nachwort zu Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Wolfgang Martens. 12 Teile in 6 Bdn. Hildesheim, Zürich, New York 1992, hier Bd. 6, S. 413*–457*. Vgl. ferner Ute Schneider: Der Moralische Charakter. Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften. Stuttgart 1996; Elke Maar: Bildung durch Unterhaltung. Die Entdeckung des Infotainment in der Aufklärung. Hallenser und Wiener Moralische Wochenschriften in der Blütezeit des Moraljournalismus 1748–1782. Bochum 1995; Hanno Langenohl: Die Anfänge der deutschen Volksbildungsbewegung im Spiegel der moralischen Wochenschriften. Ratingen 1964. – Aus der neueren Forschung zu Meiers und Langes Wochenschriften sind v.a. die Beiträge von Ernst Stöckmann und Rainer Godel zu nennen: Ernst Stöckmann: ›Philosophie für die Welt‹ zwischen ästhetischer und sittlicher Programmatik. Zu einigen Aspekten popularphilosophischer Publizistik am Beispiel der Moralischen Wochenschriften G. F. Meiers und S. G. Langes. In: Franz Simmler (Hg.): Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin. 20. bis 22. September 1999. Bern (u. a.) 2002, S. 603–630; Rainer Godel: Anthropologie und Fiktion – Zur diskursiven Formation der Moralischen Wochenschrift ›Der Mensch‹ (1751–1756). In: Manfred Beetz (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005, S. 123–143. Vgl. jetzt auch: Katrin Bojarzin: Auf den Stufen zur Glückseligkeit. Zum Wochenschriftenzyklus von Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange 1748–1768. In: Misia Sophia Doms, Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern (u. a.) 2012, S. 339–358. Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (s. Anm. 1), S. 114. Zu Meier: Schenk: Leben und Werk (s. Anm. 1); Josef Schaffrath: Die Philosophie des Georg Friedrich Meier. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsphilosophie. Eschweiler 1940. Zu Lange: Hans-Joachim Kertscher: Zum Gedenken. 1711: Samuel Gotthold Lange. Dichter und Übersetzer. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für
Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften
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dieser Gründe ist vermutlich die thematische Breite. Die vier Wochenschriften Meiers und Langes haben zwar programmatische Titel, und tatsächlich bilden diese in der Regel den inhaltlichen Bezugsrahmen der Beiträge, aber das jeweilige Themenfeld bleibt stets weit gefasst; behandelt werden meist recht konkrete Themen oder Fragestellungen, ebenso finden sich essayistische Kommentare, erbauliche Dichtungen sowie populärwissenschaftliche Abhandlungen, die an ein weites Spektrum von Wissenschaften anknüpfen. Das gilt bereits für den Geselligen: Etliche Beiträge handeln dem Titel entsprechend von der Geselligkeit des Menschen, insbesondere von menschlichen Voraussetzungen zur Geselligkeit,12 sowie von personen- oder gruppenspezifischen Eigenheiten13 und Gemütszuständen,14 letztlich auch vom Nutzen der Geselligkeit für die Besserung der Menschen als Bürger.15 Meier greift in seinen Stücken bisweilen Themen auf, die er bereits zuvor in seiner Schulphilosophie behandelt hatte, zum Teil behandelt er aber auch Themen, die in der Schulphilosophie keinen Platz haben. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung der Wochenschriften könnte in der unklaren Autorschaft liegen. Wie die Herausgeber und Autoren der meisten Wochenschriften jener Zeit, die – nicht nur in Deutschland – in der Regel nach dem Vorbild der englischen Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunderts (The Tatler, The Spectator, The Guardian usw.) konzipiert wurden, publizierten auch Meier und Lange ihre Periodika anonym bzw. verborgen hinter Pseudonymen und fiktiven Leserbriefen. Nicht selten wurden im Zusammenhang mit den Wochenschriften ganze Gesellschaften als vorgebliche Autorengruppe erfunden.16 So stehen hinter Der Gesellige, der ersten der vier Wochenschriften, die Meier gemeinsam mit Lange herausgegeben hat,17 vorgeblich etliche Personen mit klar umrissenen Zuständigkeitsbereichen. Die Herausgeber erläutern dies in den ersten Bögen ausführlich: »Chloris von Tugendheim« und »Phillis« seien für Leserbriefe zum Thema Liebe zuständig, die Schwestern »Doris« und »Amalia« für Probleme unzufrieden verheirateter Frauen, »Climene Wohlgezogen« beantworte Fragen zur Kinderzucht, »Daphne« kümmere sich um Belange der häuslichen Wirtschaft. Außer aus diesen sechs ›Damen‹ bestehe die Gesellschaft aus zehn männlichen Mitgliedern, nämlich aus »Frommhold«, dem Geistlichen, »Herrn Schlichter« (einem Rechtsgelehrten), »Herrn Redlich« (einem erfahrenen Kaufmann), »Herrn Musidor« (ein »Poet und Kenner der schönen Wissenschaften«), »Philander Holdernst« (von dem nur berichtet wird, dass er »im Umgang« ein »angenehme[r] Mann« sei), dessen zwei Vettern (die sich in der »engen Gesellschaft […] zu dem Umgang mit der grossen Welt anschicken wollen«), »Herr Wohlrath« (ein weitgereister ehemaliger »Hofmeister eines
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Kultur und Geschichte 18 (2011), S. 129–132; Hildegard Geppert: Samuel Gotthold Lange, der Gründer der ersten Halleschen Dichterschule, sein Leben und seine Werke. 1711–1781. Diss. Heidelberg 1923. Zu Meiers Position in der Debatte um die Denkfreiheit, die sich ebenfalls nur durch Untersuchungen seiner Wochenschriftbeiträge ermitteln lässt, vgl. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012, S. 394ff. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 4. St. (S. 33–40); 39. St. (S. 321–328); 3. Theil (1749), 114. St. (S. 145–152). Ebd., 1. Theil (1748), 16. St. (S. 129–136). Ebd., 1. Theil (1748), 8. St. (S. 65–72); 12. St. (S. 67–104); 2. Theil (1748), 82. St. (S. 689–696). Ebd., 3. Theil (1749), 116. St. (S. 161–168). Zur fiktiven Autorschaft als Charakteristikum moralischer Wochenschriften des 18. Jahrhunderts vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend (s. Anm. 9), S. 15ff. Das Blatt erschien erstmals 1748, also in dem Jahr, an dessen Ende Meier als Nachfolger des Professors Ursinus in Halle, bekanntlich vergleichsweise spät, eine ordentliche Professur erhalten hat.
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großen Fürsten«), »Herr Freymund«, der sich v. a. der Kenntnis des Menschen, der Leidenschaften und der Naturgeschichte widme, sowie »Lucidor von Munterfeld« (ein Satiriker).18 Zumindest einige dieser Namen erweisen sich als Pseudonyme. So handelt es sich bei dem Geistlichen namens »Frommhold« vermutlich um Lange, »Herr Freymund« sei kein anderer als Meier, wie Lange später in der von ihm verfassten Biographie Meiers erklärt.19 Der Name »Doris« spielt möglicherweise auf Langes Ehefrau an.20 Bei den anderen Namen ist man schon in der Frage, ob es sich um Pseudonyme oder fiktive Figuren handelt, auf Spekulationen angewiesen. In den Zeitschriftenbeiträgen treten diese genannten Figuren faktisch allerdings kaum in Erscheinung, insbesondere fungieren sie fast nie als Autoren. Sie bilden vielmehr Repräsentationen jener gesellschaftlichen Gruppen, die mit den Wochenschriften angesprochen werden sollten. Die Autoren der Einzelbeiträge sind aber doch weitestgehend sicher zu ermitteln, denn die Herausgeber lüften die Geheimnisse selbst.21 Zudem tritt die Konstruktion fiktiver Mitglieder der Autorengruppe in den folgenden Wochenschriften deutlich zurück. Sofern die nachträglichen Erklärungen der Autoren zur Verfasserschaft der Einzelbeiträge zutreffen, stammen nicht weniger als 103 Stücke aus Der Gesellige und 239 Stücke aus Der Mensch von Meier. Schon an der Menge dieser Beiträge wird ersichtlich, dass die Wochenschriften für Meier (wie auch für Lange) nicht nur ein Nebenprojekt gewesen sein können, sondern über viele Jahre einen wesentlichen Bestandteil seiner wissenschaftlichen Betätigung bildeten. Bereits mit ihrer ersten Moralischen Wochenschrift, Der Gesellige, verfolgen die Autoren explizit ein gesellschaftspädagogisches Ziel. Es geht ihnen darum, »die geselligen Tugenden und den guten Geschmack durch Muster, durch Satyre und durch ernsthafte Abhandlungen allgemeiner zu machen«, und zwar unter Einbeziehung der »heiligen Religion«.22 Dass die Geselligkeit ein Ziel des Menschen sein soll, wird – in Anlehnung an die seinerzeit populären Naturrechtskonzeptionen Pufendorfs und Thomasius’ – naturrechtlich aus der Beobachtung hergeleitet, dass Gott den Menschen als ein zur Geselligkeit veranlagtes und mithin zu ihr bestimmtes Wesen geschaffen habe. Dementsprechend heißt es: Ich verstehe unter einem geselligen Menschen, einen solchen, der sich in seiner innern und äussern Einrichtung nicht als einen einzelnen Menschen, sondern im beständigen Zusammenhange mit seinen 18 19
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Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 1. St. (S. 1–16), S. 13ff. In der von Lange verfassten Biographie Meiers heißt es, dass alle Stücke in Der Gesellige, die mit dem Buchstaben »F« gekennzeichnet sind, von Meier stammen. Dem letzten Stück von Der Gesellige wiederum ist zu entnehmen, dass »unser Weltweiser Freymund« seine Stücke mit »F« markiert habe. »Freymund« und Meier sind also identisch. Vgl. Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (s. Anm. 1), S. 112; Der Gesellige (s. Anm. 9), 6. Theil (1750), 271. St. (S. 393–400), S. 399. Dieses Pseudonym hatte Langes Gattin bereits bei früher veröffentlichten Gedichten benutzt. – Vgl. zur »Gesellschaft der Geselligen« Martens: Nachwort zu Der Gesellige (s. Anm. 9), S. 409f. Vgl. Der Gesellige (s. Anm. 9), 6. Theil (1750), 271. St. (S. 393–400), bes. S. 398ff., in dem Lange zudem erklärt, dass zwei mit »O« bezeichnete Stücke von einem (nicht namentlich genannten) Fräulein stammen, ein weiteres, mit »D« gekennzeichnetes Stück von Doris, also Langes Frau. Mit »M« unterzeichnete Texte stammen laut Lange von einem »hohen Verfasser, der unter den Helden sowol als unter Gelehrten einen vorzüglichen Rang hat« (möglicherweise der Generalmajor von Stille); mit einem doppelten Buchstaben gekennzeichnete Beiträge stammen von einem »Auswärtigen«, alle mit anderen Buchstaben oder mit Sternen markierten Texte von Lange. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), Vorrede (unpag.).
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Nebenmenschen betrachtet, und sich daher in seinen Handlungen so zu verhalten bestrebet, daß er zu dem allgemeinen Wohl so viel wie möglich beytrage, um des allgemeinen Wohls insbesondere theilhaftig zu werden.23
Aus dieser Bestimmung des geselligen Menschen werden im Folgenden alle ethischen und privatpolitischen Handlungsnormen abgeleitet: »die Redlichkeit, die Munterkeit […], die kluge Mässigung, die Bescheidenheit, Verschwiegenheit, das Mitleiden, die Gedult, Nachsicht, Vertraulichkeit, Behutsamkeit, und hundert andere Tugenden«.24 Die Moralische Wochenschrift wird in diesem Zusammenhang sogar als ein sich von den »Lehrgebäuden«, d. h. der Schulphilosophie, positiv absetzendes Medium präsentiert, da dort gerade diese »Kleinigkeiten […], die die Sitten und den Umgang in Ordnung bringen […], als unerheblich, nie betrachtet werden«.25 Akademische Gelehrsamkeit sei zudem keine notwendige Voraussetzung dafür, gesellig, d. h. »in der Gesellschaft beliebt«, zu werden; »ein gutes Herz, ein guter Kopf nebst einem gefälligen Wesen« seien hinreichend, d. h. die ›richtige‹ moralische Grundhaltung, ein selbständiger und geschulter Verstand, »Witz« und »Gefälligkeit«.26 Die Motivation, gesellig zu werden, wird bei allen Menschen vorausgesetzt, da jedermann »eine Begierde hat, den Beyfall und die Achtung seiner Nebenmenschen zu erhalten«.27 Einem ähnlichen methodischen Ansatz wie Der Gesellige folgt Der Mensch, die zweite moralische Wochenschrift Langes und Meiers. Die Begründung für die thematische Ausrichtung der Wochenschrift deutet allerdings darauf hin, dass mit dem Menschen ein noch wichtigerer Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt gerückt wird, als es die Geselligkeit gewesen ist. Denn, so die Autoren, im gesamten »Reich der Wissenschaften und der Sittenlehre« sei »nichts wissenswürdiges und brauchbares, auch angenehmes und lehrreiches« anzutreffen, als das, was sich auf den Menschen beziehe.28 Nur um des Menschen willen sei alle Naturwissenschaft überhaupt lohnend. Nicht ohne Grund betrachte sich der Mensch als den »wahren Mittelpunct aller Dinge« und sei daher einer »grossen Selbstliebe« verhaftet, denn alle Wissenschaft habe bislang nichts »edlers« gefunden als ihn selbst. Dieser den Autoren zufolge gleichsam wissenschaftlich begründbare und damit gerechtfertigte Anthropozentrismus wird zugleich zur Legitimation der unter den Menschen weit verbreiteten psychologischen Grundhaltung herangezogen, dass jeder geneigt sei, »sich als ein wichtiges Theil dieses Mittelpuncts zu betrachten«.29 Umso wichtiger sei es allerdings, die »grosse Unwissenheit, in welcher der Mensch, was ihn selbst betrift, stehet«, zu erklären und anschließend zu beseitigen. Damit wird die »menschliche Natur« unter Ausblendung aller Gemeinsamkeiten des Menschen mit anderen Dingen, d. h. »der Mensch lediglich allein, mit seinen Kräften, Vermögen und Eigenschaften, in so fern sie blos menschlich seyn«, zum Untersuchungsgegenstand bestimmt.30 Ausgangspunkt ist die dualistische Deutung des Menschen als »vernünftiges Wesen, das aus Leib und Seele bestehet« und dessen »vornehmster Theil die Seele« sei. Die Seele, »sowohl an sich selbst, als nach der Ver23 24 25 26 27 28 29 30
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Der Mensch (s. Anm. 9), 1. Theil (1751), 1. St. (S. 1–8), S. 1. Ebd., S. 27. Ebd.
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bindung, in welcher sie mit dem Leibe, und durch denselben mit den übrigen Dingen, stehet«, soll daher auch als zentraler Bezugspunkt in Der Mensch dienen.31 Die Untersuchung des Menschen soll in drei »Haupttheilen« erfolgen, allerdings ausdrücklich nicht in »systematischer Lehrart«.32 Die Religion bildet den ersten und »wichtigsten« Hauptteil,33 die Moralphilosophie, in der die ethischen Normen aus der »Würdigkeit unserer Natur« bestimmt werden sollen, ist Thema des zweiten Hauptteils, die »untern Kräfte der Seele und […] die Sinlichkeit« einschließlich der »Lehre der sinlichen Erkäntnis und des Schönen« sowie der »schönen Wissenschaften«, die, wie die Autoren anmerken, noch kaum erforscht seien, werden im dritten Teil behandelt.34 Das anthropologische Konzept, das in Der Mensch vertreten wird, basiert insofern auf einem religiösen bzw. religionsphilosophischen Fundament, das unmittelbar mit naturrechtlichen Prämissen verknüpft wird, und einer stark theologisch aufgeladenen Psychologie (Seelenlehre), aus der eine Moralphilosophie abgeleitet werden soll, sowie der Ästhetik, die gewissermaßen den konzeptionellen Schlussstein bildet. Die dritte Wochenschrift, Das Reich der Natur und der Sitten (1757–1762), die in den Wirren des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) erstmalig erschien, wurde anfangs primär von Lange, später allein von Meier redigiert und enthält neben den Beiträgen der Herausgeber auch die weiterer Autoren (u. a. von Thomas Abt) sowie, wie Meier betont, »würckliche« Leserbriefe.35 Die Idee, nach Der Mensch eine Wochenschrift herauszugeben, die sich sowohl der Natur- als auch der Sittenlehre widmet und das Verhältnis beider zueinander in den Mittelpunkt rückt, ist spätestens Ende 1755 entstanden.36 Der Dualismus von Geist und Körper, der schon in Der Mensch zum Ausgangspunkt der Anthropologie gemacht worden war, wird nun, in erkennbarer, aber nicht expliziter Anlehnung an die Schulphilosophie, auch zur Basis der Natur- und der Sittenlehre erhoben: Die Welt habe eine geistige wie auch eine körperliche Dimension,37 wobei die »Sittenlehre«, d. h. die Ethik, aus der »Geisterlehre« abgeleitet werden müsse.38 Anzustreben sei deshalb die Einsicht in beide Dimensionen, die aber aufgrund der Endlichkeit der menschli31
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Das dualistische Menschenbild, das von Meier in Der Mensch vertreten wird, findet sein wesentlich komplexer ausgestaltetes philosophisches Fundament bzw. Vorbild bereits in dessen Beweis: daß keine Materie dencken könne (Halle 1743, 21751). Die schulphilosophischen Debatten über den Influxionismus und die Harmonielehre, in deren Kontext diese Schrift entstanden ist, werden in den Wochenschriften fast vollständig ausgeblendet – allerdings nicht ganz, denn die »Verbindung« zwischen Seele, Leib und den übrigen Dingen wird auch hier thematisiert. Der Mensch (s. Anm. 9), 1. Theil (1751), 1. St. (S. 1–8), S. 5f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Das Reich der Natur und der Sitten, 12. Theil (1762), Vorrede (unpag.). Im 482. Stück von Der Mensch wird ein Brief abgedruckt, der vorgeblich von der »Gesellschaft der Naturforscher« einschickt worden ist, tatsächlich jedoch von Lange stammen dürfte und sicher in Abstimmung mit Meier verfasst worden ist. Der Mensch, 12. Theil (1756), 482. St. (S. 305–320, Brief der »Gesellschaft der Naturforscher«: S. 305–313). Mit der »Gesellschaft der Naturforscher« ist mithin keine Gesellschaft im formalen Sinne des Wortes gemeint, vielmehr soll damit die neue Perspektive der Autoren gekennzeichnet werden, die sie als Verfasser der künftigen Wochenschrift einnehmen werden. Das Reich der Natur und der Sitten (s. Anm. 35), 1. Theil (1751), 1. St. (S. 1–8), S. 1: »Die ganze Welt […] wird nicht unbillig von den Weltweisen in zwey Teile eingetheilt, nemlich in die Geisterwelt und in die Körperwelt.« Ebd., S. 4.
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chen Existenz und Kompetenz niemals vollständig erreicht werden könne. Jeder Mensch sei daher dazu angehalten, nach den Kriterien der Nützlichkeit und Notwendigkeit jene Bereiche der Wissenschaft auszuwählen, über die er Erkenntnis erlangen kann und, insofern er es kann, auch soll. Der Mensch dürfe dabei weder nach »Allwisserey« streben – möglicherweise ist dies eine kritische Anspielung auf Wolffs Wissenschaftsauffassung – noch mutlos und abgeschreckt auf alle Erkenntnis verzichten. Bei diesem Auswahlverfahren soll Das Reich der Natur und der Sitten dem Leser eine Hilfestellung bieten. Ein wesentliches Problem bestehe allerdings darin, dass die Sittenlehre auf weit weniger festem Boden stehe als die Naturlehre. Die Natur gilt den Autoren als »Schauplatz lauter göttlicher Werke«,39 in dem sich – aufgrund der göttlichen Urheberschaft – keine Widersprüche finden lassen. Die Naturwissenschaft verfüge mit dem Gebot der Widerspruchsfreiheit über ein geeignetes Mittel zur Identifikation aller mutmaßlichen, aber falschen Erkenntnisse, also falscher Urteile oder Vorurteile. In der Moralphilosophie sei das Gegenteil der Fall, hier seien »Soll und Ist […] sehr unterschieden und gegen einander«, alles sei bekannt, aber nichts davon werde angewendet, kurz: »Das Verhalten der Menschen ist in diesem Stück unbegreiflich«.40 Während die Naturforscher stets bereit seien, ihre Theorien aufgrund neuer empirischer Daten zu korrigieren oder sogar völlig aufzugeben, gelte in der Sittenlehre alles als »ausgemacht« und »höchst gewiß«. In polemischem Ton kritisieren die Autoren die Divergenz von Theorie und Praxis in der Sittenlehre, von theoretisch erkannter Tugend und davon unberührter praktischer Lasterhaftigkeit. In der Moralphilosophie schaffe man die Vorurteile nicht ab und richte sich auch nicht nach neuen Entdeckungen, deshalb seien die Vorurteile hier ebenso alt wie ihre Wahrheiten – aber ungleich mächtiger. Den Grund für diese Divergenz sehen die Autoren in der Freiheit des Menschen, die ihn auch dazu befähige, »verkehrt und widersprechend« zu handeln.41 Die Natur sei leichter zu erkennen als die Sitten, denn sie »handelt überall einerley«, nach einer »unveränderlichen Nothwendigkeit«. Hinzu komme, dass »Körperwelt« und »Geisterwelt« häufig miteinander verwechselt würden, was jegliche Erkenntnis verhindere.42 Die Behebung dieses Missstandes bildet den Hauptzweck der Wochenschrift: Da wir so verschiedene und widersprechende Urtheile fällen, je nach dem die Sache die Körperwelt oder die Geisterwelt anbetrift; so glaube ich, eine Betrachtung, die beyde Welten mit einander verbindet, könne den Nutzen haben, daß sie unsere Denkungsart in der Sittenlehre verbessere, wie ein Gängelwagen die Kinder anleitet, gehen zu lernen. […] Durch die Natur erkennen wir Gott, und in der Erkenntniß Gottes ist der Grund aller Sittlichkeit. Wie genau ist nicht also die Naturlehre und die Sittenlehre mit einander verbunden!43
Im Prinzip sei das Denken der Menschen von jeher auf beide Reiche, das der Natur wie das der Sitten, bezogen gewesen. Die fundamentalsten und ältesten Fragen des Menschen, nämlich »was er sey, und was das alles sey, das sich ihm darstelle« einerseits und »zu welchem Ende er da sey, und woher er gekommen sey« andererseits, zielten auf beide Reiche; erst »die Beantwortung der beyden Fragen gehet auf alles, was wir wissen können und wissen müssen: sie gehet auf den 39 40 41 42 43
Ebd. Ebd. Ebd., vgl. S. 6f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9.
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Verstand und auf den Willen, und erhebt den Menschen zu der Würde, zu welcher er eingerichtet ist«.44 Die Welt der Natur und die Welt der Sitten müssten daher beide zum Untersuchungsgegenstand des menschlichen Denkens werden, und zwar offenbar – zumindest in einem Mindestmaß – eines jeden Menschen,45 aber diese zweigleisige Untersuchung dürfe nicht separat erfolgen, sondern müsse letztlich auf eine Synthese abzielen, zumal die Interdependenzen von Natur und Sitten im Menschen nicht selten geradezu unmittelbar greifbar seien.46 Letztlich werde man unter Anleitung der Wochenschrift »die eigentliche Natur« der »Tugenden und Laster« einsehen können. Dass das »Reich der Sitten […] unter der Herrschaft der Religion« liegt, scheint für die Autoren nicht problematisch zu sein – im Gegenteil, die religiösen Dogmen der christlichen Religion werden ohne weiteres als wahr vorausgesetzt und sollen vielmehr den »widerspenstigen Herzen« verständlich gemacht werden.47 »Feinde der Religion und der Tugend« werden, ohne dass eine nähere Bestimmung erfolgen würde, was darunter zu verstehen sei, ausdrücklich zu Gegnern erklärt. Das Vorwort zur vierten und letzten Wochenschrift Meiers und Langes mit dem Titel Der Glückselige (1763–1768) entstand wenige Wochen nach Ende des Siebenjährigen Krieges.48 Im Hinblick auf die Schreibstrategie ändern die Autoren nichts Wesentliches. Allerdings bleibt der Sprachduktus nicht völlig von den Erfahrungen des langen Krieges unbeeinflusst: Die neue Wochenschrift soll nämlich ein »Kampfplatz« sein, die Gegner sind nun allerdings (wieder) »Aberglaube, Unglaube und das Laster«.49 Wie schon zuvor gehen die Autoren auch jetzt ohne weitere Begründung davon aus, nicht nur im Besitz der wahren Religion, sondern sogar des »wahren«, nämlich »thätigen« Christentums zu sein, das den Menschen zu jener Glückseligkeit führe, zu der er »erschaffen und eingerichtet« sei.50 Die Autoren, die sich bereits selbst als glückselig darstellen, wollen mit ihrer neuen Wochenschrift den Menschen eine Anleitung an die Hand geben, ihre »Bestimmung« zu erreichen, ihren »Zweck« zu erkennen und sie so »über alle Zufälle der Vergänglichkeit« wie einen Gott erhaben zu machen, so dass der Mensch letztlich »in einer heitern Ruhe den übergrossen Lohn seiner Mühe, seines Fleisses, und seiner standhaften Arbeiten« genießen kann.51 Der Glückselige schließe »die ganze Würde, Hoheit und Vollkommenheit des Menschen in sich«, d. h. der Mensch ist erst als Glückseliger »das, was er seyn solte«. Zuvor bedürfe es zwar vieler Mühen, aber jedem Menschen könne die Glückseligkeit zuteil werden.
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Ebd., S. 12f. Jedenfalls beklagen die Autoren, dass die geeigneten Mittel der Naturerforschung nur wenigen Fachleuten bekannt seien. Vgl. Das Reich der Natur und der Sitten, 12. Theil (1762), S. 10. Ebd., S. 15. Das Vorwort zum ersten Bogen von Der Glückselige datiert vom 6. März 1763. Am 15. Februar, also nur etwa drei Wochen zuvor, waren die Friedensverträge zwischen Preußen, Österreich und Sachsen unterzeichnet worden. Dieses Ereignis wurde von den Verfassern als »Scheidepunct der Nacht des entsetzlichsten Jammers und des heitern Tages einer allgemeinen Ruhe« wahrgenommen und zugleich als »glückselige Vorbedeutung« interpretiert. Der Glückselige, 1. Theil, Vorrede (unpag.). Ebd. Ebd. Der Glückselige, 1. Theil (1763), 1. St. (S. 1–16), S. 2.
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Der Glückselige […] ist nicht für einen oder für wenige aufgestellt, sondern dieses ist das vorzüglichste beym [sic!] ihm, daß er einem jeden Menschen eigen werden kan. Unser Zweck ist, ihm dieses zu zeigen, und so leicht zu machen, als natürlich uns allen der Wunsch und die Begierde ist, glückselig zu werden.52
Die nähere Bestimmung dessen, was einen glückseligen Menschen kennzeichnet, lässt einen deutlichen Einfluss der vor allem von Christian Thomasius ausgearbeiteten Affektenlehre erkennen, wie überhaupt in den Wochenschriften Meiers und Langes starke Bezüge zu den thomasischen Theorien über die ›Gemütsbewegungen‹ erkennbar sind. »Ein Glückseliger ist munter und heiter, Leidenschaften blenden ihn nicht, und reissen ihn nicht hin«.53 Ein zentrales Merkmal wahrer Glückseligkeit sei zudem ihre »ewige Dauer«, denn die wahre Glückseligkeit beziehe sich auf die ewige Seele, nicht auf den sterblichen Leib.54 Es sei sogar besser, nie glückselig gewesen zu sein, als unglückselig zu enden. Wichtig sei deshalb die genaue Unterscheidung zwischen Lustgewinn und ewiger Glückseligkeit. Um die Leser dazu zu befähigen, beides voneinander zu unterscheiden, wollen die Autoren ihnen zunächst »die wahre philosophische Meßkunst der Grössen und der Dauer« beibringen, bevor sie die »Mittel zu unserer Glückseligkeit in Erwegung ziehen«.55 Obwohl es zahlreiche Hindernisse auf dem Wege zur Glückseligkeit gebe – nicht nur das jeweilige »Naturel«, die genossene Erziehung, das gesellschaftliche und berufliche Umfeld sowie der Stand, sondern auch »Dummheit« und »Laster«56 –, sei es weniger mühsam, glückselig zu werden, als sich unglückselig zu machen. Die Glückseligkeit als letztes, potentiell für alle Menschen erreichbares Ziel sei, so die Autoren, von vornherein das programmatische Ziel ihrer Moralischen Wochenschriften gewesen. Nicht ohne Grund habe man mit dem Geselligen begonnen als einer »Anleitung«, »mit und neben einander glücklich zu seyn«.57 Die »Geselligkeit« sei jedoch »nur eine gewisse Art der Glückseligkeit«, die »aber in der Natur des Menschen selbst gegründet« sei und die daher in Der Mensch in den Blick genommen worden sei. Das Reich der Natur betrachten die Verfasser nicht nur als »Wohnung irdischer Glückseligkeit«; vielmehr gebe »Gott […] in der Natur sich selbst uns zu erkennen«.58 Aus der Betrachtung der Natur, ihrer »Güter« und »Wunder«, schließen sie: Es komt blos auf unser sittliches Betragen, auf unser pflichtgemäßiges Verhalten, auf den rechten Gebrauch unserer Seelenkräfte, auf Vernunft und Tugend an, um durch das Reich der Natur seine Glückseligkeit zu vermehren.59
Inhaltlich solle es in Der Glückselige vor allem um »Gott, die Religion, die Offenbarung, und das Christentum« gehen. Im Wesentlichen ist diese Wochenschrift also als religiös bzw. offenbarungstheologisch ausgerichtet anzusehen. Und in der Tat scheint hier die Theologie den Vorrang vor der Philosophie einnehmen zu sollen, zumindest in den Punkten, in denen sich Theo52 53 54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 3. Ebd., S. 6. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9f. Vgl. ebd., S. 11f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd.
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logie bzw. religiöses Dogma und Philosophie unversöhnlich gegenüberstehen. Jedenfalls richtet sich Der Glückselige nicht nur gegen die »Irrthümer der Religionsspötter«, sondern auch gegen »offenbare Irrthümer so genanter Weltweisen, die die Natur des Menschen ausrotten, oder ihrem Verderben zu viel einräumen«.60 Der Theologie, insbesondere der Offenbarungstheologie, eine korrektive Funktion gegenüber der Philosophie und anderen Disziplinen zuzuschreiben, war allerdings, zumindest in der gemäßigten deutschen Aufklärung, bis ins späte 18. Jahrhundert hinein der Regelfall. Die Betonung des offenbarungstheologischen Primats darf hier aber keineswegs als Philosophiefeindlichkeit missdeutet werden, denn Meier und Lange fordern von ihren Lesern ausdrücklich, denken und urteilen zu können sowie lernen zu wollen, und sprechen damit ganz im Geiste des philosophisch fundierten Aufklärungsprogramms. Mehr noch: Der Glückselige solle »ein Probierstein seyn, an welchem man die Stärke oder Schwäche eines Lesers wird abnehmen können«, nämlich »ein Probierstein des Verstandes«.61 Letztlich geht es um die Überwindung der genannten Hindernisse auf dem Weg zur Glückseligkeit, und zwar in einem durchaus praktischen Sinne: Das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die »Verschiedenheit der Stände« und in besonderem Maße die »Erziehung« als »die erste Bildung des Gemüths der Kleinen« bilden, neben theologischen Themen, die inhaltlichen Eckpfeiler der neuen Wochenschrift. Die vier Wochenschriften, Der Gesellige, Der Mensch, Das Reich der Natur und der Sitten und Der Glückselige, werden, vermutlich aufgrund des erwähnten, ex post behaupteten inhaltlichen und strategischen Zusammenhanges, bisweilen als ein zusammenhängendes, vierstufiges Gesamtprojekt gedeutet, gewissermaßen als eine Leiter, deren Stufen den Leser zuerst sozial, dann anthropologisch und anschließend mit Blick auf seine Kenntnis und Moral bilden sollen, um schließlich die Fähigkeiten erwerben zu können, die ihn glückselig machen bzw. mit deren Hilfe er sich selbst glückselig machen kann.62 Dass die Herausgeber dieses vierstufige Programm von Beginn an vor Augen hatten, darf allerdings stark bezweifelt werden, denn es ist kaum anzunehmen, dass der immense Erfolg und die Langlebigkeit der beiden ersten Periodika (Der Gesellige und Der Mensch) von Beginn an absehbar waren, denn die meisten der zahlreichen Wochenschriften, die damals gegründet wurden, hielten sich nur für kurze Zeit.63 Aber zumindest ex post stellt Lange die vier Wochenschriften als eine programmatische Einheit dar,64 nämlich als Ausdruck eines umfassenden Bildungs- und Aufklärungsprogramms auf der Basis einer philosophia christiana, deren Ziel die Glückseligkeit bildet. Und zumindest deutet der Umstand, dass die Beschäftigung mit der Geselligkeit chronologisch zuerst erfolgte, darauf hin, dass Meier und 60 61 62 63
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 14f. So etwa von Bojarzin: Auf den Stufen zur Glückseligkeit (s. Anm. 9). Im letzten Teil von Der Gesellige wird ausdrücklich gesagt: »Wir haben ein Werk vollendet, daß [sic!] wir so weitläufig nicht angelegt hatten.« Der Gesellige (s. Anm. 9), 6. Theil (1750), 271. St. (S. 393–400), S. 394. In Der Glückselige (s. Anm. 48), 1. Theil (1763), 1. St. (S. 1–16), verfasst in den Wochen unmittelbar nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, behauptet Lange, dass die Autoren »auf den Glückseligen schon von vielen Jahren her bedacht gewesen« (S. 2) seien und begründet anschließend die Abfolge der vier Wochenschriften in konzeptioneller Hinsicht (S. 3ff.). Allerdings kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Autoren dieses Konzept bereits zu Beginn von Der Gesellige entwickelt hatten; die vorigen Wochenschriften enthalten jedenfalls keinen Beleg für eine solche Vermutung.
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Lange dem sozialen Aspekt eine hervorgehobene Bedeutung innerhalb ihrer Popularphilosophie beigemessen haben. Deutet man die vier Wochenschriften im Sinne einer sukzessiven Ausarbeitung als programmatische Einheit, was aufgrund der nahtlosen chronologischen Nachfolgen wie auch wegen der zahlreichen expliziten Querverweise der späteren auf die früheren Wochenschriften durchaus gerechtfertigt ist, so bildet die pietistische Theologie, wie sie von Meier und Lange interpretiert wurde, den transzendenten Rahmen des umfassenden Unternehmens; gefüllt wird dieser Rahmen mit entsprechend pietistisch-theologisch gefärbten und popularisierten aufklärerischen Konzepten der Privatklugheitslehre, der Anthropologie, der Naturphilosophie und des Naturrechts – mit dem Ziel der allgemeinen Tugendhaftigkeit, die als mit der religiösen Glückseligkeit identisch betrachtet wird.
3. Ihre breite inhaltliche Ausrichtung – ganz gleich, ob als Gesamtkonzept betrachtet oder nicht – macht die Wochenschriften nicht nur für die Kultur-, Literatur- und Religionsgeschichte, sondern auch für die Philosophiegeschichte interessant – zumal einer der Autoren ein Philosophieprofessor mit nicht geringer Wirkung gewesen ist. Schon der allen vier Periodika gemeinsame Untertitel Eine moralische Wochenschrift verweist auf eine philosophische Basis. Wenn man bedenkt, dass vor allem die akademische Philosophie in Deutschland die Aufklärungsbewegung maßgeblich initiiert hat und von Beginn an durch die Bekämpfung von Aberglauben und Schwärmerei, (v. a. religiösem) Fanatismus und Vorurteilen sowie durch die Besserung des Verstandes aller Menschen auf eine moralische Besserung der Gesellschaft gerichtet war, erhält die Untersuchung der Vermittlungsstrategien dieses neuen Denkens unmittelbare Relevanz. Schulphilosophische Aufklärung konnte, als intellektuelles Fundament, nur der Anfang sein, zielte aber als Aufklärung von vornherein über die ›Schule‹ als Institution wie auch über die Philosophie als akademische Disziplin hinaus. Die Aufklärungsbewegung war ihrem Programm nach von Beginn an auf Breitenwirkung ausgerichtet, d. h. zunächst auf den Adel und das gebildete oder doch zur Bildung fähige Bürgertum, der Absicht nach aber – mehr oder weniger ausdrücklich – auf die gesamte Gesellschaft. Es bedurfte daher einer entsprechenden Popularisierung der Schulphilosophie. Den Bereichen der Religion, der Moral und der Erkenntnistheorie wurde dabei bekanntlich eine vorrangige Bedeutung zugesprochen. Hinzu kam die Möglichkeit, in der popularwissenschaftlichen Literatur Themen zur Sprache zu bringen, die in der Schulphilosophie keine oder eine nur geringe Rolle spielten, aber gerade im aufklärerischen Sinne von größter Relevanz waren. Dies hängt auch mit den verschiedenen Adressaten von Schul- und Popularphilosophie zusammen. Der populus ist eine andere und andersartige Zielgruppe als die akademisch (und daher männlich) dominierte respublica literaria, und zwar nicht nur in Bezug auf den Bildungsstand, sondern auch hinsichtlich der soziologischen Zusammensetzung. Allerdings ist zu bedenken, dass auch im 18. Jahrhundert, v. a. in dessen erster Hälfte, die Analphabetenrate in Deutschland, d. h. in den zahlreichen deutschen Territorien, nach wie vor sehr hoch war und dass von jenen, die des Lesens mächtig waren, wiederum nur ein geringer Teil als Literaturleser angesehen werden kann. Selbst am Ende des 18. Jahr-
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hunderts handelte es sich vermutlich noch immer um weniger als 1 Prozent der Bevölkerung.65 Dennoch zielte die Aufklärungsbewegung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts in der Regel auf eine allgemeine Aufklärung. Deutlich wird dies bereits in verschiedenen Schriften von Christian Thomasius und anderen Frühaufklärern, dann aber vor allem in den Moralischen Wochenschriften. Im Gegensatz zur Schulphilosophie boten die Wochenschriften die Möglichkeit der ausdrücklichen Einbeziehung des weiblichen Geschlechts. Studentinnen oder gar Lehrerinnen gab es, abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, nicht. Akademische Lehrschriften hatten damit einen klar abgegrenzten Adressatenkreis. Bei den Wochenschriften verhielt es sich anders, hier konnte die Frau ebenso angesprochen werden wie der Mann. Es ist keineswegs ein Novum, wenn Meier und Lange in ihren Wochenschriften immer wieder betonen, dass jeder Mensch – unabhängig von Stand und Geschlecht – gesellig, vernünftig und gebildet sein bzw. werden könne, da die dazu notwendigen Voraussetzungen jedem Menschen von Natur gegeben seien, denn in älteren Wochenschriften, etwa in Die vernünftigen Tadlerinnen Gottscheds, und auch in anderen Schriften, z. B. von Georg Christian Lehms (1684–1717),66 wurde bereits dieselbe Haltung (freilich auch mit denselben Einschränkungen) eingenommen. Der im Allgemeinen deutlich niedrigere Bildungsstand der Frauen im Vergleich zu dem der Männer wurde nun zunehmend als ein Defizit angesehen, das behoben werden könnte und sollte.67 Man könnte auch 65
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Eine Übersicht der Entwicklung mit Verweisen auf die hierfür einschlägigen Studien bietet Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin 2004, hier bes. S. 62. Georg Christian Lehms (1684–1717) hatte sich bereits 1715 in der Vorrede zu seinem Werk Teutschlands Galante Poetinnen (Frankfurt a. M. 1715) kritisch mit dem Status weiblicher Gelehrsamkeit in Deutschland auseinandergesetzt. Der Leipziger Magister und spätere fürstliche HessenDarmstädtische Rat und Bibliothekar hob wiederholt die Vorzüge und Leistungen gebildeter Frauen hervor. Lehms rügt die aus dem Ausland wie auch in Deutschland zu vernehmenden »hönischen Zungen und ihre ungegründete Meynungen«, die von der falschen Annahme ausgingen, dass ein »Frauenzimmer« untüchtig zum Studieren sei (S. b1a), als ob »dieses vortreffliche Geschlecht nur mit den blinden Maulwürffen im Finstern herumkriechen, und sich seines ihm von Gott so wohl, als den Männern verliehenen Verstandes nicht bedienen dürffte« (S. b1r). Diese fundamentale Fehleinschätzung gehe auf »gantz unweise Philosophie, Democritus, Euripides, Aristoteles und dergleichen ungewaschene Mäuler« zurück. Lehms fordert deshalb eine eingehende geistige Bildung von Mädchen und Frauen und weist darauf hin, dass »man doch wenig gelehrtes Frauenzimmer antrifft so ihre Tugenden durch einen garstigen Lebens-Wandel blamiret« (S. b5r). Bildung wird auch hier als Mittel zur Besserung von Tugend und Moral aufgefasst und sollte sich auch in einer angemessenen »Conduite« zeigen. Voraussetzung dafür sei die »allerköstlichste Erziehung«, durch die vor allem die Neigung zu »wollustigen Ausschweiffungen« gezügelt werden müsse (S. b5rf.). »Moral- oder Sittenlehre« gelten Lehms als unbedingt notwendig, denn ohne diese bleibe alle Gelehrsamkeit »halb todt« (S. b6a). Nicht etwa nur der »Poesie oder Musique«, sondern auch der »Historie« sollten sich die jungen Frauen widmen. Dass Frauen sogar in der Theologie, Jurisprudenz und Philosophie zu hohen Leistungen fähig seien, belegen nach Lehms’ Ansicht zahlreiche Fallbeispiele aus allen wissenschaftlichen Feldern (S. b6bff.). Es fällt allerdings auf, dass gerade in der Philosophie keine einzige deutsche Frau genannt wird. – Zu Lehms’ Position vgl. auch dessen Lob-Rede Des Frauenzimmers in gebundener Rede, Nebst beygefügten Historischen Remarquen von einigen angeführten gelehrten und heroischen Frauens-Persohnen. Leipzig 1716. Vgl. Helga Brandes: Die Entstehung eines weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften. In: Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994, S. 125–133.
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sagen, die Frauen wurden nun als aufklärungsfähige Menschen betrachtet.68 Damit stellte sich allerdings die Frage, wie und von wem sie aufgeklärt werden sollten. Diese Funktion schrieben sich die Autoren der Moralischen Wochenschriften, die sich im Prinzip stets als bereits aufgeklärte Personen darstellten, selbst zu. Die Frau in der Literatur zum Thema zu machen, war in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts ebenso wenig neu wie die Idee der Frauenbildung, aber vor allem letztere wurde nach wie vor kontrovers diskutiert. Dies gilt besonders für die Frage nach dem angemessenen Grad weiblicher Bildung. Dass die Frauenbildung in Deutschland bereits seit der Frühaufklärung debattiert wurde,69 hängt damit zusammen, dass diese sich ausdrücklich auch an die Frauen richtete. Christian Thomasius ging in dieser Sache bekanntlich schon recht weit, sogar weiter als viele spätere Aufklärer, indem er zumindest in Ansätzen einen gleichartigen und gleichfähigen Intellekt von Mann und Frau behauptete.70 Überhaupt richtete Thomasius seine vor allem auf Selbsterkenntnis und Praxis ausgerichtete Philosophie, wie er sie in seinen Lehrbüchern entwickelte, nicht nur an die akademische Welt, sondern auch an das nichtakademische Bürgertum, ja sogar ausdrücklich an alle Stände und Geschlechter. Wolff verfolgte später, wie bereits erwähnt, zumindest zeitweise das Projekt, die Frauen durch eine eigens verfasste Schrift zum selbständigen Philosophieren anzuleiten, demnach hielt er sie im Prinzip für fähig zu philosophieren. Andere, und zwar die Mehrheit der gebildeten Männer, waren der Frauenbildung gegenüber zwar ebenfalls aufgeschlossen, aber zurückhaltender, und sie waren stärker an traditionellen Rollenbildern orientiert (von denen sich freilich auch Thomasius letztlich nicht zu lösen vermochte). Exemplarisch ist dies bei Georg Christian Lehms und im Artikel Weib des UniversalLexicons von Zedler71 zu erkennen.
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(Brandes geht allerdings nicht auf die hier in den Blick genommenen Wochenschriften Meiers und Langes ein.) Im 1. Stück von Der Mensch (s. Anm. 9) heißt es beispielsweise ausdrücklich: »Das schöne Geschlecht […] betrachten wir […] als Menschen und Mütter der Menschen.« (S. 7); allerdings verweist bereits die Synonymisierung der Begriffe »Frauenzimmer« und »schönes Geschlecht« bzw. »die Schönen« darauf, dass der Egalitätsgedanke, der zuvor formuliert worden war, die traditionellen Sichtweisen auf die Geschlechterspezifika keineswegs verdrängte. Vgl. Schneiders: Das philosophische Frauenzimmer (s. Anm. 7), S. 365–397; Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne. In: Studia Leibnitiana XV/1 (1983), S. 2–18; Sabine Koloch (Hg.): Frauen, Philosophie und Bildung im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2010. – Meier bleibt allerdings in allen Beiträgen unbeachtet. Thomasius hatte bereits 1687 in seinem berühmten Discours von der Nachahmung der Franzosen die Auffassung vertreten, dass auch Frauen gelehrt werden könnten, und einige Jahre später seine zweiteilige Vernunftlehre (1691) ausdrücklich an alle Menschen »waserley Standes oder Geschlechts« gerichtet. Er vertrat die Auffassung, dass Frauen ebenso vernunftbegabt seien wie Männer und daher in gleichem Maße gebildet werden und auch lehrend tätig sein könnten. Art. Weib. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Bd. 54 (1747), Sp. 1–42. Der Autor stellt die Frage, ob »die Weiber der Academischen EhrenGrade fähig« sind (Sp. 39). Er selbst antwortet mit einer Gegenfrage (»Warum nicht?«) und fährt fort: »Es wär wider die Wahrheit, wenn man behaupten wolte, daß keine jemahls mit dem Doctor-Titel, nach Verdienst, begabet worden sey […]«. Der Grund für die positive Antwort liegt also nicht, wie man zunächst annehmen könnte, in einer Egalitätsvorstellung, sondern basiert auf der Hochschulhistorie, die mit schlichten Fakten aufwartet: Es gab bereits Frauen mit akademischen Graden, also – so die Schlussfolgerung – sind »Weiber« der akademischen Grade fähig. Nun ist ein solches Zugeständnis an die Frauen weder gehaltvoll noch untermauert. Zudem folgt der umfangreiche Artikel im Wesentli-
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Welche Position hat Meier diesbezüglich eingenommen? Dass er der Popularphilosophie stärker zugeneigt war als Wolff, zeigt sich schon am Ausmaß seines popularphilosophischen Schrifttums. Zudem machten Meier und Lange unmissverständlich klar, wie wichtig es ihnen war, mit ihren Wochenschriften die weibliche Leserschaft anzusprechen. So heißt es bereits am Beginn von Der Gesellige, dass die Wochenschrift »insbesondere […] dem schönen Geschlecht« gewidmet sei. Die Herausgeber seien »begierig, sie [d. h. die Frauen] zu unterrichten, wie sie ohne Gefahr die Zierde der Gesellschaft werden können«.72 Der Gesellige sollte also als Unterricht für die Frauen dienen, und zwar, zumindest vorgeblich, als ein Unterricht, in dem nicht ausschließlich Männer als Lehrer auftreten. Und da ihnen [d. h. den Frauen] alles so wohl anstehet, und das Schöne eigentlich vor sie gehöret: so haben sie ein besonderes Recht auf alles, was zu den schönen Wissenschaften gehöret.73
Ähnlich positionieren sich Meier und Lange in Der Mensch: Das schöne Geschlecht, die angenehmste Seite des menschlichen Geschlechts, betrachten wir weder als Engel, noch als sonst eine andere Gattung, sondern als Menschen und Mütter der Menschen: wir werden daher unser Auge hauptsächlich auf das Frauenzimmer richten. Wir haben von Natur, das ist, auf die menschliche Art, eine besondere Achtung für die Schönheit, und diese Bogen sollen sie davon überzeugen.74
Meier behandelt in seinen Aufsätzen die »Gelehrsamkeit des Frauenzimmers«,75 die nach seiner Auffassung geschlechtsspezifischen Eigentümlichkeiten der Frau sowie lebenspraktische Fragen,76 insbesondere das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, von der »fürtrefflichen Ehe« bis hin zur »Blödigkeit beyder Geschlechter gegen einander«.77 In Der Gesellige geht es auch hinsichtlich der Frauenbildung primär um die Vermittlung jener Fähigkeiten, die für eine gebildete und galante Konversation notwendig sind. Es geht nicht um fachliche Wissensvermittlung, schon gar nicht um systematische Aufklärung im engsten Sinne des Wortes, sondern um Bildung im modernen, weiteren Sinne des Wortes. Die Autoren wollen ein von Geselligkeit bestimmtes Gemeinweisen, nämlich »eine wahre Republik in dem geselligen Leben«, errichten, im geselligen Leben dürfe es keinen Herrscher geben und solle »keine andere Gesellschaft seyn, als zu welcher ein jeder in volkommner Gleichheit das Seine beytragen kann«.78 Man darf den Gleichheitsgedanken, der hier in offenbarer Anlehnung an die Idee der respublica literaria formu-
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chen der konventionellen, klassisch-griechischen Oikos-Konzeption. Die Frau gilt als das »Geschlecht, das dem männlichen entgegen gesetzet, und von Gott gewiedmet ist Kinder zu empfangen, zu tragen, zu gebähren, zu säugen, zu warten, dem Hauß-Wesen vorzustehen, da der Mann mit andern Dingen ausserhalb beladen und beschäfftiget ist« (Sp. 1). Kurz gesagt, die Rolle der Frau wird auf den hauswirtschaftlichen Bereich beschränkt. Von der Bildung der Frau ist keine Rede, wenn man von jenen Fähigkeiten absieht, die zur Erfüllung der umrissenen Rolle notwendig sind. Ebd., S. 8. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 1. St. (S. 1–16), S. 13. Der Mensch (s. Anm. 9), 1. Theil (1751), 1. St. (S. 1–8), S. 7. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 43. St. (S. 353–358); 2. Theil (1748), 75. St. (S. 609–616). Ebd., 2. Theil (1748), 58. St. (S. 477–480); 90. St. (S. 761–768); 3. Theil (1749), 108. St. (S. 97–104); 4. Theil (1749), 160. St. (S. 145–150); vgl. 5. Theil (1750), 190. St. (S. 27–32); 195. St. (S. 65–72); 206. St. (S. 177–184); vgl. 222. St. (S. 337–352); 6. Theil (1750), 230. St. (S. 17–22); 258. St. (S. 267–272). Ebd., 2. Theil (1748), 71. St. (S. 577–582); 65. St. (S. 529–536). Ebd., 1. Theil (1748), 2. St. (S. 17–24), S. 24.
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liert wird, allerdings nicht als Plädoyer für einen allgemeinen gesellschaftspolitischen Egalitarismus verstehen. Meier ist ein klarer Verfechter der Ständegesellschaft, wie mehrere seiner Beiträge in den Wochenschriften belegen.79 Auch seine Bestimmungen der Freiheit, Tugendhaftigkeit und Weisheit schließen einen egalitären Aspekt ein, ohne dass dadurch die faktische gesellschaftliche Hierarchie in Frage gestellt würde – im Gegenteil: Tugendhaftigkeit und Weisheit seien für jeden Menschen, unabhängig von seinem sozialen Status, erreichbar, und gerade darin bestehe seine Freiheit und seine höchste Würde; ebenso könne auch ein jeder Mensch gesellig und dadurch sowohl selbst tugendhafter und glücklicher werden als auch andere Menschen tugendhafter und glücklicher machen. Dafür müsse aber ein jeder zunächst eine gewisse Qualifikation, sozusagen die Fähigkeit zur Geselligkeit, erlangen. Und dies gelte natürlich auch und ganz besonders für Frauen! In drei Stücken von Der Gesellige aus dem Jahr 1748 (16., 43. und 75. St.) widmet sich Meier zunächst der Frage nach einer sinnvollen und zeitgemäßen Bildung der Frauen. Zu Beginn des 16. Stücks wird betont, wie nützlich der gesellschaftliche Umgang mit Frauen für die Entwicklung der männlichen Tugend sei – freilich nur der Umgang mit »artigen und geistreichen Frauenzimmern«. Bliebe der Mann dauerhaft ohne weibliche Gesellschaft, werde er »unfreundlich, finster, unhöflich, ungeschliffen und melancholisch«, ja ein »Menschenfeind«, kurz: »Die Mannspersonen würden gar balde in lauter Barbaren ausarten«. Ein »unschuldiger Umgang beyder Geschlechter« erweise dagegen »der ganzen Tugend einen wesentlichen Dienst«.80 Aber was macht eine »artige Frauensperson« überhaupt aus? Wie kann die Frau eigentlich »geistreich« werden? Zur Beantwortung der ersten Frage führt Meier die geistige bzw. geistigkommunikative Attraktivität und damit die Kommunikationskompetenz der Frau als Kriterium an. Unter Bezug auf Horaz stellt er fest: »Ein vernünftiger Mann liebt […] nur eine Lalage […], die süsse lacht und süsse redet«.81 Weniger poetisch ausgedrückt: Eine Frau sollte in der Lage sein, »ein angenehmes Gespräch zu führen«,82 nur dann ist sie der Aufmerksamkeit eines Mannes wert und seiner Liebe würdig. Meier möchte die Kommunikationskompetenz der Frauen stärken. Zu diesem Zweck nimmt er zunächst eine Bestandsaufnahme vor und teilt die Frauen in drei Klassen ein, nämlich »in die stummen, in die plappernden, und die redenden« Frauen. Eine stumme kan entweder aus Mangel der Gedanken nicht reden, oder sie ist eine spröde, oder sie hat keine Erziehung gehabt, oder sie beobachtet den Befehl ihrer Mutter gar zu treuherzig, nehmlich beständig zu denken, daß vor ihr eine Stecknadel stecke, die sie nie aus den Augen verlieren müsse.83
Dass ein stummer Mensch grundsätzlich nicht gesellig sein könne, liegt für Meier auf der Hand. Eine stumme Frau sei nicht mehr als eine »Bildseule«, die deshalb nur an taube Männer verheiratet werden solle. Der Mann bleibt also letztlich bei Meier das Maß der Dinge. Die Frau soll nicht stumm sein, weil der Mann einer stummen Frau nichts abgewinnen kann. Das Frauen79 80 81 82 83
Der Mensch (s. Anm. 9), 4. Theil (1752), 156. St. (S. 233–240), bes. S. 235; 160. St. (265–272), bes. S. 265; v. a. aber: 6. Theil (1753), 231. St. (S. 137–144). Vgl. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 16. St. (S. 129–136), S. 129f. Lalage, die »Lallende« (v. griech. λαλαγειν, »lallen«), eine von Horaz (Carm. I, 22) besungene römische Schöne. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 16. St. (S. 129–136), S. 130. Ebd.
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zimmer soll aber gerade »in Gesellschafften seiner Schönheit recht hervorschimmern« lassen, und es muss dafür »sein schönes Gesicht bewegen durch die Rede«.84 Eine stumme Schöne kann es nach Meiers Ansicht im Grunde nicht geben, und wenn doch, dann sei sie nicht mehr als ein »schöner Fehler der Natur«, denn »stumme Schönheit ist ohne alles Leben, und der Todt […] enthält jederzeit etwas widerliches«. Diese Ansicht vertritt Meier auch gegen überkommene Normen, die der Frau das Schweigen zur Vorschrift gemacht haben.85 Er erkennt darin eine »übelverstandene Züchtigkeit«, die eine Unterscheidung von wahrer Tugend und dem »betrieglichen Schein der Tugend« unmöglich mache.86 Mit anderen Worten, erst durch die Rede wird die wahre Tugendhaftigkeit der Frau erkennbar, und erst durch sie wird es der Frau möglich, »Eroberungen zu machen«, d. h. »eine vernünftige Mannsperson zu fesseln«, denn unangebrachte Schweigsamkeit, sprachliches Unvermögen, mangelnder Witz, kurz, kommunikative Inkompetenz, vergrault die Männer. Dabei scheint es für Meier sogar unerheblich zu sein, ob die sprachlichen Defizite durch die jeweilige Situation emotional bedingt sind, d. h. durch Affekte vorübergehend hervorgerufen werden, oder ob sie auf mangelnde Bildung zurückzuführen sind. Eine Frau sollte idealerweise unter allen Umständen die richtigen Worte finden können. Das Gegenextrem zur stummen Frau ist die plappernde, die »in gewisser Absicht noch abscheulicher [ist], als eine stumme«. Während die Stumme durch ihr Schweigen offen lässt, ob sie Verstand hat, stellt die Plappernde, freilich ohne dies zu erkennen, fortwährend ihre Dummheit zur Schau. Plappernde Frauen sind für Meier nichts als »Sprachmaschinen«.87 Zwar bildeten sie lediglich eine Minderheit unter den Frauen, aber ihr Verhalten verderbe das ganze gesellschaftliche Frauenbild. Das Plappern, so Meier, trete bei Frauen übrigens vornehmlich erst dann ein, »wenn sie älter werden und verheirathet sind«; es handele sich somit möglicherweise um eine »Weiberkrankheit«, für die er sich als Philosoph aber nicht zuständig halte. Meiers Ideal stellen die »redenden Frauenspersonen« dar, d. h. solche, die »ihren Verstand mit wichtigen und nützlichen Wahrheiten« anfüllen, »eine reife Beurtheilungskraft, einen guten Geschmack, einen artigen Witz besitzen«. Darüber hinaus müssen sie »eine Fertigkeit haben, geistreiche und wahre Gedanken, die den Umständen gemäß sind, auf eine anständige Art vorzutragen«, d. h. die Frau muss vernünftig denken können, um tatsächlich reden statt plappern zu können, sie muss selbständig Wahrheiten von Unwahrheiten unterscheiden können und daher über das hierfür nötige Maß an Wissen und Urteilskraft verfügen, und sie soll einen guten Geschmack und geistreichen Humor entwickeln. Meiers Forderungen nach weiblicher Bildung wirken in dieser Hinsicht durchaus modern, progressiv und ganz im Sinne der Aufklärung formuliert. Aber natürlich ist auch er nicht frei von verinnerlichten Traditionen und zementierten Konventionen. Der überkommenen Frauenrolle, nach der die Frau zu allererst für den Haushalt verantwortlich ist, setzt auch er nichts entgegen, im Gegenteil: Selbstverständlich solle die Frau vor allem »vom Sticken und Nähen, vom Kochen und Haushalten, von dem Putze« reden können, und dies seien keine Themen für 84 85 86 87
Ebd., S. 131. Nicht selten unter Bezug auf den paulinischen Ausspruch, dass Weiber in der Gemeinde schweigen sollten; vgl. 1. Kor 14,34. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 16. St. (S. 129–136), S. 132. Ebd., S. 133.
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Konversationen mit Männern. Will das Frauenzimmer »mit vernünftigen Mannspersonen Umgang pflegen, so muß es wahrhaftig von anderen Dingen sprechen können«, d. h. »ein Frauenzimmer, welches will reden lernen, [muss] sich bis zu den männlichen Begriffen erhöhen«.88 ›Weibliche Begriffe‹ wären, wenn es sie überhaupt gibt, nach Meiers Überzeugung per se auf niedrigerem Niveau, ihr Gebrauch wäre für jeden Mann eine Erniedrigung. Meier fordert deshalb weibliche Bildung in Bereichen, die bislang den Männern vorbehalten waren. Aus dem Verständnis der Zeit betrachtet handelt es sich um eine Ermutigung der Frauen, sich mehr zuzutrauen als bisher, gewissermaßen um ein Sapere aude! mit Einschränkungen. Dass diese Einschränkungen überaus groß blieben, wird noch deutlich werden, aber immerhin traut Meier den Frauen zumindest prinzipiell zu, sich »zu den männlichen Begriffen [zu] erhöhen«, und spricht ihnen damit ein Potential geistiger Bildung zu, das ihnen den Zugang zur traditionell männlichen Bildungswelt eröffnet. Meier betont sogar, wie groß diese Überschneidungsfläche männlicher und weiblicher Bildung ist: Die Gelehrsamkeit enthält tausend nützliche, wichtige, angenehme und nöthige Wahrheiten, die sich für beyde Geschlechter schicken, und welche eine unerschöpfliche Materie zu Gesprächen an die Hand geben.
Und doch finden sich auch bei Meier, wie schon bei Lehms gut dreißig Jahre zuvor, die einem apologetischen Topos gleichenden Beschwichtigungen gegenüber konservativen Strömungen: Es sey ferne von mir, daß ich von dem schönen Geschlechte verlangen solte, es solle eben auf die Art gelehrt seyn, als wir Gelehrten von Profession. […] wenn viele Frauenzimmer auf die Art gelehrt werden wollten, so müsten wir Mannspersonen ohne Zweifel spinnen und nähen.89
Die Ordnung der Welt brächte es nun einmal mit sich, dass die Frau vor allem für die Bequemlichkeiten der Familie zu sorgen habe und diese Pflicht nicht zugunsten einer höheren Bildung vernachlässigen dürfe. Und Meier versäumt auch nicht, die faktisch auch von ihm vorgegebenen Grenzen weiblicher Gelehrsamkeit zu benennen: Fachterminologie, Philologie und Mathematik seien nichts für Frauen, ebenso wenig wie Fechten, Voltigieren, Pauken schlagen oder Trompete blasen. Und mit derselben Regelmäßigkeit, mit der diese Benennungen in ähnlichen Kontexten immer wieder auftauchen, ermangeln sie auch einer sachlichen Begründung. Sie sind allein den gesellschaftlichen Normen geschuldet. Das traditionelle patriarchalische Familienbild bestimmt auch Meiers Denken. Von prinzipieller Egalität ist nicht die Rede. Und auch die Kluft zwischen den »Gelehrten von Profession« und allen anderen Menschen (einschließlich der Frauen) bleibt nach Meiers Überzeugung letztlich unüberbrückbar.90 Die Frauen sollen zwar ihren Verstand mit Wahrheiten anfüllen, diese müssen und können jedoch zuvor nur von den 88 89
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Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Auch in seinen Lehrbüchern verweist Meier auf die Beschränkung der Wissenschaft (im engeren Sinne) auf die Gelehrten von Profession, z. B. im Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752 (21760), § 3. In der ausführlichen Fassung der Vernunftlehre (Halle 1752) hingegen richtet sich Meier ausdrücklich nicht an »Gelehrte von Profession« und jene, die es werden wollen, sondern an jeden »Mensch[en]«, der »noch nicht durch eine blosse schulmäßige Vernunftlehre vergiftet worden ist«. Damit können im Prinzip auch Frauen gemeint sein. Dass Meier sich mit seinen Lehrbüchern über das akademische Publikum hinaus den Menschen im Allgemeinen zuwenden wollte, lässt auch die Vorrede zu seiner Philosophischen Sittenlehre (1. Theil, Halle 1753) vermuten. Der Gesellige (s. Anm. 9), 1. Theil (1748), 16. St. (S. 129–136), S. 136.
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gelehrten Männern gefunden werden. Das »gelehrte Frauenzimmer« bleibt somit stets von der Vorarbeit der gelehrten Männer abhängig, es gilt hauptsächlich als Objekt von Gelehrsamkeit und nur begrenzt als deren eigenständiges, also zu Kreativität und Konstruktivität fähiges Subjekt. Es weiß dasselbe wie ein Gelehrter, aber »nicht so wie er«. Das nach Bildung strebende Frauenzimmer »verhält sich gegen die Gelehrten, wie gegen die Kaufleute«, es erhält die in der weiten Welt der Wissenschaft von männlichen Gelehrten gesammelten »Schätze« und »ziert sich damit aus«.91 Dies sei ebenso gut wie seine selbständige Schatzsuche. Faktisch jedoch hält Meier zumindest letzteres, nämlich die selbständige Suche nach den Schätzen der Erkenntnis durch die Frauen, für unmöglich. Mit anderen Worten, die Frau kann ohne den Mann nicht gelehrt werden. Aber was meint Meier eigentlich damit, dass die gelehrte Frau die Dinge »nicht so« weiß wie der gelehrte Mann? Bei dieser Frage setzt das 43. Stück von Der Gesellige an. Dass sich weibliche Gelehrsamkeit von männlicher unterscheiden müsse, liegt für Meier aufgrund der unterschiedlichen Charakteristik von Mann und Frau auf der Hand: Der Mann sei vor allem stark, die Frau hingegen zärtlich, sanft und, wenn auch reizend, so doch schwach.92 Daher sei auch die Gelehrsamkeit geschlechtsspezifisch. Weiteren Aufschluss bietet Meiers kurzer Text Vorzug der Weiber in der Treue und Liebe.93 Hier vertritt er die Ansicht, dass »ein männlicher Geist grössere und wichtigere Sachen lebendig erkenne, […] daß aber ein Frauenzimmer ihren geliebten Mann für ihr gröstes Gut und für den einzigen Hauptzweck ihrer Beschäftigung ansehe«, und begründet dies mit »einer gewissen Schwäche des Herzens« bzw. der Seele und des Leibes.94 Auch an anderer Stelle vertritt Meier die Auffassung, dass die Frau »von Natur« mit bestimmten Charakteristika ausgestattet ist, die sie zu gewissen Verhaltenszwängen nötigen.95 So sei das Frauenzimmer »von Natur mehr im Stande, Kleinigkeiten zu beobachten. Die Lebhaftigkeit dieser Vorstellungen zwingt dasselbe demnach, so viel zu reden«, nämlich »hundertmal mehr […] als eine Mannsperson«. Meier betrachtet dies ausdrücklich als »Geschlechtsfehler«, der im Grunde nicht beseitigt werden kann. Nur die Symptome könnten behandelt werden, insbesondere die »plappernde Geschwätzigkeit«; der doppelte »Fehler einer Frauensperson« hingegen, nämlich der »Mangel einer männlichen Klugheit« und die »unbändige Neugierde, nicht nur alles zu wissen, sondern auch alles einem andern zu sagen«, ist Meiers Ansicht nach nicht zu beheben.96 Meier geht insofern von einem naturgegebenen Unterschied der Geschlechter aus, der sich nicht nur auf das Körperliche erstreckt, sondern seine Entsprechung im Geistigen bzw. Seelischen sowie im Verhalten findet. Daher muss nach seiner Auffassung auch die Gelehrsamkeit geschlechtsspezifisch bestimmt werden. Allerdings sei dies nicht zu verwechseln mit einer zweifachen Wahrheit. Auch weibliche Gelehrsamkeit müsse (1.) vor allem der Wahrheit verpflichtet sein. Diese Forderung richtet Meier nicht zuletzt an jene Männer, die zur Bildung von Frauen die Wahrheit »verletzen«.97 Dies führe 91 92 93 94 95 96 97
Ebd. Ebd., 1. Theil (1748), 43. St. (S. 353–358), S. 353. Ebd., 2. Theil (1748), 58. St. (S. 477–480). Ebd., S. 477. Ebd., 3. Theil (1749), 127. St. (S. 257–264), S. 259. Vgl. ebd., S. 261. Ebd., 1. Theil (1748), 43. St. (S. 353–358), S. 354.
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nur zu Irrtümern, die schlimmer seien als Unwissen. Nach Meier gibt es zwei Arten von Wahrheiten, nämlich (a) tiefsinnige und abstrakte sowie (b) menschlichere, die »auf eine gelehrte Art vorgetragen« werden können. Tiefsinnige und abstrakte Wahrheiten müsse (und solle) die Frau nicht wissen, denn es sei »unmöglich, [sie ihnen] ohne Nachtheil der Wahrheit« beizubringen und sie würden überdies die reizenden Gesichter finster, sauer und runzlig machen. Auch dürfe es bei Frauen (2.) in der Logik nicht um die Einhaltung strengster Regeln gehen. Die Gelehrsamkeit eines »schönen Kindes […] muß schön seyn«, nicht »trocken« und »mager«! Definitionen aber seien niemals schön. Die Logik entspreche auch nicht dem fruchtbaren und die Natur nachahmenden Geist der Frau. Daraus folge auch (3.) die Unmöglichkeit mathematischer Gewissheit weiblicher Gelehrsamkeit. Kurz: »Einem Frauenzimmer ist es genug, wenn es nur die Wahrheit auf eine wahrscheinliche Art erkennt«.98 Meier warnt die Frauen ausdrücklich, dass sie »ja nicht solche förmliche Schlüsse machen mögen, als wir Mannsleute«. Aus diesem Grund, aber auch, weil die Frau grundsätzlich keine »Gelehrte von Profession« werden müsse, benötige sie (4.) auch keine Kenntnis der »Kunstwörter der Gelehrten«, also der Fachterminologie.99 Die Kenntnis der lateinischen Sprache ist nach Meiers Ansicht gerade noch zuzubilligen, die Muttersprache stehe dem Frauenzimmer aber besser. Der Grad der Bildung solle zudem (5.) auf das praktisch Relevante, im Grunde auf eine lebensweltliche Allgemeinbildung, beschränkt bleiben. Natürliche Phänomene solle das Frauenzimmer wohl erklären können, vermutlich, um nicht dem Aberglauben zu verfallen, aber »die Untersuchung der entferntern Ursachen« müsse sie »den Männern überlassen«. Überhaupt solle die Gelehrsamkeit des Weibes (6.) »mehr weitläufig als gründlich seyn; es muß sehr viel, aber nichts recht gründlich wissen«. Letzteres sei ohne hinreichende Kenntnis von Logik und wissenschaftlicher Methode gar nicht möglich, und »ein Frauenzimmer muß die mathematische Methode nicht einmal dem Namen nach kennen«.100 Es bedürfe gewisser basaler, aber keiner allzu gründlichen Kenntnisse, denn »das Frauenzimmer steht unter dem Schutz der Männer«. Vor allem aber solle die weibliche Gelehrsamkeit (7.) »im höchsten Grade fruchtbar und practisch« sein, denn sie diene lediglich dazu, die Frau »recht gesellig« zu machen. Zu guter Letzt (8.) müsse die Gelehrsamkeit der Frau »den feinern Sitten gemäß seyn«, zumal die Grenzen der weiblichen Sittsamkeit wesentlich enger gefasst seien als die der männlichen. Viele Untersuchungen der Wahrheit berührten Themen, »die einem Frauenzimmer eine Schamröthe abjagen« würden, wovor es freilich bewahrt werden müsse. Im Wesentlichen umreißt Meier in diesen acht Punkten jenen Bereich der allgemeinen Gelehrsamkeit, den er aus dem enger gefassten Gebiet weiblicher Bildung ausgeschlossen wissen möchte. Seine Argumentation ist freilich, insbesondere für einen Gelehrten, recht ambivalent – nicht nur aus heutiger Sicht. Im Prinzip geht Meier offenbar davon aus, dass zwar alle Menschen – Frauen wie Männer – vernunftbegabt sind. Dass er dennoch fundamentale Unterschiede hinsichtlich der möglichen Gelehrsamkeit der Geschlechter behauptet, beruht dem Schein nach auf anthropologischen bzw. psychologischen, letztlich jedoch v. a. auf soziologischen Prämissen, die offenbar naturrechtlich ausgedeutet werden. Anthropologisch bzw. psychologisch sind diese Prämissen insofern, als sie Mann und Frau grundsätzlich verschiedene Denkstrukturen und Reflexionskompetenzen zuschreiben; bloß scheinbar anthropologisch 98 99 100
Ebd., S. 356. Ebd., S. 357. Ebd., S. 358.
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bzw. psychologisch sind sie, weil sie entweder unter bloßem Verweis auf die traditionelle Rollenverteilung formuliert oder mit nur behaupteten mentalen Unterschieden der Geschlechter begründet werden. Das Weib sei schwach, für den Haushalt zuständig, es solle schön und artig sein und nur in dem Maß gelehrt, wie es zum Zwecke der Geselligkeit (vor allem gegenüber dem Mann) nötig ist. Mit wissenschaftlicher Gelehrsamkeit hat das – auch im 18. Jahrhundert – faktisch nichts zu tun. Und wenn Meier der Frau ein Erkenntnispotenzial zuschreibt, das sich lediglich auf die Erkenntnis von Wahrscheinlichkeiten beschränkt, so bietet er der weiblichen Bildung nur kleine Ziele. Es gebe »in jedem Theile der Gelehrsamkeit […] viele Untersuchungen, die dem schönen Geschlecht billig ganz unbekant bleiben müssen, damit sie dadurch eine glückliche und schöne Unwissenheit erhalten, welche für einen Menschen vortheilhafter ist, als die entgegengesetzte Erkentniß«.101 Unwissenheit kann nach Meier ein Gut sein, und zwar bisweilen ein größeres Gut als Erkenntnis! Aber wie verträgt sich das mit seiner Kritik, dass Mädchen häufig mit allzu geringer Bildung ihrem Schicksal überlassen werden, und mit seiner Auffassung, dass »das schöne Geschlecht eben sowol mit Gaben von der Natur ausgerüstet ist, als das männliche«? Es verträgt sich nur damit, wenn man einschränkend hinzufügt, dass es sich nicht um dieselben »Gaben« der Natur handelt.102 Es bleibt die Frage, worauf sich weibliche Gelehrsamkeit beziehen soll. Bislang war ja nur davon die Rede, was nicht dazugehören könne. Im 57. Stück von Der Gesellige betont Meier zunächst die im Vergleich zum Mann geringere Auffassungsgabe der Frau,103 bevor er die drei Teile der Gelehrsamkeit im Einzelnen behandelt. Doch beginnt er auch hier mit Einschränkungen: »Die philologische Gelehrsamkeit muß ein artig gelehrtes Frauenzimmer gar nicht verstehen«. Eine weibliche Sprachgelehrte sei »abscheulich«, die Philologie für das schöne Geschlecht »zu trocken, zu finster, zu unbrauchbar«. Das Frauenzimmer solle seine »ausserordentliche Gabe zu reden« pflegen, allerdings vor allem deshalb, weil »wir Mannspersonen […] tausendmal lieber demselben zuhören, wenn es schön redet«.104 Französisch- und Englischkenntnisse seien wünschenswert, aber nicht notwendig, ein deutsches Frauenzimmer bedürfe im Grunde nur der deutschen Sprache. Die ersten wissenschaftlichen Bereiche, die Meier der Frau nachdrücklich ans Herz legt, sind die Historie und die Geographie, allerdings auch hier unter Ausschluss jener Schriften, die »nach der schärfsten Critik abgehandelt worden«. Die »ganze Historie« sei »eine recht natürliche Beschäftigung eines schönen Geistes«, die der Frau »wunderbare und erbauliche Vergnügungen« biete – im Gegensatz zu ihren üblichen Beschäftigungen (Kartenspiel, Klatsch, Romanlektüre etc.).105 Vor allem habe die Beschäftigung mit der Historie einen pädagogischen Effekt für die Frau: Sie werde dadurch lernen, »wie wenige Frauenspersonen im guten Verstand berühmt sind«, und dadurch »zu einem edlen Nacheifer der Männer anspornen«.106 Die Historie liefere zahlreiche Vorbilder zur Nachahmung (v. a. »treue Weiber und Freundinnen, zärtliche Mütter, 101 102 103 104 105 106
Diese Ansicht wiederholt Meier andernorts: Der Gesellige (s. Anm. 9), 2. Theil (1748), 75. St. (S. 609– 616), S. 609. Ebd. Ebd., S. 609ff. Ebd. Ebd. Ebd.
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und edle Bürgerinnen«) wie auch abschreckende Beispiele (v. a. »Ehebrecherinnen, Buhldirnen, und Xantippen«). Sie sei daher die »angenehmste Schule aller weiblichen Tugenden«. Ebenfalls für die Frau förderlich seien die »Rede und Dichtkunst«. Nicht jede Frau müsse eine Dichterin sein, aber sie sollte »wenigstens einen feinen Geschmack« ausbilden, einen »artigen Brief schreiben« und bisweilen einen »feurigen Spaß« machen können. Dies sei dann aber auch schon vollkommen »hinlänglich«. Die Geschmacksbildung erfolge idealer Weise durch die Lektüre der besten Dichter und Redner und schütze die Frau später vor allerlei »gezwungenen und phantastischen Possen […] in der ganzen Aufführung«. Durch die Beschäftigung mit der Historie, aber auch mit Rhetorik und Poetik erlange die Frau »das sicherste Mittel, wider alles dasjenige, was man weibisch im bösen Verstande nennt«. Diese ›Disziplinen‹ spielen somit eine zentrale Rolle bei der oben angesprochenen ›Erhöhung‹ der Frau zu ›männlichen Begriffen‹. Von den höheren Wissenschaften, zu denen Meier »die offenbarte Gottesgelahrheit, die Rechtsgelehrsamkeit, die Arzeneykunst, die Weltweisheit, und die Mathematik« zählt,107 erscheint ihm nur ein äußerst geringer Teil für Frauen angemessen. Die Rechtslehre bleibt aufgrund ihrer Funktion zum Schutz der Rechte dem Mann als dem »Beschützer der Weiber« vorbehalten, ebenso die gesamte Medizin – diese aber vor allem, weil Meier sich »keinen possierlichern Begrif machen« kann als eine Frau, die einen Menschen anatomiert und sich dabei ihr Halstuch mit Blut und Fett beschmutzt. Die Mathematik hingegen sei für Frauen »zu abstract, zu tiefsinnig, und zu beschwerlich«, sie schicke sich nur »für männlichere, stärkere, und ernsthaftere Köpfe, als das schöne Geschlecht von rechtswegen haben muß«. Warum Frauen keine starken und ernsthaften Köpfe haben sollen, und dies sogar »von rechtswegen«, bleibt auch hier unklar. Immerhin werden nicht alle höheren Wissenschaften als für Frauen unzugänglich deklariert, die »geoffenbarte Gottsgelahrheit« müsse »ein gelehrtes Frauenzimmer« sogar besser verstehen als ein »gemeiner Mann«. Allerdings geht es Meier dabei ausschließlich um die »gelehrte Kentniß der christlichen Pflicht«, nicht etwa um die »Glaubenslehren« und ihre subtilen Begründungen in der Theologie. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit theologischen Fragen sieht Meier für die Frauen ganz offensichtlich nicht vor. Dass die Pflichten von den Glaubenslehren hergeleitet werden müssen, sich also jedem Menschen, dem diese Pflichten auferlegt werden, auch ihre Begründung erschließen können sollte, scheint dabei für Meier kein Problem zu sein. Auch in diesem Punkt kann man nicht von konsequentem Aufklärungswillen sprechen, sondern höchstens von einer vorsichtigen, primär jedoch dem Konservativismus verpflichteten Tendenz zur Aufklärung. Weibliche Unwissenheit kann nach Meiers Auffassung sogar geradezu schön erscheinen: Wenn ich in der Kirche bin, und ich sehe vor mir einige hundert artige Frauenzimmer sitzen, so kan ich mich mannichmahl nicht enthalten, zu denken, wie reizend sind nicht diese Heydninnen, diese Abgötterinnen, diese Aberglaubischen, diese Naturalistinnen, diese Manichäerinnen, und die noch dazu selbst nicht sagen können, was sie sind.108
Aber trotz dieser gelegentlichen Anflüge von Bewunderung für reizende Unkenntnis plädiert Meier grundsätzlich und ausdrücklich für deren Beseitigung und preist deshalb die Weltweis107 108
Ebd. Ebd.
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heit, also die Philosophie, als jene höhere Wissenschaft an, die eine Frau lernen müsse, wenn sie gelehrt sein will. Er empfiehlt den Frauen sogar mit Nachdruck, sich nicht nur mit der »Vernunftlehre«, d.h. mit Logik, sondern auch mit der Metaphysik zu befassen, wenngleich auch hier sofort wieder Einschränkungen gefordert werden: Alle trockenen und spitzfindigen Themen sollen ausgeblendet bleiben, zudem könne die philosophische Belehrung nur mittels speziell für Frauen geschriebener Bücher erfolgen. In faktischer Ermangelung solcher Schriften sieht sich Meier daher außer Stande, einen Rat zu erteilen, wie Frauen in diesen Bereichen gelehrt werden könnten. Immerhin bleiben noch die Naturlehre und die »Lehre von den natürlichen Pflichten«.109 Aber auch hier spricht Meier lediglich von der Erkenntnis der Schönheit der Natur, nicht etwa von den »entferntern Ursachen der natürlichen Begebenheiten«. Es geht keineswegs um die Erklärung natürlicher Phänomene in irgendeinem engeren wissenschaftlichen Sinn. Die einzigen Bereiche, die Meier den Frauen ohne Einschränkung zum privaten Studium empfiehlt, sind »die philosophische Sittenlehre und die Oeconomie« sowie – offenbar als Alternative – »die Lehre von den Pflichten gegen sich selbst und andere Menschen, samt der Lehre von den Pflichten der Eheleute, der Eltern und Kinder, und der Herrschaften«.110 Auch diese Beschränkung dürfte ihren maßgeblichen Grund in der traditionellen und auch von Meier nicht in Frage gestellten Rolle der Frau haben: Die junge Frau ist auch aus seiner Sicht vor allem (künftige) Ehefrau und Mutter, als solche dem Mann untertan und soll ihm nicht zuletzt Nutzen in durchaus ökonomischem Sinne bringen. Meiers Haltung in diesem Punkt war im 18. Jahrhundert nicht die Ausnahme, sondern (weiterhin) die Regel. Die traditionelle Rollenzuschreibung wurde auch von der Aufklärungsbewegung, insbesondere von der gemäßigten deutschen, kaum in Frage gestellt, sondern in ihren Anfängen, nämlich von Thomasius, zunächst sogar nochmals zementiert.111 Andererseits gehört Meier zu jenen Autoren, die explizite Benimmregeln für den männlichen Umgang mit den Frauen aufgestellt haben und mit jenen Männern, die sich Frauen gegenüber unangemessen benehmen, hart ins Gericht gegangen sind.112
4. Eine jede Bewertung von Äußerungen zur Frauenbildung im Zeitalter der Aufklärung sollte den folgenden Umstand berücksichtigen: Bis zur Emanzipation der Frau zu einem dem Mann gleichberechtigten Familien- bzw. Gesellschaftsmitglied war es zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch ein weiter, bekanntlich weit über das Ende des so genannten Zeitalters der Aufklärung hinausführender Weg. Dies gilt allerdings für die meisten Errungenschaften der Aufklärungsbewegung: Anstöße finden sich für viele Neuentwicklungen bereits in ihren Anfängen, während ihre Umsetzung – wenn sie im Zeitalter der Aufklärung überhaupt erreicht wurde – erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgt ist. Die Aufklärungsbewegung ist in vielen Fällen die Bewe109 110 111 112
Ebd. Ebd. Vgl. Schneiders: Das philosophische Frauenzimmer (s. Anm. 7), S. 375. Vgl. Der Gesellige (s. Anm. 9), 6. Theil (1750), 248. St. (S. 185–192); 258. St. (S. 267–272).
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gung auf eine Errungenschaft zu, nicht etwa eine Bewegung, die mit der Errungenschaft einsetzt. Der äußerlich erkennbare Effekt der Aufklärungsbewegung liegt in der bewussten und vernunftbegründeten Benennung bestimmter Defizite, dem Versuch, einen (in der Regel mit gängigen religiösen Vorstellungen im Einklang stehenden) Weg aufzuzeigen, diese zu beseitigen, und den ersten Versuchen, diesen Weg zu gehen. Dies gilt auch für die Frauenbildung, und gerade Meiers Beiträge, die er in seinen Wochenschriften zu diesem Thema verfasst hat, lassen dies deutlich zu Tage treten: Meier analysiert die geistige Situation der Frau, er erkennt Missstände, die sich nicht rational rechtfertigen lassen, und bemüht sich darum, Wege zu finden, sie zu beseitigen, ohne jedoch etablierte religiöse, gesellschaftliche und seinerzeit auch juristisch legitimierte Normen grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Essenz weiblicher Bildung im wissenschaftlichen Sinne, wie sie von Meier dargelegt wird, bleibt deshalb aus heutiger Sicht fraglos dünn. Aber immerhin ging es Meier darum, »das eigene Nachdenken« seiner Leserinnen zu befördern, sie zur »eigenen Ueberlegung« und zu selbständigen Schlüssen zu animieren.113 Das weibliche Geschlecht sollte sich über seine »gewöhnliche Denkungsart und Gesinnung in die Höhe schwingen«.114 Als 1754 Dorothea Christiane Erxleben (1715–1762) als erste Ärztin in Deutschland promovierte, berichtet er mit Begeisterung von dieser Frau, die nicht nur einen vorbildlichen Grad an Gelehrsamkeit erreicht, sondern sogar »die Vorrechte eines Doctors der Arzneygelahrheit feyerlich erhalten« habe.115 Und zugleich konnte Meier sich auch in der Ansicht bestätigt sehen, dass eine generelle Umwälzung gesellschaftlicher Normen zur Verbesserung der weiblichen Bildung nicht notwendig sei, denn Erxleben war nicht nur Ärztin, sondern zugleich auch »eine Ehegattin, eine Mutter« und führte »eine Haushaltung«.116 Weibliche Gelehrsamkeit und traditionelle Pflichten, deren Erfüllung Meier auch von gelehrten Frauen fordert, sind also offenbar miteinander vereinbar. Meier ruft daher umgehend Deutschlands Frauen auf, nun auf ähnliche Weise in der Philosophie voranzuschreiten. Alle Bedenken – wohl auch seine eigenen – scheinen wie mit einem Male weggefegt: Es ist nunmehr unleugbar, daß ein Frauenzimmer genug Verstand hat, gelehrt zu werden. Und es fehlt dem schönen Geschlechte weiter nichts, als daß es eben so von Kindesbeinen an zu den Wissenschaften angeführt werde, als die Mannspersonen; so würden unter demselben eben so viele Gelehrte seyn, als unter den Mannspersonen.117
Das ist durchaus im Sinne der Aufklärung gesprochen, und man darf Meier in seiner Begeisterung wohl Aufrichtigkeit unterstellen. Trotz aller unübersehbaren Ambivalenz seines Frauenbildes und seiner Ansichten in Bezug auf weibliche Bildung erweist er sich im vorliegenden Zusammenhang als gemäßigter Aufklärer. Die Frau gilt ihm als bildungsfähig, und zwar als genauso bildungsfähig wie der Mann, aber offenbar ist es Meiers Überzeugung, dass die Frau nicht dazu imstande ist, sich selbst zu bilden, sondern stets der Anleitung bedarf. Das Thema der Frauenbildung ist, wie etliche andere, von Meier nahezu ausschließlich in seinen populärwissenschaftlichen Beiträgen behandelt worden. Ohne die Berücksichtigung der 113 114 115 116 117
Der Mensch (s. Anm. 9), 7. Theil (1754), 263. St. (S. 27–32), S. 32. Ebd., 8. Theil (1754), 329. St. (S. 271–278), S. 271. Ebd., S. 272. Ebd., vgl. S. 276. Ebd., S. 274.
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Wochenschriften als philosophiegeschichtliche Quellen wäre sie nahezu gar nicht greifbar. Darüber hinaus gibt es auch etliche philosophische Fragen, mit denen sich Meier sowohl im Rahmen seiner Schulphilosophie als auch seiner Popularphilosophie befasst hat. Jede nähere Beschäftigung mit dem Denken Meiers sollte daher auch diesen Teil seines Schaffens nicht ausblenden. Zum besseren Verständnis seiner Philosophie, und darüber hinausgehend auch der Aufklärung, kann die Erforschung seiner Beiträge in den Moralischen Wochenschriften zweifellos substantiell beitragen.
II. METAPHYSIK
ANDREE HAHMANN
Georg Friedrich Meier über Substanz und Akzidenz
»Die Erfahrung ist der allererste Weg, durch welchen wir zu Begriffen von Dingen gelangen«.1 So verkündet es Meier in seiner Vernunftlehre. Weiter heißt es: »[D]urch Empfindungen verstehen wir alle Begriffe von würklichen und gegenwärtigen Dingen«.2 Durch unmittelbare Erfahrung erschließen sich diejenigen Begriffe, die von den Empfindungen hergeleitet werden können. Daneben stehen solche Begriffe, deren Gehalt nur mittelbar von der Erfahrung bestätigt werden kann, da das Bezeichnete notwendig zur Empfindung ist. Hierunter fallen beispielsweise die Seelenvermögen, die Empfindungen voraussetzen. Meiers Fokus auf die Erfahrung ist bemerkenswert und legt empiristische Einflüsse nahe. Tatsächlich war Meier der Erste, der in Deutschland eine Vorlesung zu Lockes Philosophie gehalten hat.3 Grundlage (oder Ausgangspunkt) seiner Philosophie ist jedoch eine andere, und zwar steht Meier in der Nachfolge von Leibniz, Wolff und Baumgarten. Das ist ein spannungsvoller Hintergrund, vor allem mit Hinblick auf die hier behandelte Fragestellung, die ihr Augenmerk auf Meiers Begriff der Substanz richtet. Der Substanzbegriff steht im 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zweifellos im Zentrum der philosophischen Debatten in der Metaphysik. Mit Leibniz und Locke stehen sich in dieser Frage zwei philosophiehistorische Schwergewichte gegenüber. Locke erklärt in seinen Essays concerning Human Understanding, dass die komplexe Idee der Substanz als solche unerkennbar ist.4 Auf der anderen Seite steht Leibniz, der seine Nouveaux Essais unmittelbar an Locke adressiert und die einfache Substanz (oder Monade) zur metaphysischen Grundlage seiner Philosophie macht.5 1 2 3 4
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Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, § 288, S. 416. Ebd. Gustav Zart: Einfluss der englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1881, S. 82; vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans-Joachim Kertscher in diesem Band. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, II.xxiii.1; es ist offen und wird in der Literatur kontrovers diskutiert, welche Richtung Lockes Kritik hat, siehe Nicholas Jolley: Leibniz and Locke: A Study of the New Essays on Human Understanding. Oxford 1984, pp. 83–84. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übers., mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, S. 223ff.
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Auf dieser Folie ist es nicht verwunderlich, dass sich bei Meier sowohl die Bestimmung, dass es sich bei der Substanz um einen (in gewissem Sinn) unbekannten Träger von Eigenschaften handeln soll, als auch die von Leibniz herausgestrichene Verbindung von Substanz und Kraft finden.6 Im Nachfolgenden soll nun gezeigt werden, wie Meier in diesem Spannungsfeld seinen Substanzbegriff entwickelt, d. h., was man seiner Ansicht nach nicht von der Substanz weiß und auch nicht zu wissen braucht und trotzdem eine nützliche Anwendung7 der von Leibniz und seinen Nachfolgern herausgearbeiteten Ontologie machen könne. Die Untersuchung geht in vier Schritten vor. Zuerst soll die Substanz als Träger von Eigenschaften behandelt werden. Dann wird die Kraft als Grund der Wirklichkeit der Akzidenzien diskutiert. Drittens wird die auf der wechselseitigen Krafteinwirkung beruhende Gemeinschaft der Substanzen thematisiert und schließlich widmen wir uns der Unterscheidung zwischen einfachen und zusammengesetzten Substanzen. In der Diskussion der einfachen Substanzen treten auch die wesentlichen Differenzen zwischen Meier und seinen rationalistischen Vorgängern zutage, mithin wird der Einfluss empiristischer Vorstellungen auf Meiers Ontologie am deutlichsten.
1. Die Substanz als Träger von Akzidenzien In der Vorrede zu seiner Metaphysik hebt Meier zwei Dinge hervor. So schärft er seinen Lesern zum einen ein, dass er sich inhaltlich im Wesentlichen an seinen Vorgänger Alexander Gottlieb Baumgarten halten wird.8 Bekanntlich hat Meier Baumgartens Metaphysik (nach eigener Auskunft zur Verwendung in seinen Vorlesungen) übersetzt und 1766 sogar veröffentlicht. Die in der Übersetzung verwendeten Begriffe finden in Meiers eigener Metaphysik bereits Verwendung.9 Zum anderen streicht Meier heraus, dass er die Auswahl der von ihm behandelten Gegenstände vor allem an ihrer praktischen Tauglichkeit orientieren wird, was überdies einen direkten Einfluss auf die Ordnung der Darstellung sowie die Darstellungsweise haben soll. So verfährt Meier sehr viel ausführlicher als Baumgarten, der einen kurzen lehrbuchhaften Aufriss der Me6
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Zwei der bekanntesten Bestimmungen der Substanz gehen auf Aristoteles und auf Leibniz zurück. Nach Aristotelesʼ Ausführungen in der Kategorienschrift ist die Substanz ein beharrliches Subjekt, dem unterschiedliche Akzidenzien zugesprochen werden (Aristoteles: Categoriae, 2a–4a). Leibniz, der diese Bestimmung kannte und explizit aufgegriffen hat, erklärt die Substanz darüber hinaus zu einem »Être capable d’action« (Gottfried Wilhelm Leibniz: Principes de la Nature et de la Grâce, fondés en Raison § 1. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1875–1890, Bd. VI, S. 598). Diese beiden Charakterisierungen werden von Wolff und seinen Schülern aufgenommen und in unterschiedlicher Form ausgearbeitet. Selbst bei Kant finden sich noch beide Bestimmungen der Substanz, auch wenn diese im Licht seines transzendentalphilosophischen Ansatzes kritisch revidiert werden, siehe Andree Hahmann: Kritische Metaphysik der Substanz. Kant im Widerspruch zu Leibniz, Berlin, New York 2009. Vermutlich folgt Meier Thomasius in der besonderen Betonung der Nützlichkeit. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1755–1759. Vielleicht ist in ihm der Plan zur Übersetzung bereits während der Arbeit an seiner Metaphysik gereift?
Meier über Substanz und Akzidenz
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taphysik gibt. Meier verwendet zahlreiche Beispiele, die es dem Leser leicht machen sollen, seinem Gedankengang zu verfolgen und die behandelte Materie aufzunehmen.10 Wichtiger aber noch als die nur äußerliche Darstellungsform ist die von Meier getroffene Auswahl der diskutierten Gegenstände, was, wie wir sehen werden, erhebliche Auswirkungen auf seine Theorie der Substanz hat. Die Betonung der Nützlichkeit führt Meier sogar dahin, seine Behandlung des Substanzbegriffs darauf zu beschränken, einen ›bloßen‹ oder ›ersten Begriff‹ von Substanz zu gewinnen, aus dem sich andere nützliche Wahrheiten erschließen lassen sollen.11 Außerdem sucht er den Zugang zur Substanz über die unmittelbare Erfahrung ihrer Bestimmungen.12 Was lehrt uns aber die unmittelbare Erfahrung über die Substanz? Meier demonstriert seine Methode am Beispiel des Feuers. Wer wissen will, was Feuer ist, der muss seiner Erklärung die Wirkungen des Feuers zugrunde legen. Dasselbe gilt auch für die Substanz. Die erste Erklärung der Substanz muss also auf der Grundlage ihrer Wirkungen geschehen. Meier ergänzt später, dass man die Wirkungen nicht vollständig einzusehen braucht. Es soll ausreichen, diese so deutlich wie möglich darzulegen.13 Hier wird eine Besonderheit der Substanz relevant: Die Substanz ist nämlich selber kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung, da die Erfahrung nach Meier in der Veränderung der Dinge besteht.14 Geht man wie Meier davon aus, dass Erfahrung wesentlich zur Kenntnis der durch die Begriffe bezeichneten Dinge ist, wirft das schwerwiegende Probleme für die Untersuchung der Substanz auf, da sie – wie gesagt – kein Gegenstand einer unmittelbaren Erfahrung ist. Meier macht nun aus der Not eine Tugend, d. h. aus dem Umstand, dass man den Begriff der Substanz nicht in demselben Maß einsichtig machen kann wie den ihrer erfahrbaren Veränderung, leitet er sein Verfahren ab, zuerst die Akzidenzien der Substanz zu bestimmen und ausgehend von ihnen auf die Beschaffenheit der Substanz als ihren Träger zu schließen. Die Erfahrung der Akzidenzien verschafft somit auf indirekte Weise ein Wissen über die Substanz, denn, negativ begriffen, ist die Substanz dasjenige, was nicht Akzidenz ist. Wie ist das zu verstehen? Wie Baumgarten setzt Meier in seiner Untersuchung eine grundsätzliche ontologische Dichotomie voraus. Alle Dinge sollen entweder für sich bestehen oder aber Bestimmungen der für sich bestehenden Dinge sein.15 Diese Bestimmungen sind traditio10 11
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Max Wundt (Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945, S. 228) lobt daher vor allem die Art der Präsentation, da Meier – nach Wundt – ansonsten ganz Baumgarten folge. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 153, Bd. I, S. 252: »Unterdessen müssen wir uns hier so gut zu rechte zu finden suchen, als es uns möglich ist, und durch Hülfe der Demonstrationen uns so viel, als es sich will thun lassen, einen solchen Begrif von den Substanzen zu machen suchen, der hinreichend ist, um manche andere sehr wichtige und nützliche Wahrheiten zu erklären und zu beweisen.« Ebd., § 480, Bd. II, S. 19. Ebd., § 481, Bd. II, S. 21. Ebd., § 153, Bd. I, S. 252: »Keine Substanz können wir, allein durch die Erfahrung, erkennen. Alles was wir erfahren und empfinden, besteht in den Veränderungen und Würkungen der Dinge, und das sind lauter Accidenzien.« Ebd., § 154, Bd. I, S. 253: »Ein Ding, welches nicht vor sich selbst bestehen kan, wird ein Accidenz genennt, ein Ding welches nicht anders möglich und würklich seyn kan, als ein Prädicat eines andern Dinges«. Siehe auch ebd., S. 254; § 156, S. 255f. sowie Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Übersetzt von Georg Friedrich Meier. Halle 1766, § 127, S. 50f.: »Ein Ding kan entweder nicht anders würklich seyn, als wenn es als eine Bestimmung eines andern Dinges würklich ist; oder es kan auch würklich seyn, wenn es gleich nicht als eine Bestimmung eines andern Dings würklich ist. [...] Das ers-
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nell die Akzidenzien. Als Beispiele für Akzidenzien führt Meier die Rundung des Tisches oder einen Gedanken an.16 Da aber weder die Rundung des Tisches noch der Gedanke ohne Träger existieren können, sind die Akzidenzien zuletzt auf solche Dinge angewiesen, die für sich Bestand haben. Grundsätzlich ist damit natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Dinge, an denen die Akzidenzien existieren, selbst wiederum bloße Bestimmungen von anderen Dingen sind. Beispiele der Akzidenzien von Akzidenzien wären etwa die Klarheit oder Deutlichkeit als Akzidenzien von Erkenntnis, die selbst wiederum ein Akzidenz der Seele ist. Damit es aber nicht zu einem infiniten Regress kommt, benötigen die Akzidenzien zuletzt einen Träger oder – in klassischer Terminologie – ein Substrat, und das ist die Substanz. Man kann daher sagen, dass die Akzidenzien an den Substanzen ihre Wirklichkeit haben. Die Substanz ist somit das letzte selbstständige Substrat der Bestimmungen und zugleich der letzte Grund der Wirklichkeit der Akzidenzien.17 Ein naheliegender Einwand wird von Meier antizipiert: Auch Substanzen als erschaffene Dinge können selbstredend nicht völlig unabhängig sein, sondern hängen von Gott als ihrem Schöpfer ab. Das gesteht Meier zu, doch sollte man seiner Meinung nach nicht übersehen, dass die Wirklichkeit der Substanz zwar ihre hinreichende Bestimmung in Gott hat, gleichwohl ist sie nicht in derselben Weise eine Bestimmung Gottes, wie etwa die Rundung des Tisches eine Bestimmung des Tisches ist.18 Doch nun ist Vorsicht geboten! So gibt es zahlreiche Dinge, wie etwa den Tisch, die zwar als Substanz, d. h. als ein für sich bestehendes Ding, erscheinen, dies aber nicht wirklich sind. Wenn man also wie Meier ausgehend von der Erfahrung der Akzidenzien einen ersten Begriff von Substanz als ein für sich bestehendes Ding entwickelt, ist die Anwendung des Begriffs noch immer problematisch. Meier betont daher, dass man zwar aufgrund der Erfahrung sicher feststellen kann, dass es sich bei gewissen Dingen um Akzidenzien handeln muss (wie etwa bei der Rundung des Tisches), daraus folgt aber noch nicht, dass man mit derselben Sicherheit auch auf die zugrunde liegende Substanz schließen darf. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass man es lediglich mit einer Scheinsubstanz zu tun hat.19
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te ist ein Accidenz [...], und seine Würklichkeit, in so ferne es ein Accidenz ist, ist ein Bestehen durch etwas anderes [...]. Das letzte ist eine Substanz, ein vor sich bestehendes Ding [...]«. Bei Meier heißt es auch (Metaphysik [s. Anm. 8], § 159, Bd. I, S. 261): »So viel ist gewiß, daß ein iedwedes einzelnes Ding, welches mehr als eine blosse Bestimmung ist, durchgängig bestimt sey. § 141. Ausser allen seinen Bestimmungen nun muß ein Subject da seyn, welches bestimt ist und wird. Dieses Subject kan selbst keine Bestimmung seyn, und folglich ist es eine Substanz«. Nach dieser Überlegung folgt die Notwendigkeit einer Substanz aus dem Gegebensein von einzelnen Dingen, deren Individualität wiederum von ihrer vollständigen Bestimmung abhängt. Dahinter steht bekanntlich Leibniz’ Principium identitatis indiscernibilium. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 154, Bd. I, S. 253. Ebd., S. 256. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), §§ 130f., S. 52. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 154, Bd. I, S. 253. Ebd., S. 255: »Durch die blosse Erfahrung kan man ofte mit einer untrüglichen Gewißheit erkennen, daß ein Ding ein Accidenz sey; allein niemals, daß ein Ding eine Substanz sey. Der erste Anschein betrügt uns nur gar zu ofte. Ein Accidenz kan uns, in der Verwirrung unserer Begriffe, und auf den ersten Anschein, so vorkommen, als wenn es vor sich bestünde, und alsdenn scheint es uns eine Substanz zu seyn. Wir wollen also, durch eine Scheinsubstanz, ein Accidenz verstehen, welches eine Substanz zu seyn scheint.«
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Was versteht Meier unter einer Scheinsubstanz? Eine Scheinsubstanz (oder in Baumgartens Terminologie eine phaenomena substantiata20) ist eigentlich ein Akzidenz, welches nur als Substanz erscheint: Das Akzidenz täuscht also seine Selbstständigkeit vor.21 Die Scheinsubstanzen (bzw. Akzidenzien) machen es schwer oder beinahe unmöglich, allein aufgrund von Erfahrung die Identität einer Substanz festzustellen. Das einzige, was sich zweifelsfrei durch Erfahrung erweisen lässt, ist die Existenz von Substanzen, die Erfahrung selbst ist nämlich der Wandel von Bestimmungen, die, wie wir gesehen haben, die Existenz eines selbstständigen Substrats voraussetzen.22 Die Aufgabe der Ontologie sieht Meier nun darin, den durch die Erfahrung gewonnenen Begriff der Substanz näher zu erläutern.23 Meier schließt aus, dass es unter den Substanzen so etwas wie bloße Substrate geben könnte. Also auch dann, wenn wir keinen klaren Begriff des Substrats gewinnen können, ist die Existenz einer unbestimmten Substanz unmöglich. Die Existenz wirklicher Dinge setzt ihre vollständige Bestimmung voraus. Es ist aber denkbar, dass eine mögliche Substanz nur mögliche Akzidenzien hat, weshalb eine mögliche Substanz auch nicht vollkommen bestimmt ist.24 Was bringt aber die möglichen Bestimmungen zur Wirklichkeit? Den Grund der Wirklichkeit der Akzidenzien sieht Meier in der Kraft der Substanz.
2. Die Kraft der Substanz Was hat man sich unter dieser Kraft der Substanz vorzustellen? Meier unterscheidet zunächst zwischen einer Kraft im weiteren und einer im engeren Verstand.25 Unter der Ersteren (d. h. der Kraft im weiteren Verstand) versteht er den Grund der Wirklichkeit der Akzidenzien. Beispie20
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Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 128, S. 51: »Accidenzien, welche vor sich zu bestehen scheinen, sind Scheinsubstanzen (phaenomena substantiata), und Substanzen, die nicht vor sich sondern durch andere zu bestehen scheinen, sind Scheinaccidenzien (substantiae praedicatae)«. Die Substanz in der Erscheinung (substantia phaenomenon) wird bei Kant eine bedeutende Rolle einnehmen, da nur diese als Materie Beharrlichkeit aufweist und mithin die Anwendung der schematisierten Kategorie der Substanz erlaubt. Siehe ausführlich Hahmann: Metaphysik der Substanz (s. Anm. 6). Neben den Scheinsubstanzen soll es auch für Meier Scheinakzidenzien geben, die (paradoxerweise) Substanzen sind, und nur so erscheinen, als wären sie Akzidenzien. Siehe Anm. 20. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 156, Bd. I, S. 256f. Ebd., S. 261. An dieser Stelle betont er auch, dass es nicht Aufgabe der Ontologie sei, »zu erweisen, daß in der Welt würklich Substanzen und Kräfte angetroffen werden«. Auf diese Auffassung nimmt Kant implizit Bezug, wenn er in den Anmerkungen zur ersten Analogie behauptet, dass »der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch [ist]. Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinungen die Kategorie der Substanz anwenden, und man hätte beweisen müssen, daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei [...]«. KrV, A184/B227. Ist die Substanz wirklich, so ist sie entweder notwendig, oder zufällig. Davon abhängig ist die Bezeichnung der notwendigen Substanz oder der zufälligen Substanz, vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 161, Bd. I, S. 263. Ebd., S. 258: »Das Wort Kraft wird, in einer zweyfachen Bedeutung, genommen. Einmal in einer weitern, und zum andern in einer engern Bedeutung. Eine Kraft im weitern Verstande, ist ein iedweder Grund der Würklichkeit der Accidenzien, er mag nun ein zureichender, oder er mag nur ein unzureichender Grund seyn«. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 131, S. 52.
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le hierfür sind die menschliche Einbildungskraft oder der Verstand. Beide sind in der Seele und bewirken Gedanken (d. h. Bestimmungen oder Akzidenzien der Seele). Das Beispiel macht bereits deutlich, dass die Kräfte im weiteren Verstand auch Akzidenzien sein können, denn sowohl Einbildungskraft als auch Verstand sind Akzidenzien der Seele. Unter dieser Perspektive kann die Kraft im weiteren Verstand selbstverständlich nicht der hinreichende Grund für die Bestimmungen der Akzidenzien sein, da diese Kräfte selbst wiederum Akzidenzien sind und als solche auf eine Substanz angewiesen bleiben (wie im vorausgehenden Abschnitt gezeigt wurde). Den hinreichenden Grund für die Hervorbringung der Akzidenzien sieht Meier hingegen in der Kraft im engeren Verstand. Bemerkenswert ist nun, dass Meier die Kraft in der engeren Bedeutung mit der Substanz identifiziert, und zwar mit der Substanz in ihrer Wirklichkeit.26 Wäre die Substanz nicht eine solche Kraft, so könnten laut Meier die Akzidenzien nur der Möglichkeit nach in ihr gedacht werden. Wie kann man aber zugleich sagen, dass es in der Substanz Gründe für die Wirklichkeit der Akzidenzien geben soll? Diese Frage beruht nach Meier auf einer Konfusion der beiden Bedeutungen von Kraft. Die Substanz hat Kräfte nur im weiteren Verstand, im engeren ist sie selber eine Kraft. Folglich ist die Substanz eine Kraft und sie hat viele unterschiedliche Kräfte.27 Leider bleibt uns Meier eine weitere Erklärung schuldig, was, wie wir noch sehen werden, mit seinem grundsätzlichen Ansatz verbunden ist. Wichtig ist für uns die weitergehende Bestimmung der Substanz, die sich hieraus ergibt: Denn die Substanz ist nicht bloß das Substrat der Akzidenzien, sondern auch eine Kraft, die die Akzidenzien wirklich werden lässt.28 Was kann man sonst noch über die Kraft sagen? Wie lässt sich die Stärke der Kraft bestimmen? Auch in der Bestimmung der Kraft wird man nach Meier das Augenmerk auf die Akzidenzien richten müssen. So geben Größe und Anzahl der Akzidenzien Aufschluss über die Intensität der Kraft. Ihre Intensität ist umso größer, je mehr oder je größer die von ihr bewirkten Akzidenzien sind. Größe und Anzahl der Akzidenzien entsprechen dann den Graden der Kraft. Somit kann aus den Wirkungen der Substanz auf den Grad ihrer Kraft geschlossen werden.29 Andererseits setzt die adäquate Erkenntnis der Akzidenzien die Erkenntnis der Kraft voraus, aus der die Akzidenzien folgen. Eine solche Kenntnis vermittelt die Wissenschaft der Kräfte, das ist die Dynamik, die Meier mit Baumgarten wiederum in eine philosophische und
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 158, Bd. I, S. 258f. Ebenso Baumgarten: Metaphyik (s. Anm. 15), § 132, S. 52: »Die Kraft in der engern Bedeutung ist entweder eine Substanz, oder ein Accidenz. § 127. Nun ist sie kein Accidenz, weil sie der hinreichende Grund aller Accidenzien ist, § 131. folglich ist sie eine Substanz, und, in so ferne die Accidenzien in ihr würklich seyn können, das Substantielle. § 150«. Diese Auffassung geht freilich auf Leibniz zurück, siehe etwa Specimen dynamicum. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Mathematische Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Hannover 1849–1863 [ND Hildesheim 1962], Bd. VI, S. 236. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 159, Bd. I, S. 259: »Man kan also ohne Irrthum sagen, eine iedwede Substanz [...] ist eine Kraft, oder hat eine Kraft, oder hat viele Kräfte [...].« Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 130, S. 52 der hervorhebt, dass die Akzidenzien nur durch diese Kraft, d. h. durch das »Substantielle (substantiale)« wirklich sein können. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 160, Bd. I, S. 261; § 165, Bd. I, S. 268f.
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eine mathematische Dynamik unterscheidet.30 Erstere widmet sich der Natur der Kraft, wohingegen die mathematische Dynamik ihre Größe, d. h. ihre Intensität, thematisiert. In einem engen Zusammenhang mit der Kraft der Substanz steht nach Meier ihr jeweiliger Zustand. Unter dem Zustand einer Substanz versteht er das »würkliche Zusammenseyn der veränderlichen und unveränderlichen Bestimmungen eines Dinges«.31 Ferner lässt sich ein innerer von einem äußeren Zustand differenzieren. Der innere Zustand besteht in den zufälligen Beschaffenheiten eines Dinges, die zugleich mit den notwendigen Bestimmungen existieren. Beispiele für den inneren Zustand sind etwa Krankheit und Gesundheit einer Person. Der äußere Zustand betrifft hingegen die Verhältnisse, die mit den unveränderlichen Bestimmungen der Substanz bestehen, so etwa Herrschaft, Ehre oder Schande, die eine Person nur in äußeren Verhältnissen, d. h. mit Hinblick auf andere Personen oder Dinge haben kann. Für Meier sind innere wie äußere Zustände zufällig, weshalb eine notwendige Substanz zumindest keine inneren Zustände haben kann, da sich in ihr nichts Zufälliges finden lassen soll. Sie kann aber sehr wohl über äußere Zustände verfügen, da sie mit anderen Dingen in Beziehung zu stehen vermag.32 Aus den Voraussetzungen ergibt sich natürlich auch, dass eine bloß mögliche Substanz keine inneren Zustände hat, weil innere Zustände die Wirklichkeit der Substanz voraussetzen. Die Zustände sind nun als solche veränderlich, weshalb es sich um Akzidenzien der Substanz handelt.33 Hier liegt auch die Verbindung zur Kraft. Denn der hinreichende Grund der Veränderung eines Zustands besteht entweder in der Kraft der Substanz selbst oder der Grund liegt außerhalb von ihr. Ist der Grund außerhalb anzusetzen, dann muss er zuletzt in der Kraft einer anderen Substanz zu verorten sein. Die Substanz erleidet somit etwas von dieser anderen Substanz. Verändert sich die Substanz selbst, so handelt sie. Eine Handlung ist demnach jede Veränderung des Zustands einer Substanz, für die die Substanz selbst der hinreichende Grund der Wirklichkeit ist.34 Meier geht wie Baumgarten davon aus, dass einfache Handlungen möglich sind.35 Ihrer Ansicht nach besteht die einfache Handlung in der Erzeugung eines einfachen Akzidenz. Ein einfaches Leiden ist entsprechend die einfache Einwirkung auf eine Substanz, in deren Folge sich die denkbar kleinste Veränderung einstellt. Kommt es zur Erzeugung mehrerer Akzidenzien, so 30 31 32 33
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Ebd., S. 262; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 136, S. 53. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 162, Bd. I, S. 263; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 137, S. 54. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 163, Bd. I, S. 265f. Ebd.; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 140, S. 55. Die Veränderungen des Zustands der Substanz sind ihre Akzidenzien, abhängig hiervon ist auch das Leiden oder Handeln der Substanz (ebd.): »Folglich ist eine Handlung, Geschäftigkeit, Thätigkeit (actio, actus, operatio) eine Veränderung des Zustands, oder überhaupt die Würkung eines Accidenz in einer Substanz, durch ihre eigene Kraft; und ein Leiden (passio) eine Veränderung des Zustands, die Würkung eines Accidenz in einer Substanz, durch eine andere Kraft.« Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 164, Bd. I, S. 266f. Siehe auch Anm. 33. Ebd. § 165, S. 269: »Eine einfache Handlung und ein einfaches Leiden besteht in der Würkung, oder in dem Würken einer einzigen allerkleinsten Veränderung [...]«. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 143, S. 56f. Baumgartens Erklärung weicht jedoch von Meiers insofern ab, als er den klassischen Beweis für die Existenz des Einfachen, welche aus der Existenz der Zusammensetzung folgen soll, auf die Handlung verstanden als ein Ganzes (und d. h. seiner Ansicht nach ein Zusammengesetztes aus einzelnen Handlungen) anwendet.
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handelt es sich abhängig von der Perspektive um eine zusammengesetzte Handlung bzw. ein zusammengesetztes Leiden. Da die Substanz wie gesehen eine Kraft im engeren Sinn ist, folgt daraus, dass jede Substanz, solange sie wirklich ist, auch handelt. Andererseits kann von der Wirklichkeit der Kraft auf die Wirklichkeit der Substanz geschlossen werden.36 Diese Ansicht ist noch bei Kant feststellbar, der in der Kritik der reinen Vernunft unterstreicht: »Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden«.37 Eine untätige und nicht wirksame Substanz ist hingegen für Meier unvorstellbar.38 Die Substanz ist also ein handelndes Ding und muss daher auch über ein Vermögen zur Handlung verfügen. Denn wie aus der unmittelbaren Erfahrung auf die Vermögen zur Empfindung geschlossen werden darf, eben so können auch von der Wirklichkeit einer Handlung Rückschlüsse auf das Vermögen gezogen werden. Meier unterscheidet zwei Arten von Vermögen in den Substanzen. Es ist nämlich nicht nur notwendig, dass eine Substanz ein Vermögen zum Handeln hat, sondern sie wird auch etwas erleiden, weshalb sie hierzu eines besonderen Vermögens bedarf. Dieses Vermögen bezeichnet Meier als die Empfänglichkeit der Substanz.39 Aber ebenso wie die Handlungen, die aus ihnen entspringen, lassen sich nach Meier auch die Vermögen in einfache und zusammengesetzte Vermögen unterscheiden.40 Ferner soll es unbedingte und bedingte Vermögen geben, abhängig davon, ob die Realisierung des Vermögens von äußeren Bedingungen abhängt. So hat die Seele ein bedingtes Vermögen der Wahrnehmung, da dies nur in Verbindung mit dem Körper möglich ist. Eine Substanz hat so viele Vermögen, wie es verschiedene Arten von Handlungen gibt, die sie bewirken kann. Eine weitere Einteilung Meiers ist bemerkenswert: So differenziert er bloße Vermögen von besonderen Fertigkeiten.41 Fertigkeiten entstehen erst durch das andauernde Einüben einer Tätigkeit, wohingegen bloße Vermögen einer Substanz von Natur aus angehören. Die Differenzierung geht auf Aristoteles zurück, der beispielsweise in seiner Schrift Über die Seele zur Illustration das Beispiel der Grammatikkenntnisse verwendet. Die durch längere und häufige Einübung erworbene Fertigkeit eines Grammatikers ist eine andere Form von Möglichkeit als die bloße Möglichkeit eines Menschen, der aufgrund seiner Vernunftfähigkeit grundsätzlich das Vermögen hat, sich Grammatikkenntnisse anzueignen.42 Damit eine Substanz also wirklich handeln kann, muss sie zunächst ein Vermögen haben und darüber hinaus auch die Kraft im engeren Verstand. Ist die Kraft zur Handlung zureichend, wird sie lebendige Kraft genannt. Eine tote Kraft wäre hingegen eine solche, die für eine Handlung nicht zureichend ist.43 Entsprechend wäre etwa die Kraft des Körpers, mit der man 36 37 38 39 40 41 42 43
Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 169, Bd. I, S. 273f. KrV, A205/B250. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 174, Bd. I, S. 280. Ebd., § 170, Bd. I, S. 274; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 144, S. 57. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 170, Bd. I, S. 274. Ebd., § 171, Bd. I, S. 276f. Aristoteles: De anima, II.v.417a22f. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 173, Bd. I, S. 279; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 146, S. 58. Die Unterscheidung zwischen lebendigen und toten Kräften geht freilich auf Leibniz zurück, der diese in Auseinandersetzung mit Descartes und später Newton entwickelt hat.
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eine bestimmte Last hebt, eine lebendige Kraft des Körpers. Sollte die Last aber so schwer sein, dass sie das Vermögen zur Handlung überschreitet, dann wäre die Kraft (mit der man den Gegenstand zu heben versucht) eine tote Kraft. Der schwere Gegenstand selber wird zu einem Hindernis der Handlung der Substanz. Ein solches Hindernis nennt Meier Widerstand, und überall dort, wo es Widerstand gibt, muss es auch eine widerstehende Kraft oder eine andere Substanz geben.44
3. Die Gemeinschaft der Substanzen Der Wirkung einer Substanz kann also nur dann widerstanden werden, wenn es auch eine zweite Substanz gibt und beide in irgendeiner Beziehung zueinander stehen. Wenn eine Substanz etwas bewirkt und die andere etwas von dieser Wirkung erleidet, so gibt es einen Einfluss der handelnden Substanz auf die leidende. Nach Meier spricht man also von einem Einfluss der Substanzen, wenn eine Substanz handelt und das von ihr verursachte Akzidenz nicht in ihr, sondern in einer anderen Substanz ist.45 Meier konstatiert mehrere Schwierigkeiten, die mit dem Begriff des Einflusses verbunden sind. Der Begriff suggeriert, dass etwas von einer Substanz in eine andere getragen wird. Das ist aber nach Meier ein falsches Verständnis. Stattdessen soll mit Einfluss nichts anderes gemeint sein, als dass durch die Wirkung der einen Substanz in einer anderen Substanz etwas bewirkt wird. Jeder Einfluss ist folglich mit einem Leiden verbunden, da die Substanz, in der etwas bewirkt wird, von der auf sie einwirkenden Substanz etwas erleidet.46 Dass Meier in diesem Zusammenhang nicht primär an die Theorie des physischen Einflusses denkt, verdeutlichen die von ihm zur Illustration verwendeten Beispiele: So spricht er von einem Redner, der durch seine Worte in die Zuhörer einfließt und auf diese Weise in den Zuhörern Gedanken bewirkt, oder Gott bewirkt etwas mit seiner Gnade in den Menschen.47 Aber auch Akzidenzien sollen eine Kraft haben, aufeinander einzuwirken oder ineinander einzufließen, wie etwa der Verstand durch seine Erkenntnis einen Einfluss auf den Willen hat. Die Kälte und Wärme der Luft haben Einfluss auf den menschlichen Körper. Die verwendeten Beispiele demonstrieren also, dass der Begriff ›Einfluss‹ zunächst in einem weiteren Sinn zu verstehen ist und mithin jede Form von Einwirkung umfasst. Meier trifft hinsichtlich des mit dem Einfluss verbundenen Leidens eine wichtige Unterscheidung. So soll es einerseits ein reales Leiden geben, d. h. ein Leiden, welches nicht zugleich mit einem Handeln verbunden ist. Andererseits ist es auch möglich, dass das Leiden der Sub44 45
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 174, Bd. I, S. 280f.; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 147, S. 58. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 166, Bd. I, S. 270: »Nemlich wenn eine Substanz handelt, so würkt sie ein Accidenz §. 164. Dieses Accidenz ist entweder in ihr selbst würklich, oder in einer andern Substanz ausser ihr. Ist das letzte, so nennt man die Handlung Einfluß [...]«. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 141, S. 56. Hierin sieht Kant ein Problem, da das Leiden der Substanz dem Begriff der Substanz seiner Ansicht nach widerstreitet. Zu Kants Kritik an der Theorie des physischen Einflusses siehe Hahmann: Metaphysik der Substanz (s. Anm. 6). Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 166, Bd. I, S. 271.
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stanz zugleich ihre Handlung ist. Dann hat man es mit einem idealen Leiden zu tun und der Einfluss der Substanz wird zu einem idealen Einfluss.48 Ein Beispiel für einen idealen Einfluss wäre etwa, wenn jemand belehrt wird und selbst eine Erkenntnis bewirkt. Das macht wiederum klar, dass für Meier auch der ideale Einfluss ein wirklicher Einfluss ist, da es zu einer tatsächlichen Beeinflussung kommt. Der Schüler konnte wirklich nicht schreiben und hat dies erst durch die Tätigkeit des Lehrers erlernt. Wenn nun eine leidende Substanz in die handelnde Substanz zurückwirkt, spricht man laut Meier von einer »Zurückwirkung«.49 Dieses Phänomen ist vor allem in der Körperwelt zu beobachten. Schlägt man beispielsweise mit der Hand auf einen festen Körper, wird man die Rückwirkung des Körpers erfahren. Man kann in diesem Fall auch von der Gegenwart der Substanzen sprechen.50 Denn die Gegenwart einer Substanz besteht in ihrem näheren Einfluss in eine andere Substanz. Sind zwei Substanzen einander unmittelbar gegenwärtig, dann berühren sie sich, d. h., es gibt eine gegenseitige Einwirkung oder eben Rückwirkung der einen Substanz auf die andere.
4. Zusammengesetzte und einfache Substanzen Sind die Dinge »ausser einander würklich«, wirken sie also auf andere Dinge ein, die außer ihnen sind, und machen zusammen ein Ganzes aus, so hat man es mit einem zusammengesetzten Ding zu tun.51 In einer Zusammensetzung können Teile voneinander unterschieden werden. Die Teile des Zusammengesetzten sind Bestimmungen. Alle möglichen Dinge der erfahrbaren Umwelt sind Vielheiten oder zusammengesetzte Dinge.52 Ein Beispiel für ein solches zusammengesetztes Ding wäre der menschliche Körper. Dieser hat viele Teile, die selbst wiederum aus Substanzen bestehen oder sogar Substanzen sind, auch wenn nicht alle seine Teile Substanzen sein sollten. Wenn die Teile Substanzen sind, so hat man es nach Meier mit »ein[em] zusammengesetzte[n] Ding in der strengsten Bedeutung« zu tun.53 Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das zusammengesetzte Ding nur aus Akzidenzien besteht. Meier benutzt das Beispiel einer Rede, die viele Worte umfasst. Die Worte haben keine für sich bestehende Existenz, sondern sind Wirkungen einer Substanz. Fest steht lediglich, dass diejenigen Teile, die »ausser einander würklich« sind, keine Akzidenzien sein können, da sie definitionsge48
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Vgl. ebd., § 167, Bd. I, S. 271f.; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 142, S. 56: »Wenn das Leiden einer Substanz, in welche die andere einfließt, zugleich eine eigene Handlung der leidenden Substanz ist, so ist das Leiden und der Einfluß idealisch (passio et influxus ideales); wenn aber das Leiden nicht zugleich eine eigene Handlung der leidenden Substanz ist, so ist es ein reelles Leiden und der Einfluß der andern Substanz ist ein reeller (passio et influxus reales).« Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 168, Bd. I, S. 273; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 141. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 177, Bd. I, S. 283–285; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 148, S. 58: »[...] und Substanzen, die einander gegenwärtig sind, berühren einander (contingunt, sunt contigua). Die Gegenwart (praesentia) ist der nähere Einfluß; und die gegenseitige unmittelbare Gegenwart, oder der unmittelbare Streit mehrerer Substanzen ist die Berührung (contactus).« Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 179, Bd. I, S. 287; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 149, S. 59. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 178, Bd. I, S. 286. Ebd., § 180, S. 289; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 150, S. 59.
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mäß keine selbstständige Realität haben, d. h., sie können nicht außerhalb von Substanzen existieren. Zusammengesetzte Dinge sind somit Inbegriffe von vielen Substanzen.54 Das Wesen der zusammengesetzten Dinge soll in der Art der Zusammensetzung der Substanzen bestehen. Wer daher das Wesen eines Körpers verstehen will, muss einerseits die Zusammensetzung des Körpers betrachten und andererseits die Teile, aus denen sich der Körper zusammensetzt.55 Den Raum bestimmt Meier als »diejenige Ordnung der ausser und neben einander befindlichen Dinge, welche in dem Nebeneinanderseyn ihren hinreichenden Grund hat«.56 Entsprechend ist die Zeit die Ordnung der Dinge, die aufeinander folgen.57 Da der Raum auf die Anwesenheit von Dingen, die nebeneinander sind, angewiesen ist, kann er selbst kein für sich bestehendes Ding sein. Der Raum ist also keine Substanz, sondern ein Akzidenz. Die Möglichkeit des leeren Raums schließt Meier daher als undenkbar aus.58 Wie genau sieht die Anwesenheit der Dinge im Raum aus? Das Ding ist in einem Raum, insofern als es außer und neben anderen Dingen wirklich ist. Es erfüllt den Raum, wenn es in ihm Teile gibt, die außer und nebeneinander wirklich sind. Wenn es einen Raum erfüllt, so ist der Raum eines seiner inneren Bestimmungen. Das Ding wird zu einem ausgedehnten Ding oder, anders formuliert, die Ausdehnung des Dinges ist der Raum, der durch das Ding eingenommen wird. Hat ein Ding also viele Teile, die außer und nebeneinander sind, so erfüllt es einen Raum.59 Daraus folgt unmittelbar, dass zusammengesetzte Dinge einen Raum erfüllen müssen, da in einem zusammengesetzten Ding ihrer Definition nach viele Teile außer und nebeneinander sind. Bei den zusammengesetzten Dingen, die einen Raum einnehmen, handelt es sich, wie wir gesehen haben, um Körper. Neben der Ausdehnung müssen diese nach Meier auch Kräfte haben, und zwar Bewegungskraft und Trägheit. Alle Formen von Bewegungen lassen sich laut Meier als Ortsveränderungen begreifen. Eine Ortsveränderung ist aber lediglich die Veränderung der äußeren Zustände, d. h. der Verhältnisse von Dingen, die einander äußerlich sind. Das Bewegliche ist somit das äußerlich Veränderbare.60 Bei der Bewegungskraft bzw. der bewegenden Kraft handelt es sich nun um die Kraft, wodurch eine Bewegung hervorgerufen wird. Ebenso gut gilt, dass für Ruhe eine ruhende Kraft, d. h. eine Kraft, die Ruhe bewirkt, erforderlich ist. Denn Ruhe ist ein Hindernis der Bewegung. Hindernisse setzen aber – wie gesagt – eine wirkende Kraft voraus. Hierin erkennt Meier die Trägheit. Ein Ding besitzt also Trägheit, insofern es ruht, d. h. an der Bewegung gehindert wird.61 54 55 56 57 58 59
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 181, Bd. I, S. 290f. Ebd., § 182, Bd. I, S. 292. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 184, Bd. I, S. 297. Ebd., § 183, Bd. I, S. 293; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 160, S. 63. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 184, Bd. I, S. 298. Ebd., § 185, Bd. I, S. 299; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 162. Baumgarten zieht aufgrund seiner Monadentheorie daher den befremdlichen Schluss (ebd., § 163, S. 64): »Eine Monade hat keine Ausdehnung. §. 153, §. 164. Aber ein Ganzes, welches aus Monaden zusammengesetzt ist, §. 156. ist ein ausgedehntes Ding. §. 162.« Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 223, Bd. I, S. 361. Ebd., § 224, Bd. I, S. 363.
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Der physische Körper ist somit eine Materie, die Bewegungskraft und Trägheit hat.62 Meier vermutet, dass Bewegungskraft und Trägheit auf dieselbe Kraft zurückgeführt werden können, was er in seiner Kosmologie weiter ausführen möchte.63 Die Grundlage der Kosmologie ist mithin, dass alle wirklichen Dinge, die einander äußerlich sind, durch einen allgemeinen Zusammenhang verbunden sind.64 Verbunden sind aber voraussetzungsgemäß nur solche Dinge, die in sich eine Bestimmung haben, deren Grund in einem anderen Dinge liegt. Alle Dinge, die gegenseitig ihren Ort und ihr Alter bestimmen, sind folglich miteinander verbunden.65 Die Annahme also, dass alle Dinge in Raum und Zeit sind, bedeutet weiter nichts, als dass alle Dinge, die in irgendeinem Zusammenhang mit einander stehen, in Raum und Zeit sein müssen. Da Raum und Zeit die Ordnung der äußeren Verhältnisse betreffen, handelt es sich um die äußere Bestimmung der Dinge. Sie sollen aber nicht nur in ihren äußeren Bestimmungen miteinander verbunden sein, sondern alle äußeren Verhältnisse sind auch innerlich miteinander verknüpft. Das folgt nach Meier daraus, dass man aus den wesentlichen inneren Bestimmungen einer Sache ersehen können soll, »warum sie die und keine andere Verhältnisse haben könne«.66 Die Behandlung der zusammengesetzten Substanzen wirft nun zwangsläufig die Frage nach den letzten Bestandteilen der Zusammensetzung auf und das sind in der leibniz-wolffschen Tradition die einfachen Substanzen oder Monaden.67 In dieser Frage nimmt Meier eine ambivalente Haltung ein. So behauptet er, wie wir gesehen haben, dass die Welt aus Substanzen und Akzidenzien besteht und dass die Körper Inbegriffe dieser Substanzen sind.68 Ferner gesteht er ein, dass das Zusammengesetzte das Einfache voraussetzt, da sich nur so Inbegriffe von vielen Substanzen denken lassen und mehr noch: Die einzelnen Substanzen sollen die wahren Grundbestandteile der Welt sein.69 Dessen ungeachtet sieht Meier aber ein Problem. Denn die einfachen Substanzen, die die letzten Bestandteile der Welt sind, können nicht mit den Sinnen erreicht werden.70 Alle Teile, die sich in ihrer Wirklichkeit äußerlich gegenüberstehen, sind Substanzen. Wenn man aber einen beliebigen Körper zerkleinert, bleiben immer Teile übrig, die einander äußerlich sind. Das Spiel lässt sich immer weiter treiben, bis man die einzelnen Teile nicht mehr wahrnehmen kann. Die Sinne sind folglich unfähig, die Untersuchung bis zu den 62
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Ebd., § 226, Bd. I, S. 365; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 208, S. 80. Baumgarten fügt hinzu, dass es sich um eine Scheinsubstanz handeln muss. Meier will es hingegen »unausgemacht [lassen: A. H.], ob es dergleichen Körper würklich gebe, und welche ausgedehnte Dinge solche Körper sind« (S. 365). Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 226, Bd. I, S. 365f. Ebd., § 214, Bd. I, S. 347f. Ebd., § 234, Bd. I, S. 380. Ebd., § 57, Bd. I, S. 101. Baumgarten zufolge sind innere Bestimmungen solche Bestimmungen, die selber keine Verhältnisse sind (vgl. Baumgarten: Metaphysik [s. Anm. 15], § 32, S. 14: »Alle Bestimmungen einer Sache, welche keine Verhältnisse sind, sind innerliche Bestimmungen [...].«). Zu den inneren Bestimmungen siehe auch §§ 34, 35, 37, S. 14f. Ebd., § 153, S. 61: »Eine Substanz ist entweder eine einfache Substanze, eine Monade (monas, atomus, perfecte unitas), oder eine zusammengesetzte Substanz.« Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 357, Bd. II, S. 135f. Ebd., § 180, Bd. I, S. 290: »Ein zusammengesetztes Ding in dem strengsten Verstande hat viele Theile, die Substanzen sind [...]«. Siehe auch die §§ 178–180. Ebd., § 361, Bd. II, S. 140f.
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letzten Teilen der Materie durchzuführen. Das kann nur durch den Verstand geleistet werden. »Allein wir können, in dieser Nachforschung, nicht gar zu weit kommen: denn wo uns unsere Sinne verlassen, da müssen wir in einer grossen Finsterniß wandeln«.71 Obwohl Meier diese prinzipielle Einschränkung macht, zieht er nicht wenige Schlüsse über die Beschaffenheit der einfachen Substanzen: So sollen alle Substanzen einen bestimmten Ort einnehmen, egal ob Geister oder nicht.72 Ferner sollen die ersten Substanzen undurchdringlich sein, da sie einen Ort einnehmen und eine äußere Wirklichkeit haben.73 Die Undurchdringlichkeit erklärt er gar zur wahren Ursache der Ausdehnung und damit auch des Raums.74 Zugleich insistiert er aber darauf, dass sich keine sicheren Erkenntnisse über die Beschaffenheit der einfachen Substanzen gewinnen lassen. Aus diesem Grund will Meier auch die Lehre von den einfachen Substanzen oder Monaden übergehen und das, obwohl er zugesteht, dass die Entscheidung der Frage der Existenz der einfachen Substanzen überaus wichtig ist.75 Wer nun aber die Existenz der Monaden bestreitet und nur das Zusammengesetzte zulässt, der soll ein Materialist sein. Wie Baumgarten unterscheidet Meier verschiedene Spielarten des Materialismus: so etwa einen allgemeinen, einen kosmologischen und einen psychologischen Materialismus (usw.).76 Meier weicht jedoch von Baumgarten in seiner Einschätzung des kosmologischen Materialismus ab. Seiner Ansicht nach soll es sich hierbei um eine unschädliche Meinung handeln; denn ob Gott die Welt aus einfachen oder zusammengesetzten Substanzen erschaffen hat, ist für die wahre Frömmigkeit einerlei. Außerdem ist die Annahme der Monaden in dieser Frage zu nichts nutze, wie Meier meint. Die Beschaffenheit der wirklich erfahrbaren Körper lässt sich ohnehin nicht aus den einfachen Substanzen ableiten. Meier erinnert daran, dass er es sich zum Vorsatz gemacht hat, eine praktische Metaphysik zu schreiben, was seiner Ansicht nach bedeutet, dass er all das aus der Ontologie weglassen darf, was nicht selbst praktisch ist oder ohne dessen Erörterung andere praktische Wahrheiten nicht verstanden werden können. Die Lehre von den zusammengesetzten Dingen ist das Fundament der Naturlehre und damit notwendig zur Kosmoslogie und für die physischen Wissenschaften. Die Monaden sind in der Naturlehre hingegen unbrauchbar.77
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Ebd., , § 361, Bd. II, S. 141; siehe auch § 178, Bd. I, S. 286f. Ebd., § 363, Bd. II, S. 146. Ebd., § 364, Bd. II, S. 147. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), §§ 196ff., S. 96ff. Ebd., § 365, Bd. II, S. 149: »Die Undurchdringlichkeit der einzeln Substanzen in der Welt ist also, die wahre Ursache des Raums und der Ausdehnung [...]«. Siehe dagegen Baumgartens weiter reichende Bestimmung der Monaden: Diese sollen keine Ausdehnung haben (Baumgarten: Metaphysik [s. Anm. 15], §§ 163f., S. 64); sie sind unteilbar (§ 165, S. 64); sie sind ohne bestimmte Figur (§ 196, S. 76); der Veränderung des Orts entspricht eine Veränderung des äußeren Verhältnisses der Monaden (§ 199, S. 78); sie haben eine Bewegungskraft und Trägheit (§ 206, S. 80); sie sind physische Punkte (§ 287, S. 114); sie sind Vorstellungskräfte ihrer Welt oder tätige Spiegel der Welt oder Welten im Kleinen (§ 288, S. 115); es gibt schlafende Monaden, die sich die Welt nur dunkel vorstellen (§ 289, S. 115) und bewusste Geister, die klare Vorstellungen haben (§ 290, S. 115); schließlich berühren sie sich, da sie nur von einer anderen Kraft getrennt werden können, die aber nicht zwischen ihnen sein kann (§ 298, S. 119f.) und ihre beständige Handlung ist die Vorstellung der Welt (§ 300, S. 121). Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 358, Bd. II, S. 136f. Ebd., § 361, Bd. II, S. 141f. Siehe auch Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 15), § 283, S. 112. Meier: Metaphysik (s. Anm. 8), § 180, Bd. I, S. 290.
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5. Ergebnis Ich komme zum Schluss meiner Ausführungen und fasse noch einmal kurz zusammen: Grundsätzlich ist Meiers Substanzkonzeption nicht sonderlich originell. Bei ihm finden sich die meisten der Bestimmungen und Differenzierungen wieder, wie sie üblicherweise von den in der wolffschen Tradition stehenden Philosophen gemacht werden. Diese sind zum Teil aus der aristotelischen Scholastik übernommen, wie die Vorstellung der Substanz als dem beharrlichen Substrat der Akzidenzien und werden dann mit leibnizschen Überlegungen zur Kraft angereichert. Vorbild für Meiers Ausführung ist vor allem Baumgarten, dessen Metaphysik, wie sich anhand zahlreicher Übereinstimmungen nachweisen lässt, den meisten Überlegungen zugrunde lag. Die Abweichungen erklären sich vor allem aus der zu Beginn angedeuteten Anstrengung Meiers, die Erfahrung zur Grundlage seiner Untersuchung zu machen, sowie seinem Vorhaben, die Auswahl der in seiner Metaphysik behandelten Gegenstände am praktischen Nutzen zu orientieren. Zu den Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, zählt etwa der besondere Zugang zur Substanz, und zwar ihren Begriff ausgehend von den erfahrbaren Veränderungen zu bestimmen. So stellt er zunächst die Bestimmungen der Substanz, d. h. ihre Akzidenzien in den Mittelpunkt und versteht die Substanz als ihren Träger bzw. den Grund ihrer Wirklichkeit. Problematisch ist seine von Baumgarten übernommene Charakterisierung der Substanz selbst als Kraft, und zwar vor allem dann, wenn man so wie Meier annimmt, dass es ganz unterschiedliche Kräfte in einer Substanz gibt. Aber der Aufgabe, die einzelnen Kräfte aus einer einheitlichen Kraft abzuleiten – wie Meier dies selbst im Fall der Schwerkraft andeutet –, entzieht er sich mit dem Hinweis, dass dies zu schwierig und nicht mit seinem grundsätzlich an der Erfahrung und dem praktischen Nutzen orientierten Vorhaben vereinbar sei. Zu dunkel ist seiner Meinung nach auch die Frage nach den einfachen Substanzen, d. h. den Monaden. Obwohl er zugibt, dass es das Einfache als Grundlage der Zusammensetzung geben müsse, will er keine Antwort auf die Frage der genauen Beschaffenheit dieses Einfachen liefern, d. h., er lässt die Frage, welche Art von Kraft überhaupt ein Einfaches haben kann, unbeantwortet. Handelt es sich um eine Vorstellungskraft, wie Leibniz und auch Baumgarten behaupten, oder ist es eine Bewegungskraft, wie die Vertreter des physischen Einflusses annehmen? Diese beiden Fragen, d. h. die Frage nach dem Inneren der Substanz und die nach ihrem äußeren Verhältnis, wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontrovers in Deutschland diskutiert. Beide Bestimmungen stehen in einem engen Zusammenhang. Denn die Frage nach dem äußeren Verhältnis der Substanzen ist natürlich zum großen Teil abhängig von der Art der inneren Bestimmung der Substanz. Geht man wie Leibniz davon aus, dass die inneren, wesentlichen Bestimmungen idealer Natur sind, dann können die Substanzen nicht unmittelbar mit ihren inneren Bestimmungen auf andere Substanzen einfließen. Hieran hängt aber auch die Beantwortung der Frage nach dem Wesen der uns umgebenden physischen Körper. Woraus setzen diese sich zusammen, oder was sind die Dinge, die einander äußerlich sind? Zugestanden, dass die Lehre von den einfachen Substanzen zu dunkel und zu nichts nütze sei, was legt Meier seiner Kosmologie dann zugrunde? Meier bleibt uns in diesen Fragen zuletzt eine Antwort schuldig. Sein Vorgehen besteht sogar darin, diese und verwandte Fragen explizit auszusparen. Aus diesem Grund hat aber auch der von Meier angebahnte Weg, sich mit dem Empi-
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rismus einzulassen – zumindest in der Frage der Substanz – nicht zu einer echten Auseinandersetzung mit empiristischen Vorstellungen geführt und kann daher bestenfalls als ein halbherziger Versuch angesehen werden, zwischen Leibniz und Locke zu vermitteln. Ein anderer wird diese Aufgabe nur wenig später wirklich in Angriff nehmen und dann auch die Frage nach der Substanz einer neuartigen kritischen Lösung zuführen.
GIUSEPPE MOTTA
Meiers transzendentale Definition einer Ontologie der Zufälligkeit
Vom Rationalismus zum Empirismus. Man hat öfters und mit guten Gründen die Philosophie von Georg Friedrich Meier als die Geschichte einer langsamen Entwicklung aufgefasst: von der treuen Zugehörigkeit zu den Prinzipien des Rationalismus (von Leibniz und von Wolff) zu einer (von John Locke inspirierten) skeptischen Auffassung der empirischen Realität der Erfahrung. Riccardo Pozzo beschreibt diese Evolution mit den folgenden Worten: In Meier’s works one can trace a development from rationalism to empiricism. In the first period, he maintained (with Leibniz, Wolff and Baumgarten) that all obscure and confused cognition can eventually become clear and distinct, but in the second period he gave up this claim and stressed instead the fact that the immediate objects of our sensations do not correspond to the objects around us.1
Die Grundannahme dieser These im Hinblick auf jene Entwicklung ist die folgende: »While mathematics and metaphysics make the exact and correct knowledge of nature possible […], the human being, says Meier, has to behave carefully when confronted with truths achieved in all other fields, which are truths invariably distorted by prejudices«.2 Das Hauptziel der nachfolgenden Studie ist es vor diesem Hintergrund, die Vielfalt der Einflüsse der Philosophie Meiers aus der m. E. privilegierten Perspektive seiner Auffassung des Begriffs der »Zufälligkeit« innerhalb seiner Ontologie von 1755 zu beschreiben. Dies kann allerdings nur vermittelst einer ganz allgemeinen Auffassung der Lehre der Transzendentalien (unum, verum, bonum) in der Philosophie des 18. Jahrhunderts geschehen, denn die Zufälligkeit wird von Meier (wie schon früher bei Baumgarten) unter dem Titel der zufälligen Einheit, zufälligen Ordnung, zufälligen Wahrheit und zufälligen Vollkommenheit thematisiert. Für diese Untersuchung sind zunächst einige Notate zu Kants Kritik der reinen Vernunft zu geben.
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Ricardo Pozzo: Art. Meier, Georg Friedrich (1718–77). In: The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Ed. by M. Kühn a. H. F. Klemme. 3 vols. London, New York 2010. vol. II (H-P), pp. 767– 773, hier p. 768. Ebd., p. 770.
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1. Immanuel Kant über die transcendentalia In § 12 der Kritik der reinen Vernunft von 1787 zitiert Immanuel Kant ein berühmtes Diktum der Scholastik: »Quodlibet ens est unum, verum, bonum«.3 Diese drei Begriffe, die man in der scholastischen Tradition transcendentalia nennt, drücken die drei grundlegenden Weisen jedes Seienden aus: Einheit, Wahrheit und Gutheit.4 Kant äußert sich sehr kritisch über die passive und quasi mechanische Anwendung dieser Begriffe in den alten und neueren Systemen der Metaphysik. Er schreibt diesbezüglich: »[Da] der Gebrauch dieses Prinzips in Absicht auf die Folgerungen (die lauter tautologische Sätze gaben) sehr kümmerlich ausfiel, so [pflegt] man es auch in neueren Zeiten beinahe nur ehrenhalber in der Metaphysik aufzustellen«.5 Es sei jedoch notwendig, eine kritische Untersuchung der Bedeutung eines dermaßen alten und resistenten Gedankens zu unternehmen. Kant zeigt in diesem Sinne, wie die Transzendentalien zwar nicht in einer für die Gegenstände der Erfahrung konstitutiven Funktion untersucht werden können (wie die Kategorien), wie sie jedoch durchaus ihre kritische Definition als Begriffe der Reflexion über die Erkenntnis selbst der Gegenstände der Erfahrung finden. Das unum korrespondiere somit der Form des spezifischen Begriffs als Prinzip der »Möglichkeit« des Gegenstandes der Erfahrung. Das verum lasse sich mit dem »Wirklichen« als Materie der »qualitativen Vielheit der Merkmale, die zu einem Begriffe als einem gemeinschaftlichen Grunde gehören«, assoziieren. Das bonum sei schließlich die »qualitative Vollständigkeit (Totalität)«, welche die Zusammenstimmung der materialen Vielheit (Wirklichkeit) mit der formalen Einheit (Möglichkeit) ausdrückt.6 Zum Zweck einer Untersuchung des Begriffs der »Zufälligkeit« in der Metaphysik von Georg Friedrich Meier kann es sich als interessant erweisen, sich zunächst eine allgemeine, auf den ersten Blick wahrscheinlich abwegige bzw. nicht ganz zutreffende Frage zu stellen: Wer sind überhaupt diese Metaphysiker der »neueren Zeiten«, die laut Kant eine alte (und schon seit lan3
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 31990, B 113. [im Folgenden KrV]. Vergeblich würde man sich auf die Suche nach der Quelle dieses Satzes aus der Kritik der reinen Vernunft machen, denn hier ist offensichtlich kein bestimmtes Zitat eines alten Scholastikers, sondern bloß eine knappe und künstliche Formel wiedergegeben, die Kant selber erfindet, um die Wichtigkeit der drei obigen Begriffe (unum, verum, bonum) in der Philosophie der Vergangenheit zu betonen. »Tὰ ἴδια« bezeichneten in diesem Sinne schon bei Aristoteles die ersten Eigenschaften des Wesens als solchem, die »ἔιδη τοῦ ὄντος ἧ ὄν«. Diese waren das Eins (Metaphysik, L, 4), das Wahre (ebd. L, 9) und das Gute (Nikomachische Ethik, I, 4), welche aber bei Aristoteles keine systematische Theorie bildeten. Erst in der Philosophie des 13. Jahrhunderts wurden sie als »Transzendentalen« bezeichnet und als solche auch systematisch behandelt (siehe dazu Jean-François Courtine: Suárez et le système de la métaphysique. Paris 1990, p. 344–345). Der erste Philosoph, der seine Metaphysik in ihrem Wesen als »transcendentalis« definierte, war Johannes Duns Scotus. Es ist nun allein seine Theorie der ontologischen Indifferenz (univocitas) aller Wesen, durch die die Transzendentalien in das Zentrum der gesamten philosophischen Spekulation gesetzt werden konnten. »Transzendental« ist nämlich nach Scotus die Doktrin der natura communis aller Wesen und die Transzendentalien bezeichnen diesbezüglich keinen formalen Unterschied der Wesenheiten, sondern ihre innerste Eigenschaft, d. h. den modus intrinsecus (die innere Modalität) aller Wesen. Kant: KrV, B 113. Ebd., B 114.
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gem steril gewordene) Tradition bloß passiv weiterführen, indem sie die Philosophie der Transzendentalien »nur ehrenhalber« in ihren Systemen »pflegen«? Kant denkt hier wahrscheinlich erst an Christian Wolff, der die Lehre der Transzendentalien in seiner Ontologia (wie schon vorher in seiner Deutschen Metaphysik) einerseits deutlich marginalisiert, ihr jedoch andererseits ziemlich getreu gefolgt war. Unter dem Titel De Ordine, Veritate & Perfectione behandelte Wolff nämlich in der dritten Sektion des ersten Teils des Werkes (De generalibus entis affectionibus) Einheit, Wahrheit und Gutheit im Wesen eines Dinges.7 Kant denkt an dieser Stelle darüber hinaus auch an die vielen Werke der Deutschen Schulphilosophen, die das Muster der Lehrbücher des ›Meisters‹ mehr oder weniger getreu befolgt hatten,8 und an die Texte anderer Autoren wie Daries oder Feder, die keine Wolffianer waren, wohl aber die transcendentalia in einer ähnlichen Weise wie Wolff behandelt hatten.9 Kant denkt schließlich vor allem an Alexander Gottlieb Baumgarten und an Georg Friedrich Meier, die als einzige Vertreter der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts die Transzendentalien in das System der Metaphysik strukturell eingegliedert und ganz in den Vordergrund gestellt hatten. Über die 7
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Nach Wolff enthält jeder Gegenstand eine Vielfalt von Bestimmungen. Einheit in dieser Vielfalt bestehe insofern, als Ordnung in ihr besteht, wobei die Ordnung selbst ihrerseits durch gewisse Regeln definiert wird: »Omnis ordo suas habet regulas« (Christian Wolff: Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cogitationis humanae principia continetur. Frankfurt, Leipzig 1730. Zweite Auflage 1736 [Ontologia], § 478). In der Gegenüberstellung zur nicht geregelten Mannigfaltigkeit definiert dann Wolff die Wahrheit als Ordnung der Eigenschaften: »Ens verum dicitur, in quo datur veritas, consequenter si in iis, quae eidem conveniunt, ordo datur« (ebd., § 496). Vollkommenheit sei schließlich die Übereinstimmung einer Pluralität, welche somit zugleich eine Gutheit ausdruckt: »Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero appello tendentiam ad idem aliquod obtinendum. Dicitur perfectio a Scholaticis bonitas transcendentalis« (ebd., § 503). Mit den Worten von Jean École: »[Wolff] met ces trois propriétés [de l’unité, de la vérité et de la perfection] sur le même plan que les autres en les classant toutes ensemble sous le titre d’affections générales de l’être, sans se préoccuper du degré plus ou moins grand de généralité qu’elles comportent et qui les différencie« (Jean École: La métaphysique de Christian Wolff. 2 vols. Hildesheim 1990 vol. I, p. 188–189). »De ordine, veritate et perfectione« ist in diesem Sinne der Titel zum Beispiel von Kapitel VII von Johann Peter Reuschs Systema metaphysicum (Jena 1734), von Kapitel XIII von Friedrich Christian Baumeisters Institutiones metaphysicae (Wittenberg, 1738) und von Kapitel VII der 1753 veröffentlichten Metaphysica des Gießener Professors Andreas Böhm. Der Titel der letzten Sektion der Philosophia prima von Joachim Georg Daries’ Elementa Metaphysices (Jena 1743) lautet: »De ordine, veritate atque perfectione generatim«. Die darin enthaltenen Definitionen von »ordo« (als »similitudo in ratione, qua varia connecuntur«, vgl. § CLXXXIII, § CLXXXVII), »veritas« (als »convenientia eorum, quae simul ponuntur«, § CLXXXVIII) und »perfectio« (als »variorum consensus«, vgl. § CLXXXIII, § CLXXXVII); dieser distanziert sich deutlich von denen der so genannten Wolffianer, indem sie das Element der Konnexion ganz in den Vordergrund bringen. Die Frage »Wie fern in jedwedem Dinge Einheit, Ordnung, Wahrheit und Vollkommenheit« sind, ist sonst der Titel eines der ersten Paragraphen (§ 13) des ersten Hauptstücks der Metaphysik von Johann Georg Heinrich Feder (oder präziser: des zweiten Teils der 1769 in Göttingen und Gotha veröffentlichten Logik und Metaphysik). 1) «Ein jedes Ding«, schreibt hier Feder, »ist eins, weil alles, was zu seinem Wesen gehöret, unzertrennlich mit einander vereiniget ist, und bleiben muß, so lange es dieß Ding seyn soll«. Und weiter: 2) »man [muß] eingestehen, daß in jedweden Dinge Ordnung; da nach gewissen nothwendigen Naturgesetzen das Mannigfaltige in jedwedem Dinge mit einander vereiniget ist«. 3) »Unter den Beschaffenheiten eines Dinges kann kein Widerspruch seyn; und ein jedes Ding ist das, was es ist. Daher ist Wahrheit in einem jedweden Dinge«. 4) »Diese Übereinstimmung alles dessen, was ein Ding ausmachet, beweiset auch, daß Vollkommenheit in einem jeden Dinge ist«.
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Metaphysica Baumgartens las Kant fast ununterbrochen von 1755 bis 1796. Er wurde daher mit den (in den Sektionen 4–7 des ersten Kapitels, »Praedicata entis interna universalia«, behandelten) Begriffen der unitas, (ordo), veritas, perfectio ständig konfrontiert. Es gibt auf der anderen Seite kaum Beweise, dass Kant die Metaphysik Meiers kannte. Dennoch ist diese Kenntnis höchst wahrscheinlich, vor allem wenn man bedenkt, dass er ununterbrochen von 1755 bis 1796 über dessen Auszug aus der Vernunftlehre las.10 Wenn man nun Baumgartens und Meiers Lehre der transzendentalia näher betrachtet, was im Folgenden geschehen soll, dann merkt man umgehend, dass sich diese zwei Auffassungen nicht auf eine bloß höfliche Geste gegenüber der Tradition der Metaphysik reduzieren lassen. Besonders auffällig ist einerseits ganz allgemein, dass Baumgarten und Meier – im Unterschied zu allen ihren Vorgängern – einen großen Teil der Grundlage ihrer Ontologien unter den Begriffen der unitas, ordo, veritas, perfectio darstellen, andererseits aber auch die Tatsache, dass beide Philosophen systematisch auch die disjunktiven Begriffe der »Notwendigkeit« und »Zufälligkeit« in einem zweiten (und doppelten) Diskurs über die transzendentalia behandeln. Das ist leicht zu erkennen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Inhaltsverzeichnisse der beiden Ontologien richtet.
2. Die transcendentalia im System der Ontologia von A. G. Baumgarten Baumgartens lateinische Metaphysica (Halle 1739) gilt als eines der am besten verfassten und erfolgreichsten Lehrbücher des 18. Jahrhunderts.11 Die Gliederung des Werkes, das bis 1779 in sieben Auflagen veröffentlicht und 1766 von Meier ins Deutsche übertragen wurde,12 folgt dem für solche Lehrbücher feststehenden Aufbau in Ontologia (§§ 4–350), Cosmologia (§§ 351–500), Psychologia empirica und rationale (§§ 501–799) sowie Theologia (§§ 800–1000). Die Ontologia selbst zerfällt in zwei Hauptteile: a-α) Tractatio de praedicatis entium internis universalibus, und a-β) Tractatio de praedicatis entium internis disiunctivis. Die weitere Unterteilung erfolgt nach dem folgenden Muster: 10
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Oder präziser: von Sommersemester 1755 bis Wintersemester 1755/6 las Kant über Meiers Vernunftlehre (Halle 1752), von SS 1756 bis WS 1795/6 las er über dessen Auszug aus der Vernunftlehre (erste Ausgabe: Halle 1752). Kant nennt sie das »nützlichste und gründlichste unter allen Handbüchern seiner Art« (Immanuel Kant: Neue Anmerkungen zur Theorie der Winde. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. I, S. 503). Sie besteht aus exakt tausend Paragraphen, deren Inhalte wahrscheinlich erst aus Diktaten entstanden, die Baumgarten den Studenten in seinen Vorlesungen an der Universität in Halle gab. Vgl. dazu Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Stellung und Bedeutung in der Leibniz-Wolffschen Philosophie und seine Beziehung zu Kant. Nebst einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Borna, Leipzig 1907, S. 13. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buches (in Halle bei Carl Hermann Hemmerde im Jahr 1739) bekam Baumgarten einen Ruf nach Frankfurt an der Oder, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 1739. Wichtige Änderungen sind besonders in der zweiten Auflage von 1743 zu finden. Weitere Auflagen: 1750, 1757, 1763, 1768, 1779. Die Übersetzung von Meier erschien auch in Halle im Jahr 1766; eine zweite, mit Anmerkungen erweiterte Auflage der Übersetzung Meiers wurde 1783 von Johann August Eberhardt herausgegeben.
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1. Ontologia P. I. A) Prolegomena ontologica §. 4–6. B) Tractatio de praedicatis entium a) internis α) universalibus C. I. )אpossibile S. I. §. 7–18. )בconnexum S. II. §. 19–33. )גens S. III. cuius determinationes A) vel realitates, vel negationes §. 34–36. B) vel externae, vel internae, §. 37–38. & hae a) vel essentialia, vel affectiones §. 39–66. b) vel quantitates, vel qualitates §. 67–71. )דunum S. IV. §. 72–77. )הverum, ubi A) de ordine S. V. §. 78–88. B) de vero S. VI. §. 89–93. )וperfectum S. VII. §. 94–100. β) disiunctivis C. II. )אnecessarium et contingens S. I. §. 101–123. ……… [§. 113–116. unitas] [§. 117. ordo] [§. 118–120. veritas] [§. 121–123. perfectio] )ב... ... .. Bemerkenswert innerhalb der ersten Hälfte des α-Teils (א, ב, )גist die Tatsache, dass Baumgarten zwischen der ersten sectio, Über das Mögliche (Possibile: §§ 7–18), und der dritten sectio, Über das Wesen (Ens: §§ 34–71), eine entscheidende, zweite sectio, Über das Connexum, einfügt (§§ 19– 33). Nexus (Zusammenhang) ist nach Baumgarten die Verbindung, vermöge derer etwas als Grund und als begründet erkannt wird. Das Ding müsse in einer doppelten Art verknüpft werden: als rationatum (a parte ante) und als ratio (a parte post). Wichtig in diesem Zusammenhang ist die daraus resultierende Definition des Wesens selbst (ens) durch den Satz vom Grunde. Ein ens ist für Baumgarten das Mögliche, das in seiner Wirklichkeit bestimmt wird. Ein non ens ist dagegen das Mögliche, das unbestimmt bleibt (§§ 61–62). Die ganze zweite Hälfte des Caput I ist dagegen der Darlegung der Transzendentalien gewidmet, die als die innerlichen, allgemeinen Prädikate des Wesens überhaupt gelten. So handelt die vierte sectio ( )דvon der Einheit (unum: §§ 72–77), die fünfte (–הA) von der Ordnung (de ordine: §§ 78–88), die sechste (–הB) von der Wahrheit (de vero: §§ 89–93) und die siebte ( )וvon der Vollkommenheit (perfectum: §§ 94–100). Betrachtet man darüber hinaus beide Hauptteile der Ontologia, dann sieht man, dass eine geordnete Darlegung der Transzendentalien nicht nur in Caput I:α) Tractatio de praedicatis entium internis universalibus, sondern auch innerhalb der ersten sectio ( )אdes Caput II:β) Tractatio de praedicatis entium internis disiunctivis über die Prädikate des Notwendigen und des Zufälligen (§§ 101– 123) zu finden ist.13 Baumgarten entwickelt somit seinen Diskurs über die Transzendentalien 13
Man beachte vor allem, dass nach den zwei Behandlungen de praedicatis entium internis (a-αuniversalibus und a-βdisiunctivis) eine b) Tractatio de praedicatis entium externis folgt, in der Baumgarten aber nicht auf seine Auffassung der Transzendentalien zurückkommt.
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zugleich und parallel in den vier Sektionen IV, V, VI, VII (ד, הA, הB, )וdes ersten Kapitels (α) über die Möglichkeit des Wesens und in der Sektion I ( )אüber Notwendigkeit und Zufälligkeit des zweiten Kapitels (β) der Ontologia.
3. Die transcendentalia im System der Ontologie von G. F. Meier Meiers Ontologie erschien sechzehn Jahre später, im Jahre 1755 in Halle beim Verlag Johann Justinus Gebauers.14 Es handelte sich um den ersten der vier Bände seiner gesamten Metaphysik, die erst 1759 mit der Natürlichen Theologie vervollständigt wurde.15 Das Werk war einerseits das Resultat der schriftlichen Fassung der Metaphysik-Vorlesungen, die Meier selbst in der Halleschen Universität auf der Grundlage der Metaphysica Baumgartens hielt.16 Dasselbe Werk bildete andererseits von Anfang an kein richtiges Schulbuch, sondern galt viel mehr als eine Popularisierung, gleichsam eine populäre Reproduktion, der Metaphysica Baumgartens und der metaphysischen Systeme der Schulphilosophie insgesamt.17 Die Mehrheit der Abschnitte des ersten Hauptteils des Werkes (Von den innerlichen Prädikaten aller möglichen Dinge) ist der Metaphysica Baumgartens entsprechend der Darlegung der Transzendentalien gewidmet. So handelt Abschnitt 4. (wie schon sectio IV. bei Baumgarten) »von der Einheit«, Abschnitt 5. (wie sectio V.) »von der Ordnung«, Abschnitt 6. (wie sectio VI.) »von der Wahrheit«, Abschnitt 7. (wie sectio VII.) »von der Vollkommenheit«. Die Transzendentalien gelten hier als die innerlichen, allgemeinen Prädikate des Wesens überhaupt. Betrachtet man zugleich den zweiten Teil (Von den innerlichen Prädikaten der möglichen Dinge, die nicht ganz allgemein sind), dann sieht man, dass hier wie schon bei Baumgarten eine ausführliche Darstellung der Transzendentalien innerhalb des ersten Abschnitts des zweiten β-Teils über die Prädikate des Notwendigen und des Zufälligen zu finden ist. Auch hier erfolgt das nach dem Muster:
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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Marcus Konrad in diesem Band. In der Folge: Georg Friedrich Meier: Ontologie. Halle, 1755; ders.: Cosmologie. Halle 1756; ders.: Psychologie. Halle 1757; ders.: Natürliche Theologie. Halle 1759. Eine zweite unveränderte Auflage der gesamten Metaphysik wurde dann im Jahr 1765 auch in Halle veröffentlicht. Nach Meiers Biograph Samuel Gotthold Lange (Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778) konnte nämlich der Autor für die Verschriftlichung seines Metaphysik-Buches eigenhändig angefertigte Mitschriften aus den Metaphysik-Vorlesungen Baumgartens benutzen. Wenn man Johann Gottlieb Buhles allgemeine Einteilung der Werke Meiers in drei generelle Kategorien übernimmt, und zwar in 1. »bloß compendiarische Wiederholungen oder auch weitläufigere Erläuterungen der Leibniz-Wolffschen Philosophie und insbesondere der Baumgartschen«, 2. »Abhandlungen über einzelne philosophische Materien«; und 3. »Resultate originaler und eigener Untersuchungen«, dann zählt die Metaphysik sicherlich zu der ersten Klasse, der »bloß compendiarische[n] Wiederholungen und weitläufigere[n] Erläuterungen der Schulphilosophie« (Johann Gottlieb Gerhard Buhle: Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. 6 Bde. Göttingen 1800–1804; zitiert nach Ricardo Pozzo: G. F. Meiers Vernunftlehre. Eine historisch-systematische Untersuchung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 27).
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I. Die Ontologie. ……… α. Von den innerlichen Prädikaten aller möglichen Dinge. 1. Von dem Möglichen und Unmöglichen, §. 21–31. 2. Von dem Satze des zureichenden Grundes, §. 32–44. 3. Von dem Dinge überhaupt, §. 45–70. 4. Von der Einheit, §. 71–77. 5. Von der Ordnung, §. 78–88. 6. Von der Wahrheit, §. 89–93. 7. Von der Vollkommenheit, §. 94–101. β. Von den innerlichen Prädikaten der möglichen Dinge, die nicht ganz allgemein sind. 1. Von dem Nothwendigen und Zufälligen §. 102–121. ……… [§. 112. Von der notwendigen und zufälligen Einheit] [§. 113. Von der notwendigen und zufälligen Ordnung] [§. 114. Von der notwendigen und zufälligen Wahrheit] [§. 115. Von der notwendigen und zufälligen Vollkommenheit] 2. … … … Der Diskurs in den Abschnitten 4–7 des α-Teils verläuft – in Meiers Ontologie wie schon bei Baumgarten – quasi parallel zu demjenigen, den Meier und Baumgarten in Bezug auf den Begriff der »Notwendigkeit« in Abschnitt 1 des β-Teils entwickeln. Der Grund dieser Konkordanz liegt in der engen Verwandtschaft zwischen den Begriffen der Möglichkeit und der Notwendigkeit. Es lohnt sich daher zunächst, d. h. vor einer inhaltlichen Darstellung der Transzendentalien im System der Metaphysik, die einander verbundenen Grundbegriffe der »Möglichkeit« und der »Notwendigkeit« nach der allgemeinen Auffassung der Schulphilosophie zu betrachten.
4. Möglichkeit und Notwendigkeit Für Wolff – ebenso wie für Baumgarten und Meier – ist das Mögliche der erste Begriff überhaupt (bzw. der zweite nach dem Unmöglichen) und gilt als Definition des Seins selbst. Ens ist, was existieren kann, d. h. alles, dessen Existenz keinen Widerspruch enthält. Das Mögliche bezeichnet somit ein aliquid; das Unmögliche ein nihil. Ein Wesen ist deswegen möglich (und ist deswegen ein Wesen), weil alle wesentlichen Bestimmungen (die essentialia) in ihm nicht in gegenseitigem Widerspruch stehen. Essenzen sind daher zunächst und vor allem möglich. Besonders klar äußert sich Meier in diesem Sinne in § 51 seiner Ontologie: Allein wir verstehen durch das Wesen einer möglichen Sache, den Inbegriff ihrer wesentlichen Stücke, oder welches einerley ist, die innerliche Möglichkeit derselben. Denn eine Sache hat eine innerliche Möglichkeit, in so ferne das Mannigfaltige in derselben vor sich betrachtet, das ist, innerliche Bestimmungen derselben einander nicht widersprechen. Nun sind die wesentlichen Stücke innerliche Bestimmungen, die bey einander möglich sind. Es ist demnach eine Sache innerlich möglich, wenn ihre wesentlichen Stücke beysammen sind. Folglich besteht die innerliche Möglichkeit in dem Inbegriffe der wesentlichen Stücke. Und also ist es einerley, ob ich sage: das Wesen sey der Inbegrif der wesentlichen Stücke, oder es sey die innerliche Möglichkeit der Sache.18
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Meier: Ontologie (s. Anm. 15), § 51.
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Die Essenzen sind nun nicht nur möglich, sondern zugleich notwendig. »Essentiae rerum sunt necessariae«, bemerkt Wolff in § 299 seiner Ontologia. Die essentialia, welche die essentia der Dinge bilden, können sich nämlich zunächst nicht widersprechen: Ein sterbliches und unsterbliches Wesen ist beispielsweise unmöglich. Sie sollen aber vor allem der Definition, der sie angehören, nicht widersprechen. Ein zweifüßiger, rationaler, nicht-sterblicher Mensch ist unmöglich, denn die Sterblichkeit gehört zur Definition des Menschen selbst. Das Wesen ist somit deswegen notwendig, weil die Behauptung seines partiellen oder totalen Gegenteils unmöglich ist. Sie widerspricht der Definition, die nach dem Prinzip der unicitas determinabilitatis nicht anders sein oder werden kann. Möglichkeit und Notwendigkeit sind in diesem Sinne ein und dasselbe: Sie sind die Merkmale aller Wesen. Mit den Worten der Deutschen Metaphysik Wolffs: »Da nun die Möglichkeit an sich etwas nothwendiges ist, das Wesen aber eines Dinges darinnen bestehet, daß es auf eine gewisse Art und Weise möglich ist; so ist das Wesen nothwendig«.19 Kurz zusammengefasst: Was möglich ist, kann nicht zugleich unmöglich sein und ist eben deswegen notwendig. Diese fundamentale Gleichsetzung von Möglichkeit und Notwendigkeit wird von Meier in § 109 der Ontologie folgendermaßen dargestellt: Die wesentlichen Stücke und die Eigenschaften sind, in allen möglichen Dingen, eben so nothwendig, als das Wesen. Denn so bald auch nur ein einziges wesentliches Stück, oder eine einzige Eigenschaft, von den Dinge weggenommen würde, das ist, so bald ihr Gegentheil in dem Dinge angenommen würde, so bald fält das Wesen weg. Nun ist das Wesen die innerliche Möglichkeit und so bald dieselbe wegfält, entsteht ein innerlicher Widerspruch. Folglich verursacht das Gegentheil der wesentlichen Stücke und Eigenschaften in einem Dinge einen innerlichen Widerspruch; das ist: dieses Gegentheil ist schlechterdings unmöglich. Dasjenige, dessen Gegentheil schlechterdings unmöglich ist, ist schlechterdings nothwendig. Folglich sind alle wesentliche Stücke und Eigenschaften aller möglichen Dinge schlechterdings nothwendig.20
Was heißt aber – genauer betrachtet – »Notwendigkeit« für Wolff, für die Philosophen seiner Schule und für Meier selbst? Wolff definierte das Notwendige im § 279 der Ontologia als »id cuius oppositum impossibile, seu contradictionem involvit«.21 Thomas von Aquin und Johann Adam Scherzer waren die zwei Philosophen, die er als Vorläufer dieser Definition bezeichnete.22 Thomas defi19
20 21
22
Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle 1720. Neue Auflage hin und wieder vermehrt. Halle 1751 [Deutsche Metaphysik], § 38. Meier: Ontologie (s. Anm. 15), § 109. Die Begriffe von necessarium & contingens werden in den §§ 279–327 der Ontologia (s. Anm. 7) behandelt, d. h. in dem dritten Abschnitt des ersten Teils des Werkes, nach der Betrachtung der entgegen gesetzten Begriffe von identitas & similitudo und von singularitas & universalitas und vor den Begriffen der quantitas, der qualitas, des ordinis & disordinis, der veritas, der perfectio & imperfectio. Eine ähnliche Definition des Notwendigen ist auch im § 36 der Deutschen Metaphysik (Was nothwendig sei) zu lesen: »Wenn dasjenige, was einem Dinge entgegen gesetzet wird, etwas widersprechendes in sich enthält; so ist dasselbe nothwendig. Da nun dasjenige, so etwas widersprechendes in sich enthält, unmöglich ist; so ist dasjenige unmöglich, was etwas nothwendigem entgegen gesetzet wird: und wenn das, welches einem Dinge entgegen gesetzet wird, unmöglich ist; soist dasselbe Ding nothwendig«. Im § 8 von der Luculenta Commentatio schreibt Wolff: »Ego necessarium definivi per id, cuius oppositum contradictionem involvit, seu impossibile existit« (Christian Wolff: De differentia nexus rerum sapientis et fatalis necessitatis, nec non Harmoniae prestabilitae et hypothesium Spinosae luculenta Commentatio, in qua simul genuina Dei existentiam demonstrandi ratio expenditur et multa religionis naturali capita illustrantur. Halle 1723, S. 17). Vgl. Wolff: Ontologia (s. Anm. 7), § 293.
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nierte das Notwendige als »illud, quod non contingit aliter se habere«;23 Leibniz’ Lehrer Scherzer bezeichnete in seinem Vade mecum das Notwendige nach Aristoteles De Interpretatione als alles, »quod aliter se habere non potest. Ut, hominem esse animal«.24 Wie Scherzer durch dieses Beispiel zum Ausdruck bringt, bezieht sich die Notwendigkeit auf das Wesen und auf den wesentlichen Charakter der Dinge. Die essentia der Dinge ist absolut notwendig.25 »Essentiae rerum sunt necessariae«, so Wolff.26 Die attributa sind auch absolut notwendig,27 denn sie sind die Eigenschaften der Dinge, die im Wesen selbst begründet werden (z. B. das Sehen für das Auge). Die modi, obwohl sie den Dingen nicht wesentlich zukommen, können trotzdem absolut notwendig sein, aber nur wenn ihre Möglichkeit sehr nahe am Wesen liegt: »Inflammabilitas ligni absolute necessaria est«.28 Die Modi sind aber zumeist nur hypothetisch notwendig: »Modorum possibilitas remota est hypothetice necessaria«.29 Warm zu sein ist zum Beispiel der modus eines Steines. Diese graduelle Einstufung der unterschiedlichen Niveaus der Notwendigkeit in Bezug auf essentialia, attributa und modi ist ein wesentlicher Charakter der Philosophie Christian Wolffs, die sich letztendlich auf der Grundlage der Verwechslung und Vermischung des Logischen bzw. des Mathematischen mit dem Realen strukturiert, und innerhalb der die Notwendigkeit (als logisch und real zugleich) die Scharnierrolle zwischen den beiden Disziplinen und Wirklichkeitsbereichen spielen soll.30 Die Zufälligkeit wird durch diese Einstufung in die Notwendigkeit selbst, und zwar in die »hypothetische Notwendigkeit« reduziert. »Quod hypothetice necessarium est, in se contingens est«.31 Das relativ Notwendige ist an sich zufällig. Die Dinge sollen daher nicht in »notwendige und zufällige«, sondern eher in »absolut und hypothetisch notwendige« aufgeteilt werden. Diese fundamentale Trennung des absolut und des hypothetisch Notwendigen wird auch von Meier in § 104, d. h. im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels der Ontologie, nach der Definition der Notwendigkeit in § 103 und vor der durchaus wolffschen Erklärung der Anwendung 23 24
25 26 27 28 29 30 31
Thomas von Aquin: In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Hg. von Raymund M. Spiazzi. Torino 21971, lib. IV, lect. 6, n. 832. Johann Adam Scherzer: Vade Mecum sive Manuale philosophicum quadripartitum. Leipzig 1654, pars I, S. 139. Das Notwendige, welches einer Sache an sich zukommt, ist hier gerade das definiens oder ein Teil des definiens relativ auf das definiendum. Vgl. dazu Aristoteles: Metaphysik, Γ (1006 b). Das Verhältnis zwischen Form und Notwendigkeit wird von Aristoteles z. B. in Metaphysik, E (1026 bf.) in Bezug auf die Definition des Akzidens als Materie entwickelt. Wissenschaft kann es in diesem Sinne nur von dem Notwendigen oder Allgemeinen geben (dazu auch Metaphysik, K [1065 af.], Zweite Analytik, I 8, 75 b). »Essentiae rerum sunt absolute necessariae […] cum in earum necessitate demonstranda non supponatur nisi definition«. Wolff: Ontologia (s. Anm. 7), § 303. Ebd., § 299. »Attributa rerum absolute necessaria sunt« (ebd., § 304). Ebd., § 305. Ebd., § 307. Von einer »determinazione progressiva« schreibt zum Beispiel Mariano Campo in Cristiano Wolff e il razionalismo precritico. Varese 1953, an beachte z. B. S. 177f. Wolff: Ontologia (s. Anm. 7), § 318. »Sola necessitas absoluta contingentiae repugnat, seu contingentiam tollit; hypothetica non item« (Ontologia, § 319). »La nécessité hypothétique« – kommentiert École – »loin de s’opposer à la contingence comme la nécessité absolue, ne fait qu’unavec elle, car l’existence n’appartient pas à l’être contingent en vertu de son essence, etlorsqu’il commence d’exister, elle n’en reste pas moins hypothétiquement nécessaire«. École: La métaphysique de Christian Wolff (s. Anm. 7), vol. I, p. 176.
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derselben auf das Wesen der Dinge und auf ihre attributa, modi und relationes (§§ 108–111) eingeführt. Dieselbe Trennung spiegelt sich auch in seiner fundamentalen Unterscheidung der zwei ersten Sektionen der Ontologie wider. In der ersten Sektion (»Von dem Möglichen und Unmöglichen«) wird das Wesen als solches in seiner absoluten Notwendigkeit gezeigt. In der zweiten Sektion (»Von dem Satze des zureichenden Grunde«) wird die hypothetische Notwendigkeit aller Ereignisse dargelegt.
5. Die transzendentale Bestimmung der Notwendigkeit Auf dieser Grundlage kann man die Ontologia von Baumgarten und die Ontologie von Meier in der engen Konformität ihrer Darstellung der Transzendentalien des Möglichen (in den letzten sectiones des ersten Teils) und des Notwendigen (in der ersten sectio des zweiten Teils) betrachten. Die Einheit ist deswegen notwendig, weil sie die Unmöglichkeit der Trennung der Bestimmungen im Wesen zeigt. »Unitas transcendentalis est absolute necessaria«, so Baumgarten in § 116 der Ontologia. Hierzu schreibt Meier: Alle Dinge sind nothwendig, in so ferne sie Eins sind, oder eine Einheit haben. Oder die Einheit verursacht allemal eine Nothwendigkeit. Denn in so ferne ein Ding eine Einheit hat, in so ferne sind seine Bestimmungen von einander unzertrennlich […] Die unbedingte Einheit eines Dinges besteht darin, wenn es schlechterdings unmöglich ist, daß seine Bestimmungen getrennt werden sollten. Folglich ist das Gegentheil einer iedweden derselben schlechterdings unmöglich, und sie sind also schlechterdings nothwendig.32
Da in einem möglichen Ding eine Vielheit ist und die Vielheit des Dinges sogar »eine innere Bestimmung desselben« ist,33 ist auch die metaphysische Einheit dieser vielen Bestimmungen ein konstitutiver und notwendiger Charakter des Dinges. »Diese Einheit« – so Meier – »können wir nicht erfahren, sondern wir müssen sie mit dem Verstande zu begreifen suchen«.34 Man hat eine notwendige Ordnung der wesentlichen Stücke eines Dinges, »wenn es erstlich schlechterdings unmöglich ist, daß die einander zugeordneten Dinge nicht beysammen seyn sollten, und zum andern, wenn es eben so unmöglich ist, daß sie nicht auf einerley Art beysammen seyn sollten«.35 Eine Ordnung, erklärte schon Baumgarten, ist im Wesen notwendig, weil das Wesen sich nur durch das Zusammensein der zusammen geordneten Eigenschaften und durch die Übereinstimmung derselben definieren lässt.36 In Abschnitt 5. definiert Meier die Ordnung als »die Uebereinstimmung und Aehnlichkeit in der Art und Weise, wie mehrere Dinge neben einander oder nach einander da sind«.37 Was aber ein geordnetes Nebeneinander und Nacheinander allein garantiert, ist die »Regel«, das ist, laut Meier, »ein Satz, welcher aussagt, worin die Gleichförmigkeit einer Bestimmung mit dem Grunde bestehe«.38 32 33 34 35 36 37 38
Meier: Metaphysik (s. Anm. 15), § 112. Ebd., § 76. Ebd., § 73. Ebd., § 113. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 12), § 117. Meier: Metaphysik (s. Anm. 15), § 85. Ebd., § 80.
Meiers transzendentale Definition einer Ontologie der Zufälligkeit
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»Die nothwendige metaphysische Wahrheit, in einem iedweden möglichen Dinge, ist allemal schlechterdings nothwendig: denn sie besteht in der Zusammenordnung, der wesentlichen Stücke und Eigenschaften, nach den Sätzen des Widerspruchs und des zureichenden Grundes«.39 »Veritas transcendentalis« – schrieb Baumgarten – »est ordo in essentialibus et attributis«.40 In Abschnitt 6. definiert Meier die metaphysische Wahrheit einer Sache als die »innere Möglichkeit« selbst und daher als den »Zusammenhang ihrer innerlichen Bestimmungen«.41 Die Aufgabe des Philosophen besteht dementsprechend in der Suche nach den innerlichen Kennzeichen einer möglichen Sache einerseits und in der Erkenntnis der Zusammenhänge der Sachen andererseits. Die notwendige Vollkommenheit eines Wesens muss so beschaffen sein, »daß die ihr entgegengesetzte Unvollkommenheit gar nicht, nicht einmal innerlich möglich ist«.42 »Perfectio transcendentalis est absolute necessaria« laut Baumgarten.43 In Abschnitt 7. der ersten Sektion der Ontologie definiert Meier die Vollkommenheit als die »Zusammenstimmung vieler Dinge zu Einer Realität«.44 Vollkommenheit und Ordnung seien immer zusammen. Mit dem Begriff der Vollkommenheit sei darüber hinaus »der Begriff vom Guten, auf genaueste verwandt«.45
6. Die transzendentale Bestimmung der Zufälligkeit Durch die zweimal doppelte Behandlung der Transzendentalien (erstmals im α-Teil und im βTeil der Ontologie und dann auch bezüglich »Notwendigkeit« und »Zufälligkeit« in Abschnitt 1. des β-Teils) definieren sich drei unterschiedliche Diskurse über die Transzendentalien bezüglich 1) Möglichkeit, 2) Notwendigkeit und 3) Zufälligkeit. Die klassische scholastische Gleichsetzung von 1) Möglichkeit und 2) Notwendigkeit ermöglicht einerseits die systematische Vertiefung der Lehre des Seienden durch die Bestimmung der Transzendentalien; sie öffnet andererseits den Weg eines ganz autonomen und neuen Diskurses über 3) die Zufälligkeit innerhalb der Ontologie. Dies bleibt in der Metaphysica Baumgartens noch implizit. In Meiers Ontologie wird diese relevante Neuheit in das Zentrum der Betrachtungen über die modale Bestimmung der Transzendentalien gesetzt. Betrachtet man zunächst den Begriff der Einheit, dann bemerkt man Folgendes: Neben der unitas transcendentalis als Kennzeichen der Notwendigkeit thematisiert Baumgarten auch die duplicitas als Merkmal der Zufälligkeit: »Possunt itaque definiri 1) necessarium, per unico tantum, 2) contingens, per duplici modo determinabile, 3) necessitas per unicitatem, 4) contingentia perduplicitatem determinabilitatis«.46 Meier hält aber nicht die duplicitas (Zweiheit) für ein Merkmal der Zufälligkeit. Er betont eher, dass neben der unbedingten bzw. metaphysischen Einheit auch eine »bedingte Einheit«47 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Ebd., § 114. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 12), § 118. Meier: Metaphysik (s. Anm. 15), § 89. Ebd., § 115. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 12), § 123. Meier, Metaphysik (s. Anm. 15), § 94. Ebd., § 99. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 12), § 114. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 15), § 72.
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eingeräumt werden muss, die zugleich eine »bedingte Notwendigkeit« ist. Denn, so Meier, »wenn nun alle Dinge nichts weiter als eine unbedingte Einheit hätten, so wäre alles schlechterdings nothwendig«.48 Während Baumgarten die unterschiedlichen Formen der Bestimmbarkeit zu definieren versucht, will Meier zuallererst den Sinn der Eingliederung der Zufälligkeit ins System der Ontologie definieren. Es geht für ihn somit von Anfang an um die zufällige Einheit, die zufällige Ordnung, die zufällige Wahrheit und die zufällige Vollkommenheit der Dinge. Die zufällige Ordnung ist die Ordnung zwischen Dingen, »die auch nicht beysammen seyn können, und die, wenn sie beysammen sind, auch auf verschiedene Art beysammen seyn können. Z. E. die Ordnung einer Bibliothek ist zufällig«.49 Gegen die Fatalisten, die überall nur Ordnung finden, schreibt Meier am Ende des § 113: So bald man […] beweisen kann, daß nicht nur die Dinge und Begebenheiten in der Welt nicht beysammen seyn könnten, sondern daß sie auch, wenn beysammen sind, auf verschiedene Art beysammen seyn könnten, so bald ist dargetan worden, daß in der Welt eine zufällige Ordnung angetroffen werde.50
Eine Wahrheit ist zufällig, wenn deren Gegenteil möglich ist. Das heißt: »[…] bey der es nicht nur möglich ist, daß die Dinge nicht beysammen sind, in deren Reihe sie angetroffen wird, sondern daß diese Dinge auch auf keine übereinstimmige Art beysammen sind«.51 Leicht lassen sich Beispiele in diesem Sinne finden: Z. E. die Wahrheit in der Historie ist nur zufällig. Denn die Begebenheiten, die in derselben erzehlt werden, hätten nicht nur auch nicht beysammen seyn, und auch nicht aufeinander folgen können, sondern es wäre auch möglich gewesen, daß unter ihnen eine Unordnung, oder auch eine andere Ordnung befindlich gewesen [wäre].52 Da es, ausser der schlechterdings nothwendigen Einheit, Ordnung und Wahrheit, auch noch eine zufällige gibt; so kann auch eine Vollkommenheit gedacht werden, die zufällig ist. Wenn nemlich in einem Dinge seine mannigfaltigen Bestimmungen zu Einer Realität zusammenstimmen, und es ist an sich möglich, daß einige derselben entweder keinen Grund von derselben, oder wohl gar einen Grund zu ihrem Gegentheil enthalten; so ist [sie] eine Vollkommenheit, die an sich zufällig ist.53
Ein zufälliges Ding muss nach Meier vor allem zufällige Eigenschaften haben. Umgekehrt kann etwas, das zufällige Eigenschaften hat, kein notwendiges Ding sein. Zum Beispiel: »Unsere Gedanken, Leidenschaften, Entschlüsse u. s. w. sind zufällige Beschaffenheiten, und sie beweisen demnach unsere Zufälligkeit«.54 Da die Wirklichkeit – nach Meier wie für die meisten Philosophen der Schulphilosophie – eine innerliche Bestimmung ist, muss auch die Wirklichkeit eines zufälligen Dinges eine zufällige Beschaffenheit sein: Man kann also ein zufälliges Ding durch ein Ding erklären, dessen Würklichkeit eine zufällige Beschaffenheit ist. Nun haben die zufälligen Beschaffenheiten nur einen unzureichenden Grund in dem Wesen, oder in der innerlichen Möglichkeit. Folglich ist ein zufälliges Ding ein Ding, dessen Wirklichkeit keinen zureichenden Grund in seinem Wesen hat; es ist nicht bloß, durch sein Wesen, würklich; 48 49 50 51 52 53 54
Ebd., § 112. Meier: Metaphysik (s. Anm. 15), § 113. Ebd. Ebd., § 114. Ebd. Ebd., § 115. Ebd., § 120.
Meiers transzendentale Definition einer Ontologie der Zufälligkeit
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ausser seiner innerlichen Möglichkeit wird noch mehr dazu erfordert, wenn es würklich seyn soll, und man kan nicht schliessen: wenn ein zufälliges Ding möglich ist, so ist es auch würklich.55
7. Schluss Die hier dargestellte Lehre der Zufälligkeit definiert deswegen einen privilegierten Ort in der gesamten Entwicklung der Philosophie Georg Friedrich Meiers, weil der am Anfang dieses Aufsatzes erwähnte Übergang von dem wolffischen Rationalismus zum lockeschen Empirismus für den halleschen Philosophen ohne Risse, d. h. erst und vor allem auf Grund von einer Reihe von Kompromissen und von systematischen Eingliederungen stattfinden sollte. In diesem Sinne war für Meier ausnehmend wichtig, im Rahmen seines Systems der Metaphysik möglichst viel Platz für Gegenstände einzuräumen, die in ihren letzten Gründen nicht rational aufgefasst werden können. Die Lehre der zufälligen Einheit, der zufälligen Ordnung, der zufälligen Wahrheit und der zufälligen Vollkommenheit definiert einen der privilegierten Orte für die Einbeziehung einer Logik der Grenzen und der Schranken der menschlichen Erkenntnis in die Grundlage der Metaphysik.
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Ebd., § 121.
FALK WUNDERLICH
Meiers Verteidigung der prästabilierten Harmonie
Georg Friedrich Meiers Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung, der 1743 in erster Auflage bei Hemmerde in Halle erschien, ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen gehört er zu den umfangreichsten zeitgenössischen Monographien, die sich speziell der Lehre von der prästabilierten Harmonie widmen.1 Die meisten ihrer Anhänger hatten nämlich wenig Originelles dazu beizutragen, was über Leibniz oder Wolff hinausging; mit Ausnahme von Alexander Gottlieb Baumgarten, der das Thema vor allem, in bekannt kurz angebundener Weise, in einigen Paragraphen der Metaphysica abhandelt.2 Zum anderen fällt Meiers Beweis in eine Zeit, in der sich die Lehre von der prästabilierten Harmonie veritabler influxionistischer Konkurrenz ausgesetzt sah, von der sie schließlich, spätestens in den 1760er und 1770er Jahren, weitgehend zurückgedrängt wurde. Damit ist Meiers Schrift eben nicht nur ein Beweis, wie der Titel besagt, sondern auch eine Verteidigungsschrift. Zugleich ist dabei aber der »Beweis« der prästabilierten Harmonie im engeren Sinne nicht das eigentlich Bemerkenswerte, sondern Meiers Auffassung, worin sie eigentlich besteht – in einem wechselseitigen »idealen Einfluß« aller Substanzen in der Welt nämlich. Unter einem idealen Einfluss versteht Meier, wie im Folgenden zu sehen sein wird, ein solches Leiden einer Substanz, das zugleich ihre eigene Handlung ist, im Unterschied zum reellen oder physischen Einfluss, bei dem auf der Seite des Leidenden gar keine Handlung erfolgt. Nach einer Diskussion der Ausgangsproblemlage bei Leibniz (Abschnitt 1) wende ich mich einigen Aspekten der Diskussion über die prästabilierte Harmonie im allgemeinen zu (Abschnitt 2), bevor ich mich mit der Anlage von Meiers Schrift (Abschnitt 3) und dem Kernproblem des »idealen Einflusses« befasse (Abschnitt 4).
1
2
Georg Friedrich Meiers Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Halle 1743. 21752. Der vorliegende Beitrag ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Denkende Materie versus Influxus physicus« (WU 695/1-1). Ich danke der DFG für die großzügige Förderung. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Editio VII. Halle 1779, S. 147–157.
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1. Leibniz über die prästabilierte Harmonie Die Lehre von der prästabilierten Harmonie steht bekanntlich im Zentrum von Leibniz’ Metaphysik. Im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem stellt sie eines der klassischen »drei Systeme« neben Okkasionalismus und Influxus physicus dar, obwohl Leibniz mit seiner Behauptung, dass einfache Monaden die einzigen Grundbestandteile der Welt darstellen, eigentlich nicht mehr zum Dualismus gerechnet werden kann.3 Doch die prästabilierte Harmonie beschränkt sich nicht auf das Leib-Seele-Problem. Im Kern ist sie vielmehr eine allgemeine Kausaltheorie, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Entitäten in der Welt überhaupt kausal wirksam sein können. Geschaffene Monaden können Leibniz zufolge nur in einer Hinsicht kausale Wirksamkeit ausüben, nämlich auf ihre eigenen Zustände. Diese zentrale These bringt Leibniz mit dem bekannten Bild der »Fensterlosigkeit« der Monaden zum Ausdruck: »Es ist nur ein Vorurteil, das in uns den Gedanken aufkommen läßt, als empfinge unsre Seele von außen zugeführte Bilder und als hätte sie Türen und Fenster«.4 Malebranche hatte die Frage, welche Entitäten kausal wirksam sein können, noch restriktiver beantwortet: Weil für Malebranche etwas nur dann als Ursache von etwas anderem gelten kann, wenn sich die entsprechende Wirkung mit Notwendigkeit einstellt, scheiden alle endlichen Substanzen als wirksame Akteure aus und Gott bleibt als einziger kausaler Akteur übrig.5 Das, was wir als Kausalverhältnisse zwischen endlichen Substanzen zu beobachten meinen, ist dem Okkasionalismus zufolge nur scheinbar, und nur Gelegenheit für Gott, seine kausale Wirksamkeit zu realisieren. Leibniz unterscheidet sich von Malebranche dadurch, dass er einen Fall von Kausalität zulässt, der von Gott unabhängig ist, nämlich innerhalb der endlichen Monaden. Die Monade verursacht den jeweils nächsten folgenden Vorstellungszustand mittels ihres jetzigen allein aufgrund der in diesem liegenden Ressourcen.6 Während intra-substantiale Verursachung also zugelassen wird, ist inter-substantiale, außer für Gott, ausgeschlossen. Dennoch sind Monaden nicht vollständig von anderen Monaden getrennt, Leibniz verteidigt keinen »Monadensolipsismus«. Vielmehr ist die korrekte Widerspiegelung der Ereignisse außerhalb der Monade in ihren Vorstellungszuständen essentieller Bestandteil der prästabilierten Harmonie. Gott hat die Monaden bereits bei der Schöpfung so einander angepasst, dass sich ihre Vorstellungszustände harmonisch entsprechen. Leibniz bezeichnet diese indirekte
3 4 5
6
Vgl. §§ 1–3 der Monadologie. In: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1885, Bd. VI, S. 607. Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de metaphysique. In: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. 2 Bde. Hamburg 1966, Bd. II, S. 171. Vgl. Nicolas Malebranche: De la recherche de la vérité. In: Œuvres de Malebranche. Hg. von Geneviève Rodis-Lewis. Paris 1991, Bd. I, S. 422–428. Da die Lehre von der prästabilierten Harmonie einige Übereinstimmungen mit dem Okkasionalismus aufweist, ist Leibniz des Öfteren, etwa von Antoine Arnauld, vorgehalten worden, er habe eigentlich nur einen modifizierten Okkasionalismus vorgelegt. Zu dieser Diskussion vgl. Mark Kulstad: Two Interpretations of the Pre-Established Harmony in the Philosophy of Leibniz. In: Synthese 96.3 (1993), pp. 477–504. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Leibniz den gegenwärtigen Zustand einer Monade als »natürliche Folge« des vorhergehenden bezeichnet, vgl. Leibniz: Monadologie (s. Anm. 3) § 22.
Meiers Verteidigung der prästabilierten Harmonie
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Abhängigkeit als den »idealen Einfluß einer Monade auf eine andre, d. h. eine Wirkung, die nur durch die Vermittlung Gottes zustande kommt«.7 Gott hat die Schöpfung also so eingerichtet, dass sich die Zustände der verschiedenen Monaden harmonisch entsprechen, d. h. die Monaden bringen ihre eigenen Zustände aus eigener Kraft so hervor, dass sie zugleich denen aller anderen Monaden angepasst sind. Das Konzept des idellen Einflusses ersetzt für Leibniz das des physischen, welcher zwischen Monaden generell ausgeschlossen ist. Gerade dieser so genannte ideelle Einfluss steht im Mittelpunkt von Meiers Verteidigung der Lehre von der prästabilierten Harmonie, die er 1743 mit seiner Schrift Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung vorlegt.
2. Die weitere Entwicklung der Lehre von der prästabilierten Harmonie Wie bereits erwähnt »beweist« Meier die prästabilierte Harmonie zu einer Zeit, in der diese, trotz der Stärke der »Leibniz-Wolffschen Philosophie« im Allgemeinen, keineswegs unumstritten ist. Im Folgenden möchte ich drei zentrale Aspekte dieser Entwicklung kurz beleuchten, ohne dass ich sie hier ausführlicher diskutieren könnte. (1) Christian Wolff entwickelt eine Variante der Lehre von der prästabilierten Harmonie, die von Leibniz deutlich abweicht. Für Wolff erklärt die prästabilierte Harmonie nur das Verhältnis von Körper und Seele und ist im Unterschied zu Leibniz keine universale oder kosmologische Relation, sondern nur eine psychologische. Dies hängt direkt mit den panpsychistischen Implikationen von Leibniz’ Theorie zusammen, die Wolff ablehnt: Für Leibniz sind die Zustände aller Monaden (also auch die, aus denen materielle Körper zusammengesetzt sind) grundsätzlich Vorstellungszustände. Alle Monaden weisen Leibniz zufolge die beiden Grundbestimmungen der Perzeption und der Appetition (des Bestrebens, ihren Vorstellungszustand zu ändern) auf.8 Für Wolff dagegen müssen nicht alle einfachen Wesen über Vorstellungskräfte verfügen.9 (2) Seit den 1730er Jahren entwickelt sich eine nicht geringe Anhängerschaft für Varianten des Influxionismus, der Auffassung also, dass Seele und Körper direkt (physisch) aufeinander einwirken können, trotz ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit. Als ernstzunehmende Option führt den Influxionismus zunächst Johann Christoph Gottsched wieder in die Diskussion ein.10 Aus der Wolff-Schule ist vor allem auch Martin Knutzen mit einer Influxus-Theorie hervorge7 8 9
10
Ebd., § 51. In: Leibniz: Hauptschriften (s. Anm. 4), Bd. II, S. 447; vgl. auch Discours, §§ 14–15. In: Leibniz: Die philosophischen Schriften (s. Anm. 3), Bd. IV, S. 439–441. Leibniz: Monadologie § 15. In: Ders.: Die philosophischen Schriften (s. Anm. 3), Bd. VI, S. 609. Z. B. Christian Wolff: Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata. Frankfurt, Leipzig 1734, S. 542– 587. Vgl. Mario Casula: Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A. G. Baumgarten. In: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses. Wiesbaden 1975, Bd. III, S. 397–415, hier S. 406–410; Hans Poser: »Da ich wider Vermuthen gantz natürlich auf die vorher bestimmte Harmonie des Herrn von Leibnitz geführet ward, so habe ich dieselbe beybehalten«. Christian Wolffs Rezeption der prästabilierten Harmonie. In: Alexandra Lewendoski (Hg.): Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 49–63. Johann Christoph Gottsched: Vindiciarum systematis influxus physici sectio posterior philosophica, caput secundum anti-Leibnitianum. Leipzig 1729; ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Leipzig 1733–1734.
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treten.11 In den 1760er und 1770er Jahren finden sich dann, außer Moses Mendelssohn, kaum noch namhafte Verteidiger der prästabilierten Harmonie, und die Influxus-Lehre scheint sich nun durchgesetzt zu haben (wie die Beispiele von Ernst Platner, Johann Nicolaus Tetens, Hermann Samuel Reimarus oder Johann August Unzer zeigen). Dies macht vor allem deutlich, dass es schon in den 1740er Jahren durchaus eines »Beweises« der prästabilierten Harmonie bedurfte, da sie für alles andere als ausgemacht galt. (3) Mit Alexander Gottlieb Baumgarten tritt ein prononcierter Verteidiger der prästabilierten Harmonie in die Diskussion ein (mit der ersten Auflage seiner Metaphysica von 1739). Baumgarten nähert sich Leibniz insofern mehr an als Wolff, als er die prästabilierte Harmonie wieder als universelle Relation ansetzt und nicht nur auf das Leib-Seele-Problem bezieht. Auch der Begriff des idealen Einflusses findet sich bereits bei Baumgarten ungefähr so, wie er auch bei Meier bestimmt wird: Wenn das Leiden einer Substanz zugleich eine Handlung des Leidenden ist, dann handelt es sich um einen idealen Einfluss, wenn auf der Seite des Leidenden gar keine Handlung erfolgt, um einen reellen.12
3. Meiers Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung Meier tritt nun also, wie er selbst deutlich macht, auf der Grundlage von Baumgartens Überlegungen an: Das »allermeiste habe ich auch der Metaphysic des Herrn Professor Baumgartens entlehnt«.13 Neben größerer Ausführlichkeit der Darstellung behauptet aber Meier auch, die Lehre von der prästabilierten Harmonie auf eine bisher nicht vorhandene, sichere Grundlage gestellt zu haben. Sei sie zuvor noch eine bloße Hypothese gewesen, so gilt nun, in aller Bescheidenheit: »Ich habe sie in einen Lehrsatz verwandelt«.14 Angesichts dieser hohen Ansprüche sind Meiers spätere Beiträge zur Debatte um die prästabilierte Harmonie und die Reaktionen auf Kritik an seinem Beweis allerdings weniger ambitioniert. So veröffentlicht im Jahr 1748 der norwegische Gelehrte Johan Ernst Gunnerus (1718–1773) eine ausführliche Reaktion auf Meiers Beweis unter dem Titel Beurtheilung des Beweises der vorherbestimmten Uebereinstimmung.15 Gunnerus,
11
12
13 14 15
Martin Knutzen: Systema causarum efficientium, seu commentatio philosophica de commercio mentis et corporis per influxum physicum explicando. Leipzig 1745. Ausführlicher zu diesen Entwicklungen Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: Review of Metaphysics 49 (1995), pp. 295–339; ders.: From Pre-established Harmony to Physical Influx. In: Perspectives on Science 6 (1998), pp. 136–203; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin 2003; Falk Wunderlich: Eine »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens«. Johann Nicolaus Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus. In: Gideon Stiening, Udo Thiel (Hg.): Johann Nikolaus Tetens (1736–1807). Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus. Berlin, Boston 2014, S. 219–249. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 2), S. 147–157 sowie Eric Watkins: Kant and the Metaphysics of Causality. Cambridge 2005, pp. 75–78. Casula, Die Lehre (s. Anm. 9), S. 410–414, scheint das Konzept des idealen Einflusses für unproblematisch zu halten. Meier: Beweis (s. Anm. 1), Vorrede [S. 5]. Ebd. Johan Ernst Gunnerus: Beurtheilung des Beweises der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Jena 1748.
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später Bischof von Trondheim und auch als Botaniker bekannt geworden,16 studierte 1742 in Halle mit einem Stipendium von König Christian VI. Dieser war selbst Pietist und wollte Gunnerus mit den Hallenser Pietisten in Kontakt bringen; Gunnerus besuchte wohl aber auch Veranstaltungen bei Meier oder kam auf andere Weise in persönlichen Kontakt mit ihm.17 Er kritisiert Meiers Schrift auf influxionistischer Grundlage. Relevant ist hier der Umstand, dass er Meier vorhält, mit seiner Konzeption des idealen Einflusses Leibniz’ Grundideen nur dem Namen nach zugrundezulegen. Gunnerus kritisiert in diesem Sinne: Allein, weder der Einflus noch daß Leiden wird hier in eigentlichen Verstande genommen, und verdienen also nicht diesen Namen [...]. Der Herr Verfasser ist ein Harmoniste und ein solcher kan nicht behaupten, dass Seele und Leib oder, wenn er diese Erklärungsart algemein annimt, andere endliche Substanzen würklich in einander würken. Er beruft sich zwar auf den Frei-Herrn von Leibniz. Allein dieser grose Weltweise richtet sich nach der sinlichen Erkentnis der Menschen und redet nur von einem scheinbaren Einflus der Kreaturen in einander.18
Ich werde mich mit den Sachproblemen, die Gunnerus’ Kritik zugrunde liegen, im folgenden Abschnitt beschäftigen, zunächst jedoch zu Meiers Reaktion. Man würde vielleicht erwarten, dass sich Meier mit diesen recht einleuchtenden Einwänden auseinandersetzt. Doch zunächst geschieht nichts. In der Vorrede zu den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften von 1749 erklärt er stattdessen, warum er sich mit Gunnerus (und Johann August Unzer, den er hier auch erwähnt) nicht in Streitigkeiten über die prästabilierte Harmonie einlassen will. Zum Beispiel »ist die Materie nicht wichtig genug, um viele Streitschriften darüber zu wechseln«.19 Und »die Materie« ist aus einem weiteren Grund unwichtig: Die »Lehre von der vorherbestimmten Uebereinstimmung hat keinen erheblichen Einfluß in die Praxis, und sie ist gegenwärtig in unsern Lehrgebäuden eine blosse Speculation«.20 Zwar bereut Meier nicht, den Beweis geschrieben zu haben, aber es ist »wider meine ietzige Art zu denken, denselben weitläufig zu vertheidigen«,21 und »ich habe alle Lust verlohren, von dergleichen Materien viel zu schreiben«.22 Doch es ist auch die Hartnäckigkeit der Influxionisten, die ihn demotiviert hat, er hält es nämlich nun für beinahe unmöglich, einen Influxionisten von der prästabilierten Harmonie zu überzeugen. In § 442 der Metaphysik wiederholt Meier das Motiv der Irrelevanz, es sei »genug, wenn wir wissen, daß alle Substanzen in der Welt so sehr in einander würken, als es in der besten Welt möglich ist, ob wir gleich die Art und Weise nicht verstehen, wie sie in einander würken«.23
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Johan Ernst Gunnerus: Flora Norvegica, Observationibus praesertim oeconomicis Panosque norvegici locupletata. Jena 1766–1772. Zu Gunnerus vgl. Rolv Nøtvik Jakobsen: Johan Ernst Gunnerus – a conservative theologian and an enlightened scientist (?) In: Det Kongelige Norske Videnskabers Selskabs Skrifter (2011.2), pp. 75–108; John Peter Collett: Johan Ernst Gunnerus as a University Reformer of the Enlightenment. In: Det Kongelige Norske Videnskabers Selskabs Skrifter (201.2), pp. 23–62. Gunnerus: Beurtheilung (s. Anm. 15), S. 48f. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle 1748, Vorrede [S. 7]. Ebd., Vorrede [S. 7f.]. Ebd. Ebd., Vorrede [S. 8]. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Halle 21765, Bd. II, S. 268.
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Das sind ohne Frage interessante Bemerkungen, die an Lockes Überlegungen zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis erinnern und zugleich das Leibnizsche Prinzip des Besten reformulieren. Dennoch scheinen sie mir nicht die weiterreichenden Folgerungen begründen zu können, die Robert Sommer und Matthias Reiber damit verbinden. Sommer zufolge ist es die »Freude an einer lebensvollen Wechselwirkung, welche man bei allen aesthetischen Naturen findet«, die Meier von den abstrakten Spekulationen ablenkt.24 Reiber sieht in der Ablehnung der Diskussion um die drei Systeme den Ausdruck einer grundsätzlich »metaphysik-feindliche[n] Haltung«, und er ordnet Meier umstandslos dem Empirismus Lockeanischer Prägung zu.25 Die Tatsache, dass derselbe Meier eine mehrbändige Metaphysik vorgelegt hat, spricht auf den ersten Blick nicht für Reibers These. Mehr noch, hätte Meier tatsächlich aller metaphysischen Jugendsünden entsagen wollen, dann hätte er 1752 wohl kaum eine zweite Auflage des Beweises herausgegeben und (ansonsten unverändert) durch ein neues Vorwort begleitet, in dem er die Diskussion um die prästabilierte Harmonie dann doch wieder aufnimmt. In diesem Vorwort bestätigt er zwar zunächst die Gründe, die ihn von einer ausführlichen Reaktion Abstand nehmen ließen, geht aber dann direkt auf Gunnerus’ Hauptargument ein, er habe gar nicht Leibniz’ prästabilierte Harmonie bewiesen, sondern vielmehr den physischen Einfluß, wobei er sich nur der »Redensarten der Harmonisten« bedient habe.26 Meier besteht aber darauf, dass er »wenigstens in der Hauptsache« die »Leibnitzische Harmonie« erwiesen habe,27 was im nächsten Abschnitt näher untersucht werden wird. All dies scheint mir eher dafür zu sprechen, dass Meier das Interesse an bestimmten Fragen der Metaphysik verloren hatte, aber keineswegs seine eigene Position aufgab, noch gar die Metaphysik insgesamt.
4. Was ist »idealer Einfluss«? Kommen wir nun zur Frage, was Meier unter dem »idealen Einfluss« versteht, der als universale Relation zwischen allen endlichen Substanzen in der Welt bestehen soll. Zunächst scheint es klar zu sein, dass Meier eine nähere Erläuterung von Thesen beabsichtigt, die sich bereits bei Baumgarten finden. In § 449 von dessen Metaphysica heißt es, dass das System der prästabilierten Harmonie den wechselseitigen Einfluss der Substanzen in der Welt nicht etwa aufhebt, sondern affirmiert, und die Art und Weise dieses Einflusses bezeichnet er als idealischen.28 Meier beginnt den Beweis ganz in diesem Sinne damit, dass die Vereinigung von Leib und Seele ein Faktum sei, und dass ihre Veränderungen aufs Genaueste miteinander übereinstim24 25 26 27 28
Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892, S. 27. Matthias Reiber: Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift ›Der Arzt‹ (1759–1764). Göttingen 1999, S. 30. Meier: Beweis (s. Anm. 1), 2. Auflage, Vorrede [S. 3]. Ebd., Vorrede [S. 4]. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 2), S. 148f.: »Systema harmoniae praestabilitatae universalis non tollit influxum substantiarum huius mundi in se inuicem, sed eum ponit [...] non solum non tollit, agere posse spiritus in corpora, & corpora in spiritus, sed ponit etiam in hoc mundo corpora & spiritus in se mutuo influere.«
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men: »Das fühlen wir« Meier zufolge, es soll uns also unmittelbar gegenwärtig sein.29 Von der Art und Weise dieser Vereinigung haben wir aber keine Erfahrung, sondern eben nur von dem Faktum als solchem. Die Entscheidung zwischen den drei Systemen kann also nur von der Vernunft gefällt werden. Dinge beliebiger Art sind Meier zufolge aber dann miteinander verbunden, wenn das eine aus dem anderen erkannt werden kann. Daraus folgt, dass aus einem Teil der Welt (wie einer Seele) alle übrigen erkannt werden können, da zwischen ihnen eine durchgängige Verbindung besteht: »Da [...] alle Substanzen dieser Welt, ausser einander vorhanden sind, so würcken sie alle in einander, oder es befindet sich unter ihnen ein allgemeiner gegenseitiger Einfluß (influxus mutus universalis)«.30 Dies soll unter allen neueren Weltweisen »eine ausgemachte Wahrheit« sein, und man muss Meier zufolge kein Influxionist sein, um diesen allgemeinen Einfluss anzunehmen. Wenn also zwei Substanzen miteinander verbunden sind, dann heißt das, die Veränderungen und Bestimmungen der einen können aus denen der anderen erkannt werden, und diese Verbindung wird Übereinstimmung (harmonia) genannt.31 Eine zentrale Unterscheidung betrifft nun den Begriff des Leidens: Leiden ist Meier zufolge nicht zwangsläufig rein passiv: es kann unter Umständen eine Handlung der leidenden Substanz einschließen, und nur im Extremfall trägt die leidende Substanz gar nichts zum Geschehen bei. Nur letzteres ist Meier zufolge der reelle Einfluss (influxus realis), dem ein reelles Leiden (passio realis) entspricht. Die derart leidende Substanz besitzt im Hinblick auf ihr Leiden nichts als die bloße Leidensfähigkeit (receptivitas). Influxus-Theorien unterstellen (so Meier) reelle Einflüsse und damit die vollständige Passivität der leidenden Substanz. In der Natur kommen Meier zufolge bei endlichen Substanzen keine reellen Leiden vor, und entsprechend kann keine endliche Substanz auf eine andere in reeller Art wirken. Fälle reellen Leidens finden sich nur bei den Handlungen Gottes, wie etwa den Wundern: Wunder haben keinerlei Grund in der Kraft der leidenden Substanzen, sie sind gerade etwas, was Substanzen nicht natürlicherweise widerfährt. Unter einem idealischen Einfluss versteht Meier dagegen Ereignisse, bei denen das Leiden der leidenden Substanz zugleich eine Handlung derselben ist. Genauer: die Veränderung muss nicht nur der Möglichkeit, sondern auch der Wirklichkeit nach in der leidenden Substanz gegründet sein. Die leidende Substanz muss die Veränderung durch ihre Kraft »zunächst und unmittelbar« hervorbringen;32 die Veränderung muss auch ihre Handlung sein. Zugleich muss dieselbe Veränderung aus der Kraft einer anderen Substanz erkannt werden können und somit den Grund ihrer Wirklichkeit auch in der anderen Substanz haben: Folglich wird dadurch, diese Veränderung des Zustandes, zugleich ein Leiden der ersten, und eine Handlung der andern Substanz. Die andere würckt also in die erste, und es ist dieser Einfluß, ein würcklicher Einfluß, und dieses idealische Leiden verdient den Nahmen eines Leidens in der That.33
Wirkt eine Substanz in die andere, dann kann aus der ersten erkannt werden, warum die andere gerade jetzt gerade diese Veränderung erleidet. Meier behauptet also, dass die leidende Substanz ihre Veränderung in gewisser Weise ohne Beihilfe der anderen hervorbringt (also auch ohne 29 30 31 32 33
Meier: Beweis (s. Anm. 1), S. 3. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 22. Ebd.
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deren idealischen Einfluss). Weil aber durch die Kraft einer Substanz viele unterschiedliche Veränderungen hervorgebracht werden können, würde man ohne idealischen Einfluss nicht »den völligen Grund« einsehen, warum die leidende Substanz gerade diese Veränderung zu gerade dieser Zeit hervorgebracht hat. Hier versucht er wohl, die Abgeschlossenheit der Monade theoretisch zu integrieren, und er scheint zu behaupten, dass wir den hinreichenden Grund einer bestimmten Veränderung dennoch nicht allein der leidenden Monade entnehmen können. Den reellen oder »physicalischen« Einfluss erläutert Meier entsprechend am Beispiel des Leib-Seele-Verhältnisses: Der Influxus-Theorie zufolge verhalten sich beide Seiten jeweils bloß leidend, d. h. »ohne das geringste, durch ihre Kraft [hier: der Seele], darzu beyzutragen«.34 Vom Mond zurückgeworfene Sonnenstrahlen beispielsweise fallen in die Augen und bringen hinten im Auge ein dem Mond ähnliches Bild hervor. Der Gesichtsnerv wird dadurch erschüttert, und in der Seele entsteht ein Begriff vom Mond. Der influxionistischen Erklärung zufolge (so, wie Meier sie versteht) ist die Vorstellungskraft der Seele überhaupt nicht am Zustandekommen dieses Begriffs beteiligt, sondern der hinreichende Grund seiner Wirklichkeit liegt lediglich im Körper. Was ist nun vom »idealischen Einfluss« und seinen Erklärungsleistungen zu halten? Haben wir es noch mit einer leibnizianischen Theorie zu tun? In § 51 der Monadologie schreibt Leibniz, wie bereits oben erwähnt: Bei den einfachen Substanzen gibt es indes nur einen idealen Einfluß einer Monade auf eine andere, d. h. eine Wirkung, die nur durch die Vermittlung Gottes zustande kommt, sofern in den Ideen Gottes eine Monade mit Recht verlangt, daß Gott bei der Regelung der andren schon bei Beginn der Dinge auf sie Rücksicht nimmt. Denn da eine geschaffene Monade keinen physischen Einfluß auf das Innere der andren ausüben kann, so kann einzig auf diesem Wege die eine in Abhängigkeit von der andren stehen.35
Der ideale Einfluss wird bei Leibniz selbst also als eine eigentümliche, indirekte Relation bestimmt, die mit gängigen Vorstellungen von Kausalität wenig zu tun hat. Idealer Einfluss setzt göttliche Vermittlung voraus, und diese Vermittlung ereignet sich des näheren vor der Schöpfung, zu einer Zeit also, in der die Schöpfung nur in den Ideen Gottes vorhanden ist. Die Idee einer Substanz in den Gedanken Gottes impliziert, dass andere Substanzen in auf sie abgestimmter Weise eingerichtet werden, oder, wie Leibniz sich an anderer Stelle ausdrückt, Gott findet in den Begriffen der Substanzen Gründe, die ihn nötigen, die eine der anderen anzupassen.36 Kausal wirksam ist in diesem Szenario also Gott und allenfalls seine einzelnen Gedanken wechselseitig aufeinander – nicht jedoch die später erschaffenen, endlichen Substanzen selbst. Die Forderung der Rücksichtnahme, von der im Zitat die Rede ist, bezieht sich konsequenterweise auf Gott und nicht auf die Substanzen selbst; diese können nur auf sich selbst kausal wirksam sein, und jede nach außen gerichtete Wirksamkeit erweist sich als scheinbar und als in Wahrheit auf einen anderen Agenten, nämlich Gott, zurückzuführen.37 34 35 36 37
Ebd., 26. Leibniz: Monadologie, § 51. In: Ders: Die philosophischen Schriften (s. Anm. 3), Bd. VI, S. 615. Ebd., § 52. In: Ders.: Die philosophischen Schriften (s. Anm. 3), Bd. VI, S. 615. Hubertus Busche hat eine naturphilosophische Erklärung der prästabilierten Harmonie entwickelt, die im Gegenzug zum üblichen Leibniz-Verständnis intersubstantielle Kausalität doch zulässt, und wendet sich ausdrücklich dagegen, Leibniz im Sinne eines kausalen Solipsismus zu verstehen (Hubertus Bu-
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Meier und Baumgarten verstehen idealen Einfluss demgegenüber lediglich als Mitwirkung der leidenden Substanz an ihrem Leiden. Mitwirkung ist jedoch für eine genuin leibnizianische Theorie nicht genug: Alle Zustandsänderungen der Monaden sollen vollständig von ihren vorherigen Zuständen verursacht sein. In diesem Sinne muss man wohl sagen: Gunnerus hat Recht, für eine orthodox leibnizsche Position kann es auch keine wirklichen ideellen Einflüsse im Sinne Baumgartens und Meiers geben. Einige Formulierungen in Meiers Vorrede zur zweiten Auflage des Beweises klingen dann auch eher wie ein uneingestandenes Dementi seiner früheren Erklärungen. Scheinbar orthodoxer im Sinne von Leibniz spricht Meier nun nicht von Einflüssen der endlichen Substanzen ineinander, sondern davon, dass keine Substanz die andere kennt und ihre Veränderungen sich nur qua Vorhersehung nach den Veränderungen in anderen Substanzen richten. Nimmt man die Lehre von der prästabilierten Harmonie an, so »würckt eine jede dieser Substanzen alle ihre natürlichen Veränderungen selbst, und gleichwohl stimt sie in einer jedweden dieser Veränderungen [...] mit allen übrigen Substanzen, und einer jeden Veränderung derselben überein«.38 Zugleich herrscht, so Meier, »ein allgemeiner Geist der Ordnung«, und die Veränderungen der Substanzen stimmen so überein »als die Handlungen zweyer Herzensfreunde, die dieselben mit einander verabredet haben«.39 Diese Harmonie führt Meier, ganz leibnizianisch, direkt auf Gottes Plan zurück. Das Verhältnis der endlichen Substanzen untereinander beschreibt er nun so: »Und gleichwohl kennt keine dieser Substanzen die andere, wenigstens nicht hinlänglich genug, um sich nach den übrigen in ihren Veränderungen zu richten«.40 Dies ist eine etwas mehrdeutige Formulierung, die den Monaden einerseits einen gewissen Grad an Kenntnis über andere einräumt, der jedoch andererseits zu gering zu sein scheint, um sich ihnen aus eigener Kraft anzupassen. Hier könnte nun ein weiterer Grund liegen, warum Meier auf die Kritik am Beweis nicht ausführlicher reagiert hat: Er hat möglicherweise selbst gesehen, dass sich nicht sowohl seine eigene Theorie des idealen Einflusses als auch die Behauptung, sich vollständig im Rahmen des Leibnizianismus zu bewegen, aufrechterhalten lassen. Unabhängig davon lässt sich natürlich fragen, ob die Theorie des idealen Einflusses als solche in sachlicher Hinsicht weiterführt. Zweifellos erscheint es sinnvoll, Einwirkung als Zusammenspiel von Eigenschaften sowohl des wirkenden als auch des leidenden Wesens zu begreifen. Ich sehe jedoch nicht, dass influxionistische Theorien wirklich auf die gegenteilige These von der vollständigen Passivität des Leidenden verpflichtet sind. Tatsächlich lässt sich beispielsweise bei Johann Nicolaus Tetens zeigen, dass dieser den physischen Einfluss vielmehr als Kooperation von Körper und Seele bei der Hervorbringung von Vorstellungen versteht und einseitige Einfluss-Modelle zurückweist.41 Anstatt eine orthodox an Leibniz orientierte Theorie zu vertei-
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sche: Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden (§§ 4–7, 49–52). In: Ders. (Hg.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Berlin 2009, S. 49–80; ders.: Präetablierte Harmonie und Monadenlehre: Eine neue Interpretation von Leibniz als Philosoph. In: Thomas Reydon, Helmut Heit u. Paul Hoyningen-Huene (Hg.): Der universale Leibniz. Stuttgart 2009, S. 63–84). Da diese Erklärung auf vollständig anderen Überlegungen basiert, als sie bei Meier und Baumgarten zu finden sind (etwa zur Zusammensetzung von Monaden aus Erstmaterie und Seele), kann sie hier nicht eingehender diskutiert werden. Meier: Beweis (s. Anm. 1), Vorrede [S. 5]. Ebd. Ebd., S. 6. Vgl. ausführlich Wunderlich: Eine dritte Mittelidee (s. Anm. 11).
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digen, ist Meier vielmehr ein früher Vertreter der wechselseitigen Annäherungen der unterschiedlichen Kausal- und Leib-Seele-Theorien, die für das mittlere 18. Jahrhundert kennzeichnend sind.
ALEXEI N. KROUGLOV
Die Wahrheit der Welt in der Meiers Kosmologie
Seit dem Erscheinen der Deutschen Metaphysik Christian Wolffs im Jahre 1720 wurde die Kosmologie als eine Disziplin der speziellen Metaphysik etabliert. Nach dem gewaltigen Einfluss Wolffs auf die Gestaltung der Kosmologie und nach einer raschen Verbreitung seines Terminus ›Cosmologia transcendentalis‹ (Georg Bernhard Bilfinger,1 Friedrich Christian Baumeister,2 Johann Georg Darjes,3 Johann Peter Reusch,4 Johann Heinrich Winckler,5 Christian Johann Anton Corvinus,6 Andreas Böhm,7 Johann Heinrich Lambert,8 Johann August Heinrich Ulrich,9 Johann Georg Heinrich Feder,10 Dmitrij Sergeevič Aničkov,11 Maternus Reuss,12 Immanuel
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Vgl. Georg Bernhard Bilfinger: Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus. Tübingen 1725, S. 134, § 136. Vgl. Friedrich Christian Baumeister: Philosophia definitiva. Wien 151735, S. 7 (XXI); Friedrich Christian Baumeister: Institutiones metaphysicae: Ontologiam, Cosmologiam, Psychologiam, Theologiam denique Naturalem Complexae. Wittenberg 41738, S. 6, § 5; S. 259f., § 388; S. 261, § 389. (ND Christian Wolff: Gesammelte Werke (im Folgenden: GW). Hg. und bearbeitet von Jean École u. a., Abt. III, Bd. 25. Hildesheim 1988ff. Vgl. Joachim Georg Darjes: Elementa Metaphysices. 2 Bde. Jena 1743/4, Bd. 1, S. 15, § XVII. Vgl. Johann Peter Reusch: Systema logicum antiquiorum atque recentiorum item propria praecepta exhibens. Jena 1734, S. 40, § 70. Vgl. Johann Heinrich Winckler: Institutiones philosophiae Wolfianae utriusque contemplativae et activae. Leipzig 1735, S. 118, § 540. Vgl. Christian Johann Anton Corvinus: Institutiones philosophiae rationalis methodo scientifica. Jena 1750, S. 21, § 133 (Praelimineria). Vgl. Andreas Böhm: Metaphysica in usum auditorii sui ordine scientifico conscripta. Gießen 21767, S. 5, § 6; Andreas Böhm: Logica in usum auditorii sui ordine scientifico conscripta. Frankfurt a. M. 1749, S. 5, § 10; S. 6, § 12. Vgl. Johann Heinrich Lambert: Über die Methode, die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen. Hg. von Karl Bopp. Berlin 1918, S. 28, § 87. Vgl. Johann August Heinrich Ulrich: Erster Umriß einer Anleitung zu den philosophischen Wissenschaften zum Gebrauch der Vorlesungen. Tl. I: Die Vernunftlehre, Grundwissenschaft und natürliche Theologie. Jena 1772, S. 222f., § 1 (Metaphysik); S. 392, § 83 (Metaphysik). Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. Hanau 41775, S. 415, § 70.
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Kant13 u. a.) gab es zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Sache nach eine Fülle von unterschiedlichen Varianten der Kosmologie, und zwar sowohl innerhalb der wolffschen Schule als auch unter den Anti-Wolffianern. Hatte Wolff unter der ›transzendentalen Kosmologie‹ eine allgemeine Betrachtung der Welt verstanden, die sich zu zeigen bemüht, was die wirkliche Welt mit allen anderen möglichen Welten gemeinsam hat, so wichen viele Denker, die dieselbe Terminologie verwendeten, dennoch von dieser sachlichen Auffassung dieser Disziplin ab. Die Frage nach der Stellung der Kosmologie Georg Friedrich Meiers im Rahmen dieser Fülle von Konzeptionen, insbesondere in Bezug auf ihr Verhältnis zur Kosmologie Wolffs, seines Vorgängers am Lehrstuhl an der Universität Halle, sowie der Alexander Gottlieb Baumgartens, seines großen Vorbildes und akademischen Lehrers, ist nicht einfach zu beantworten, denn es handelt sich vor allem nicht um augenscheinliche Unterschiede, sondern eher um Nuancen und Schattierungen. Die Eigenart der Kosmologie Meiers kommt in der Deutung der Wahrheit der Welt besonders deutlich zum Ausdruck. Bevor ich diese Auffassung der Wahrheit der Welt bei Meier erläutere, skizziere ich kurz seine Definition der Kosmologie und der Welt.
1. Der Begriff der Kosmologie Die Kosmologie ist der Gegenstand des zweiten Bandes der Metaphysik Meiers. Die Reihenfolge der metaphysischen Disziplinen folgt dem Vorbild Baumgartens: Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie. Vergleichbare Ordnungen der Disziplinnen lassen sich auch bei einigen anderen Wolffianern nachweisen, so Baumeister, Bilfinger, Gottsched oder Thümmig. Der Unterschied zu Wolff oder Reusch bestehet darin, dass diese Denker der Kosmologie die empirische Psychologie voranschicken. Dagegen geht z. B. bei Christian August Crusius der Kosmologie sowohl die Ontologie als auch die natürliche Theologie voran,14 wobei die Pneumatologie als ein Teil der Kosmologie betrachtet wird.15 Die Komposition der Kosmologie bei Meier ist
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Vgl. Dmitrij Sergeevič Aničkov: Annotationes in logicam et metaphysicam ex variis probatissimis auctoribus excerptae et usibus Rossicae iuventutis una Cum parte polemica et variis exercitationibus, ex Logica disputatrice selectis. Мoskau 1782, S. 13. Vgl. Matern Reuss: Vorlesungen über die theoretische und praktische Philosophie. Würzburg 1797, Tl. 2, S. 99f., § 137. Wenn auch nicht in den Druckschriften, vgl. Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA, Band Seitenzahl], hier Bd. XVII, S. 434, Refl. 4149. Vgl. Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie zu den zufälligen entgegen gesetzt werden. Leipzig 31766 [11745], S. 356, § 204. Vgl. ebd., S. 851, § 424. Zu den Unterschieden in der Gestaltung der Metaphysik bei Wolff und Crusius und ihren Gründen vgl. Giorgio Tonelli: Einleitung. In: Christian August Crusius: Anweisung vernünftig zu leben, Darinnen nach Erklärung der Natur des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden. Leipzig 1744 [ND Die philosophischen Hauptwerke. Hg. von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1969, Bd. I, S. XXXI–XXXIX].
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hingegen im Großen und Ganzen wie in der Metaphysica Baumgartens gebildet.16 Doch viele Theoreme und Systemteile, die bei Baumgarten nur kurz angedeutet oder erwähnt wurden, finden bei Meier eine erweiterte und ausführlichere Behandlung. In Meiers Einleitung in die Cosmologie lässt sich eine gewisse Klassifikation entdecken: eine Kosmologie der ausschließlich wirklichen Welt, allgemeine oder metaphysische, empirische und vernünftige Kosmologie. Meier selbst vermied, den Terminus ›transzendentale Kosmologie‹ zu benutzen, und bevorzugte Termini wie ›allgemeine‹ oder ›metaphysische‹ Kosmologie. Diejenige Kosmologie, die nur mit der gegenwärtigen Welt zu tun hat, nennt er Astronomie oder Geographie.17 Im Rahmen der Entwicklung dieser Bestimmungen lassen sich erste Eigentümlichkeiten Meiers erkennen: Viele der doktrinalen Positionen seiner Kosmologie werden in kritischen Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Konzeptionen entwickelt, um die eigene Einstellung zu präzisieren und Gegenargumente zu entschärfen. Er schreibt seine Metaphysik gleichsam polemiologisch, d. h. »in einer Weise, die von den subtilsten und wichtigsten Kontroversen und Streitigkeiten populär und durch viele Beispiele Rechenschaft gibt«.18 Die Tradition der philosophischen Kosmologie, die lediglich die wirkliche Welt untersucht, will Meier jedoch offenbar nicht berücksichtigen. In dieser Tradition stehend sprach beispielsweise Crusius von einer »zweifache[n] Bestimmung des Begriffs der Cosmologie, einmal, da sie die Lehre von dem Wesen einer Welt überhaupt ist, hernach aber, da sie eine richtige Vorstellung von der wirklich vorhandenen Welt, von ihrer Einrichtung und Absicht seyn soll«.19 Als Erläuterung fügte der Leipziger Theologe und Philosoph an: »Wir verstehen also unter Weltlehre eine richtige Erkenntniß von der Welt, wie sie wirklich vorhanden ist«.20 Obwohl Crusius die Kosmologie von der Theologie ableitete, während Johann Christian Eschenbach aus der Kosmologie wichtige Erkenntnisse für die Theologie zu gewinnen hoffte, sind beide Denker darin einig, dass die Kosmologie die wirkliche Welt behandelt: Die Wissenschaft welche von dieser gegenwärtigen Welt im Ganzen d. i. überhaupt, aber nur in so weit, handelt, als es nötig ist […] dadurch zur Erkäntniß des ausserweltlichen höchsten Wesens geführet zu werden (daher man dan auch nur vorzüglich von der weisen Einrichtung der Körperwelt, und den Begebenheiten der Geisterwelt auf unser Erdkugel handelt): heist […] die Weltlehre (Cosmologia), oder Wissenschaft von der Welt überhaupt (Cosmologia transcendentalis, scientia de mundo in genere); wiewohl andere das Wort, Welt überhaupt, anders nehmen als ich hier gethan.21
Anders dazu Meier. Allem Vermuten nach erklärt sich diese Merkwürdigkeit dadurch, dass Meier eine wesentlich andere Vorstellung von der Welt als Gegenstand der Kosmologie sowie ihrer 16 17 18 19 20 21
Vgl. dazu auch Michael Albrecht: Vorwort. In: Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Halle 21765, Tl. 1. ND: Wolff: GW (s. Anm. 2). Hildesheim 2007, Abt. III, Bd. 108.1, S. 10*. Vgl. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Halle 21765, Tl. 2, S. 7, § 282. ND: Wolff: GW (s. Anm. 2). Hildesheim 2007, Abt. III, Bd. 108.2. Sonia Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 181. Christian August Crusius: Einleitung in die wahre und vollständige Cosmologie. Aus dem Lateinischen übers. von Gotthelf Hartmann Schramm. Leipzig 1774 [lateinisches Original 1772], S. 4, § 2. Ebd. Johann Christian Eschenbach: Metaphisic oder Hauptwissenschaft. Rostock 1757, S. 321, § 78. Bei Eschenbach folgt die Kosmologie nach der Ontologie und Psychologie (Anthropologie) als vorheriger Teil der Theologie.
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Wirklichkeit gehabt hat. Die Kosmologie Meiers behandelt nicht nur diese wirkliche Welt, sondern »die Natur und das Wesen der Welt überhaupt«.22 Da Meier in seiner Cosmologie »alle möglichen Welten zusammen genommen« betrachtet, nennt er sie »die allgemeine und metaphysische Cosmologie«.23 Seine Abneigung dem Terminus ›cosmologia transcendentalis‹ gegenüber ist so groß, dass er den Begriff selbst bei der Übersetzung des entsprechenden Paragraphen Baumgartens übergeht.24 Ob es Meier allerdings gelungen wäre, durch die Vermeidung des Terminus ›transcendentalis‹ gewisse Irritationen zu beseitigen, ist sehr fraglich, denn die ›metaphysische Kosmologie‹, die er für die Bezeichnung der Disziplin wählt, ist nicht weniger problematisch. Mann muss nur darauf hinzuweisen, dass auch Crusius seine Kosmologie als die metaphysische charakterisiert – allerdings mit einer ganz anderen Begründung als Meier: Weil die Metaphysik von nothwendigen Wahrheiten handelt […], das ist von denenjenigen Dingen, deren Existenz entweder schlechterdings nothwendig ist, oder welche doch bey Setzung einer iedweden Welt stat finden müssen; so muß sie auch das nothwendige Wesen einer Welt überhaupt erklären. Dieser Theil derselben wird die Metaphysische Kosmologie genennet, welche derowegen nichts anders ist, als eine Wissenschaft von dem nothwendigen einer Welt, und von demjenigen, was sich daraus a priori erkennen lässt […].25
Die Methode der Untersuchung der metaphysischen Kosmologie ist bei Meier zweispaltig. Einerseits schlägt er vor, von der wirklichen Welt diejenigen Eigenschaften zu abstrahieren, die der gegenwärtigen und nicht allen möglichen Welten gehören. Der Weltbetrachter stellt sich etwas »in seinem Verstande« vor. In diesem Falle gilt unsere wirkliche Welt als Ausgangspunkt. Andererseits betont Meier, dass die Fixierung auf die wirkliche Welt die allgemeine Betrachtung der Welt überhaupt durchaus hindert. Verschiedene Ausgangspunkte der Untersuchung sind mit zwei anderen Arten der Kosmologie eng verbunden, nämlich mit der empirischen und der vernünftigen: Unsere unmittelbaren Erfahrungen von dieser Welt, samt demjenigen, was aus ihnen auf eine nähere Art fließt, machen die empirische Cosmologie aus. Die vernünftige Cosmologie aber ist diejenige Wissen-
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Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 7, § 282. Vgl. Wolff: »Cosmologia generalis est scientia mundi seu universi in genere, quatenus scilicet ens idquecompositum atque modificabile est.« Christian Wolff: Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, qua ad solidam, imprimis Dei atque Naturae, cognitionem via sternitur. Frankfurt a. M. 1731, S. 1, § 1. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 8, § 282. Den Satz Baumgartens »COSMOLOGIA TRANSCENDENTALIS est scientia praedicatorum mundi generalium, eaque vel ex experientia propius, EMPIRICA vel ex notione mundi, RATIONALIS« übersetzt Meier ins Deutsche folgendermaßen: »Die Cosmologie (cosmologia generalis) ist die Wissenschaft der Gattungen der Welt; und sie wird entweder auf eine nähere Art aus der Erfahrung hergeleitet (cosmologia empirica), oder aus dem abstracten Begriffe von der Welt (cosmologia rationalis).« Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 41757, S. 110, § 351. ND: Ders.: Metaphysica = Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe. Übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Die deutsche Übersetzung dieser Schrift, soweit es sich nicht um die Übersetzung Meiers handelt, wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert; Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Ins Deutsche übers. von Georg Friedrich Meier, besorgt von Johann August Eberhard. Halle 21783, S. 105, § 252. ND: ders.: Metaphysik. Mit einer Einführung, einer Konkordanz und einer Bibliographie hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004. Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 667, § 347.
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schaft, welche ihre Betrachtungen über die Welt, aus dem Begriffe von der Welt, auf eine deutliche Art herleitet. Beyde Cosmologien müssen mit einander verbunden werden.26
Im Unterschied zu der klar getrennten Behandlung der empirischen und der rationalen Psychologie beabsichtigt Meier, die vernünftige und die empirische Kosmologie zusammen zu erörtern, »unter einander [zu] mengen«.27 Die empirische Kosmologie geht also von der wirklichen Welt aus. Es ist aber möglich, etwas aus dem Begriff der Welt ohne Erfahrung, »aus der Vernunft, oder a priore«, herzuleiten.28 Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um die apriorischen Begriffe im kantischen Sinne, denn diese Begriffe, einschließlich der der Welt, sind tatsächlich a posteriorisch. Wie bei Wolff29 so findet sich auch bei Meier eine Analogie zwischen der Untersuchung der Welt überhaupt in der Kosmologie und des Dinges überhaupt in der Ontologie.30 Für Meier ist von Bedeutung, dass nicht nur die Körperwelt, sondern auch die Geisterwelt ein Gegenstand der Forschung in der Kosmologie darstellt. Man hätte vermuten können, Meier folgt in dieser Frage Crusius, der sogar die Pneumatologie als einen Teil der Kosmologie behandelte, doch auch bei Baumgarten ist eine vergleichbare Betrachtungsweise zu finden. Im zweiten Paragraph seiner Kosmologie hatte Baumgarten erklärt, dass diese Disziplin Prinzipien der Psychologie, Theologie, Physik, Teleologie und der praktischen Philosophie enthält.31 Meier erläutert diesen Gewinn für die bei Baumgarten genannten Disziplinen in seiner Metaphysik erheblich ausführlicher (§§ 285–289). Von besonderem Interesse ist dabei, wie Meier diesen Nutzen in Bezug auf Physik und Theologie einschätzt. Für die letztere liefert die Kosmologie den Beweis, dass diese Welt ein zufälliges Ding ist; diese Kontingenz ist wiederum selbst die Grundlage für die Überzeugung von der Wirklichkeit Gottes, so dass die Theologie auf kosmologischen Grundlagen aufruht.32 Bei Crusius dagegen hing die Kosmologie von der natürlichen Theologie ab. Der Unterschied zwischen Kosmologie und Physik scheint bei Meier wenig präzise. Solange es sich um die Gegenüberstellung zwischen Allgemeinem und Besonderem handelt, ist die Differenz zunächst klar:
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 9, § 284. Ebd., S. 10, § 284. Christian Bermes behauptet in diesem Zusammenhang: »Meier geht hier z. T. über Wolff hinaus, da Wolff vorsichtiger davon spricht, dass die empirische Kosmolologie die ›notiones directrices‹ der ›Cosmologia transcendentalis‹ aposteriorisch bestätigt.« Christian Bermes: ›Welt‹ als Thema der Philosophie. Hamburg 2004, S. 46. Die Ausführungen Meiers in § 284 der Metaphysik bestätigen aber nicht, dass die Aufgabe der empirischen Kosmologie in der Bestätigung der vernünftigen Kosmologie besteht. Vielmehr betont er »vielerley Wege zur Erkenntniß der Wahrheit« sowie solche Wahrheiten, die entweder nur durch die Vernunft oder nur durch die Erfahrung erkennbar sind. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 9, § 284. Vgl. Wolff: Cosmologia generalis (s. Anm. 22), Praefatio, S. 1, § 1. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 8f., § 283. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 110f., § 352. Bei Wolff waren in der Kosmologie »notiones directrices« nur für Psychologie, Theologie und Physik, vgl. Wolff: Cosmologia generalis (s. Anm. 22), Praefatio. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 11–13, § 286.
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Alexei N. Krouglov In der Cosmologie wird die allgemeine Natur und Entstehungsart aller Körper untersucht, samt alle demjenigen, was alle Körper mit einander gemein haben. Die Naturlehre aber untersucht die besondern Arten der Körper, und das Besondere in ihrer Natur und Beschaffenheit.33
Dennoch fügt Meier noch hinzu, die Kosmologie philosophiere über die Körper »aus der Vernunft«, während die Naturlehre »blos auf die Erfahrung geht«.34 In diesem Fall hat die Kosmologie »gar keinen Nutzen« für die Physik. Worin dann aber der Unterschied zwischen der empirischen Kosmologie und der Naturlehre noch liege, erklärt Meier nicht. Auch hier ist die Differenz zu den Argumenten bei Wolff deutlich: Kosmologie als »Fundamentum Physica« bedeutet für diesen, dass dank der logischen und der transzendentalen Wahrheit in der Welt die Anwendung der allgemeinen Sätze in Bezug auf die einzelnen Fälle und auf die in der Welt existierenden Dinge möglich ist.35 Die wohl wichtigste methodische Eigentümlichkeit in der Kosmologie Meiers besteht in seiner unkonventionellen Prägung der Allgemeinheit der metaphysischen Kosmologie. Diese Kosmologie soll u. a. auch solche Materien zu untersuchen, »welche, wo nicht alle mögliche Welten, doch viele zugleich angehen«.36 Diese Einschränkung ist erstaunlich, aber bei Meier findet sich kein weiterer Kommentar dazu. Was bedeutet ›allgemeine‹ Kosmologie, wenn sie das Gemeinsame in ›vielen‹, aber nicht in ›allen‹ Welten in Betracht zieht? Und worin unterscheidet sich dann die ›allgemeine‹ Kosmologie von der Naturlehre, denn das Besondere muss nicht unbedingt einmalig sein und kann auch einigen, sogar ›vielen‹ Körpern eigen sein? Dasselbe Problem taucht auch in Meiers Übersetzung von Baumgartens Metaphysica auf, in der die Rede von den ›Gattungen‹ der Welt ist, was im Original Baumgartens fehlt.37 Möglicherweise können einige dieser Problemlagen durch den Begriff der ›Welt‹ aufgelöst werden, mit dessen Erläuterung Meier den Hauptteil der Kosmologie beginnt. Die drei Hauptteile – über den Begriff der Welt, über ihre Teile und über die Vollkommenheit der Welt38 – entsprechen dabei der Struktur der Kosmologie Baumgartens.39
2. Der Begriff der Welt Um die ihm gut bekannten Auseinandersetzungen über den Begriff der Welt von Anfang an zu vermeiden, unterscheidet Meier zwischen sechs verschiedenen Definitionen der Welt, denen er in seiner Kosmologie nicht folgen wird, nämlich ›Welt‹ als 1) Planetensystem; 2) unser Erdboden im ganzen; 3) ein Teil des Erdbodens; 4) aufeinander folgende Generationen der Menschen; 5) »der Haufe der rohen unbekehrten Menschen«; 6) jede Menge solcher Dinge, die mit-
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Vgl. ebd., S. 13, § 287. Vgl. ebd. Vgl. Wolff: Cosmologia generalis (s. Anm. 22), S. 72, § 79. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 8, § 283. Vgl. dazu Chang Won Kim: Der Begriff der Welt bei Wolff, Baumgarten, Crusius und Kant. Frankfurt a. M. 2004, S. 153, Anm. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 17, § 290. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 111, § 353.
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einander eine merkbare Ähnlichkeit haben.40 Keiner seiner Zeitgenossen hat solche Definitionen der Kosmologie derart ausführlich und differenziert analysiert wie Meier. Seine eigene Definition von Welt lautet in verschiedenen Varianten wie folgt: »das grosse All«; »alles, was ausser Gott würklich ist, und was zusammengenommen ein ganzes ausmacht«;41 »die Reihe, oder der Inbegrif aller würklichen endlichen Dinge, die zusammengenommen ein Ganzes ausmachen, welches kein Theil einer noch grössern Reihe endlicher Dinge ist«.42 In weiteren Bestimmungen heißt es: »Wir wollen durch eine Welt eine Reihe endlicher und würklicher Dinge verstehen, welche kein Theil einer noch grössern Reihe der endlichern Dinge ist«.43 Wenn man diese Definitionen mit Meiers Übersetzung des entsprechenden Paragraphen der Metaphysica Baumgartens vergleicht, findet man kaum Unterschiede: »Die Welt, das grosse All (mundus vniuersum), ist eine Reihe (Menge, ein Inbegrif oder Ganzes) endlicher, würklicher Dinge, welche kein Theil einer andern Reihe ist«.44 Dennoch ist die Unsicherheit Meiers in den bestimmten und unbestimmten Artikeln nicht zu übersehen (eine/die Welt, eine/die Reihe). Hier zeigt sich ein Problem, das in der Studie von Chan Won Kim gründlich und überzeugend herausgearbeitet wurde.45 Je mehr Meier über ›Welt‹ spricht, desto größer ist die Verwirrung bei der Verwendung solcher Artikel. Das lateinische Original Baumgartens zeigt aber, dass Meier eine kleine, aber gewichtige Hinzufügung unternommen hat: »MUNDUS*) [*) die ganze Welt] ([…] universum, pan) est series (multitudo, totum) actualium finitorum, quae non est pars alterius«.46 Weder Wolff – und zwar in allen drei bedeutenden Definitionen der Welt47 – noch Baumgarten haben das Wort ›Inbegriff‹ benutzt, das bei Meier ausdrücklich vorkommt. Aus den »multitudo, totum« bei Baumgarten entstehen »Menge, ein Inbegrif oder Ganzes« bei Meier. Denselben Terminus ›Inbegriff‹, der Kant lateinisch mit ›complex‹ und ›aggregatum‹ erklärt48, hat noch Crusius in den Definitionen der Welt verwendet: »Wir wollen also unter der Welt den ganzen Inbegriff aller endli40 41 42
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Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 18–20, § 291. Ebd., S. 20, § 292. Ebd., S. 21, § 292. Am Rande lässt sich noch festhalten, dass Meier im Streit Langes gegen Wolff über den Begriff der Welt an der Seite Langes steht und nach Baumgarten oder Crusius durch den Zusatz, dass die Welt als Reihe selbst kein Teil einer anderen Reihe sein kann, die Probleme der wolffschen Definition zu lösen glaubt. Vgl. die Rede von einem ›Bienenstock‹, ebd., S. 24, § 293. Vgl. auch Langes Erwiderung über den »erfüllten Bienen-Korb«, Joachim Lange: Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Methaphysico von Gott, der Welt, und dem Menschen; Und insonderheit von der so genannten harmonia praestabilita des commercii zwischen Seel und Leib: Wie auch in der auf solches Systema gegründeten Sitten-Lehre. Halle 1724, Erste Section, S. 58; ND Wolff: GW (s. Anm. 2), Hildesheim 1999. Abt. III, Bd. 56. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 21, § 292. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 24), S. 106, § 255. Vgl. dazu auch Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 138 Anm. Vgl. ebd., S. 48–54. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 111, § 354. Vgl. Christan Wolff: Ratio praelectionum Wolfianorum in Mathesin & philosophiam universam. Halle 21735 [11718], S. 151, § 25; Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 111751, S. 332, § 544; ND Wolff: GW (s. Anm. 2), Hildesheim 2009, Abt. I, Bd. 2; Wolff: Cosmologia generalis (s. Anm. 22), S. 44, § 48. Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: AA VIII, S. 400, Anm.
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chen Dinge verstehen, davon wir einen Theil um und neben uns sehen, und davon wir selbst ein Theil sind«;49 die Welt ist ein »ganzer Inbegriff aller Dinge«.50 Ein direkter Hinweis auf Crusius ist jedoch in Meiers Schriften kaum zu finden. Allerdings nennt er auch den Namen Wolffs in seiner Kosmologie nicht, obwohl er sich implizit auf ihn bezieht, wenn er sich beispielsweise zu der Verbindung der endlichen Dinge in Raum und Zeit äußert.51 Am ungewöhnlichsten klingt noch folgende Erläuterung der Welt bei Meier: Eine Welt sei »eine Reihe der Dinge […], die man sich in Gedanken als würkliche Dinge vorstelt, sie mögen nun ausser unserm Verstande in der That würklich vorhanden seyn, oder sie mögen ausser unsern Gedanken keine reelle Würklichkeit haben«.52 Meier bestreitet mithin die Möglichkeit der Existenz mehrerer, wirklich außer unserem Verstande vorhandener Welten, lässt jedoch die Möglichkeit zu, dass mehrere wirkliche Welten als in den Gedanken wirklich vorgestellte Welten existieren.53 Auch in diesem Zusammenhang erinnert die Terminologie Meiers an Crusius, der die »Verknüpfung ausser den Gedancken« von der »Verknüpfung nur in Gedancken«54 unterscheidet, wenngleich Crusius im Unterschied zu Meier betont: »Die Welt soll etwas eines seyn, und zwar ein solches, welches auch ausserhalb unserer Gedancken ein Eines ist«.55 Auffällig bleibt allerdings die Tatsache, dass Meier nach ersten Deklarationen über einen »ausführlichen und fruchtbaren Begrif der Welt überhaupt«56 im weiteren Kapitel mit diesem Begriff zurückhaltend umgeht und eher über eine Welt bzw. die Welt spricht. Von ›einer‹ oder ›dieser‹ Welt schließt Meier in durchaus problematischer Weise auf die Welt überhaupt: »Wer zweifelt wohl an der Möglichkeit der Menschheit, da einzelne Menschen möglich sind?«57 Eine präzise Definition der Welt überhaupt bleibt Meier also schuldig.58 Auch in die Register zur Metaphysik ist dieser Begriff nicht aufgenommen. Unterdessen war die Schlussfolgerung von der wirklichen Welt auf die Welt überhaupt für manche seiner Zeitgenossen wenig überzeugend. Das beste Beispiel bieten in dieser Hinsicht die Schriften Eschenbachs. In seiner Logic heißt es:
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Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 356, § 204. Crusius: Einleitung in die wahre und vollständige Cosmologie (s. Anm. 19), S. 5, § 3. Meier geht davon aus, dass die Verknüpfung dem Raum und der Zeit nach nicht in jeder Welt vorkommt; vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 22, § 293. Bei Wolff ist die Verknüpfung der Welt immer in der Zeit und in dem Raum. Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedanken (s. Anm. 47), S. 333, § 548f.; S. 337, § 559. Vgl. dazu auch Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 146f. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 23, § 293. Vgl. dazu Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 153–158. Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 164, § 93. Vgl. dazu Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 179. Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 672f., § 349. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 17, § 290. Ebd., S. 27, § 295. Zwar kann man sagen, dass auch bei Crusius und anderen Denkern, einschließlich Wolff (universum in genere) eine solch präzise Formulierung fehlt. Wenn aber jemand eine Definition vorschlägt wie Crusius, dann klingt sie der Bestimmung Meiers sehr ähnlich: Eine Welt überhaupt »heißt eine solche reale Verknüpfung endlicher Dinge, welche nicht selbst wiederum ein Theil von einer andern ist, zu welcher sie vermittelst einer realen Verknüpfung gehörte. Oder: eine Welt ist ein solches Systema von endlichen und realiter verknüpften Dingen, welches nicht selbst wiederum in einem andern Systemate als ein Theil enthalten ist«; Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 675, § 350. Man darf aber nicht vergessen, dass die Kosmologie von Crusius die wirklich vorhandene Welt untersucht, was die Situation viel leichter macht, als die Meiers.
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Die Verbindung der endlichen Dinge, die diese gegenwärtige Welt ausmachen, gibt Gelegenheit zu einer Wissenschaft, die man die Cosmologie oder Weltlehre nennt. Andere setzen das Wort Transcendentalis, hinzu, weil sie sich in ihrem Gehirn allerhand mögliche Welten bilden, und durch Hülfe der Absonderung sich eine Welt überhaupt vorstellen zu können glauben. Ich zu meinem Theil halte es mit denen, die die möglichen Welten fahren lassen und bei Betrachtung der gegenwärtigen Welt bleiben; die sie in die Geisterwelt d. i. die Gesellschaft aller vernünftigen Geschöpfe die wir in dieser Welt bemerken oder aller endlichen Geister (welche von einigen die Republik oder Stadt Gottes genannt wird), und in die Körperwelt d. i. das grosse Weltgebäude mit seinem Hauptkörpern, Sonne, Mond, und Sterne u. d. g. (als womit sich die Sternkunst, Astronomie, vorzüglich beschäftigt) eintheilen; und dan diese Geister- und Körperwelt zusammen genommen, die Welt überhaupt, und die Wissenschaft davon schlechtweg die Cosmologie, oder auch mit dem Zusatz die Cosmologia Transcendentalis heissen.59
Wessen Gehirn Eschenbach so spöttisch gemeint hat, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Gleichwohl passt diese Kritik auch auf Meier, der den Weltbeschauer »in seinem Verstande«, »in seinen Gedanken« vieles erkennen lässt.
3. Die Wahrheit der Welt Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels Von den allgemeinen Beschaffenheiten der Welt60 in der Kosmologie Meiers ist eine deutliche Erweiterung Baumgartens. Dieser griff in den Paragraphen 359 und 360 der Metaphysica auf die alte Lehre von den Transzendentalien zurück und betonte, dass jede Welt als Ding eines (unum), wahr (verum),61 vollkommen (perfectus) und gut (bonus) sei.62 Daraus entstehen bei Meier die Abschnitte Von der Einheit der Welt, Von der Ordnung in der Welt, Von der Wahrheit der Welt und Von der Vollkommenheit der Welt. Ich konzentriere mich auf diejenigen Veränderungen gegenüber Baumgarten, die Meier im Abschnitt über die Wahrheit der Welt ausführt. Das Thema der Transzendentalien ist in die deutsche Metaphysik zum großen Teil durch Wolff übermittelt worden, obwohl seine Anhänger auch andere Quellen kannten. In der Ontologie bespricht Wolff entsprechend die unitas transcendentalis, veritas transcendentalis und bonitas transcendentalis (die letztere ist mit der perfectio verbunden).63 Unitas transcendentalis bedeutet die Untrennbarkeit dessen, wodurch das Seiende determiniert wird; bonitas transcendentalis ist die Vollendung oder die Vollkommenheit der Mannigfaltigkeit. Am wichtigsten ist für Wolff aber die veritas transcendentalis: »Omne est et verum«.64 Einerseits liefert die transzen59
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Johann Christian Eschenbach: Logic oder Denkungswissenschaft. Rostock 1756, S. 36, § 23. Ähnlich behauptet er auch in der Metaphysik, vgl. Eschenbach: Metaphisic oder Hauptwissenschaft (s. Anm. 21), S. 325, § 78, Anm. Es entspricht bei Baumgarten dem Kapitel über den Begriff der Welt. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 112, § 359. Ebd., S. 113, § 360. Vgl. Christian Wolff: Philosophia prima sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur. Frankfurt a. M. 1736, S. 261, § 329; S. 385, § 499; S. 387, § 501; S. 390, § 502f.; ND: Wolff: GW (s. Anm. 2), Hildesheim 1962, Abt. II, Bd. 3. Ebd., S. 384, § 497; vgl. auch S. 383, § 496: »Ens verum dicitur, in qou datur veritas, consequenter si in iis, quae eidem conveniunt, ordo datur.«
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dentale Wahrheit eine Grundlage der logischen Wahrheit.65 Andererseits bedeutet sie eine Ordnung in den Veränderungen der Dinge oder in der Mannigfaltigkeit;66 in der deutschen Version heißt es: »Und ist demnach die Wahrheit nichts anders als die Ordnung in den Veränderungen der Dinge: hingegen der Traum ist Unordnung in den Veränderungen der Dinge«.67 Die Hochschätzung der transzendentalen Wahrheit ist für viele Wolffianer kennzeichnend.68 Dass es sich in der Deutschen Metaphysik eben um die transzendentale Wahrheit handelt, erweist sich aus dem wolffschen Kommentar mit dem Untertitel »Was Veritas transscendentalis sey«: Indem hier die Wahrheit durch die Ordnung in den Veränderungen der Dinge erkläret wird; so verstehet man diejenige Wahrheit, welche die Welt-Weisen Veritatem transscendentalem genennet, und als eine Eigenschaft des Dinges überhaupt betrachtet angegeben: Denn diese Art der Wahrheit wird dem Traume entgegen gesetzet. Der Grund von der Wahrheit ist der Satz des zureichenden Grundes.69
Terminologisch ist die Gleichsetzung der transzendentalen und der metaphysischen Wahrheit bei Wolff bemerkenswert und einflussreich.70 Die Stellung der Transzendentalienlehre bei Baumgarten wird in der Forschungsliteratur kontrovers debattiert. Nach Hinrich Knittermeyer ist das transzendentale Moment in der Metaphysik Baumgartens »keine grundlegende Bestimmung mehr, wie bei den Scholastikern, und man hat in der Tat den Eindruck, als ob das alte Hausinventar nur seiner Ehrwürdigkeit wegen noch immer mit fortgeschleppt würde«.71 Norbert Hinske behauptet dagegen, Baumgarten stelle die Lehre von den Transzendentalien in »überraschender Geschlossenheit, wenn auch an untergeordneter Stelle« dar.72 Veritas transcendentalis bedeutet für Baumgarten die Ordnung der wesentlichen Bestimmungen des Seienden, wobei er im Unterschied zu Wolff zwischen veritas metaphysica und veritas transcendentalis unterscheidet: »VERITAS METAPHYSICA*) [*) die metaphysische Wahrheit] (realis, obiectiva, materialis) est ordo plurium in uno, VERITAS in essentialibus et attributis entis, TRANSCENDENTALIS**) [**) die nothwendige metaphysische Wahrheit]«.73 An anderen Stellen übersetzt er aber ›transzendental‹ als ›wesent-
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»Si nulla datur in rebus veritas transcendentalis, nec datur veritas logica propositionum universalium, nec singularium datur nisi in instanti.« Ebd., S. 385, § 499. Am Seitenrande steht hier bei Wolff: »Veritas logicae a transcendentali dependentia.« »Veritas adeo, quae transcendentalis appelantur & rebus ipsi inesse intelligitur, est ordo in varietate eorum, quae simul sunt se invicem consequuntur, aut, si mavis, ordo eorum, quae enti convenient.« Ebd., S. 383, § 495. Wolff: Vernünfftige Gedanken (s. Anm. 47), S. 74, § 142. Vgl. z. B. Baumeister: Institutiones metaphysicae (s. Anm. 2), S. 146, § 197; Reusch: Systema metaphysicum (s. Anm. 4), S. 101f., § 110; Böhm: Metaphysica (s. Anm. 7), S. 104, § 171. Christian Wolff: Der Vernünfftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Teil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen. Frankfurt a. M. 31733, S. 90, § 43 [ad § 142]. »Notio veritas transcendentalis seu metaphysicae«. Wolff: Philosophia prima sive ontologia (s. Anm. 63), S. 387, § 502. Hinrich Knittermeyer: Der Terminus transszendental in seiner historischen Entwicklung bis zu Kant. Marburg 1920, S. 195f.; vgl. auch Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV), B113. Norbert Hinske: Transzendental. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer. Basel 1998, Bd. 10, Sp. 1378. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 24f., § 89.
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lich‹.74 Für Meier heißt ›transcendentalis‹ in beiden Fällen seiner Übersetzung ›unbedingt‹ – auch hier vermeidet er es, den Terminus ›transzendental‹ zu verwenden.75 Wie Wolff, so betont auch Baumgarten: »Omne ens est verum transcendentaliter […]«.76 Die Verwirrung, die der transzendentalen Wahrheit entgegengesetzt ist, wäre für ihn ein objektiv verstandener Traum.77 Dennoch ist die transzendentale Wahrheit absolut notwendig, so dass sie kein Gegenteil hat bzw. zulässt.78 Eine weitere Erklärung der metaphysischen Wahrheit bei Baumgarten lautet: »VERITAS METHAPHYSICA potest definiri per convenientiam entis cum principiis catholicis. […] Folglich kann die METAPHYSISCHE WAHRHEIT als Bestimmung des Dinges mit den allgemeinen Prinzipien definiert werden«.79 Aus der These von der Wahrheit des Seienden leiten sowohl Wolff als auch Baumgarten die These von der Wahrheit der Welt ab.80 Im Kommentar dazu – unter dem Untertitel »Woher die Wahrheit in der Welt kommet?« – erklärt Wolff: Wenn in der Welt nicht alles in einander gegründet wäre, was natürlicher Weise nach einander erfolget; so gienge es in der Welt her, wie im Träume […]. Will man in den natürlichen Begebenheiten Wahrheit haben, und sie von Träume unterscheiden, auch die Welt zu keinem Schlaraffen-Lande machen, da die Veränderungen keine Raison haben, daraus man sie verstehen und andern verständlich erklären kann; so muß man zugeben, daß sie in einander gegründet sind, folgends eine solche Verknüpfung in ihnen zu finden, wie wir angenommen haben.81
Das entscheidende Moment dieser Bestimmung ist für Wolff dabei eine Gegründetheit, eine Verknüpfung: »Aus der Verknüpfung der cörperlichen Dinge miteinander habe ich gewiesen, was eigentlich der von den Physicis heute zu Tage so genannte Mechanismus sey, und daß dadurch Wahrheit in die Welt kommet«.82 Wolff behauptet also, dass diese Verknüpfung, dieser Mechanismus die Welt als Maschine bestätigen, und eben das ist die Ursache der Wahrheit in der Welt: »Da nun in der Welt deswegen Wahrheit ist, weil alles in ihr sowohl der Zeit als dem Raume nach in einander gegründet ist […], dieses aber von der Art der Zusammensetzung herrühret […]; so ist eben deswegen in der Welt Wahrheit, weil sie eine Maschine ist. Sollte sie 74 75
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Vgl. ebd., S. 20f., § 73. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 24), S. 23, § 55; S. 28, § 68: »Die metaphysische Wahrheit (veritas metaphysica, realis, materialis) ist die Uebereinstimmung eines Dinges mit den allgemeinen Erkenntnißgründen. In sofern die wesentlichen Stücke und Eigenschaften eines Dinges den allgemeinen Erkenntnißgründen gemäß sind, in so ferne hat es eine unbedingte metaphysische Wahrheit (veritas transcendentalis).« Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 25, § 90. Vgl. ebd., S. 25, § 91. Vgl. Eschenbach: »Die so genannte Metaphysische Wahrheit wird nicht dem Traum, sondern der Metaphysischen Falschheit entgegen gesetzt.« Eschenbach: Metaphisic oder Hauptwissenschaft (s. Anm. 21), S. 54, § 18, Anm. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 34, § 118. Ebd., S. 25f., § 92. »Weil in der Welt sowohl der Zeit als dem Raume nach alles in einander gegründet ist […]; so ist in der Welt und ihren Veränderungen eine Ordnung […], nehmlich eben dergleichen Ordnung als man in einem ordentlichen Beweise […], folgends auch Wahrheit«. Wolff: Vernünfftige Gedanken (s. Anm. 47), S. 337, § 558. Wolff: Der Vernünfftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Teil (s. Anm. 69), S. 303, § 184 [ad § 558]. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache herausgegeben. Frankfurt a. M. 21733, S. 236f., § 81.
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keine Maschine bleiben; so würde zwischen ihr und einem Träume der Unterschied aufgehoben«.83 Diese unmittelbare Verknüpfung der Wahrheit der Welt von der Existenz der Welt als Maschine ist eine Besonderheit der Kosmologie Wolffs.84 Baumgarten schenkt der Wahrheit der Welt viel weniger Aufmerksamkeit als Wolff und bringt dabei auch die Maschine – d. h. den Mechanismus als zentrale Ordnungsform der Welt – nicht zur Sprache: »Omnis mundi partes sunt actualia, […] hinc singulae in suo mundo, adeoque partes huius mundi in hoc mundo habent veritatem, […] et certitudinem, […] ut determinationes internas, […] determinatas«, »[d]ie Teile jeder Welt sind wirklich […], folglich haben die einzelnen Teile in ihrer jeweiligen Welt und daher die Teile dieser Welt in dieser Welt ihre Wahrheit […] und Gewißheit […] als innere […] bestimmte Bestimmungen«.85 Auch in Bezug auf die Bewegung der Körper entsteht bei ihm das Thema der Wahrheit.86 Auf den ersten Blick gewinnt die Lehre von den Transzendentalien bei Meier wieder an Bedeutung, denn dessen Ontologie ist »das ausführlichste, umfangreichste und gedankenreichste ontologische Werk um die Mitte des [18.] Jahrhunderts. Die Ontologie wird darin auf fast 500 Seiten dargestellt«.87 Im Unterschied zu Wolff beginnt Meier seine Ontologie sogar mit drei Transzendenalien und mit der Ordnung des Ganzen. Was bei Baumgarten an »untergeordneter Stelle« steht, findet bei Meier einen besonderen Platz auch in der Gliederung. Er widmet einen speziellen Abschnitt der metaphysischen Wahrheit der Welt, was weder Wolff, noch Baumgarten, noch andere berühmte Wolffianer gewagt hatten. Ob Meier aber in diesem Abschnitt auch dem Gehalt nach im Rahmen der Transzendentalienlehre verbleibt, ist durchaus zweifelhaft. Wichtig ist, dass es bei Meier um die objektiven, transzendentalen Eigenschaften geht, um das Seiende selbst, bzw. um die Erkenntnisgründe des Seienden, um Gewissheit, Möglichkeit und Notwendigkeit oder Fatalismus.
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Wolff: Vernünfftige Gedanken (s. Anm. 47), S. 337, § 559. Vgl. auch die Anmerkung: »Wenn ich hier erweise, daß eben deßwegen in der Welt-Weißheit ist, weil sie eine Machine ist, in dem Verstande, wie ich es […] erkläret, und die heutigen Welt-Weisen es nehmen, die sie eine Machine zu nennen pflegen; so geschiehet es zu dem Ende, damit wir nicht aus Mißverständniß die sogenannte Philosophiam mechanicam verwerffen, noch sie wieder alle Raison als gefährlich aufschreyen, wie diejenigen zu thun pflegen, welche keinen deutlichen Begriff von dem Mechanismo haben, wie ich schon vorhin […] angemercket.« Wolff: Der Vernünfftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Teil (s. Anm. 69), S. 304, § 185 [ad § 559, 560]. »Man siehet leicht, daß, was von der Welt […] gesaget worden, auch von allen zusammengesetzten Dingen gilt: nehmlich daß auch sie Maschinen sind, und eben deswegen in ihnen Wahrheit ist.« Wolff: Vernünfftige Gedanken (s. Anm. 47), S. 337f., § 560. Vgl. auch Wolff: Cosmologia generalis (s. Anm. 22), S. 71, § 78. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 117, § 376. »Cum in mundo sit universalis veritas, […] omnes eius mutationes habent normas communes, […] secundum quas natura partium eius determinatur, […] hinc et motus corporum in mundo, […] quarum superiores LEGES*) [*) gemeine], inferiores REGULAE MOTUS**) [**) besondere Gesetze der Bewegung] dicuntur«; »Da eine universale Wahrheit in der Welt ist […], unterliegen alle ihre Veränderungen gemeinsamen Normen […], denen gemäß die Natur ihrer Teile bestimmt wird […], folglich auch die Bewegungen der Körper in der Welt […]. Die höheren Norman heißen GESETZE, die niederen Norman REGELN DER BEWEGUNG.« Ebd., S. 140, § 432. Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum (s. Anm. 18), S. 180f.
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Dabei redet er nicht nur von der »Wahrheit der Welt«, sondern auch über die »Welt der Wahrheiten«.88 Meier kennt drei Arten von Wahrheiten: Die sittliche oder moralische Wahrheit besteht in der Fertigkeit, seinen Sinn richtig an den Tag zu legen, ohne alle Verstellung, und man sieht von selbst, daß sie nur, in der Bezeichnung unseres Sinnes durch Worte und andere Zeichen, stat finden könne. Was aber die logische Wahrheit betrift, so muß man dieselbe als eine Vollkommenheit unserer Erkenntniß betrachten.89
Nach seiner Vernunftlehre »besteht demnach die logische Wahrheit der Erkenntniss (veritas cognitionis logica), in der Übereinstimmung derselben mit ihrem Gegenstande, und die logische Unrichtigkeit derselben (falsitas cognitionis logica) darin, wenn sie mit ihrem Gegenstande nicht übereinstimmt«.90 Die dritte Art der Wahrheit ist »die metaphysische Wahrheit einer Sache«, die in der »Uebereinstimmung der Sache mit den allgemeinen Grundsätzen der menschlichen Erkenntniß« besteht.91 Eben diese dritte Art bringt jedoch die meisten Probleme mit sich. Auf die wesentliche Differenz dieser Einstellung Meiers im Vergleich zu Baumgarten hat bereits Kim hingewiesen. Diese Differenz ist nicht nur in Meiers eigener Metaphysik, sondern auch in seiner Übersetzung der Metaphysica Baumgartens zu erkennen, in der er statt ›transcendentalis‹ ›unbedingt‹ schreibt.92 Kim bemerkt in diesem Zusammenhang: »Allem Anschein nach bedeutet Baumgartens Begriff der metaphysischen Wahrheit nicht die Übereinstimmung eines Dinges mit den allgemeinen Erkenntnisgründen, sondern die sachliche oder die objektive Grundlage für diese Übereinstimmung. Vielleicht ist eine solche Einmischung des Subjektiven in die Metaphysik als Meiers eigene Auffassung von der Metaphysik anzusehen«.93 Kim schließt aus diesem Befund, dass man von einer Subjektivierung der metaphysischen Erklärung der Wirklichkeit bei Meier sprechen könne und müsse: Entspricht dann Baumgartens allgemeine Kosmologie, in der der auf solche Weise verstandene Weltbegriff gelehrt wird, etwa der metaphysischen Wahrheit, die er als die reale, objektive, materiale Wahrheit versteht? Ist eine solche Erklärung des Begriffs der Wirklichkeit nicht Baumgartens, sondern Meiers eigene Auffassung?94
Zwar betone Meier später, dass die metaphysische Wahrheit die Möglichkeit der Bestimmung einer Sache und die Verknüpfung dieser Bestimmung bedeutet, d. h. das Mannigfaltige in der Sache widerspricht einander nicht;95 doch die entscheidende Definition bleibt nach wie vor diejenige, die im Zusammenhang mit den ›Erkenntnisgründen‹ steht. Da nach Meier alle möglichen Dinge metaphysische Wahrheit haben,96 besitzt die Welt als ein mögliches bzw. wirkliches ›Ding‹ (res) eine metaphysische Wahrheit.97 Eine Welt ohne die metaphysische Wahrheit ist 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 20, § 291. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Theile. Halle 1755–1759, Tl. 1, S. 157, § 89. Vgl. Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752, S. 25, § 99. Diese Definition wird später auch in der Kritik der reinen Vernunft von Kant wiederholt, vgl. KrV B 82/ A 58. Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, S. 155, § 89. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 24f., § 89; S. 25f., § 92; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 24), S. 28, § 68. Vgl. Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 158, Anm. Ebd., S. 158. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, S. 156, § 89. Vgl. ebd., S. 157, § 90. Vgl. ebd., Tl. 2, S. 106, § 341.
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»eine fabelhafte Welt«.98 Diese sich hier andeutende Polysemie der metaphysischen Wahrheit bei Meier erläutert Sonia Carboncini folgendermaßen: Der Wahrheitsbegriff bezieht sich zwar auf die wirklichen Dinge, ist aber zugleich ein formaler Begriff, der auf der inneren Möglichkeit der Dinge beruht und sie erklärt. Die metaphysische Wahrheit erklärt, wie ein wirkliches Ding denkbar sei, wie es innerlich möglich ist und wie seine unendlichen Bestimmungen zusammenhängen.99
Es gibt nach Meier sowohl die Wahrheit der Welt als auch die Wahrheit ihrer Teile. Eine Bestätigung der Wahrheit der Welt sieht Meier in der in ihr angetroffenen Ordnung.100 Den metaphysischen Charakter der Wahrheit der Welt erkennt man auch in Meiers These von der Wahrheit (und der Gewissheit) als innerlichen Bestimmung, die nicht als ein Verhältnis der Erkenntnis zu den Dingen bestimmt ist.101 Ein Verhältnis als eine äußerliche Bestimmung102 entspricht wohl der logischen Wahrheit. Was aber bei Meier auffällt, ist die Distinktion zwischen Wahrheit und Gewissheit, die ebenfalls in der Kosmologie gebildet wird.103 Baumgarten hatte in seiner Ontologie über die Gewissheit gesagt: »CERTITUDO OBIECTIVA*) [*) Gewissheit der Dinge] […] est apperceptibilitas veritatis in ente. Iam omnis entis veritas est clare cognoscibilis […]. Ergo omne ens est obiective certum«.104 Meier übersetzte diese Passage in der folgenden Weise: »Die Gewissheit der Sache (certitudio objectiua) ist die Möglichkeit der klaren Erkenntniß ihrer Wahrheit. Nun kann die Wahrheit aller Dinge […] klar erkannt werden […] folglich ist ein jedes Ding an sich betrachtet gewiß«.105 Wenn aber Baumgarten in seine Kosmologie ohne wesentliche Referenz auf den Begriff der Gewissheit auskommt, ist dieser bei Meier demgegenüber ein Leitbegriff, wobei die Gewissheit bei Meier nicht die Begreiflichkeit der Wahrheit im Ding, die die objektive Wahrheit dieses Dinges erkennbar macht, sondern vielmehr als »conscientia veritatis« oder subjektive Gewissheit bedeutet.106 In der Ontologie unterscheidet Meier zwischen der »allgemeinen oder nothwendigen metaphysischen Wahrheit«, die dem Wesen und allen möglichen Dingen zukommt, und der »zufälligen metaphysischen Wahrheit«.107 Die notwendige metaphysische Wahrheit war sowohl für Baumgarten als auch für Meier ein Synonym für die transzendentale Wahrheit. Aber in der Kosmologie verwendet Meier diesen Terminus so gut wie gar nicht. Dagegen bedient er sich in der Kosmologie der Gegenüberstellung der »schlechterdings nothwendigen« und der »zufälligen metaphysischen« Wahrheit.108 Solche Gegensätze erinnern an den Entwurf von Crusius. Dessen notwendige 98
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Ebd., S. 107, § 341. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 25, § 91; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 24), S. 29, § 71. Vgl. über die Verbindung der Traumlehre mit der metaphysischen Wahrheit bei Meier Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum (s. Anm. 18), S. 183; Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, S. 161, § 92. Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum (s. Anm. 18), S. 183. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 106, § 342. Vgl. ebd., S. 114, § 345. Vgl. ebd., Tl. 1, S. 86, § 49. Vgl. ebd., Tl. 2, S. 109f., § 343. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 26, § 93. Ebd., S. 29, § 72. Ebd., S. 185, § 531. Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, S. 158, § 90. Ebd., Tl. 2, S. 108, § 342.
Die Wahrheit der Welt in Meiers Kosmologie
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Wahrheiten »betreffen entweder dasjenige, was schlechterdings nothwendig ist und unmöglich nicht seyn kan; oder zum wenigstens dasjenige, was bey Setzung einer Welt unvermeidlich ist, und also in einer iedweden Welt eben so wohl als in der gegenwärtigen statt finden muß«.109 Aber die Parallele zu Crusius ist nur terminologisch. Die notwendigen metaphysischen Wahrheiten sind nach Meier wie eine »mathematisch gewisse Erkenntniß vom ersten Range«110 zu gewinnen. Die zufälligen metaphysischen Wahrheiten sind durch die Erfahrung zu erkennen. An dieser Stelle wird auch klarer, warum in der Kosmologie rationale und empirische Wissenschaften zu vereinigen sind, weil sie nämlich grundsätzlich auf einander bezogen sind. Dagegen lautet die Definition bei Crusius: »Die Kosmologie, oder Lehre von dem nothwendigen Wesen einer Welt, und was daraus a priori begriffen werden kann«.111 Er untersucht in seiner Kosmologie nur die notwendigen Wahrheiten und schließt von dieser Disziplin eine empirische Kosmologie, die Meier fordert, aus. Die Differenz zwischen den notwendigen und den zufälligen metaphysischen Wahrheiten hat in Meiers ›unkonventionellem‹ Verständnis der Möglichkeit und der Wirklichkeit ihre Wurzel. Er stellt die Wirklichkeit nicht einfach der Möglichkeit gegenüber, sondern zieht noch eine Trennungslinie zwischen der bloßen und der innerlichen Möglichkeit. Die erste kann kaum Wirklichkeit werden. Wenn die notwendigen metaphysischen Wahrheiten jeder möglichen Welt eigen sind – und d. h. auch den bloß möglichen Welten – so sind die zufälligen metaphysischen Wahrheiten eine Folge der Wirklichkeit und können bei einer bloß möglichen Welt, weil diese nicht wirklich sind bzw. sein können, nicht vorhanden sein.112 Vielleicht lässt diese Unterscheidung den folgenden Satz Meiers besser verstehen, die Kosmologie untersuche etwas, was allen oder vielen (wirklichen und nicht bloß möglichen) Welten gemeinsam ist. Aber auch der Begriff der Wirklichkeit ist bei Meier doppelt konnotiert: Es gibt eine Wirklichkeit nur in unseren Gedanken und eine solche, die auch außerhalb unserer Gedanken existiert. Das ›Denken einer Welt‹ heißt dann, dass wir eine »Vorstellung haben, die mehr Wahrheit enthält, als die blosse logische Wahrheit«.113 Die Eigentümlichkeit von Meiers Definition der Wirklichkeit ist auch bei folgenden Erklärungen ersichtlich: »[W]as in einer Welt möglich seyn soll«, ist, »was in einer Welt würklich seyn kann«.114 Noch irritierender schient die These: » [W]as in der Welt nicht würklich ist, das ist auch in derselben nicht möglich«,115 sonst wären seine Gründe und Folgen in der Welt wirklich, und zwar in Form der Gründe ohne Folgen und umgekehrt. Es scheint aber, dass diese These eine Sache post factum betrifft. In der Gegenwart können wir den Zusammenhang als Ganzes und bis zum Ende schwer beobachten; deshalb generiert an dieser Systemstelle das Thema der Schranken der menschlichen Erkenntnis, über das Meier eine eigene Schrift verfasste.116 Die theologische Bedeutung dieser Ausführungen besteht in der Versicherung Meiers, »daß alles
109 110 111 112 113 114 115 116
Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 4, § 1. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 109, § 342. Crusius: Entwurf (s. Anm. 14), S. 665. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 108f., § 342. Ebd., S. 108, § 341. Ebd., S. 110, § 343. Ebd., S. 111, § 343. Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über die Schrancken der menschlichen Erkenntniß. Halle 1755.
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was in der Welt möglich ist, auch in derselben geschehe«.117 Furcht und vergebliche Hoffnungen wären also dadurch besiegt. Diese eigentümlichen Schlussfolgerungen widersprechen auf den ersten Blick den Erklärungen Meiers selbst. Entsprechend den Paragraphen 57 bis 60 der Metaphysica Baumgartens stellt Meier vier Thesen von der Abhängigkeit der Möglichkeit/Unmöglichkeit und der Wirklichkeit/Nicht-Wirklichkeit und umgekehrt auf. Der letzte Satz lautete bei Baumgarten: »Quoddam non actuale est possibile«,118 »Einiges Nichtwirkliche ist möglich«. Oder, in der Übersetzung Meiers, »Einiges, was nicht würklich ist, ist demohnerachtet möglich«.119 Der entsprechende Satz in der Meiers eigener Metaphysik lautet jedoch wie folgt: Man kann »nicht allemal richtig schliessen: was nicht würklich ist, das ist auch nicht möglich«.120 Warum trifft dieses Argument gerade im Falle der Welt nicht zu? Bei Meier lassen sich wenigstens zwei Argumente finden. Noch in der Ontologie behauptet er: »Was in GOtt nicht würklich, das ist in ihm auch nicht möglich, und was in der besten Welt nicht würklich ist, das ist in ihr auch und in ihrem ganzen Zusammenhange nicht möglich«.121 Wenn es sich aber nicht um die beste Welt handelt, kann man immer noch sagen: Was in der Welt nicht wirklich ist, das ist in derselben Welt (d. h. in der Verknüpfung dieser Welt) nicht möglich; doch ggf. ist es in einer anderen Welt doch möglich. Wenn ich die Gedanken Meiers richtig verstehe, ist für ihn der Unterschied zwischen der innerlichen Möglichkeit und der Wirklichkeit nahezu nichtig. In der Tat gilt nur die bloße Möglichkeit122 als Gegensatz der Wirklichkeit. Diese Verknüpfung lässt sich erkennen, wenn er schreibt: »Eine Sache kan möglich seyn, ob sie gleich nicht würklich ist«.123 Da es sich bei Meier um eine Wirklichkeit der Welt handelt, die gegenüber zeitlichen Bestimmungen indifferent ist, haben raum-zeitliche Ordnungsmuster im Hinblick auf den Wirklichkeitsbegriff keinerlei Bedeutung. Bei Meier fehlt jene stillschweigende Voraussetzung Eschenbachs, durch welche die gegenwärtige Welt die wirkliche wird. Im Gegenteil behauptet Meier: »Was würklich ist, kan würklich gewesen sey, oder noch würklich seyn, oder erst noch würklich werden«.124 Was innerlich möglich ist, wird doch irgendwann auch wirklich; von dieser Perspektive aus ist allerdings auch eine Gegenwärtigkeit wirklich. Die zufälligen metaphysischen Wahrheiten, die Wirklichkeit der gewissen Welt hängen vor allem von der Verknüpfung der Dinge in dieser Welt ab. Meiers konsequente Entwicklung solcher Ausführungen führte letztlich zu Anschuldigungen wegen fatalistischer Schlussfolgerungen: »Folglich kan kein Theil dieser Welt, in dem allgemeinen Zusammenhange derselben, anders seyn und erfolgen, als er würklich ist und erfolget«.125 Das gilt auch hinsichtlich der Zukunft: »Folglich ist das Zukünftige, durch das Vergangene und Gegenwärtige, schon so bestimt, daß es eben so und nicht anders unausbleiblich erfolgen muß, als er erfolget«.126 Meier ver117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 112, § 343. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 16, § 60. Ebd., S. 18, § 45. Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, S. 109f., § 64. Ebd., S. 103, § 59. Ebd., S. 102, § 59. Ebd., S. 108, § 63. Ebd., Tl. 2, S. 27, § 295. Ebd., S. 115, § 345. Ebd.
Die Wahrheit der Welt in Meiers Kosmologie
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schärft sogar diese These durch eine Analogie mit der Unausbleiblichkeit oder Unvermeidlichkeit des Syllogismus. Gleichzeitig bestreitet er jedoch jeglichen Fatalismus seiner eigenen Einstellung. Seine Argumentation stellt sich wie folgt dar: Er verbindet die Wahrheit in der Welt mit ihrer Notwendigkeit: »Folglich ist die Wahrheit nichts anders, als die Nothwendigkeit der Sache«.127 Da alle Dinge wahr sind, sind sie auch notwendig: »Folglich haben alle würkliche Dinge in der Welt, alle Begebenheiten, eine Nothwendigkeit«.128 Sie können gar nicht zufällig sein: »Das zufällige muß eine Möglichkeit und Wahrheit in der Welt haben, und die ist nothwendig. Es muß seinen hinreichenden Grund haben, und wenn derselbe einmal da ist, so kan es nicht ausbleiben, und andres erfolgen, als es erfolget, und indem es ist, ist es nothwendig«.129 Dennoch relativiert Meier diese These dadurch, dass er eine hypothetische und absolute Notwendigkeit unterscheidet. In der Welt gibt es nur hypothetische Notwendigkeit: »Allein diese Nothwendigkeit ist nur hypothetisch, weil sie aus einem Zusammenhange ausser einander befindlicher Gründe und Folgen, Ursachen und Würkungen, herfließt«.130 Den Begriff der hypothetischen Notwendigkeit hat Meier von Baumgarten übernommen.131 Baumgarten hatte in seiner Metaphysica das hypothetisch Notwendige wie folgt bestimmt: Cuius oppositum in se impossibile est, est illud NECESSARIUM IN SE*) [*) an sich, schlechterdings, unbedingt, nothwendig] (metaphysice, intrinsecus, absolute, geometrice, logice). Cuius oppositum est extrinsecus tantum impossibile, est NECESSARIUM HYPOTHETICE**) [**) bedingt nothwendig] (secundum quid). Entis determinatio, qua necessarium est, est eius NECESSITAS***) [***) Nothwendigkeit]. Ergo necessitas est vel ABSOLUTA****) [****) die schlechterdings so genannte (unbedingte)] (consequentis), vel HYPOTHETICA*****) [*****) die bedingte] (consequentiae), illa, qua aliquid est in et per se, haec, qua aliquid est hypothetice tantum necessarium.132
Meier hat diese Passage ins Deutsche übersetzt, allerdings ohne das Wort ›hypothetisch‹ zu benutzen: »Dasjenige, dessen Gegentheil nur äusserlich unmöglich ist, ist bedingt und äusserlich nothwendig (neccesarium hypothetice, externe, secundum quid), und seine Nothwendigkeit ist eine äusserliche oder bedingte Nothwendigkeit (necessaritas hypothetica, consequentiae)«.133 In der Kosmologie bezieht sich Baumgarten auf diese ontologische Kategorie der hypothetischen Notwendigkeit allerdings nicht. Andres ist dies bei Meier: In seiner Metaphysik unterscheidet er, und zwar zunächst in der Ontologie, zwischen der »innerlichen und unbedingten Nothwendigkeit« (»schlechterdings, innerlich und an sich nothwendig«) und der »äusserlichen und bedingten Nothwendigkeit« (»äusserlich und auf eine bedingte Art nothwendig«),134 was an seine Übersetzung Baumgartens 127 128 129 130 131
132 133 134
Ebd., S. 116, § 346. Ebd. Ebd., S. 118, § 347. Ebd., S. 116f., § 346. Ob Meier damit etwa Heterogenität der dynamischen Antinomien der KrV meint, ist nicht klar. Seine Ursprünge sind noch tiefer, vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Reflexions sur L’Ouvrage que M. Hobbes a publié en Anglois, de la Liberté, de la Necessité et du Hazard. [Amsterdam] [1710?], S. 6, § 3; Wolff: Philosophia prima sive ontologia (s. Anm. 63), S. 250, § 318. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 24), S. 28f., § 102. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 24), S. 32f., § 81. Meier: Metaphysik (s. Anm. 89), Tl. 1, Tl. 1, S. 179f., § 104.
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erinnert. Aber in der Kosmologie greift er auf den Begriff der hypothetischen Notwendigkeit zurück, der in seiner Ontologie fehlte, und verwendet ihn an derjenigen Stelle, an der er der Sache nach von der äußerlichen oder bedingten Notwendigkeit spricht. Der Grund dafür ist nicht ganz klar, aber diese Volte scheint mit der Polemik Meiers gegen seine Gegnern verbunden zu sein, die ihm Fatalismus vorgeworfen hatten. Ein weiterer Grund könnte in folgendem Sachverhalt bestehen: Hypothetisch notwendig ist bei Meier nicht selten etwas, das in Bezug auf die zukünftigen Ereignisse gültig ist; man könnte das auch in der folgenden Weise formulieren: Das ist etwas Notwendiges, aber diese Notwendigkeit ist in der Gegenwart nur hypothetisch und erst post factum wird sie vollkommen. Oder, wie es bereits Leibniz entwickelte, man vermutet eine Vorhersage, einen Plan, eine vorläufige Vorbereitung, was erst post factum bestätigt, oder auch widerlegt werden kann.135 Inwiefern entschärft aber eine solche Interpretation die Vorwürfe des Fatalismus? Meier bemüht sich aufzuzeigen, dass die Erwartungen seiner Gegner falsch seien. Sie verstehen, so Meier, den Unterschied zwischen dem Zufälligen und einem ›ohngefähren Zufall‹ nicht: Es gebe nämlich gar keine Zufälligkeit, die mit keiner Notwendigkeit verbunden sei.136 Wäre die Welt absolut notwendig, dann wären die Vorwürfe des Fatalismus berechtigt: »Das absolut Nothwendige kan gar nicht anders seyn, als es ist«.137 Meier behauptet dagegen nur die hypothetische Notwendigkeit, die er als eine Begebenheit dieser Welt betrachtet: »So ist sie nothwendig, und kan nicht anders seyn, so lange diese Welt würklich ist. Allein diese Welt hätte auch können nicht würklich seyn, folglich ist es möglich, daß diese Begebenheit andere Gründe habe, und also könnte sie auch anders seyn, nur nicht in dieser Welt«.138 Wenn nur ein einziger Teil der Welt anders wäre, als er wirklich ist, wäre das eine andere Welt.139 Die Frage lautete aber, wie diese andere Welt zu verstehen ist: die mit dieser Welt bis zur Gegenwart identische, aber zukünftig andere, oder eine völlig andere Welt? Die erste Möglichkeit entspricht den Ausführungen Meiers nicht gänzlich: Wäre alles, was ist, aus den vorherigen Verknüpfungen möglich, dann wäre es auch in dieser Welt möglich. Eine andere Frage lautet: Bedeutete eine andere Welt, dass diese Welt aufhörte, wenigstens die außer den Gedanken wirkliche Welt? Denn die gleichzeitige Existenz der außerhalb der Gedanken wirklichen Welten lässt Meier nicht zu. Bliebe aber von der Freiheit in der Welt selbst unter solch hypothetischer Notwendigkeit noch was übrig? Wenn Wolf nur eine einzige Welt für wirklich existierend hielt, gleichwohl mehrere Welten als möglich erklärte und unter der Welt im Unterschied zu Leibniz nicht die Reihe dessen, was von Gott geschafft wurde, sondern diejenige Reihe, die zuerst durch die menschliche Vernunft gedacht wird, meinte,140 so lässt Crusius die Existenz mehrerer wirklichen Welten theoretisch zu, weil diese Annahme widerspruchslos ist, wobei es auch nicht ausgeschlossen ist, dass nur eine einzige Welt wirklich ist. Für die Kosmologie von Crusius, die ihre Prinzipien aus der Theologie ableitet, war eine solche Einstellung durchaus möglich. Nicht zufällig heißt es im be135 136 137 138 139 140
Vgl. Leibniz: Reflexions sur L’Ouvrage que M. Hobbes (s. Anm. 131), S. 6, § 3. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), Tl. 2, S. 118, § 347. Ebd., S. 119, § 347. Ebd. Vgl. Ebd., S. 116, § 345. Vgl. Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 52–58.
Die Wahrheit der Welt in Meiers Kosmologie
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rühmten Roman Friedrich Nicolais, die crusianische Philosophie ist diejenige, »welche unter allen andern Philosophieen am geschicktesten scheint, die Theologie philosophischer und die Philosophie theologischer zu machen«.141 Für Baumgarten und auch für Meier wäre die Anerkennung mehrerer wirklicher Welten im traditionellen Sinne kaum möglich, denn das hätte deren Beweisführungen der Metaphysik vollständig ruiniert und den theologischen Beweis der freien Schöpfung der Welt außer Kraft gesetzt.142 Aber auch seine Opponenten mit der Thesis von der Widerspruchslosigkeit der Existenz mehrerer Welten konnte Meier nicht ignorieren. Er versuchte daher, sich dagegen zu erwehren, indem er unter einer Welt eine Reihe der Dinge in Gedanken verstand, und zwar unabhängig davon, ob sie außer unserem Verstande wirklich vorhanden sind oder nicht. Diese Behauptung entspricht keineswegs den Positionen Wolffs oder Baumgartens, aber sie berücksichtigt durchaus die Einstellung von Crusius. Ob auf diesem Wege eine überzeugende Lösung der entstandenen Probleme zu finden war, ist eine andere Frage. Die Veränderungen sowie manche Verschiebungen in den traditionellen Gegenüberstellungen der Möglichkeit und der Notwendigkeit führten in die Metaphysik Meiers einen Subjektivismus ein. Umso mehr erstaunt es, dass er der Form nach der objektiven Lehre von den Transzendentalien mehr Platz gab als seine Vorgänger. Die bekannten Beschuldigungen gegen Wolffs wegen eines angeblichen Fatalismus und Determinismus waren nicht zuletzt mit seiner Auffassung der transzendentalen Wahrheit in der Welt verbunden, was für ihn auch bedeutete, die Welt und ihre einzelnen Teile seien Maschinen. Daraus folgte der so genannte Mechanizismus mit den oben genannten Problemen, worauf Wolff mit dem Gegenargument, unsere Welt sei auch zufällig, zu antworten versuchte. Wolffs Gegner fanden aber diese Position sowie die anderer Vertreter der Welt als Maschine wenig überzeugend. Die im Wolffianismus häufig anzutreffende Deklaration: »Das Weltgebäude ist ein Kunstwerk oder Maschine, gleich einer aufgezogenen Uhr; kann auch unbeschadet der Freiheit der menschlichen Handlungen dafür angenommen werden«;143 konnte viele Gegner – zu Recht – nicht überzeugen. Einerseits findet sich die Thematik der Maschine in der Kosmologie Meiers nahezu nicht144 – jedenfalls in Bezug auf die Wahrheit der Welt. Dennoch argumentiert er mit Hilfe der metaphysischen Wahrheit der Welt zugunsten der hypothetischen Notwendigkeit und kommt letztlich zu denselben Konsequenzen, wie sie Wolff mit seiner These von der Welt als Maschine hervorrief. Für die Opponenten Meiers diente seine Auffassung der metaphysischen Wahrheit der Welt als Grund für den Vorwurf des Fatalismus, obwohl der Hallenser Philosoph selbst dies stets bestritten hat.
141 142 143 144
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker. 3 Bde. Berlin 41799, Bd. I, S. 8. Vgl. Kim: Der Begriff der Welt (s. Anm. 37), S. 154. Eschenbach: Metaphisic oder Hauptwissenschaft (s. Anm. 21), S. 335, § 80. Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 17), S. 205–208, §§ 402–404.
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4. Schlussbemerkungen Kompositorisch folgt Meier in seiner Kosmologie dem Vorbild Baumgartens, inhaltlich in vielen Hinsichten – sowohl dem Vorbild Wolffs als auch dem Baumgartens. Dennoch ist die Kosmologie Meiers in einigen wichtigen Thesen weitgehend eigenständig, was sogar in Meiers Übersetzung der Metaphysica Baumgartens ins Deutsche in Erscheinung tritt. Zu den Besonderheiten der Kosmologie Meiers sind seine Auffassung dieser Disziplin als der Wissenschaft »der Gattungen der Welt« sowie die Vermeidung des Gebrauchs des Terminus ›transzendental‹ zu zählen. Zu den weiteren Eigenheiten der kosmologischen Überzeugungen Meiers gehören seine Ablehnung der Interpretation von Kosmologie als einer Wissenschaft der wirklich vorhandenen Welt, das Ziehen einer Trennungslinie zwischen der ›bloßen‹ und ›innerlichen‹ Möglichkeit und die Gegenüberstellung von Wirklichkeit und ›bloßer‹ Möglichkeit bzw. ein allmähliches Verschwinden der Grenze zwischen der ›innerlichen‹ Möglichkeit und der Wirklichkeit. Ganz ungewöhnlich ist Meiers Definition der Welt als einer »Reihe der Dinge […], die man sich in Gedanken als würkliche Dinge vorstelt, sie mögen nun ausser unserm Verstande in der That würklich vorhanden seyn, oder sie mögen ausser unsern Gedanken keine reelle Würklichkeit haben«. Im Unterschied zu Wolff fehlt bei Meier die Verbindung zwischen der transzendentalen oder metaphysischen Wahrheit der Welt und der Welt als Maschine. Dagegen verbindet Meier wie auch Baumgarten die metaphysische Wahrheit der Welt mit der Gewissheit der Welt, aber er subjektiviert deutlich die letztere. Äußerlich erweitert Meier die Lehre von den Transzendentalien im Vergleich zu Wolff und Baumgarten sowohl in der Ontologie als auch in der Kosmologie. Dennoch verändert Meier den Sinn dieser Lehre, indem er in sie ein subjektivisches Moment einführt und anstatt der Übereinstimmung des Seienden mit sich selbst von der Übereinstimmung des Seienden mit den ›Erkenntnisgründen‹ spricht. Die Veränderungen, die Meier in und mit der Kosmologie vorgenommen hat, sind auf eine grundlegende Kritik der Kosmologie Wolffs durch Christian August Crusius und Johann Christian Eschenbach zurückzuführen. Zugleich ist es Meier trotz der subtilen Unterscheidung der ›absoluten‹ und der ›hypothetischen‹ Notwendigkeit kaum gelungen, die Beschuldigungen wegen eines Fatalismus überzeugend zu entkräften.
III. LOGIK UND PSYCHOLOGIE
ACHIM VESPER
Selbstdenken und Zeugnis anderer in Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre
Gegenwärtig wird immer wieder die Meinung geäußert, dass die Philosophie der Neuzeit einer individualistischen Ideologie folgt und damit verbunden die Rolle des Zeugnisses anderer für den Gewinn von Wissen ignoriert. So schreibt C. A. J. Coady in seiner wegweisenden Studie über das Zeugnis anderer: In the post Renaissance Western world the dominance of an individualist ideology has had a lot to do with the feeling that testimony has little or no epistemic importance. [...] It may be no accident that the rise of an individualist ideology coincided with the emergence of the theory of knowledge as a central philosophical concern but, accident or not, the coincidence was likely to cast into shadow the importance of our intellectual reliance upon one another.1
Laut Coady wurde die Hinwendung zum Individuum als Träger von Rechten und Pflichten in der praktischen Philosophie von der Erkenntnistheorie übernommen. In diesem Zusammenhang wird der Neuzeit die Position des epistemischen Individualismus zugeschrieben, nach dem auf eigenen Überlegungen und Erfahrungen beruhende Meinungen einen Vorrang gegenüber den Meinungen anderer genießen. Problematisch ist dabei am epistemischen Individualismus, dass er sich zu unseren mit dem Begriff des Wissens verbundenen Intuitionen ambivalent verhält. Zwar spricht für ihn, dass er epistemische Dissidenz ermöglicht,2 zugleich liegt ihm aber ein unrealistisches Bild von Wissen zugrunde, weil wir uns in einer Vielzahl von Fällen Wissen zuschreiben, in denen unsere Meinungen auf den Meinungen anderer beruhen. Auf der einen Seite wird der epistemische Individualismus der Intuition gerecht, dass wir uns auf unsere Meinung auch gegen mehrheitlich geteilte Meinungen oder gegen die Meinungen von Experten
1
2
C. A. J. Coady: Testimony. A Philosophical Study. Oxford 1992, p. 13. Für eine ähnliche Diagnose vgl. u. a. Oliver Robert Scholz: Das Zeugnis anderer. Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie. In: Thomas Grundmann (Hg.): Erkenntnistheorie. Positionen zwischen Tradition und Gegenwart. Paderborn 2001, S. 354– 375, hier S. 358. Die Ermöglichung von epistemischer Dissidenz durch den epistemischen Individualismus in der Philosophie der Neuzeit betont Ursula Renz: Warum selber denken? Zum Problem und Begriff des epistemischen Individualismus. In: Analyse & Kritik 31.2 (2009), S. 243–259.
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berufen dürfen; auf der anderen Seite verstößt er gegen die Intuition, dass auch viele auf dem Zeugnis anderer beruhende Meinungen Fälle von Wissen darstellen. Mitunter geben den Wert des Selbstdenkens verteidigende Autoren die Vorstellung eines auf dem Zeugnis anderer beruhenden Wissens sogar ausdrücklich auf. Prominent vertritt Locke die Auffassung, dass ein Erkenntnissubjekt durch seine individuellen Ressourcen und nicht durch die Meinungen anderer zu Wissen gelangt. Diese Ansicht äußert er in einer bekannten Passage des Essay Concerning Human Understanding: For, I think, we may as rationally hope to see with other Mens Eyes, as to know by other Mens Understandings. So much as we our selves consider and comprehend of Truth and Reason, so much we possess of real and true Knowledge. The floating of other mens Opinions in our brains, makes us not one jot the more knowing, though they happen to be true. What in them was Science, is in us but Opiniatrity, whilst we give up our Assent only to reverend Names, and do not, as they did, employ our own Reason to understand those Truths, which gave them reputation. [...] In the Sciences, every one has so much, as he really knows and comprehends: What he believes only, and takes upon trust, are but shreads; which however well in the whole piece, make no considerable addition to his stock, who gathers them.3
Locke behauptet, dass wir ausschließlich in solchen Überzeugungen gerechtfertigt sind, die auf eigenen Überlegungen und eigenen Erfahrungen beruhen. Bei ihm führt die Anerkennung der auf eigenem Nachdenken basierenden epistemischen Autorität von Individuen zur Aberkennung der epistemischen Autorität anderer. Da wir nach seiner Auffassung nur durch eigene Überlegung und Erfahrung Wissen erlangen können, scheidet das Zeugnis anderer als Quelle für Wissen aus. Allerdings scheint Locke nicht wahrzunehmen, dass seine Auffassung weitreichende skeptische Konsequenzen zur Folge hat und wir ihr zufolge in einem erheblichen Teil unserer Meinungen nicht gerechtfertigt sind. Obgleich seine Position zur skeptischen Infragestellung von großen Teilen unserer Meinungen einlädt, die wir als Wissen betrachten, ist Selbstdenken nach Locke für den Gewinn von Wissen allein ausschlaggebend.4 Die Forderung nach Selbstdenken gehört insbesondere zu den Grundideen der deutschen Aufklärung.5 Wie sich zeigen lässt, tritt an Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre von 1752 die Spannung zwischen der Forderung nach Selbstdenken und der Angewiesenheit auf die Meinun3
4
5
John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Ed. by Peter Nidditch. Oxford, New York 1975, Book I, Chapter IV, Section 23. Richard Foley kommentiert diese Passage: »Locke’s view is that there is always something substandard in taking someone else’s word for the truth of a claim.« (Richard Foley: Intellectual Trust in Oneself and Others. Cambridge, New York 2004, pp. 91–92) Zur Stellung Lockes in der Begriffsgeschichte von »Selbstdenken« vgl. Ulrich Dierse: [Art.] Selbstdenken. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1995, Bd. 9, Sp. 386–392, hier Sp. 387. Man könnte zur Verteidigung Lockes anführen, dass er sich ausdrücklich auf wissenschaftliches Wissen bezieht und deshalb seine Analyse nicht für Wissen im Allgemeinen gilt. Unter dieser Voraussetzung kritisiert Locke nicht, dass wir uns im Alltagskontext oft Wissen zuschreiben, wenn wir die Meinung anderer übernehmen. Diese Strategie zu seiner Verteidigung ist aber nicht erfolgreich, da die Wissenschaften kooperative Unternehmungen sind, in denen Wissen sozial erworben wird. Norbert Hinske: Das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. In: Raffaele Ciafardone (Hg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Stuttgart 1990, S. 407–458, bes. S. 417–424. Vgl. Dierse: Selbstdenken (siehe Anm. 3), Sp. 388f.
Selbstdenken und Zeugnis anderer in Meiers Vernunftlehre
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gen anderer besonders deutlich hervor.6 Meier verdient in diesem Rahmen Interesse, weil er epistemische Dissidenz zu ermöglichen und mit der epistemischen Relevanz des Zeugnisses anderer zu vereinbaren versucht. Im Folgenden stelle ich zunächst dar, dass Meiers Begriff des menschlichen Denkens und seine Konzeption von gelehrter Erkenntnis mit der Vorstellung von individueller epistemischer Selbständigkeit verbunden ist und eine expertenkritische Bedeutung hat (1). Anschließend zeichne ich nach, inwiefern wir durch das Zeugnis anderer nach Meier dennoch Wissen erwerben können und es als Quelle für Gewissheit in Frage kommt (2).
1. Selbstdenken 1.1 Menschliches Denken In ihrer ersten Hälfte beschäftigt sich Meiers Vernunftlehre damit, was eine gelehrte Erkenntnis ist, wodurch sie erreicht wird und worin ihr praktischer Nutzen besteht. Gegenüber der gemeinen Erkenntnis ist die als gelehrte oder auch als philosophische bezeichnete Erkenntnis wertvoller. Anders als ihre Bezeichnung vermuten lässt, sind aber nicht nur Wissenschaftler mögliche Träger einer gelehrten Erkenntnis. Laut Meier kann sie von allen Vernunftwesen erworben werden, da ihre Merkmale aus der Natur der Vernunft abgeleitet sind. Entsprechend soll die Vernunftlehre die Methode darlegen, mit der ein jeder durch die Anwendung seiner Vernunft zu einer gelehrten Erkenntnis gelangen kann. In den Worten Meiers unterrichtet die Vernunftlehre darüber, »wie der Mensch vernünftig denken soll« und eine gelehrte Erkenntnis als höchste Form von vernünftiger Erkenntnis erwerben kann.7 Da die Grundsätze der Vernunftlehre »diejenigen Züge seyn [sollen], nach welchen die Natur die menschliche Vernunft eingerichtet hat«,8 gehören nicht nur Gelehrte zu ihren Adressaten, sondern »ein ieder Mensch, der nur einen guten natürlichen Verstand besitzt«.9 In anderen Worten verfolgt Meier das Ziel, den Einzelnen zum Gebrauch seiner Vernunft zu befähigen. Durch die Vernunftlehre erhält die Vernunft »diejeinige Einrichtung, wodurch sie einer recht menschlichen und würdigen Gelehrsamkeit fähig ist, und sie bekomt die Fertigkeit gelehrt zu denken«.10
6
7 8 9 10
Meiers Vernunftlehre enthält eine intensive und zu Unrecht vernachlässigte Diskussion des Zeugnisses anderer (vgl. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, S. 344–362). Auch Riccardo Pozzos umfangreiche Studie zur Vernunftlehre widmet dem Textabschnitt nur wenige Sätze (vgl. Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 233). Auf Meiers Behandlung des Zeugnisses anderer kommt auch Axel Gelfert zu sprechen (vgl. Axel Gelfert: Kant and the Enlightenment’s Contribution to Social Epistemology, In: Episteme. A Journal of Social Epistemology 7.1 (2010), pp. 79–99). Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 12.
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Mit der Unterscheidung von gemeiner und gelehrter Erkenntnis bezieht sich Meier auf die cognitio philosophica und cognitio historica bei Christian Wolff.11 Während Wolff im Discursus Praeliminaris von 1728 die historische Erkenntnis als »cognitio eorum, quae sunt atque fiunt«,12 definiert und auf die Erfahrung zurückführt, bezeichnet er die philosophische Erkenntnis als eine von Überlegung geleitete »cognitio rationis eorum, quae sunt atque fiunt«.13 Unterschieden sind philosophische und historische Erkenntnis aber nicht nur hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Quelle; spezifisch ist für eine philosophische Erkenntnis außerdem, dass sie nicht von anderen übernommen werden kann. So verfügt man nach Wolff nur dann über eine philosophische Erkenntnis, wenn man sie selbst beweisen kann.14 Die enge Verbindung von Philosophie und Selbstdenken bringt Wolff auch im Abschnitt über die libertas philosophandi des Discursus Praeliminaris zum Ausdruck.15 Dort legt er dar, dass ein Philosoph von seinem eigenen Urteil ausgehen muss und sich nicht an das Urteil anderer halten darf. Auch in der Ausführlichen Nachricht von 1726 äußert sich Wolff über die ›Freiheit zu philosophieren‹ ähnlich: Und hierinnen besteht die Freyheit zu philosophiren, daß man sich in Beurtheilung der Wahrheit nicht nach andern, sondern nach sich richtet. Denn wenn man gehalten ist etwas für wahr zu halten, weil es ein anderer saget, daß es wahr sey, und en Beweis deswegen muß gelten lassen, weil ihn der andere für überzeugend ausgiebt; so ist man in der Sclaverey.16
Wolff zufolge ist die Übernahme der Meinungen anderer durch einen Philosophen als Sklaverei zu begreifen und besteht »in Unterwerffung seines Verstandes dem Urtheile eines andern oder, welches gleichviel ist, in Resolvirung seines Beyfalles in die Autorität eines andern«.17 Dagegen gibt es Freiheit in der Philosophie, »wo man nicht gehalten ist für wahr zu halten, als was man erkennet, daß es wahr sey, und keinen Beweis darff gelten lassen, als weil man seine überzeugende Krafft bey sich verspüret«.18 Entsprechend besteht die philosophische Freiheit »in einem ungehinderten Gebrauche seines Verstandes, oder, welches gleichviel ist, in Resolvirung seines Beyfalles in die Gründe, wodurch eine Wahrheit erwiesen wird«.19 Nach Wolff setzt die philosophische Freiheit den Beweis von Meinungen durch den eigenen Verstand voraus und schließt die Orientierung an den Meinungen anderer aus. 11
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Vgl. Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 6), S. 195–197, und allgemein zur Rezeption von Wolffs Theorie der cognitio philosophica und cognitio historica Michael Albrecht: Kants Kritik der historischen Erkenntnis – ein Bekenntnis zu Wolff? In: Studia Leibnitiana, Bd. 14, 1 (1982), S. 1–24. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere [Discursus Praeliminaris]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1983. Abt. II, Bd. 1.1, § 3. Ebd., § 6. Ebd., § 9 Zur libertas philosophandi bei Wolff vgl. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012, S. 241–259; Clemens Schwaiger: Denkverbote und Denkfaulheit in der Sicht der deutschen Aufklärer. In: Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007, S. 123–132, bes. S. 125–129. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. Hildesheim, New York 1973. Abt. I, Bd. 9, S. 132f. Ebd., S. 133. Ebd. S. 134
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Obgleich weder Wolff noch Meier den Begriff gebrauchen, basiert nach beiden die philosophische Erkenntnis auf Selbstdenken.20 Anders als nach Wolff stellt die philosophische Erkenntnis nach Meier aber keine ausschließlich der Philosophie zugehörige Erkenntnisart dar; stattdessen sind seiner Meinung nach alle Menschen zu einer auf eigener Überlegung und in Teilen auch auf Erfahrung basierenden philosophischen Erkenntnis fähig. Ihre Bezeichnung verdankt sich ihm zufolge nur der kontingenten Tatsache, dass sie in der Philosophie entdeckt wurde.21 Damit übereinstimmend verweist Meier in einem populärphilosophischen Aufsatz von 1756 darauf, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunftbegabung dazu bestimmt ist, Meinungen aufgrund eigenen Nachdenkens als wahr oder falsch anzuerkennen: Der Mensch ist, seiner Bestimmung nach, ein vernünftig freyes Wesen, und er soll also durch sein eigenes Nachdenken [...] sich selbst, die Welt und GOtt richtig kennenlernen [...]. Wer also als ein wahrer Mensch denken will, der muß weder durch blosse Furcht, noch durch bloße Hofnung, noch durch irgends eine andere Leidenschaft, noch durch Vorschriften, Befehle, Drohungen, Verheissungen anderer Menschen, noch durch ein irdisches Interesse, noch durch irgends ein anderes Vorurtheil vermocht werden, etwas für wahr oder falsch zu halten. Sondern er muß, wenn er etwas für wahr oder falsch halten will, selbst eine Untersuchung anstellen.22
Zusammengefasst teilt Meier mit Wolff die Vorstellung, dass die eigene Einsicht für eine philosophische Erkenntnis grundlegend ist; anders als Wolff erkennt er jedoch allen Menschen ausdrücklich die Fähigkeit zu einer auf eigener Einsicht beruhenden philosophischen Erkenntnis zu. Mit dem für die Vernunftlehre zentralen Begriff des ›menschlichen Denkens‹ erinnert Meier zwar auch an das Ideal der allseitigen Ausbildung menschlicher Talente einschließlich der Entwicklung seiner sinnlichen Fähigkeiten;23 der leitende Gesichtspunkt besteht jedoch in der Idee, dass die Fähigkeit der Vernunft allen Menschen zu eigen und in der Regel bei allen Menschen kultivierbar ist. Menschlich ist das von Meier angestrebte menschliche Denken nicht nur, weil es sich auf den ›ganzen‹ Menschen, sondern weil es sich auf alle Menschen bezieht. Mit dem Begriff verweist Meier darauf, dass epistemische Fähigkeiten egalitär verteilt sind und grundsätzlich allen gleichermaßen zukommen, wobei ihre Anwendung methodisch erlernt werden muss. Das von Meier eingeforderte menschliche Denken ist mit den Vorstellungen verbunden, dass man durch die Anwendung der Vernunft zu einer gelehrten Erkenntnis gelangt und die Vernunft ein allgemeines Gut ist.
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Als ersten Beleg für das Substantiv »Selbstdenken« betrachtet Dierse (Selbstdenken [siehe Anm. 3], Sp. 388) Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774. »Wir werden balde sehen, daß nicht alle gelehrte Erkentniß eine amtsmäßige Erkentniß der Gelehrten sey, und es darf demnach, kein Frauenzimmer und kein Cavalier, vor dieser gelehrten Erkentniß erschrecken. Sie wird eine philosophische Erkentniß genannt, nicht deswegen, als wenn sie bloß in der Philosophie stat finden könte; sondern sie wird zur Ehre der Weltweisen so genent, weil sie die ersten sind, die eine solche Erkentniß gesucht, und die Regeln derselben erfunden haben.« Meier, Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 37. Georg Friedrich Meier: Von der Freyheit zu denken. In: Der Mensch XI (1756), S. 225–232. Zu Meiers Aussagen über Denkfreiheit vgl. Zenker: Denkfreiheit (s. Anm. 15), S. 394–405, der auch schon auf die zitierte Passage verweist. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 38f.
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In der Folge verhält sich Meier kritisch gegenüber der Ansicht, dass Gelehrten allein kraft ihrer sozialen Anerkennung epistemische Autorität zukommt. So soll die Vernunftlehre den Leser befähigen, in eine Auseinandersetzung mit Gelehrten einzutreten und Sachverhalte selbst zu beurteilen. Da alle Vernunftwesen die Fähigkeit zum Erwerb einer gelehrten Erkenntnis besitzen, sind Gelehrte nur graduell durch ihre größere Bekanntschaft mit einem Sachgebiet besser gestellt. Verweigern professionelle Gelehrte im menschlichen Denken Geschulten das Gespräch, so verhalten sie sich unrechtmäßig: Derjenige, welcher seine Vernunft meinen Vorschriften gemäs brauchen wird, der wird im Stande seyn, dasjenige zu denken, was ein Gelehrter denkt. Er wird vermögend seyn, richtig und gründlich zu denken. Er wird sich mit einem blossen Gelehrten von Profession in ein Gespräch einlassen. Er wird diesen Mann nicht verstehen, und dieser wird ihn für einen Unwissenden halten, und zwar deswegen, weil er menschlich denkt, und dieser Gelehrte ein Schulfuchs ist.24
Nach Meier muss man die epistemische Autorität von wissenschaftlichen Experten relativieren, weil alle Vernunftwesen in den grundlegenden epistemischen Fähigkeiten einander gleichgestellt sind. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass sich Gelehrte zu Unrecht für epistemisch privilegiert halten. Weil Gelehrte an Standeskonventionen festhalten und nicht dem Ideal der vernünftigen Erkenntnis folgen, muss es zu Meinungskonflikten zwischen Gelehrten und im menschlichen Denken Geschulten kommen. Entsprechend erklärt Meier: »Ich werde durch meine Vernunftlehre einen Menschen zu bilden suchen, der zwar vernünftig, philosophisch und gelehrt denkt, den aber tausend Gelehrte von Profession für keinen Zunftverwandten erkennen werden«.25 Nach Meier ist ein epistemisch dissidentes Verhalten deshalb gerechtfertigt, weil Erkenntnis auf Vernunft basiert und alle Menschen über Vernunft verfügen. Meier geht davon aus, dass Menschen epistemisch selbständig sind und sich nicht der Autorität von Experten unterordnen müssen.
1.2 Ziele der gelehrten Erkenntnis In Zweifel zieht Meier aber nicht nur die etablierten Vorstellungen der Träger der gelehrten Erkenntnis, sondern auch die etablierten Vorstellungen vom Inhalt der gelehrten Erkenntnis. Deutlich wird das durch Meiers Erklärung der Struktur von vernünftiger und gelehrter Erkenntnis im ersten Abschnitt des ersten Hauptteils der Vernunftlehre. Dort legt Meier dar, was eine vernünftige Erkenntnis ist und wodurch die gelehrte Erkenntnis über sie hinausgeht. Seine Erklärung der vernünftigen Erkenntnis beginnt mit der Feststellung, dass wir Vorstellungen haben, deren wir uns genau dann bewusst sind, wenn wir sie von anderen Vorstellungen unterscheiden können. Eine bewusste Vorstellung ist dabei undeutlich, wenn wir sie und die vorgestellte Sache nur im Ganzen von anderen Vorstellungen und anderen vorgestellten Sachen unterscheiden, und deutlich, wenn wir außerdem innerhalb der Vorstellung und der vorgestellten Sache Teile unterscheiden. Nach Meier kann man außer der Vorstellung eines Gegenstandes aber auch eine Vorstellung des Grundes haben, der den vorgestellten Gegenstand zur Folge
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Ebd., S. 9. Ebd.
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hat. Etwas ist dabei ein Grund für eine Sache, wenn ihr modaler Status oder ihre Eigenschaften aus ihm erkannt und logisch oder kausal erklärt werden können: Dasienige, woraus etwas erkant werden kann, wird der Grund desselben genant; und dasjenige, was aus dem Grunde erkant werden kann, heißt die Folge desselben. Der Grund einer Sache muß demnach so beschaffen seyn, daß aus ihm erkant werden kann, warum die Sache sey, und warum sie eben so und nicht anders sey. Der Grund ist ein Grund seiner Folge, man mag nun entweder aus ihm die Möglichkeit derselben oder ihre Würklichkeit, ihre Beschaffenheiten oder ihre Grössen, oder was es auch nur seyn mag [...] erkennen können.26
Eine Erkenntnis einer Sache aus einem Grund ist eine komplexe Vorstellung, die ein Bewusstsein (1) der Sache, (2) des Grundes und (3) des Zusammenhangs von Sache und Grund umfasst. Wer dabei den Grund einer Sache kennt, sie aber nicht deutlich aus ihrem Grund erklären kann, verfügt lediglich über eine gemeine Erkenntnis; wer dagegen den Grund einer Sache kennt und sie deutlich aus ihrem Grund erklären kann, besitzt eine vernünftige Erkenntnis. Als vernünftig bezeichnet Meier die deutliche Erkenntnis aus Gründen dabei, weil die Vernunft in der Fähigkeit besteht, »die Verbindungen der Dinge deutlich einzusehen«.27 Allerdings ist es Meier wichtig, dass wir unseren epistemischen Idealen auch durch eine vernünftige Erkenntnis im Sinne einer deutlichen Erkenntnis aus Gründen nicht vollständig gerecht werden. So sind seiner Meinung nach nicht alle wahren logischen oder kausalen Erklärungen gleichermaßen epistemisch wertvoll. Gegenüber der einfachen vernünftigen Erkenntnis trägt die gelehrte Erkenntnis einen höheren Wert, weil bei ihr weitere Vollkommenheiten hinzukommen.28 Im Einzelnen ist die gelehrte Erkenntnis von der einfachen vernünftigen Erkenntnis dadurch unterschieden, dass sie insgesamt über die Vollkommenheiten von Weitläufigkeit, Größe und Wichtigkeit, Wahrheit, Deutlichkeit, Gewissheit sowie des praktischen Nutzens verfügt, denn ie weitläuftiger und wichtiger die gelehrte Erkentniß ist, ie richtiger, deutlicher, gewisser und practischer sie ist, desto vollkommener und vortrefflicher ist sie. Die allergelehrteste Erkentniß eines Menschen besteht demnach in der allerweitläuftigsten, größten, richtigsten, deutlichsten, gewissesten und practischensten Erkentniß, deren derselbe Mensch fähig ist.29
Die Vollkommenheiten einer gelehrten Erkenntnis lassen sich als epistemische Ziele verstehen, wobei es sich Meier als Verdienst zuschreibt, dass er nicht nur vom Ziel der Wahrheit abgeleitete Ziele anerkennt. Dagegen kritisiert er andere Auffassungen, nach denen der praktische Nutzen, die Wichtigkeit oder der Umfang keine Ziele einer gelehrten Erkenntnis bilden: Ich weiß wohl, daß es viele Gelehrte giebt, welche sich völlig damit begnügen, wenn ihre Erkentniß richtig, deutlich und gewiß, und höchstens noch dazu weitläuftig ist. Um das Practische und Wichtige der Gelehrsamkeit ist man sehr unbekümmert, ja es giebt wol gar manche Gelehrte, welche wünschen, daß sich ein ieder Gelehrter nur auf eine Wissenschaft legen möchte, und welche demnach für die Weitläuftigkeit ihrer Erkentniß gar keine Sorge tragen. Allein, ohne Zweifel haben diese Leute einen
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Ebd., S. 29f. Ebd., S. 31. Zu den Vollkommenheiten der gelehrten Erkenntnis vgl. Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 6), S. 198–200. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 46.
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Achim Vesper gar zu engen Kopf, einen gar zu eingeschränkten Geist, welcher nicht Vollkommenheiten auf einmal fassen kann.30
Meier privilegiert eine Art von Erkenntnis, die nicht allein auf Wahrheit, sondern auch zum Beispiel auf den Zusammenhang mit anderen Erkenntnissen ausgerichtet ist. Den ihrem Stand nach Gelehrten wirft er vor, alle begründeten wahren Erkenntnisse ohne einen Unterschied ihrer Wichtigkeit als gleichrangig zu betrachten. Zusammengefasst kritisiert Meier die beiden Auffassungen, dass nur Gelehrte Träger einer gelehrten Erkenntnis sein können und Wahrheit und Gewissheit hinreichend für eine gelehrte Erkenntnis sind. Zum einen behauptet Meier, dass Menschen epistemisch selbständig sind und ihre Meinungen nicht vorbehaltlos denen von Experten unterordnen müssen. Zum anderen behauptet Meier, dass die standesmäßigen Gelehrten über eine reduzierte Auffassung der Ziele einer gelehrten Erkenntnis verfügen und sich mit einer armseligen anstatt einer weitläufigen oder einer geringschätzigen anstatt einer großen Erkenntnis zufrieden geben.31
2. Gewissheit und Zeugnis anderer 2.1 Gewissheit Auch wenn Meier die Vollkommenheiten der gelehrten Erkenntnis pluralisiert, hält er am zentralen Wert der Wahrheit fest. Zwar sind nicht alle anderen Vollkommenheiten der gelehrten Erkenntnis von der Wahrheit abgeleitet, die Vollkommenheit der Wahrheit ist aber den anderen Vollkommenheiten übergeordnet. Nach Meier ist »die Wahrheit der gelehrten Erkentniß die Grundvollkommenheit derselben, und wo diese fehlt, da kan gar keine andere Vollkommenheit stat finden, da nur dem Scheine nach«.32 Obgleich Meier eine verkürzte Auffassung der gelehrten Erkenntnis tadelt, hält er an ihrer notwendigen Ausrichtung auf Wahrheit fest. Die Fragen, was eine wahre Erkenntnis ist und woran wir feststellen können, ob eine Erkenntnis wahr ist, werden in den Abschnitten über Wahrheit und Gewissheit behandelt.33 Dabei geht Meier mit der philosophischen Tradition davon aus, dass Wahrheit korrespondenztheoretisch definiert ist und in einer Übereinstimmung von Aussage und Gegenstand besteht:34
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Ebd., S. 48. Vgl. zu Armseligkeit und Geringschätzigkeit als Unvollkommenheiten von Erkenntnis ebd., S. 66f. u. 103f. Ebd., S. 43. Nach Meier kann Erkenntnis sowohl wahr als auch falsch sein. Eine falsche Erkenntnis ist eine Erkenntnis, »welche keine Erkentniß ist, und doch eine zu sein scheint« (Meier, Vernunftlehre [s. Anm. 6], S. 129), d. h. eine falsche Proposition, die für wahr gehalten wird: »Derjenige, welcher eine falsche Erkentniß hat, steht in der Meinung, er habe eine Erkentniß, da er doch in der That keine Erkentniß besitzt, in so ferne er nemlich eine unrichtige Erkentniß hat«; (ebd.). Zur Wahrheitstheorie bei Wolff und im Wolffianismus vgl. Michael Albrecht: Wahrheitsbegriffe von Descartes bis Kant. In: Markus Enders, Jan Szaif (Hg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Berlin, New York 2006, S. 231–250, hier S. 243–246.
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Gewöhnlicher Weise pflegt man, in der Vernunftlehre, die Wahrheit der Erkentniß, durch die Uebereinstimmung derselben mit der Sache oder ihrem Gegenstande, zu erklären; gleichwie man die unrichtige Erkentniß eine Erkentniß nent, welche mit dem Gegenstande nicht übereinstimt, oder welche uns die Sache anders vorstelt als sie beschaffen ist. Diese Erklärungen haben ihre vollkommene Richtigkeit.35
Allerdings verweist Meier drauf, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit eine Hypothek trägt, weil wir anhand dieser Erklärung nicht herausfinden können, ob eine Erkenntnis wahr ist: Nur dünkt es mich, daß es sich nach dieser Erklärung der Wahrheit schwerer erkennen lasse, ob eine Erkentniß wahr oder falsch sey, weil ein ieder die Beschaffenheit des Gegenstandes nach seiner Erkentniß beurtheilt, und derjenige, welcher eine falsche Erkentniß hat, der bildet sich doch ein, daß die Sache so beschaffen sey, wie er sich dieselbe vorstelt.36
Geleitet vom Interesse an der Verbesserung von Erkenntnis beschäftigt sich Meier im Wahrheitsabschnitt fast ausschließlich mit den Kriterien, anhand deren die Wahrheit von Erkenntnis festgestellt werden kann. Ihm zufolge gibt es zwei Arten von »Kennzeichen der Richtigkeit und Unrichtigkeit der Erkentniß«:37 »Liegen sie in der Erkentniß selbst verborgen, welche man nach ihnen prüfen will, so sind es innerliche Kennzeichen der Wahrheit und Unrichtigkeit der Erkentniß; werden sie aber anderswo hergenommen, so sind es die äusserlichen Kennzeichen der Wahrheit und Erkentniß«.38 Während sich die innerlichen Kennzeichen entweder auf die Beziehungen der Teilvorstellungen innerhalb einer Erkenntnis oder auf die Beziehung einer Erkenntnis zu anderen Erkenntnissen beziehen, betreffen die äußerlichen Kennzeichen Belege in der Erfahrung. Dabei lässt sich anhand des innerlichen Kennzeichens der Widerspruchslosigkeit feststellen, ob eine Erkenntnis möglich ist, und eine falsche Erkenntnis ausschließen. Anhand des innerlichen Kennzeichens des Zusammenhangs dagegen lässt sich feststellen, ob eine Erkenntnis wahr ist, da eine als Folge aus einer wahren Erkenntnis als Grund ableitbare Erkenntnis wie auch eine als Grund für wahre Erkenntnisse als Folge fungierende Erkenntnis notwendig wahr ist.39 Die innerlichen wie auch die äußerlichen Kennzeichen von Wahrheit sind ausschlaggebend für Gewissheit. Als Gewissheit bezeichnet Meier das Bewusstsein für die Wahrheit von Erkenntnis: »Durch die Gewißheit werden wir eben versichert, daß wir eine Wahrheit erkennen, indem wir durch die Gewißheit der Wahrheit uns bewußt werden, oder klar erkennen, daß es
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Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 138. Problematischerweise vergleicht Meier die Korrespondenztheorie der Wahrheit mit einer auf Ähnlichkeit beruhenden Repräsentation von Gegenständen durch materielle Bilder: »Unsere Erkentnis ist, wie ein Gemälde, zu beurtheilen. Ist dasselbe seinem Originale ähnlich, so ist es ein richtiges Gemälde; wo aber nicht, so ist das Original nicht getroffen, und das Gemälde ist falsch« (ebd., S. 138). Ebd., S. 139. In weitgehender Übereinstimmung mit der Stelle bei Meier akzeptiert Kant nach der Jäsche-Logik die Korrespondenzdefinition von Wahrheit und stellt dem das auf ein Wahrheitskriterium bezogene Interesse gegenüber; vgl. Immanuel Kant: Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Hg. v. G. B. Jäsche. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA, Band Seitenzahl], hier Bd. IX, S. 50. Meier, Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 130. Vgl. Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 6), S. 214f. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 130. Vgl. ebd., S. 130–135.
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eine Wahrheit sey«.40 Eine gelehrte Erkenntnis erfordert dabei eine Gewissheit mit den Merkmalen von Deutlichkeit und Ausführlichkeit. Die deutliche Gewissheit besteht in einem Bewusstsein für die einzelnen Kennzeichen von Wahrheit und ist darüber hinaus vollständig, »wenn wir nicht nur die unmittelbaren Wahrheitskennzeichen anzugeben wissen, sondern auch die mittelbaren, an denen wiederum die Wahrheit der unmittelbaren deutlich wird«.41 Eine ausführliche Gewissheit wiederum besitzen wir, wenn wir auf entweder sinnliche und verworrene oder vernünftige und deutliche Weise für die Wahrheit hinreichende Kennzeichen erkennen. Ein psychologisches Merkmal kommt der ausführlichen Gewissheit darin zu, dass sie die Furcht vor einer falscher Überzeugung ausräumt: »Man kann es demnach als eine Würkung der ausführlichen Gewißheit betrachten, daß sie alle Furcht des Gegentheils vertreibt«.42 Allerdings ist Furchtlosigkeit kein sicherer Indikator für eine hinreichende Gewissheit, da die Furchtlosigkeit auch von Vorurteilen hervorgerufen werden kann.43 Außerdem tritt die durch ausführliche Gewissheit hervorgerufene Furchtlosigkeit nur bei solchen Personen auf, die keine Disposition zu grundloser Furcht haben.44 Enthält die ausführliche Gewissheit nicht mehr als die hinreichenden Wahrheitsmerkmale, so ist sie zudem bestimmt. Bestimmtheit ist jedoch nur für die mathematische Gewissheit erforderlich, da in mathematischen Beweisen weder Überflüssiges noch Unbewiesenes vorkommen darf. Daneben kann die Gewissheit ihrem Grad nach schwächer oder stärker sein, und zwar in Abhängigkeit davon, ob sie weitläufiger und ausgebreiteter, größer und wichtiger oder auch klarer ist.45 Weil die Gewissheit einer Erkenntnis im Bewusstsein der Gründe für ihre Wahrheit besteht, lässt sich die Gewissheit nicht durch die Mitteilung einer Erkenntnis auf andere übertragen. Diese Auffassung kommt vor allem in Meiers Darstellung der für Gewissheit schädlichen Vorurteile zum Ausdruck.46 Meier zufolge ist der folgende verbreitete Schluss falsch: »Was mir gewiß ist, das ist auch andern Leuten gewiß; und umgekehrt, was andern Leuten gewiß ist, das muß auch mir gewiß seyn«. Die von Meier kritisierte Ansicht ignoriert, dass Gewissheit nicht übertragen werden kann, weil sie auf einem Beweis aus eigener Überlegung und Erfahrung beruht. Nach diesem Argument können wir nicht dadurch zur Gewissheit von Erkenntnis gelangen, dass wir die Meinung einer epistemischen Autorität übernehmen. Hält man eine Meinung allein deshalb für gewiss, weil sie von einem Lehrer oder Experten geäußert wird, so begeht man laut Meier einen Fehler: Und wenn ein Lernender etwas deswegen für gewiß hält, weil ein anderer davon gewiß ist, so kann er niemals zu einer gründlichen Erkentniß gelangen, weil er alsdenn um des Ansehens willen, in welchem seine Lehrer bei ihm stehen, etwas für gewiß hält, ohne eine weitere Untersuchung anzustellen. Es ist 40 41 42 43 44
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Ebd., S. 251. Ebd., S. 254. Ebd., S. 258f. Ebd., S. 259. »Nur muß man hier eine vernünftige Furcht verstehen, welche doch einigen Grund hat. Denn es gibt Leute, die fürchten, wo nichts zu fürchten ist; und wenn die noch so gewiß sein sollten, so fürchten sie doch wol, daß die Sache auch nicht wahr seyn könnte, welche sie für gewiß halten.« (Ebd., S. 257). Vgl. ebd., S. 262–264. Vgl. zur Vorurteilstheorie in der Vernunftlehre Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 6), S. 228–233, und zu Meiers Vorurteilstheorie allgemein Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 208–231.
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also höchst einfältig gehandelt, wenn man denkt: dieses oder jenes muß doch wohl gewiß seyn, weil es dieser oder jener für gewiß ausgibt.47
Als ebenso falsch wie die Übernahme der Gewissheit einer anderen Person betrachtet Meier auch die Übernahme der Ungewissheit einer anderen Person. Auch hier besteht ein Fehler darin, die Ungewissheit einer anderen Person unabhängig von der eigenen Beurteilung zu übernehmen. Weder für Gewissheit noch für Zweifel sind wir berechtigt, uns auf andere zu stützen: Aber im höchsten Grad lächerlich handeln diejenigen, welche alsobald ungewiß von einer Sache werden, so bald sie sehen, daß ein anderer ungewiß ist. [...] Mancher hat von Jugend auf die Religion gewiß geglaubt. Er hört, daß ein großer und berühmter Mann an derselben gezweifelt, alsobald wird er selbst an seinem Glauben wankend: und ob er gleich die Zweifel eines solchen Mannes nicht weiß, und auch wol nicht begreifen kann, so hält er doch die Religion für eine ungewisse Sache, weil ein anderer von derselben nicht gewiß ist. Ein solcher Mensch beschimpft sich selbst aufs äusserste.48
Wie Meier innerhalb der Theorie der Vorurteile hervorhebt, wird jemand nur dann zurecht gelobt, wenn seine Überzeugungen auf eigenen Überlegungen und Erfahrungen beruhen; umgekehrt wird jemand zurecht getadelt, wenn sich seine Überzeugungen nur auf Überlegungen und Erfahrungen anderer stützen. Es erscheint jedoch fraglich, dass Meier in diesem Rahmen dem Zeugnis anderer als Möglichkeit für den Erwerb von Wissen gerecht werden kann.
2.2 Das Zeugnis anderer Innerhalb der Philosophie der Neuzeit im Allgemeinen wie der Philosophie der Aufklärung im Besonderen ist die Zuverlässigkeit des Zeugnisses anderer ein vieldiskutiertes Thema.49 Nach einer lange andauernden Vernachlässigung hat sich die Philosophie erst in jüngerer Zeit wieder dieses Themas angenommen.50 Im Zentrum der Debatte über testimoniale Überzeugungen steht die Frage, ob das Zeugnis anderer eine eigenständige Erkenntnisquelle neben den Erkenntnisquellen von Wahrnehmung, Vernunft und Erinnerung bildet. Dabei sind Antireduktionisten der Auffassung, dass das Zeugnis anderer eine von anderen Erkenntnisquellen unabhängige Erkenntnisquelle darstellt, der wir im Standardfall vertrauen dürfen; Reduktionisten sind dagegen der Auffassung, dass man durch das Zeugnis anderer nur dann Wissen erwerben kann, wenn seine Glaubwürdigkeit aus anderen Erkenntnisquellen gerechtfertigt ist.51 In der Philoso47 48 49
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51
Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 7), S. 265. Ebd., S. 266f. Vgl. Oliver Robert Scholz: [Art.] Zeuge; Zeugnis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter†, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 2004, Bd. 12, Sp. 1317–1324; Gelfert: Kant and the Enlightenment’s Contribution to Social Epistemology (s. Anm. 6). Wiederbelebt wurde die Diskussion durch Coady: Testimony (s. Anm. 1). Zum Überblick vgl. Robert Audi: Epistemology. A Contemporary Introduction to the Theory of Knowledge, London, New York 1998, pp. 150–172; Jennifer Lackey: Testimony. Acquiring Knowledge from Others. In: Alvin I. Goldman, Dennis Whitcomb (ed.): Social Epistemology. Essential Readings. Oxford, New York 2011, pp. 71–91; Axel Gelfert: A Critical Introduction to Testimony. London 2014. Prominent vertreten wird der Antireduktionismus durch Coady: Testimony (s. Anm. 1); Tyler Burge: Content Preservation. In: Philosophical Review 4 (1993), pp. 457–488, für den Reduktionismus spricht sich vor allem Elizabeth Fricker aus, u. a. in: Dies.: Against Gullibility. In: Arindam Chakrabarti, Bimal Krishna Matilal (Ed.): Knowing from Words. Dordrecht, Boston, London 1994, pp. 125–162.
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phie der Neuzeit vertritt vor allem Thomas Reid die Meinung, dass wir berechtigt sind, das Zeugnis anderer in Standardfällen ohne Rechtfertigung aus anderen Erkenntnisquellen zu übernehmen.52 Reid nimmt damit eine Gegenposition zu Locke ein, nach dem das Zeugnis anderer generell unzuverlässig ist und als Wissensquelle ausscheidet. Nach Meier stellen beide Auffassungen verfehlte Extrempositionen dar; ihm zufolge gibt es einen »vernünftigen Glauben«, der die »glückliche Mittelstraße« zwischen den gleichermaßen abzulehnenden Positionen von »Unglauben« und »Leichtgläubigkeit« ausmacht.53 Wie ich aufzeigen werde, ergreift Meier für den Reduktionismus Partei, nach dem wir uns auf das Zeugnis anderer unter der Bedingung verlassen dürfen, dass das Vertrauen aus anderen Quellen gerechtfertigt ist. Allgemein betrachtet ist seine Auffassung derjenigen David Humes vergleichbar, nach der wir anhand vergangener Beobachtungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeugnis und Zeugnisgeber schließen können.54 Diese Option erlaubt es Meier, die Privilegierung des Selbstdenkens mit der Abhängigkeit von den Meinungen anderer zu vereinbaren. Meier behandelt die Meinungen anderer nicht nur in seiner Theorie der Vorurteile, sondern vor allem in seinen Ausführungen über die Quellen der Gewissheit. Dort hebt Meier zunächst in Abwendung von rationalistischen Theorien der Rechtfertigung hervor, dass sowohl Überlegung als auch Erfahrung für Gewissheit allein ausreichen. Auch eine durch Erfahrung bestätigte Erkenntnis kann nicht anders als wahr sein: »Die Erfahrung gibt uns eine völlige und ausführliche Gewissheit; und die Beweise aus der Erfahrung, wenn sie nur sonst keinen Fehler haben, sind Demonstrationen«.55 Weil die Erfahrung entweder die eigene oder die anderer sein kann, gibt es insgesamt drei mögliche Quellen von Gewissheit: Wenn uns etwas gewiß ist, so ist es uns entweder aus der Erfahrung gewiß, oder aus andern Beweisthümern. Wenn das erste ist, so sind wir von der Sache entweder aus unserer eigenen Erfahrung gewiß, oder aus der Erfahrung anderer Menschen. Wir haben also eine dreyfache Quelle der Gewißheit unserer Erkentniß, und also auch eine dreyfache Quelle, woher wir die Beweisthümer aller Wahrheiten nehmen; nemlich unsere eigene Erfahrung, andere Beweisthümer die keine Erfahrungen sind, und die Erfahrungen anderer Menschen.56
Während dabei die eigene Erfahrung beweisend ist und eine hinreichende Gewissheit bietet, sind Beweise aus der Erfahrung anderer problematisch, weil wir uns auf ihren Bericht verlassen 52
53 54
55 56
Thomas Reid: An Inquiry into the Human Mind. On the Principles of Common Sense. Ed. by Derek R. Brookes. Edinburgh 1997, bes. Chapter 6, Section XXIV: »Of the analogy between perception, and the credit we give to human testimony«, pp. 190–202. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 258. Vgl. zu Hume u.a. Axel Gelfert: Hume on Testimony Revisited. In: Logical Analysis and History of Philosophy 13 (2010), pp. 60–75; Dieter Hüning: Humes Wunderkritik und das Problem des Zeugnisses anderer. Mit einem Ausblick auf Kant. In: Ders., Stefan Klingner, Carsten Olk (Hg.): Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants. Berlin, Boston 2013, S. 453–476. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 340. Ebd., S. 338. Die Verwendung des Quellenbegriffs ist typisch für die neuzeitliche Erkenntnistheorie seit Locke. In kritischer Perspektive zeichnet Scholz eine Verbindung zwischen dem Gebrauch des Quellenbegriffs und einer fundamentalistischen Auffassung der Struktur von Rechtfertigung nach, vgl. Oliver R. Scholz: Quellen der Erkenntnis. Metapher, Begriff und Sache. In: Thomas Rathmann, Nikolaus Wegmann (Hg.): »Quelle«. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Berlin 2004, S. 40–65, hier S. 60f. Vgl. ähnlich Michael Williams: Problems of Knowledge. A Critical Introduction to Epistemology. Oxford, New York 2001, pp. 168–169.
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müssen: »Da wir uns weder aus der Vernunft noch aus unserer Erfahrung überzeugen können, was ein anderer Mensch für Erfahrungen gehabt hat, so müssen wir uns auf seine Versicherung verlassen«.57 Laut Meier stellt es ein Problem dar, dass auf Erfahrungen anderer gestütztes Wissen immer durch Zeugnisse vermittelt ist. Unter einem Zeugnis versteht er »die Handlung eines Zeugen, es mag dieselbe nun in einer Rede oder in einer andern Handlung bestehen, wodurch er etwas für eine wahre würkliche Sache ausgibt«.58 Das Für-Wahr-Halten auf Basis eines Zeugnisses bezeichnet Meier als Glauben. Da er sich »bloß auf würkliche Sachen erstreckt, und die Historie von dergleichen Dingen handelt«, bezeichnet Meier den Glauben aufgrund eines Zeugnisses als historischen Glauben, der vom religiösen Glauben zu unterscheiden ist, auch wenn der religiöse Glaube oft durch den historischen gestützt wird.59 Laut Meier handelt es sich beim Glauben als Übernahme der Meinung anderer um einen Akt der Nachahmung. Nach seiner Analyse ahmen wir die Erkenntnis eines anderen nach, weil wir ihn als Träger von Vollkommenheiten wertschätzen und er ein positives Ansehen bei uns genießt. Bewerten wir sein Ansehen nicht als positiv, so ist es uns laut Meier auch nicht möglich, seine Meinung zu übernehmen: Es ist also unmöglich, daß wir einem Zeugen eher glauben, oder etwas für wahr halten sollten, weil ers für wahr ausgibt, und daß wir also ihm in seinem Beyfalle, den er einer Sache gibt, nachfolgen sollten, ehe er nicht bey uns in einem hinlänglichen Ansehen stehet. Einem Menschen, den wir verachten, glauben wir nicht, weil wir uns schämen, so zu denken wie er. Ein Zeuge, dem wir glauben sollen, muß in einem gehörigen Ansehen stehen.60
Die beiden für ein positives Ansehen und die »Autorität eines Zeugen« notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen bestehen in Geschicklichkeit und Aufrichtigkeit.61 Über Geschicklichkeit verfügt ein Zeuge, »wenn er zureichende Kräfte besitzt, nicht nur eine richtige Erfahrung zu bekommen, sondern dieselbe auch auf eine richtige Art zu bezeichnen«.62 Die Aufrichtigkeit wiederum besteht »in der Neigung seines Willens, nicht zu lügen, sondern seine Erkentniß dergestalt zu bezeichnen, wie er sie für wahr erkennet«.63 Noch einmal unterschieden sind dabei die Bedingungen für die Glaubwürdigkeit von »Augen- und Hörenzeugen«. Während ein Augenzeuge die Erfahrung selbst gemacht hat, gibt ein vertrauenswürdiger Hörenzeuge entweder das Zeugnis eines Augenzeugen wieder oder ist durch andere Hörenzeugen mit einem Augenzeugen verbunden, dessen Zeugnis er weitergibt. Dabei darf ein Zeugnis übernommen werden, wenn es auf einen gutwilligen Augenzeugen als Zeugen erster Hand zurückgeht, der die 57 58
59 60 61 62 63
Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 344. Ebd., S. 345. Vgl. Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752, S. 58: »Aus anderer Leute Erfahrung werden wir, vermittelst des Glaubens, gewiß. Wer eine wirkliche Sache für wahr ausgibt, damit ein anderer sie auch für wahr halte, heißt ein Zeuge (testis), und seine Handlung ein Zeugniß (testimonium, testari). Glauben (credere) heißt, um eines Zeugnisses willen etwas annehmen. Der Glaube (fides, fides historica) ist der Beyfall, den wir einer Sache um eines Zeugnisses willen geben. Der Gegenstand des Glaubens besteht in vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen, aber nicht in andern Wahrheiten.« Vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 354. Ebd., S. 347. Ebd. Ebd., S. 348. Ebd.
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Achim Vesper
Erfahrung selbst gemacht hat, in seinen Erfahrungen sicher ist sowie über ein gutes Gedächtnis und eine angemessene Ausdruckskraft verfügt. Das von einem gutwilligen Hörenzeugen übermittelte Zeugnis wiederum ist auch nur dann glaubwürdig, wenn sich der Hörenzeuge auf einen Augenzeugen berufen kann, »dessen Tüchtigkeit genugsam erwiesen werden kann«, und der Hörenzeuge durch einen guten Verstand und ein gutes Gedächtnis das Zeugnis des Augenzeugen zuverlässig übermitteln kann.64 Bei einem Zeugen mit fehlerlosem Verstand und Willen geht die Gewissheit der Erkenntnis des Zeugnisgebers notwendig auf die Erkenntnis des Zeugnisnehmers über: »Könnte man nun demonstrieren, daß ein Zeuge so beschaffen sey; so würde unser Glauben ganz gewiß seyn«.65 Denn laut Meier ist offenbar, »daß, in so ferne ein Zeuge geschickt und aufrichtig ist, sein Zeugniß in so ferne wahr sey«.66 Da aber eine auf einem Zeugnis beruhende Erkenntnis nur dann gewiss ist, wenn der Zeuge über Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit verfügt, darf man sich nicht ohne Prüfung seines Willens und seines Verstandes auf sein Zeugnis verlassen. Wir dürfen lediglich dann ein Zeugnis übernehmen, wenn wir uns nicht auf andere Evidenz stützen können und den Zeugen als aufrichtig und geschickt beurteilen. Laut Meier dürfen wir »nicht eher glauben, [...] ehe wir nicht, so viel als möglich, versichert sind, daß der Zeuge, dem wir glauben, ein hinlängliches Ansehen habe«.67 Ihm zufolge dürfen wir uns nur dann auf die Meinungen anderer stützen, wenn wir ihre Glaubwürdigkeit durch eigene Überlegung und Erfahrung festgestellt haben. Folgt man Meier, so bildet das Zeugnis anderer keine eigenständige Erkenntnisquelle, weil wir einem Zeugen nur dann vertrauen dürfen, wenn wir durch eigene Wahrnehmung und induktive Schlüsse seiner Zuverlässigkeit sicher sind. Damit bezieht Meier eine Position, die derjenigen Humes gleichkommt, der über vom Zeugnis anderer ausgehende Schlussfolgerungen in der Enquiry concernig Human Understanding schreibt: »Our assurance in any argument of this kind is derived from no other principle than our observation of the veracity of human testimony, and of the usual conformity of facts to the report of witnesses«.68 Wie Hume behauptet auch Meier, dass wir ein Zeugnis nur dann übernehmen dürfen, wenn wir im einzelnen Fall Gründe für die Glaubwürdigkeit des Zeugen und des Zeugnisses besitzen. Allerdings behauptet Meier auch, dass sich die Gründe für die Akzeptanz eines Zeugnisses nicht in allen Fällen Schlüssen aus der Beobachtung verdanken. Dabei ist Meier offenkundig durch das Interesse motiviert, den religiösen Skeptizismus auszuräumen. Wie bei Hume steht auch bei Meier die Auseinandersetzung mit testimonialen Überzeugungen im Kontext einer Debatte über den Wert religiöser Zeugnisse. Im Unterschied zu Hume nimmt Meier jedoch eine liberale Sicht auf religiöse Zeugnisse ein. Meiers Auseinandersetzung mit dem Zeugnis anderer zeigt sich von der Frage beeinflusst, ob wir uns auf Berichte über religiöse Offenbarungen verlassen dürfen. Während Hume die Zuverlässigkeit von Wunderberichten anzweifelt, 64 65 66 67 68
Ebd., S. 351. Ebd., S. 356. Ebd. Ebd. David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding. Ed. by Tom L. Beauchamp. Oxford, New York 1999, p. 170 (Section X, Part I). Humes Enquiry erscheint 1748 zunächst als Philosophical Essays Concerning Human Understanding und kommt 1755 erstmalig ins Deutsche übersetzt heraus (David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Hamburg, Leipzig 1755).
Selbstdenken und Zeugnis anderer in Meiers Vernunftlehre
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verteidigt Meier die Zuverlässigkeit von Offenbarungsberichten. Zwar behauptet Meier, dass eine Erkenntnis gewiss ist, wenn sie auf dem Zeugnis einer Person beruht, deren Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit zeugnisfrei festgestellt werden kann; daneben behauptet er aber, dass es die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses steigert und ein Zeugnis wahrscheinlich ist, wenn es von mehreren Zeugen gegeben wird. Zwar dürfen wir ein Zeugnis nach seiner Auffassung nur dann als wahr betrachten, wenn wir uns der Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit des Zeugen aufgrund von Schlüssen aus der Erfahrung sicher sind; wir dürfen ein Zeugnis aber immerhin als wahrscheinlich betrachten, wenn es – wie im Fall der Evangelien – von mehreren Zeugen geteilt wird. Zur Verteidigung von auf Zeugnissen basierenden religiösen Überzeugungen nimmt Meier eine Inkohärenz in Kauf. Ihm zufolge dürfen wir einem Zeugnis auch ohne zeugnisfreie Rechtfertigung glauben, wenn keine andere Evidenz verfügbar ist. So gibt es Fälle von ›reinem Glauben‹, bei dem eine lediglich auf Zeugnisse gestützte Meinung akzeptabel ist.69 Als Beispiel für »Wahrheiten, die wir nur durch den Weg des Glaubens erkennen können«, führt Meier die Überzeugung an, »daß GOtt die Welt in sechs Tagen erschaffen habe«.70 In Hinsicht auf Gewissheit ist dem reinen Glauben aber der »vermischte Glaube« vorzuziehen, der »in der Vereinbarung des Glaubens mit den übrigen Quellen unserer Erkenntniß« besteht und bei dem andere Evidenzen hinzukommen.71 In diesem Fall müssen wir »nicht bloß glauben, was wir auch selbst erfahren, und aus der Vernunft beweisen können, wenn es anders die Wichtigkeit der Wahrheit erfodert«.72 Dennoch steht die relative Anerkennung zeugnisbasierter religiöser Meinungen ohne zeugnisunabhängige Belege für die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Spannung zu Meiers übergeordneter Argumentation, nach der wir uns nur dann auf ein Zeugnis verlassen dürfen, wenn wir uns der Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit des Zeugen durch eigene Wahrnehmung und Überlegung versichert haben. Lässt man diese Inkohärenz beiseite, so verdient Meiers Auseinandersetzung mit dem Zeugnis anderer besonderes Interesse, weil er vom übergeordneten Wert des Selbstdenkens für den Gewinn von Wissen und von der Möglichkeit von epistemischer Dissidenz ausgeht, ohne die Angewiesenheit auf die Meinungen anderer zu ignorieren. Nach seiner Auffassung versetzt uns weder die grundsätzliche Ablehnung noch die grundsätzliche Anerkennung des Zeugnisses anderer in eine für den Erwerb wahrer Meinungen vorteilhafte Position. Stattdessen kann Meier die Forderung nach Selbstdenken mit der Übernahme der Meinung anderer harmonisieren, weil ihm zufolge die Verlässlichkeit der Meinungen anderer durch eigene Erfahrung und Überlegung festgestellt werden kann. Anders als Locke vertritt er den epistemischen Individualismus nicht in der starken Spielart, nach der wir nur aufgrund eigener Wahrnehmung und Überlegung zu Wissen gelangen können. Nach seiner schwächeren Version können wir auch durch das Zeugnis anderer zu Wissen gelangen, wenn wir uns durch eigene Wahrnehmung und Überlegung der Glaubwürdigkeit des Zeugen versichert haben. Meier wählt damit einen – bestimmen gegen-
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Vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 6), S. 360f. Ebd., S. 361. Ebd. Ebd.
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wärtigen Positionen vergleichbaren – Weg, um die beiden Gefahren von Skeptizismus einerseits und Leichtgläubigkeit andererseits gleichermaßen zu umgehen.73
3. Schluss Auch ohne den Begriff zu gebrauchen, rückt Meier die mit egalitären epistemischen Überzeugungen verbundene Forderung nach Selbstdenken in den Mittelpunkt seiner Erkenntnistheorie. Darüber hinaus argumentiert er dafür, dass Individuen epistemisch selbständig sind und das Zeugnis anderer nur dann akzeptieren dürfen, wenn sie die Glaubwürdigkeit des Zeugen festgestellt haben. Es lässt sich jedoch bezweifeln, dass Meier damit unserer Praxis im Umgang mit Meinungen anderer in Alltagssituationen gerecht wird. Zum Beispiel übernehmen wir die Meinung von Unbekannten, die wir nach dem Weg fragen, ohne uns ihrer Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit versichert zu haben. Außerdem kann man fragen, ob die Wertschätzung des Selbstdenkens notwendig mit einer kritischen Perspektive auf das Zeugnis anderer verknüpft ist. In historischer Perspektive lässt sich daran erinnern, dass die Forderung nach Selbstdenken auch unabhängig von einer reduktionistischen Perspektive auf das Zeugnis anderer vertreten wird. So hat die Tatsache Aufmerksamkeit gefunden, dass Kant vom Wert des Selbstdenkens ausgeht und zugleich das Zeugnis anderer als eigenständige Erkenntnisquelle betrachtet.74 Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil Kant sich über das Zeugnis anderer in seinen LogikVorlesungen äußert, die er auf der Grundlage von Meiers Auszug aus der Vernunftlehre abhält. Ungeachtet historischer Positionen kann man die widerstreitenden Intuitionen in Bezug auf den epistemischen Wert des Selbstdenkens und des Zeugnisses anderer aber auch dadurch harmonisieren, dass man epistemische Kontexte spezifiziert. Wahrscheinlich sind wir in bestimmten Kontexten berechtigt, die Meinungen anderer ohne Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit aus anderen Erkenntnisquellen zu übernehmen, und in anderen nicht. In den Bereichen des philosophischen und des moralischen Diskurses etwa erscheint eine Orientierung an den Meinungen anderer 73
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Z. B. betont J. L. Mackie, dass man durch das Zeugnis anderer nur dann Wissen erwirbt, wenn man über die Glaubwürdigkeit des Zeugen informiert ist: »Knowledge that one acquires through testimony, that is, by being told by other people, by reading, and so on, can indeed be brought under the heading of this authoritative knowledge, but only if the knower somehow checks, for himself, the credibility of the witnesses. And since, if it is a fact that a certain witness is credible, it is an external fact, checking this in turn will be based on observations that the knower makes himself – or else on further testimony, but, if an infinite regress is to be avoided, we must come back at some stage to what the knower observes for himself.« J. L. Mackie: The Possibility of Innate Knowledge. In: Proceedings of the Aristotelian Society 70 (1969/70), pp. 245–257, hier p. 254. Ähnlich schreibt Audi: »I cannot acquire justification for believing something on the basis of testimony unless I have some degree of justification for believing that the attester is credible […]. This justification cannot come entirely from testimony.« Robert Audi: The Place of Testimony in the Fabric of Knowledge and Justification. In: American Philosophical Quarterly 34 (1997), pp. 405–422, hier p. 413. Vgl. Oliver Robert Scholz: Autonomie angesichts epistemischer Abhängigkeit – Kant über das Zeugnis anderer. In: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralf Schumacher (Hg.): Akten des IX. Internationalen KantKongresses, Berlin 2000, Bd. 2, S. 829–839; Axel Gelfert: Kant on Testimony. In: British Journal for the History of Philosophy 14.4 (2006), pp. 627–652; ders.: Kant and the Enlightenment’s Contribution to Social Epistemology (s. Anm. 6).
Selbstdenken und Zeugnis anderer in Meiers Vernunftlehre
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ohne Selbstdenken als zutiefst fragwürdig. Trotz dieser weitergehenden Fragen wird man Meier jedoch vor dem Vorwurf in Schutz nehmen müssen, dass er in einer Ideologie befangen ist. Stattdessen muss man ihm zugute halten, dass er für den Wert des Selbstdenkens argumentiert und der Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer dennoch Rechnung zu tragen versucht.
PAOLA RUMORE
Georg Friedrich Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele im zeitgenössischen Kontext
1. Grundlinien der deutschen Debatte über die Unsterblichkeit der Seele in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Daß die Menschen offt selber nicht recht wissen, was sie wollen; solches erhellet zum allerdeutlichsten daraus, weil sie sich von ihrem Zustande nach dem Tode, so mancherley und wider einander lauffende Begriffe machen. Sie wollen nicht gern in ihr voriges Nichts wider zurück fallen, weil ihnen nichts schrecklicher vorkommt als ein ewiges Nichts. Und gleichwohl scheuen sie sich auch wieder zu erwachen und ewig zu leben; weil sie nicht wissen, was für ein Schicksal sie in der Ewigkeit zu gewarten haben. Sie wolten wohl wieder aufstehen, um niemahls mehr zu sterben; aber sie wünschten auch wohl, daß diese auf eine solche Weise, wie sie es gern hätten, geschehen möchte.1
Mit diesen Worten beschrieb der anonyme Verfasser der Vorrede zu einer wegbereitenden Schrift über die Unsterblichkeit der Seele in der aetas wolffiana die verworrene Lage, in der sich die Debatte über das Thema im Jahre 1740 befand. Den Betrachtungen des anonymen Verfassers zufolge wünschen die Menschen sich einerseits, eine vom Leib getrennte denkende Seele zu besitzen, die dessen Tod überleben wird; andererseits sind sie sich aber bewusst, dass es sehr vorteilhaft sein könnte, sich am Ende des irdischen Lebens um ihre vormaligen Taten auf dieser Welt nicht mehr bekümmern zu müssen und mit deren Moralität endgültig abzuschließen.2 Aus diesen Gründen scheint es offensichtlich, dass das Thema der Unsterblichkeit der menschlichen Seele unmittelbare Konsequenzen auf die verschiedenen Meinungen über die moralische Bestimmung des Menschen sowie über das Dasein und Wesen der Gottheit mit sich bringt. Nicht umsonst hat es von jeher eine zentrale Rolle im abendländischen Denken gespielt. Das gilt insbesondere für die neuzeitliche Philosophie, die tief von der Überzeugung Descartes’ beeinflusst wurde, die Unsterblichkeit der Seele sei eine unmittelbare Folge der radikalen onto1
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Vorrede eines Ungenannten. In: Johann Gustav Reinbeck: Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit. Nebst einigen Anmerckungen über ein Französiches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke. Berlin 1740 (der »Vorbericht« trägt das Datum 20. August 1739); ND Hildesheim 2002, S. 1*–2* (nicht pag.). Ebd., S. 3*–4* (nicht pag.).
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logischen Trennung zwischen den Bereichen von res cogitans und res extensa. Die Seele entzieht sich damit dem Determinismus der mechanischen Naturgesetze und dem Schicksal des sterblichen Körpers und tritt in das ontologische Gebiet ein, wo Freiheit, Tugend, Glaube und selbst die Unsterblichkeit zu verorten sind. Die Verbindung zwischen der Unsterblichkeitslehre und dem Bereich der Moral und Religion wurde damit aufs Stärkste befestigt. Außerhalb dieser metaphysischen bzw. theologischen Fragen spielte die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch in einem konkreteren und pragmatischen Bereich eine entscheidende Rolle, nämlich in Hinsicht auf die Ruhe, Sicherheit und Glückseligkeit der menschlichen Gesellschaft im irdischen Leben. Als Grundlage der Moralität der Einzelnen hat sie nämlich einen spürbaren Einfluss auf die Stabilität des gemeinsamen Lebens: Man setzte zum Exempel, daß es einem grossen Prinzen in den Sinn käme zu dulden, dass seinen Unterthanen eine der Unsterblichkeit der Seelen und der Vorstellung eines künftigen Lebens zuwider lauffende Lehre beygebracht würde: In was für einer Sicherheit würde er sich, sowohl für seine Person, als auch in Absicht auf seine Regierungsform wohl befinden? Würde er auch wohl einen Augenblick auf ihren Gehorsam, auf ihre Treue und auf ihre Eidschwüre sich verlassen können? Ja, würden diese Unterthanen selbst wohl aufhören, einander zu betrügen und zu ermördern, wenn sie nur der weltlichen Obrigkeit diese Thaten verhelen könnten? Würden wohl die Gewaltthätigkeit des Stärkern, die Raubereyen, Vergiftungen, Mordthaten, kurz die abscheulichsten Laster jemahls ein Ende nehmen? Würden endlich nicht alle Tugenden, die Wohlfahrt der Bürgerlichen Gesellschaft, und die Religion selbst, als lauter Hirngespinste angesehen werden, wenn die Menschen glauben sollten, daß sie nach ihrem Tode, weder etwas zu fürchten, noch zu hoffen hätten?3
Die Unsterblichkeit der Seele war also keine private oder rein akademische Sorge der Philosophen, die sich damit ruhig und ungestört in ihren Winkeln beschäftigen konnten; sie hatte vielmehr – insbesondere aufgrund ihrer inneren Beziehung zur Moral und Religion – eine wichtige Auswirkung auf das öffentliche Leben. Deshalb trat sie besonders im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in dem die Religion als ein wichtiges Hilfsmittel der Fürsten hinsichtlich der Regierung der Länder galt, als ein zentrales Thema in den Vordergrund der öffentlichen Debatte der Zeit und trug dazu bei, in allen Ständen der Bevölkerung eine weit verbreitete und gemeinsame Missbilligung der Feinde dieser Lehre zu erwecken – seien es die Atheisten oder die Vertreter einer zum Materialismus neigenden Weltanschauung. Trotz dieses gemeinsamen Interesses betraf die Debatte über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele jedoch zugleich einen Glaubensartikel, ein Dogma der Theologie. Nun durfte die Philosophie sich einem kirchlichen Dogma zwar annähern, aber sie durfte keinerlei Anspruch erheben, einen konkreten Einfluss auf die Sache selbst auszuüben. In einer monumentalen Geschichte des Glaubens an die Unsterblichkeit, die von Christian Wilhelm Flügge (1772– 1828), einem lutherischen Theologen aus Göttingen, zwischen 1794 und 1800 verfasst wurde, wird deutlich dargestellt, dass die Philosophie im 17. Jahrhundert, insbesondere im Kontext des Protestantismus, mehr als wirksames Mittel für die Vermittlung zwischen streitenden Parteien in den theologischen Debatten angesehen wurde denn als deren Infragestellung. Dagegen begann sie erst im 18. Jahrhundert eine konkrete eigenständige Wirkung auf die theologischen Fragen und auf die Dogmatik auszuüben.4 Die Theologie blieb noch im 17. Jahrhundert von 3 4
Ebd., S. 39*–42*. Es handelt sich um Christian Wilhelm Flügge: Geschichte des Glaubens an Unsterblichkeit, Auferstehung, Gericht und Vergeltung. 3 Bde. Leipzig 1794–1800, Bd. III, S. 234.
Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele
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der philosophischen Diskussion fast unberührt. Man konnte eine materialistische Auffassung vertreten wie Hobbes oder eine Art Fatalismus nach dem Beispiel Spinozas, ohne damit ernsthaft in die theologische Debatte einzugreifen. Solche Auffassungen wurden von der Theologie entweder als abergläubisch zurückgewiesen oder verurteilt; ihr eigenes Verfahren wurde letztendlich kaum davon berührt. Als einschlägiges Beispiel für ein solches Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie am Anfang der Neuzeit nennt Flügge Philipp Melanchthon: Obwohl er sich vielfach der Terminologie und des Begriffsbestandes der aristotelischen Philosophie bediente, stützte er die Glaubensartikel, insbesondere den der Unsterblichkeit der Seele, nach wie vor auf die Bibellehre, die uns über die Auferstehung Christi berichtet – gemäß der sogenannten »biblischen Methode«. Erst mit der Durchsetzung der demonstrativischdeduktivischen Methode gelang es der Philosophie, ihren Einfluss auf die dogmatische Methode der Theologie auszuweiten – vorausgesetzt sie war im Stande, vernünftige Beweise bzw. Demonstrationen der Glaubenswahrheiten anzubieten, ohne damit den Inhalt der Dogmen anzugreifen. Nach Flügges Darstellung verdankt sich diese Innovation innerhalb der Verhältnisse von Vernunft und Glauben der leibniz-wolffschen Philosophie, deren Verdienst es sei, ihre anhand der Vernunft nachvollziehbaren Beweise der Glaubenswahrheiten nicht nur von den Gläubigen, sondern auch von allen anderen vernünftigen Menschen als gültig anerkennt zu lassen.5 In dem hier zentralen Fall der Unsterblichkeit der Seele bietet die wolffsche Philosophie einen vernünftigen Beweis an, der aus den Beschaffenheiten des menschlichen Seelenwesens hergeleitet und – nach Wolffs Ansichten – völlig kompatibel zur doctrina Christi war.6 Dem ihr eigentümlichen Verfahren gemäß bestimmte und unterschied sie zuerst die Begriffe, die zur Streitfrage gehörten, brachte die Beweise erst danach in eine ganz neue Ordnung und gab ihnen eine wissenschaftlichen Gestalt, die ihnen eine unbedingte Gewissheit verlieh. Auf Grund ihrer gründlichen Begriffsanalyse und ihrer strengen demonstrativischen Methode gelang es der wolffschen Philosophie, die Wahrheit des Dogmas durch die mathematische Gewissheit zu untermauern. Das brachte den Vorteil mit sich, die Fehlschlüsse der Gegner der Unsterblichkeit der Seele – der Materialisten wie der Aristoteliker, aber auch der Vertreter der Lehre vom Seelenschlaf – ans Licht zu bringen und ihre Einwände endgültig zu beseitigen. Bestätigt wurde diese Aufgabe der leibniz-wolffschen Philosophie, die theologischen Wahrheiten durch die Vernunft zu versichern, in verschiedenen, seit den 1730er Jahren erschienenen Schriften, die ein tiefes Vertrauen in die Wirksamkeit dieser philosophisch-theologischen Konstellation zeigten. Man denke z. B. an Israel Gottlieb Canz’ (1690–1753) Philosophiae Leibnitianae et Wolfianae usus in
5 6
Vgl. ebd., S. 237. Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Metaphysik). Halle 1719 [ND der Ausgabe 1751. Hg. von Charles A. Corr. Hildesheim 1983], §§ 921–927; ders.: Psychologia rationalis, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide innotescunt, per essentiam et naturam animae explicantur, et ad intimiorem naturae ejusque auctoris cognitionem pro futura proponentur. Frankfurt a. M., Leipzig 1734 [ND Hildesheim 1994], §§ 729–748: §§ 731 und 740: »Notio immortalitatis, quam dedimus, scripturae sacrae seu menti Christi conformis.«
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Theologia per praecipua fidei capita (1733) oder an die zehn Jahre später erschienenen Vernünftigen und Schriftmäßigen Gedanken vom jüngsten Gericht (1742) von Johann Ernst Schubert (1717–1774).7 Im Laufe weniger Jahre trat die Debatte über die Seelenunsterblichkeit an die erste Stelle der philosophischen Agenda. Man konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit Hilfe der Vernunftanalyse die unendlichen Streitereien über das Thema zu entscheiden und ihren gefährlichen Folgen für die Moral, die Religion und das Gesellschaftsleben Einhalt zu gebieten. Die Zahl der diesem Thema gewidmeten Schriften stieg so sehr an, dass Valentin Ernst Löscher schon im Jahr 1735 eine riesige Sammlung veröffentlichte, um dem Leser eine Orientierungshilfe in dem grenzenlosen Bereich der Diskussion anzubieten.8 In diesem abwechslungsreichen Panorama rationaler Beweise lassen sich – die Lage in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Zeit von Meiers Wirken, zwangsläufig vereinfachend – drei verschiedene Typologien der Lehre der Unsterblichkeit der Seele erkennen: a. Den ersten Beweis könnte man als ontologisch-psychologischen Beweis bezeichnen. Es handelt sich dabei um den Beweis, der von Wolff ursprünglich im Abschnitt der vernünftigen Psychologie der Deutschen Metaphysik von 1719 vorgeführt wurde. Im Einklang mit dem so genannten simplicity argument – dessen erste Formulierung in Platos Phaidon zu finden ist, das aber in vielfältigen Varianten die ganze neuzeitliche Philosophiegeschichte von Descartes über Leibniz bis zu Mendelssohn durchzieht – behauptet Wolff, dass die Seele naturaliter weder sterben noch geboren werden kann, da sie ein einfaches Ding ist. Beide Vorgänge können nämlich nur bei zusammengesetzten Dingen stattfinden, deren Teile bei der Geburt zusammengeführt und im Tod zerlegt werden. Die Seelen sind dann ihrer Natur und ihrem Wesen nach unverweßlich.9 »Derowegen« – fährt Wolff fort – »gehen sie nicht mit unter, wenn ihr Leib aufhöret zu seyn. Denn dadurch, daß die Theile der Materie, daraus der Leib zusammen gesetzt ist, aus einander gehen, kann die Seele nicht vernichtet werden«.10 Nach Wolff gibt es aber einen grundlegenden Unterschied zwischen der Verweßlichkeit, die in der Zerlegung der Teile besteht, und der Vernichtung, die das Ding in ein bloßes Nichts verwandelt, ohne dass an seiner Stelle etwas Reales bleibt. Wie im Fall von Leibniz’ Monaden kann die wolffsche Seele nur vernichtet werden. Nach dem Tod des Körpers lebt die Seele eigenständig fort und ist in diesem Zustand immer noch im Stande, ihre Vorstellungskraft auszuüben. Ludwig Philipp Thümmig – dem Anschein nach einer der treuesten Anhänger Wolffs – hatte in seiner schon 1721 verfassten Demonstratio immortalitatis animae klargestellt, dass die Seele nicht nur den Tod des Körpers überlebt, sondern dass sie nach einer solchen gründlichen Umwälzung ihres Zustandes die Fähigkeit entwickelt, sich ihrer eigenen Vorstellungskraft in einer ihrer vernünftigen Natur noch angemesseneren Art zu
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Später auch bei Johann Daniel Müller: Possibilitas et certitudo resurrectionis mortuorum ex principiis rationis excitatae, methodo mathematicorum demonstratae. Marburg 1752; ders.: Neue Bestätigung der vernünftigen Beweise für die Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele. Marburg 1752. Vgl. Valentin Ernst Löscher: Auserlesene Sammlung der besten und neuern Schrifften vom Zustand der Seele nach dem Tod. Dresden 1735. Nach hundert Jahren hat Hubert Becker die zweibändigen Mittheilungen aus Dr. Valentini Ernst Löscher’s auserlesener Sammlung von Schrifften aus dem XVII. und XVIII. Jahrhunderte über den Zustand der Seele nach dem Tode herausgegeben (Augsburg 1835/36). Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 6), § 921. Ebd., § 922.
Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele
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bedienen, d. h. durch die Herstellung noch klarerer und deutlicherer Begriffe.11 Das bedeutet, dass die Seele in ihrem Zustand nach dem Tod des Leibes das Bewusstsein ihrer selbst und anderer von ihr vorgestellter Dinge bewahrt, was die notwendige Bedingung jedes klaren Gedankens darstellt.12 Das Bewusstsein ihrer Vorstellungstätigkeit und die Erinnerung an die vorhergehende irdische Lage sind nach Wolff die notwendigen Voraussetzungen für die Erhaltung der eigenen Persönlichkeit, d. h. des Zustandes, in dem die Seele sich als dieselbe Seele erkennt, die ehemals ein bestimmtes irdisches Leben in der harmonischen Verbindung mit einem bestimmten Leib gelebt hat. Verweslichkeit und Persönlichkeit sind somit die zwei Bestandteile des Begriffs der Unsterblichkeit, die demzufolge ausschließlich die Geister, d. h. zwar die vernünftigen, nicht aber – trotz ihrer ständigen Unverweslichkeit – die tierischen Seelen betreffen.13 b. Den zweiten Beweis der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft kann man als psychologisch-moralischen Beweis bezeichnen. Er findet sich z. B. in der Philosophia pragmatica (1723) von Andreas Rüdiger14 sowie in einer späteren und bekannteren Schrift, nämlich in dem Entwurf der notwendigen Vernunft-Wahrheiten, worin Christian August Crusius im Jahr 1745 die Grundlinien seiner metaphysischen Auffassungen darstellt. Der Beweis geht von der Betrachtung aus, dass in der menschlichen Seele ein Trieb zu einer höchsten (und folglich auch ewigen) Glückseligkeit besteht. Dieser Trieb drückt sich als echtes Verlangen nach einem künftigen Leben aus, das aber durch einen eventuellen Tod der Seele umsonst und sinnlos wäre. Ein derartiger Trieb, der von Gott in uns eingepflanzt wurde, habe sich nach Crusius auf etwas Reales zu richten, denn es wäre äußerst unwürdig, dass der höchst weise und gute Gott ein Verlangen nach etwas Eingebildetem in uns angelegt hätte. Die vernünftigen Geister, weil sie Abstraction und Bewußtsein, und einen Trieb nach der Vollkommenheit, nach der Vereinung mit Gott und nach der Tugend haben, sind eines unendlichen fortdauernden Endzweks nicht nur fähig, sondern auch demnach begierig: Da nun Gott keine Fähigkeit ver11
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Vgl. Ludwig Philipp Thümmig: Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta. Halle 1721, §§ 24–26 (editio novissima, adiunctae sunt litterae approbantes illustris Wolfii. Jena 1742). Die hier angedeutete Verbesserung der Seele ist im ontologischen und nicht im moralischen Sinn gemeint, indem sie den Grad der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen und nicht die Ausübung der Tugend betrifft. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 6), §§ 925f. Nach Wolff sind die Seelen der Tiere und sogar die Materie unverweslich, obwohl nicht unsterblich. Damit verbessert und integriert Wolff den Beweis der Cartesianer, indem er den Unterschied sowohl zwischen Seele und Materie, als auch zwischen menschlichen Seelen und unvollkommenen tierischen Seelen betont (Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 6], §§ 926f.; ders.: Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, und zu besserem Verstande und bequemerem Gebrauche derselben herausgegeben [»Anmerkungen zur deutschen Metaphysik«], Frankfurt a. M. 1724; [ND der Ausgabe 1740. Hg. von Charles A. Corr. Hildesheim 1983, § 338]). Auf diese Weise fordert er auch den christlichen Glaube an überweltlichen Strafen und Belohnungen: Sollte die menschliche Seele die Erinnerung ihrer vergangenen Täten verlieren, würde sie die göttlichen Strafen nicht als nützlich wahrnehmen (Wolff: Anmerkungen zur deutschen Metaphysik, § 341). Im letzten Paragraph des Kapitels über die rationale Psychologie der Deutschen Metaphysik (§ 927) betont Wolff, dass: »man weiter nichts annehmen[darf], als daß die Seele durch den Leib nichts als die gegenwärtige Art der Einschränkung verlieret, und vermöge ihrer Vernunft nach dem Grunde des gegenwärtigen Zustandes forschet«. Andreas Rüdiger: Philosophia pragmatica, methodo apodictica, et quoad ejus licuit, mathematica, conscripta. Leipzig 1723 (17292; [ND der Ausgabe 1723. Hg. von Ulrich Leinsle. Hildesheim 2010]), I.I.VI, § 34.
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Paola Rumore geblich, sondern um eines Zwecks willen gibt – so kann man aus der Fähigkeit zu einem Bestreben nach einem ewigen Zweck schließen, daß Gott diejenigen Substanzen auch ewig erhalten wolle, welche dieselbe haben.15
Die Schwäche eines solchen Vernunftverfahrens wurde bald offensichtlich. Der Beweis beruht nämlich auf Annahmen, die ihrerseits nicht bewiesen wurden bzw. bewiesen werden konnte; so diejenige, dass ein jeder einen solchen Trieb zu einem echten künftigen Leben in sich trage (was wäre dann mit Atheisten oder Ungläubigen, die nichts davon wissen?); ferner, dass ein solcher Trieb tatsächlich als ein ursprüngliches Merkmal unserer Natur, das unmittelbar von Gott in uns angelegt wurde, zu verstehen sei, und nicht als bloßes Produkt unseres endlichen Wesens oder – wie Johann Bernhard Basedow16 einwandte – als bloßes Vorurteil der Erziehung und des menschlichen Umgangs; und schließlich, dass die Menschen von Natur aus gut seien und demzufolge eine natürliche Neigung zur Tugend und Wiedervereinigung mit Gott besäßen.17 Dieser Beweis moralischer Art begegnet in zahlreichen Abwandlungen mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts. Beschränkt auf den Bereich der moralischen Gewissheit und gestützt auf das kantische Postulat der reinen praktischen Vernunft kehrt er in einer ähnlichen Fassung auch in Ludwig Heinrich Jakobs Beweis für die Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriff der Pflicht wieder.18 c. Der dritte und letzte Beweis geht von der Betrachtung der letzten Absicht Gottes bzw. des letzten Endzwecks der Schöpfung aus und kann demzufolge als theologischer Beweis bezeichnet werden. Die Grundidee dieses Beweises ist folgende: Gott hat die Welt erschaffen, um die Menschen und die endlichen Geister durch die Verherrlichung seiner Ehre (illustratio gloriae divinae) glückselig zu machen.19 »Die Kundmachung und Verherrlichung der Ehre Gottes ist ein Mittel zum Wohl der Menschen und endlichen Geister« – schreibt ein Vertreter dieser Auffassung. »Die Glückseligkeit endlicher Geister [ist] zum letzten Endzweck der Schöpfung anzunehmen«.20 Der Endzweck der Schöpfung muss sich verwirklichen können, aber die Glückseligkeit dieser endlichen Geschöpfe findet nicht in diesem Leben statt, sondern erfordert eine Fortsetzung des Lebens jenseits der Grenzen der irdischen Welt. Der Endzweck der Schöpfung muss daher in Gott mit dem Wunsch verbunden sein, ein dauerhaftes Bewusstsein der menschlichen Seelen als Bedingung ihrer Glückseligkeit zu bewahren. Um seines Endzwecks willen hat Gott somit das ewige Leben der menschlichen Seelen ermöglicht. 15 16 17 18
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Christian August Crusius: Entwurf der notwendigen Vernunft-Wahrheiten. Leipzig 1745, § 483. Johann Bernhard Basedow: Theoretisches System der gesunden Vernunft. 4 Bde. Altona 1765, Bd. IV, S. 148. Vgl. Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Halle 1774, S. 409–413. Ludwig Heinrich Jakob: Beweis für die Unsterblichkeit der Seele aus dem Begriff der Pflicht. Züllichau 1790 (es handelt sich um eine vermehrte Ausgabe der ursprünglichen lateinischen Schrift, die er im selben Jahr verfasste: Dissertatio philosophica, in qua quaeritur, an sint officia, ad quae hominem natura obligatum esse, demonstrari nequeat, nisi posita animorum immortalitate. Leiden 1790; danach Halle 1794). Vgl. auch den Versuch einer Prüfung von Jakobs Beweis, den Karl Heinrich Gottlieb Schneider in Leipzig im Jahr 1793 veröffentlichte. Hennings: Geschichte von den Seelen (s. Anm. 17), S. 379. Ebd., S. 381: »Da die Kundmachung und Verherrlichung der Ehre Gottes ein Mittel ist zu dem Wohl der Menschen und endlicher Geister, so kann solche nicht die letzte Absicht der Schöpfung genennt werden, sondern vielmehr ein Zwischenzweck, das ist, ein solcher, der ein Mittel wird zu einem ferneren Endzweck. Wir haben also die triftigsten Gründe, die Glückseligkeit endlicher Geister zum letzten Endzweck der Schöpfung anzunehmen.«
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Den Beweis trifft man sowohl innerhalb der wolffschen Schule an, z. B. in der von Israel Gottlieb Canz (1690–1753) in Tübingen verfassten Theologia naturalis,21 als auch in Bereichen, in denen der Einfluss Wolffs nicht so deutlich spürbar war, wie bei Joachim Georg Darjes (1714– 1791),22 der ihn in seinen Philosophischen Nebenstunden entwickelt; oder bei dessen berühmtesten Schüler, Justus Christian Hennings, der sich diese Auffassung in der umfassenden Geschichte von den Seelen der Menschen und den Thieren aus dem Jahr 1774 zu eigen macht. Ganz unabhängig von der Stichhaltigkeit der verschiedenen Beweise, die sich nach dem damaligen Verfahren in mehrere komplizierte und verwickelte Stufen gliedern, ist hervorzuheben, dass sie sich alle als gründliche Demonstrationen eines theologischen Dogmas mit Hilfe der Vernunft verstanden, d. h. als Leistungen der Philosophie angesichts der unzweifelhaften Evidenz einer Glaubenswahrheit.
2. Meiers Stellungnahme innerhalb der zeitgenössischen Debatte In dieser Debatte nimmt Georg Friedrich Meier eine Sonderstellung ein. Da er einen vernünftigen Beweis der Unsterblichkeit der Seele für unmöglich hält, vertritt er eine Auffassung, die mit den damals üblichen Sichtweisen nicht ganz im Einklang steht. Meier weist damit den Anspruch zurück, durch das demonstrativisch-deduktivische Verfahren der Vernunft zu einer festen und gewissen Erkenntnis von der Seelenunsterblichkeit zu gelangen. Meiers Weg zu dieser Stellungnahme gegenüber der rationalistischen Philosophie und die daraus folgende Erarbeitung einer persönlichen Auffassung, die von der wolffschen Lehre abrückt, begann sich bereits in seiner ersten im engeren Sinn philosophischen Schrift abzuzeichnen, dem Beweis: daß keine Materie dencken könne. Das Werk erschien 1743 in Halle, drei Jahre bevor er dank Siegmund Jakob Baumgartens Einschreiten zum außerordentlichen Professor berufen wurde.23
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Israel Gottlieb Canz: Theologia naturalis thetico-polemica. Dresden 1742, I.VIII, § 80. Über Canz vgl. Johann Christoph Adelung: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem GelehrtenLexicon. Bd. II, Leipzig 1787 [ND Hildesheim 1960], Sp. 83–86. Canz wurde durch die Veröffentlichung von Schriften berühmt, in denen er eine Verteidigung der wolffschen Philosophie gegen die Anklagen der Pietisten vorlegte und die Übereinstimmung von Wolffs Philosophie mit den Hauptthesen der Theologie bewies: Philosophiae Leibnitianae et Wolfianae usus in Theologia, per praecipua fidei capita. Frankfurt a. M., Leipzig 1728–37, und (die anonym veröffentlichten) Fictiones recentiores Samuel Gottholdi Langii [...] recensitae et, ut decet, confutatae a Philosopho der lumen rationis. Frankfurt a. M. 1735. Die Philosophia fundamentalis. Tübingen 1744, und die Meditationes philosophicae. Tübingen 1750 wurden in Wolffs Gesammelten Werken nachgedruckt, Hildesheim 1997 und 1996. Joachim Georg Darjes: Philosophische Nebenstunden. 4 Bde. Jena 1749–1752, Bd. 2.2; Bd. 4.1. Georg Friedrich Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne. Halle 1743. Einige Ausgaben tragen das Datum 1742, aber das erste Verzeichnis von Meiers Veröffentlichungen, das von seinem Freund Samuel Gotthold Lange nach Meiers Tod verfasst wurde, datiert den Beweiß im Jahr 1743 (Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778, S. 115f.).
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Wie schon bei anderer Gelegenheit ausgeführt,24 war es keine Kleinigkeit, dass Meier beschloss, sein Debüt auf der philosophischen Bühne mit einer Schrift zu geben, die in verschiedener Hinsicht ›kämpferisch‹ war, und mit Entschiedenheit in einer heftigen und nicht auf die akademischen Kreise beschränkten Debatte Position zu beziehen. Meier selbst wies darauf hin, dass diese kurze Schrift, die sich in den Bahnen der rationalen Psychologie der wolffschen Metaphysik bewegte, de facto eine wichtige polemische Rolle als »Widerlegung der Materialisten« spielen können sollte,25 denn aufgrund eines metaphysischen Irrtums stellten diese die Grundlagen der Moral und Religion in Frage. Die Leugnung der einfachen Beschaffenheit der Seele, auf der ihre Thesen beruhten, rief eine Reihe verheerender Kettenwirkungen hervor: Indem die Materialisten die Seele als zusammengesetzte und folglich verwesliche Substanz auffassten, bestritten sie deren Unsterblichkeit; damit zerstörten sie die Lehre der ewigen Strafe und Belohnung und so auch die Grundlage der Sittlichkeit. Die Materialisten, die »öfters als Leute angesehen [werden], welche der Religion die äußerste Gefahr drohen«,26 mussten auf dem Boden der metaphysischen Psychologie widerlegt werden. Obgleich Meier sich darüber im Klaren war, dass nicht alle Materialisten ihre Thesen auf dieselben Voraussetzungen stützten,27 hat er die Idee, die Grundlage des Materialismus an der
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Vgl. Paola Rumore: Meier, Kant e il materialismo psicologico. In: Luigi Cataldi Madonna u. Paola Rumore (Hg.): Kant und die Aufklärung. Hildesheim 2011, S. 329–355; Paola Rumore: Materia cogitans. L’Aufklärung di fronte al materialismo. Hildesheim 2013, S. 134–145. Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne (s. Anm. 23), Vorrede, S. 3* (nicht pag.). Ebd., Vorrede, S. 1*–2*. »Ich habe mich bisher in den Schriften der Gelehrten noch nicht so weitläuftig umsehen können, daß ich die Beweise der Materialisten insgesamt hätte beurtheilen, und ihre Einwürfe wider die einfachen Seele, beantworten können. Ich habe mich daher begnügen lassen, die Meinung der Materialisten nur überhaupt, nach dem allgemeinen Begriff davon, zu beurtheilen« (Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne [s. Anm. 23], Vorrede, S. 3*). In seiner späteren Cosmologie führt Meier eine sehr treffende Unterscheidung zwischen den Arten von Materialismus ein: »Ein allgemeiner Materialist hält alle Substanzen, die unendliche Substanz und die endlichen Substanzen, für zusammengesetzte Dinge, und er hält es für ungereimt, eine Substanz anzunehmen, die ein einfaches Ding oder eine Monade sey. Man kan den Materialismus in den theologischen, psychologischen, und cosmologischen eintheilen. Der erste behauptet, daß Gott oder die unendliche Substanz ein zusammengesetztes Ding sey, und diese Meinung werde ich in der natürlichen Gottesgelahrtheit beurtheilen. Der andere nimmt an, daß die endliche Geister, und insonderheit die Seelen der Menschen, und anderer Thiere, zusammengesetzte Dinge sind, und davon werde ich in der Psychologie reden. Der dritte gehört hieher, und da versteht man, durch einen cosmologischen Materialisten, denjenigen, welcher behauptet, daß gar keine Substanz der Welt einfach sey; sondern daß alle Substanzen der Welt, wahrhaftig zusammengesetzte Dinge sind. Wer ein allgemeiner Materialist ist, der ist allemal auch ein cosmologischer Materialist: denn wer gar keine einfache Substanzen annimmt, der kan auch keine solche Substanzen in der Welt annehmen. Allein ein cosmologischer Materialist ist, nicht allemal nothwendig, auch zugleich ein allgemeiner. Es kan zwar jemand sagen, daß alle endliche Substanzen in der Welt zusammengesetzte Dinge sind; allein er kan zugleich annehmen, daß die einfache Beschaffenheit ein Vorrecht der Gottheit, und daß also die unendliche Substanz ein einfaches Ding sey« (Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Zweyter Theil. Die Cosmologie. Halle 21765 (1757; ND der Ausgabe 1765, Hildesheim 2007), § 361. Im erwähnten Passus vom Beweiß: daß keine Materie dencken könne scheint Meier auf den psychologischen Materialismus hinzuweisen, und in einer später Schrift kehrt er noch einmal, aber in präziserer Weise auf das Thema zurück: »Es gibt Materialisten, welche die Seele von dem Körper unterscheiden, und für einen cörperlichen Atomus halten. Ein Atomus ist, nach der Lehre der Atomisten, ganz untheilbar; folglich kann
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These festzumachen, welche die Einfachheit der Seele abstritt, wahrscheinlich aus der deutschen Übersetzung der so genannten epistula gallica über die denkende Materie bezogen. Veröffentlicht wurde diese von dem Theologen Johann Gustav Reinbeck, Hofprediger und Ratgeber Friedrich Wilhelms I., im Anhang zu seiner Verteidigung der Unsterblichkeit nach der deduktiven Methode der wolffschen Philosophie.28 Meiers Widerlegung der Hypothese der denkenden Materie ist nicht gerade das Einfachste, das man hat erwarten können. Sie setzt bei der scholastischen Unterscheidung zwischen Substanzen und Akzidentien an, an die eine nicht immer deutliche Unterscheidung zwischen den inneren und äußeren Bestimmungen der Substanzen anschließt. Die Ersteren sind hier Veränderungen, die ihre Grundlage in der Substanz selbst haben, während Letztere Verhältnisse sind, welche die Substanz zu Anderem unterhält. Auf diesem Weg stellt Meier fest, dass die Gedanken, da sie keine äußeren, sondern innere Bestimmungen der Substanzen seien, nur als Produkte einer Kraft (das heißt der Substanz) konzipiert werden könnten, die die Grundlage jener Veränderungen (inneren Bestimmungen) in sich habe, und nicht als Produkte der Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Zusammengesetzten (äußere Bestimmungen bzw. Verhältnisse). So ist es zur Behauptung der einfachen Beschaffenheit der Seele nur ein kleiner Schritt. Wenn die Gedanken innere Bestimmungen sein müssen, muss die Substanz, in der sie sich verwirklichen, einfach sein und für sich bestehen. Sie kann kein zusammengesetztes Ding sein, (das als solches nicht für sich besteht, sondern kraft der Zusammensetzung seiner Teile), denn alle Bestimmungen sind darin äußere und können letztlich auf die Bewegung zurückgeführt werden. Die Unmöglichkeit, das Denken der Bewegung zuzuordnen, die bei Wolff den Ausgangspunkt seines Beweises der Einfachheit der Seele bildete, wird hier also zur Schlussfolgerung einer Überlegung zur Natur der Substanzen und ihrer Bestimmungen.29 Wenn das eigentliche Ziel, das Meier mit dieser Schrift verfolgte, der endgültige, das heißt durch ein deduktives Argument gewonnene Beweis der einfachen Beschaffenheit der Seele war, dann konnte das Thema Unsterblichkeit nicht ausgespart werden. Meier scheint diesbezüglich dem alten Argument nicht abgeneigt zu sein, wonach die Einfachheit an sich, da sie die Zerlegung in Teile ausschließt, eine Gewähr der Unverweslichkeit und somit der Un-
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eine solche materielle Seele im Tode nicht zertrennt werden.« (Georg Friedrich Meier: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. Halle 1746 [zweite Auflage: 1749; dritte Auflage: 1762], S. 190). Johann Gustav Reinbeck: Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit (s. Anm. 1). Die Schrift wurde in Kürze ins Französische übersetzt: Refléxions philosophiques sur l’immortalité de l’ame raisonnable. Amsterdam, Leipzig 1744. Der »französische Brief« ist eine apokryphe Version von Voltaires XIII. Philosophischem Brief, wo die von Locke erkenntnistheoretisch gemeinte Hypothese der denkenden Materie in einer starken ontologischen Behauptung über die Materialität der Seele umgewandelt wird. Meier bespricht Reinbecks Prüfung der Unsterblichkeit und seine Widerlegung der französischen Schrift in seinen Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 6. Vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 6), §§ 738–741; ders.: Psychologia rationalis (s. Anm. 6), § 44; Meier folgt einem anderen Weg: »Ich habe dabey nicht angenommen, daß keine Veränderung, ausser der Bewegung, in einem zusammengesetzten Dinge möglich, auch nicht daß kein Gedancke eine Bewegung sey, noch daher entstehen könne, als wider welche Sätze man vieles zu erinnern gewohnt ist. Weil ich aber sahe, daß viele Materialisten die Gedancken für Bewegungen auszugeben bemüht sind, so habe ich, nachdem mein erster Beweiß zu Ende gebracht war, auch untersucht, ob ein Gedancke eine Bewegung seyn könne.« Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne (s. Anm. 23), Vorrede, S. 2*– 3*.
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sterblichkeit darstellt. Doch entsprechend dem polemischen Ziel der Kritik am Materialismus – die sich demnach als mehr erweist denn als zweitrangiges Ziel oder Nebeneffekt der rein metaphysischen Abhandlung über die Natur der Substanz – macht Meier gerade in der Unsterblichkeit einen der Gründe aus, die dazu bewegen könnten, der Partei derjenigen beizutreten, die die Einfachheit der Seele bestreiten. Darin besteht die Originalität der kurzen Schrift. »Ein Materialist«, schreibt Meier, »kann verschiedene Gründe haben, seine Meinung anzunehmen«: Er kann denken, dass die einfachen Dinge unmöglich seien, weil es unserem Verstand, der sich nicht von der Sinnlichkeit loszumachen vermag, nicht gelingt, sich etwas nicht unter die Sinne Fallendes vorzustellen. Oder er kann denken, dass das Einfache zwar möglich, aber nicht wirklich sei, weil es tatsächlich ohne Belang ist für die Erklärung dessen, was in den Körpern geschieht. Oder er kann ganz andere Gründe haben, die weder a priori und logischerkenntnistheoretischer Art sind, wie die ersten, noch a posteriori und mit der Erklärung der Phänomene zusammenhängend, wie die zweiten. Ein guter Grund, um die Einfachheit der Seele zu bestreiten, könnte nämlich der sein, dass der Materialist gerne zügellos leben wolte, weil er die größte Knechtschaft eines vernünftigen Wesens für die erhabenste Freyheit hält. Er wünscht vielleicht, daß er im Tode ganz zerstört werden möchte, damit er nach demselben weder Strafen noch Belohnungen zu erwarten habe, und ihn also die zweifelhafte Erwartung der Ewigkeit nicht beunruhige.30
Diese Materialisten, die von denselben »gottlose[n] Absichten« getrieben sind, die schon dem anonymen Verfasser der eingangs zitierten Vorrede zu Reinbecks Philosophischen Gedanken wahrscheinlich erschienen, fügen ihrem metaphysischen Irrtum – der Leugnung der einfachen Beschaffenheit der Seele – einen logischen Fehler hinzu, insofern sie aus der Voraussetzung eine Reihe unangemessener Folgerungen ableiten. Wenn die Seele nicht einfach ist, ist sie zusammengesetzt und materiell; aber wenn sie zusammengesetzt und materiell ist, so ist sie auch verweslich; und wenn sie verweslich ist, ist sie sterblich und überlebt die Zerstörung des Körpers nicht. Doch diese Deduktion, argumentiert Meier, ist falsch, denn selbst wenn man zugestünde, dass die Seele eine zusammengesetzte und materielle Beschaffenheit habe, würde dies nicht notwendig ihren Tod bedeuten: »Sie kan von einem solchen zarten und feinen Zeuge zubereitet seyn, daß die Kräfte der Natur unvermögend sind, diese dünne Gewebe zu zerreissen«.31 Die Vereinbarkeit zwischen einer materiellen Auffassung der Seele und ihrer Unsterblichkeit, die mit den Schemata der dualistischen Metaphysik zu brechen schien, ist in Meiers Augen keine Neuheit, die dieses Namens würdig wäre. Er führt Boethius, die Kirchenväter und Tertullian an, die aus verschiedenen Gründen einst die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod genährt und die Seele als eine materielle Natur, als ein Feuer, eine dünne Luft oder eine Art subtile Materie aufgefasst haben. Die zugleich materielle und unsterbliche Seele bewahre alle Eigenschaften, die ihr Fortbestehen nach dem Tod des Körpers begleiten, also das Bewusstsein ihrer selbst und die Erinnerung an vergangene Zustände, sie bestehe also als Person fort.32 Die von gottlosen 30 31 32
Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne (s. Anm. 23), S. 56–57. Ebd., S. 57: »In der Natur-Lehre kan bewiesen werde, daß es wirklich eine solche zarte Materie gebe, die durch alle andere Körper fließt, die also durch keinen anderen Körper kann zertrennt werden.« Nach Wolff hängt die Unsterblichkeit der Seele mit dem Begriff der Personalität eng zusammen: »das unverweisliche ist unsterblich, wenn es den Zustand einer Person beständig behält«; die Seelen der Tiere sind zwar unverweslich, aber nicht unsterblich; Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 6), § 926.
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Absichten bewegten Materialisten würden also ihr Ziel verfehlen und nach so viel Anstrengung zu einer ähnlichen Position gelangen wie ihre Gegner. Denn nicht allein ist die Materialität (Nicht-Einfachheit) der Seele keine Gewähr für ihre Sterblichkeit, sondern auch die Einfachheit garantiert ihre Unsterblichkeit nicht. Der Grund dafür liegt in dem schon von Locke angeführten Argument der göttlichen Allmacht, für die nichts unerreichbar ist: »Wer wollte leugnen, dass, wenn es Gott gefallen sollte, die Seele zu tödten, ihn nichts, ausser ihm, daran hindern könte?«33 Die Folgen, die sich aus Meiers Überlegungen ergeben, widerlegen den Materialismus in dreifacher Hinsicht: Erstens zeigen sie, dass die Seele einfach ist und machen somit die These ungültig, die sie als materiell darstellt; zweitens bestreiten sie, dass die Einfachheit der Substanz notwendigerweise ihre Unsterblichkeit implizieren würde, indem sie die Möglichkeit, über das Schicksal der Substanzen zu entscheiden, allein dem Willen und der Allmacht Gottes zuschreiben;34 drittens behaupten sie die volle Vereinbarkeit zwischen dem Materialismus und den Grundsätzen der Sittlichkeit und Religion, so dass er nicht mehr als schädliche Meinung wahrgenommen werden muss, die es zu widerlegen gilt. Die Anerkennung des Materialismus als ein ausschließlich theoretischer Fehler und die Anführung einer bedeutenden Zahl ›tugendhafter Materialisten‹ – von den Stoikern über Boethius bis zu den Kirchenvätern – mit der ganzen Kraft des historischen Zeugnisses bedeutete fraglos einen Bruch im deutschen Panorama der Zeit.35 Meier, der sich durchaus nicht den Lehrsätzen einer Schule fügte, war – wie Samuel Gotthold Lange, ein brüderlicher Freund und Biograf des Philosophen hervorhob – »seinen Erkänntnissen treu, und hatte Muth«.36 Conscia mens recti famae mendacia risit – doch die Entscheidung, den ausschließlich theoretischen Irrtum des Materialismus aufzuzeigen und ihn vom Vorwurf freizusprechen, er stelle eine Bedrohung für die sittliche Ordnung und die Wahrheit der Religion dar, ermöglichte Meier zwar eine Reflexion, die ihn im Vergleich zur deutschen Philosophie seiner Zeit zu sehr innovativen Einsichten führte, doch erwies sie sich nicht als glückliche Entscheidung hinsichtlich der Polemiken, die daraus folgten. Der Grundgedanke, dass die Sterblichkeit und Unsterblichkeit keine Eigenschaften waren, die sich analytisch aus der Natur der Substanzen ableiten ließen, erschloss Meier eine ganz neue Perspektive auf eine Frage, die bereits gelöst zu sein schien. Wenige Jahre später sollte er auf sie zurückkommen und diese gewagte und in der Schrift über den Materialismus lediglich geahnte These in einem ausgefeilten Gedankengang ausarbeiten. Im Übrigen ist es verständlich, dass der
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Vgl. auch Wolff: Psychologia rationalis (s. Anm. 6), § 747: »Anima immortalis est. Etenim post mortem corporis superstes est semperque manet et in statu perceptionum distinctarum perserverans memoriam sui conservat, seu statuum praeteritorum memor cos ad se pertinere agnoscit. Est igitur immortalis.« Im § 741 definiert Wolff den Begriff der Persönlichkeit folgendermaßen: »Persona dicitur ens, quod memoriam sui conservat, hoc est meminit, se esse idem illud ens, quod ante in hoc vel isto fuit statu. Dicitur etiam Individuum morale.« Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne (s. Anm. 23), § 41. Hier bezieht sich Meier auf das Thema der Allmacht Gottes in unberechtigter Weise, da er kurz zuvor die Gültigkeit dieses Arguments bestritten hatte, indem auch die Handlungen Gottes den Gesetzten der Möglichkeit gemäß sein sollen (Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne [s. Anm. 23], § 34). Ebd., § 41: »Es kann seyn, daß alle Materialisten oder doch die meisten verdamliche Absichten haben. Ich behaupte nur, daß die ganze Moral mit diesem Irrthum bestehen kan, und daß man ihn als einen blossen theoretischen Irrthum betrachten kan, der nur durch gezwungene Folgen den Grund der Sittlichkeit umstößt.« Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (s. Anm. 23), S. 129.
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junge Meier, dem es um eine metaphysische Widerlegung des Materialismus ging, der Analyse seines einzigen nicht-metaphysischen ›Grundes‹ nicht gleich viel Raum gegeben hat wie den anderen Gründen. Einen der Eckpfeiler des metaphysischen Rationalismus aus den Angeln zu heben und die Idee, dass es Fragen geben könne, die das analytische Vernunftverfahren in Schwierigkeiten bringen konnten, ernstlich in Betracht zu ziehen, ebnete nämlich den Weg für eine viel weiter reichende Frage als die einzelnen philosophischen Dispute. Es machte eine Neubetrachtung der Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft und somit der Voraussetzungen jeder Untersuchung erforderlich. Doch dies war durchaus nicht der meiersche Horizont, wenn man bedenkt, dass er im selben Jahr, in dem seine Widerlegung des Materialismus erschien, auch eine Schrift mit einem gegensätzlichen Titel, den Beweis der vorherbestimmten Übereinstimmung, in Druck gab. Darin wollte er gemäß der deduktiven Methode der wolffschen Philosophie jene Form des Einklangs zwischen den Substanzen des Universums (und insbesondere zwischen Leib und Seele) zur Gewissheit erheben, deren Gültigkeit selbst Wolff nur in Form der wahrscheinlichsten aller Hypothesen zu beweisen vermocht hatte.37 Die Haltung eines konstruktiven Misstrauens, die sein künftiges Denken prägen wird, begann sich schon in dieser frühen Schrift abzuzeichnen.38 Die unmittelbar auf die Veröffentlichung dieser ersten beiden Schriften folgenden Jahre waren für Meier offensichtlich eine Zeit des erneuten Nachdenkens über die Grundlagen jener rationalistischen Philosophie, in deren Grenzen er sich herangebildet hatte und in der seine ersten akademischen Reflexionen entstanden waren. Die besagte Auseinandersetzung mit der Frage des Materialismus in der Schrift von 1743 und die neuartige, wenngleich noch verworrene Betrachtung der Unsterblichkeits-Frage hatten ihm augenscheinlich die Möglichkeit enthüllt, die Probleme, mit denen die Philosophie zu tun hatte, und die Ziele, die sie sich vernünftigerweise stecken konnte, aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Hypothese, dass gerade die kurze Reflexion über die Unsterblichkeit, die Meier in der Schrift zur Widerlegung des Materialismus in Angriff nahm, ihn aus seinem ›dogmatischen Schlummer geweckt‹ habe – um es mit den Worten eines Autors zu sagen, der ihn sehr schätzen wird – scheint dadurch bestätigt zu werden, dass er wenige Jahre später auf eben dieses Thema zurückkam. Im Jahr 1746 veröffentlichte er seine Überlegungen über die Unsterblichkeit der Seele in einer erfolgreichen Schrift, Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode, von der Meier später zwei weitere Auflagen (1749 und 1762) vorlegen wird. Während die Schrift über die Unhaltbarkeit der lockeschen Hypothese einer materia cogitans sich in gewisser Weise noch in Wolffs Bahnen bewegte, stellt Meier sich in dieser neuen Schrift deutlich gegen die wolffsche Schule, indem er die Zuverlässigkeit der mathematischen Demonstrationen bezüglich der Unsterblichkeit der Seele zurückweist. Meiers klare Distanznahme ermöglicht ein genaueres Verständnis seiner Stellung innerhalb der deutschen Aufklärung. Aufgrund dieser Schrift kommt man nämlich auf den Gedanken, dass Meier eher ein moderater Kritiker der wolffschen Schule war als einer der Hauptvertreter ihres avantgardistischen Flügels. Ziel seiner Polemik ist hier die »De37 38
Wolff: Anmerkungen zur deutschen Metaphysik (s. Anm. 13), § 289; mit besonderer Berücksichtigung des Leib-Seele-Problems vgl. ders.: Psychologia rationalis (s. Anm. 6), Praefatio, S. 3*–6* (nicht pag.). Vgl. Paola Rumore: Un wolffiano diffidente: Georg Friedrich Meier e la sua dottrina dei pregiudizi. In: Meier: Contributi alla dottrina dei pregiudizi del genere umano / Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Hg. von Heinrich P. Delfosse, Norbert Hinske u. Paola Rumore. Pisa 2005, S. V–XXXVI.
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monstriersucht der neueren Weltweisen«, die beanspruchen, sogar die Unsterblichkeit der Seele durch Schlüsse und Deduktionen bis zu »einer mathematischen Gewißheit« aus der Vernunft zu beweisen, während es sich doch um eine Frage handelt, bei deren Beantwortung man bestenfalls zu einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit gelangen kann.39 Deswegen versteht Meier seine eigene Leistung als »eine Critik über die Beweise der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft«.40 Diese Kritik geht von der Betrachtung aus, dass der gemeine Begriff von Unsterblichkeit ganz und gar verworren ist, d. h. dass man sich seine Merkmale nicht in aller Klarheit vorstellt. Meier greift in diesem Zusammenhang die Einsicht der Materialismusschrift auf, wonach man nur aufgrund eines alten philosophischen Fehlers, der von Plato bis Descartes begangen wurde, die Unsterblichkeit und die Unverweslichkeit für ein und dasselbe nimmt. Obgleich die neueren und feineren Weltweisen (zu denen Wolff und Thümmig zu zählen sind) dazu noch die Begriffe der Dauerhaftigkeit, des künftigen bewussten Lebens und des Gedächtnisses bzw. der Persönlichkeit hinzufügen, bleibt der Fehlschluss immer derselbe: von der Unverweslichkeit darf man nicht auf die Unsterblichkeit schließen. Deswegen zeigen solche Beweise der Unsterblichkeit der Seele keine mathematisch-demonstrativische Gewissheit. Als Vorbilder eines solchen Verfahrens zieht Meier zwei zeitgenössische Schriften in Betracht, die wenig zuvor innerhalb der wolffschen Schule erschienen waren. Es handelt sich um die schon erwähnten Philosophischen Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit von Johann Gustav Reinbeck41 und um einen Überzeugenden Beweiß aus der Vernunft, den Israel Gottlieb Canz – der Hauptvertreter des Wolffianismus an der Universität Tübingen – im Jahre 1741 veröffentlicht hatte.42 Beide Schriften stützen ihre Beweise der Unsterblichkeit der menschlichen Seele und ihrer Fortdauer nach dem Tod der Körper auf den Grundgedanken, dass die Seele eine einfache Beschaffenheit habe und deswegen nicht unverweslich sein könne. Selbst Canz, dem Meier das Verdienst zuerkennt, eine feinsinnigere Argumentation vorzulegen als Reinbeck, schließt von der Einfachheit der Seele auf ihre Unverweslichkeit.43 39 40 41
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Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 2. Ebd. (Hvhb. von Paola Rumore). Meier erklärt, er beziehe sich nicht auf die Schrift von Thümmig (Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta. [s. Anm. 11]), denn sie enthalte keine Neuigkeit in Bezug auf die Frage der Unsterblichkeit; sie gebe im Wesentlichen die Thesen der Wolffschen rationalen Psychologie wieder und stütze auf einen zu breiteren Begriff der Unsterblichkeit, der ihre vier Merkmale in sich fasst (d. h. die Unverweslichkeit, die ewige Dauer, das Leben nach dem Tod und die Erinnerung des vorigen Zustandes): Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 17. Meier beabsichtigt einen engeren Begriff der Unsterblichkeit zu definieren, der solche unwesentlichen Merkmale ausschließt. Aus diesem Grund wendet er sich den Schriften von Reinbeck und Canz zu. Bezüglich der Einwände gegen Reinbecks Widerlegung der materialistischen Auffassungen der Seele vgl. Rumore: Materia cogitans (s. Anm. 24), S. 121–128. Israel Gottlieb Canz: Überzeugender Beweiß aus der Vernunft. Antreffend die Unsterblichkeit sowohl der Menschlichen Seelen insgemein, als besonders der Kinder-Seelen. Samt einem Anhang, wie es der Seele nach dem Tod zu Muth seyn werde? Tübingen 1741 (31746). Canz war nicht nur ein Feind des Materialismus, sondern auch des Idealismus, d. h. der zweiten ›philosophischen Sekte‹, die Wolff in seinen Schriften als fehlerhaft erkannt hatte. Vgl. Canz: Idealismus seu crassissimus eorum error, qui corpora et sua, et mundana negant, refutatus. Tübingen 1739. Bezüglich Canzens Widerlegung des Materialismus und seines Beweises der Unsterblichkeit der Seele vgl. Rumore: Materia cogitans (s. Anm. 24), S. 130–136. Vgl. Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), S. 210, ad Canz § 120. Unter den Verdiensten Canzens nennt Meier den Versuch, die Frage der Unsterblichkeit der Seele im Zusam-
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Nach Meiers Ansicht sollte die Untersuchung über die Unsterblichkeit der Seele, statt in ihrer einfachen und unverweslichen Natur, am besten im Lebens- und Todesbegriff ihren Anfangspunkt haben. Ein Ding lebt, liest man bei Meier, »so lange seine besondere Natur fortdauert«, d. h. wenn das Ding immer noch das behält, was es zu diesem bestimmten Ding macht.44 In Auseinandersetzung mit den materialistischen und monistischen Auffassungen unterscheidet Meier drei Lebensgebiete im Menschen: das Seelenleben, das Leben des Körpers und das Leben des Menschen als Ganzem, das in der Übereinstimmung von Leib und Seele besteht.45 Da der Tod des Menschen erfordert, dass die genannte Übereinstimmung unterbrochen wird, müssen nicht unbedingt Leib und Seele zugleich sterben, wenn der Mensch stirbt. Vom Tod des Körpers kann man nicht auf den Tod der Seele schließen, obwohl letztere durch die Beendigung ihrer Harmonie mit dem Körper gewissermaßen einen wichtigen Teil ihrer lebendigen Tätigkeit verliert.46 Ihrerseits führt die menschliche Seele als Bewohnerin des Körpers ein Leben auf zwei Ebenen, insofern sie sowohl eines sinnlichen, d. h. tierischen, als auch eines geistigen Lebens fähig ist.47 Solange eine von diesen beiden Stufen des Seelenlebens andauert, lebt die Seele fort, obwohl die höhere Ebene ohne die niedrige nicht bestehen kann. Diese vorläufigen Betrachtungen führen Meier zu einer genaueren Erörterung des Begriffs der Unsterblichkeit, was auch das Hauptverdienst seiner Schrift darstellt. Die Begriffe ›Sterblichkeit‹ und ›Unsterblichkeit‹ bezeichnen jeweils eine ›Möglichkeit‹, indem wir sterblich nennen, was sterben kann, unsterblich dagegen, was nicht sterben kann. »Die Sterblichkeit ist die Möglichkeit des Todes, und die Unmöglichkeit desselben die Unsterblichkeit«.48 Wer aber die Unsterblichkeit der Seele behauptet, meint damit, dass die Seele nach dem Tod des Menschen wirklich fortleben werde; er hält dann eine bloße Möglichkeit (die Möglichkeit nicht zu sterben) für eine Wirklichkeit, was nach den Regeln der Ontologie nicht erlaubt ist. Ähnlich stellt der Vertreter der Sterblichkeit nicht automatisch fest, dass die Seele auch wirklich sterben werde oder müsse. Es handelt sich hier immer noch um eine bloße Möglichkeit. Aber wie bei jeder Möglichkeit kann man auch in diesem Fall zwischen ihrer ›absoluten‹ und ihrer ›hypothetischen‹ Bedeutung unterscheiden: Man hat eine absolute Möglichkeit, insofern das Ding die Gründe dieser bestimmten Möglichkeit in sich selbst hat; bei der hypothetischen Möglichkeit hingegen sind die Gründe in den äußeren Verhältnissen des Dinges mit anderen Dingen zu suchen.49 Folglich »ist
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menhang der allgemeinen Übereinstimmung der Substanzen der Welt betrachtet zu haben. In dieser Hinsicht würde die Vernichtung eines einzigen Dinges (zum Beispiel einer Seele) bedeutsame Wirkungen auf die Verhältnisse der übrigen Substanzen ausüben. Meiers Widerlegung dieses Arguments ist zweifach: Einerseits bestreitet er Canzens Gleichstellung von Schlaf der Seele und ihrer Vernichtung (wobei der erste nur als eine Änderung des Grads der Klarheit der Vorstellungen darstellt; ebd., S. 203–205, ad Canz §§ 83–88); andererseits betont Meier, dass, wenn eine Seele vernichtet würde dann zwar die Folgen in der Welt fehlten, die sie nach sie gezogen hätte, wenn sie wirklich geblieben wäre; aber diese Folgen gehören der Welt nicht an, und deswegen stellt ihre Abwesenheit keine Unvollkommenheit der besten aller Welten dar (ebd., S. 213–215, ad Canz § 126). Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 28), § 18. Ebd., § 20. Ebd. Ebd., § 21. Ebd., § 22. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 6), § 574; ders.: Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 13), § 6. Vgl. den überzeugenden Kommentar von Hans-Werner Arndt: »Dem im absoluten Sinne Mögli-
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ein Ding an sich sterblich [nach der absoluten Möglichkeit], wenn der Tod desselben an sich betrachtet möglich ist; ist derselbe zu gleicher Zeit auch möglich, wenn man das Ding, im Zusammenhang mit andern ausser ihm, betrachtet, so ist es hypothetisch sterblich«.50 Während der menschliche Körper in beiden Hinsichten sterblich ist (weil er sowohl für sich selbst sterblich ist als auch im Zusammenhang mit anderen Dingen, die ihn seines Lebens berauben könnten), ist die menschliche Seele nur hypothetisch sterblich und deswegen auch nur hypothetisch unsterblich. Wenn sie nämlich absolut unsterblich wäre, würde es an sich betrachtet einen Widerspruch enthalten, dass sie sterben soll bzw. kann – wie es sich im Fall Gottes verhält. Bei der menschlichen Seele jedoch ist dies offensichtlich nicht der Fall, denn ihre Unverweslichkeit bildet – wie Meier mehrfach betont – keinen zureichenden Grund und keine zureichende Garantie für ihre Unsterblichkeit. Sie ist dann hypothetisch unsterblich, insoweit es in einem gewissen Zusammenhang unmöglich ist, dass sie stirbt. Offensichtlich besteht Meiers Bruch mit der Tradition also darin, dass er die Unsterblichkeit nicht aus der einfachen Beschaffenheit der Seele ableitet, sondern sie aufgrund der endlichen und zufälligen Natur der Seele schlechterdings zurückweist. »Der Tod der Seele«, schreibt Meier, »ist an sich möglich und die Seele selbst ist, an und für sich betrachtet, sterblich«.51 Aufgrund eines detaillierten Beweises schließt Meier weder aus, dass die Seele sich mittels ihrer eigenen Kräfte das Leben entziehen, noch dass dies anderen endlichen Wesen gelingen kann. Der erwähnte »Zusammenhang«, in dem es unmöglich ist, dass sie stirbt, ist letztendlich mit dem Willen Gottes verbunden: Erst durch den Ratschluss Gottes kann das dauerhafte Leben der Seele befestigt werden, weil Gott der Einzige ist, der die vielfältigen Möglichkeiten der Dinge in Wirklichkeiten umzuwandeln weiß. Gott kann sich für das ewige Leben der Seele entscheiden, aber sein Ratschluss bleibt den menschlichen Vernunftanalysen schlechterdings unzugänglich. Wollte man den Ratschluss Gottes untersuchen, so müsste man bestimmen, ob das ewige Leben der Seele mit dem Entwurf der besten aller möglichen Welten übereinstimmt. Aber das kann die menschliche Vernunft weder a priori (d. h. aus den Merkmalen des Gottesbegriffs: aus seiner Güte, Gerechtigkeit und Weisheit, die aber ein endlicher Verstand nicht einsehen kann, § 87), noch a posteriori durchführen. Im Übrigen wäre in diesem letzten Fall eine derartige komplizierte Untersuchung unglücklicherweise umsonst. In Meiers Worten in einem späteren Resümee:
50 51
chen entsprechen die für alle möglichen Welten geltenden notwendigen Wahrheiten […]. Dagegen ist bei den ›possibilia‹ möglicher Welten deren Notwendigkeit eine lediglich auf den Weltzusammenhang bezogene, hypothetische und von dem besonderen Kausalgeschehen der jeweiligen Welt abhängige, und ihr Gegenteil in einer anderen Welt möglich. Die ihnen entsprechenden Wahrheiten sind als von einer jeweiligen Welt abhängige zufällig« (Hans-Werner Arndt: Zu Christian Wolffs Theorie Möglicher Welten. In: Sonia Carboncini u. Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hildesheim 1992, S. 175–191, hier S. 183). Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 22. Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 28. Reinbeck hatte eine ähnliche Meinung vertreten: »Unsterblich nennen wir [...] was nicht allein sein Leben niehmals verliehrt, sondern, was auch eines solchen Wesens und einer solchen Natur ist, daß es sein Leben für sich selbst niemahls verliehren kann« (Reinbeck: Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit [s. Anm. 1], § 19). Damit meinte er nicht, dass die Seele ihrem Wesen nach unsterblich sei (absolute Unmöglichkeit), sondern dass ihr Tod nicht durch ihre Natur, sondern durch eine äußerliche, nicht endliche Ursache hervorgebracht werden müsse.
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Paola Rumore Es ist möglich, daß die menschliche Seele sterbe, weil sie zufällig und endlich ist. Die Allmacht Gottes kann sie vernichten. Es fragt sich also: Ob Gott auch beschlossen habe dieses zu thun, oder nicht? Die Vernunft kann dieses auf keine andre Art entscheiden, als daß sie übersieht, ob zu dem ganzen Zusammenhange dieser Welt das ewige Leben der Seele nothwendig erfordert werde, oder ob das Gegentheil? Nun kan aber kein endlicher Geist den ganzen Zusammenhang dieser Welt übersehen: folglich kan aus der Vernunft das ewige Leben der Seele nicht mathematisch gewiß demonstriert werden.52
Nach Meiers Ansicht gibt die Vernunft uns Menschen durchaus Grund zu der Annahme, dass Gott den Tod der Seele beschlossen habe; dagegen bietet die Vernunft mehrere höchst wahrscheinliche Gründe dafür, dass er sich für ein unaufhörliches Leben der Seele entschieden habe. Die genannten Gründe führen aber nur zu einer Wahrscheinlichkeit, die sehr weit von der mathematischen Gewissheit der demonstrativischen Vernunftbeweise entfernt ist. Die Unverweslichkeit der Seele gehört zu dem Wesen der Seele, und kann ihr von Gott weder gegeben noch genommen werden. Sie enthält aber keinen bejahenden Grund der ewigen Dauer der Seele, sondern nur einen verneinenden, daß sie nämlich nicht so, wie die Körper, ihre Wirklichkeit verlieren kann. Allein, da die Seele durch die Allmacht Gottes vernichtet werden kann, und sie selbst ein höchst zufälliges Ding ist; so ist sie, aller ihrer Unverweslichkeit ohnerachtet, ein höchst baufälliges und hinfälliges Ding, welches seine Erhaltung bloß von der Gnade Gottes erwarten muß.53
Meiers Betrachtung zur zufälligen Natur der Seele, die sterblich ist, weil sie nicht notwendig existiert, verbindet sich auf interessante Weise mit der wolffschen Lehre über die Notwendigkeit und Ewigkeit der Wesen. Gegen die Kritiker der Unsterblichkeit der Seele hatte Canz den Einwand erhoben, dass die Vernichtung selbst einer einzigen Seele die harmonische Verbindung zwischen den Substanzen des Universums beeinträchtigen würde und daher eine metaphysisch unhaltbare Hypothese sei. In seiner Erwiderung auf diese Überlegungen von Canz ruft Meier eine zentrale Unterscheidung der wolffschen Ontologie – die zwischen dem Wesen und der Natur der Dinge – in Erinnerung. Das Erstgenannte ist notwendig und unveränderlich, weil es in die ontologische Sphäre der Möglichkeiten, d. h. der Vereinbarkeit der Attribute, gehört, während die Zweitgenannte, die Natur, welche die Wirklichkeitssphäre betrifft, zufällig und veränderlich ist.54 Auch im Fall der Seele verhält es sich so wie bei den anderen Dingen: Sie hat ein notwendiges und unveränderliches Wesen, aber eine veränderliche, zufällige Natur; und auch im Fall der Seele ist der Übergang von der Sphäre der Möglichkeit zu jener der Wirklichkeit von keiner logischen Notwendigkeit bestimmt, wonach die Möglichkeit des Wesens 52 53
54
Georg Friedrich Meier: Vertheidigung des Beweises, daß die menschliche Seele ewig lebe. Halle 1752, § 2, S. 8. Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), S. 215f. (in Bezug auf § 128 von Canzens Schrift); und Meier setzt fort: »Daher, als Gott die Seele erschaffen so hat er voraus gesehen, daß er ein baufälliges Ding erschaffe; und wenn er sie vernichten sollte, so geht er mit ihr so um, wie es ihre Natur mit sich bringet. Ich begreiffe also nicht, wie man die Vernichtung der Seele als eine Sache betrachten könne, die der Allwissenheit Gottes widerspreche, und wie alle die unanständigen Folgen müssten zugegeben werden, die der Herr Professor anführt. Freylich, wenn Gott würklich voraus gesehen, daß die Seele ewig fortdauren werde: so wäre ihre Vernichtung der untrüglichen Allwissenheit Gottes zuwider. Allein, die Bedingung ist, von dem Herrn Professor, nicht demonstriert worden, und kan auch, meines Erachtens, aus der Vernunft zum voraus nicht demonstriert werden.« Vgl. ebd., S. 192 (in Bezug auf § 59 von Canzens Schrift), wo Meier die Verworrenheit der Begriffe von Wesen und Natur der Seele betont: Es gibt nämlich »einen Unterschied, zwischen der Kraft, dem Bestreben zu dencken, und zwischen dem blossen Vermögen oder der Möglichkeit zu dencken [...]. Das letzte gehört zum Wesen der Seele, und ist bey ihr unveränderlich. Allein, die Kraft zu denken, samt der Natur der Seele, ist etwas zufälliges und veränderliches.«
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zwangsläufig eine Wirklichkeit wird, sondern von der Willkür und den Ratschlüssen Gottes, die der menschlichen Vernunft – im Unterschied zur logischen Notwendigkeit – verschlossen sind. Die Schlussfolgerung, dass wir durch die bloße Vernunft nicht zu einem festen Beweis der Unsterblichkeit der Seele gelangen können – auch wenn sie uns keinen einzigen Grund an die Hand gibt, aus welchem wir mit Wahrscheinlichkeit auf die Vernichtung und den Tod der Seele schließen könnten (§ 185) –, stellte für viele zeitgenössische Leser eine unbefriedigende Antwort auf diese Frage dar. So rief Meiers doch vernünftiger Beweis der nicht absoluten Unsterblichkeit der Seele viele Gegenstimmen hervor, die ihn zum Teil mit Vehemenz und gravierenden Vorwürfen anfochten. Meier hatte diese Möglichkeit vorausgesehen und seine Untersuchung daher mit einer prägnanten Verdeutlichung seines Standpunkts beschlossen: Wenn meine Leser so gütig seyn, und alle meine Gedancken in dieser gantzen Schrift mit einander vergleichen werden: so werden sie erkennen, daß ich keinen einzigen Grund vorgetragen habe, der die Unsterblichkeit der Seele selbst über den Hauffen werffen könnte. Ich habe also blos die Gewißheit derselben aus der Vernunft bestritten.55
Trotz dieser eindeutigen Erklärung wurde Meier von seinen Gegnern heftig kritisiert, und zwar sowohl in einer Reihe anonymer Besprechungen, die kurz nach dem Erscheinen der Schrift in den Züricher Freymutigen Nachrichten, in den Hamburger Freyen Urtheilen und Nachrichten und in den Göttingischen Zeitungen veröffentlicht wurden, als auch in einigen unmittelbar gegen ihn gerichteten Schriften. Neben den sachlichen, bestimmte Stellen seines Beweises betreffenden Einzeleinwänden ist es von besonderer Bedeutung, dass die allgemeinen Klagen explizit gegen seine ungewöhnliche Haltung gegenüber der Philosophie und dem Vernunftverfahren im Allgemeinen gerichtet waren, sowie gegen die gefährlichen Folgen, die eine solche Haltung mit sich bringen konnte. Die meisten Rezensenten waren sich darüber einig, dass Meiers lobenswerter Versuch, die Demut der Weltweisen zu befördern und deren paroxystische Demonstriersucht zu begrenzen, zu einer gravierenden Schwächung des Vertrauens der Menschen in ihre Vernunftfähigkeiten beitragen könnte, was »der Menschheit mehr raubet, als giebt«.56 Sie kritisieren, dass Meier alles in allem zu weitgehend an der Erkenntnisfähigkeit unserer beschränkten Vernunft gezweifelt habe; dass er die große – zwar nicht demonstrativische, aber doch moralische – Gewissheit der höchst wahrscheinlichen Vernunftschlüsse nicht gebührend gewürdigt und sogar, dass er die Philosophen in die Lage gebracht habe, nichts Gewisses über das Schicksal der Seele nach dem Tode sagen zu können.57 Meier – »der in der That ein gründlicher und gelehrter Mann ist«, gibt ein anderer anonymer Rezensent zu – hat aber »die in unseren Tagen erlaubte Freyheit zu denken zu weit getrieben« und in seinen Gedanken über den Zustand der Seele nach dem Tode »sich recht fleißig bemühet, die Grundsäulen der Rebellion unter der Larve eines Liebhabers der Wahrheit
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Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), S. 224. Freymütige Nachrichten, III, 1746, S. 206–208, hier S. 207. Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Historie überhaupt, C, 24.12.1745, S. 815–820, hier S. 819: »Er meint in seinem § 86: Ein Philosoph könne einem Sterbenden nichts weiter vorsagen, als folgendes: Du wirst entweder dein Daseyn behalten, oder nicht, und entweder ein Geist bleiben, oder nicht, und entweder glücklich werden, oder nicht. Um das zu erfahren, warte nur bis Du gestorben bist. So gleichgültig glauben wir nicht, daß der Philosoph reden wird.«
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wankend zu machen«.58 Meiers Haltung gegenüber der Philosophie würde es erlauben – so lesen wir bei einem anderen Rezensenten – »unter dem Vorwande, die Vernunft zu demüthigen, wichtige Lehrsätze der natürlichen und geoffenbahrten Religion durch einige Schwürigkeiten, oder wohl gar mit einer Möglichkeit des entgegensetzten und blossen vielleicht zu widerlegen«.59 Im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionen wurde Meier – einer der Hauptverteidiger des Zusammenwirkens von Philosophie und christlicher Religion in der Hochaufklärung60 – als ein gefährlicher Feind der Offenbarung und Befürworter der starken Geister dargestellt. Neben der Gefahr einer ungebührlichen Schwächung der Vernunft und ihrer Entgegensetzung zur Religion fanden die Rezensenten in den Gedanken über den Zustand der Seele nach dem Tode einen weiteren Grund, sich um die Grundlagen der Religion und der Moral Sorgen zu machen. In Meiers Worten lasse sich nämlich sogar eine gemäßigte Tendenz zur Verteidigung der gefürchteten Partei der Materialisten aufzeigen. Erstens eröffnete Meiers Lösung der Gleichwertigkeit von Einfachheit und Unverweslichkeit der Beschaffenheit der Seele die Möglichkeit, die »körperlichen Seelen« der Materialisten, insbesondere der Atomisten, als an sich unsterbliche Dinge zu fassen.61 Zweitens betrafen selbst die Auffassungen der Materialisten in Bezug auf die sterbliche Natur der Seele immer noch ihren möglichen Tod und nicht unbedingt dessen tatsächliche Verwirklichung.62 Nach Meiers Verständnis gab es demzufolge keinen guten Grund, den Materialismus für eine gefährliche Bedrohung der Grundlagen der Moral, der Religion und der Gesellschaft zu halten; selbst seine Schlüsse über die Seele seien unbegründet und aus bloßen Vorurteilen gezogen. Nach Meiers Meinung »darf [man] sie nur deswegen für gefährliche Leute halten, weil sie mit ihren groben und unverdauten Begriffen bey düstern Köpfen leicht Eingang finden können, denn dergleichen sind die allermehresten Menschen«.63 Das umstürzlerische Potenzial von Meiers Thesen rief eine Reihe starker Reaktionen hervor und gab zu einer heftigen Debatte Anlass, die bald die Aufmerksamkeit der deutschen Philosophie in Anspruch nahm. In seiner knappen Zusammenfassung der Kontroverse, die Meiers Gedanken auslösten, übersieht Samuel Gotthold Lange die vielleicht empörteste Reaktion gegen Meiers Anspruch, auf einen mathematisch sicheren Beweis der Unsterblichkeit der Seele zu verzichten. Im Jahr 1747 gab der von Wolff beeinflusste Theologe Johann Daniel Müller, der zu jener Zeit Prediger in Allendorf (Hessen) war und bereits eine Dissertatio in qua immortalitatas animae methodo mathematica demonstratur (1743) publiziert hatte, eine Schrift mit dem Titel Die ver58 59 60
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Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Historie überhaupt, LIII, 11.7.1747, S. 420–424, hier S. 421. Göttingische Zeitungen von gelehreten Sachen, LII, 1747, S. 422–424, hier S. 423. Günter Gawlick: Ein Hallischer Beitrag zum Streit der Fakultäten: Georg Friedrich Meiers »Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit zur Gottesgelahrtheit« (1759). In: Robert Theis u. Claude Weber (Hg.): De Christian Wolff à Louis Lavelle: métaphysique et histoire de la philosophie. Hildesheim 1995, S. 71–84; ders.: Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung. I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 157–176; Ulrich Dierse: Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie. In: Lothar Kreimendahl (Hg.): Aufklärung und Skepsis: Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 33–46. In diesem Zusammenhang polemisiert Meier gegen Canz, vgl. Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), §§ 10–44. Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Historie überhaupt, C, 24.12.1745, S. 815–820, hier S. 816. Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 34.
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theidigte Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft heraus, die ausdrücklich gegen Meier gerichtet war. Als Motto seines Werks wählte Müller eine Passage aus den Gedanken, wo Meier die zentrale Bedeutung der Unsterblichkeitslehre der Seele für die Religion und Moral hervorhebt und einräumt, dass die Verteidiger ihrer Sterblichkeit sicher in ihrem Verstand getrübt und Sklaven der Sinnlichkeit waren.64 Aus Müllers Reaktion spricht die ganze Verwunderung angesichts der Tatsache, dass Meier unter Abkehr von seiner »bekante[n] Gründlichkeit und Scharfsinnigkeit« die Gewissheit der Unsterblichkeit in Frage gestellt und den Argumenten der Religionsfeinde die Tore geöffnet habe: Wer hätte wol glauben sollen, daß der Herr Magister Meier in Halle von der gänzlichen Ungewißheit der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft; von der Ungewißheit des zukünftigen geistlichen Lebens derselben; von der Ungewißheit des Himmels und der Hölle [...]; von den Sünden und Strafen der Seligen; von den Tugenden, Belohnungen und Ergözungen der Verdammten; von dem Ende der Seligkeit und Verdamnis; von dem möglichen Übergang der Frommen aus dem Himmel in die Hölle und der Gottlose aus der Hölle in den Himmel [...] und dergleichen schreiben würde, wan es nicht der klare Augenschein lehrete [?].65
Müllers Vorwürfe machten aus dem besonnenen Misstrauen Meiers gegenüber den Beweisansprüchen der Vernunft teils eine Art schlechte Skepsis zum Schaden der Vernunft selbst, teils eine absurde Verabsolutierung derselben, insofern sie sich selbst zum Richter über die Wahrheit und Gewissheit der Offenbarung erhoben habe, in dem Sinne, dass es für das, was die Vernunft nicht beweisen kann, keine andere Gültigkeitsgarantie gibt (Vorrede, S. 17*). Bei der Formulierung seiner Widerlegung von Meiers Thesen und der Ausarbeitung seines zweifachen Beweises für die Unsterblichkeit der Seele66 unterließ Müller es nicht, auf die gefährliche Verbindung zwischen Meiers Vernunftskeptizismus und den Forderungen der Materialisten einzugehen. In den Augen des Theologen Müller war die Unbegründetheit des Materialismus natürlich offenkundig, und in den Mittelpunkt seiner Untersuchung rückte er keineswegs die Widerlegung der These von der Materialität der Seele (die Meier den ›theoretischen Irrtum‹ der Materialisten
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Meier: Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), §§ 10–12: »Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist wo nicht die einzige doch eine der wichtigsten Stützen der Religion und ganzen Sittlichkeit. [...] Wenn die Seele nicht unsterblich wäre, würden wir viel wenigere und schwächere Anreizungen haben, fromm und tugendhaft zu sein. Dieses ist so unleugbar, daß man ja aus der Erfahrung weiss, daß jederzeit die ehrlichsten und tugendhaftesten Leute es mit den Vertheidigern dieser großen Wahrheit gehalten haben. [...] Nur der Abschaum des menschlichen Geschlechts, Leute, die ihren sinnlichen Lüsten auf eine sclavische Art fröhnen, erwehlen zu ihrer scheinbaren Beruhigung, oder vielmehr zu ihrer Einschläferung, die Vertheidung des Gegentheils.« Johann Daniel Müller: Die vertheidigte Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft. Frankfurt a. M. 1747, »Vorrede«, S. 11*–12* (nicht pag.). Müller fährt fort: »Man kan fast nicht glauben, daß der Witz eines sonst gründlichen Weltweisen auf eine so ausgelassene Art spielen könne, daß ein Liebhaber der Vernunft und Wahrheit so paradoxere Dinge auf blose Muthmassungen, Möglichkeiten und Vielleichte gegründet habe« (ebd.). Müllers mathematische Beweisthümer leiten die Unsterblichkeit aus dem durch die Vernunft erkannten Endzweck der Schöpfung und aus dem Satz der beständigen Fortdauer des Grades der lebendigen Kräfte dieser Welt ab, den Meier selbst in seinen Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode berücksichtigt hatte. Vgl. Müller: Die vertheidigte Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele aus der Vernunft (s. Anm. 64), »Das dritte Hauptstück«, S. 122–250.
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genannt hatte), sondern den Angriff gegen den schädlichen meierschen Rehabilitierungsversuch derselben.67 Auf die Vorwürfe antwortete Meier entgegenkommend in einem Brief vom 6. Mai desselben Jahres. Er erklärte darin, er kenne die Abhandlung über die Unsterblichkeit nicht, auf die Müller sich in seiner Kritik an Meiers Schrift mehrfach berufen habe, und fügte ihm sein jüngst erschienenes Buch Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister bei. Offensichtlich beabsichtigte er, seinem Gesprächspartner zu zeigen, »wie aufrichtig ein Christ ich bin«.68 Doch in seiner öffentlichen Erwiderung beklagte Meier, wie Müller seine Schrift missverstanden habe, kritisierte dessen Entstellungen und gab der Hoffnung Ausdruck, »daß manche Weltweise seine Leidenschaften besser regieren könne als manche Prediger«.69 Gerade der Gedanke, dass die Weltweisen ihre Leidenschaften hätten beherrschen müssen, statt mit einer Heftigkeit zu reagieren, die ihnen verwehrte, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich lagen, bewog Meier dazu, seinen Kritikern mit einem Beweis, daß die menschliche Seele ewig lebt (Halle 1751) zu antworten, der innerhalb seines Denkens aus zweierlei Gründen eine wichtige Rolle spielt. Der erste betrifft im Besonderen den rationalen Unsterblichkeitsbeweis. Meier selbst berichtet im Schlusskapitel seiner Schrift, dass die langen Diskussionen mit seinem Freund Samuel Gotthold Lange – der einzige seiner Kritiker, der den Sinn seiner Untersuchung der Unsterblichkeit erfasst hatte – ihn dazu bewogen hätten, seine Meinung diesbezüglich zu ändern und einen neuen rationalen Beweis der Frage zu versuchen, der ihn am Ende überzeugt habe, dass die Vernunft zu einer gewissen Erkenntnis der unsterblichen Natur der Seele gelangen kann.70 Meiers Argumentation ging in dieser Schrift nicht mehr von der Betrachtung der Beschaffenheit der Seele, sondern von der unendlichen Weisheit und Güte Gottes aus und nahm folgenden Gang: Die Vernunft kann beweisen, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, und da Gott kein launischer Monarch ist, der die Gaben erst schenkt und dann wieder nimmt,71 hat er mit einem seiner unveränderlichen Ratschlüsse entschieden, sie auf ewig zu bewahren. Doch könnte die Welt nicht mehr die beste aller möglichen bleiben, wenn auch nur ein einziger Geist bzw. eine einzige Seele aufhören würde zu existieren, denn so würde einer der 67 68
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Ebd., S. 114–121. Müller zitiert Meiers Brief in der Vorrede seiner Neuen Bestättigung der Vernünftigen Beweise für die Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele, nebst einer Widerlegung der neuesten Einwürfe. Marburg 1752, S. 6*–9* (nicht pag.). Vgl. Meiers Erwiderung an eine lobende Besprechung von Müllers Vertheidigte Gewißheit (die gleichzeitig eine scharfe Kritik an Meiers Gedanken enthält) in den Freyen Urtheilen und Nachrichten (Hamburg), LXIII, 1747 (die Besprechung erschien im Stück LIII desselben Jahrgangs). Vgl. zusätzlich Müllers »Vorrede« in der Neuen Bestättigung der Vernünftigen Beweise für die Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele (s. Anm. 68), S. 9*–10*. Georg Friedrich Meier: Beweis, daß die menschliche Seele ewig lebt. Halle 1751, §§ 67–90 (Beurtheilung des Langischen Beweises der Unsterblichkeit der Seele). Langes Schrift, die Meiers Überdenken verursacht hat, ist die folgende: Versuch, des von dem Hrn. Georg Friedrich Meier, öffentlichen ordentlichen Lehrer der Weltweisheit zu Halle, in seinen Gedanken von dem Zustande der Seele nach dem Tode geleugneten mathematischen Erweises der Unsterblichkeit der Seele. Halle 1749. Hinsichtlich dieser Frage vgl. Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (s. Anm. 36), S. 122–137. Meier: Beweis, daß die menschliche Seele ewig lebt (s. Anm. 70), § 36: »Gott ist nicht ein Monarch, welcher mir heute aufrichtig verspricht, zeitlebens mein gnädiger König zu bleiben, und mich morgen enthaupten läßt.«
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Standpunkte fehlen, aus denen sich die Vollkommenheit und Vollständigkeit des Universums zusammensetzt. So schließt er: »Da ich nun erwiesen habe, daß ohne dem ewigen Leben aller Geister in dieser Welt dieselbe nicht die beste seyn könnte, so streitet der Tod auch nur einer einzigen vernünftigen Seele mit der höchsten Göttlichen Weisheit«.72 Auch die Wahrheit der Seelenunsterblichkeit, die in den Gedanken vom Standpunkt der Vernunft lediglich als wahrscheinlich galt, erlangt so jenen Grad an Gewissheit, der den nach der mathematischen Lehrart geführten Beweisen zukommt. Meier hat seine Meinung in der Frage also geändert, ohne jedoch seinen allgemeinen Standpunkt hinsichtlich der Potenzialitäten der Vernunft zu ändern, der die große Neuheit seiner früheren Schrift ausmacht und einen Bruch mit der Tradition des rationalistischen Optimismus markiert. Denn das Anliegen, seinen Kritikern zu antworten – und darin liegt der zweite Grund, warum diese Schrift als zentrales Moment der meierschen Reflexion zu gelten hat – bewegt den hallenser Philosophen zu einer Reihe von Betrachtungen über die Vernunftvermögen des Menschen, ihre Grenzen und die Täuschungen, denen der Verstand erliegt. Diese Betrachtungen gehen weit über die spezifische Frage der Seelenunsterblichkeit hinaus und bilden die eigentliche Innovation der Schrift.
3. Meier als Aufklärer In einem einleitenden »Eingang« bekräftigt Meier zunächst seine in den Gedanken dargelegte Position, indem er seine Überzeugung (§ 5) und seine Neigung (§ 7), die Unsterblichkeit der Seele zu bejahen, unterstreicht, und hebt hervor, dass er sich in seinen Einwänden mehrfach der hypothetischen Formeln des vielleicht und wahrscheinlich bedient habe. Erst danach geht Meier endlich zur Untersuchung der Frage über, die ihm in der Kontroverse, die seine Gedanken ausgelöst hatten, insgesamt am meisten am Herzen zu liegen scheint. So versucht er in einer »Betrachtung über die Stärke der Zweifel in den Gemüthern der Menschen« die Gründe zu erforschen, warum das menschliche Gemüt bereit ist, die Wahrheiten in Frage zu stellen, die es stets als solche betrachtet hat, kaum dass ein Zweifel gegen sie erhoben wird, den es nicht unmittelbar zurückweisen zu können glaubt, bzw., was dasselbe ist, warum ein Zweifel, der gegen eine für feststehend gehaltene Wahrheit erhoben wird, das menschliche Gemüt so sehr erschüttern und erschrecken kann, dass es Gefahren erblickt, wo keine sind, und unüberlegt reagiert. So war es den Kritikern der Gedanken ergangen, die Meiers Misstrauen gegenüber der Vernunft sogleich in einen schlechten Skeptizismus, ein die Wahrheit der Religion verleugnendes freies Denken und einen Rehabilitierungsversuch der verschiedenen Formen der Religionsspötterei verwandelt hatten. Meier führt diese Wirksamkeit des Zweifels auf verschiedene Gründe zurück, die alle der besonderen Betrachtung und Beschreibung der menschlichen Natur in ihren tatsächlichen Äußerungen verpflichtet sind, auf die er seine Auffassung der Verstandeswissenschaft, der Logik, als eine Vernunftlehre gründen wird. Der erste Grund besteht »in der natürlichen Neigung der Menschen zur Neuerung und Abwechselung«, weshalb das Neue erstmals in unseren Ge72
Ebd., §§ 37–66: § 62 (S. 98): »Der Beweiß des ewigen Lebens der Seele.« Eine deutliche Zusammenfassung der Thesen des Beweises findet man in Meiers entsprechender Vertheidigung des Beweises, daß die menschliche Seele ewig lebe (s. Anm. 52), § 2, S. 10f.
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danken auftaucht, die Fantasie und Neugier fesselt und die alten Vorstellungen, die mit der Zeit ihre Lebendigkeit verloren haben, in den Schatten stellt (§ 9). Sodann besteht »ganz natürlicher Weise eine Neigung, den Zweifeln wider eine uns lang bekannte Wahrheit gar zu sehr nachzuhängen, oder gar zu stark, ofte und lange den Zweifeln nachzudencken, und sie zu überlegen« (§ 10). In diesem Fall vergessen wir den Beweis der Erkenntnisse, deren Gewissheit wir anzuerkennen gelernt haben, so dass sie in unseren Augen ihre Begründetheit einbüßen und dem Zweifel zum Opfer fallen. Ein dritter Grund, der – entsprechend den Betrachtungen, die Meier bereits über die ›Gründe‹ der Materialisten angestellt hatte – mit den ›gottlosen Absichten‹ zusammenhängt, ist das Laster: »Was das Herz wünscht, das glaubt der Verstand sehr leicht«, und da es mühselig ist, die eigenen Laster aufzugeben, ist man gern bereit, die Wahrheiten in Frage zu stellen, die sie zu solchen machen. Im Fall der Unsterblichkeit und der anderen Religionswahrheiten funktioniert diese Überlegung besonders gut, denn »kein Laster kann mit der Religion bestehen« – und das Dilemma bezüglich des Schicksals der Seele, auf das am Anfang des Textes hingewiesen wurde, geht genau in diese Richtung. Der vierte Grund für die Wirksamkeit des Zweifels wurzelt in einem »Vorurteil«, aufgrund dessen »man [...] die Gewißheit mit der Wahrheit eines Satzes [verwechselt]« und »glaubt berechtigt zu seyn, einen Satz zu verwerffen, weil man an der Richtigkeit seiner Beweise zu zweifeln Ursache hat«. Die Einwände gegen die Wahrheitsgründe (das heißt gegen ihre Gewissheit) werden so als Einwände gegen die Wahrheit selbst verstanden (§ 12). Meier greift damit ein Thema auf, das des nicht zwangsläufig falschen Vorurteils, das er bereits in der Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister angesprochen hatte, aber erst viele Jahre später in den Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts von 1766 ausführlich entwickelte. Da die Wahrheiten durch ewige und notwendige Prinzipien verbunden sind, die ihren Ursprung im göttlichen Verstand haben, bleiben sie dies unabhängig davon, ob der Mensch sie erkennt, und unabhängig von der mehr oder weniger gewissen Weise, in der er sie erkennt. Aus diesem Grund, so Meiers Argument schon in der Rettung, verdienen nicht alle Vorurteile zurückgewiesen zu werden. Einige, obgleich sie vom strikt logischen Standpunkt, der die Verknüpfungen zwischen den grundlegenden Wahrheitszusammenhängen betrifft, falsch sind, erfassen dennoch die Wahrheit und können deshalb nicht schädlich für den Menschen und seine Lebensführung sein.73 Weitere von Meier angeführte 73
Meier: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747 [ND hg. von Björn Spiekermann. Hildesheim 2012], S. 18f.: »Ich unterscheide die falschen Vorurtheilen, von den wahren Vorurtheilen. Ein Vorurtheil ist ein Satz, den wir für wahr oder für falsch halten, eher wir noch, die Gründe der Wahrheit oder Unrichtigkeit desselben, gehörig erkannt und geprüft haben. [...] Wenn wir also ein Vorurtheil fällen, so kan es wahr seyn, es kan aber auch falsch seyn, doch niemals beydes zugleich. Ein Mensch, der nach Vorurteilen denckt, verhält sich wie ein Wanderer, welcher auf einer Landstraße an einen Scheideweg kommt, und sich entweder zur lincken oder zur rechten Hand wendet, ohne zu überlegen, warum er den einen Weg dem andern vorgezogen. Welcher vernünftiger Mensch kan wohl behaupten, daß ein solcher Wandersmann nothwendig einen Irrweg gehen müsse? Kann er nicht eben so wol den rechten Weg treffen? Es gibt demnach wahre Vorurtheile. Wer also aus Vorurtheilen in Religionssachen etwas für wahr oder für falsch hält, der kan demohnerachtet nach richtigen Gründen richtig dencken.« Es lohnt sich zu erwähnen, dass Meier in den späteren Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts (s. Anm. 38), § 10, folgendes Beispiel anführt: »Ist es nicht ein gewöhnlicher Beweis der Würklichkeit Gottes: was alle Menschen glauben ist wahr, nun glauben alle Menschen einen Gott, also ist ein Gott? Unterdessen sind beyde Vordersätze falsch. Es ist demnach klar, daß nicht einmal alle diejenigen Folgerungen, die ein Mensch aus seinen falschen Vorurtheilen
Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele
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Gründe sind die mangelnde Tugend der »Mittelmäßigkeit«, der Fähigkeit, den Mittelweg zu halten, was uns von einem Extrem zum anderen springen lässt (§ 13); die Leichtigkeit des Zweifels, der einfacher erfassbar ist als die lange, komplexe Beweiskette, auf die sich eine Wahrheit stützt (§ 14); und schließlich die Unwissenheit, »der Mangel der Wissenschaft und Gelehrsamkeit«, der den Menschen zur leichten Beute des Zweifels macht (§ 16). Mit der Wahrheit, schließt Meier, geht es wie mit der Tugend: »Es ist oft viel leichter tugendhaft zu seyn, als auch zugleich tugendhaft zu scheinen, oder für tugendhaft gehalten werden. So gar der blosse Schein der Tugend ist ofte schwerer zu erhalten, als die Tugend selbst« (§ 17). In diesen wenigen Abschnitten bringt Meier seine Fähigkeit zum Ausdruck, die menschliche Natur und ihre natürlichen Neigungen zu beobachten und rein beschreibend zu analysieren. Doch geht diese Beschreibung einen Schritt weiter als die natürliche Logik und empirische Psychologie von Wolff und richtet sich auf eine anthropologische Betrachtung im engeren Sinn. Meiers Blick auf die menschliche Natur legt eine höhere Perspektive an, in der auch für deren scheinbar schlechte Äußerungen (Neigung zur Neuheit, das Vorurteil im Allgemeinen, die Herrschaft der Sinne usw.) Raum ist, die nicht unbedingt korrigiert werden müssen, insofern sie eine Funktion in der allgemeinen Lebensökonomie des Einzelnen haben. Genau dies liegt Meier besonders am Herzen, und eben darum beabsichtigt er mit seiner Philosophie mehr eine Art Erziehung des menschlichen Geschlechts zu fördern als eine gründliche Abhandlung über das ewige Leben der Seele zu verfassen.74 Er versteht nämlich den Philosophen als einen Selbstdenker, d. h. als jemanden, der sich erlaubt, mit Hilfe seiner eigenen Vernunft an den gegebenen Wahrheiten zu zweifeln, und der die Fähigkeit besitzt, zu verstehen, dass die gemeinsamen Wahrheiten oftmals lediglich auf Vorurteilen beruhen und eben deswegen nicht als gewisse bzw. bewiesene Wahrheiten anzusehen sind. Den Philosophen versteht er als einen »particularen Zweifler«, d. h. als jemanden, der im Stande ist, »auf eine unparteysche und gründliche Art dasjenige zu prüfen«, was die Vernunft uns in den verschiedenen Erkenntnisgebieten sagen kann.75 Das heißt nicht, sich als einen Freund des Skeptizismus (als einen »allgemeinen Zweifler«) zu begreifen, sondern »um der Schrancken seiner Vernunft willen, in vielen Stücken [der Erkenntnis] ein Zweifler [zu] seyn«.76 Die zentrale Rolle des Zweifelns sowie das anthropologisch begründete Nachdenken über die Schranken der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und über die
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herleitet, falsche Urtheile sind: ausgenommen, daß in ihrer Entstehungsart nothwendig allemal, etwas Falsches und Irriges, angetroffen wird.« In ähnlicher Weise, aber selbstverständlich ohne Hinweise auf die Lehre der Vollkommenheiten der Erkenntnis, hatte schon Christian Thomasius die Sache formuliert in der Einleitung zur Hof-Philosophie, oder, kurtzer Entwurff und die ersten Linien der Klugheit zu Bedencken und vernünfftig zu schließen. Frankfurt a. M., Leipzig 1710 [ND der Auflage 1712, hg. von Werner Schneiders. Hildesheim 1994; deutsche Übersetzung der Introductio ad philosophiam aulicam. Leipzig 1688; Halle 1702], Kap. III, § 55. Meiers intensive Tätigkeit als Herausgeber mehreren moralischen Wochenschriften bestätigt seinen konkreten aufklärerischen Einsatz; auch unter diesem Gesichtspunkt scheint Gawlicks (obgleich milderes) Urteil über Meier als »Rechts-Wolffianer«, als Vertreter einer ›konservativen‹ Strömung innerhalb des Wolffianismus gegenüber den Herausforderungen der Epoche etwas übertrieben zu sein (vgl. Gawlick: Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung [s. Anm. 60], S. 164). Zu Meiers Tätigkeit als Herausgeber und Autor moralischer Wochenschriften vgl. auch den Beitrag von Kay Zenker in diesem Band. Vgl. Meier: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister (s. Anm. 73), »Vorrede«, S. 6*; § 1. Ebd., S. 7*.
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verschiedenen nicht-rationalen Beweggründe des menschlichen Handelns sind Schwerpunkte von Meiers Denken, die ihn in eine von der Orthodoxie der wolffschen Schule relativ weit entfernte Position versetzen. Seine misstrauische Haltung gegenüber dem Potenzial der Vernunft und der unbedingten Gewissheit ihrer Schlüsse taucht schon in den frühen Jahren seiner philosophischen Überlegungen auf – teilweise auch schon vor seiner Begegnung mit Lockes Essay concerning human understanding (1754) – und bereitet seine reiferen Betrachtungen hinsichtlich einer pragmatischen Aufwertung der Rolle der Vorurteile im menschlichen Leben vor (1766).77 Demzufolge können Meiers Betrachtungen über die Unsterblichkeit der Seele keinen Streitgrund zwischen Vernunft und Glauben bilden, denn die Offenbarung und die Grundsätze des Christentums eilen der unmächtigen Vernunft und dem zweifelnden Philosophen zu Hilfe.78 Es handelt sich nämlich um wichtige Wahrheiten, die vom Standpunkt der Vernunft lediglich aus Vorurteilen bestehen, nichtsdestotrotz aber nützlich und gut sind. In einer solchen entzauberten Sichtweise, in der die Vernunft in ihren wesentlichen Schranken und Schwächen betrachtet wird, versteckt sich die avantgardistische Modernität Meiers, sein originär aufklärerischer Geist, der es ihm ermöglicht, zu einem tiefen und eingehenden Verständnis der menschlichen Natur zu gelangen. Er sieht ein, dass »wir Menschen selbst eine unerforschliche Sache sind«.79 Einen maßgeblichen Anteil an dieser Einsicht haben seine schon sehr früh entwickelten Betrachtungen über die Seele und ihre Unsterblichkeit.
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Vgl. hierzu Rumore: Un wolffiano diffidente: Georg Friedrich Meier e la sua dottrina dei pregiudizi (s. Anm. 38). Es ist gut bekannt, dass nach dem Befehl vom Friedrich dem Großen Meier im Jahr 1754 ein collegium über Lockes Essay on human understanding hielt. Georg Friedrich Meier: Zuschrift an seine Zuhörer, worin er Ihnen seinen Entschluß bekannt macht, ein Collegium über Locks Versuch vom menschlichen Verstande zu halten. Halle 1754. Über Lockes Einfluss auf Meier vgl. Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 83–85, und Günter Schenk: Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meiers. Halle 1994, S. 104f. Meier: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister (s. Anm. 73), »Vorrede«, S. 7*. Meier: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 27), § 168.
UDO ROTH
»Erlernung der Gesezze der Natur der Seele« Die Rezeption von Georg Friedrich Meiers Seelenlehre in der zeitgenössischen Medizin
Am 9. Mai 1749 trat vor den Vertretern der medizinischen Fakultät der Universität Halle der 22jährige Johann Christian Bolten (1727–1757)1 zu einer Disputation an. Bolten, im damalig dänischen Glückstadt geboren, hatte in Halle unter anderem bei dem Stahlianer Johann Juncker (1679–1759)2 – der den so genannten ›Unterricht am Krankenbett‹ einführte – studiert und wurde im Juli 1750 feierlich und ›sine praeside‹ aufgrund der öffentlichen Verteidigung einer Schrift De revulsionibus generatim zum Doktor der Medizin promoviert.3 Vielleicht hielt sich Bolten nach der Promotion noch einige Zeit in Halle auf, vielleicht kehrte er auch ins heimatliche Holstein zurück, zu seinen Eltern nach Altona, wo sein Vater Johann Bolten (1678–1758) seit 1737 Pastor an der Hauptkirche St. Trinitatis und erster Propst der Stadt war, oder zu seinem Bruder Joachim Friedrich (1718–1796), der nach der Promotion zum Doktor der Medizin 1739 in Halle als praktischer Arzt in Hamburg tätig war und das Amt eines Subphysikus, ab 1754 das des Physikus der Stadt ausübte. Auch Bolten wurde 1754 zum Stadtphysikus ernannt, in Altona und der Herrschaft Pinneberg, ein Amt, das er bis zu seinem Tode 1759 innehatte – und das 1
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Zu Bolten, über dessen Leben nur wenig bekannt ist, vgl. u. a. Gernot Huppmann: Johann Christian Bolten (Lebensdaten unbekannt): ein Vorläufer der Medizinischen Psychologie. In: Schriftenreihe der Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 2 (1997), S. 145–162; Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Aufklärung. Tübingen 2001, S. 5–24, v. a. S. 16–23. Juncker hatte zunächst (1696) in Marburg Philosophie, ab 1697 in Halle bei August Hermann Francke Theologie studiert und war seit 1701 Lehrer am Pädagogium der Francke’schen Stiftungen. 1707 trat er eine Stelle als Lehrer am protestantischen Frauenstift Schaaken bei Goddelsheim in der damaligen Grafschaft Waldeck an, dessen Äbtissin, Charlotte Sophie Gräfin von Waldeck (1667–1723), er noch im selben Jahr heiratete. Bis 1711 lebte das Paar in Schwarzenau (Grafschaft Sayn-WittgensteinBerleburg), dann in Ibbenbüren (Grafschaft Lingen), wo Juncker die Werke Georg Ernst Stahls studierte und als ›Arzt‹ scheinbar gut gehende Praxen betrieb. 1716 nach Halle zurückgekehrt, wurde Juncker 1717 – ohne medizinische Fachausbildung, womöglich aber studierte er kurze Zeit in Erfurt Medizin – Arzt an den Francke’schen Stiftungen, 1718 unter Michael Alberti (1682–1757) mit einem Conspectus medicinae theoretico-practicae, methodo Stahliana tractandos, exhibens zum Doktor der Medizin promoviert und 1729 zum Ordinarius an der medizinischen Fakultät der Universität Halle ernannt. Johann Christian Bolten: Dissertationem solemnem de revulsionibus generatim. Halle 1750.
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womöglich Johann August Unzer (1727–1799) nach seinem Weggang aus Halle Ende 1750 den Weg zu seiner florierenden Arztpraxis in Altona ebnete.4 Unzer nämlich saß an jenem 9. Mai 1749 als Praeses der Disputation vor, in der Bolten über Thesen De nexu metaphysices cum medicina generatim respondierte.5 Ausgehend von Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica von 1739 sucht Bolten den engen Zusammenhang von Metaphysik, die die »praedicata mundi generalia« verhandele,6 und der Medizin im Allgemeinen bzw. ihrer Teilgebiete darzulegen: §. II. Verknüpfungen nennt man das, dessen eines der Grund des anderen ist. Daher sind Wissenschaften miteinander verknüpft, deren eine die Voraussetzungen der anderen in sich trägt. §. III. Die Metaphysik ist die Wissenschaft, die die ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis beinhaltet. §. IV. Die Medizin ist die Wissenschaft von der Natur des menschlichen Körpers: Daher sind Metaphysik und Medizin miteinander verknüpft. […] §. V. Die Metaphysik lehrt I. die allgemeinen Prädikate des Seienden […] und zwar a) die inneren Allgemeinbegriffe in einem jeden Einzelnen. Daher lehrt die Metaphysik die allgemeinen inneren Prädikate des menschlichen Körpers, die allen menschlichen Körpern gemein sind; und die der menschliche Körper mit allem anderen Seienden gemeinsam hat. Daher sind Metaphysik und Medizin miteinander verknüpft. […] §. VI. Die Metaphysik lehrt b) die allgemeinen inneren Prädikate des Seienden in ihren Verschiedenheiten, die allem Seienden zukommen. Daher lehrt die Metaphysik die unterschiedlichen inneren Prädikate, die in den einzelnen Körper zu erkennen sind, und die der menschliche Körper mit allem anderen Seienden gemeinsam hat. Daher wird die Metaphysik mit der Medizin verbunden.7
Eben diese Ableitung der Verknüpfung von Metaphysik und Medizin begründe den Nutzen, denn um diesen ist es Bolten zu tun, der ersteren für die Physiologie und die Pathologie, vor allem und insbesondere aber für Ätiologie, diejenige Wissenschaft nämlich, die die Krankheitszeichen erkenne und interpretiere, »i. e. ad semeiologiam medicam«,8 und damit nach dem kausalen Grund derselben suche. Die Erkenntnis, dass dieser nicht immer und ausschließlich körperlicher Art sein müsse, sei aber nicht einzig und allein Baumgarten zu verdanken, »cum nostro 4 5
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Vgl. Matthias Reiber: Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift »Der Arzt« (1759– 1764). Göttingen 1999, S. 28, Fn. 20 u. S. 72. Johann August Unzer (Praeses), Johann Christian Bolten (Respondent): De nexu metaphysices cum medicina generatim. Halle 1749; vgl. zu Boltens Autorschaft Zelle: Sinnlichkeit und Therapie (s. Anm. 1), S. 16 mit Fn. 50; gegenteilig noch Yvonne Wübben: Limitierte Anthropologie. Grenzen des medizinischphilosophischen Wissenstransfers am Beispiel von Johann August Unzers Affektlehre (1746). In: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Manfred Beetz, Heinz Thoma u. Jörn Garber. Göttingen 2007, S. 49–68, hier S. 62f. Vgl. Unzer, Bolten: De nexu (s. Anm. 5), § XI, S. 8. Ebd., S. 5f.: »§. II. Connexa dicuntur, quorum vnum est ratio alterius. Hinc scientiae sunt in nexu, quarum vna praemissas alterius in se continet. §. III. Metaphysica est scientia prima cognitionis humanae principia continens. §. IV. Medicina est scientia naturae corporis humani: hinc medicina cum metaphysica est in nexu. […] §. V. Metaphysica docet I. praedicata entis generaliora […] & quidem a) vniuersalia interna, quae sunt in singulis. Hinc metaphysica docet praedicata corporis humani vniuersalia interna, quae omnibus corporibus humanis sunt communia; quaeque simul corpus humanum cum omnibus aliis entibus communia habet. Hinc medicina cum metaphysica est in nexu. […] §. VI. Metaphysica docet b) praedicatorum entium generaliorum internorum, Disiunctiua, quorum alterutrum est in singulis entibus. Hinc metaphysica docet praedicata corporis humani interna disiunctiua, quorum alterutrum in singulis corporibus deprehenditur, quaeque corpus humanum cum omnibus aliis entibus habet communia. Hinc metaphysica connectitur cum medicina.« Vgl. ebd., § XXVIII, S. 16.
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WOLFIO & MEIERO tamquam patronos et promotores artis Medicae veneramur. TANTVM«.9 Diesem »TANTVM« kommt hier in Verbindung mit dem Namen Wolff und Meier aber weitaus größere Bedeutung zu als der üblichen floskelhaften Wendung zum Abschluss einer Dissertation, auch und vor allem insofern, als in den Ausführungen neben Baumgarten zwar Johann Gottlob Krüger (1715–1759) Erwähnung findet,10 Unzers den Gegenstand betreffende eigene Schriften, etwa die Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen oder die Gedancken vom Einfluß der Seele in ihren Körper hingegen mit keinem Wort erwähnt werden11 – ebenso wie die Georg Friedrich Meiers.12
1. Meiers Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen Fünf Jahre vor Boltens Dissertatio de nexu aber hatte Meier in seiner Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt auf den Nutzen einer »genauere[n] Erkenntniß der menschlichen Seele, ja, des gantzen Menschen überhaupt« insistiert, denn die Leidenschaften seien verantwortlich für »einen grossen Theil der gewöhnlichen und natürlichen Veränderungen des Menschen«: »Tausend Veränderungen tragen sich in dem Körper zu, die man«, so Meier weiter, »für, ich weis nicht, was halten wird, wenn man die Leidenschaften nicht genau kennt«.13 Das siebte Hauptstück, mit 17 Seiten das kürzeste des ganzen Werkes, befasst sich denn auch mit den »Veränderungen des Körpers in den Gemüthsbewegungen«.14 Ausgehend von der auf der Erfahrung basierenden Tatsache, dass die Bewegungen des Körpers, den Veränderungen der Seele, proportional sind, und umgekehrt. […] daß die übereinstimmigen Veränderungen der Seele und des Körpers, so wohl ihrer Beschaffenheit, als auch ihrer Größe nach mit einander übereinstimmen,15
ist jede körperliche Veränderung – und das schließt auch jene ein, die als ›Krankheiten‹ definiert werden – als ein »Gemälde oder hieroglyphisches Zeichen« innerseelischer Vorgänge und Veränderungen anzusehen.16 Dies lässt sich beispielhaft etwa so formulieren: Die Leidenschaften haben ihren Ursprung im Begehrungsvermögen; eine Leidenschaft kann nur dann aus einer Begierde hervorgehen, wenn sich die Seele in der Lage sieht, das Objekt der Begierde auch tat9 10
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Ebd. Vgl. ebd., § XVI, S. 10 mit einem knappen Verweis auf dessen Naturlehre. 3 Bde. Halle 1740–1749, hier der Zweyte Theil, welcher die Physiologie, oder Lehre von dem Leben und der Gesundheit des Menschen in sich fasset (1748), §§ 40ff. Vgl. Johann August Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krüger. Halle 1746 (anonym erschienen) und ders.: Gedancken vom Einfluß der Seele in ihren Körper. Halle 1746; zu Krüger und Unzer in diesem Zusammenhang vgl. insbesondere Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003, S. 33–162. Die Gründe für die Erwähnung Christian Wolffs seien hier nicht weiter verfolgt. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744 [ND Frankfurt a. M. 1971], § 12, S. 13. Vgl. ebd., §§ 220–231, S. 390–407. Ebd., § 221, S. 393. Ebd., § 221, S. 392.
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sächlich zu erlangen – die körperliche Veränderung ist also Indiz dafür, dass eine Begierde zur Leidenschaft geworden ist. Obwohl Meier aber zu Beginn des Stückes darauf verweist, dass er sich bei den Betrachtungen nicht als Naturlehrer, der die »Veränderungen des Körpers […] aus seiner Natur nach den Bewegungsgesetzen« erklärt, sondern als »Metaphysicus« verhalten und weder von der »vorherbestimte[n] Übereinstimmung, noch [dem] physischen Einfluß, noch [der] gelegentlichen Ursache« ausgehend die Proportionalität in den Blick nehmen wolle,17 schließt er die Betrachtungen als »Harmonist« – er habe sich nun »einmal zu der Parthey der Harmonisten geschlagen, und zum Überlaufen habe [er] noch keine hinreichenden Gründe bekommen«18 –, hier aber damit begründend, dass »unsere Seele in dieser Welt niemals ohne Körper gewesen, und niemals ohne Körper seyn wird, so hat sie auch in dieser Welt niemals Leidenschaften, ohne zugleich mit einem Körper vereiniget zu seyn«19 – anders gesagt: Es muss eine Übereinstimmung der Bewegungen in Seele und Leib vom Ausmaß wie von der Beschaffenheit her herrschen.20 Mehr als zehn Jahre später, im dritten Band seiner Metaphysik, klärt sich Meiers recht eigenwillige Haltung. Durch »unleugbare Erfahrungen« könne man zeigen, »daß Leib und Seele in einander würken, und daß sie in der genauesten Gemeinschaft mit einander stehen«,21 die Seele also in den Körper,22 und – worauf Meier 1744 nicht verweist – der Körper in die Seele wirke.23 Doch unterscheidet Meier hier dezidiert zwischen einer Psychologia empirica und einer Psychologia rationalis, wie sie Wolff Jahre zuvor entwickelt hatte, als er darauf hinwies, dass man differenzieren müsse zwischen »Lehren«, also empirischen Beweisen, und den »hypothesibus oder Theorien der Welt-Weisen, dadurch sie auf eine verständliche Art zu erklären suchen was man von ungezweiffelter Gewissheit aus der Erfahrung annimmt«24 – wobei es im Grunde keine Rolle spiele, ob man »ein Influxioniste, oder Occasionaliste, oder Harmoniste, oder Neutraliste« sei, denn ein jeder gründe seine Theorie auf der Erfahrung.25 Wenn man aber, wie Wolff es getan zu haben eingesteht, von dem, was empirisch nachweisbar ist, »den Grund aus der Natur der Seele anzuzeigen, und solchergestalt a priori oder aus Gründen auf eine verständliche Art zu erklären, was der Erfahrung gemäß ist«, so tue dies der (empirischen) »Wahrheit keinen Eintrag«, da hierbei »nimmermehr« wahr oder falsch erwiesen werden könne.26 Auch Meier rekurriert auf eben jenen Gesichtspunkt, wenn er darauf verweist, dass der Nutzen, der von der empirischen Kenntnis einer gegenseitigen Einflussnahme von Seele und 17 18 19 20
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Vgl. ebd., § 220, S. 390f. Vgl. ebd., § 220, S. 391. Ebd., § 231, S. 406. Die von Meier hier zur Erklärung »der Verbindung der Seele mit dem Körper« (ebd.) herangezogene ›Harmonie‹ ist keineswegs identisch mit der prästabilierten Harmonie leibnizscher Provenienz, sondern deren Modifikation, vgl. dazu Georg Friedrich Meier: Beweis der vorherbestimmten Übereinstimmung. Halle 1743. Vgl. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1755–1759, Bd. 3 (1757), § 726, S. 412. Vgl. ebd., § 727, S. 412–414. Vgl. ebd., § 728, S. 414f. Vgl. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben [1726]. Die andere Auflage, hin und wieder vermehret. Frankfurt a. M. 1733, § 104, S. 291f. Vgl. ebd., § 97, S. 270f. Vgl. ebd., § 104, S. 291f.
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Körper, der »Anwendung und de[s] wahren Gebrauch[s] der Psychologie zur menschlichen Glückseeligkeit« durch die Psychologia rationalis »weder vermehrt noch vermindert, weder befördert noch gehindert« werde.27 Allein, wenn es immer noch »Weltweise« gebe, die aus der Erfahrung auf einen »reelle[n] gegenseitige[n] Einfluß« von Seele und Körper schlössen, so seien diese einem Selbstbetrug aufgesessen, denn die blosse Erfahrung [kann], die Frage: von der Art und Weise des Einflusses der Seele und des Leibes in einander, gar nicht entscheiden.28
2. Halle – Zentrum der Kontroverse Schließt Meier in der Theoretischen Lehre somit vordergründig an die von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) seit Mitte der 1730er Jahren in seinen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus,29 der Metaphysica30 und seinen Vorlesungen (seit Wintersemester 1742/43 in Frankfurt an der Oder) begründete Ästhetik als Lehre von den unteren Erkenntnisvermögen und ›Schwesternkunst‹ der Logik31 an und widmet der eigentlichen Wirkung der ›Seele‹ auf den Körper nur wenige Seiten, so fokussiert er explizit auf die von Wolff geforderte Unterscheidung in eine Psychologia empirica und rationalis. Im selben Jahr 1744 prangert auch der Hallenser Mediziner Ernst Anton Nicolai (1722–1802) in der Vorrede zu seiner Abhandlung über die Wirckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Cörper an, dass die »Newtonische und Wolfische Weltweißheit« sich zwar in ganz Europa ausgebreitet habe, in der Arzneigelehrtheit jedoch noch nicht »völlig zur Mode geworden« sei – »vermuthlich«, so sein Fazit, »weil es die Ärtzte nicht gewohnt sind, sich sonderlich mit der Weltweißheit und Mathematik bekannt zumachen«;32 die »Artzneygelahrtheit« aber sei »eine Wissenschaft […], die sich einzig und allein auf die Weltweißheit« gründe.33 Man betrachte aber, so Nicolai, in der Medicin den Menschen immer nur von einer Seite. Man sieht entweder bloß auf den Cörper, oder allein auf die Seele, da sich doch bey einem lebendigen Menschen beydes in der genauesten Verbindung befindet. Jenen kennen wir, von dieser aber ist man kaum im Stande etwas zu errathen.34
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Vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 21), Bd. 3 (1757), § 730, S. 416f. Vgl. ebd., § 731, S. 419. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735 (dass. Lat.-dt. Übers. u. mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983). Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 1739 (Metaphysik. [Übersetzt von Georg Friedrich Meier.] Halle 1766). Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. 2 Bde. Frankfurt a. d. O. 1750/58 (ND Hildesheim 1961), Bd. 1, § 1, S. 1: »AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitiuae« (vgl. auch Ästhetik. Lat.-dt. Übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007). Ernst Anton Nicolai: Wirckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Cörper aus den Gründen der neuern Weltweißheit hergeleitet. Halle 1744, S. 11. Ebd., S. 8. Ebd., S. 15.
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Der beste »mechanische Arzt« kann als Ursache der Bewegungen unseres Körpers erfahrungsgemäß die ›Seele‹ angeben, aber hat er die ›Seele‹ damit auch begreiflich gemacht? Nein, der Arzneigelehrte muss auf die Psychologie, auf »eben die Gesetze, welche die Mathematicker von den ältesten Zeiten her in Dencken zu beobachten gewohnt gewesen« seien, in den Blick nehmen.35 Denn »alle Bewegungen im menschlichen Cörper [nehmen] von den Empfindungen ihren Ursprung« und es entstehe »allemahl an dem Orte, wo eine Empfindung hervorgebracht worden, eine Bewegung […], die ihr proportional ist«. Eben dieser Satz sei ein »beständiges Gesetze«, und »ein Grundsatz, der in die Artzneygelahrtheit einen starcken Einfluß« habe, weswegen es verwunderlich sei, dass man diesen »so nothwendig[en], so unentbehrlich[en], so nutzbar[en] Satz« wenn »nicht eher gedacht«, so doch »nicht öfterer bey den menschlichen Cörper anzubringen sich bemühet hat«.36 Ob und inwieweit sich Meier und Nicolai aufeinander bezogen, sei hier dahingestellt – sie zitieren sich zumindest nicht gegenseitig –, wichtiger für die Ausbildung eines Theoriegebäudes über den Einfluss der Seele auf den Körper ist das Umfeld, in dem beider Werke entstanden. Für Meier wie für Nicolai scheint die enge Verzahnung von Universität und dem Francke’schen Waisenhaus überaus fördernd gewesen zu sein. Neben Baumgarten lehrten hier Georg Ernst Stahl (1659–1734) und Friedrich Hoffmann (1660–1742), animistische Lehren trafen so auf iatrophysische bzw. -chemische. Zu Stahls Schülern gehörten unter anderen Michael Alberti (von diesem 1704 promoviert) und Johann Juncker, der seinerseits 1717 von Alberti promoviert worden war und zu dessen Schülern Unzer zählte. Zu Hoffmanns Schülern zählte Johann Gottlob Krüger (1715–1758), Nicolai hörte bei Krüger und Hoffmann, dessen Famulus er war. Wie Baumgarten wurden Krüger und Meier, aber auch Unzer im Halleschen Waisenhaus erzogen. Darüber hinaus verkehrten Meier und Unzer im Halleschen Dichterkreis um Samuel Gotthold Lange (1711–1781)37 und Jakob Immanuel Pyra (1715–1744), mit dem auch Johann Georg Sulzer (1720–1779) in Kontakt stand.38 In dieser Atmosphäre begannen in Halle39 die Medici den Menschen nicht immer nur von einer Seite, sondern als einen beseelten Körper anzusehen.40
1745 erschienen Nicolais Gedanken über Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit,41 in der er den Affekten gegen das »Vorurtheil«, »ohne Unterschied der Gesundheit nachtheilig« zu 35 36 37 38
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Vgl. ebd., S. 16f. Ebd., § 1, S. 24f.; Nicolai verweist hier darauf, dass Krüger der Ruhm gebühre, den »Satz« »in die Medicin eingeführt, und seinen Nutzen weitläuftiger gezeigt« zu haben. Mit dem Meier später die moralische Wochenschrift Der Mensch (1751–1756) herausgab. Vgl. dazu auch Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 13), S. 245–254. Vgl. hierzu Stefan Borchers: Die Erzeugung des »ganzen Menschen«. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2011 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 42). [Anonymus: Rezension zu] Wirckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Cörper aus den Gründen der neuern Weltweißheit hergeleitet von Ernst Anton Nicolai. 1744 in 8vo. In: Freymüthige Nachrichten von neuen Büchern und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 2 (1745), 1. Stück, S. 2f., hier S. 2.; eine Besprechung von Meiers Theoretischer Lehre findet sich in diesem wie auch im darauffolgenden Band hingegen nicht.
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sein und »Kranckheiten« zu verursachen42 einen auch positiven Einfluss auf den Körper zuschrieb. Im Jahr darauf griff Unzer mit gleich drei Schriften in die von Meier und Nicolai angestoßene Debatte ein: Zunächst anonym mit der Neuen Lehre von den Gemüthsbewegungen,43 einer auf den zweiten Teil der Naturlehre Krügers44 gründenden Temperamenten- und vor allem Affektenlehre, die den Affekten den Status psychischer Wirkungen zuweist, unter Pseudonym mit den Gedancken vom Schlafe und denen Träumen,45 die in die Auseinandersetzung zwischen den Metaphysikern und den Medizinern um das Vorstellungsvermögen während des Schlafes eingreifen,46 sowie schließlich unter seinem Namen mit den Gedanken vom Einfluß der Seele auf ihren Körper,47 einer Verteidigung des stahlschen Animismus gegen den meierschen Harmonismus.48 In Halle scheinen sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts vor diesem Hintergrund zwei grundsätzlich unterschiedene Lehrgebäude auszubilden: Denn einerseits sucht man auf der Grundlage von Animismus, Influxionismus, Okkasionalismus und Harmonismus empirische Nachweise für das Wie des Einflusses der Seele auf den Körper vorzulegen, andererseits anerkennt man das Dass des Einflusses auf empirischer Grundlage, verweist die Frage nach dem Wie aber an die Metaphysik, da man – wie Nicolai formuliert – von der Seele »kaum im Stande [sei] etwas zu errathen«.49 Hierin mag der Grund zu suchen sein, warum Bolten in seiner Dissertatio De nexu metaphysices cum medicina generatim weder Meier noch Unzer zitiert, gehören beide doch unterschiedlichen Lagern an – und Bolten tendiert eindeutig zu dem des Erstgenannten. Und daher kann auch der Halberstädter Garnisonsmedicus Johann Andreas Röper (fl. 1727–1751)50 41 42 43 44
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Ernst Anton Nicolai: Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit. Halle 1745; Nicolai wurde im selben Jahr mit einer Dissertation De Dolore öffentlich zum Doktor der Medizin promoviert. Vgl. Nicolai: Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit (s. Anm. 41), § 21, S. 38. [Unzer:] Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen (s. Anm. 11). Krüger: Naturlehre. Zweyter Theil (s. Anm. 10); vgl. zu Krügers Konzeptionen v. a. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 11), S. 33–74; vgl. auch Gabriele Dürbeck: ›Reizende‹ und reizbare Einbildungskraft: Anthropologische Ansätze bei Johann Gottlob Krüger und Albrecht von Haller. In: Jörn Steigerwald, Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680–1830). Würzburg 2003, S. 225–245, hier S. 230–236. S. C. I. S. [i. e. Johann August Unzer]: Gedancken vom Schlafe und denen Träumen, nebst einem Schreiben an N. N. daß man ohne Kopf empfinden könne. Halle 1746 (ND mit einem Nachwort von Tanja van Hoorn. St. Ingbert 2004). Vgl. vor allem zu dem Sendschreiben, das sich gegen Meier zu richten scheint und Vivisektionen Unzers dokumentiert Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 11), S. 103–105. Unzer: Gedancken vom Einfluß der Seele in ihren Körper (s. Anm. 11). Meier scheint in seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Halle 1748–1750 auf Unzers Gedancken zu replizieren, wenn er darauf verweist, dass »[u]nter andern […] schon vor einigen Jahren, mein sehr guter Freund, der Herr D. Unzer, wider mich, der vorherbestimmten Übereinstimmung wegen, geschrieben« habe (Bd. 2, Vorrede, fol. ):(5r), vgl. dazu auch Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 11), S. 104, Anm. 73; bei aller Polemik gegen den meierschen Harmonismus bringt Unzer Meier aber Hochachtung entgegen, so in den Gedanken vom Schiksal der Gelehrten, in einem Glükwünschungsschreiben an Herrn M. Georg Friedrich Meier als Derselbe eine Philosophischen Profession auf der Friedrichs Universität erhielte. Halle 1746, seine Philosophischen Betrachtungen des menschlichen Körpers überhaupt. Halle 1750 dedizierte er Meier als Gönner und Freund (vgl. fol. )(2r–)(3v). Vgl. Nicolai: Wirckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Cörper (s. Anm. 32), S. 15. Zu Röper (oder auch Roeper) liegen so gut wie keine biographischen Informationen vor: Er studierte in Halle Medizin und wurde 1724 unter dem Stahlianer Michael Alberti zum Doktor promoviert (vgl. Michael Alberti [Praeses], Johann Andreas Röper [Respondent]: De lochiorum statu legitimo et morboso.
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1748 in seiner Schrift über Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper darüber klagen, dass, sehe »man sich nach neuern Schrifft Stellern« hinsichtlich einer psychologischen Erklärung des die Abhandlung bestimmenden Phänomens des ›Nachtwanderns‹ um, bey vielen kaum etwas davon erwehnet [werde], gerade als ob es nicht der Mühe werth sey, und ein Medicus sich nicht darum zu bekümmern habe. Es ist wohl gewiß: Mechanische und physicalische Gründe reichen zur Erklärung schlechter dinges nicht zu; aber wenn man der Würkungen der Seele gedenket, so wird es aufgemutzet, als ob man sich gröblich versündiget habe.51
»Der Seele Würkungen« aber seien »unläugbahr in den menschlichen Cörper«; dieser sei das »Objectum Medicinæ so lange er lebet, also wird man sich doch so wohl auf die Seele als den Cörper berufen dürfen, in so ferne sie nicht von einander zu trennen« seien.52 Daher könne der Mensch »von Einbildungskraft kranck« werden, »Eckel vor Speisen« »den Magen und das gantze Tractum intestinorum in Allarm bringen«, eine »grosse Furcht […] den Cörper entsetzlich« entstellen – es gebe Geschichten, dass jemand geglaubt habe, er sey ein Glas oder Gersten Korn, und daher sich gefürchtet, von den Hünern gefressen zu werden, oder sich nicht niedersetzen wollen, aus Furcht zu zerbrechen.
Andererseits habe der Zustand von Kranken »auf angenehme Zeitungen« hin »sich augenblicklich gebessert«.53 Wenn die Seele aber »eine Freyheit« habe, »ihre Kräfte zu gebrauchen, und den Leib an vielen Gliedern willkürlich zu bewegen«,54 so wirke auch die »Phantasie in den Cörper«, und gleichwohl man den »modus nicht zu demonstriren« wisse, »wie ein Geist in einem Cörper würcksam sey, wie in dem Menschen 2. principia von diverser Natur mira societate sich vereinigen«, so sei es »genung, wenn man ohnfehlbahr weiß und darthut, daß die Seele in den Körper würcke« – eine »Therapia imaginaria« sei daher »nicht zu leugnen«, auch wenn »alle methaphysici conceptus und ætiologiæ aus der Natur Lehre« nicht imstande seien, dies zu erklären.55
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Halle 1724), 1731 publizierte er eine Übersetzung von Thomas Brownes (1605–1682) A true and full coppy of that which was most imperfectly and surreptitiously printed before vnder the name of Religio medici. London 1643 (vgl. Die Religion eines Medici. Aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzet und nebst einen Vorbericht zum Druck befördert. Halberstadt 1731), doch nicht nach der englischen Originalausgabe, sondern nach der französischen Übersetzung La religion du medecin; c’est à dire: description necessaire par Thomas Brown touchant son opinion accordante avec le pur service divin d’Angleterre. s. l. 1668, die Nicolas Lefèvre († 1674) zugeschrieben wird und ihrerseits wohl auf der holländischen Übersetzung von Kenelm Digby (1603–1665) basiert (vgl. Religio medici; dat is noodwendige beschryvinge van Thomas Browne [...] aengaende sijn gesindtheyt, datse over een komt met de gesuyverde gods-dienst van Engelandt. Leyden 1665), 1746 erschien in Halberstadt eine Schrift De tranquillitate animi, praecipue ad longam vitam adjumento, die letzte Publikation Röpers ist ein Nachruf auf »Justine Louise Widelain, gebohrne Leßmann«, vgl. Der Asche die hier ruht bey diesem Leichen-Stein der Edlen Wiedlain soll die gewidmet seyn. Halberstadt 1751. Johann Andreas Röper: Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper. Nach Anleitung der Geschichte eines Nacht-Wanderers. Aus vernünftigen Gründen erläutert. Magdeburg, Leipzig 1748, § II, S. 13. Vgl. ebd., § II, S. 14. Vgl. ebd., § VI, S. 25. Vgl. ebd., § V, S. 22.
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Exkurs: Die ›therapia imaginaria‹ Mit dem Terminus ›therapia imaginaria‹ weist Röper zurück auf die von Christoph Süssenbach (fl. 1720–1731) in Halle unter Michael Alberti als Praeses 1721 verteidigte medizinische Dissertation De therapia imaginaria, von Menschen die aus Einbildung gesund werden,56 die vermutlich auch Nicolai im Sinn hat, wenn er darauf verweist, dass jener Grundsatz einer spezifischen Einwirkung der Seelenäußerungen auf den Körper bereits »gedacht« worden sei. Im Kontext der Gründe für Fehler in der praktischen Medizin benennt drei Jahre zuvor schon der Straßburger Medizinprofessor und Stahlianer Georg Philipp Nenter (fl. 1704–1723) die ›therapia imaginaria‹: »Theoria falsa cum Praxi nullam connexionem habens, sive Theoria imaginaria«.57 Diese ›therapia imaginaria‹ aber wird in den späten 1720er und in den 1730er Jahren im Zusammenhang mit den seit 1718 vermehrt in den südosteuropäischen Teilen Österreichs auftretenden Fällen von ›Vampirismus‹ aufgerufen. So empfehlen etwa die Vernünftigen und Christlichen Gedancken uber die Vampirs des Gandersheimer Theologen Johann Christoph Harenberg (1696–1774), die »phantastische Seuche« des Vampiraberglaubens, die durch die »verdorbene Einbildung die Gedancken selbst in Unordnung gerahten« lasse und sich so der Mensch »solche Sachen vorstellet, dergleichen weder würcklich zugegen sind, noch seyn können«, also auch »die Würgung und Absaugung des Bluhts bey den Serviern«, auszurotten, indem man die Zirkulation der »alte[n], und unter dem gemeinen Manne gebräuchliche[n] Erzehlung« eindämme, nach der die begrabenen Cörper, oder die Seelen derselben bey entstehenden Seuchen zurückkehren und andern durch Absaugung des Bluhts das Leben nehmen. So bald nun eine gleiche Seuche zum Vorschein kommt, daran die Leute geschwind sterben und ersticken, so erinnern sich die Leute der alten Legende von den Vampirs. […] Dem Gedächtnis fällt so fort die alte Historie bey von den Bluhtsaugern, und der übereilte Verstand, den man mit gründlicher Untersuchung des Ubels nicht bemühet, nimt lieber eine erdichtete Uhrsache der Kranckheit an, als daß er seine Unwissenheit gestehen will. Unsere tumme Mädgens schliessen nicht anders.58
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Vgl. ebd., § VI, S. 25. Vgl. Michael Alberti (Praeses), Christoph Süssenbach (Respondent): De therapia imaginaria, von Menschen die aus Einbildung gesund werden. Halle 1721, 21728, 31731; Süssenbach respondierte bereits 1720 in Leipzig unter Christian Michael Adolphi (1676–1753), vgl. Christian Michael Adolphi (Praeses), Christoph Süssenbach (Respondent): De motu ventriculi et intestinorum peristaltico. Leipzig 1720; die von Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 479 Johann Andreas Röper zugeschriebene Publikation »Therapia imaginaria. Halle 1789« ist bibliographisch nicht nachgewiesen und fußt wohl eher auf der genuinen These Koschorkes denn auf historischer Faktizität, vgl. dazu bereits Carsten Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß. Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns). In: Steigerwald, Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit (s. Anm. 44), S. 203–224, hier S. 213f. Georg Philipp Nenter: Fundamenta medicinae theoretico-practica. Straßburg 1718, S. 121. Johann Christoph Harenberg: Vernünftige und Christliche Gedancken uber die Vampirs oder Bluhtsaugende Todten, so unter den Türcken und auf den Gräntzen des Servien-Landes den lebenden Menschen und Viehe das Bluht aussaugen sollen, begleitet mit allerley theologischen, philosophischen und historischen aus dem Reiche der Geister hergeholten Anmerckungen. Wolfenbüttel 1733, §§ 29–31, S. 107–113.
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Doch bleibt trotz der scheinbar fortschrittlichen Ansichten, dass ›Krankheiten‹ durch die Einbildungskraft ausgelöst werden können – wenn die »tumme[n] Mädgens« etwa »der Alp drückt, welches eine beschwerliche Phantasey ist, die aus der Hemmung des Bluhts entstehet; so glauben sie so fort, daß ihnen ein dicker und schwerer Geist auf den Leibe liege, und ihnen ein lamento mache«59 –, bleibt für Harenberg das christlich-theologische Fundament gewahrt, denn »dergleichen Erwürgung und Bluhtsaugung« seien »weder der unmittelbahren Würckung GOttes, noch dem Satan, noch der Seele des Verstorbenen, noch dem begrabenen Leibe zuzuschreiben«,60 doch herrsche »der Satan […] in der Luft, so in den Säften des menschlichen Leibes sich befindet, und sucht uns durch die verdorbene Einbildungs-Kraft um das leibliche und geistliche Leben zu bringen«.61 Um die in Südosteuropa grassierende ›Seuche‹ einzudämmen, bedarf es aufgrund ihres ›satanischen‹ Ursprungs also einzig und allein eines Seelsorgers, der darauf bedacht ist, die ›verdorbene‹ Einbildungskraft mit den Mitteln der Kirche wieder in ihre Schranken zu lenken. Dem gegenüber verweist die 1732 anonym erschienene Curieuse und sehr wunderbare Relation, von denen sich neuer Dingen in Servien erzeigenden Blut-Saugern oder Vampyrs darauf, dass, wenn »die Ursache der Kranckheit eine Einbildung« sei, »die gantze Kranckheit selbst in einer Einbildung« bestehe – und so gibts Vernunfft, Kunst und Erfahrung, daß sie auch mit Einbildung muß curirt werden. […] Wie wäre es nun, wenn wir sagten, was wider die Vampyrs fürgenommen werde in Servien, seye eine kluge Invention eines geschickten Medici? wer weiß, ob man sich nicht nach dem Aberglauben der einfältigen Leute accommodirt, die angegebene Aussauger ausgräbt, und ihnen die Schaufel durch die Brust stößt, um durch diese Impression den Leuten die Furcht zu benehmen, und sie also von ihrer Kranckheit zu befreyen.62
3. Diagnose und Therapie Bleibt in Meiers wie auch in Nicolais und Unzers Schriften die Auseinandersetzung auf die ›Gemütsbewegungen‹ – hier ganz allgemein gesprochen – und deren Einfluss auf den Körper beschränkt, das heißt in diagnostischer Hinsicht relevant – und dies darf noch für die von Unzer 1750 publizierte Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt gelten, die eine »mitlere Wissenschaft« »zwischen der Weltweisheit und der Arzneiwissenschaft« zu etablieren sucht und Meier dediziert ist63 –, so öffnet Röper mit seinem Rekurs auf die ›therapia imaginaria‹ den Blick auf die therapeutische Dimension der von Meier entwickelten Theoretischen Lehre von den
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Vgl. ebd., § 31, S. 113. Vgl. ebd., § 20, S. 80. Ebd., § 28, S. 104f. Vgl. W. S. G. E.: Curieuse und sehr wunderbare Relation, von denen sich neuer Dingen in Servien erzeigenden BlutSaugern oder Vampyrs, aus authentischen Nachrichten mitgetheilet, und mit Historischen und Philosophischen Reflexionen begleitet. s. l. 1732, III. Versuch, § 4, S. 56–58, hier S. 57f. Vgl. Unzer: Philosophische Betrachtung des menschlichen Körpers überhaupt (s. Anm. 48), Vorrede, fol. )(5r sowie fol. )(2r–)(3v.
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Gemüthsbewegungen überhaupt, die in den nachfolgenden Jahren immer stärker die diagnostische überlagert. Bereits 1751 nämlich trat Ernst Anton Nicolai mit einer »[z]weyte[n] vermehrte[n] Auflage« seiner Abhandlung über die Wirckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Cörper an die Öffentlichkeit, die aber nicht nur »verbessert und stark vermehret, sondern auch völlig umgearbeitet« worden war.64 Nicolai rekurriert auch hier auf die durchaus bereits gängige Feststellung: Die Einbildungskraft kan Affecten erregen […]. Die Affecten verursachen Veränderungen in dem menschlichen Körper […]. Folglich kann auch die Einbildungskraft Veränderungen in dem menschlichen Körper verursachen.65
Was aber von Nicolai in diesem Kontext hervorgehoben wird, ist die Therapie: Gebt einem Menschen, der vor Traurigkeit melancholisch geworden, die besten Artzeneyen ein und laßt seine Leidenschaft ungestört, alles wird vergebens seyn. Führt ihn aber in angenehme Gesellschaften und macht ihm allerhand Ergötzlichkeiten, kurtz, sucht in ihm den entgegengesetzten Affect, das ist, die Freude zu erregen, so werdet ihr weit mehr ausrichten, und eben so verhält es sich auch in anderen Fällen.66
Doch vertieft Nicolai diesen Aspekt nicht weiter, sondern schließt eine Art Beispielsammlung an, die neben der »Erklärung einer Begebenheit, da eine Frau allemahl des Mittwochens um 6. Uhr des Abends starr und steif geworden und zur Erden todt niedergefallen ist«67 u. a. eine »Erklärung von der Entstehungsart der Rülpse und Blähungen« zu geben sucht.68 Im selben Jahr 1751 aber erscheint ebenfalls in Halle ein schmales Bändchen mit dem Titel Gedancken von psychologischen Curen. Deren Verfasser, der eingangs erwähnte Johann Christian Bolten, propagiert hier auf der Grundlage der bereits in der Dissertation De nexu metaphysices cum medicina generatim dargelegten Verbindung der Metaphysik mit der Medizin »Psychologische Curen« als »solche Seelencuren, die nach den Gesezzen der Natur der Seele eingerichtet sind«.69 Denn die »Metaphysick lehret uns, daß zwischen der Seele und ihrem Körper die allergenaueste Harmonie obwalte«.70 Diese »allergenaueste Harmonie« meint aber – hierin an Meier anschließend – eben keine prästabilierte Leib-Seele-Harmonie leibnizscher Provenienz. Wenn man voraussetze, so Meier wenige Jahre später in seiner Metaphysik, daß diese Welt die beste sey, so ist klar, daß zwischen jedweden menschlichen Seele und ihrem Körper die allergrößte, stärkste und mannigfaltigste Übereinstimmung angetroffen werde, als nur irgends in der Welt stat finden kan.71
Wirkt die Seele in den Körper, so sind folglich »alle natürliche Veränderungen des menschlichen Körpers harmonische Veränderungen«, wirkt der Körper in die Seele, so sind »alle natürli-
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Ernst Anton Nicolai: Gedancken von den Würckungen der Einbildungskraft in dem menschlichen Körper. Zweyte vermehrte Auflage. Halle 1751, Vorrede. Ebd., § 27, S. 49. Ebd., § 26, S. 47. Vgl. ebd., § 30, S. 54f. Vgl. ebd., § 33, S. 62–66. Johann Christian Bolten: Gedancken von psychologischen Curen. Halle 1751, § 30, S. 57. Ebd., § 8, S. 24. Meier: Metaphysik (s. Anm. 21), Bd. 3 (1757), § 757, S. 460.
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che Veränderungen der menschlichen Seele, harmonisch«.72 Ob Seele und Körper aber »durch einen physischen Einfluß in einander würken, oder durch die vorherbestimte Übereinstimmung, oder ob sie nur gelegentlich Ursachen von einander sind«, sei vor diesem Hintergrund irrelevant.73 Der »hinreichende Grund«, so argumentiert denn auch Bolten, einer Veränderung im Körper – als Krankheit – muss im Körper selbst wie auch in der Seele gesucht werden, ebenso ist bei einer »Kranckheit der Seele« der Grund hierfür in der Seele selbst wie im Körper zu suchen – der Körper wird bei einer Gemütskrankheit ebenso krank sein müssen, wie bei einem Gallenleiden die Seele es sein muss:74 Wer demnach psychologisch kuriren lernen will, muß sich um die Erlernung der Gesezze der Natur der Seele bekümmern.
Es reicht demzufolge nicht aus, gleich Röper »ohnfehlbahr« zu wissen und darzutun, »daß die Seele in den Körper würcke«,75 oder gleich Nicolai dieses ausschließlich mithilfe von Beispielen aus der Praxis darzulegen,76 auch muss die Betrachtung des menschlichen Körpers anders erfolgen als nach der Meinung jener »Secte derer Arzneigelehrten«, die von diesem »nicht anders philosophirt, als ein Uhrmacher von seiner Uhr« – hier haben die »Herren Stahlianer« Bolten zufolge, obwohl er sich jedweder Parteilichkeit enthalten will, Impulse gegeben, da sie »am allermeisten mit auf die Seele sehen, wenn sie Kranckheiten des Körpers curiren sollen«.77 Auch Johann Gottlob Krüger habe in seinen Schriften – Bolten denkt hier wohl neben dem zweiten und dritten Teil der Naturlehre an den Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit78 – gezeigt, »daß man zwar von dem menschlichen Körper mechanisch philosophiren, gleichwol aber auch die Seele dabei beständig mit zu rathe ziehen müsse«.79 Und wenn Krüger dem Wunsche »vieler Arzneigelehrte[r]« entsprechen und als vierten Teil der Naturlehre die »Therapie« veröffentlichen werde, so werde er, daran zweifelt Bolten nicht, »eben so sehr rathen […], bei Krankheiten des Körpers die Seele zugleich zu curiren zu suchen, als ob Er ein Stahlianer wäre« – »welches Er doch gewiß nicht« sei.80 Bolten grenzt in den Gedancken die unteren von den oberen Seelenvermögen ab, die oberen unterliegen eigenen Gesetzen und äußern sich nicht bzw. nur äußerst dezent in physischen Pro72 73 74 75 76
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Vgl. ebd., § 758, S. 461. Vgl. ebd., S. 462. Vgl. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 8, S. 24. Vgl. Röper: Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper (s. Anm. 51), § VI, S. 25. Dieser ›negative‹ Praxisbezug gelte für den Metaphysiker wie für den Mediziner, vgl. dazu Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 30, S. 58: »Mich deucht, ein Arzneigelehrter, der sich der Praxis ergiebt, und keine Metaphysick gelernet hat, sey nichts weiter, als eine lebendige Apothecke.« Vgl. ebd., § 54, S. 94. Vgl. Krüger: Naturlehre. Zweyter Theil (s. Anm. 10), Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. Dritter Theil, welcher die Pathologie, oder Lehre von den Krankheiten in sich fasset. Halle 1750, ders.: Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit. Halle 1745 (ND Tanja van Hoorn: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlob Krügers »Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit« [1745]. Hannover 2006). Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 54, S. 95. Ebd.
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zessen. Ein Zugang zu den »Gesezze[n]« der Seelenvermögen aber bietet die Logik bei dem oberen oder vernünftigen Erkenntnisvermögen, die praktische Philosophie bzw. Moral bei dem oberen Begehrungsvermögen. Der Austausch zwischen der Psychologie als ›Weltweisheit‹ und der Medizin bleibt so auf die Kenntnis um die unteren Seelenvermögen beschränkt. Zugang zu den Gesetzen des unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögens biete die von Meier in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften popularisierte Ästhetik,81 wohingegen der Zugang zu denen des unteren Begehrungsvermögens oder der »Gemüthsbewegungen« die von Meier in den Anfangsgründen, aber auch in der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen dargelegte ›Philosophische Pathologie‹ biete, die »Lehre von denen Affecten, deren ästhetischer Theil lehret, wie man die Gemüthsbewegungen erregen, unterdrücken, und in seiner Gewalt haben soll«.82 Auf dieser Grundlage sucht Bolten in den Gedancken eine Therapie zu entwickeln. So könne man etwa einen nach einem ›Tarantelbiss‹ an Melancholie Leidenden kurieren, wenn man ihm viele verschiedene Musikstücke vorspiele – eines werde ihm gefallen, er werde dazu tanzen, in Schweiß ausbrechen und, wenn man dieses mehrere Male wiederhole, so nach und nach das Gift aus seinem Körper spülen und genesen.83 Auch Hypochonder, mit denen die »Arzneiverständigen […] gar selten« fertig werden, könne man heilen, wenn man ihre Einbildungskraft beeinflusse, ja selbst Gallenleiden seien mit ›psychologischen Curen‹ zu therapieren.84
4. Der philosophische Arzt Eben solche ›psychologischen Kuren‹ greift ein 1764 in Berlin erschienenes gut hundert Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel Medizinische und moralische Abhandlung von den Leidenschaften auf. Im ersten Paragraphen derselben heißt es: »Nach dem Endzweck des großen Urhebers der Natur ist der Mensch zur Glükseeligkeit bestimmt. Er soll und kann seinen Zustand vollkommener machen«.85 81
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Auch wenn der erste Band der Aesthetica (s. Anm. 31) bereits 1750 erschien, machten Meiers Anfangsgründe die ›Ästhetik‹ Baumgartens einem breiten Publikum überhaupt erst bekannt, doch handelte es sich hierbei eher um ein Bild des ästhetischen Denkens von Baumgarten vor der Aesthetica. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 34, S. 62. Bereits Athanasius Kircher (1602–1680) weist im Magnes sive de arte magnetica opus tripartitum. Rom 1641 auf das rhythmische »Antidot« des Tanzes bis zur völligen Erschöpfung hin, das man bei einem Spinnenbiss – v. a. der Europäischen Schwarzen Witwe – als Therapie empfehle. Vgl. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 20–28, S. 41–56; hier werden bereits Therapien dargelegt, die noch heute angewendet werden: Ein Mann hatte furchtbare Angst vor Spinnen, geriet bei ihrem Anblick immer in eine »Art von Convulsionen«; man konfrontierte diesen Mann zunächst mit Teilen einer toten Spinne, die er unter dem Vergrößerungsglas betrachten und berühren sollte; nach und nach wurden ihm alle Teile einer Spinne vorgelegt (die einzelnen Beine, der Rumpf), der Mann berührte alle und man forderte ihn auf, die Teile zu einer Spinne zusammenzusetzen und diese dann zu berühren; dies gelang ihm bald, und nach einiger Zeit war er imstande, auch kleine lebendige Spinnen zu berühren, letztendlich sogar größere in die Hand zu nehmen (vgl. ebd., § 47, S. 81f.). Johann Friedrich Zückert: Medicinische und moralische Abhandlung von den Leidenschaften. Berlin 1764; hier zitiert nach ders.: Von den Leidenschaften. Zweyte sehr vermehrte und sehr verbesserte Auflage. Berlin 1768, § 1, S. 9.
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Hingegen habe man bisher noch keine eigentliche medicinische Abhandlung von den Leidenschaften in teutscher Sprache geschrieben, und was man davon in einigen pathologischen und diätetischen Schriften zerstreuet findet, betrift gröstentheils den Körper allein, fast als wenn die Seele nichts dabey thäte.86
Die »Hauptabsicht« der »gegenwärtigen Abhandlung« sei es denn auch, wie der Verfasser in seiner Vorrede darlegt, »eine diätetische Anweisung zu geben, wie man die Leidenschaften vernünftig zu seinem Nuzen« – eben jener Vervollkommnung – »brauchen, und den Schaden abwenden soll, der aus denselben entstehen kann«.87 Autor dieser Zeilen ist der – im Kontext der ›anthropologischen Wende‹ um die Mitte des 18. Jahrhunderts88 noch wenig beachtete – Mediziner Johann Friedrich Zückert.89 Zückert, 1737 in Berlin geboren, war bereits während seiner Schulzeit am Joachimsthalischen Gymnasium in der Königlichen Hofapotheke in Berlin tätig, seit 1756 besuchte er das Berliner Anatomische Theater, wo Johann Friedrich Meckel der Ältere (1724–1774) ihn zu medizinischen Studien anhielt, die Zückert an der Charité durch den Besuch der dortigen öffentlichen Vorlesungen vertiefte. 1758 immatrikulierte sich Zückert dann als Student der Medizin in Frankfurt an der Oder, wo er vor allem bei dem in Halle ausgebildeten Mediziner Johann Friedrich Cartheuser (1704–1777)90 hörte und 1760 mit einer Dissertation De morbis ex alieno situ partium thoracis promoviert wurde. Nach einer ›Studienreise‹ durch Deutschland kehrte er Ende 1761 nach Berlin zurück, wo er Mitglied des ›Obercollegium medico-chirurgicum‹ an der Charité wurde. Aufgrund seines schwachen Gesundheitszustandes91 musste er aber bald seine praktischen Tätigkeit 86 87 88
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Ebd., Vorrede, S. 6. Vgl. ebd., S. 6f. Vgl. dazu Gideon Stiening: Ein »Sistem« für den »ganzen Menschen«. Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.): Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag. Berlin 2004, S. 113–139. Vgl. zu Zückert seine Autobiographie in Biographien jetztlebender Ärzte und Naturforscher in und ausser Deutschland. Hg. von Ernst Gottfried Baldinger. Bd. 1, 4. Stück. Jena 1772, S. 129–142, ebenso Kurze Lebensgeschichte des Herrn D. Zückert zu Berlin. In: Schriften der Berlinischen Gesellschaft naturforschender Freunde, Bd. 1 (1780), S. 395–408; zu Zückert im medizinischen Kontext vgl. v. a. Jürgen Peter Heck: Die Leidenschaften als ärztliches Problem im Aufklärungszeitalter. München 1962, S. 42–56; im philologischen Kontext Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung [1988]. In: ders.: Konzepte aufgeklärter Lebensführung: Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 301–329, hier S. 313–315; Jutta Heinz: Erzählen statt Klassifizieren. Wezels Theorie der Empfindungen in seinem ›Versuch über die Kenntniß des Menschen‹ im Kontext zeitgenössischer Affektenlehren. In: Johann Karl Wezel (1747–1819). Hg. von Alexander Kosenina u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1997, S. 237– 257, hier S. 242–244. Auch psychopathologische Studien, vgl. Sigmund Kornfeld: Geschichte der Psychiatrie. In: Handbuch der Geschichte der Medizin. Hg. von Max Neuburger u. Julius Pagel. 3 Bde. Jena 1902–1905, Bd. 3, S. 601– 728, hier S. 614f. In diesem Kontext ist es interessant, dass gerade seine schwache Körperkonstitution der Grund für Zückerts medizinische Laufbahn war. In seiner Autobiographie heißt es hierzu: »Hätte ich einen ordentlich gebauten Körper gehabt, so wäre ich der Theologie gewidmet worden. Da […] man leicht einsahe, daß ich auf der Kanzel eine schlechte Figur machen würde; so ward ich dem Aesculap geheiliget. Damals dachte man daran wohl nicht, daß mein schwächlicher Körper zu den fatigantzen Geschäften eines practicirenden Arztes nicht tauge« (Biographien jetztlebender Ärzte und Naturforscher [s. Anm. 89], S. 134f.).
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aufgeben; er zog sich ins Privatleben zurück und widmete sich schriftstellerischen Arbeiten – neben Werken wie der Naturgeschichte und Bergwercksverfassung des Ober-Hartzes (1762) und der Naturgeschichte einiger Provinzen des Unterharzes (1763) entstanden vor allem diätetische und hygienische Schriften wie der Unterricht für rechtschaffene Eltern, zur diätetischen Pflege ihrer Säuglinge (Berlin 1764), die Systematische Beschreibung aller Gesundbrunnen und Bäder Teutschlands (Berlin, Leipzig 1768) oder das Medicinische Tischbuch der Kur und Präservation der Krankheiten durch diätetische Mittel (Berlin 1771).92 Macht die in dem einleitenden Paragraphen der Abhandlung Von den Leidenschaften in Frage stehende menschliche Glückseligkeit den ›moralischen‹ Aspekt der Schrift Zückerts aus, so äußert sich der ›medizinische‹ Aspekt hingegen darin, dass allzu heftige Leidenschaften »würklich als eine Krankheit der Seele anzusehen« sind, die darüber hinaus geeignet sind, den »Zustand unsers Körpers [zu] verändern«.93 Die Leidenschaften als Teil der Erkenntniskräfte unterscheidet Zückert in »vernünftige, geistige Leidenschaften«, die durch deutliche Vorstellungen der Seele hervorgebracht werden, und »sinnliche Leidenschaften«, die aus durch die Sinne erregten »dunkeln und confusen Vorstellungen« entstehen.94 Da »Seele und Körper […] durch das System der Nerven in einer unzertrennlichen Verbindung« stehen,95 haben »[a]lle Leidenschaften […] das mit einander gemein, daß sie den Zustand unsers Körpers verändern« können.96 Während aber die vernünftigen Leidenschaften einen kaum merklichen Einfluss auf den Körper ausüben,97 da bei ihnen der »Verstand am meisten beschäftiget« ist, »stehet der Verstand« bei den sinnlichen Leidenschaften »mehr oder weniger unter der Herrschaft der Sinne«,98 wird die Vernunft »mehr oder weniger betäubet«,99 folglich die oberen Erkenntnisvermögenskräfte – und auch der Wille – unterdrückt – der Mensch ist auf seine unfreie Animalität reduziert. Zwischen Affekten oder Gemütsbewegungen und Leidenschaften oder Passionen unterscheidet Zückert nicht. Bei den Gemütsbewegungen wirke die »Seele fast allein«, während jeder »ausbrechende Affect« eine Leidenschaft sei, die »nie ohne merkliche Veränderungen der Seele und des Körpers« einhergehe.100 Denn da »Seele und Körper […] durch das System der Nerven in einer unzertrennlichen Verbindung« stehen, können beide »wechselseitig die Ursache und Würkung der in ihnen vorgehenden Veränderungen seyn«.101 Und damit haben »[a]lle Leiden-
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Zückert wagte sich aber auch, noch bevor dieser überhaupt abgeschlossen war, an eine Übersetzung von Laurence Sternes Tristram Shandy (Das Leben und die Meynungen des Herrn Tristram Shandy. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Friedrich Zückert]. 9 in 1 Bd. Berlin, Stralsund 1763–1767); von der Kritik zerrissen, verbesserte der Verleger Gottlieb August Lange († 1796) selbst zwischen 1767 und 1771 die Übersetzung, letztendlich wurde sie aber von der 1774 von Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) vorgelegten Übersetzung verdrängt (Tristram Schandis Leben und Meynungen. Übersetzt von Johann Joachim Christoph Bode. Hamburg 1774). Vgl. Zückert: Von den Leidenschaften (s. Anm. 85), Vorrede, S. 7. Vgl. ebd., § 4, S. 14. Vgl. ebd., § 6, S. 16. Vgl. ebd., § 8, S. 21. Vgl. ebd., § 5, S. 16. Vgl. ebd., § 4, S. 14. Vgl. ebd., § 6, S. 18. Vgl. ebd., § 4, S. 15. Vgl. ebd., § 6, S. 16.
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schaften […] das mit einander gemein, daß sie den Zustand unsers Körpers verändern«.102 Auch wenn Zückert keine auf deutlichen Begriffen und gründlichen Beweisen basierende ›Gesetze‹ der Wechselwirkung zwischen Seele und Körper vorlegt, keine systematische Abhandlung über den Einfluss der Leidenschaften auf den Körper, so verteidigt er sich resümierend damit, dass derjenige, der »aber mehrere philosophische Erläuterungen von der Natur der Leidenschaften haben will, den kann des Herrn Professor Meiers theoretische Lehre von den Gemüthbewegungen hinlänglich befriedigen«.103 Anders als Bolten sucht Zückerts aber keine Therapie zu entwickeln, seine Überlegungen zum Einfluss der Seele auf den Körper und umgekehrt sind vorwiegend präventiv ausgerichtet.104 Was Bolten und Zückert aber gemein ist, ist die Polemik gegenüber einer rigiden ›Moral‹. Bereits Nicolai hatte dies angemahnt, als er davon sprach, dass es ein »Vorurtheil« sei, die Affekte und Leidenschaften »ohne Unterschied« als »der Gesundheit nachtheilig« anzusehen.105 Zückert will »beyde Theile (Körper und Seele), welche das Wesen des Menschen ausmachen« beständig im Auge behalten, womit er die »moralischen und medicinischen Betrachtungen« eng aneinander bindet. Ein Beispiel hierfür ist Zückerts Legitimation der körperlichen Lust. Zwar habe »die Religion, Vernunft, und Mäßigkeit ihr die Schranken [zu] sezen«, doch sei »[n]ichts schädlicher, als eine ungestillte oder unbefriedigte Sehnsucht zur fleischlichen Lust« – denn diese sei – im vorgegebenen Rahmen – »unserer Gesundheit sehr ersprießlich«, da sie »nachdrücklichere Würkungen auf unsern Körper« habe.106 Man müsse, so Zückert, nicht nur feststellen, dass in »unendlich vielen Büchern […] fast bis zum Ekel« über die Leidenschaften »moralisiret« worden sei, sondern sich wirklich wundern, dass es Menschen gegeben habe und immer noch gebe, die alle sinnlichen Vergnügen tadelten und sich in finstere Einöden zurückzögen, wo »nichts als Unfruchtbarkeit und Schrecken des Todes« herrsche. Ein solcher Mensch habe »entweder einen falschen Begriff von der Welt und der Menschen Bestimmung in derselben«, oder es seien »Leute, die vormals ihre Kräfte den Lastern aufgeopfert hatten, und endlich in dem sclavischen Dienste der Lüste Invaliden geworden« seien. Von einem Extrem ins andere fallend, entzögen sich diese nunmehr »aller menschlichen Gesellschaft, verstekten sich in Klöstern [und] einsamen Hütten, w[ü]rden übertrieben fromm« – »[s]o werden Betschwestern aus Buhlschwestern«.107 Auch Bolten geht mit solcherart ›Moralisten‹ streng ins Gericht. Die Polemiken gegen die – vor allem pietistischen – »Prediger« etwa, die »die Kunst am besten verstehen sollten, die Seelen der Kranken zu heilen, und deren Beruf es eigentlich erfodert, diese Verrichtung über sich zu nehmen«, seien größtenteils nicht in der Lage, diesem Anspruch gerecht zu werden – stattdessen verlören sie sich am Krankenbette in Floskel- und Formelhaftigkeiten,108 ihr Auftritt »mit
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Vgl. ebd., § 8, S. 21. Ebd., Vorrede, S. 8; Hvhg. im Original. Vgl. dazu auch Thierry Gérald Brunschwig: Ärztliche Ernährungsvorschriften im 18. Jahrhundert am Beispiel von Johann Friedrich Zückerts ›Medicinischem Tischbuch‹. Dietikon 2002 (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen 294). Vgl. Nicolai: Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit (s. Anm. 41), § 21, S. 38. Vgl. Zückert: Von den Leidenschaften (s. Anm. 85), § 38, S. 76–78. Vgl. ebd., § 15, S. 32f. Vgl. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), fol. A7v.
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Verdammen und der Erinnerung an die Höllenstrafen«109 sei den Kranken alles andere als hilfreich und der Genesung alles andere als förderlich. Aber gerade »eine Wissenschaft, wie die Ästhetik«, die geeignet sei, sowohl die Grundlagen zur Abfassung einer »Anakreontische[n] Ode«, als auch zum Kurieren von »Gemüthskrankheiten« zu schaffen, würde vielleicht manchen Geistlichen viel zu fleischlich und zu weltlich scheinen, als daß er sie nur in seiner Bibliotheck leiden sollte, vielweniger sich zu bemühen in Ausübung derselben eine Fertigkeit zu erhalten.110
Man brauche aber nur ein Beispiel zu betrachten, wie wenig Kenntnis Geistliche von der »Natur der Einbildungskraft« hätten: Ein Geistlicher sei zu einem Hypochonder gerufen worden, der sich einbildete, immer, wenn er etwas Schwarzes sehe, den Teufel zu erblicken. Dieser Geistliche aber weigerte sich – da es doch wohl selbstverständlich zu seinem Wesen gehöre – den schwarzen Priesterrock beim Besuch abzulegen; den Ausgang kann man sich ausmalen: Der Patient schrie »unaufhörlich […], man sollte ihn von diesem ungeheuren Teufel befreien«.111 Aber auch die ›Arzneigelehrten‹ werden an den Pranger gestellt: Die meisten Ärzte nämlich – vor allem, wenn sie lange Erfahrung mitbringen – »gewöhnen sich so finstre Gesichter an«, dass einem »Patient[en], der einen solchen hocherfarnen Mann das erste Mahl siehet, […] die magischen Bilder eines Bleigiessers oder Blasenstechers in die Gedancken kommen« müsse.112 Mehr noch, wie ein Beispiel zeige: Ein Arzneigelehrter hatte die »besondre Gabe […], denen unter seine Hände gerathenen Patienten mit frölichem Angesichte und aufgeklärter heiterer Stirne die Todespost anzukündigen« – auch die Wirkung dieser ›Behandlung‹ lässt sich leicht ausmalen.113 Die in Boltens Schrift von 1749 virulente Forderung nach einer Verschränkung der Philosophie, und insbesondere ihrer Teilgebiete Logik, Ästhetik und der Affektenlehre als praktischer Philosophie mit der Medizin auf der Grundlage der Schriften Baumgartens, Georg Friedrich Meiers und Christian Wolffs eröffnet ein Spektrum, das spätestens mit Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) an Gewicht gewinnt und mit Melchior Adam Weikards (1742–1803)114 zwischen 1773 und 1775 publizierter Zeitschrift Der philosophische Arzt einen Namen erhält: Der ›philosophische Arzt‹ ist ›geboren‹. Damit wird jedoch erkennbar, dass diese Entwicklung der Medizin nicht allein den empiristischen Wissenschaftstendenzen des Zeitalters geschuldet war, sondern ebenso als Produkte anderer Paradigmata zu werten sind. Aufstieg und Fall des ›philosophischen Arztes‹ lässt sich nicht gegen den Rationalismus verrechnen.
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Ebd., § 18, S. 38. Vgl. ebd., fol. A7v. Vgl. ebd., § 39, S. 70. Vgl. ebd., fol. A6r– A6v. Vgl. ebd., § 17, S. 36. Vgl. Melchior Adam Weikard: Der philosophische Arzt. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1773–1775; zu Weikard vgl. bereits zeitgenössisch Nikolaus K. Molitor: Melchior Adam Weikard, der Empyriker. Mainz 1791, ebenso u. a. Markwart Michler: Melchior Adam Weikard (1742–1803) und sein Weg in den Brownianismus. Medizin zwischen Aufklärung und Romantik. Eine medizinhistorische Biographie. Leipzig 1995.
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Die Aufgaben- und Tätigkeitsbereich des ›Philosophischen Arztes‹ hatte Platner in seiner Anthropologie definiert, denn man könne die »Theile und Geschäffte der Maschine« allein betrachten, dann treibe man Anatomie und Physiologie, man könne ebenso die »Kräfte und Eigenschaften der Seele« allein betrachten, das wäre dann Psychologie, »oder, welches einerley ist, Logik, Ästhetik und ein großer Theil der Moralphilosophie«, oder man könne »[e]ndlich […] Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne«.115 Michael Hißmann charakterisiert einige Jahre später den ›philosophischen Arzt‹ in seinen popularphilosophischen Briefen über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser (1778) unter Bezug auf Weikard wie folgt: Lieben Sie einen philosophischen Schriftsteller, – der Wahrheiten vorträgt, die kein Arzt ohne Philosophie, und ohne reife Kenntnisse in der Arzneykunde, kein Philosoph bestimmt, klar und überredend vorzutragen im Stande ist; – der seinen Weg gerade fortgeht, untersucht, widerlegt, muthmaßt, und den Menschen nach seinen physikalischmoralischen Gebrechen und Vorzügen psychologisch zergleidert; der durch Studium und Erfahrung dreist und neu in seinen Untersuchungen; deutlich, lebhaft und einnehmend im Vortrage ist: – so machen Sie sich mit dem Verfasser des philosophischen Arztes bekannt.116
5. Ausblick Dass das Projekt des ›philosophischen Arztes‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber auch teils seltsame Blüten trieb und spätestens mit Immanuel Kants Transzendentalphilosophie in eine Sackgasse gelangt zu sein scheint, mag ein prominentes Beispiel verdeutlichen. Als Herbert Eulenberg im September 1929 im Feuilleton der Wiener Neuen Freien Presse einen Beitrag zu Moses Mendelssohns 200jährigem Geburtstag veröffentlichte, kam er nicht umhin darauf hinzuweisen, dass dessen »schlimmste[s] Erlebnis« »in dem Auf und Ab seiner irdischen Pilgerfahrt« der »Zusammenstoß« mit Johann Kaspar Lavater gewesen sei, eine seelische Begebenheit, die den ohnedies zarten Mann derart schwer erschütterte, daß ihn danach eine schwer angreifende Nervenkrankheit befiel, derzufolge er sich sieben Jahre lang jeder anstrengenden Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten enthalten mußte.117
Es sei dahingestellt, ob es tatsächlich die Auseinandersetzung mit Lavater über den Beweis des Christentums war, die Mendelssohns Krankheit verursachte, ob der Spinozismusstreit mit Friedrich Heinrich Jacobi,118 ob die von Mendelssohn selbst, aber auch von Friedrich Nicolai 115 116 117 118
Vgl. Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Leipzig 1772 [ND Hildesheim 1998], Vorrede, S. XV–XVII. Michael Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778, S. 143f. Herbert Eulenberg: Felix Mendelssohn (Zu seinem 200. Geburtstag). In: Neue Freie Presse, 4. Sept. 1929, ›Morgenblatt‹, S. 1–3, hier S. 1. So implizit Johann Jakob Engel in der Vorrede zu Moses Mendelssohn: An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza. Berlin 1786, S. III–XII (Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 3,2 [Schriften zur Philosophie und Ästhetik]. Stuttgart 1974, S. 179–181).
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favorisierte geistige Überanstrengung, oder doch eher eine andere, wie Johann Georg Hamann am 7. Juni 1773 an Nicolai schrieb: »Kindermachen erschöpft die animalische Haushaltung mehr als Predigen und Bücherschreiben«.119 Als Mendelssohn im Januar 1786 starb, gab sein behandelnder Arzt Marcus Herz als Todesursache schlicht »Schlagfluß aus Schwäche« an.120 Im Oktober desselben Jahres nahm sich Kant in seiner Rektoratsrede De medicina corporis, quae philosophorum est121 des Toten bzw. der Todesursache an. Mendelssohn sei keineswegs an Überanstrengung gestorben, übertriebenes Fasten, »dauernde[r] Hunger«122 habe zu der letztendlich todesursächlichen Schwäche geführt. In den Fokus rückt Kant damit explizit die zeitgenössische Diätetik, wie sie auch den Therapiemaßnahmen des Mendelssohn seit 1771 behandelnden Arztes Marcus Elieser Bloch (1723–1799) eignete: Der Philosoph musste auf Tabak, Kaffee, Gewürze, Fleisch verzichten; hinzu kamen kalte Umschläge und Fußbäder, Aderlässe, Klistiere und abführende Mittel – letztere empfahl übrigens auch der sich als ›philosophischer Arzt‹ begreifende Herz123 nach seiner späten Konsultation.124 Bereits 1771, noch Student am Berliner Collegium medico-chirurgicum, hatte Herz Kant gegenüber die Mendelssohn von Bloch und dem ebenfalls hinzugezogenen ›Königlich-Großbritannischen Hofrat und Leibarzt‹ in Hannover Johann Georg Zimmermann (1728–1795) verordneten diätetischen Maßregeln befürwortet, da sie sowohl auf den Körper als auch auf die Seele Einfluss nähmen.125 Kant selbst bat Herz im Frühjahr 1781, Mendelssohn »eine diätetische Beobachtung mitzutheilen«, die er an sich »selbst gemacht« habe und aufgrund der Ähnlichkeit der Studien und zum Theil daraus entsprungenen schwächlichen Gesundheit vielleicht dazu dienen könnte der gelehrten Welt einen so vortreflichen Mann wieder zu geben.
Er habe nämlich festgestellt, dass »Nachmittags und vornemlich Abends« sich Lektüre und Studium mit »[s]einer Gesundheit gar nicht vereinigen lasse«, nach einer ruhigen Nacht« aber sei sie »des Morgens selbst bis zur Ermüdung« nicht nur möglich, »[s]eine Gesundheit« habe dar119
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Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. von Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1955–1979, Bd. 3, Nr. 389, S. 49; vgl. auch Robert Jütte: Moses Mendelssohn und seine Ärzte. In: Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hg. von Marion Kaplan u. Beate Meyer. Göttingen 2005, S. 157–176, hier S. 175f. Geschichte seiner [Mendelssohns] letzten Krankheit und seines Todes. In: Mendelssohn: An die Freunde Lessings (s. Anm. 118), S. XII–XXII (Mendelssohn: Gesammelte Schriften [s. Anm. 118], S. 181–184, hier S. 184); vgl. zu Herz’ Bericht auch Jan-Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Baruch Spinoza als diskursive Grenzfigur des Jüdischen und Nichtjüdischen in den Texten der Haskala von Moses Mendelssohn bis Salomon Rubin und in frühen zionistischen Zeugnissen. Berlin 2012, S. 303–309. Immanuel Kant: De Medicina Corporis, quae Philosophorum est, AA XV, S. 939–951; vgl. Reinhard Brandt: Immanuel Kant: Über die Heilung des Körpers, soweit sie Sache der Philosophen ist‹. Und: Woran starb Moses Mendelssohn? In: Kant-Studien 90 (1999), S. 354–366. Ebd., S. 360. Vgl. u. a. Martin. L. Davies: »Der philosophische Arzt« – Das gespannte Verhältnis zwischen Philosophie und Medizin zur Zeit der Aufklärung am Beispiel von Marcus Herz. In: Hallesche medizinhistorische Hefte 2 (1992), S. 4–27; ders.: Identity Or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit, MI 1995, pp. 72– 144; vgl. auch ders.: Nachwort. In: Marcus Herz: Philosophisch-medizinische Aufsätze. Hg. von Martin. L. Davies. St. Ingbert 1997, S. 102–110. Vgl. Marcus Elieser Bloch: Medicinische Bemerkungen nebst einer Abhandlung vom Pyrmonter-Augenbrunnen. Berlin 1774, S. 66f.; zu Bloch, Herz und deren Therapiemaßnahmen vgl. Jütte: Moses Mendelssohn und seine Ärzte (s. Anm. 119), S. 163–173.
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über »merklich zugenommen, »denn die Zerstreuung der übrigen Tageszeit macht alle Angriffe auf die Lebenskraft wiederum gut«.126 Ob Herz die »diätetische Beobachtung« Kants an Mendelssohn weitergab bzw. inwieweit dieser sie sich zu Herzen nahm, sei dahingestellt. Gleichwohl spricht auch Herz gleich Kant von einer »Lampe«, die »verlosch, weil es ihr an Öl gebrach«, und nur Mendelssohns »Weisheit, Selbstbeherrschung, Mäßigkeit und Seelenruhe« habe überhaupt die »Flamme 57 Jahre brennend erhalten«127 – Kant äußert sich freilich weitaus unpathetischer: Hierher gehört auch eine allzu starke, gewissermaßen Maßlosigkeit in der Enthaltsamkeit nur wegen einiger Unbequemlichkeiten, die den vollen Magen zu begleiten pflegen, so daß bei dauerndem Hunger und mit dem Naturinstinkt in Konflikt liegend, ein Prasser nur in Meditationen einer harten Forschung, schließlich wie eine Laterne, die kein Öl mehr erhält, unter Entbehrung dessen, was seiner Natur notwendig zukommt, endlich aufzugeben gezwungen ist.128
Herz selbst scheint seine Therapie, die Kant hier implizit durchaus als todesursächlich benennt, in einem nur kurze Zeit nach Mendelssohns Tod verfassten Brief an Kant rechtfertigen zu wollen: Er »liebe das Umherwandeln in den Gränzörtern der beyden Länder, der Philosophie und der Medizin, und habe [s]eine Freude daran, wenn [er] da Vorschläge und Einrichtungen zu Gemeinregirungen entwerfen« könne.129 So also versteht Herz einen ›philosophischen Arzt‹. Dem aber sucht Kant in eben jener Rede von 1786 Einhalt zu gebieten. Die Aufgabe des Arztes nämlich beziehe sich unmittelbar auf den Körper, nie auf die Seele, es sei denn mittels des Körpers und dessen Pflege. Wenn der Arzt dem Körper zu helfen sucht durch die Kraft des Gemüts, dann übernimmt er die Rolle des Philosophen.130
»Damit wir«, so Kant weiter,
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Herz an Kant, 9. Juli 1771 (AA X, S. 126). Kant an Herz, 11. Mai 1781 (AA X, S. 270). Vgl. Geschichte seiner [Mendelssohns] letzten Krankheit und seines Todes (s. Anm. 118), S. XXIf. (Mendelssohn: Gesammelte Schriften [s. Anm. 118], S. 184). Brandt: Immanuel Kant: Über die Heilung des Körpers (s. Anm. 121), S. 360; Herzens ›Abneigung‹ gegen ›empirische‹ Arzneimittel bzw. sein Beharren auf die auch an Mendelssohn ›erprobten‹ Therapiemaßnahmen zeigen sich beispielhaft in seinem Brief an Kant vom 25. November 1785: Dieser hatte ihn zuvor gebeten (vgl. AA X, S. 425f.), für den an Flechte erkrankten Königsberger Kriegs- und Domänenrat Christoph Friedrich Heilsberg (1726–1807) bei dem »Berlinischen Kuhdoktor Kunath« eine »hinlängliche Dosis« eines »Qvaksalbermittel[s]« zu besorgen, das Herz in seinen Briefen an Ärzte als die Flechtenerkrankung heilend beschrieben hatte (vgl. Briefe an Ärzte. Zweyte Sammlung. Berlin 1784, S. 121–128 [4. Brief, III]) – Herz antwortete, dass, »bevor er zu den empirischen Mitteln« greife, der Patient »wenigstens drey Wochen lang« »8 Tage hinter einander alle Morgen« das gegen Tollwut verschriebene, aber auch teils stark abführende bzw. Krämpfe im Magen-Darm-Trakt lindernde ›Belladonna-Pulver‹ zu sich nehmen solle, sich am »neunten Tag« mit »Glaubersalz purgir[en]« lasse, um wieder acht Tage Belladonna zu sich zu nehmen, und des Weiteren auf »alle zahe, fettige und scharfe Speisen« verzichten und sich »so viel als möglich an vegetabilische Nahrung« halten solle (vgl. AA X, S. 427). Heilsberg stimmte übrigens, wie Kant am 2. Dezember 1785 Herz mitteilte, der Behandlung widerspruchslos zu, Kant selbst – so lässt sich der Brief zumindest lesen – auch (vgl. AA X, S. 429). Herz an Kant, 27. Febr. 1886 (AA X, S. 431). Brandt: Immanuel Kant: Über die Heilung des Körpers (s. Anm. 121), S. 364.
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besser zu unserem Ziele gelangen, ist nach meiner Meinung besonders darauf zu achten, daß Ärzte oder Philosophen nicht auf einem Wege, der der Natur der Dinge vollkommen widerspricht, vorangehen und dabei die Grenzmauern ihres eigentlichen Berufs überspringen und sie, gleichsam von Vielgeschäftigkeit hingerissen, der Philosoph den Arzt und der Arzt den Philosophen, spielen zu wollen scheint. Die Grenzen aber sind jedem der beiden zweifellos so aufgestellt, daß es dem Arzt zukommt, dem kranken Geist Hilfe zu bringen durch Mittel, die auf den Körper angewendet werden, dem Philosophen jedoch dem kranken Körper durch Beeinflussung des Geistes zu helfen.131
Das bereits von Bolten geforderte Ineinandergreifen von Medizin und Psychologie – als Teil der Metaphysik132 – bedeutet für Kant also keine Auflösung der Disziplinen, einem »Umherwandeln in den Gränzörtern der beyden Länder«, wie Herz es nennt, sondern eine genuine anthropologische Kenntnis. Denn die »Leitung des Geistes ist nicht eigentlich Aufgabe der Mediziner zu nennen, sondern der Philosophen oder, wenn man lieber will, der Mediziner nicht als solcher, sondern als philosophischer«.133 Das Verdienst um die Etablierung eben dieses ›philosophischen Mediziners‹ aber kommt Meier zu, dessen Ästhetik laut Bolten die »Gesezze und Regeln der untern oder sinnlichen Erkenntniskräfte genauer und weitläuftiger anführen und erklären [könne], als es in der Psychologie geschehen kann«,134 und damit die »Anweisung« gebe, »wie [man] die Einbildungen erregen und unterdrucken« könne.135 Wie verdient habe sich Meier »um die Arzneigelarheit« gemacht, da Er eine Wissenschaft ausgearbeitet [habe], welche für einen Arzneiverständigen von so unendlichen Nuzzen ist. Gewis Er verdienet, weil Er uns ein so grosses Mittel an die Hand gegeben, in unsern Curen glücklich zu seyn, den grösten Danck von der ganzen medicinischen Schule.136
Um seinem Optimismus Ausdruck zu verleihen, greift Bolten den Topos der ›unordentlichen Gedanken‹ bei Schwangeren auf. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hält sich die vor allem von Paracelsus (1493–1541) in der Philosophia magna, tractus aliquot (Köln 1567) inaugurierte Lehre, dass »unordentliche und ausschweifende Einbildungen Misgeburten«, ›Muttermale‹ und Fehlgeburten hervorbringen können, sich also das, was sich eine schwangeren Frau einbilde oder von dem sie phantasiere, auf die Leibesfrucht auswirke.137 Da dies »nicht nur aus der Erfahrung, 131 132
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Ebd., S. 360. Vgl. Unzer, Bolten: De nexu (s. Anm. 5), § XXII, S. 14: »Scientia praedicatorum animae generalium dicitur Psychologia. Hinc psychologia vtilis est atque in nexu arctiore cum medicina, ita quidem vt absque solida psychologiae cogmitione, nulla modo medicus fieri possis rationalis« sowie § XXIV, S. 15: »Complexus ontologiae, cosmologiae, psychologiae & theologiae naturalis, constituit metaphysicam: Hinc metaphysica, innumeris modis connectitur […] cum medicina […] ad eandemque est vtilis seque ac necessaris.« Brandt: Immanuel Kant: Über die Heilung des Körpers (s. Anm. 121), S. 363. Vgl. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 32, S. 59f. Vgl. ebd., § 38, S. 69. Ebd., § 32, S. 60. Vgl. ebd., § 38, S. 69; vgl. dazu auch Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Würckungen der Natur. Halle 1723, 21725, § 448 (mit Verweis auf Nicolas Malebranche: De la recherche de la vérité, où l’on traitte de la nature de l’esprit de l’homme et de l’usage qu’il en doit faire pour éviter l’erreur dans les sciences [1674/75], liv. 2, chap. 7, vgl. Von der Wahrheit oder von der Natur des menschlichen Geistes und dem Gebrauch seiner Fähigkeiten um Irthümer in Wissenschaften zu vermeiden. 3 Bde. Halle 1776–1778, Bd. 1, S. 226–250), ebenso Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Venus physique. Paris 1745, 1. partie, chap. XV: Des accidens causés par l’imagination des Meres, p. 83–90, Ernst Anton Nicolai: Gedancken von der Erzeugung der Misgeburthen und Mondkälber. Halle 1749, §§ 25–27, S. 64–74, Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-
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sondern auch aus der Vernunft und Anatomie erw[ie]sen« sei,138 lasse sich das »Gegentheil«, also die vollkommene Ausbildung der Leibesfrucht, erreichen, wenn man nur »geschickt genug« sei, »die Einbildungskraft in ihren Schranken zu erhalten«.139 Wenn also die Ästhetik »Anweisungen« geben kann, »wie wir die Einbildungskraft erregen und unterdrücken können«,140 so hat der philosophische Arzt ein Mittel gegen pränatale Missbildungen in der Hand, denn: »Kein Pulver, keine Pillen können Misgeburten verhüten, aber die Ästhetik zeigt uns, wie man sie verhüten könne«.141 Hätte Marcus Herz sich, statt »in den Gränzörtern der beyden Länder« umherzuwandeln mit dem »grosse[n] Mittel«, das Meier den Medizinern »an die Hand gegeben« hatte, vertraut gemacht, hätte er statt Glaubersalz, Belladonna, Klistieren, Aderlässen und strenger Diät zur Therapie Mendelssohn einer ›psychologischen Cur‹ unterzogen (was ja auch Kant empfahl) – vielleicht wäre dessen »Flamme« nicht schon nach 56 Jahren erloschen.
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Seelenlehre. Halle 1756, §§ 38–40, S. 156–165, Carl Christian Krause: Abhandlung von den Muttermälern, in welcher die Wirkung, und der Einfluß der Einbildungskraft der Mutter auf ihre Leibesfrucht, wider die Zweifel und Einwürfe der Gegner gerettet, und, so viel thunlich, erkläret wird. Nebst einer andern Abhandlung, welche die gegenseitige Meynung behauptet [Johann George Röderer: Abhandlung von den Muttermälern]. Aus dem Lateinischen übersetzt von Christian August Wichmann. Leipzig 1758; vgl. dazu Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 84–112. So Nicolai: Gedancken von der Erzeugung der Misgeburthen und Mondkälber (s. Anm. 137), § 26, S. 69, was Bolten vorauszusetzen scheint. Vgl. Bolten: Gedancken von psychologischen Curen (s. Anm. 69), § 38, S. 69. Vgl. ebd. Ebd., S. 70.
IV. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
NELE SCHNEIDEREIT
Unwissenheit, Irrtum und Zweifel in Georg Friedrich Meiers Moralphilosophie
Georg Friedrich Meiers Moralphilosophie liegt in zwei großen Werken vor: der fünfbändigen Sittenlehre, erschienen von 1753 bis 1761 sowie der 700 Seiten starken Allgemeinen practischen Weltweisheit von 1764 – ein durchaus beträchtlicher Umfang, der auf die Bedeutung der praktischen Philosophie für Meier hinweist. Meier gilt in vielerlei Hinsicht zu Recht als reproduktiver Autor, der vor allem in den Systemen Christian Wolffs und dessen eigenständigsten Schülers Alexander Gottlieb Baumgarten verbleibt. Wirft man einen Blick auf die Referenztexte von Meiers Moralphilosophie, so bestätigt sich diese Sicht, und doch zeigen sich kleine Unterschiede, die von relativer Bedeutung sind. Im Folgenden werde ich knapp auf das Verhältnis von Meiers moralphilosophischen Schriften zu ihren Bezugstexten eingehen und dann den Blick auf eine anti-skeptische Ergänzung der Moralphilosophie bei Meier lenken, die marginal scheint, deren systematische Tragweite jedoch recht groß ist.
1. Bezugstexte von Meiers Moralphilosophie Bei der voluminösen Sittenlehre handelt es sich tatsächlich in erster Linie um die populärer gehaltene Version der verknappten Ethica philosophica Baumgartens sowie mittelbar der Pflichtenlehre Wolffs. Die Unterteilung der Moralphilosophie in eine Prinzipienlehre (Philosophia practica universalis) und eine konkreter ausgeführte Lehre der Pflichten gegen sich selbst, andere und Gott führt Wolff in seinen Vernünfftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (Deutsche Ethik) von 1720 ein. Beide Teile nehmen in den lateinischen Umarbeitungen der späten 1730er und 1740er Jahre wesentlich an Umfang zu. In den Jahren 1738 und 1739 veröffentlicht Wolff seine Philosophia practica universalis in zwei Bänden. Die Pflichtenlehre erscheint in acht Bänden als Philosophia moralis sive ethica (1740–1748) sowie als Ius gentium (1749). Baumgarten weiß sich kürzer zu fassen – seine Ethica philosophica hat gerade einmal 300 Seiten. Meier versteht sich jedoch darauf, den Gehalt dieses Bandes auf die fünf deutschsprachigen Bände seiner Sittenlehre aufzublähen, freilich mit dem Ziel der leichteren Verständlichkeit. Meiers Allgemeine practische Weltweisheit basiert in erster Linie auf Baumgartens Initia philosophiae practicae von 1760, die wiederum
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der Problemstellung nach den wolffischen Fassungen der Philosophia practica universalis von 1720 und 1738/39 entspricht.1 Der Problemstellung nach, weil wesentliche Aspekte von Wolffs moralischer Prinzipienlehre – die Lehrstücke von Tugend und Glückseligkeit – bei Baumgarten fehlen, während er den Begriff der Verbindlichkeit (obligatio), also das Problem, wie ich zu Handlungen nicht nur verpflichtet, sondern zugleich motivational gebunden sein kann, gegenüber Wolff sehr viel stärker in den Fokus rückt. Wenngleich ich mit dem im Titel der Tagung annoncierten Begriff ›theoretische Innovation‹ auch hinsichtlich Meiers Allgemeiner practischer Weltweisheit vorsichtig wäre, so ist die Schrift doch auch nicht bloß ›eine »deutsche Version« von Baumgartens Initia, wie Michael Albrecht im Vorwort zu Meiers Sittenlehre meint,2 sondern wenigstens der Auswahl und Anordnung des Stoffes nach als durchaus eigenständige Leistung anzusehen. Mitverantwortlich dafür ist der auch bei Baumgarten zu verzeichnende Einfluss des Jenaer Leibnizianers Heinrich Köhler, dessen Naturrechtslehre von 1729 Meier neben Wolff und Baumgarten explizit als Quelle seiner Ausführungen nennt3 und dem sich der ab Kapitel 3 zunehmende rechtstheoretische Charakter von Meiers praktischer Grundlagenwissenschaft verdankt.4 1
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Laut Hans Werner Arndt ist die Formulierung einer Philosophia practica universalis als eigenständige Abhandlung eine genuine Idee Wolffs, inhaltlich jedoch beruhe sie vollkommen auf der Tradition und insbesondere auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ Gedanken. Eigenständiger sei dagegen die Pflichtenlehre (vgl. Hans Werner Arndt: Einleitung. In: Christian Wolff. Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. I. Abt. Deutsche Schriften, Bd. 4. Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (Deutsche Ethik). Hildesheim u. a. 1996, S. I–XXVIII, hier S. V). Gleichwohl machte Wolff dem Namen nach mit Recht Anspruch auf die Erfindung dieser neuen Disziplin, die er bereits 1703 der Öffentlichkeit als Philosophia practica universalis, mathematica methodo conscripta übergab. Leibniz besprach diese Version der Prinzipienlehre Wolffs sehr kritisch in einem langen Brief an Wolff (vgl. Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 148f.). Leibniz’ Einfluss ist daher die umfassende Wende in Wolffs Moralphilosophie zu verdanken, die 1703 noch durch den pufendorfschen Voluntarismus geprägt war, ab 1720 jedoch den Charakter einer empirisch-psychologisch fundierten Selbstverpflichtungsethik annahm (vgl. Dieter Hüning: Christian Wolffs »allgemeine Regel der menschlichen Handlungen«. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 [2004], S. 91–113, insbes. S. 96–102). Zur Entwicklung von Wolffs Moralphilosophie vgl. Clemens Schwaiger: Christian Wolffs »Philosophia practica universalis«. Zu ursprünglichem Gehalt und späterer Gestalt einer neuen Grundlagendisziplin. In: Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Macht und Bescheidenheit der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Christian Wolffs. Gedenkband für Hans Werner Arndt. Hildesheim, Zürch, New York 2005, S. 219–233. Michael Albrecht: Vorwort. In: Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. Erster Teil. [=Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Materialien und Dokumente. Bd. 109.1. Hildesheim u. a. 2007], S. 1*–15*, hier S. 5*. Vgl. Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764 [= Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. Materialen und Dokumente. Bd. 107. Hildesheim, Zürich, New York 2006], § 30. Heinrich Köhler: Exercitationes juris naturalis, eiusque cumprimis externi, methodo systematica propositi. Jena 1729. Alexander Aichele und Clemens Schwaiger betonen den durch den Einfluss Köhlers bedingten juridischen Charakter von Baumgartens Moral- und Naturrechtslehre (vgl Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten [s. Anm. 1]; Alexander Aichele: Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), S. 3–30, hier S. 5). Schwaiger ist sogar der Ansicht, »[d]aß Baumgarten die Fundamente seiner praktischen Philosophie nicht mit Wolff, sondern mit Hilfe von Köhler legt«, den er im Gegensatz zu Wolff selbst gehört hatte (vgl. Clemens Schwaiger: Ein »missing link« auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wir-
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Baumgartens Initia handeln tatsächlich nur die Anfangsgründe der Moral ab, also nur die von Köhler beeinflusste Lehre von der Verbindlichkeit, nicht aber – wie laut Clemens Schwaiger geplant – die Lehrstücke von Tugend und Glückseligkeit, die Wolff in seiner Philosophia practica universalis noch behandelt hatte. Schwaiger ist der Ansicht, dass diese zufällige Beschränkung dazu geführt habe, dass bei Kant, der Moralphilosophie bevorzugt nach Baumgartens Kompendien las,5 »Pflichtzentriertheit, Tugendvergessenheit und Glücksabstinenz« im Vordergrund gestanden hätten.6 Auch bei Meier finden sich diese Lehrstücke nicht, dafür eine Ergänzung um den entfalteten Begriff sittlicher Handlungen sowie um den Gesetzescharakter der Verbindlichkeiten (Normativität).7 Im Folgenden wird Meiers Allgemeine practische Weltweisheit im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Der Band gliedert sich in acht Kapitel, deren erste beiden das handlungs- und pflichttheoretische Herzstück bilden. Kapitel 3 und 4 behandeln Gesetz und Zurechnung, Kapitel 5 und 6 Pflicht und Sünde, Kapitel 7 hat die Grundlegung der Lehre von den besonderen Pflichten zum Gegenstand, während Kapitel 8 die zahlreichen praktischen Disziplinen und ihre einheitsstiftenden Grundsätze behandelt.
2. Meiers Prinzipienlehre der Moral Meiers Moralphilosophie lebt wie die Wolffs und Baumgartens von der Idee der Vollkommenheit, die als Zielpunkt sittlicher Handlungen und ihrem verpflichtenden Charakter zu verstehen ist.8 Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Vollkommenheitsmoral mit systematischen Wider-
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kungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 247–261, hier S. 249). In der Tat befassen sich Baumgartens Initia ausschließlich mit der obligatio und sehr viel ausführlicher noch mit den obligantia (den Dingen, die uns verpflichten) sowie mit dem Problem der Zurechnung von Taten (imputatio). Bis 1760 nach der Ethica philosophica, dann nach der Initia; vgl. Dieter Henrich: Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion. In: Kant-Studien 54 (1963), S. 404–431, hier S. 422. Vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten (s. Anm. 1), S. 132. Schwaiger lässt außer Acht, dass Kants Moralphilosophie die Aspekte Tugend und Glück keineswegs unterschlägt. Das menschliche Glücksstreben erwähnt Kant sehr häufig und bewertet es nicht als per se schlecht, sondern verweist darauf, dass es aufgrund der empirischen Diversität von Glücksvorstellungen nicht zur Begründung moralischer Prinzipien taugt. Zugleich ist Kant Realist genug, um dem Menschen nicht die Tugendhaftigkeit dieser Vorstellungen zumuten zu wollen. Aus diesen Gründen weicht er von den rationalistischen Begründungen der Sittlichkeit ab, obwohl Glücksstreben und Tugend auch bei ihm zentrale Elemente der menschlichen Welt sind. Diese vermisst Schwaiger bei Baumgarten, insofern bei ihm »[p]raktische Obligation […] zu einer reinen Frage psychologischer Motivation [wird], das spezifisch Normative moralischer Verbindlichkeit wird nicht erfasst« (ebd., S. 133). Hüning meldet ähnliche Bedenken bezüglich Wolff an (vgl. Hüning: Wolffs »allgemeine Regel« [s. Anm. 1], S. 112f.). Meier liefert dieses Theoriestück, wobei dessen rechtsphilosophischer Zug darauf hinweist, dass er den Abschnitt über das Gesetz (Kap. 3) Einflüssen aus Köhlers Naturrechtslehre schuldet. Frei von Widersprüchlichkeiten ist auch Meiers Ansatz freilich nicht, da er wie seine Vorgänger vom nötigenden Charakter von Einsicht ausgeht und keine eigenen Prinzipien des Begehrungsvermögens anerkennt. Meiers Philosophie ist insgesamt selten Gegenstand der Forschung gewesen, das gilt umso mehr für seine Moralphilosophie (wie überhaupt die vorkantische Moralphilosophie in Deutschland mit Aus-
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sprüchen behaftet ist, daher soll weder auf den kantischen Vorwurf der Zirkularität noch auf den schon durch den Pietisten Joachim Lange gegen Wolff vorgebrachten Einwand des Egoismus der Selbstvervollkommnungslehre eingegangen werden.9 Stattdessen stehen hier der Intellektualismus von Meiers moralphilosophischer Position und seine Herausforderung durch den zunehmend virulenten Skeptizismus im Fokus. Auch wenn sie um eine eigenständige Theorie der erkenntnisrelevanten Ästhetik angereichert ist, bleibt demonstrativische Gewissheit in der Moral doch auch Zielpunkt der Vollkommenheitsmoral Baumgartens und Meiers. Meier ist der Ansicht, dass »in unsern Tagen […] die Erfahrung [lehrt], daß man im Stande sey, aus diesen Grundwahrheiten die practische Weltweisheit mit der größten Gewißheit, deren der menschliche Verstand fähig ist, zu erweisen«.10 Gemeint sind die von Wolff aufgesuchten Grundwahrheiten, durch die die moralischen Disziplinen gewisser Erkenntnis zugeführt wurden. Trotz dieser Bestätigung aus Theorie und Erfahrung setzt Meier sich anders als seine Bezugsgrößen Wolff, Baumgarten und Köhler expressis verbis mit möglichen Einwürfen von Zweiflern an der demonstrativischen Gewissheit in Fragen der Moral auseinander. Doch nicht nur diese namentlich nicht zugewiesenen skeptischen Einwände werden bei Meier thematisch; auch seine häufige Erwähnung von Unwissenheit, eingeschränkter Gewissheit und Irrtumsanfälligkeit – also den Unzulänglichkeiten unserer durchschnittlichen moralischen Praxis – zeigt, dass ihm vielleicht stärker als seinen Vorgängern bewusst war, wie weit theoretischer Anspruch und praktische Umsetzung in der Moral auseinander treten. In dieser Hinsicht kann Meier an Baumgarten anschließen. Wie dieser bemüht Meier sich, die unsicheren Momente der moralischen Urteilspraxis systematisch einzuhegen, was vor allem durch die starke Betonung notwendiger Einübung in einen sittlichen Lebensstil geschieht. Das ist einerseits eben der Rat, den Skeptiker seit Sextus Empiricus in Fragen der Moral immer schon gegeben haben, also noch keine Widerlegung des Skeptikers. Andererseits könnte man davon sprechen, dass die genannten Risse im rationalistischen Bollwerk systematisch die Notwendigkeit von Popularität bei Meier begründen. In Meiers Werk Allgemeine practische Weltweisheit geht es um eine allgemeine Theorie menschlicher Praxis, d. h. um die Bestimmung des Willens, die Verpflichtung und Motivation zum Handeln sowie dessen sittliche Beurteilung. Diese Grundlagenwissenschaft wird zunächst unabhängig von konkreten Handlungsbereichen ausgearbeitet, sie formuliert also die Grundregel menschlichen Handelns für die Bereiche Ethik, Recht und Politik sowie eine Affektenlehre, die die Effektivität von Willensbestimmungen erklärt.11 Die Parameter dieser Grundlagenwissenschaft hatte Wolff mit seiner Deutschen Ethik von 1720 festgesteckt. Dies ist zunächst die intel-
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nahme derjenigen Wolffs sehr wenig erforscht ist). Eine der wenigen Ausnahmen bietet mit einem ersten referierenden Überblick Günter Schenk: Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, insbes. die Abschnitte 3.3.4 sowie das Kapitel 6, das sich mit Meiers Allgemeiner practischer Weltweisheit befasst. Ausführlicher dazu vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten (s. Anm. 1), S. 135–139. Zum Verhältnis Kants zur Vollkommenheitsmoral der Tradition vgl. Eberhard Günter Schulz: Wolffs Moralprinzip und Kants Kategorischer Imperativ. In: Sonia Carboncini u. Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hildesheim u. a. 1992 (= Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. 3, Bd. 31), S. 239–262. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 9. Zur Affektenlehre vgl. Schwaiger: Wolffs »Philosophia practica universalis« (s. Anm. 1), S. 228–231.
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lektualistische Überzeugung, dass alle vernünftige Praxis auf Theorie beruht, alle Wissenschaft aber zugleich praktisch und nützlich sein soll. Weitere Aspekte sind die empirische Psychologie, die mathematische Methode und die Begriffe Vollkommenheit und Glückseligkeit sowie eine mehr oder weniger stark zutage tretende Bedeutung des Verbindlichkeitsbegriffs. Gegen die positivistische Vorstellung des naturrechtlichen Voluntarismus Samuel von Pufendorfs, dass es unmittelbar Gottes Wille ist, der uns zu Handlungen verpflichtet, wird die Ethik seit Wolff als Selbstverpflichtungslehre konturiert.12 Mit Baumgarten und Meier tritt der bei Wolff noch zentrale Begriff der Glückseligkeit ebenso wie der der Tugend jedoch in den Hintergrund – dafür wird das Problem der Erkennbarkeit von Verpflichtung zunehmend deutlicher.13 Meier selbst bestimmt nun die praktische Weltweisheit als die Wissenschaft von den natürlichen Pflichten, sofern sie sine fide, nur nach den strengen Regeln der Vernunftlehre aus der Natur des Menschen erkannt werden können und »zu denen uns die moralischen Naturgesetze verbinden«.14 Unter einer sittlichen Handlung versteht Meier eine freie Handlung, die mit der Natur des Menschen ihrer Quellen, Teile und Folgen nach auf vollkommene Weise zusammenstimmt und diese Natur so mehrt und befördert. Die von Meier über die gesamte Schrift entwickelte (wolffsche) Grundpflicht lautet: Mache Dich durch freie Handlungen vollkommener. Vollkommenheit bestimmt Meier »nach dem Wolffischen Begriffe« als »Zusammenstimmung aller seiner Realitäten zu Einer Realität, oder, welches in den moralischen Disziplinen einerley ist, zu einem wahren Zwecke«,15 die sowohl in der Vervollkommnung seiner selbst als Zweck als auch seiner selbst 12
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Vgl. Hüning: Wolffs »allgemeine Regel« (s. Anm. 1), S. 101f. Hüning weist bezüglich Wolff darauf hin, dass der gegen den Voluntarismus gerichtete Begriff der obligatio naturalis und die damit verbundene Theorie der Verbindlichkeit die eigentliche Innovation von Wolffs praktischer Philosophie gewesen ist (vgl. ebd., S. 112). Gleichwohl nimmt der Begriff erst bei Baumgarten und Meier zentrale Stellung ein. Beider Positionen schwanken zwischen Eudämonismus und Pflichtenethik. Bezogen auf Baumgarten vgl. Aichele: Ungewißheit des Gewissens (s. Anm. 4), S. 4. Zur Entwicklung des Eudämonismus im 18. Jahrhundert vgl. den Artikel von Frank Grunert (Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: ders. u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 51–69), der eine Tendenz zur Objektivierung des Glücksbegriffs sowie eine zunehmend unilineare Abhängigkeit des Glücks von der Tugend ausmacht. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 4. Meier folgt mit dieser Bestimmung wörtlich Baumgarten in dessen Initia: »Quemadmodum philosophia est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum: ita practica est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum.« (Alexander Gottlieb Baumgarten: Initia philosophiae practicae. Halle 1760 [vollst. abgedr. in: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. XIX: Handschriftlicher Nachlaß. Moralphilosophie, § 1.) Die Grade der Vollkommenheit der Erkenntnis der natürlichen Pflichten sind die aus der Vernunftlehre bekannten: Weitläufigkeit, Verhältnismäßigkeit, Wahrheit, Klarheit, Gewissheit und Lebendigkeit. Je stärker die Erkenntnis in all diesen Aspekten ausgeprägt ist, desto stärker ist die Nötigung zum sittlichen Handeln. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 222. Zum Begriff der Vollkommenheit vgl. Clemens Schwaiger: Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant. In: Michael Oberhausen, Heinrich P. Delfosse u. Riccardo Pozzo (Hg.): Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Norbert Hinske zum siebzigsten Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317–328. Schwaiger geht von einer zunehmenden »Entteleologisierung der Vollkommenheitslehre« über Baumgarten zu Kant aus, er spricht von »Wolffs Zielperspektive« in Absetzung von »Baumgartens Einheitsperspektive« (ebd., S. 324).
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als Mittel zum Zweck der Vervollkommnung anderer Dinge bestehe. Die Freiheit des Willens setzt Meier wie auch die Bestimmung der Natur des Menschen aus der theoretischen Weltweisheit voraus. Freiheit wird bestimmt als das Vermögen zu einer Handlung aus eigener Kraft. Eine freie Handlung ist genau dann gegeben, wenn sie vier Eigenschaften aufweist: Erstens ist sie eine selbst bewirkte innere oder äußere Veränderung, zweitens ist sie zufällig, d. h. auch ihr Gegenteil muss möglich sein, drittens muss es möglich sein, sie zu unterlassen und viertens muss sie entweder wirklich oder ihrer Möglichkeit nach aufgrund »deutlicher vernünftiger Erkenntnis und Überlegung« erfolgen.16 Nur freie Handlungen sind Gegenstand moralischer Beurteilung. Wenn wir sittlich handeln, ist die Natur des Menschen in uns wirksam, sofern wir sie erkannt und als Bestimmungsgrund in unseren Willen aufgenommen haben.17 Die Erkenntnis der Natur des Menschen ist also Quelle unserer sittlichen Handlungen und ihrer Beurteilung als moralisch gut oder böse. Die Verbindung von Erkennen und Handeln erläutert die von Baumgarten übernommene Theorie der Verbindlichkeit.18 Unter Verbindlichkeit oder auch Verpflichtung versteht Meier die moralische Nötigung zu den freien Handlungen, die als moralisch notwendig aus der Natur des Menschen erkannt wurden.19 Wie aber ontologische Bestimmungen normativ werden können, erläutert das kleine Kabinettstück der Verknüpfung der Theorie sittlicher Handlungen mit einer psychologischen Theorie der Motivation. Genauer bedeutet Verbindlichkeit nämlich die Verknüpfung eines Bewegungsgrundes mit einer Handlung. Unter nötigenden Bewegungsgründen versteht Meier alle deutlichen (oder der Möglichkeit nach deutlichen) Vorstellungen des Guten, also Naturgemäßen, und des Bösen, also Naturwidrigen, durch die der Wille bestimmt wird, zu begehren und zu tun oder zu verabscheuen und zu lassen.20 Die theoretische Bestimmung einer sittlichen Handlung wird hier mit dem psychologischen Motiv des Begehrens verknüpft. Freie Handlungen bestehen in vernünftiger Begehrung oder Verabscheuung, die nur aus Vorstellungen des Guten und Bösen entstehen kann.21 Es kann daher überhaupt nur derjenige zu einer freien Handlung verpflichtet sein, der 16 17
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Vgl. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), § 33. Der Zusammenhang mit der Natur des Menschen bringt es mit sich, dass die sittliche Handlung mittelbar Gottes Wille ist, da Gott Urheber der menschlichen Natur und damit der erste Grund der moralischen Güte ist: »Und also ist es in der That einerley, ob ich sage, eine Handlung ist innerlich moralisch gut, oder sie ist dem Naturgesetze, und dem dadurch bekanntgemachten Willen GOttes gemäß; und ob ich sage, eine Handlung ist innerlich moralisch böse, oder sie widerspricht dem Naturgesetze, und dem dadurch bekanntgemachten Willen GOttes.« (Ebd., S. 113f.) Zur Theorie der Verbindlichkeit und ihrem zunehmend zentralen Charakter in der Moralphilosophie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Baumgarten, Wolff und dem frühen Kant vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten (s. Anm. 1), Kap. IX. Während Leibniz und im Anschluss an diesen Wolff nur von moralischer Notwendigkeit (necessitas) ausgehen, entfaltete Baumgarten seine Moralphilosophie vom Begriff der moralischen Nötigung (necessitatio) her, vgl. ebd., S. 152. Schwaiger ist der Ansicht, dass die Nötigung dem Wesen des Menschen gerechter wird und zudem als »›freie Selbstbestimmung‹« übersetzbar, da auf Freiheit angewiesen sei (vgl. Schwaiger: Ein »missing link« [s. Anm. 4], S. 251–253). Zwar ist das Motivationsproblem durch die »Psychologisierung des Obligationsbegriffs« (Hüning: Wolffs »allgemeine Regel« [s. Anm. 1], S. 102) auch schon bei Wolff gelöst, es entsteht aber eines der Normativität, denn wenn ich moralisch durch Einsicht genötigt werde, dann ist meine Handlungsentscheidung am Ende nicht autonom, sondern erzwungen durch das Begehrungsvermögen. Vgl. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), § 57 u. § 68. Vgl. ebd., S. 143.
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deutliche Erkenntnis von der Begehren auslösenden moralischen Güte einer Handlung haben kann, d. h. von ihrer Zusammenstimmung mit und Beförderung der Natur des Menschen. Die Baumgarten-Meiersche Theorie der Verbindlichkeit ist eine Lösung des Problems, wie ich zu sittlichem Handeln durch mich selbst, also nicht unmittelbar durch Gott als Oberherrn,22 verpflichtet und zugleich zum Handeln motiviert sein kann. Die Erkenntnis der Natur des Menschen und des ihr Zuträglichen (Sein) affiziert das Begehrungsvermögen und nötigt mich so zum Handeln (Sollen). Die Verknüpfung eines Bewegungsgrundes mit einer sittlichen Handlung kann nur durch mich selbst geleistet werden. Sie geschieht durch die Empfindungen des Begehrens oder Abscheus, so dass zugleich die Motivierung zu moralischem Handeln gewährleistet ist: »Die Verbindlichkeit soll den Nutzen haben, daß sie den Menschen bestimmt, seine Kräfte anzustrengen, um dasjenige hervorzubringen, wozu sie ihn verbindet«.23 Es handelt sich also um eine Position des moralischen Internalismus, der keinerlei extrinsischer Beweggründe zur Ausführung einer als richtig oder falsch erkannten Handlung bedarf. Es entstehen hier mindestens drei Probleme: Erstens ist der Übergang von Theorie zu Psychologie überaus prekär, zweitens ist etwas unklar, inwiefern eine sittliche Handlung frei ist, wenn wir doch durch unser Begehren des Guten zu ihr genötigt sind,24 und drittens ist gar nicht klar, was denn die Natur des Menschen eigentlich ist. Ich will diese allseits bekannten Probleme hier jedoch einmal an die Seite stellen und mich stattdessen damit auseinandersetzen, dass Meiers Moralphilosophie Handeln aus Erkennen herleitet und daher die Möglichkeit der handlungsorientierenden Erkenntnis der Natur des Menschen sicherstellen muss. Damit bin ich bei den oben angekündigten Schwierigkeiten des Intellektualismus angelangt, deren Erwähnung in Meiers Text zeigt, dass sie ihm durchweg bewusst waren und er bemüht war, ihnen zu begegnen.
3. Irrtum, Unwissenheit und Zweifel Für Positionen des moralischen Internalismus ist von besonderer Bedeutung, die Möglichkeit der Erkenntnis des moralisch Gebotenen sicherzustellen. Meiers Entwurf einer Lehre von der natürlichen Verpflichtung zur Vervollkommnung durch freie Handlungen macht davon keine Ausnahme. So sagt er gleich zu Beginn, dass die moralischen Irrtümer besonders gefährliche und schädliche Verirrungen der Vernunft seien.25 In der Tat nennt Meier dennoch eine ganze Reihe von Einschränkungen seiner einsichtsbezogenen natürlichen Verpflichtung zur Vervollkommnung.26 Nicht verpflichtet werden kann, wer generell, vorübergehend oder noch nicht 22 23 24 25 26
Vgl. ebd., S. 149. Ebd., S. 157. Auf beide Probleme weist Hüning: Wolffs »allgemeine Regel« (s. Anm. 1) hin. Vgl. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 8. Damit bewegt Meier sich, wie von Aichele bezüglich der Ungewißheit des Gewissens gezeigt, wiederum in der Nachfolge Baumgartens. Baumgarten hatte gegenüber Köhler die mögliche Gewissheit der Zurechnung von Taten in Grade unterteilt und so die »prinzipielle Unwissenheit erwiesen […], die aus erkenntnistheoretischen Gründen allen moralischen Urteilen anhaftet, welche vom Menschen mit dem Anspruch auf Gültigkeit gefällt werden können«. Aichele: Ungewißheit des Gewissens (s. Anm. 4), S. 5.
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einsichtsfähig ist, d.h. Verrückte, Betrunkene und Kinder (Meier bringt diese Beispiele oft, besonders der Trinker liegt ihm dabei am Herzen). Der Einfältige hingegen kann nur dem Grad seiner Einsichtsfähigkeit nach zu freien Handlungen verbunden sein. Gravierender als diese Fälle sind aber die Probleme von unverschuldeter Unwissenheit (3.1), Irrtum (3.2) und Zweifel (3.3), auf die ich nun eingehen möchte.
3.1 Unverschuldete Unwissenheit durch generelle Schranken menschlicher Erkenntnis Ein grundsätzliches Problem für die Erkenntnis der menschlichen Natur sind die allgemeinen Schranken der Erkenntnis. Denn alle wahre Verbindlichkeit erfordert, »daß die Bewegungsgründe, in lauter richtigen Vorstellungen wahrer Güter und Uebel, Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, bestehen«.27 In der Theorie erfordert sittliches Handeln sicheres Wissen, also Erkenntnis a priori. Praktisch sieht Meier, dass kein Mensch zu dieser Erkenntnis zu jeder Zeit in der Lage ist, sondern dass auch die Gelehrten meist auf induktives Erfahrungswissen zurückgreifen müssen.28 Meier löst dieses Problem, indem er von der Kompatibilität der wesentlichen Gehalte empirischer und demonstrativer Einsicht ausgeht.29 Die außerwissenschaftlich zulässige Ersetzung apriorischer Beweise durch empirische Induktion ist für Meiers Moralphilosophie also wenigstens kein epistemisches Problem. Durchaus ist es aber ein motivationales, denn die Herabsetzung des Grades möglicher Gewissheit durch die Schranken des menschlichen Verstandes hat einen geminderten Grad an nötigender Kraft zur Folge, so Meier. Moralische Gewissheit oder bloße Wahrscheinlichkeit sind die empirischen Platzhalter apriorischer Demonstration, deren nötigende Kraft gegenüber demonstrativ-gewissen Bewegungsgründen reduziert ist. Da Meier wie Baumgarten gegenüber Wolff nicht nur den nötigenden Charakter sittlicher Einsicht betont, sondern auch die Lehre unterschiedlich starken Nötigungscharakters von Triebfedern entwickelt, sind herabgesetzte Grade von Gewissheit für eine Moralphilosophie ein durchaus gewichtiges Problem, wenn sie den zwingenden Charakter von Einsicht in den Mittelpunkt stellt. Die Schranken menschlicher Erkenntnis führen zu herabgesetzten Graden an Gewissheit und folglich von moralischer Nötigung. Die ästhetische Variante des wolffischen Intellektualismus muss also dieselben Probleme wie dieser gewärtigen, da hier wie dort Erkenntnis sittliches Handeln begründet, diese aber durch eine Reihe geistesgeschichtlicher Entwicklungen im 17. und 18. Jahrhundert prekär geworden ist.30 Darüber hinaus muss man sagen, dass die Erkenntnis der menschlichen Natur
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Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 151. Vgl. ebd., S. 188. In ganz ähnlicher Weise löst Moses Mendelssohn im Anschluss an Baumgarten in seiner Preisschrift von 1763 das Problem mangelnder Fasslichkeit von Theologie und Moralphilosophie. Vgl. Moses Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften [1763]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Schriften zur Philosophie und Ästhetik II (JubA 2). Hg. von Leo Strauss. Berlin 1931[ND bearb. von Fritz Bamberger. Berlin 1972], S. 267–330, hier S. 327–330. Die Probleme des Intellektualismus, auf die ich hier mit Meier verweise, seien bei Baumgarten nicht zu verzeichnen, insofern er die eigene Rationalität der Sinne freigelegt habe, so Schwaiger (vgl. Schwaiger: Ein »missing link« [s. Anm. 4], S. 259). Demgegenüber ist zu sagen, dass auch ästhetische Erkenntnis
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auch unabhängig von methodischen Fragen recht hohe Anforderungen an die Alltagsmoral stellt.
3.2 Irrtum und Vorurteil Das Problem mangelnder Einsichtsfähigkeit ist jedoch dort am größten, wo Einsicht nur scheinbar vorliegt. Als schwerwiegendste Unvollkommenheit der Gewissheit von Verpflichtung versteht Meier daher die, die durch Vorurteile entsteht, die er auch »Scheingewißheit[en]«31 nennt. Denn diese können uns in ganz gleicher Weise zu Handlungen nötigen wie die »gründlichste Wahrheit«.32 Wie wir diesem Problem begegnen sollen, sagt Meier im vorliegenden Zusammenhang nicht.33 Hinweise kann aber Meiers Schrift über die Vorurteile aus dem Jahr 1766 geben, in der er einerseits am theoretischen Ziel vorurteilsfreier Erkenntnis festhält, andererseits aber die Unvermeidbarkeit von Vorurteilen im Alltag deutlich macht. Dabei versteht er Vorurteile auch nicht grundsätzlich als Irrtümer, sondern zunächst als übereilte Urteile.34 Werner Schneiders vermutet hier eine einsetzende »allgemeine Verunsicherung des bisherigen ›Erkenntnisoptimismus‹«.35 Für diese These spricht auch der Versuch der Widerlegung des moralischen Skeptikers in der Allgemeinen practischen Weltweisheit von 1764, auf den ich nun eingehen möchte.
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eben Erkenntnis bleibt (und kein moralisches Gefühl oder wie bei Crusius der Wille als eigenständiges Prinzip wird) und der Skeptiker eben dagegen grundsätzliche Einschränkungen vorbringt. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 191. Ebd., S. 192. Vgl. dazu Shuku Funaki: Kants Suche nach einem Maßstab für die Scheinbarkeit. In: Volker Gerhardt, RolfPeter Horstmann u. Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 5. Berlin, New York 2001, S. 13–21, der auf Kants Auseinandersetzung mit Meiers Theorie des Scheins im Auszug aus der Vernunftlehre (1752) eingeht. Zur benachbarten Frage der Wahrhaftigkeit bei Meier vgl. Martin Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. Würzburg 1997, S. 53–58. Georg Friedrich Meier: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle 1766 [Hg. und ins Italienische übers. von Heinrich Delfosse, Norbert Hinske u. Paola Rumore. StuttgartBad Cannstatt 2005]. Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. StuttgartBad Cannstatt 1983, S. 227. Am Rande sei bemerkt, dass zumindest Meiers Zeitgenosse Mendelssohn sich für einen Aufklärer recht zurückhaltend zu Vorurteilen äußert, da er überzeugt davon ist, dass deren Ausräumung eher schadet als nützt, wenn die richtigere Überzeugung nicht aus der Tiefe in den Menschen heranwachsen kann – also lieber Reform statt Revolution. So heißt es bei Mendelssohn in seinem Schreiben an Herrn Diaconus Lavater zu Zürich von 1769, dass es zwar grundsätzlich Pflicht sei, Vorurteile zu beseitigen, dass es aber Vorurteile gebe, die die Grundlage der Sittlichkeit eines Volkes bilden und die ersatzlos zu zerstören hieße, »ohne das Gebäude zu unterstützen, den Grund zu durchwühlen, um zu untersuchen, ob er fest und sicher sei«. Daher dürften solche populären Irrtümer und »nützliche[n] Vorurteile« auch erst zerstört werden, wenn die wahre Begründung zur allgemeinen Verbreitung taugt, also populär werden kann (vgl. Moses Mendelssohn: Schreiben an Herrn Diaconus Lavater zu Zürich [1769]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Schriften zum Judentum I (JubA 7). Hg. und bearb. von Simon Rawidowicz. Berlin 1930 [ND Berlin 1974], S. 5–17, hier S. 14). Vgl. dazu Michael Albrecht: Moses Mendelssohn über Vorurteile. In: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 297–315. Dieser Umgang mit Vorurteilen erzeugt gewisse Dissonanzen im Verhältnis zum Aufklärungsbegriff. Vgl. dazu Karol Bal: Was heißt ›aufklären‹ und was ist ›Aufklärung‹? Mendelssohn und Kant – Ein Vergleich. In: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann u. Ralph Schu-
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3.3 Moralischer Skeptizismus Gegenüber den genannten Modi verschuldeter oder unverschuldeter epistemischer Unzulänglichkeit ist für den Rationalismus der moralische Skeptiker aus nahe liegenden Gründen viel bedrohlicher. Soweit ich es überblicke, wird dieses nihilistische Schreckgespenst in keinem der Bezugstexte aufgerufen und auch in Meiers Sittenlehre von 1753ff. spielt es noch keine Rolle. 1764 jedoch verwendet Meier immerhin 20 der 49 Seiten seiner Einleitung darauf, den Moralskeptiker zu widerlegen. Ein epistemischer moralischer Skeptiker ist jemand, der der Ansicht ist, dass wir entweder nicht wissen können, was richtig und falsch ist, oder dass wir keine gerechtfertigten moralischen Überzeugungen haben können. Nicht-epistemischer moralischer Skeptizismus im 20. Jahrhundert in seiner prominentesten Version des Non-Kognitivismus bei Charles Stevenson oder Alfred Ayer vertritt die Ansicht, moralische Überzeugungen seien nicht wahrheitsfähig, sondern bloßer Ausdruck von Emotionen.36 Darunter würden die Moral SenseTheorien des 18. Jahrhunderts fallen (Shaftesbury, Hutcheson, Hume). Eine weitere mögliche Version ist die Bestreitung der Existenz moralischer Tatsachen, wodurch alle moralischen Urteile falsch sind, die John Mackie in seiner Ethik aus dem Jahr 1977 vertritt (›Error Theory‹).37 In der Regel sind diese Ansätze mit einer relativistischen Position verbunden, die es erlaubt, bereichsspezifische Objektivitätskriterien für moralische Überzeugungen zu formulieren. Bei Meier ist der moralische Skeptiker jemand, der rational zurechnungsfähig, dennoch nicht vom Grundsatz der Sittlichkeit überzeugt und folglich auch nicht zu moralischem Handeln genötigt ist. Meier wendet sich also gegen einen epistemischen moralischen Skeptizismus. Ich werde am Schluss einige Überlegungen dazu anstellen, wodurch diese Widerlegung Meiers motiviert gewesen sein könnte. Meier nennt in seiner Einleitung sieben skeptische Einwände gegen die allgemeine praktische Weltweisheit: 1. Die Notwendigkeit der Demonstration moralischer Gewissheit widerspricht der für Moralität grundlegenden Freiheit, sodass »moralische Dinge nicht demonstrirt werden« können.38 2. In moralischen Disziplinen ist nur moralische Gewissheit (ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit) möglich. 3. Auch wenn eine allgemeine Regel gewiss ist, so ist ihre Anwendung immer ungewiss. 4. Pflichten können einander widersprechen und sich so aufheben (Pflichtenkollision). 5. Die inter- und intrakulturellen Differenzen moralischer Überzeugungen widersprechen der Möglichkeit moralischer Gewissheit (allgemeiner Skeptizismus). 6. Der demonstrativischen Erkenntnis mangelt es an Fasslichkeit (Elitarismus). 7. Menschliche Erkenntnis ist generell nur innerhalb gewisser Schranken möglich.
36 37 38
macher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 5. Berlin, New York 2001, S. 133–139. Vgl. Walter Sinnott-Armstrong: Moral Skepticism. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy 2011 (http://plato.stanford.edu/entries/sekpticism-moral, eingesehen am 02.10.2013). John Leslie Mackie: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Stuttgart 1981. Vgl. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 9.
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Den ersten Einwand pariert Meier, indem er erstens zeigt, dass Sittlichkeit wie auch alle anderen Dinge ganz ohne Notwendigkeit unmöglich wäre und ihr nur die absolute Notwendigkeit des Determinismus aller Handlungen zuwider wäre. Zudem müsse man zweitens unterscheiden, was mit Demonstration gemeint sei; die »Nothwendigkeit der Folge« eines Schlusses aus gegebenen Vordersätzen bedeutet noch nicht die »Nothwendigkeit des Schlußsatzes« selbst. Da die Notwendigkeit der Folge auch bei zufälligen Vordersätzen gegeben sein kann, kann »eine Wahrheit demonstriert, und mit der zuversichtlichsten Gewißheit erkannt, werden; ohne daß sie dadurch aufhört, zufällig zu seyn«.39 Die Notwendigkeit der Demonstration führt daher nicht zwangsläufig dazu, dass die Handlung nicht mehr frei sein kann. Zudem müsse man drittens zwischen der theoretischen Demonstration der Pflichten und ihrer Umsetzung in Handlungen unterscheiden, die bei aller Notwendigkeit der Demonstration immer noch der menschlichen Willkür unterliegt. Moralphilosophie wird hier von Meier mit guten Gründen als Prinzipienwissenschaft verteidigt. Den Einwänden 2. bis 4. begegnet Meier insgesamt auf ähnliche Weise, nämlich indem er zugibt, dass die zweifelsfreie Gewissheit der allgemeinen Regel sittlichen Handelns die Ungewissheit über die Natur des vorliegenden Falles und der zu applizierenden Pflicht nicht ausräumen kann, sodass in der Praxis häufig bloß »moralische Gewißheit« möglich ist.40 Während die Regel durch mathematische Demonstration bewiesen werden kann, ist dies bei ihrer Ausübung nicht möglich und es habe auch »noch kein verständiger Lehrer der practischen Disciplinen behauptet, daß er diejenige Erkenntniß demonstriren könne, auf welcher, die würkliche Ausübung dieser Disciplinen, in den besondern einzeln Fällen beruhet«.41 Dennoch gibt uns die theoretisch gewisse Kenntnis allgemeiner moralischer Regeln eine gute Orientierung in der unübersichtlichen Praxis, so dass wir in der Ausübung »moralisch gewisse Hoffnung«42 hegen dürfen. Auf ähnliche Weise gibt Meier ad 6. zu, dass die Regeln sittlichen Verhaltens dem Einsichtsvermögen der Schüler angemessen vermittelt werden müssen, d.h. dass man den Ungebildeten die Pflichtenlehre »auf eine wahrscheinliche und überredende Art« statt der demonstrativischen beibringen müsse.43 Und ad 7. gesteht Meier zu, dass »[a]lle menschliche Wissenschaften […] ihre Lücken, leeren Plätze und Grenzen [haben]. Mitten in ihrem Umfange ist viele Unwissenheit, Verwirrung, Dunkelheit, Ungewißheit«.44 Aus dieser Feststellung dürfe man aber nicht schließen, dass in einer unvollkommenen Wissenschaft gar keine Gewissheit möglich sei. Das größte Problem ist der durch empirische Varianz erhärtete Skeptizismus in der Moralphilosophie, den Meier in 5. anspricht. Der Zweifler nämlich behauptet mit Verweis auf die vielfältigen widerstreitenden moralischen Überzeugungen zweier Völker oder zu unterschiedli39 40
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Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. z. B. ebd., S. 14. Vgl. auch Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über die Schrancken der menschlichen Erkenntniß. Halle 1755, § 10. In analoger Weise geht Baumgarten mit dem Problem der Applikation zweifelsfrei wahrer Gesetze eine konkrete Tat betreffend um; vgl. dazu Aichele: Ungewißheit des Gewissens (s. Anm. 4), S. 20. Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 29.
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chen Zeiten die Ungewissheit menschlicher Erkenntnis überhaupt.45 Meier sieht diesen Einwand als einen Gedanken der »allgemeinen Zweifler [an], durch welchen sie überhaupt, die allgemeine Ungewißheit der menschlichen Erkenntniß, darzu thun suchen«.46 Er gibt ihnen gegenüber zu, dass »in den allermeisten und wichtigsten Fällen, die allermeisten Menschen, von der Sittlichkeit der menschlichen Handlungen, ein irriges Urtheil fällen«.47 Ein überraschendes Zugeständnis, wenn man bedenkt, dass Meier, wie eben gezeigt, der Gefährdung durch Irrtümer gar nichts entgegenzusetzen hat und hier sogar die wichtigsten Fälle betroffen sieht. Meier lässt die Irrtumsanfälligkeit aber nicht als Zeichen allgemeiner Unwissenheit gelten, sondern verschiebt die Beweislast an den Skeptiker: Ein Zweifler muß also vor allen Dingen darthun, entweder daß es gar keine innerlichen Kennzeichen des Wahren und des Falschen, der Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit der freyen Handlungen, gebe; oder daß kein menschlicher Verstand im Stande sey, diese innerlichen Kennzeichen zu entdecken,48
bevor er mit Recht aus der Beobachtung widerstreitende sittlicher Überzeugungen schließen darf, dass es keine Gewissheit in der Moral geben könne. Es komme allein darauf an, ob es dem Menschen überhaupt möglich sei, die Kennzeichen des Richtigen und Falschen zu erkennen und zu entscheiden, ob eine Handlung richtig sei. Meier behauptet nun, dass die Zweifler den Beweis der prinzipiellen Unmöglichkeit bislang schuldig geblieben seien, während Wolff in seiner Philosophia practica universalis die unwiderlegbaren Grundwahrheiten menschlicher Handlungen aufgezeigt habe, »aus welchen die Pflichten der Menschen demonstrirt werden können und müssen«.49 Während Meier sich also gegenüber Problemen herabgesetzter oder verfehlter Einsicht bewusst zeigt und bemüht ist, sie als durchschnittliche sittliche Praxis zu berücksichtigen, ohne die Fundamente seiner Moralphilosophie damit zunichte zu machen, rettet er sich gegenüber der Skepsis an der Möglichkeit der Gewissheit über Pflichten mit einem reinen Autoritätsargument. Er erweist sich dadurch als lupenreiner Wolffianer, der zwar Praxis für eminent wichtig hält, ihr aber keine systematisch relevante Rolle für die Erkenntnis von Prinzipien zubilligt. Dass Meier überhaupt so viel Platz in seiner Einleitung auf die Widerlegung des Skeptikers verwendet, zeigt dennoch, dass der Empirismus Lockes und Humes erste Kratzspuren am Lehrgebäude des deutschen Rationalismus hinterlassen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Personen, die keiner oder nur eingeschränkter Verbindlichkeit fähig sind, für Meiers Moralphilosophie kein grundsätzliches Problem sind, da sie das moralrelevante Kriterium der Einsichtsfähigkeit nicht annullieren. Durch Schranken der Erkenntnis bedingte, mithin unverschuldete Unwissenheit versteht Meier auch nicht als Wider45
46 47 48 49
Vgl. ebd., S. 22. Dieses Argument ist ein locus classicus moralskeptischer oder -relativistischer Positionen. Dietmar Heidemann nennt es die ›Differenzthese‹ des ›Deskriptiven Relativismus‹, die wiederum auf der These der Abhängigkeit moralischer Vorstellungen vom soziokulturellen Kontext (›Dependenzthese‹) beruht (vgl. Dietmar Heidemann: Der Begriff des Skeptizismus. Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung. Berlin, New York 2007, S. 306f.). Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 22f. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 9.
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legung seiner einsichtsbezogenen Moralphilosophie, da Erfahrungswissen zwar ungewisser als demonstrativische Gewissheit, aber selten wirklich falsch sei. Zudem ist bei ihm die Grundregel sittlichen Handelns Teil der allgemeineren Regel des Begehrungsvermögens, das Gute zu begehren und zu tun und das Böse zu verabscheuen und zu lassen, sodass ungefähre moralische Orientierung auch vorbewusst gegeben sein kann.50 Die Inkorporation der moralischen Prinzipien in die allgemeine Regel des Begehrungsvermögens ist für sich genommen hochproblematisch, da sie die Moraltheorie insgesamt in Moralpsychologie aufgehen lässt; dieser Strang der Kritik an der Vollkommenheitsmoral des Rationalismus sollte hier jedoch nicht im Fokus stehen.51 Für den infrage stehenden Zusammenhang von Intellektualismus und seiner Herausforderung durch den Skeptizismus auch in moralphilosophischen Fragen ist der nötigende Charakter durchaus gravierender, der Irrtümern und Vorurteilen genauso wie echter Erkenntnis zukommt. Wird hier doch deutlich, dass Einsicht für sich genommen offenbar gar kein sicheres Kennzeichen von Wahrheit ist. Solange der Rationalist aber noch angeben kann, dass wir prinzipiell in der Lage sind, vollkommene Gewissheit zu erlangen, gefährden Irrtümer und Vorurteile zwar die moralische Praxis, aber nicht die Prinzipien selbst. Noch schwieriger wird es freilich, wenn jemand begründet Einsicht reklamiert, diese aber in rationalen Argumenten gegen die rationalistisch begründete Moralphilosophie besteht. Gegen diesen Skeptiker, der seine These auch noch mit Verweis auf die kurrenten Widersprüche in den Ansichten der Völker und Zeiten belegen kann, weiß Meier nicht viel auszurichten. Offenbar kann er ihn aber auch nicht mehr einfach ignorieren, wie seine Vorgänger es getan haben. Zudem zeigt der Umgang mit epistemischen Unzulänglichkeiten, dass Meier wie vor ihm auch schon Baumgarten sehr bewusst war, dass das Ziel demonstrativischer Gewissheit zwar theoretisch erreichbar, in der Praxis jedoch nur sehr selten umsetzbar ist und dass darin eine Herausforderung der Sittenlehre liegt, der der Weltweise begegnen muss. Meiers Moralphilosophie ist dementsprechend durchzogen von der Berücksichtigung der irrtumsanfälligen und vorurteilsimprägnierten sittlichen Praxis. Es verschränkt sich hier das Bewusstsein der Gefährdung demonstrativischer Gewissheit in der Praxis mit der Hoffnung, ihr durch neue Methoden begegnen zu können. Hier ist daher der Ansatz, um Meier als Popularphilosophen zu verstehen, bei dem das Populare deshalb notwendig ist, weil die menschliche Erkenntnis so anfällig für Irrtümer und Vorurteile ist. Damit geht er noch nicht den Schritt der Common Sense-Philosophen, die gegenüber dem Skeptizismus Humes und dem Idealismus Berkeleys alle tiefgründige Prinzipienwissenschaft ablehnen, sondern er ist mit Blick auf die Fehlbarkeit von der Notwendigkeit der popularen Verbreitung einfacher sittlicher Sätze überzeugt. 50
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Meier sagt, dass uns die natürliche Verpflichtung »ins Herz geschrieben sei« (vgl. ebd., S. 227), was nicht heißt, dass wir die Grundregel sittlichen Handelns explizit wissen, sondern dass wir uns immer schon gemäß der psychologischen Regel des Begehrungsvermögens verhalten, das Gute zu begehren und zu tun und das Böse zu verabscheuen und zu unterlassen. Alle Menschen handeln auch unbewusst nach dieser Regel, so Meier, »nur daß sie in den meisten Fällen, durch ihre Irrthümer verleitet werden, demselben in der That zuwider zu handeln« (ebd., S. 233). Vgl. dazu Dieter Hüning: Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen empirischer Psychologie und Moralphilosophie. In: Oliver-Pierre Rudolph u. Jean-François Goubet (Hg.): Christian Wolffs Psychologie. Tübingen 2004, S. 145–169. Zur Kritik am unzureichenden Konzept der psychologisch begründeten obligatio Wolffs bei Kant vgl. Henrich: Kants früheste Ethik (s. Anm. 5), S. 414–420.
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4. Schluss Mit einer längeren und zwei kürzeren vorläufigen Überlegungen, die Meiers praktische Grundlagenwissenschaft in eine Phase der Neuorientierung auch in der Moralphilosophie situieren, möchte ich meine Ausführungen abschließen. Erstens hat Meier bekanntlich unrecht, wenn er behauptet, dass es noch keinem Skeptiker gelungen war, mit Argumenten die Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Gemüts über Sätze der Mathematik hinaus zu bestreiten. Die skeptischen Tendenzen, die aus Frankreich und England kamen, mögen noch nicht die argumentative Brillanz des Treatise gehabt haben, sie waren aber auch nicht mehr zu ignorieren. In der Allgemeinen practischen Weltweisheit reagiert Meier erstmals auf den Skeptiker in moralischen Disziplinen. Dabei geht er jedoch gar nicht auf einen genuin moralischen Skeptizismus ein. Das ist insofern interessant, als mit Shaftesbury, Hutcheson und Hume Positionen vorlagen und auch wahrgenommen wurden, die (mit unterschiedlichen Begründungen) moralische Urteile auf ein moralisches Gefühl statt auf intellektuelle Einsicht zurückführten. Mit diesem Angriff auf den Rationalismus in der Moralphilosophie befasst Meier sich jedoch ebenso wenig wie mit anderen Spielarten des moralischen Skeptizismus, die im 18. Jahrhundert (wenn auch unter anderem Namen) auf dem Tisch lagen.52 Der Name Hume ist zwar seit den 1740er Jahren berüchtigt, doch wird sein Skeptizismus vor allem wegen der Wunder- und der damit einhergehende Religionskritik kritisiert. Damit verbunden sind natürlich die ethikrelevanten Probleme des Determinismus sowie der Entsicherung moralischer Motivation durch den Agnostizismus.53 Diese beiden Schwierigkeiten berührt Meier aber gar nicht in seiner Widerlegung des Skeptikers in den moralischen Disziplinen. Humes Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) wurde 1756 ins Deutsche übersetzt, hat jedoch kaum Resonanz, wie überhaupt seine Ethik im 18. Jahrhundert kaum rezipiert wird.54 Die zweite Enquiry wird immerhin erwähnt in einer Rezension verschiedener Schriften Humes, die Meiers Hallenser Kollege, der Theologe Sigmund Jacob Baumgarten, für die Nachrichten von merckwürdigen Büchern 1756 verfasste. Baumgarten hält Humes Auseinandersetzung mit den Gründen der Sittlichkeit für eine »neue Einkleidung des Lehrgebäudes, welches Shaftsbury, Hut-
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Lothar Kreimendahl und Günther Gawlick resümieren bezüglich der Ethik Humes, dass es »insbesondere die Tatsache [ist], daß Hume Sittlichkeit in ihrem Exekutions-, wie auch Dijudikationsprinzip nicht auf die menschliche Rationalität, sondern auf ein Gefühl gründet, die seine Theorie in Deutschland unannehmbar macht« (Lothar Kreimendahl u. Günter Gawlick: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 118). Vgl. ebd., Kap. IV. Dass Meier die Probleme bewusst waren, die der Moral, vor allem aber der politischen Stabilität durch die Freigeisterei in Fragen der Religion drohten, zeigt Gawlick entlang Meiers Versuch einer Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747, der als Vorwort zu einer religionskritischen Schrift erschien (vgl. Günter Gawlick: G. F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden. In: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 281–295, hier S. 289ff.). Vgl. Kreimendahl u. Gawlick: Hume in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 52), S. 67.
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cheson, Bolingbroke und andere Freigeister vorgetragen haben«.55 Dieses bestehe darin, den Geschmack und Trieb sowie den eigenen Vorteil und das Vergnügen den Sitten zugrunde zu legen.56 Meier wird also sicher von der zweiten Enquiry gewusst haben, sein Bild eines Skeptikers in der Moral stimmt jedoch in keiner Weise mit Humes moralphilosophischer Position zusammen. Auch John Locke, über den Meier gelesen hatte,57 kommt hier nicht in Frage, denn der hatte neben dem Bereich der Mathematik einzig den der Moral für sicherer Erkenntnis zugänglich gehalten. Allerdings scheint Meier nachhaltig von Locke beeindruckt und bereit gewesen zu sein, gewisse Schranken menschlicher Erkenntnis anzuerkennen. Nachdem er im Winter 1754 über Lockes Versuch über den menschlichen Verstand gelesen hatte, heißt es in seiner Betrachtungen über die Schrancken der menschlichen Erkenntniß vom darauf folgenden Jahr unter Verweis auf Locke, dass »man mit einer sehr großen Gewißheit annehmen [kann], daß in unserer einzeln Erkenntniß eine unendlich große Unwissenheit daher entsteht, weil wir nicht alle Erkenntnißkräfte besitzen, die da nöthig seyn würden, wenn wir alles an den einzeln Dingen ohne Ausnahme erkennen sollten«.58 Den Menschen fehlen »ohne Zweifel manche Erkennißkräfte, die nicht nur an sich möglich sind, sondern mit denen auch andere denckende Wesen und Geister ausgerüstet sind«.59 Meier ist daher auch davon überzeugt, dass die Kenntnis der Schranken menschlicher Erkenntnis sehr wertvoll sei; dies auch, um kein »Pedant« oder »Schulfuchs« zu werden.60 Es müsse aber angemerkt werden, hebt Meier den Zeigefinger, »daß es ein ungereimter, und in der That lächerlicher und thörichter Mißbrauch der Ueberzeugung von den engen Grenzen der menschlichen Erkenntniß sey: wenn man deswegen ein allgemeiner Zweifler wird, und alle menschliche Erkenntniß verachtet, und sie für ganz ungewiß hält«.61 Aus dem Satz, dass ein Mensch nicht alles erkennen könne, folge ja nicht, dass er gar nichts erkennen könne. Zwar 55
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Siegmund Jacob Baumgarten: Humes Essays and Treatises on several Subjects. In: Ders.: Nachrichten von merckwürdigen Büchern 9 (1756), 50. Stück, S. 158–168, hier S. 167. Den Hinweis auf diese Rezension habe ich Kreimendahl u. Gawlick: Hume in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 52) entnommen. Humes »Lehrbegrif« unterwerfe »die Grundsätze des Naturrechts der Wilkürlichkeit des Geschmacks und Bequemlichkeit des gemeinen Wesens so wol als dem Vortheil einzeler Menschen«, so Baumgarten: Humes Essays (s. Anm. 55), S. 162f. Vgl. Georg Friedrich Meier: Zuschrift an seine Hörer, worin er Ihnen seinen Entschluß bekannt macht, ein Collegium über Locks Versuch vom menschlichen Verstand zu halten. Halle 1754. Diese Ankündigung erschien auch in den Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen vom 24. Oktober 1754 mit dem Titel Ein bisher auf deutschen Universitäten ungewöhnliches Collegium. Darin wird Lockes Versuch als eine Schrift gepriesen, mit der sich in vorurteilsfreies Denken einüben lässt und die die eigenständige Beurteilung systematischer Philosophie erlaubt – keineswegs lobt Meier das Richtige am Empirismus darin. Er las nach der 1741 in Leipzig erschienenen lateinischen Übersetzung. Geplant war ein deutscher Auszug (vgl. ebd., S. 13), den Meier jedoch schuldig geblieben ist. Laut Günter Schenk war die Veranstaltung kein Erfolg und wurde daher nicht wiederholt (vgl. Schenk: Leben und Werk Meiers [s. Anm. 8], S. 105, vgl. dort auch zum Einfluss Lockes auf Meiers Oeuvre, S. 104–112); siehe hierzu auch den Beitrag von HansJoachim Kertscher in diesem Band. Meier: Schrancken der menschlichen Erkenntniß (s. Anm. 40), S. 50. Ebd., S. 53f. Vgl. ebd., S. 82. Diese maßvolle Wertschätzung des Skeptizismus als Anti-Dogmatismus entspricht dem Zeitgeist, wie Mario Longo zeigt (vgl. Mario Longo: Geistige Anregungen und Quellen der Bruckerschen Historiographie. In: Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen (Hg.): Johann Jacob Brucker (1696– 1770). Philosoph und Historiker der deutschen Aufklärung. Berlin 1998, S. 159–186, hier S. 166).
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erkenne der Einzelne stets nur »Stückwerk«, doch dieses schließlich klar und deutlich, andernfalls könne er ja gar kein »reelles Erkenntnißvermögen« für sich reklamieren.62 Meier versteht die Schranken der menschlichen Erkenntnis also quantitativ und nicht qualitativ. Offenbar war ihm der Gedanke, alles Erfahrungswissen könnte auf bloßen Assoziationen und Gewohnheiten beruhen und dadurch niemals gewiss, sondern bloß wahrscheinlich sein, in seiner Radikalität gar nicht bewusst. Hinsichtlich der praktischen Weltweisheit ist Meier zudem der Ansicht, dass sie viel leichter erkannt werden könne als die theoretisch-abstrakte.63 In der im gleichen Jahr erschienenen Betrachtung über die Fehler der menschlichen Tugenden zeigt sich immerhin, dass Meier den Skeptizismus in der Moral explizit ablehnte, obwohl in einzelnen Fällen nicht alle wesentlichen Elemente einer menschlichen Tugend ans Licht gebracht werden könnten. Meier sagt, »es hat Zweifler gegeben«, die der Ansicht waren, dass wir die Rechtmäßigkeit keiner einzigen Handlung mit Sicherheit erkennen können – gleichwohl, er sagt nicht, wen er meint.64 Auch der Materialismus von Julien Offray de La Mettries Skandalschrift L’homme machine von 1748 oder von Claude Adrien Helvétius’ De l’esprit von 175865 scheint nicht Zielpunkt von 61 62 63 64
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Meier: Schrancken der menschlichen Erkenntniß (s. Anm. 40), S. 75. Vgl. ebd., S. 79f. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. Georg Friedrich Meier: Betrachtung über die Fehler der menschlichen Tugenden. Halle 1755, S. 106. Eventuell bezieht Meier sich auf eher entlegene Schriften, denn offenbar war es seine Angewohnheit, über »unbekannte Compendia« zu lesen (vgl. Schenk: Leben und Werk Meiers [s. Anm. 8], S. 104). Eine andere Möglichkeit der Bezugnahme sind natürlich Johann Jacob Bruckers Kurtze Fragen aus der Philosophischen Historie (Ulm 1731–1736, 7 Bde.) bzw. seine Historia critica philosophiae (Leipzig 1742–1744, 5 Bde.). Darin finden sich zahlreiche Stellen zu Sextus Empiricus, die vermutlich auch die Quelle von Kants Wissen über Sextus waren (vgl. Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Berlin, New York 2006, S. 118, Fn. 264). Sextus’ Werke lagen zudem in einer von Johannes Albertus Fabricius herausgegebenen Edition samt der lateinischen Übersetzung von Henricus Stephanus (1562) vor (Sexti Empirici Opera Graece et Latine. Leipzig 1718). Bruckers erste Schrift handelte De Pyrrhone, a scepticismi universalis macula absolvendo (Jena 1716). Bruckers Lehrer Johann Franz Budde hatte mit Exercitatio historico-philosophica de Scepticismo morali (Halle 1699. In: ders.: Analecta historiae philosophicae. 2. Aufl. Halle 1724, S. 205–260) eine Schrift vorgelegt, in der er zwischen antidogmatischem ›gutem‹ und selbst dogmatisch gewordenem ›schlechtem‹ Skeptizismus unterschied (vgl. Longo: Geistige Anregungen [s. Anm. 60], S. 165f.). In den Abschnitten zum neueren Skeptizismus im 6. Band der Kurtzen Fragen findet sich ein Absatz zu den »Scepticis moralibus«, zu denen Brucker unter Verweis auf Buddes Abhandlung Michel de Montaigne, Gilles Ménage (Diogenes LaertiusKommentar) sowie Pierre Bayle zählt (Johann Jakob Brucker: Kurtze Fragen aus der Philosophischen Historie. Bd. 6. Ulm 1735, S. 857). Zu den neueren Skeptikern rechnet Brucker zudem Franciscus de la Mothe Vayer und Petrus Daniel Huetius. Bei diesen allen sei zu bemerken: »Daß solche Leute den Pyrrhonismum ergriffen, welche das Herz von Einsprüchen des Gewissens, und vom Joche des Glaubens und der Religion loßmachen, und die Freyheit erlangen wollen, nach ihren Begierden zu thun, was sie wollen« (Johann Jacob Brucker: Erste Anfangsgründe der philosophischen Geschichte. 2. Aufl. Ulm 1751, S. 416). Für die Moralphilosophie indes bleibt auch dieser Bezug etwas unklar, hatte doch Bayle wie Locke das moralische Urteil für vollkommen gewiss, wenngleich nicht vernunftgegründet gehalten (zum Verhältnis von Skeptizismus und Gewissheit in moralischen Fragen vgl. Gianluca Mori: Pierre Bayle on Scepticism and Common Notions. In: Gianni Paganini (Ed.): The Return of Scepticism: From Hobbes and Descartes to Bayle. Dordrecht u.a. 2003, pp. 393–414). Eventuell sind diese Feinheiten der Interpretation jedoch dem antiskeptischen Reflex des Rationalismus zum Opfer gefallen. Bereits im Jahr 1759 erscheint Johann Christoph Gottscheds Übersetzung Helvétius. Discurs über den Geist des Menschen.
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Meiers Ausführungen zu sein, da Materialismus und Determinismus in seiner Moralphilosophie überhaupt keine Erwähnung finden. Meiers Widerlegung des Skeptikers in der Allgemeinen practischen Weltweisheit geht daher vermutlich von den Folgen des allgemeinen epistemischen Skeptizismus für die Moral aus, der mit dem Namen Hume verbunden ist.66 Für eine rationalistische Position, die die Einheit von Theorie und Praxis sowie von Sein und Sollen vertritt, ist es jedoch ein konsequenter Schritt, nach den Folgen des Skeptizismus für die rationalistische Moral zu fragen. »Alle unsere Wissenschaft muß practisch seyn, wenn sie in der That nützlich seyn, und den höchsten und würdigsten Grad ihrer Vollkommenheit erreichen soll. Sie muß demnach eine Theorie seyn, ohne welche man unmöglich, die Lehre von der Tugend, hinlänglich erkennen und ausüben kann«,67 fordert Meier. Wenn theoretische Gewissheit aber nicht möglich ist, dann eben auch keine praktische. So ist es kein spezifisch moralischer Skeptizismus, der Meiers Widerlegung in der Einleitung motiviert, sondern der Skeptizismus überhaupt, der jedoch auch das System der Moralphilosophie anzugreifen droht. Zweitens kann man auch aus anderen Indizien schließen, dass man sich im 18. Jahrhundert der Tragweite des Skeptizismus auch in nicht unmittelbar epistemologischen Fragen durchaus bewusst war. Dies zeigt die 1761 ausgegebene Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften, die bekanntlich die fragliche Gewissheit und Evidenz von Metaphysik überhaupt, insbesondere aber der Theologie und der natürlichen Moral zum Gegenstand hatte.68 Das Akade-
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S. J. Baumgarten schreibt in der oben erwähnten Rezension zu Humes Enquiry Concerning Human Understanding, dass darin nicht nur die geoffenbarte Religion, »sondern selbst alle Gewisheit menschlicher Erkentnis und die regelmäßige Anwendung der Vernunft, untergraben und bestritten wird«. Dabei beachte Hume jedoch nicht den »Grund der Comprehension«, auf dem alle Vernunftschlüsse beruhten (S. J. Baumgarten: Humes Essays [s. Anm. 55], S. 164). Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 3), S. 8. Vgl. auch den Abschnitt 7: Von der gelehrten Erkentnis, in so ferne sie practisch ist in: Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, S. 362–408. Praktische Erkenntnis heiße so wegen ihres Gegenstandes oder wegen ihrer Beschaffenheit, auf den Willen zu wirken (zu »rühren«). Meier hält die praktische Erkenntnis für sehr viel vollkommener als die theoretische: »Je weniger practisch eine Wahrheit ist, desto weniger Zeit und Mühe mus man auf dieselbe wenden, und desto weniger vollkommen darf die gelehrte Erkentniß derselben seyn« (ebd., S. 386). Man könne zudem »kein guter Practicus seyn, wenn man nicht ein guter Theoreticus ist« (ebd., S. 370). ›Rühren‹ könne Erkenntnis vor allem, wenn sie anschauend sei – hier findet sich ein Baumgartens Ästhetik entlehntes Moment, das in eine eigene Form von Popularphilosophie mündet (vgl. dazu den Beitrag von Stefanie Buchenau in diesem Band sowie dies: The Founding of Aesthetics in the German Enlightenment. The Art of Invention and the Invention of Art. Cambridge 2013, insbesondere Kap. 5: »The Rhetorical Shift: Baumgarten’s Founding of Aesthetics in the Meditationes philosophicae«). Zur systematischen Begründung von Popularität vgl. auch Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, Kap. III: »Georg Friedrich Meiers Hinwendung zu den schönen Wissenschaften«. Böhr hebt auch den Zusammenhang von Ästhetik und Sittlichkeit bei Meier hervor (vgl. ebd., S. 43). Die Frage lautete: »On demande, si les vérités métaphysiques en général et en particulier les premiers principes de la Théologie naturelle et de la Morale sont susceptibles de la même évidence que les vérités mathématiques, et au cas qu’elles n’en soient pas susceptibles, quelle est la nature de leur certitude, à quel degré elle peut parvenir, et si ce degré suffit pur la conviction?« (Anmerkung des Hg. Leo Strauss zu den S. 20–22 von Mendelssohns Evidenzschrift [s. Anm. 29], S. 417). Mendelssohn erwarb mit seinem Essay den ersten Preis vor Kants Schrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der
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Nele Schneidereit
miemitglied Meier reagiert auf diese Frage in seiner Moralphilosophie von 1764 ganz ähnlich wie die ebenfalls von Wolff und Baumgarten beeinflusste Preisschrift Moses Mendelssohns von 1763. Er hält zweifelsfreie Gewissheit in der Moral für schwierig, aber möglich, ersetzt ihre durchschnittliche Evidenz und situative Anwendung aber weitgehend durch Erfahrung und sinnliche (allerdings nicht wie bei Mendelssohn schöne) Anzeige, sowie Einübung praktischer Urteilsfähigkeit durch den Sittenlehrer. Diese ist notwendig, weil bloß aus Erfahrung gewonnene moralische Prinzipien nicht in der gleichen Weise zum Handeln nötigen können wie intellektuelle Einsicht. Das Popularisieren sittlicher Einsicht ist aus den Systemen der späten und eigenständigen Wolffianer nicht mehr wegzudenken – und es ist auch kein bloßer Appendix, sondern aufgrund der Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis zentral. Drittens ist mit Kants Abkehr von der Demonstration allgemeiner moralischer Sätze aus der Natur des Menschen mit der Begründung, daraus nichts als empirische Sätze der Anthropologie, niemals aber a priori gewisse Sätze gewinnen zu können, der Naturalismus der Moralbegründung grundsätzlich widerlegt. Bei Baumgarten und Meier zeichnet sich diese Entwicklung darin ab, dass moralische Prinzipien zweifelsfrei aus der Natur des Menschen abgeleitet werden können, nicht jedoch konkrete moralische Urteile und Handlungen. Wie stark der Skeptizismus und der Determinismus auch die Moralphilosophie beeinflussen sollte, sieht man daran, dass Kant insgesamt von einem Beweis der Freiheit des Menschen Abstand und Zuflucht zu einem Faktum der Vernunft nahm, aus dem die Freiheit als Autonomie deduziert werden kann. Gegenüber dem szientifisch anspruchsvollen Wissen über die Natur des Menschen und dessen bei Meier offen zugestandener Irrtumsanfälligkeit ist einer der vielen Vorteile der kantischen Argumentation, dass sie weniger elitär ist – das moralische Gesetz ist auch dem gemeinsten Menschen als Richtmaß gegeben. Wie Baumgarten und Meier betont indes auch Kant in seiner kritischen Moralphilosophie die situativen Unsicherheiten der Anwendung. Und er hebt wie seine Vorgänger die zentrale Stellung des Sittenlehrers hervor, da die gemeinen Menschen zwar das Richtmaß sittlicher Urteile in sich haben, aber Anleitung bei der Einübung in seine Erkenntnis und Befolgung brauchen.69 Diese popularisierenden Momente begegnen bei Kant also wieder, beruhen jedoch insofern auf einer anderen Grundlage, als die Identität von Natur und Freiheit, Sein und Sollen im Rationalismus bei Kant einer problematischen Kompatibilität gewichen ist. Der gute Wille kann nicht von irgendwelchen Vorstellungen der gegenständlichen Welt, sondern nur von der reinen Vernunft allein bestimmt werden.70 Damit aber fällt auch das Problem
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natürlichen Theologie und der Moral von 1764. Zum Vergleich beider Schriften vgl. Paul Guyer: Mendelssohn and Kant: One Source of the Critical Philosophy. In: Philosophical Topics 19 (1991), Nr. 1, pp. 119–152. Vgl. den Abschnitt »Methodenlehre« in der Kritik der praktischen Vernunft (AA V, S. 149–160). Zu Kants Verhältnis zur Popularphilosophie vgl. Wolfgang Kersting: Kann die Kritik der praktischen Vernunft populär sein? Über Kants Moralphilosophie und pragmatische Anthropologie. In: Studia Leibnitiana XV (1983), H. 1, S. 82–93; Christoph Böhrs Band Philosophie für die Welt, der den Begriff der Popularität für »eine entscheidende Gelenkstelle an der Grenze zwischen Schul- und Weltbegriff von Philosophie« bei Kant hält (vgl. Böhr: Philosophie für die Welt [s. Anm. 67], S. 198) sowie Christoph Binkelmann u. Nele Schneidereit: Einleitung. In: dies. (Hg.): Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Würzburg 2015, S. III–XIX, spez. S. XIIff.: »Kants ambivalentes Verhältnis zur Popularphilosophie«. Zur Umkehrung in der Vorstellung eines guten Willens beim frühen Kant gegen Wolff vgl. Henrich: Kants früheste Ethik (s. Anm. 5), S. 411. Gleichwohl ist die spezifische Gestalt von Kants Moralphiloso-
Unwissenheit, Irrtum und Zweifel in Meiers Moralphilosophie
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ungewisser Erkenntnis jedenfalls für die Beurteilung von Maximen gemäß dem moralischen Gesetz fort – erhalten bleibt es jedoch hinsichtlich der Frage, ob man bloß legal oder wirklich moralisch gehandelt hat sowie hinsichtlich der Unübersichtlichkeit moralisch relevanter Situationen. Die bei Meier und Mendelssohn betonten Unwägbarkeiten der Ausübung moralischer Pflichten sind auch in Kants Moralphilosophie zu finden – diese Unsicherheiten bedrohen jedoch nicht ihr Fundament, weil das Begehrungsvermögen ganz eigene, vom Erkenntnisvermögen (relativ) unabhängige Prinzipien erhalten hat.
phie ohne ihre Vorläufer kaum denkbar. Vgl. dazu Schwaiger: Ein »missing link« (s. Anm. 4); ders.: Die Anfänge des Projekts einer Metaphysik der Sitten. Zu den wolffianischen Wurzeln einer kantischen Schlüsselidee. In: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann u. Ralph Schumacher (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. IX. Internationaler Kant Kongress. Bd. II. Berlin, New York 2001, S. 51–58 sowie Christian Schröer: Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant. Stuttgart 1988.
ALEXANDER AICHELE
»Der Mensch denckts, Gott lenckts«1 Georg Friedrich Meiers Versuch eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs
Um mit einem Kalauer zu beginnen: Niemand ist freiwillig Determinist. Und vielleicht ist die Erfindung der Kompatibilismus wenigstens ein bisschen auf den Versuch zurückzuführen, eine Position, die man ohnehin und womöglich ungern einnehmen muss, etwas erträglicher und auch plausibler zu gestalten. Denn kaum eine, sowohl in ihrer naturalistischen als auch logischen wie theologischen Variante, mit durchaus guten Argumenten vertretbare Auffassung zur menschlichen Willensfreiheit, eigentlich: ihrer Nichtigkeit, steht derart radikal im Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung unserer selbst als aktiv agierende, ihre eigenen Handlungen selbst unter einer Vielzahl von Alternativen bestimmende Wesen.2 Insbesondere theologische Lehrgebäude auf theistischer Basis wie philosophische Positionen, die nach der Integration des entsprechenden Begriffs eines notwendigerweise existenten, einfachen, allwissenden, allmächtigen und guten Gottes streben,3 kommen kaum umhin, sich mit Möglichkeit und Reichweite menschlicher Freiheit zu beschäftigen. Wenn nämlich Gott allwissend ist, verfügt er über alle wahren Propositionen. Da aber Propositionen nicht ihren Wahrheitswert wechseln können, ist alles Geschehen, weil es propositional erfassbar ist, von Ewigkeit an festgelegt. Und wenn Gott im Rahmen des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch allmächtig ist, kann auch nichts, inklusive des Bösen, geschehen, das dieser Festlegung nicht entspricht. Die Behauptung, dass Menschen im Vorhinein nicht schon determinierte Entscheidungen treffen können und in diesem Sinne frei sind, scheint vor diesem Hintergrund illegitim, ja schlicht unsinnig. Eine der radikalsten und auch gegenwärtig noch heftig diskutierten4 Lösungen dieses Problems zugunsten der Vereinbarkeit von indeterminierter Willensfreiheit und göttlicher Vorse1
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Georg Friedrich Meier: Gedancken von dem Einfluße der göttlichen Vorsehung in die freyen Handlungen der Menschen, Halle 1763, § 65 (S. 160); ders.: Metaphysik IV: Die natürliche Gottesgelahrheit. In: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean Ecole u. a. Hildesheim 2007 [ND der 2. Aufl. Halle 1765], Abt. 3, Bd. 108, § 1043 (S. 403). Für einen exzellenten Überblick über die gegenwärtige Diskussion vgl. Robert Kane (Ed.): The Oxford Handbook of Free Will. Oxford 2002. Zu einer einführenden Analyse in diese hauptsächlichen Attribute des theistischen Gottesbegriffs vgl. Gerard J. Hughes: The Nature of God. London, New York 1995. Vgl. Ken Perszyk (ed.): Molinism. The Contemporary Debate. Oxford 2012.
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Alexander Aichele
hung stammt von dem spanischen Jesuiten Luis de Molina. Er entwickelt sie in seinem Hauptwerk, der 1588 erstmals publizierten Concordia, das den so genannten und im übrigen von Seiten des römischen Lehramts seit der Auflösung der zuständigen vatikanischen Kommission im Jahre 1607 bislang noch nicht entschiedenen »Gnadenstreit« auslöste.5 Molinas Theorie baut auf zwei Kernstücken auf: Zum einen vertritt er die Indifferenz des Willens bis zur Wirklichkeit einer Handlung, d. h. eine Handlung kann solange vollzogen oder unterlassen oder anders vollzogen werden, bis sie tatsächlich vollzogen wird, so dass sie auch durch die Gegebenheit aller inneren und äußeren Bedingungen, die zu ihrem Vollzug erforderlich sind, nicht determiniert wird. Sein Begriff der Willensfreiheit ist also absolut.6 Zum anderen weiß Gott nach Molina um diese indeterminierten Handlungen durch seine scientia media, die in seinem Wissen darum besteht, wie jeder Mensch in jeder real möglichen Situation handeln würde.7 Sie liegt daher – deswegen der Name – ›mitteninne‹ zwischen Gottes scientia naturalis, die alles umfasst, was überhaupt logisch möglich ist, und seiner scientia libera, die alles enthält, was durch einen freien Willensakt Gottes wirklich ist bzw. gerade wirklich wird. Molinas Theorie gehörte zum Standard der Diskussion des Freiheitsproblems im 17. und 18. Jahrhundert und wurde auch von protestantischen Autoren intensiv rezipiert; in unserem Kontext sind hier vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz,8 Samuel Pufendorf,9 Philip Jakob Spener10 und Alexander Gottlieb Baumgarten11 zu nennen. Georg Friedrich Meier hat dem Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Vorsehung eine eigene Schrift gewidmet. In den 1763 erschienenen Gedancken von dem Einfluße der göttlichen Vorsehung in die freyen Handlungen des Menschen weist er zwar den indeterministischen Begriff der Willensfreiheit, wie er von Molina eingeführt worden ist, entschieden zurück. Dennoch operiert er weiter mit dem Begriff des mittleren Wissens. Jedoch wirkt sein Gebrauch in Meiers Überle-
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Vgl. Friedrich Stegmüller: Molinas Leben und Werk. In: ders.: Geschichte des Molinismus I: Neue Molinaschriften. Münster 1935, S. 1*–80*; und zum Gnadenstreit das Standardwerk: Gerardus Schneeman S.J.: Controversiarum de divinae gratiae liberique arbitrii concordia initia et progressus. Freiburg i. Br. 1881. Ludovicus Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione Concordia. Ed. crit. cur. Iohannes Rabeneck. Oña, Madrid 1953, S. 149–11 (I.2.3): »[A]gens liberum dicitur quod positis omnibus requisitis ad agendum potest agere et non agere aut ita agere unum ut contrarium etiam agere possit. Atque ab hac libertate facultas qua tale agens potest ita operari dicitur libera.« Vgl. dazu Alexander Aichele: The Real Possibility of Freedom. Luis de Molina’s Theory of Absolute Willpower in Concordia I. In: ders. u. Matthias Kaufmann (Ed.): The Brill’s Companion to Luis de Molina. Leiden 2013, pp. 3–54. Vgl. zur systematischen Problemlage und ihrer Geschichte: William Lane Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. Leiden 1988; zur Analyse von Molinas Text: Luis de Molina: On Divine Forknowledge. Part IV of the Concordia. Transl., with an introd. and notes by Alfred J. Freddoso. Ithaca, London 1988 und zum Versuch der Ausarbeitung einer Theorie auf dieser Basis: Thomas P. Flint: Divine Providence. The Molinist Account. Ithaca. London 1998. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodizee. Hg. u. übersetzt von Herbert Herring. 2 Bde. Darmstadt 1985, I. §§ 39–48 (Bd. I, S. 265–279); vgl. dazu Sean Greenberg: Leibniz Against Molinism: Freedom, Indifference, and the Nature of the Will. In: Donald Rutherford a. Jan A. Cover (Ed.): Leibniz. Nature and Freedom. Oxford 2005, pp. 217–233. Vgl. Alexander Aichele: Protestantische Willensfreiheit? Samuel Pufendorfs Molinismus. In: studia leibnitiana 46 (2014), [i.D.]. Vgl. Anna Szyrwinska: Der Einfluss des Pietismus auf Kants Ethik. Diss. Warschau, Halle 2012.
Meiers Versuch eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs
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gungen wie ein Fremdkörper. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dies tatsächlich der Fall ist. Meiers Rückgriff auf die scientia media ist deswegen sowohl überflüssig als auch irreführend. Denn seine Rede von freien menschlichen Handlungen setzt eine bestimmte Form von metaphysischem Determinismus voraus und erlaubt bestenfalls eine Art von epistemisch begründetem Kompatibilismus.12 Um dies zu zeigen, ist zunächst Meiers Begriff einer freien menschlichen Handlung und deren vielfache Beschränktheit darzulegen. Sodann ist sein Gebrauch der scientia media zu analysieren, um schließlich zu zeigen, was eigentlich, folgt man Meier, noch von der menschlichen Freiheit übrig bleibt.
1. Meiers Begriff einer freien menschlichen Handlung Meier leitet seine Bestimmung des Begriffs einer freien menschlichen Handlung aus seiner konventionellen Definition menschlicher Willensfreiheit ab. Sie besagt, »daß diese Freyheit […] in einem Vermögen des Menschen besteh[t], eine Handlung durch seine eigene Kraft zu thun oder zu unterlaßen, sie so oder anders zu thun, nachdem ihm das eine oder das andere, nach seinen eigenen deutlichen Ueberlegungen, besser gefält«.13 Dabei bedeutet, wie aus seiner Einleitung erhellt, Handlung überhaupt offenkundig eine jede Veränderung »in sich und außer sich«, die eine monadisch verstandene denkende Substanz durch »ihre ununterbrochene Thätigkeit«, d. h. ihre Selbstbewegung, hervorbringt.14 Demnach zeichnen sich freie Handlungen durch drei wesentliche Eigenschaften aus: 1. Sie werden aktiv »durch die eigene Kraft des Menschen gewürckt, in so weit eine endliche Substanz selbst etwas durch ihre eigene Kraft zu würcken im Stande ist«.15 2. Freie Handlungen setzen stets die Gegebenheit von Alternativen voraus, deren eine jeweils realisiert wird. 3. Dies erfordert die Erfassung der bestehenden Alternativen durch »vernünftige Erkenntniß«,16 da nur unter dieser Bedingung metaphysisch mögliche Veränderungen auch als alternative Gegenstände möglicher Willensbestimmungen zur Verfügung stehen. Diese epistemische Hürde ist jedoch außerordentlich hoch. Denn die geforderte Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf die Art der Handlung, sondern auch darauf, »was damit verknüpft ist«.17 Und das ist, wie Meier nicht müde wird zu betonen, gemäß des nexus rerum universalis 11 12
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Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Hildesheim, New York 1982 [2. ND der 7. Aufl. Halle 1779], § 876. Dass auch Leibniz eine ähnliche, allerdings wesentlich elaboriertere und subtilere Position vertritt, ist die These von Robert Merrihew Adams: Leibniz. Determinist, Theist, Idealist. Oxford 1994. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihr kann an dieser Stelle freilich nicht geleistet werden. Auch darauf, dass der Kompatibilismus in keiner seiner vielgestaltigen Varianten einen befriedigenden Ausweg aus dem Freiheitsproblem bietet, kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Peter van Inwagen: An Essay on Freedom. Oxford 1983. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 9 (S. 21). Ebd., § 1 (S. 3f.). Ebd., § 9 (S. 22). Ebd. Ebd.
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Alexander Aichele
jeder vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zustand der Welt als Inbegriff alles wirklichen Seienden außer Gott.18 Verlangt wäre also nicht nur eine universale Erkenntnis einer möglichen Handlungsweise, sondern die singuläre Erkenntnis einer einzelnen möglichen Handlung in der Welt. Und diese Erkenntnis müsste nicht nur propositionale Form haben, sondern auch auf rein rationalem Wege gewonnen werden, weil sinnliche Erkenntnis, unbeachtlich des Problems ihrer begrifflichen Analysierbarkeit, von Zukünftigem freilich unmöglich ist. Es liegt auf der Hand, dass ein endlicher Verstand weder über die hierfür notwendigen intensional-logischen noch epistemischen Mittel verfügt. Jede Wahl zwischen Alternativen ist folglich hinsichtlich ihrer Trefflichkeit intrinsisch ungewiss. Dass Meier dies als zentrale Schwierigkeit und zugleich als Ausweg aus dem Freiheitsproblem auffasst, werden wir noch sehen. Er erläutert nun die Tragweite seiner Definition einer freien menschlichen Handlung in sechs Punkten, die vor allem die Beschränktheit menschlicher Freiheit verdeutlichen: 1. Die Willensfreiheit ist kein eigenständiges Vermögen, sondern ein Aspekt der Aktivität der singulären Substanz der Seele. Zwar verfügt sie – Meier gebraucht hier die hergebrachten thomistischen Unterscheidungen – über die libertas executionis, die den Gebrauch des Willens überhaupt betrifft, und die libertas specificationis, welche die jeweilige Bestimmung des verwirklichten Willens enthält,19 um damit actus immanentes und transientes zu vollziehen.20 Die Verwirklichung dieser Freiheit hängt jedoch stets vom momentanen qualitativen und quantitativen Zustand jener substantiellen Kraft ab.21 Aufgrund der Singularität ihres Zustands, der durch alle vorhergehenden und gegenwärtigen Veränderungen der Seele und der Welt bestimmt wird, kann sie durch den freien Willen nur noch auf genau eine Weise gebraucht werden.22 2. Daher ist zwischen Freiheit und Macht des Willens zu unterscheiden. Letztere besteht in der Kraft zur Verwirklichung dessen, »was die Freyheit beschloßen hat, und zwar eben so, als sie es beschloßen hat«.23 Diese Macht kann sich entweder auf alle real möglichen Handlungen beziehen oder nicht. Erstere kommt Gott zu, zweitere allen endlichen Geistern.24 Der eigentli-
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Die Welt »ist demnach ein Gantzes, welches alles in sich begreift, was von ie her außer GOtt würcklich gewesen, was noch würcklich ist, und was bis in alle Ewigkeit würcklich bleiben wird, und was in allen künftigen Zeiten, welche kein Ende nehmen werden, zur Würcklichkeit kommen wird«. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 1 (S. 3). »Und es ist demnach, die Freyheit des Menschen, nichts anders als ein Vermögen deßelben, seine substantiellen Kräfte, durch welche er alle seine übrigen Handlungen würckt, in einigen Fällen, nach Maaßgebung seines eigenen vernünftigen Gefallens, zu gebrauchen, oder nicht zu gebrauchen, sie so oder anders zu gebrauchen.« Ebd., § 10 (S. 23). »Alle freye Handlungen des Menschen werden entweder bloß durch die Kraft der Seele gewürckt, wenn sie innerliche Handlungen sind, oder zugleich durch die Kräfte des Körpers, wenn sie äußerliche Handlungen sind.« Ebd. »Die Freyheit des Menschen kan, bey der Hervorbringung einer freyen Handlung, die eigene Kraft der Seele und des Leibes, unmöglich anders gebrauchen, als wie sie eben zu derselben Zeit in dem Menschen angetroffen wird, und beschaffen ist.« Ebd., § 11 (S. 26). »Folglich kan der freye Wille, bey der Hervorbringung der freyen Handlungen, zu keiner Zeit, die Kräfte des Menschen anders brauchen, und sie anders in Thätigkeit versetzen, als wie sie von der gantzen Kette aller vorhergehenden Zustände des Menschen, von dem ersten Augenblicke seines Daseyns an, bis auf dieselbe Zeit, ihrer gantzen Beschaffenheit nach abhangen.« Ebd. (S. 27). Ebd., § 12 (S. 27). Vgl. ebd. (S. 27–29).
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che Ort der menschlichen Freiheit scheint also in seiner Beschlussfähigkeit, d. h. in der Hervorbringung innerer Handlungen, zu liegen. 3. Diesen Befund bestätigt Meier durchaus. Jedoch ist die Freiheit des Willens noch geringer als seine Macht.25 Denn der Mensch vollzieht, schlicht indem er existiert, unentwegt durch seine eigene Kraft Bewegungen, die ihm nicht bewusst sind oder die er nicht unterlassen kann, auch wenn sie ihm bewusst sein mögen.26 Daher unterscheidet Meier zwischen willkürlichen und nicht willkürlichen Handlungen. Letztere sind natürlich notwendig und daher nicht frei.27 Willkürliche Handlungen können nun zwar unterlassen werden und erfolgen nach Belieben.28 Sie sind jedoch deswegen nicht schon alle frei. Denn das Belieben kann auf dunklen Vorstellungen beruhen, die nicht bewusst werden.29 Indes reicht auch Unterlassbarkeit, Belieben und Bewusstheit noch nicht zur Freiheit einer Handlung zu. Ein Mensch kann nämlich eine klare Erkenntnis seines Beliebens haben, d. h. über Wissen darüber verfügen, was er will, ohne zugleich dessen deutliche Erkenntnis zu besitzen, d. h. ohne Wissen darüber zu verfügen, warum er will, was er will. Erfolgt demnach die Willensbestimmung durch sinnliche Erkenntnis, ist sie nicht frei, da die begriffliche Erkenntnis ihres Grundes fehlt.30 4. Dependiert die Freiheit des Willens nun von einem epistemischen Kriterium, erfüllt ihren vollen Begriff allein die deutliche Erkenntnis einer einzelnen möglichen Handlung.31 Eine solche enthält nicht nur alle vergangenen Veränderungen des Handelnden – und damit der Welt –, 25
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»Man würde sich gewaltig irren, wenn man glauben wollte, daß sich die Freyheit des Menschen eben so weit erstrecke, als seine Macht, und daß er alles dasjenige frey thun könne und würcklich thue, was er durch seine Macht thut und ausführt.« Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 14 (S. 32). Vgl. ebd. (S. 31–34). »Die letzteren [sc. nicht willkührlichen Handlungen] geschehen nach einer solchen natürlichen Nothwendigkeit, daß sie von dem Menschen nicht unterlaßen, und auch nicht anders verrichtet werden können, als sie würcklich von ihm verrichtet werden.« Ebd., § 15 (S. 34). »Eine willkührliche Handlung ist eine Handlung, die ein Mensch thun und auch unterlaßen, so oder anders thun kan, nachdem es ihm selbst gefällig ist.« Ebd. »Nun kan uns auch etwas gefallen, nach dunckeln Vorstellungen, der wir uns nicht bewußt sind, und welcher wir uns auch nicht bewußt seyn können; es sey nun, daß es uns überhaupt unmöglich ist, zu dem Bewußtseyn dieser Vorstellungen zu gelangen, oder daß uns dieses nur in den dermaligen Umständen, ohne unsere Schuld, unmöglich fält.« Ebd. (S. 34f.). »Einiger derselben [sc. willkührlichen Handlungen] sind so beschaffen, daß sich der Mensch alsdenn, wenn er sie nach seinem Willkühr thut, nicht nur ihrer selbst bewußt ist, sondern auch derjenigen Erkenntniß, nach welcher er sich dabey richtet; oder der Mensch ist sichs bewußt, warum es ihm selbst beliebt, eben so und nicht anders zu handeln. […] [W]enn diese klare Erkenntniß so sinnlich und verworren ist, daß der Mensch entweder überhaupt, oder in seinem dermaligen Zustande ohne seine Schuld, nicht vermögend ist, sie deutlich zu machen: so handelt er zwar nach einem klaren Belieben, aber er ist nicht vermögend, sich bey dieser Handlung nach einer deutlichen Erkenntniß zu bestimmen.« Ebd., § 16 (S. 36f.). »Was von meiner Freyheit dergestalt abhangen soll, daß ich mit Recht der freye Urheber deßelben genennt werden kan, das muß dergestalt beschaffen seyn, daß ich mir seiner muß deutlich bewußt sein können. Widrigenfalls ist es mir nicht möglich, es selbst nach deutlichen Einsichten und Ueberlegungen eben so und nicht anders zu bestimmen, und es kan demnach nichts freyes seyn. Allein ist es wohl einem Menschen möglich, sich aller derienigen Vorstellungen und Beschäftigungen aller eintzeln Kräfte der Seele, aller Bewegungen des Leibes, und aller Würckungen seiner freyen Entschlüße, und der Ausführung derselben deutlich bewußt zu werden? Wenn dieses möglich wäre, so könnte er alle diese Veränderungen erzählen, und wer dieses behaupten will, der hat auch gantz gewiß noch keine eintzige seiner freyen Handlungen genau genug überlegt.« Ebd., § 20 (S. 44).
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deren »Folge«32 die freie Handlung ist, sondern auch alle »unendlich viele Folgen in allen nachfolgenden Zeiten«,33 welche die Handlung bewirkt. Es ist klar, dass eine solche Erkenntnis keinem endlichen Geist möglich ist, insbesondere wenn dessen Erkennen wie bei Menschen wesentlich sinnlich basiert ist.34 Meiers Feststellung, »daß keine menschliche freye Handlung gantz frey sey«,35 ist demzufolge mehr als – und womöglich zu sehr – gerechtfertigt. Denn bislang fehlt noch ein positiver Nachweis der Existenz auch nur einer einzigen freien menschlichen Handlung. 5. Alle freien Handlungen sind »Theile der gantzen großen Welt«.36 Diese bildet ein allgemein und durchgängig verknüpftes »System«.37 Damit klärt Meier auch die Bedeutung der vergangenen Weltzustände für die jeweilige Handlung des Menschen. Sie ist nämlich kausal: Die »übrigen Substanzen der Welt […] haben […], durch ihre beständige gegenseitige Einwürckung in denselben, in allen Augenblicken seines Daseyns, seinen substantiellen Kräften eben die und keine andere individuelle Bestimmung verursacht, wodurch der Mensch eben diese und keine andere eintzelne freye Handlung verrichtet«.38 Sie stellt daher »eine gemeinschaftliche Würckung« dar,39 deren »erster Grund« die Schöpfung ist.40 Wie jede andere Veränderung auch ist daher jede wirkliche, mithin tatsächlich vollzogene freie Handlung eine kausale Folge des Schöpfungsaktes, da sonst diese Welt schlicht eine andere wäre.41 Wäre eine freie Handlung nicht derart bestimmt, passte sie nicht in den Schöpfungsplan und würde »in demselben Verwirrung und Widerspruch verursachen«.42 Meier fasst seine bisher aufgeführten Erläuterungen in einem eindrücklichen Bild zusammen: Der allgemeine Zusammenhang der Dinge in der Welt verhält sich wie ein gewaltiger Strom, welcher seinen Lauf nach den ihm von Gott vorgeschriebenen Regeln fortsetzt. Der freye Mensch verhält sich wie ein kleiner Wurm, welcher auf einem Blatte, welches auf diesem Strom schwimmt, hin und her 32 33 34
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Ebd., § 23 (S. 51). Ebd., § 24 (S. 54). Vgl. ebd., § 21 (S. 45ff.). Der Inhalt sinnlicher Erkenntnis ist zwar singulär, so dass der Mensch unmittelbaren epistemischen Zugriff auf die Wirklichkeit besitzt, jedoch reichen seine intellektuellen Vermögen nicht aus, um diese vollständig dem Begriffe nach zu analysieren. Es fällt auf, dass Meier hier nur die negative Seite dieses Lehrstücks von Alexander G. Baumgarten betont; zu letzterem vgl. Alexander Aichele: Wahrheit – Gewissheit – Wirklichkeit. Die systematische Ausrichtung von A. G. Baumgartens Philosophie. In: Aufklärung 20 (2008), S. 13–36. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 19 (S. 41). Ebd., § 25 (S. 57). Ebd. Ebd. (S. 59). Ebd., § 26 (S. 60). »Folglich ist, gleich in dem ersten Augenblicke des Daseyns der ganzen Welt, der erste Grund zu allen freyen Handlungen gelegt worden: die in der Zeit nach und nach würcklich werden, indem nemlich die ersten Substanzen der Welt, in ihre erste durchgängig bestimmte Würcksamkeit, gesetzt worden.« Ebd. (S. 61). »Sollte also eine eintzige freye Handlung eines Menschen nicht geschehen, die doch würcklich ist, oder sollte sie anders geschehen, als sie in der That geschieht: so müste die gantze Reihe aller vergangenen Veränderungen, in allen Substanzen der Welt, vom Anfange der Welt an, etwas anders gewesen seyn, als sie würcklich gewesen. Die erste Würcksamkeit aller Substanzen der Welt hätte gleich in dem ersten Augenblicke der Welt, anders seyn müßen, als sie würcklich gewesen ist.« Ebd. (S. 61f.). Ebd., § 29 (S. 67).
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kriecht. Er kan nach seinem Wohlgefallen, in diesem kleinen Raume, sich hin und her bewegen. Dem ohnerachtet wird er mit dem Blatte, nach dem allgemeinen Laufe dieses Stroms, mit fortgerißen. Aller seiner willkührlichen Bewegungen ohnerachtet muß er dem Strome folgen, und selbst sein willkührliches hin und herkriechen wird, durch den allgemeinen Lauf des ganzen Stroms auf unendlich verschiedene Art bestimmt.43
6. Meiers letzter Punkt besteht in einer These: Sie besagt, dass »die freyen Handlungen der vernünftigen Creaturen«44 die Zwecke aller anderen Veränderungen in der Welt bilden, deren »höchste[r] und letzte[r] Zweck« wiederum »die höchste Verherrlichung Gottes« bzw. »die höchste Glückseeligkeit der vernünftigen Geschöpfe, die möglich ist«, bildet,45 so dass alle freien Handlungen Mittel zum letzten Zweck der Welt darstellen. Meiers Versuch eines kontrafaktischen Beweises46 dieser These von der teleologischen Priorität der freien Handlungen im Schöpfungsplan setzt die Lehre von der besten aller möglichen Welten voraus und braucht hier nicht eigens analysiert zu werden.
2. Meiers Gebrauch des Begriffs der »scientia media« Nach der Ablehnung des genuin molinistischen Freiheitsbegriffs47 durch kurze Erwähnung48 des von Leibniz übernommenen Doppelarguments gegen die vollständige Indifferenz des Willens aufgrund ihrer Ununterscheidbarkeit vom Zufall und der damit einhergehenden Verletzung des Satzes vom Grund greift Meier einen weiteren, seiner Meinung nach ebenso weitverbreiteten wie verfehlten Freiheitsbegriff an. Die von – wie leider üblich ungenannt bleibenden – »manchen« vertretene, falsche Auffassung besagt, »daß die Freyheit des menschlichen Willens darin bestehe, daß der Mensch ein Vermögen besitze, mitten unter allen übrigen endlichen Dingen, von denen er beständig umringt ist, auf eine von ihnen gäntzlich unabhängige Art zu thun, oder zu laßen, was ihm selbst gut dünckt«.49 43 44 45 46 47
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Meier: Gedancken (s. Anm. 1), S. 68. Ebd., § 30 (S. 68). Ebd. (S. 69). Vgl. ebd., §§ 31f. (S. 70 ff.). »Erstlich nehmen manche an, die Freyheit des Willens bestehe in einem Vermögen, in dem Zustande eines vollkommenen Gleichgewichts des Gemüths, ohne vorherige Bestimmungsgründe, eine Handlung zu thun, oder sie zu unterlassen.« Ebd., § 34 (S. 78). Zumindest hingewiesen sei hier darauf, dass die Unabhängigkeit von derartigen Gründen nicht gleichbedeutend mit ihrer Abwesenheit ist. Vgl. ebd. und Leibniz: Theodizee, I. §§ 44–46 (S. 273–277), der das Thema indes ungleich differenzierter behandelt. Meier unterschlägt hier freilich – ob bewusst oder unbewusst –, dass sich bei Molina durchaus ein diskussionswürdiger Beweisversuch der realen Möglichkeit solch absoluter Willensfreiheit finden lässt (vgl. dazu Aichele: Real Possibility [s. Anm. 6]), wenn er unterstellt, dass es einen solchen nicht gibt, die Indifferenz des Willens mithin nur »schlecht und unphilosophisch« (Gedancken [s. Anm. 1], § 34, [S. 80]) behauptet wird. Dies ändert freilich nichts daran, dass zumindest der Zufallseinwand gegenwärtig immer noch eine zentrale Rolle in der Diskussion um den indeterministischen Freiheitsbegriff spielt; vgl. dazu die knappe Zusammenfassung bei Geert Keil: Willensfreiheit. Berlin, New York 2007, S. 103–117. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 35 (S. 81).
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Meiers einziges Argument ist hier neben dem schlichten Hinweis auf Gottes Allmacht50 die Anführung der scientia media. Er schreibt: Wenn man annehmen wollte, daß eine freye Handlung dergestalt durch den allgemeinen Zusammenhang bestimt würde, daß dieser Zusammenhang ohne Absicht auf die freye Handlung zum voraus festgesetzt worden: so wäre dieses, der Freyheit, allerdings nachtheilig. Allein, nach meiner Ensicht, verhält sich dieses gerade umgekehrt. Weil Gott vorausgesehen, wie sich eine iedwede mit Freyheit begabte Creatur, in einem iedwede Falle, frey bestimmen werde: so hat er den gantzen allgemeinen Zusammenhang so eingerichtet, daß durch denselben eine iedwede freye Handlung ihre durchgängige Bestimmung bekommen kan.51
Auf den ersten Blick fällt auf, dass hier Molinas zentrales Argument für die Vereinbarkeit von Gottes Allwissen mit der Indifferenz des menschlichen Willens für die durchgängige Bestimmtheit der besten aller möglichen Welten in Anspruch genommen werden soll. Darauf ist gleich einzugehen. Zuvor ist indes eine Klärung von Meiers Adaption der scientia media ratsam. Er entwickelt ihren Begriff im IV. Teil seiner Metaphysik, der Natürlichen Gottesgelahrheit, ganz schulmäßig, und zwar in Verbindung mit Gottes scientia naturalis und seiner scientia libera. Erstere nennt er »die natürliche und nothwendige Wissenschaft Gottes«, deren Gegenstand »nicht von dem freyen Willen Gottes abhanget«.52 Dies bedeutet lediglich, dass mit diesem Wissen noch keine Schöpfungs- bzw. Verwirklichungsentscheidung getroffen ist. Es ist durch nichts bedingt und somit prävolitional. Die scientia naturalis bezieht sich daher auf alles, was überhaupt möglich ist. Sie ist folglich rein logischer Natur und demnach allein im Verstand Gottes verortet. Durch sie »erkent Gott die Wesen, die wesentlichen Stücke, und die Eigenschaften endlicher Dinge, als welche in blossen Möglichkeiten bestehen«.53 Insofern die innere Möglichkeit, d. h. das Wesen, eines jeden Dings auch alle möglichen Zustände enthält, in der sich ein Ding solcher Art überhaupt befinden kann, verfügt Gott mit der scientia naturalis über das Wissen aller möglichen einzelnen Dinge, wie sie überhaupt unter allen möglichen Umständen sein können. Die scientia naturalis erstreckt sich daher auf alle möglichen einzelnen Welten,54 die Gott vermittels eines intensionalen Individualbegriffs intuitiv und atemporal erfasst. Dementsprechend setzt »die freye Wissenschaft Gottes« eine Verwirklichungsentscheidung voraus. Die scientia libera ist postvolitional, d. h. bedingt durch die eigenen Willensakte Gottes. Sie ist daher kontingent, jedoch nach Meier zugleich atemporal und daher unveränderlich.55 Er hält das zwar für »eine unüberwindliche Schwierigkeit«, führt diese indes auf den »schwachen Verstand« des Menschen zurück und sieht daher keinen Revisionsbedarf an seinem Begriff der
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»Das ist ein Vorrecht der allergrößten und vollkommensten Freyheit, oder der Freyheit des göttlichen Willens, daß er sich in allen Fällen entschließt, ohne von anderen Dingen außer Gott bestimt zu werden. Der Mensch kan und darf einen solchen freyen Willen nicht haben.« Ebd. (S. 82). Ebd. (S. 81f.). Meier: Metaphysik IV (s. Anm. 1), § 907 (S. 188). Ebd. So auch Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 40 (S. 91): »Nun ist die würckliche Welt ein eintzelnes und durchgängig bestimtes Ding, und durch diese ihre durchgängige Bestimmung ist sie eben, von allen übrigen möglichen Welten, unterschieden. Folglich hat Gott eben beschloßen, daß die Welt, welche würcklich werden sollen, eben diese und keine andere Bestimmung haben solle, die ihr in der That zukommt.« Vgl. Meier: Metaphysik IV (s. Anm. 1), § 911 (S. 193f.).
Meiers Versuch eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs
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scientia libera.56 Diese unveränderliche hypothetische Notwendigkeit des freien Wissens57 betrifft nun nach Meier ebenfalls »die göttliche Vorhersehung des Zukünftigen«.58 Denn sein Verständnis des nexus rerum universalis macht auch alle zukünftig wirklichen Zustände der Welt zum Gegenstand des freien Wissens: Wer also alles Vergangene und Gegenwärtige weis, der erkent auch den völligen zureichenden Grund, weswegen sich das Willkühr und der freye Wille einer Creatur, in einem iedweden Falle, eben so und nicht anders bestimt. Folglich kann Gott, alle willkührliche und freye Entschliessungen der Creaturen, aus ihrem allerersten Zustande, in welchem sie sich nach ihrem ersten Ursprunge befinden, aufs deutlichste vorhersehen.59
Damit ist jedoch das göttliche Vorauswissen nicht mehr im eigentlichen Sinne prävolitional, sondern gemäß der Entscheidung, diese eine einzelne und keine andere Welt zu schaffen, postvolitional.60 Daraus folgt aber, dass keine reale Möglichkeit mehr besteht, dass das Weltgeschehen anders verlaufen könnte, als es verlaufen wird.61 Vor diesem Hintergrund wird auch Meiers Einführung der »mittleren Wissenschaft«62 problematisch. Sie wird so genannt, »weil ihre Gegenstände das Mittel sind zwischen blos innerlich möglichen Dingen, und solchen Dingen, welche in dieser Welt würklich vorhanden sind. […] Und man muß, zu dem Gegenstande dieser Wissenschaft, alles rechnen, was würklich gewesen seyn würde, wenn statt dieser Welt eine andere würklich geworden wäre«.63 Ganz schulmäßig scheint Meier die scientia media von der scientia naturalis zu unterscheiden, indem er sie nicht auf alle überhaupt möglichen Welten bezieht, sondern nur auf diejenigen unter ihnen, die gemäß der Schöpfungsentscheidung Gottes noch möglich wären, d. h. auf die jeweils möglichen
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Ebd. (S. 194). »Denn das es schlechterdings nothwendig ist, daß sie [sc. die freye Wissenschaft] wahr sey § 899. so kan sich Gott, vermöge derselben, diese Welt und alles was in derselben würcklich ist, nicht anders vorstellen, als es würcklich ist. Nun ist alles Würckliche in der Welt zufällig, und nur hypothetisch nothwendig. Folglich ist es schlechterdings nothwendig, daß es nur hypothetisch nothwendig sey, daß keine andere Erkenntniß endlicher Dinge, ausser der Erkenntniß dieser Welt, in dem göttlichen Verstande die freye Wissenschaft Gottes sey. Und sie ist also gleichsam eine zufällige Beschaffenheit Gottes.« Ebd. Ebd., § 908 (S. 190). Ebd., § 909 (S. 192). Hierin besteht, den Gedancken (s. Anm. 1), § 40 (S. 90f.) zufolge, der göttliche Ratschluss, den Meier ganz offenkundig zugleich als Willensakt versteht: »Zuförderst ist unleugbar, daß der göttliche Rathschluß darin bestehe, daß Gott von Ewigkeit her gewolt, daß eben diese und keine andere Welt, unter allen möglichen Welten, würcklich werden und fortdauren solle. Gott har nicht etwa in abstracto beschloßen, daß eine Welt würcklich werden solle; sondern da er, vermöge seiner Allwißenheit, alle möglichen Welten aufs genaueste und deutlichste erkannt, so hat er die unsrige allen übrigen vorgezogen, und gewolt, daß sie würcklich werden solle.« Dies zeigen auch etliche Passagen aus den Gedancken, so z. B. schon der Anfang vom Meiers ›Anwendung‹ seiner »allgemeinen Vorstellung von der göttlichen Vorsehung« – die er ja als scientia libera versteht – »auf die freyen Handlungen des Menschen«: »Und da muß man sich vor allen Dingen überzeugen, daß alle freye Handlungen, welche in dieser Welt geschehen sind, noch geschehen, und künftig noch geschehen werden, ebenfals wie alles übrige, was in der Welt würcklich ist, zu dem Gegenstande des ewigen Rathschlußes Gottes über diese Welt gehören.« Ebd., § 39 (S. 89f.). Meier: Metaphysik IV (s. Anm. 1), § 910 (S. 192). Ebd.
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zukünftigen Zustände dieser Welt vom ersten Moment ihrer Existenz an bzw. – moderner formuliert – auf von dieser Welt aus zugängliche mögliche Welten:64 Nun nehme man ein iedes Ding, ein iedes Accidenz, eine iede Veränderung, die in dieser Welt würklich sind. Wenn stat derselben etwas anders würklich geworden wäre, so hätte es andere Gründe in allen vorhergehenden Zuständen der Welt, und andere Folgen in allen nachfolgenden Zuständen der Welt gehabt, und folglich wäre eine andere Welt würklich.65
Klar ist zunächst der Unterschied dieses Wissens von der scientia libera. Denn diese umfasst alle vergangenen, gegenwärtigen und, aufgrund ihrer allgemeinen kausalen Verknüpfung, auch alle zukünftigen wirklichen Zustände dieser Welt. Die scientia libera enthält daher Gottes vollständiges Wissen um diese Welt. Die hypothetische Notwendigkeit dieses Wissens ist aufgrund seiner Postvolitionalität nicht mehr bloß logischen, sondern metaphysischen Charakters, da jeder Weltzustand zu einem zukünftigen Zeitpunkt t n+1 durch den vorhergehenden t n vollständig determiniert ist. Folglich sind nur diejenigen Zustände der Welt, die in Zukunft wirklich sein werden, auch real möglich. Jeder Zustand dieser Welt hat also nur genau eine mögliche Fortsetzung in der Zukunft. Dies entspricht der Position eines strikten Determinismus. Demzufolge kann sich die scientia media nicht mehr auf real mögliche, zukünftige Zustände dieser Welt beziehen. Kein Konditional, das sie aussagt, kann daher im metaphysischen Sinne wahr sein, sondern nur im logischen Sinne. Denn die Bedingung seiner metaphysischen Wahrheit ist schlicht nicht gegeben, war nie gegeben und wird niemals gegeben sein können. Die Wahrheit eines solchen Konditionals ist daher real unmöglich. Folglich hat nach Meier auch das mittlere Wissen Gottes nur logische Gegenstände. Sie bilden nichts anderes als eine Teilmenge seiner scientia naturalis. Demzufolge lassen sich scientia media und scientia naturalis ihrem Wesen nach nicht voneinander unterscheiden und sind daher identisch. Also ist die scientia media in Meiers Theorie funktionslos und deshalb überflüssig. Im eigentlichen Sinne gibt es sie dort gar nicht. Denn der Gegenstand der prävolitionalen scientia media müssen reale Möglichkeiten zur Fortsetzung des Weltverlaufs sein, so dass jedes entsprechende Konditional auch in metaphysischer Bedeutung wahr sein könnte, obwohl Gott in seinem Verstande, aber eben nicht gemäß seines Willens vorausweiß, welches unter den unendlich vielen das eine wahre ist:66 Gott weiß zwar unfehlbar voraus, was geschehen wird, aber dies schließt nicht aus, dass anderes geschehen könnte. Ohne die Indifferenz des menschlichen Willens zu behaupten, ist also der Gebrauch der scientia media unsinnig. Meier tut genau dies. Es mag sein, dass er deswegen in seiner Natürlichen Theologie auch nicht mehr auf die scientia media zurückgreift, wenngleich er versichert, dass sich ihr »Nutzen […], bey der Untersuchung des göttlichen Willens, zeigen [wird]«.67 Was ihn dazu bewogen hat, die scientia media einzuführen, ist indes eine Frage, die 64 65 66
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Vgl. dazu David Lewis: Counterfactuals. Oxford 1973. Meier: Metaphysik IV (s. Anm. 1), § 910 (S. 192). Es ist insbesondere dieses sowohl logische als auch metaphysische Problem, das die gegenwärtige Diskussion um molinistische »counterfactuals of freedom« trägt, vgl. Ken Perszyk: Introduction. In: ders.: Molinism (s. Anm. 4), S. 1–19, insb. S. 1–7. Meier: Metaphysik IV (s. Anm. 1), § 910 (S. 193). Soweit ich sehe, verweist Meier nur noch einmal, und zwar im Kontext seiner erstaunlich knappen Erläuterung der Unendlichkeit der »Liebe Gottes zum Guten, und de[s] göttlichen Haß[es] des Bösen« (ebd., § 936 [S. 225]), auf den einschlägigen Paragraphen: »3) Gott will, alle Gegenstände der mittlern Wissenschaft, in so weit sie gut sind, und verab-
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wohl eher mit philologischen als mit philosophischen Mitteln zu beantworten ist. Dies kann hier nicht geschehen.
3. Was von der Freiheit übrig bleibt Meier ist also metaphysischer Determinist. Trotzdem behauptet er die Freiheit des Menschen. Worin diese nicht bestehen kann, dürfte klar geworden sein. Nachdem Meier seine Auffassung von der temporalen Mitwirkung bzw. der kausal wirkenden68 Vorsehung Gottes im Sinne eines concursus generalis als Vollzug seines ewigen Ratschlusses dargelegt hat,69 bietet er seine positive Bestimmung menschlicher Freiheit: Nunmehro muß ich die freye Handlung selbst betrachten, in so weit sie in dem frey handelnden Menschen selbst würklich ist. Und da besteht sie in einer Begierde, oder in einer Verabscheuung, und in dem Entschluße zu einem unter beyden; und wenn sie eine äußerliche freye Handlung ist, so ist damit eine willkührliche Bewegung des Körpers verbunden.70
Strebungen, Entschlüsse und diesen entsprechende Körperbewegungen sind akzidentielle Eigenschaften71 eines Menschen, die dessen Individualität konstituieren. Sie machen wie bei jedem anderen Ding seine durchgängige Bestimmtheit aus und sind nach Meier die Verwirklichung »der substantiellen Kraft der Seele und des Leibes«.72 Diese ist in doppelter Weise eindeutig determiniert, nämlich »von der gantzen durchgängigen Bestimmung dieser Kräfte, in allen vergangenen Zeiten […], und von ihrer gantzen vergangenen und gegenwärtigen durchgängig bestimten Verbindung mit allen übrigen Substanzen in der Welt«.73 All diese Eigenschaf-
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scheuet sie, in so weit sie böse sind § 910. denn sonst würde diese Wissenschaft eine todte Erkenntniß seyn, welches unmöglich ist § 902«. Ebd. (S. 226). »Wenn es das Beste der gantzen Welt erfodert, daß einige dieser Handlungen, eine iede zu ihrer Zeit, würcklich geschehen; so hat er in allen vergangenen Zeiten schon dafür gesorgt, daß nach und nach alle Ursachen, in dem Menschen und außer demselben, würcklich werden, welche zureichend sind, wenn der Zeitpunct komt, da die Handlung geschehen soll, die dazu nöthigen Bewegungsgründe würcklich werden können.« Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 57 (S. 136f.). »Wir müßen von der Vorsehung Gottes noch überhaupt bemercken, daß sie in der würcklichen Vollstreckung und Ausührung des ewigen Rathschlußes Gottes über die Welt bestehe, welche nach und nach geschieht. Die Welt kan, als ein endliches und zufälliges Ding, nicht auf einmal würcklich seyn; oder es ist unmöglich, daß alles auf einmal zu irgends einer Zeit würcklich sey, was zusammengenommen diese gantze Welt ausmacht. Sondern, die Würcklichkeit der gantzen Welt, ist eine Reihe von Veränderungen, die sich von Ursprunge der Welt an, bis in alle Ewigkeit, erstreckt. Durch den ewigen Rathschluß Gottes ist festgesetzt, daß diese und keine andere Welt würcklich werden soll. Bey der Schöpfung der Welt ist der Anfang gemacht, diesen Rathschluß zu vollstrecken. […] Gott nimt, bey der Verwaltung der Vorsehung, keine eintzige Handlung vor, welche nicht in diesem Rathschluße von Ewigkeit her schon bestimt worden wäre.« Ebd., § 38 (S. 88f.). Ebd., § 61 (S. 146). Genau genommen dürfte man hier zumindest im metaphysischen Sinne freilich nicht mehr von Akzidentien sprechen, da diese Eigenschaften allenfalls im logischen Sinne andere sein können, als sie sind: Eine andere akzidentielle Beschaffenheit kann zwar gedacht werden; sie ist jedoch nicht real möglich. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 61 (S. 147). Ebd.
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ten, »die zusammen eine freye Handlung des Menschen ausmachen«, dependieren demzufolge »zuvörderst von der Vorsehung Gottes auf unmittelbare Weise«.74 Diese besteht in der Erhaltung der substantiellen Kräfte »in demselben Augenblicke, da die freye Handlung geschieht, durch einen reellen Einfluß seiner Allmacht«.75 Dass hierfür die bloße Erhaltung bzw. der concursus generalis zureicht, liegt auf der Hand, da der Fortgang des Geschehens durch die durchgängige Bestimmtheit der zu verwirklichenden Kräfte determiniert ist. Ebenso liegt eine mittelbare Abhängigkeit von Gottes Mitwirkung vor. Denn er erhält auch den Rest der Welt, dessen Beziehung auf die Kräfte des Handelnden gleichermaßen unerlässlich für deren durchgängige Bestimmtheit ist.76 Meiers Fazit ist also völlig konsequent: Folglich kan ohne dieser mannigfaltigen Mitwürckung, und ohne diesem thätigen Beystande Gottes, kein Mensch wollen oder nicht wollen, lieben oder haßen, sich freuen oder betrüben, ia er kann keinen Finger selbst und allein auf freywillige Art bewegen. Und da diese göttliche Mitwürckung höchst frey ist, und folglich nach dem höchsten und vollkommensten eigenen Belieben und Wohlgefallen Gottes, geschieht: so kan man mit der heiligen Schrift sagen, daß Gott bey allen freyen Handlungen des Menschen, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen gebe.77
Nun insinuiert Meier hier zwar freilich, dass Gottes concursus generalis nur die notwendige Bedingung freier menschlicher Handlungen bilde, aber was des Menschen Beitrag zu Gottes Werk sein mag, ist immer noch nicht klar. Vielmehr scheint für einen solchen Beitrag überhaupt kein Platz zu sein. Denn kurz vorher betont Meier ausdrücklich, dass Gott »in allen vergangenen Zeiten schon dafür gesorgt [hat], daß nach und nach alle Ursachen, in dem Menschen und außer demselben, würcklich werden, welche zureichend sind, wenn der Zeitpunct komt, da die Handlung geschehen soll, die dazu nöthigen Bewegungsgründe würcklich werden können«.78 Obwohl das letzte »können« die Antwort nahe legt, dass zur Verwirklichung einer freien Handlung über Gottes kausalen Einfluss hinaus eben doch noch der Entschluss des Handelnden nötig sei, ist diese Antwort jedoch versperrt: Es ist schlicht nicht zu sehen, was dazu noch erforderlich sein sollte, wenn ein zureichender Grund schon vorliegt. Denn aus der Gegebenheit einer Ursache folgt mit Notwendigkeit die durch diese bestimmte Wirkung. Allerdings muss man sich hiermit noch nicht zufrieden geben. Denn wenn der Mensch aufgrund von Meiers metaphysischem Determinismus schon keinen kausalen Einfluss auf sein
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Ebd. Ebd. Auf die augenscheinliche Nähe dieses Modells zur Theorie der praedeterminatio physica, die Domingo Bañez, der erbittertste Gegner Molinas im Gnadenstreit, gegen den molinistischen Indifferentismus entwickelt hat (vgl. Schneemann: Controversiarum [s. Anm. 5], S. 192–217 u. S. 238–250), kann hier nicht mehr eingegangen werden. »Sie hanget aber auch mittelbarer Weise von der Vorsehung Gottes ab, indem er mittelbarer Weise mitwürckt und nicht nur, die substantiellen Kräfte des Menschen, und aller übrigen Substanzen in der Welt, in allen vergangenen Zeiten erhalten hat, sondern auch die letztern, noch in eben demselben Augenblicke erhält, in welchem die freye Begierde, Verabscheuung und Bewegung in einem Menschen, durch seinen freyen Willen, gewürckt wird § 51. 52. 53.« Meier: Gedancken (s. Anm. 1), § 61 (S. 147f.). Ebd. Ebd., § 57 (S. 136f.).
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Handeln hat, so könnte seine Freiheit wie etwa bei Leibniz und Alexander G. Baumgarten79 doch immer noch in einem Zustand seines Bewusstseins bestehen. Dieser wäre, zumindest nach Meier, zwar ebenfalls metaphysisch determiniert, aber gerade dadurch in seiner Existenz gerechtfertigt. Es ist dieser kompatibilistische Weg, den Meier zu gehen zu versuchen scheint, wenngleich er ihn nicht ausdrücklich expliziert. Denn aufgrund seines wesentlich beschränkten Wissens um den Zustand der Welt und dessen zureichenden Grund ist aus der Perspektive des Menschen der Erfolg seiner Handlungen jederzeit ungewiss bzw. kontingent.80 Zwar sind alle Überlegungen, die er anstellen mag, um zu handeln, ebenfalls als mentale Zustände determiniert, und er kann sogar sowohl darum wissen als auch darum, dass es sich hier bloß um logische Möglichkeiten handelt, doch bleibt ihm aufgrund seines unvollständigen Wissens gar keine andere Möglichkeit, als so zu handeln, als ob seine Zukunft offen bzw. nicht metaphysisch determiniert wäre. Weil in diesem wesensnotwendig defizitären epistemischen Zustand81 all »seine moralische Erkenntniß, sein freyes Wollen und Nichtwollen« besteht, kann Meier sagen, dass es genau dieser mentale Zustand ist, »[w]as […] in der gesamten Thätigkeit des Menschen würcklich frey ist«.82 Der solchermaßen »frey handelnde Mensch« kann also wissen, dass er »in den Händen der göttlichen Vorhersehung, ein Werckzeug [ist], durch welche sie ihre Absichten, ofte ohne Wißen des Menschen, ia ofte wider seinen Willen, gantz gewiß und unausbleiblich erreicht«.83 Und er kann wissen, was der allgemeine Zweck seines und allen Handelns ist, nämlich Teil der besten Welt zu sein. Er kann aber nicht wissen, welche unter den unendlich vielen logisch möglichen genau die einzelne Handlung es ist, die diesen Zweck erfüllt: »Der Mensch denckts, Gott lenckts«.84
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Vgl. Alexander Aichele: Betrunkene Professoren und mörderische Schlafwandler. Personalität und Individualität in der Philosophie der Aufklärung zwischen Empirismus und Rationalismus: Locke – Leibniz – A. G. Baumgarten. In: Rolf Gröschner, Stephan Kirste, Oliver W. Lembcke (Hg.): Person und Rechtsperson. Tübingen 2015, S. 101–126. Vgl. Meier: Gedancken (s. Anm. 1), §§ 63f. (S. 152ff.). »Nun hat Gott beschlossen, daß nur dieienigen freyen Handlungen der Menschen, in Absicht ihrer durchgängigen Bestimmung, würcklich werden sollen, wodurch, das System der von Gott beschloßenen Zwecke, am besten und gantz gewiß erhalten wird. Die Menschen selbst können unmöglich, diese Zwecke Gottes, insgesamt wissen. Wenn also ein Mensch eine freye Handlung verrichtet, so kann er unmöglich wißen, wie viele göttliche Zwecke durch dieselbe erhalten werden. Es ist also auch unvermeidlich, daß der Mensch ofte andere Zwecke, als Gott, bey seinen Unternehmungen haben müsse. Und gleichwohl kan, der weiseste Rathschluß Gottes, in nichts fehlen.« Ebd., § 65 (S. 160f.). Ebd., § 68 (S. 167). Ebd., § 65 (S. 161). Ebd. (S. 160).
DOMINIK RECKNAGEL
Georg Friedrich Meiers »Recht der Natur« im Kontext des hallischen Naturrechtsdiskurses
1. Rezeption des Meierschen Naturrechts Im Jahre 1989 fällte Günter Gawlick ein ernüchterndes Urteil über Georg Friedrich Meier und die philosophiehistorische Forschung zu seinen Werken. Meier sei »weithin in Vergessenheit geraten« und die Forschung hätte »Meier keine große Aufmerksamkeit geschenkt«.1 Allein die Germanisten verzeichneten ihn - zusammen mit Alexander Gottlieb Baumgarten – als Begründer der Ästhetik in Deutschland und auch seine Auseinandersetzung mit Gottsched über die Dichtkunst fände einige Beachtung. Von anderen Aspekten seines umfangreichen Gesamtwerkes sei fast nie die Rede, selbst in Übersichtswerken zur Philosophiegeschichte blieben seine Werke weitgehend unerwähnt. Heute, ein Vierteljahrhundert später, kann diese Einschätzung in gewisser Weise revidiert werden. Neben einer wachsenden Zahl von Publikationen zur Ästhetik Meiers2 treten immer mehr Untersuchungen anderer Aspekte und Felder seines philosophischen Wirkens, wie etwa zur Religionsphilosophie, zur Hermeneutik und Sprachphilosophie, zur Poetik, schließlich zu Meiers Metaphysik und zur Vernunftlehre.3 Weniger Beachtung jedoch findet Meiers praktische Philosophie, obwohl diese doch einen erheblichen Teil insbesondere seines Spätwerkes ausmacht und, wie noch zu erläutern sein wird, ein ganzes, wenn auch unvollendetes System seiner so genannten ›practischen Weltweisheit‹ darstellt. 1
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Günter Gawlick: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I. Halle: Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 157–176, hier S. 157. Vgl. u. a.: Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007; Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Jürg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin 2005, S. 365–402; Günter Schenk: Wesen und Funktion der Ästhetik als Universitätsdisziplin aus der Sicht ihrer Begründer A. G. Baumgarten und G. F. Meier. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Weimar [u.a.] 1997, S. 109–124. Vgl. hierzu die Bibliographie von Ronny Edelmann in diesem Band.
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Möglicherweise liegt diese Unterbelichtung der praktischen Philosophie Meiers und insbesondere seines »Rechts der Natur« schon im Urteil seiner Zeitgenossen begründet. Sein Biograf Samuel Gotthold Lange, der in seinem 1778 erschienenen Werk Leben Georg Friedrich Meiers4 eine umfangreiche Liste seiner Schriften, ergänzt um teils ausführliche Kommentare, veröffentlicht, findet für Meiers fünfbändige Philosophische Sittenlehre (1753–1761) nur den lapidaren Hinweis: »Es ist jedem Prediger ein nöthiges Buch, und eine Schande, wenn er es nicht gelesen hat«.5 Die Allgemeine practische Weltweisheit (1764) listet Lange nur unkommentiert auf und das Recht der Natur (1767) bzw. den Auszug aus dem Recht der Natur (1768) versieht er mit einem knappen, vielleicht eher den Nichtleser entlarvenden Hinweis: »Unentbehrlich sind nunmehr diese beyden Schriften, dem Juristen, dem Philosophen, ja auch dem Gottesgelehrten, wenn er etwas Gründliches wissen will«.6 Johann Heinrich Lambert, der Rezensent von Meiers Recht der Natur in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek von 1769, bestätigt ein gewisses Desinteresse an dieser Fortsetzung seines philosophischen Systems mit den Worten: »Da sowohl die Gedenkensart des Hrn. Prof. [Meier] als seine Art des Vortrags aus seinen vorigen Schriften bekannt ist, und viele Leser gefunden hat, so wird es unnöthig seyn, das vor uns liegende Werk besonders anzupreisen. Wir begnügen uns daher von dessen Anlage einen kurzen Begrif zu geben«.7 Dieser allgemeine Eindruck der bereits »bekannten Gedenkensart« Meiers wird durch ein verbreitetes Vorurteil konkretisiert, das Johann Gottlieb Buhle in seiner Geschichte der neuern Philosophie aus dem Jahre 1803 namhaft macht: Man kann diese [Meiers] Schriften in drey Classen abtheilen: erstlich sofern sie bloß compendiarische Wiederholungen oder auch weitläufigere Erläuterungen der Leibniz-Wolfischen Philosophie und insbesondere der Baumgartenschen, sind; zweytens sofern sie Abhandlungen über einzelne philosophischen Materien enthalten, die bis dahin noch nicht genauer erörtert waren; drittens sofern sie Resultate originaler und eigener Untersuchungen Meier’s liefern. Zu der ersten Classe gehören M’s Lehrbücher über die Metaphysik, das Naturrecht, und die Sittenlehre.8
Und schließlich kombiniert Ernst Bergmann in seiner Untersuchung der Ästhetik Baumgartens und Meiers aus dem Jahr 1911 beide Annahmen insbesondere über die späten Schriften Meiers zu einem Urteil, das den Entschluss zur Lektüre sehr erschwert: Von dem ›vortrefflichen Analysten Baumgarten‹ hatte [Meier] die Kunst, Philosopheme zu zergliedern. Doch vermied er dessen lakonische Kürze wie auch die mathematische Methode, drang viel mehr überall auf Deutlichkeit und natürliche Einfachheit und illustrierte seine Darlegungen mit zahlreichen Beispielen. Leider verfiel er bei diesem Bestreben nur allzuoft in eine lästige und ermüdende
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Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778. Ebd., S. 149. Ebd., S. 152f. Johann Heinrich Lambert: Rez. G. F. Meier Recht der Natur. Halle 1767. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Bd. 8, St. 2 (1769), S. 273f., hier S. 273; abgedruckt in: Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. Bd. VIII: Kleinere philosophische Abhandlungen und Rezensionen. Teilbd. 2: Rezensionen. Hrsg. v. Armin Emmel und Axel Spree. Hildesheim 2007, S. 486f. Johann Gottlieb Buhle: Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften (=Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Sechste Abtheilung: Geschichte der Philosophie. Fünfter Band). Göttingen 1803, S. 13.
Meiers »Recht der Natur« im Kontext
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Breite, die die Lektüre seiner Schriften nicht immer genussreich gestaltet. In späteren Jahren artet diese Breite in Geschwätzigkeit aus.9
Spezifische Untersuchungen zu Meiers Naturrecht sind rar. Diethelm Klippel widmet ihm in seiner Arbeit über die Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts eine kurze Untersuchung, in der er die Leistungen des meierschen Naturrechts in der Erweiterung der »Denkmöglichkeit von Menschenrechten« verortet, indem Meier »das Individuum mit sehr konkret gefaßten Rechten ausstattet«.10 Diese Rechte nun bezeichnet Klippel als Menschenrechte, die aus natürlich angeborenen und natürlich erworbenen Gütern, bei Meier dem so genannten ›Seinen‹, abgeleitet würden. Zu diesen Rechten gehörten etwa das Recht auf Leben, auf Gleichheit und Freiheit, aber auch auf das durch Vertrag oder Erwerb erlangte Eigentum. Diese Rechte seien nach Meier aber auf den Naturzustand reduziert. Eine Klärung des Problems des Verhältnisses von Naturrecht zu staatlichem Recht gelinge nicht, so dass bei Meier »das Schicksal der Menschenrechte im Staat«11 nicht gelöst sei. Immerhin gehe die Konzeption der Menschenrechte bei Meier über die Auffassung etwa Wolffs hinaus, insofern umfangreichere und spezifischere Kataloge von Menschenrechten »Einschränkung oder gar Verlust der einzelnen Rechte im status civilis« um so »problematischer werden«12 lassen. So sei bei Meier der »krasse Gegensatz zwischen Geltung der Menschenrechte im Naturzustand und menschenrechtslosem bürgerlichen Zustand [...] bewußt geworden, [er könne] aber mit der herkömmlichen Theorie des Verhältnisses von Naturrecht zu positivem Recht nicht zufriedenstellend aufgelöst werden«.13
2. Meiers Naturrecht als eine Hinsicht seiner »practischen Weltweisheit« Nähert man sich nun der meierschen Naturrechtslehre selbst, so ist man zunächst auf seine Einteilung der Weltweisheit verwiesen. Neben der »theoretischen Weltweisheit«, die sich mit Gott, den Werken Gottes und »dem ganzen Weltbaue« beschäftigt,14 handelt die »practische Weltweisheit« von den »natürlichen Pflichten der Menschen in allen ihren Zuständen«.15 Die 9 10 11 12 13 14
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Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Leipzig 1911, S. 34. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 82–84, Zitat S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd. Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit gegen die Gottesgelahrtheit. Halle 1759, S. 8 (§ 3). Vgl. hierzu: Günter Gawlick: Ein Hallischer Beitrag zum Streit der Fakultäten: Georg Friedrich Meiers Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit zur Gottesgelahrtheit (1759). In: Robert Theiss u. Claude Weber (Hg.): De Christian Wolff à Louis Lavelle: métaphysique et histoire de la philosophie; recueil en hommage à Jean École à l’occasion de son 75e anniversaire. Hildesheim 1995, S. 71–84. Vgl. zur Einteilung der meierschen Weltweisheit Günter Schenk: Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, S. 125–149. Meier: Betrachtungen (s. Anm. 14), S. 8 (§ 3).
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natürlichen Pflichten werden ebenso wie die möglichen Zustände der Menschen zweifach unterteilt. Meier kennt innere und äußere natürliche Pflichten des Menschen, die es im natürlichen oder aber gesellschaftlichen Zustand zu betrachten gilt. Meier versteht hierbei den Naturzustand als einen Zustand bar jeder gesellschaftlichen Bindung, der noch nicht einmal die familiäre Bindung, sondern bloß einzelne und gleiche Menschen kennt, die »einerley Rechte und Zwangspflichten«16 haben. Der gesellschaftliche Zustand hingegen beruht auf einem Vertrag, der Art und Gattung erlaubter und gebotener freier Handlungen der Mitglieder bestimmt, auf einen gemeinsamen Zweck hin angelegt ist und einen fortdauernden Zustand der Vertragsparteien begründet.17 Aus der Kombination möglicher Pflichten und Zustände ergeben sich also vier verschiedene Bereiche der »practischen Weltweisheit«: erstens die inneren natürlichen Pflichten des natürlichen Zustands, von Meier in seiner fünfbändigen Philosophischen Sittenlehre18 entfaltet, zweitens die äußeren natürlichen Pflichten bzw. Zwangspflichten des natürlichen Zustands, Meiers Recht der Natur,19 drittens die äußeren natürlichen Pflichten des gesellschaftlichen Zustands, die Meier in seiner Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten des Menschen20 darlegt und »Gesellschaftliches Naturrecht« nennt, und schließlich viertens die inneren natürlichen Pflichten des gesellschaftlichen Zustands, von Meier »Gesellschaftliche natürliche Klugheit«21 genannt. Mithin haben wir es in Meiers System der natürlichen Pflichten des Menschen mit zwei Naturrechten, zum einen des natürlichen und zum anderen des gesellschaftlichen Zustandes, zu tun, deren Inhalte und Verhältnis zueinander im Folgenden genauer zu bestimmen sind. Schon in der vierfachen Unterscheidung fällt auf, dass bei Meier nur die äußerlichen natürlichen Pflichten unter der Bezeichnung »Recht der Natur« bzw. »Naturrecht« firmieren, die inneren natürlichen Pflichten hingegen Sittlichkeit bzw. Klugheit genannt werden. Dies ist ein erster deutlicher Hinweis auf die strikte Trennung von Recht und Moral in Meiers System der praktischen Philosophie, dessen naturrechtlicher Bereich ausschließlich die »vollkommenen« Verbindlichkeiten der Menschen untereinander erfasst, ihre Pflichten gegen Gott und sich selbst aber ausschließt.
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Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Halle 1767, S. 3–5 (§§ 1f.). Siehe nunmehr auch: Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Mit einem Vorwort von Dominik Recknagel. Hildesheim 2014 (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. III: Materialien und Dokumente. Begr. v. Jean École, hg. v. Werner Schneiders u. Robert Theis, Bd. 141). Georg Friedrich Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten des Menschen. Erster Theil. Halle 1770, S. 21–24 (§§ 11f.). Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. 5 Bde. Halle 1753–1761. Entgegen der vorgestellten Systematik behandelt der 5. Band der Philosophischen Sittenlehre auch innere natürliche Pflichten des gesellschaftlichen Zustandes. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16); ders.: Auszug aus dem Rechte der Natur. Halle 1769. Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 16–255 (§§ 8–157); ders.: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten des Menschen. Anderer Theil. Halle 1773, S. 1–244 (§§ 1–116) [Natürliches Eherecht]. Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 256–446 (§§ 158–260); ders.: Lehre Anderer Theil (s. Anm. 20), S. 245–405 (§§ 117–180).
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3. Der Inhalt von Meiers Naturrecht Meiers Recht der Natur von 1767 enthält nun gleich auf den ersten Seiten der Einleitung die komplette Grundlegung des Naturrechts im natürlichen Zustand. Es handelt sich hierbei um die Wissenschaft der natürlichen äusserlichen Pflichten einzelner Menschen [...], welche sie gegen einander in dem natürlichen Zustande zu beobachten verbunden sind. [Es handelt] diejenigen Naturgesetze ab, welche uns zu diesen Pflichten verbinden, samt den Rechten, die sich auf sie beziehen, und welche aus ihrer Verletzung ihren Ursprung nehmen. Es wird [...] bloß die Frage abgehandelt: zu was für einem freyen Verhalten ein einzelner Mensch den anderen zu zwingen berechtigt ist, wenn keiner ein Oberherr des andern ist.22
Und das grundlegende Prinzip dieser Pflichten, die »unter allen Pflichten der Menschen die allerleichtesten sind in ihrer Ausübung«, besteht darin, »daß man keinem andern Menschen das Seine nehme«.23 Damit stellt Meier eine Ableitung des in der Naturrechtslehre seit Ulpian fest verankerten Grundsatzes des neminem laedere in das Zentrum seiner Naturrechtstheorie. Aus diesem Prinzip leitet Meier sämtliche natürliche Rechte und Pflichten des Menschen im Naturzustand ab, indem er aus dem ersten Grundsatz die erste Zwangspflicht folgert, »keinen andern Menschen in Absicht dieses Seinen zu beleidigen«,24 die alle übrigen Pflichten in sich begreife. Dies stellt offenbar eine Weiterentwicklung des ersten Grundsatzes des gesamten Naturrechts aus Meiers Allgemeiner practischer Weltweisheit dar. Dort hatte Meier noch die Pflicht ergänzt, jedem Menschen das Seine zu lassen und auch zu geben, eine Forderung, die nunmehr, wohl um des Effekts der passiven Erfüllbarkeit wegen, ausgespart ist. Aus der ersten Zwangspflicht folgt für Meier, dass jeder »von allen andern Menschen erwarten kan, daß sie ihm das Seine ungestöhrt lassen; und daß es ihm erlaubt ist, wenn andere dieses nicht gutwillig thun wollen, sie mit aller nöthigen Gewalt dazu zu zwingen. Dieses ist das erste natürliche Recht des Rechts der Natur«.25 Meier gelingt folglich die Konkretisierung der Sanktion von Naturrechtsverstößen, indem er dem Einzelnen nicht nur abstrakte Rechte zuschreibt, sondern damit auch unmittelbar das Recht der gewalttätigen Durchsetzung derselben verknüpft. Die Quelle der Gesetze und ihrer Verbindlichkeit steht für Meier fest. Es ist der »allerheiligste souveraine Wille« Gottes, »unseres höchsten Gesetzgebers und Oberherrns«.26 Da aber die »Wahrheiten des Rechts der Natur« auch empirisch hergeleitet werden können mittels Beweisgründen, »deren Gewißheit gar nicht von der natürlichen Gottesgelahrtheit abhanget«, können selbst »die Atheisten, und diejenigen, welche die Vorsehung GOttes und sein Strafgericht leugnen [...] von dem Rechte der Natur überzeugt werden«.27 Im Übrigen bezieht Meier diesen Grundsatz auch auf das geoffenbarte göttliche Gesetz. Da Gott mit der heiligen Schrift 22 23 24 25 26 27
Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 3 (§ 1). Ebd., S. 6 (§ 2). Ebd., S. 35 (§ 19). Ebd., S. 36 (§ 20). Ebd., S. 17f. (§ 8). Ebd., S. 16f. (§ 8).
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das Recht der Natur nicht aufgehoben habe, so Meier, könne, »was demselben widerspricht, [...] keine wahre christliche Pflicht seyn«.28 Die Befolgung des Rechts der Natur ist »nicht einmal eine würkliche Handlung, ein mühsamer Fleiß, sondern eine Unthätigkeit. Kan etwas leichter seyn?«29 fragt Meier also, und eröffnet damit einen kurzen Blick auf seine Einteilung der Gerechtigkeit von Handlungen, die darauf hinausläuft, ungerechte von gerechten Handlungen anhand ihrer Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit den äußerlichen Naturgesetzen zu unterscheiden und die gerechten Handlungen ihrerseits noch einmal in gebotene und erlaubte zu unterteilen.30 Doch muss man fragen, welche Handlung im Rahmen des Rechts der Natur eine gebotene sein soll, war die Beobachtung des Rechts der Natur doch soeben auf die Untätigkeit beschränkt worden. Letztlich identifiziert Meier die gerechte Handlung methodisch unsauber mit der natürlichen Zwangspflicht und fügt ihr wie selbstverständlich noch eine äußere natürliche Verbindlichkeit hinzu, die offenbar als Folge oder Illustration des Sanktionsrechts des in dem Seinen Verletzten fungiert. Die ungerechte Handlung hingegen, von Meier Beleidigung genannt, ist »eine jede Handlung, welche durch diese [äußerlichen Natur-] Gesetze verboten ist«.31 Und das ist, wie wir aus dem Grundsatz des Rechts der Natur ableiten können, jede Handlung, die das Seine des anderen Menschen nimmt bzw. verletzt. Aus einer solchen Handlung erwächst dem Beleidigten ein Übel, die Abwesenheit oder Verminderung jenes Seinen, von Meier Schaden genannt.32 Bemerkenswert ist, dass Meier den Begriff des Schadens in besonderer Weise qualifiziert, indem er ihn nicht vom Ergebnis der Handlung, sondern vom Willen des Handelnden her definiert. Notwendige Voraussetzungen für einen »eigentlich so genannte[n] Schaden« als der Zurechnung fähige »moralische Würkung« sind das freie Handeln und der freie Wille des Urhebers.33 Bestand kein Wille zur Schädigung, dann kann die Verminderung des Seinigen »als kein eigentlicher Schade betrachtet werden«.34 Hierzu zählen nach Meier der rechtmäßige Verlust des Seinen ebenso wie der Verlust, der durch Wetterverhältnisse, durch unvernünftige Tiere oder durch verrückte und rasende, also unfreie Menschen verursacht ist.35 Die freilich unter dem Anschein der Tautologie leidende Verknüpfung von Beleidigung und Schaden gibt Meier den Ausgangspunkt der grundlegenden Verpflichtung im natürlichen Zustand in die Hand. Sie besteht darin, keinem anderen »einen Schaden zu thun«, das heißt, »einem jedweden Menschen das Seine [zu] lassen«, das heißt, »niemanden [zu] beleidigen« und das heißt schließlich, »diejenigen freyen Handlungen [zu] unterlassen«, durch die in »andern einzelnen Menschen ein Schaden entstehen würde«.36 Aus dieser Verbindlichkeit, die zugleich »äusserliche Pflicht« ist, folgert Meier das natürliche Recht jedes Menschen, »dahin zu sehen, daß ihm gar kein Schaden geschehe«, und ihn dazu ermächtigt, »jederman mit Gewalt abzuhal28 29 30 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 32 (§ 17). Ebd., S. 6 (§ 2). Ebd., S. 37 (§ 21). Ebd., S. 37 (§ 21). Ebd., S. 38f. (§ 22). Ebd., S. 40 (§ 22). Ebd., S. 41 (§ 23). Ebd., S. 41f. (§ 23). Ebd., S. 42f. (§ 24).
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ten, ihm Schaden zu thun, und die Unterlassung der Verursachung eines Schadens zu erzwingen«.37 Die Ausübung dieses Zwangsrechts bzw. dieser Zwangspflicht steht und fällt zweifellos mit der Definition dessen, was das Seine sein soll. Meier nutzt daher den kompletten Umfang seines Werkes über das Recht der Natur dazu, dieses Seine näher zu bestimmen. Er unterscheidet für den natürlichen Zustand das angeborene, also das von Geburt an zustehende Seine, vom erlangten, durch eigene freie Handlung mittels Vertrag oder Bemächtigung gewonnene Seine. Zu dem angeborenen Seinen zählt Meier das Leben,38 den »Körper und alle Theile und Glieder desselben«,39 die Keuschheit oder »Jungfrauschaft«,40 die natürliche Freiheit und Gleichheit,41 das Recht zu allen Tugenden und innerlichen Sünden42 und den ehrlichen Namen.43 Daneben kennt Meier zwei Wege der Erlangung des Seinen im natürlichen Zustand des Menschen, den Vertrag und die erste Bemächtigung, die ihn dazu veranlassen, seine Vertragsund Eigentumslehre zu präsentieren. Die naturrechtliche Garantie dieser natürlichen Rechte, die als Zwangsrechte immer eine Verbindlichkeit und Zwangspflicht auf der Gegenseite einschließen, hat nach Meier immer dieselbe systematische Begründung. Weil ein natürliches Recht ein Zwangsrecht und ein Recht der Erhaltung des Seinen bedeutet, kann der hinsichtlich des Seinen Verletzte auf zweierlei Weise reagieren und Zwang ausüben: Er kann, wenn die Beleidigung zwar noch bevorsteht, jedoch eine »moralische Gewissheit«44 über die Absichten des Angreifers vorliegt, sein Verteidigungsrecht ausüben und die Beleidigung mit Gewalt verhindern,45 oder aber, wenn die Beleidigung bereits erfolgt ist, mit Gewalt die Ersetzung des Schadens erzwingen.46 Jeweils also ist der Einsatz von Gewalt nach Meier legitimes Mittel der Verteidigung bzw. der Durchsetzung des Schadensersatzes, was ihn dazu veranlasst, ein umfangreiches Recht des Krieges zu erörtern, das sich durchweg am grotianischen Kriegsrecht orientiert. Dieser Einsatz von Gewalt hat aber mit »proportionirten Mitteln« zu geschehen, indem bei Erreichen der vollständigen Sicherheit vor der Beleidigung oder des vollen Schadensersatzes nach der Beleidigung das Recht zur Gewalt aufhört. Ein Überschuss an Gewalt würde anderenfalls selbst eine Beleidigung darstellen, die entsprechende Verteidigungs- und Wiedergutmachungsrechte beim anderen auslösen würde. Letztlich besteht also das Recht der Natur Meiers darin, den Bestand des jedem einzelnen Menschen zustehenden Seinen zu garantieren und mithin in einem System aus zustehenden
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Ebd., S. 43 (§ 24). Ebd., S. 203–222 (§§ 100–109). Ebd., S. 223–243 (§§ 110–118). Ebd., S. 243–259 (§§ 119–127). Ebd., S. 259–270 (§§ 128–133). Ebd., S. 271–277 (§§ 134–137). Ebd., S. 277–338 (§§ 138–171). Ebd., S. 84 (§ 43): »Diesen Vorsatz des andern muß er, wo nicht völlig gewiß, doch mit einer moralischen Gewißheit aus den Kennzeichen schliessen, aus denen der Vorsatz eines Menschen geschlossen werden kan.« Ebd., S. 81–85 (§§ 42f.). Ebd., S. 85–100 (§§ 44–53).
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Rechten den status quo zu sichern. Dabei spielen Unterschiede zwischen dem jeweils einzelnen Menschen zustehenden Seinen keine Rolle: Es ist wahr, die äusserlichen Zwangspflichten des natürlichen Zustandes bleiben einerley, die Menschen mögen, in dem natürlichen Zustande, übrigens noch so sehr von einander unterschieden seyn. Reiche und Arme, Kranke, Gesunde, Geehrte, Verachtete u.s.w. sind auf eine gleiche Art äusserlich verbunden, einem jedweden andern Menschen das Seinige ungekränkt zu lassen. So wenig der Arme die Erlaubniß hat zu stehlen, und zu morden; eben so wenig kan sie der Reiche haben.47
Eine bloß angedrohte oder auch tatsächliche willentliche Störung dieses Bestandes, etwa durch eine Verminderung des Seinen an einer bestimmten Stelle, löst dort ein Recht zur Sicherung bzw. Wiederherstellung jenes Seinen und damit des Bestandes in der wenn nötig gewalttätigen Restaurierung des vormaligen Zustandes aus. Ist die Sicherheit bzw. Restauration erreicht, der Frieden wiederhergestellt, so erlöschen schließlich alle Rechte auf Gewalt. Konsequenterweise gibt es für Meier kein Strafrecht im natürlichen Zustand. Dieses kommt erst im Rahmen des Gesellschaftsvertrages ins Spiel, da nach Meier nur die Gesellschaft berechtigt ist, ihre Mitglieder zu belohnen oder mit Strafen zu bedrohen. Erst aus dem Gesellschaftsvertrag fließt ein Recht zur Bestrafung, weil jedes Mitglied dort »schon zum voraus in die Strafe eingewilliget« hat.48 Meiers natürliche Rechte sind keine Menschenrechte im heutigen Sinne. Wie etwa Francisco Suárez oder auch Hugo Grotius49 innerhalb ihrer Naturrechtslehre eine Veräußerbarkeit der natürlichen Freiheit konstatierten, liegt ein besonderes Merkmal der natürlichen oder erworbenen Rechte auch für Meier gerade darin, auf diese Rechte verzichten bzw. sie veräußern zu können: Gleichwie also ein jeder Mensch, zu dem Gebrauche seiner Rechte, ein Recht hat; also hat er auch ein Recht seine Rechte nicht zu gebrauchen. [...] alsdenn lassen wir unser Recht fahren, wir mögen es nun auf immer fahren lassen, wenn wir beschliessen, es nie wieder zu gebrauchen, oder nur auf eine Zeitlang. Folglich ist keine Nachlassung eines Rechts ungerecht und eine Beleidigung.50
Allerdings beleidigt nach Meier sehr wohl der, »der jemanden seine Rechte nimmt, indem er ihm entweder den Gebrauch seiner Rechte wider seinen Willen physisch unmöglich macht, und mit Gewalt diejenigen seiner Handlungen verhindert, durch welche er seine Rechte ausübt, oder 47 48 49
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Meier: Sittenlehre (s. Anm. 18), Fünfter Theil [1761], S. 4 (§ 980). Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 109–113 (§§ 65f.). Vgl. zur Spätscholastik u. a.: Francisco Suárez: De legibus seu legislatore Deo. Tractatus de legibus, utriusque fori hominibus utilis, in decem libros dividitur, quorum quinque primos in hoc tomo reperies. In: R. P. Francisci Suarez e Societate Jesu Opera Omnia. Editio nova, vol. V, ed. C. Berton, Paris 1856–1878, S. 186 (3.4.6.): »Sicut quando unus homo privatus se vendit et tradit alteri in servum, dominium illud ab homine simpliciter est: illo vero contractu supposito, jure divino et naturali obligatur servus parere domino.« Vgl. zu Grotius: Hugo Grotius: De iure belli ac pacis libri tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur. Curavit B.J.A. de Kanter-van Hettinga Tromp, Editionis anni 1939, quae Lugduni Batavorum in aedibus E.J. Brill emissa est, exemplar photomechanice iteratum, Annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C.E. Persenaire, adiuvante E. Arps-de Wilde. Aalen 1993, S. 101 (I,3,8,1): »Licet homini cuique se in privatam servitutem cui velit addicere.« Vgl. hierzu: Dominik Recknagel: Freier Wille und Sklaverei: Die Rechtfertigung der freiwilligen Unterwerfung aus der grundsätzlichen Vertragsfreiheit des Menschen bei Hugo Grotius. In: Matthias Kaufmann, Robert Schnepf (Hg.): Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Scholastik. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 399–418. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 57f. (§ 31).
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indem er Handlungen vornimmt, die diesen Rechten widersprechen«.51 Man könnte daher immerhin von unentziehbaren Rechten sprechen. Haben wir es also doch in diesem Sinne mit Menschenrechten zu tun? In der Beantwortung dieser Frage sind wir erneut auf das von Diethelm Klippel genannte ungelöste Problem des Schicksals der Menschenrechte im Staat verwiesen. Schaut man hierbei auf Meiers nicht mehr vollendetes »Gesellschaftliches Naturrecht«, dessen allgemeine Grundlagen in seiner Lehre von den gesellschaftlichen Rechten und Pflichten des Menschen. Erster Theil entwickelt sind, ergibt sich ein vorerst ambivalentes Bild. Zunächst plädiert Meier noch ganz im Sinne einer Kontinuität der natürlichen Rechte des Menschen auch in der Gesellschaft für deren Gültigkeit: »Da nun ein Mensch dadurch, daß er ein Mitglied einer rechtmäßigen Gesellschaft ist, unmöglich diese allgemeine Aehnlichkeit mit allen andern Menschen verlieren kann: so behält er, auch in der Gesellschaft, Rechte und Zwangspflichten, welche das Recht der Natur erweißt«.52 Wenige Zeilen später allerdings zeigt Meier an, dass diese Kontinuität ganz unmöglich sei: Allein da es [...] unmöglich ist, daß ein Mensch ein Gesellschafter sey, und zugleich befugt seyn solte, alle Rechte des Rechts der Natur in ihrem ganzen Umfange zu gebrauchen, und keine andere Zwangspflichten sich aufbürden zu lassen, als die ihm in dem natürlichen Zustande zukommen: so wird das Recht der Natur, durch die gesellschaftlichen Rechte, mannigfaltig eingeschrenkt, näher bestimt, oder auf andere Art abgeändert. In einer Gesellschaft kan ein Mensch mehrere Rechte gewinnen, als ihm in dem natürlichen Zustande zukommen. [...] Er kan aber auch manche Rechte verlieren, und mehrern Zwangspflichten unterworfen werden, als in dem natürlichen Zustande.53
Und weil es für Meier zu den wesentlichen Merkmalen einer Gesellschaftsgründung gehört, dass dem ursprünglichen Rechte- und Pflichtensystem neue Rechte und Pflichten hinzugefügt werden, die entsprechenden neuen Pflichten und Rechten der anderen Gesellschaftsmitglieder korrespondieren, so »erhellet unleugbar, daß es ein Irrthum sey, wenn manche Lehrer der gesellschaftlichen Rechte behaupten: daß das natürliche Recht einzelner Menschen, in allen gerechten Gesellschaften unverändert bleibe. [...] Das hiesse, alle Gesellschaften der Menschen gänzlich unmöglich machen«.54 Das Schicksal der natürlichen Rechte im Staat benennt Meier daher so, dass sie »in dem bürgerlichen Zustande so lange blosse Rathschläge [bleiben], bis die oberste gesetzgebende Gewalt ihnen freywillig die Kraft des Gesetzes gibt«.55 Unter diesen Prämissen ist auch das von Meier ausgearbeitete »Gesellschaftliche Naturrecht« zu beurteilen. Denn »das gesellschaftliche Recht ist nichts anders als ein Recht der Natur, welches auf die mannigfaltigen Gesellschaften, in denen die Menschen mit einander stehen, angewendet wird«.56 Da nun in der Gesellschaft die natürlichen Rechte des Naturzustandes, legitimiert einzig durch einen gerechten Gesellschaftsvertrag,57 eingeschränkt und abgeändert sind, so dass es gerechtermaßen Über- und Unterordnung, Befehlsgewalt, Sklaverei, Strafe usw. geben kann, so ergibt sich analog zum natürlichen Zustand ein neuer Bestand des jeweiligen 51 52 53 54 55 56 57
Ebd., S. 58f. (§ 32). Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 11 (§ 5). Ebd., S. 12 (§ 5). Ebd., S. 70 (§ 41). Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 8 (§ 3). Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 11f. (§ 5). Ebd., S. 21f. (§ 11), S. 91–95 (§§ 53–55).
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Seinen, den es zu erhalten gilt. Folglich benennt Meier nunmehr den Grundsatz des natürlichen Rechts der Gesellschaft folgendermaßen: Beleidige niemanden, »in Absicht desjenigen, was das kraft der gesellschaftlichen Verbindung Seine ist«.58 Dieses Seine aber ist in der Gesellschaft notwendig ein anderes als im natürlichen Zustand, denn wer »eben die Rechte hat, nicht mehrere und nicht wenigere, als einem Menschen in dem natürlichen Zustande zukommen, der kan unmöglich ein Gesellschafter seyn«.59
4. Der Kontext von Meiers Naturrecht – Thomasius, Wolff, Köhler, Baumgarten Um den Kontext der Naturrechtsdebatte zu beleuchten, in dem Meier steht, sind verschiedene Elemente seines »Rechts der Natur« mit der Tradition zu vergleichen. Schon die bisherige Erörterung mag genügen, um die Behauptung der bloßen Wiedergabe der leibniz-wolffschen Philosophie zurückzuweisen. Ein Blick in die intellektuelle Biographie Meiers anhand der Biographie Langes und der Vorlesungsverzeichnisse der Hallischen Universität gibt erste Hinweise auf den naturrechtlichen Kontext, in dem das Werk Meiers steht. So hat er als Student an der Universität Halle die Vorlesungen zum Naturrecht von Martin Heinrich Otto und Alexander Gottlieb Baumgarten besucht,60 die ihrerseits das Naturrecht Heinrich Köhlers zugrunde legten.61 Später, selbst zum Professor der Philosophie ernannt, las Meier zum Naturrecht erst Köhler, später Wolff und Baumgarten, schließlich seine eigenen Kompendien.62 Das Naturrecht Heinrich Köhlers63 also, vermittelt über den Kommentar desselben von Baumgarten,64 bietet einen guten Ausgangspunkt für die Spurensuche.
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Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764, S. 585 (§ 288). Vgl. Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 87 (§ 51): »Da nun, das allgemeine gesellschaftliche Recht, die allgemeinen natürlichen Zwangspflichten aller Gesellschaften abhandelt: so ist der erste Grundsatz desselben, in einer Gesellschaft muß ein jeder einem jeden, das gesellschaftliche Seine, lassen.« Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 69 (§ 40). Lange: Leben Meiers (s. Anm. 4), S. 33. Vgl. dazu Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 56–62. Vgl. Vorlesungsverzeichnisse Universität Halle 1735–1738. In: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, UB 3885c, 2°. Darin: (1694–1728): Codex Lectionum Annuarum in Regia FRIDERICIANA Halensi habitarum ab Academiae Inauguratione MDCXCIV. usque ad annum praesentem, magna cum cura sumtibusque collectus a Friderico Arnoldo Bachmanno Notar. Publ. Caesar. Iur. et Academiae Halens. Ministro.; (1729–1768): Catalogus Lectionum [...] in Academia Fridericiana, Halae Magdeb. Prelo Hendeliano.; (1768–1787): Catalogus Praelectionum [...] in Academia Fridericiana, Halae Magdeburgicae Literis Stephani Godofredi Lehmannii [u. a.]. Vgl. Vorlesungsverzeichnisse Universität Halle 1747–1775. In: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, UB 3885c, 2° (s. Anm. 61). Heinrich Köhler: Exercitationes juris naturalis, eiusque cumprimis externi, methodo systematica propositi. Jena 1729. Alexander Gottlieb Baumgarten: Initia Philosophiae Practicae Primae Acroamatice. Halle 1760; ders.: Ius naturae. Halle 1763.
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Schon die möglichen Methoden, die Wahrheiten des Rechts der Natur zu ergründen, übernimmt Meier von Köhler und Baumgarten, indem er deren Dreiteilung der Erkenntnis aus der Natur des Menschen, bei Meier wie Baumgarten die empirische Lehrart, aus den göttlichen Grundsätzen, also die theologische Lehrart, oder schließlich aus beiden, und somit die gemischte Lehrart, bestätigt. Köhlers Naturrechtslehre, die trotz ihrer weitreichenden und einflussreichen Rezeption im 18. Jahrhundert noch kaum untersucht ist,65 gilt als der Versuch, wolffianische und thomasianische Einflüsse zu vermitteln.66 Köhler, selbst Wolff-Schüler, hatte den Begriff der Verbindlichkeit ins Zentrum seiner praktischen Philosophie gestellt und nicht mehr das Vollkommenheitsgebot wie noch bei Wolff. Diese Verbindlichkeit bzw. Verpflichtung ist es, die über Baumgarten vermittelt auch für Meier den Ausgangspunkt des Naturrechts bietet. Das Vollkommenheitsgebot oder das Streben nach Glückseligkeit spielt für das Naturrecht Meiers keine Rolle mehr.67 Während nämlich in Meiers Allgemeiner practischer Weltweisheit das wollffianische Vollkommenheitsgebot noch als erster Grundsatz aller moralischen Disziplinen eingeführt wurde (»mache dich selbst, durch alle deine freye Handlungen, aufs möglichste vollkommen«),68 so sucht man diesen in Meiers Recht der Natur vergebens. Vielmehr erschöpft sich der Grundsatz hier in der Pflicht zur Unterlassung ungerechter Handlungen gegen andere und eröffnet zumindest in naturrechtlicher Hinsicht einen großen Freiraum des Handelns. Weder sind innere Handlungen, Glaubens- und Gewissensfragen relevant, sodass nach Meier zum Beispiel »jedem Menschen das Recht einer jeden Religion anzuhängen, die er für wahr hält«, zusteht,69 noch kann sich jemand durch seine eigenen Handlungen selbst beleidigen, so dass neben dem Recht, auf seine Rechte zu verzichten, auch freiwillig selbst zugefügte Übel keinen Schaden darstellen, also naturrechtlich erlaubt sind.70 Und schließlich geschieht auch niemandem Unrecht, der nach dem Prinzip des volenti non fit injuria selbst damit einverstanden ist, dass ihm das Seine genommen wird. Diese Freiheiten in solcher Klarheit erwiesen und ausgedrückt zu haben, kann Meier als eigenständige Leistung zugerechnet werden. Meier delegiert das Vollkommenheitsgebot also vor allem in den Bereich der inneren Pflichten – der philosophischen Sittenlehre und der natürlichen gesellschaftlichen Klugheit –, deren erste Grundsätze unmittelbar das Gebot zur Beförderung der Vollkommenheit beinhalten.71 65
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Zu den wenigen einschlägigen Untersuchungen zählen: Alexander Aichele: »Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei«? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 115–135; Merio Scattola: Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips. In: Aufklärung 20 (2008), S. 239–265; Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten: ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 115–143. So zumindest Schwaiger: Baumgarten (s. Anm. 65), S. 117. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 39 (§ 22): »Und wenn ich jemanden um seine höchste Glückseligkeit brächte, um Vollkommenheiten, welche unendlich vielmal mehr werth sind, als das ganze Seine, wenn ich ihn zur Gottlosigkeit verführte, und ihn dadurch um seine ewige Seligkeit brächte: so kan man diesen Verlust nicht, als einen Schaden, in dem Rechte der Natur betrachten.« Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 57), S. 232f. (§ 109). Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 33 (§ 17). Ebd., S. 57f. (§ 31); S. 60f. (§ 33). Meier: Sittenlehre (s. Anm. 18), Bd. I, S. 69 (§ 32): »Nemlich, der Mensch ist verbunden, sich durch seine freyen Handlungen vollkommen zu machen, oder durch seine freye Handlungen seine Vollkommenheit zu suchen. Diese Wahrheit ist die erste Pflicht, aus welcher alle andere Pflichten flies-
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Indessen sind für das meiersche Naturrecht systematische Parallelen zu dem Bereich der für den äußeren Frieden förderlichen Handlungen des justum von Christian Thomasius festzustellen, dessen Regel »Behindere andere nicht in der Ausübung ihrer Rechte« aus den Fundamenta juris naturae et gentium72 dem meierschen entspricht. Zudem hatte auch schon Thomasius jene vor Behinderung zu schützenden Rechte wie Meier seinerseits das Seine in angeborene (connatum) und erworbene (acquisitum)73 unterschieden. Auch findet das bloß als Ratschlag verstandene Naturrecht von Thomasius bei Meier seine Entsprechung, wenn er für den bürgerlichen Zustand die Bestätigung der Ratschläge des Naturrechts durch die oberste gesetzgebende Gewalt fordert, um ihnen die Kraft des Gesetzes zu verleihen. Der thomasianische Einfluss auf Meier, vermittelt über Köhler und Baumgarten, wird weiter deutlich in der Abgrenzung von äußerlichen und innerlichen bzw. erzwingbaren und unerzwingbaren Pflichten, und damit in der strikten Trennung von Recht und Moral, die sich bei Meier in der Unterteilung der praktischen Philosophie in Naturrecht und Sittenlehre bzw. natürliche Zwangspflichten und natürliche Klugheitslehren wieder findet.74 Diese Parallele hat Hinrich Rüping dazu veranlasst, Meier in die Thomasius-Schule einzuordnen.75 Und wie Baumgarten seinerseits das ius naturae stricte dictum definiert Meier das Naturrecht als die Wissenschaft von den natürlichen äußerlichen erzwingbaren Pflichten im natürlichen Zustand.76 Auf dieses Feld aber beschränkt Meier – so wie etwa Gundling, Köhler und Achenwall77 – seinen Naturrechtsbegriff, während Baumgarten einen weiteren Begriff des ius naturae latius dictum kennt, der die gesamte praktische Philosophie umschließt78 und in dieser Gliederung bereits bei Thomasius zu finden ist.79 Eine weitere deutliche Parallele zwischen Baumgarten und Meier findet sich in der Behandlung des Naturrechts bezüglich des Atheisten. Baumgarten hatte hinsichtlich des Erkenntnisvermögens und der Akzeptanz der Verbindlichkeit des Naturrechts im Falle des Atheisten drei
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sen«; Meier: Lehre Erster Theil (s. Anm. 17), S. 258 (§ 159): »Alle innerliche Verbindlichkeit [im gesellschaftlichen Zustand] ist, in diesem Satze, begriffen: suche dich, durch dein freyes Verhalten, so vollkommen zu machen, als möglich ist.« Christian Thomasius: Fundamenta Juris Naturæ Et Gentium Excensu Communi Deducta, In Quibus Ubique Secernuntur Principia Honesti, Justi Ac Decori, Cum Adjuncta Emendatione Ad Ista Fundamenta, Institutionum Jurisprudentiæ Divinæ, In usum Auditorii Thomasiani. Halle, Leipzig 1705, S. 131 (I,VI,LXII): »Deniqve quoad regulas justi. Non turbabis alios, nec impedies in usu juris sui s[ive] superiores s[ive] inferiores, sive pares; omnes enim sunt aequè homines.« Ebd., S. 105f. (I,V,XI–XIV). Vgl. Schenk: Leben und Werk (s. Anm. 14), S. 147–149. Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968, S. 135. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 3 (§ 1). Vgl. Baumgarten: Initia philosophiae practicae (s. Anm. 64), S. 31 (§ 65): »Pars eius est complexus legum naturalium externarum s. cogentium, IUS NATURAE STRICTE DICTUM (cogens, externum) contradistinctum consiliis, legibus internis et suasoriis, quatenus naturalia sunt«; Baumgarten: Ius naturae (s. Anm. 64), S. 1 (Prolegomena § 1). Vgl. Scattola: Naturrechtslehre (s. Anm. 65), S. 252f. Ebd., S. 241. Baumgarten: Initia philosophiae practicae (s. Anm. 64), S. 31 (§ 65). Thomasius: Fundamenta Juris Naturæ Et Gentium (s. Anm. 72), S. 108 (I,5,XXX), S. 114 (I,5,LVIII). Vgl. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971, S. 268–273.
Meiers »Recht der Natur« im Kontext
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Fragen bearbeitet,80 die Meier wörtlich übernimmt und im gleichen Sinne beantwortet:81 Erstens, dass, wenn es Gott nicht gäbe, auch kein Naturrecht existierte, zweitens, dass der Atheist trotz seiner Gottesleugnung von der Verbindlichkeit des Naturrechts überzeugt werden könne, und drittens, dass das Naturrecht vom Atheisten weniger gut erkannt werden könne als von dem, der von der natürlichen Theologie überzeugt ist. Meier geht aber über Baumgarten hinaus, wenn er weitere Fragen anschließt, in denen er erweist, dass der Atheist sich sehr wohl nach den Regeln der Gerechtigkeit und Menschenliebe richten kann und es ohne Zweifel »ausser dem Spinoza noch mehrere Atheisten gegeben [hat], welche an Tugend so gar viele Christen sehr weit hinter sich zurück gelassen haben«.82 Dennoch ist der Atheist nicht in ebenso hohem Grade durch die Gesetze der Natur verpflichtet wie der Christ, da diese Gesetze, wenn sie zugleich als Gesetze Gottes betrachtet werden, eine höhere Verbindlichkeit erlangen. Meier eröffnet hier aus naturrechtlicher Argumentation einen Rechtsraum für Atheisten und Andersgläubige und erhebt eine Forderung nach Toleranz, die sich konsequent in dem von ihm postulierten angeborenen natürlichen Recht des Menschen zu allen innerlichen Sünden fortsetzt, das unter anderem das Recht »zu der Atheisterey und zu allen Sünden wider Gott« und das Recht »zu einer falschen Religion, zum Aberglauben usw«.83 einschließt. Die Analyse der naturrechtlichen Schriften Meiers hat ergeben, dass sein »Recht der Natur« als Teil der »practischen Weltweisheit« eine Vermittlung thomasianischer, wolffianischer, köhlerscher und baumgartenscher Grundsätze darstellt, die Meier mit klaren Rechtsfreiräumen hinsichtlich innerer Handlungen, Glaubens- und Gewissensfragen ergänzt und mittels der Ersetzung des Vollkommenheitsgebots durch eine äußere Unterlassungspflicht einen breiten Raum der Toleranz schafft.
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Baumgarten: Ius naturae (s. Anm. 64), S. 3f. (Prolegomena § 6). Meier: Recht der Natur (s. Anm. 16), S. 18–22 (§ 9). Ebd., S. 21 (§ 9). Ebd., S. 271f. (§ 134).
DIETER HÜNING
Das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden« Naturrecht und Naturzustand in Georg Friedrich Meiers Recht der Natur
Ein Blick in die von Ronny Edelmann dankenswerter Weise erstellte Bibliographie zu Georg Friedrich Meier belehrt uns, dass der Großteil der – hinsichtlich ihres Umfangs immer noch überschaubaren – Forschungsliteratur unseren Autor Meier in erster Linie als Logiker, Hermeneutiker und Ästhetiker wahrgenommen hat, während Meier als Naturrechtslehrer oder als Moralphilosoph bisher offenbar keine Rolle gespielt hat, wenn man einmal von den knappen Ausführungen in Diethelm Klippels Standardwerk über die deutsche Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts absieht. Dabei hat Meier die deutsche Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts um mehrere voluminöse Werke bereichert: zunächst mit dem 600 Seiten umfassenden Recht der Natur1 aus dem Jahre 1767 und dann in dem Auszug aus dem Rechte der Natur, der immerhin auch noch 300 Seiten umfasst.2 Ihnen folgten in den Jahren 1770 bzw. 1773 noch zwei Bände über die Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen.3 Die Vollendung des Werks wurde durch Meiers Tod im Jahre 1777 verhindert.4 Schon 1764 hatte Meier seine Allgemeine practische Weltweisheit5 veröffentlicht, der in den Jahren 1753-1761 die fünfbändige Philosophische Sittenlehre vorangegangen war. 1 2 3 4
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Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Halle 1767 (alle Nachweise mit Angabe der Paragraphen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). Georg Friedrich Meier: Auszug aus dem Rechte der Natur. Halle 1769. Georg Friedrich Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen. Erster Theil. Halle 1770; zweiter Theil. Halle 1773. Der erste Band handelt von den natürlichen gesellschaftlichen Pflichten im allgemeinen, der zweite Band hat das natürliche Eherecht zum Gegenstand. Meiers Tod im Jahre 1777 hat die Vollendung der Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen vereitelt. Es fehlen – folgt man der programmatischen Ankündigung von Meiers Werk über die Allgemeine practische Weltweisheit (Halle 1764) – die Darstellung der »herrschaftlichen Gesellschaft, welche zwischen einem Herrn und seinen Bedienten oder Knechten stat findet« (ebd., § 292), der »politische[n] Weltweisheit« (§ 295), welche die Pflichten im Staat behandeln sollte, und schließlich des Völkerrechts als der »Wissenschaft der äusserlichen Pflichten, welche freye Völcker gegen einander zu beobachten haben« (§ 300). Georg Friedrich Meier: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764, Meiers moralphilosophisches Grundlagenwerk, vergleichbar mit Wolffs Philosophia practica universalis.
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Dieter Hüning
Meiers Recht der Natur erhebt nicht den Anspruch, im Hinblick auf die Grundlegung des Naturrechts originell zu sein, sondern es stützt sich im wesentlichen auf die Lehren von Meiers Vorgängern, nämlich Heinrich Köhlers und Alexander Gottlieb Baumgartens. Dies entspricht auch Meiers an anderer Stelle geäußertem Selbstverständnis, denn in der Vorrede zum ersten Band seiner Sittenlehre von 1753 erklärt er, dass er, obwohl er Baumgartens philosophische Sittenlehre zugrunde gelegt habe, doch »kein blosser Uebersetzer dieses gründlichen Buchs« sei, sondern in seiner eigenen Schrift »eine weitere Ausführung« seiner Vorlage geliefert habe.6 Auch in der Vorrede zum fünften Band der Sittenlehre von 1761 erklärt Meier seine »Hochachtung und Dankbarkeit« gegen seinen Lehrer Baumgarten, dem er »ewig für die Einsichten verpflichtet« sei, welche er ihm insbesondere auf dem Gebiet der Ethik vermittelt habe.7 Vielleicht war die mangelnde Originalität und gleichzeitige Weitschweifigkeit der Grund dafür, dass Meiers Naturrechtslehre offenbar kaum zur Kenntnis genommen wurde.8 Das ist insofern überraschend, als sich bei Meier eine Reihe von methodischen und systematischen Besonderheiten finden, durch die sich sein Recht der Natur deutlich von dem gängigem Verständnis abgrenzt. Dominik Recknagel hat in dem vorliegenden Bande in seinem Beitrag Meiers ›Recht der Natur‹ im Kontext des hallischen Naturrechtsdiskurses sowie seinem Vorwort zur Neuausgabe von Meiers Recht der Natur9 bereits die wesentlichen Positionen von Meiers Naturrechtslehre herausgearbeitet. Ich werde mich deshalb auf einige Aspekte derselben beschränken, die mir darüber hinaus ein besonderes systematisches Interesse zu verdienen scheinen. Es sind drei Besonderheiten, die im Folgenden thematisiert werden sollen: 1.
die Stellung des Naturrechts im Rahmen des Systems der praktischen Philosophie,
2.
der naturrechtliche Methodenpluralismus und schließlich
3.
die weitgehende rechtliche Entgrenzung bzw. Entmoralisierung der natürlichen Freiheit.
Diese drei Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Hier zeigt sich, dass Meier, der üblicherweise der Wolffschen Schule zugerechnet wird, in seiner Naturrechtslehre Elemente der Thomasius-Schule übernimmt und die Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Pflichten präzisiert bzw. verschärft.
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7 8
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Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. Erster Theil, Halle 1753, Vorrede (unpaginiert). Bekanntlich ist es von der ›weiteren Ausführung‹ zur Weitschweifigkeit nur ein kleiner Schritt; und in der Tat hat man den Eindruck, dass Meier – wie schon Christian Wolff – die größere Ausführlichkeit der Prägnanz des Gedankens in jeder Hinsicht vorgezogen hat. Meier: Philosophische Sittenlehre. Fünfter Theil, Halle 1761, Vorrede (unpaginiert). Vgl. hierzu die einführenden Bemerkungen von Dominik Recknagel: Meiers »Recht der Natur« im Kontext des hallischen Naturrechtsdiskurses, in diesem Band. Einige thematische Überschneidungen mit den Überlegungen Recknagels waren nicht zu vermeiden. Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Hg. von Dominik Recknagel. Hildesheim, New York 2014.
Naturrecht und Naturzustand in Meiers Recht der Natur
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I. Die Stellung des Naturrechts im System der praktischen Philosophie Meiers Naturrecht ist gekennzeichnet durch den konsequenten Versuch, das Naturrecht als die Untersuchung der natürlichen juridischen Verhältnisse strikt von den benachbarten Disziplinen (der Ethik bzw. der Staatslehre) zu trennen. Das Recht der Natur und die Philosophische Sittenlehre enthalten die »ganze practische Weltweisheit«, soweit diese »von den natürlichen Pflichten der Menschen, die sie in dem unbeschrenkten und unbedingten natürlichen Zustande zu beobachten verbunden sind«. Ihr Unterschied liegt darin, dass das Naturrecht von den äußerlichen »natürlichen Zwangspflichten in dem uneingeschränkten natürlichen Zustande einzelner Menschen« handelt, während die Sittenlehre die »Wissenschaft der innerlichen natürlichen Pflichten« darstellt.10 Meier betont jedoch, dass ein weiterer Gliederungsaspekt der praktischen Philosophie in der »Mannigfaltigkeit des moralischen Zustandes besteht«.11 Neben der Unterscheidung in äußere und innere Pflichten muss also die Betrachtung der jeweiligen Pflichten auch darauf Rücksicht nehmen, von welchem ›moralischen Zustand‹ die Rede ist. In dieser Hinsicht ist der Naturzustand von dem gesellschaftlichen Zustand zu unterscheiden.12 Auch die Pflichten können entsprechend divergieren, so dass ein Mensch »in dem einen moralischen Zustande [...] zu einer Pflicht verbunden« sein kann, »zu welcher er in einem andern nicht verbunden ist«.13 Dementsprechend divergieren die Pflichten je nachdem, ob sie sich auf den natürlichen oder den gesellschaftlichen Zustand beziehen. Wer auch nur einen kurzen Blick in Meiers Naturrechtslehrbücher wirft, wird den auffälligen Umstand bemerken, dass gemäß der Differenzierung der moralischen Zustände im Recht der Natur konsequent alle Bezüge auf den status civilis ausgeblendet werden. Auch im Hinblick auf die andere Differenzierung der inneren und äußeren Pflichten betont Meier, dass die naturrechtlichen Pflichten »aus einem ihnen ganz allein eigenen Bestimmungsgrunde erwiesen werden müssen« (§ 1). Die Wissenschaft des Naturrechts behandelt dementsprechend nur diejenigen »der natürlichen äusserlichen Pflichten einzelner Menschen [...], welche sie gegen einander in dem natürlichen Zustande zu beobachten verbunden sind« (§ 1): Es wird demnach, in dem Rechte der Natur, bloß die Frage abgehandelt: zu was für einem freyen Verhalten ein einzelner Mensch den andern zu zwingen berechtigt ist, wenn keiner ein Oberherr des andern ist, und wenn er auch überdies durch keine besondere Gesellschaft mit ihm in Verbindung steht (§ 1).14
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Meier: Allgemeine practische Weltweisheit (s. Anm. 5), § 287. Ebd., § 286. In der Allgemeinen practischen Weltweisheit (s. Anm. 5) versucht Meier eine Begriffsklärung und die Zurückweisung einiger »Mißdeutungen der Benennung dieses Zustandes« (§ 266). Ebd., § 286. Vgl. ebd., § 287: »In dieser Wissenschaft [d. h. im Recht der Natur, D. H.] muß untersucht werden, was das natürliche Seine der Menschen in diesem Zustande seyn würde, und was daher ein jeder für natürliche Rechte und Zwangspflichten, in Absicht auf das Seine, habe«.
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Dieter Hüning
Aus dieser Gegenstandsbestimmung der Naturrechtslehre folgen nach Meier drei methodische Prinzipien (§ 2), mit deren Hilfe »die wahre Beschaffenheit dieser Wissenschaft in ein größeres Licht gesetzt wird«. Zunächst ist erforderlich, dass die Regeln des Naturrechts nicht aus »unsichere[n] zweydeutige[n] schlüpfrige[n] und wohl gar falsche[n] Grundsätze[n]«, wie z. B. »lebe deiner Natur gemäß« oder »lebe den Trieben deiner Natur gemäß«, sondern aus »richtigen und zuverlässigen Gründen« abgeleitet werden, weil man nur dadurch zu »völliger Gewissheit« der Konsequenzen gelangt. Der »ächte [...] Bestimmungsgrund« des Naturrechts, aus dem alle Regeln ableitetet werden müssen, ist deshalb nicht die unvernünftige Triebnatur des Menschen, sondern der Begriff »der menschlichen freyen Handlungen [...]: Dieses ist nun der wahre Weg, den ein Lehrer des Rechts der Natur wandeln muß«. Das Naturrecht erweist sich somit als diejenige philosophische Disziplin, die die juridische Logik eines Systems freier (jedoch bloß äußerer) Handlungen einzelner Menschen im Naturzustand untersucht.15 Zweitens kommt es auf die genaue Bestimmung der Pflichten an, welche Gegenstand des Naturrechts sind. Es handelt sich um »lauter solche Pflichten, welche alle Menschen, die überhaupt einer Verbindlichkeit fähig sind, [im Naturzustand, D. H.] zu beobachten schuldig sind«, wobei im Naturzustand eine Gleichheit der Rechte und der ihnen korrespondieren Zwangspflichten existiert. Was schließlich die Ausübung dieser naturrechtlichen Pflichten angeht, so handelt es sich »unter allen Pflichten [um] die allerleichtesten«, denn sie erfordern keine »würkliche Handlung«, sondern eine bloße »Unthätigkeit«, weil es sich im Grunde genommen um bloße Unterlassungspflichten handelt, »daß man keinem andern Menschen das Seine nehme. [...] Kan etwas leichter seyn?« In dieser Spezifik, dass das Naturrecht die nichtstaatlichen Rechtsverhältnisse der einzelnen Menschen betrachtet, liegt nach Meier auch der Grund für die Bezeichnung »Recht der Natur«: Es heißt nicht deshalb so, weil es »aus der blossen menschlichen Natur und durch die Kräfte derselben kan erfunden und erwiesen werden ohne Offenbarung des Willens eines Gesetzgebers, [...] sondern weil es von dem unabhängigen Zustande der Natur handelt, und von den Zwangspflichten, welche einzelne Menschen in demselben gegen einander zu beobachten verbunden sind« (§ 1).16 In seiner Sittenlehre bestimmt Meier die äußerlichen oder Zwangspflichten als »diejenigen Pflichten, zu deren Ausübung wir von andern Leuten mit Recht, auf eine gewaltthätige Art, können gezwungen werden, im Fall wir nicht selbst so vernünftig sind, daß wir sie von freyen Stücken aus Liebe oder andern innern Beweggründen beobachten«.17 Als Grund für diese Vorgehensweise, durch die alles fortgelassen wird, »was entweder zu der theoretischen Weltweisheit, oder zu andern moralischen Disciplinen gehört«, wird genannt, dass er, Meier, es 15
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Vgl. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 128: »Der Naturzustand einzelner Menschen [ist] ein Zustand der vollkommensten Gleichheit und Freyheit«, jeder einzelne ist hier »von den Befehlen« anderer unabhängig. Die Freiheit und Gleichheit des Naturzustandes ist ursprünglich und deshalb hängt »der erste Anfang der Gleichheit und Freyheit eines Menschen, in dem natürlichen Zustande nicht von einer eigenen freyen Handlung des Menschen ab, sondern er [der Genuß dieser Rechte] fließt aus seiner Natur, so wie sie ihm angebohren ist«. Freiheit und Gleichheit der Rechte betrachtet Meier deshalb als ein »Gut, welches in den natürlichen Zustande zu dem angebohrnen Seinen der Menschen gehört«. Vgl. Baumgartens Definition des Naturrechts: »Ius naturae (rationis, ethicum, cogens, strictius, strictissime dictum) est scientia legum hominem externe obligantium in statu naturali« (Alexander Gottlieb Baumgarten: Ivs natvrae. Halle 1763, Prolegomena, § 1); vgl. hierzu Merio Scattola: Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips. In: Aufklärung 20 (2008), S. 253. Meier: Sittenlehre (s. Anm. 6), Bd. I, § 3.
Naturrecht und Naturzustand in Meiers Recht der Natur
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»für einen grossen Fehler bey dem Unterrichte halte, wenn man, die Anfänger einer Wissenschaft, mit ganz andern Sachen unterhält, als mit dem Gegenstande derselben, und alsdann dasjenige übergeht, was zu demselben wesentlich gehört«.18 Diese strikte Fokussierung auf die Rechtsverhältnisse der Individuen »in dem natürlichen Zustande« (§ 18) bzw. der Umstand, dass Meier – wie schon Klippel hervorgehoben hat – »das gesamte Naturrecht auf das Recht freier Individuen im Naturzustand reduziert«19 und dementsprechend ausschließlich die Rechtsverhältnisse der Menschen behandelt, während die Frage nach den Rechtsverhältnissen im status civilis – bis auf einige wenige Bemerkungen – völlig ausgeblendet wird, macht den Prozess der Ausdifferenzierung zwischen juridischen und ethischen Pflichten, den die Wolffsche Schule im Laufe der Debatten in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfahren hat, deutlich. Meier beschränkt – wie andere zeitgenössische Naturrechtslehrer20, aber durchaus im Gegensatz zu Wolff – das Naturrecht auf die theoretische Behandlung der rein juridischen Verhältnisse, d. h. auf die die vollkommenen bzw. erzwingbaren, äußeren Pflichten. Naturrecht und Ethik sind zwar beide Teildisziplinen der praktischen Philosophie, aber in ihren Gegenständen, d. h. der jeweiligen Klasse der Pflichten, von einander zu unterscheiden. Im Unterschied zu Wolffs Naturrechtslehre rückt Meier in seinem Naturrecht von der Wolffschen Ausrichtung des Naturrechts an der Pflicht zur Beförderung der Vollkommenheit21 – jedenfalls was die juridischen Pflichten des Naturzustandes angeht – ab.22 Aber im Grunde genommen wird die Ausrichtung der gesamten Ethik am materialen Prinzip der Vollkommenheit auch bei Meier nicht aufgegeben23, vielmehr abstrahiert das Meiersche Naturrecht von diesem Prinzip nur aus methodischen Gründen, weil die naturrechtliche Verbindlichkeit nimmt auf die Vollkommenheit keinen unmittelbaren Bezug besitzt. Der »erste Grundsatz des ganzen Naturrechts: beleidige keinen Menschen äusserlich in dem natürlichen Zustande«, formuliert das Prinzip der juridischen Unterlassungspflichten. Durch Befolgung dieser Pflicht bzw. durch die Unterlassung von schädlichen, das Recht anderer beeinträchtigender Handlungen wird zwar die 18 19 20
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Meier: Auszug aus dem Recht der Natur (s. Anm. 2), S. 3f. Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 83. So z. B. Nicolaus Hieronymus Gundling: Ius naturae ac gentium. Halle 1715, Praefatio, Bl. b3r; cap. 1, § 62; Heinrich Köhler: Exercitationes iuris naturalis. Frankfurt a. M. 1738 (Köhlers Schrift war erstmals 1729 erschienen), exerc. prolusoria, § 3, Bl. a1v; Gottfried Achenwall, Johann Stephan Pütter: Elementa iuris naturae/Anfangsgründe des Naturrechts (EA Göttingen 1750). Hg. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995, introductio, § 20. Wolff unterstellt in seiner Naturrechtslehre eine natürliche Verbindlichkeit, nur solche Handlungen zu begehen, »welche seine und seines Zustandes Vollkommenheit befördern« (Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle 1754, § 36). Insofern ein Mensch dieser Verbindlichkeit nachkommt, hat er auch das Recht zur Begehung aller Handlungen, die notwendig sind, um diese Pflicht zu erfüllen. Daraus folgt selbstverständlich, dass es bei Wolff kein Recht auf Handlungen geben kann, die nicht die Beförderung der eigenen Vollkommenheit zum Ziel haben. Vgl. Recknagel: Meiers »Recht der Natur« im Kontext (s. Anm. 8), Abschnitt 4. Das Vervollkommnungsprinzip bildet auch bei Meier die Grundlage der »gesellschaftliche[n] practische[n] Weltweisheit«, denn deren erster Grundsatz lautet: »mache dich durch dein freyes Verhalten zu dem vollkommensten Mitgliede der Gesellschaft; oder mache dich selbst, in so ferne du ein Mitglied einer Gesellschaft bist, durch dein freyes Verhalten so vollkommen, als möglich ist« (Meier: Allgemeine practische Weltweisheit [s. Anm. 5], § 288).
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ethische Vervollkommnung nicht unmittelbar befördert, aber es wird verhindert, dass der Zustand des Handelnden unvollkommener wird. Deshalb fungiert das Naturrecht bei Meier als – für sich genommen – defizitäres, weil bloß auf die Vermeidung des Unrechts bezogenes Normensystem. Es ist deshalb – wie schon bei Wolff – nur die Vorstufe zur Sittenlehre, nicht ein mit dieser gleichrangiger Teil der praktischen Philosophie, deren Telos eben in der ethischen Perfektionierung besteht. Deshalb ist es auch kein Zufall, wenn in der Staatslehre bzw. in der »politische[n] Weltweisheit«, in welcher die »natürlichen allgemeinen Verbindlichkeiten aller Glieder aller gemeinen Wesen« thematisiert werden, das Vervollkommnungsprinzip wieder auftaucht, denn hier lautet der oberste Grundsatz: »ein jedweder Bürger muß der vollkommenste Bürger seyn« (§ 295).24
2. Naturrechtlicher Methodenpluralismus und das »Naturrecht des Atheisten« Das Naturrecht ist nach Meier »eine philosophische Wissenschaft«, ohne dass es hierfür seiner Ansicht nach eines »weitläufigen Beweis[es]« bedürfte (§ 6). Nun kennt aber die Philosophie verschiedene Methoden der Beweisführung, und deshalb kann auch in Bezug auf die Naturrechtslehre die Frage aufgeworfen werden, »nach was für einer Lehrart das Recht der Natur am bequemsten abgehandelt werden könne« (§ 7). Insofern diese methodologische Frage auf die Art und Weise der »Herleitung der Wahrheiten des Rechts der Natur aus Grundsätzen« zielt, bekennt sich Meier nach dem Vorbild seiner Vorgänger Köhler25 und Baumgarten26 zu einem naturrechtlichen Methodenpluralismus, gemäß welchem das Naturrecht in unterschiedlicher Weise begründet werden kann.
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In seiner Allgemeinen practischen Weltweisheit (s. Anm. 4) macht Meier darauf aufmerksam, dass einige Kritiker gegen Wolffs »ersten Grundsatz aller menschlichen Pflichten [...] mancherley Einwürfe dawider gemacht« hätte. Die meisten dieser Einwürfe seien sehr »elend« gewesen, aber »die vernünftigen Widersacher des Herrn Canzlers von Wolf, haben einen Einwurf wider diesen Satz gemacht, welcher deswegen vortreflich ist, weil er den Nachfolgern dieses Weltweisen Gelegenheit gegebnen hat, diese Wahrheit recht fruchtbar zu erklären«. Dieser Einwurf lautete, »daß, wenn wir natürlich verbunden sind, durch alle unsere freyen Handlungen, unsere eigene möglichste Vollkommenheit zu suchen, die ganze natürliche Verbindlichkeit in eine schändliche Eigennützigkeit verwandelt werde« (§§ 104f.). Köhler: Ivris natvralis exercitationes VII (s. Anm. 20), § 286: »Jus naturæ & gentium vel ex solius naturæ hominis aliarumque rerum contemplatione, vel ex axiomatibus divinis, vel ex utroque fonte derivare consueverunt sanctioris hujus disciplinæ commentatores.« Köhler unterscheidet zwischen der Methode, »qua ex immediata naturæ consideratione Juris naturalis veritates eruuntur«, und derjenigen, »qua insignis hæc disciplina idiomatibus divinitatis superstruitur, ex adscensu rationis ad Deum & ex relatione naturæ rerum ad ejus auctorem oritur« (Ebd., § 287f.). Zu Köhlers methodologischen Überlegungen s. auch Alexander Aichele: Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), S. 115–135, hier 123ff. Baumgarten: Ivs natvrae (s. Anm. 16), prol., § 6, Anm. Baumgartens posthum herausgegebenes Werk liefert keine systematische Abhandlung, sondern besteht nur aus Anmerkungen und Erläuterungen zum schon genannten Naturrechtslehrbuch von Heinrich Köhler.
Naturrecht und Naturzustand in Meiers Recht der Natur
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Meier unterscheidet in § 7 seines Recht[s] der Natur nach dem Vorbild Köhlers, der seinerseits den Methodenpluralismus für eine historisch gegebene Tatsache hält27, zwischen 1. der »empirsche[n] Lehrart des Rechts der Natur (methodus iuris naturæ empirica)«, die auf »solchen Beweisgründen« beruht, »deren Gewißheit gar nicht von der natürlichen Gottesgelahrheit abhanget« und von denen man dennoch »völlig und richtig gewiß seyn« könne. Das oberste Prinzip eines so zu beweisenden Rechts der Natur lautet: »beleidige niemanden in dem natürlichen Zustande [...], und dieser Satz kan völlig erwiesen werden, ohne dabey vorauszusetzen, daß ein GOtt sey, weil er aus dem ersten Grundsatze der ganzen practischen Weltweisheit fließt«, 2.
der »theologische[n] Lehrart des Rechts der Natur (methodus juris naturæ theologica)«, die in der »Herleitung desselben aus solchen Beweisgründen [besteht], von denen man, durch die Wahrheiten der natürlichen Gottesgelahrheit, überzeugt ist«. Die natürlichen Gesetze werden hier als »göttliche Gesetze« betrachtet: »Folglich kan das ganze Recht der Natur daher erwiesen werden, weil ein GOtt ist, welcher als höchster Oberherr der Menschen ihnen alle Naturgesetze gegeben hat, und es kann demnach das Recht der Natur auch nach dieser Lehrart erwiesen werden«,
3.
und schließlich der »vermischte[n] Lehrart des Rechts der Natur (methodus iuris naturæ mixta)«, welche das Naturrecht »aus solchen Gründen, die theils aus der natürlichen Gottesgelahrheit, theils aus andern philosophischen Gründen, folglich durch einen zweyfachen Beweis, deren keiner von dem andern abhänget, erwiesen hat«.28
Ausschlaggebend für die Verwendung der jeweiligen Methode ist nicht ein prinzipientheoretischer Unterschied, es sind vielmehr didaktische »Vortheile«, welche mit den verschiedenen »Lehrarten« verbunden sind.29 So empfiehlt sich die ›empirische Methode‹ – wegen ihrer besseren Verständlichkeit – als das geeignete Mittel, nicht nur die weniger Gebildeten und Verständigen zu überzeugen, sondern durch ihre Anwendung können »mehrere Menschen«, also nicht nur die Christen, sondern »selbst die Atheisten, und diejenigen, welche die Vorsehung GOttes und seine Strafgerechtigkeit leugnen«, von der Geltung des Naturrechts überzeugt wer27 28
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Köhler: Exercitationes (wie Anm. 20), § 286, wo er sich auf den Methodenpluralismus als gängige Praxis der »commentatores« beruft. Diese Auffassung von der zwei- bzw. dreifachen Methode hat Meier nicht selbst begründet, sondern von seinen Vorgängern übernommen; sie findet sich schon – worauf Aichele (vgl. Aichele: Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? [s. Anm. 22]) und Merio Scattola hingewiesen haben – in Heinrich Köhlers Exercitationes iuris naturalis: Köhler sagt dort (§ 286, ich zitiere nach der Übersetzung von Merio Scattola): »Die Autoren dieser ehrwürdigen Disziplin haben gewöhnlich das Natur- und Völkerrecht entweder aus der Betrachtung von der Natur des Menschen und der anderen Dinge allein oder aus den göttlichen Grundsätzen oder aus diesen beiden Quellen geschöpft.« Zitiert nach: Scattola: Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens (s. Anm. 16), S. 245. Dominik Recknagel hat in seinem Beitrag Der Atheist und das Naturrecht gezeigt, dass die Debatte der Wolffianer über die geltungstheoretische Unabhängigkeit des Naturrechts von theologischen Prämissen weit in die Zeiten der Scholastik zurückreicht und dann in Grotiusʼ berühmter Formulierung »etiamsi daremus non esse Deum« wieder aufgegriffen wird; vgl. Dominik Recknagel: Der Atheist und das Naturrecht. Erkenntnis und Verbindlichkeit des Naturrechts bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. In: Schönes Denken. Baumgarten im Spannungsfeld von Ästhetik, Metaphysik und Recht. Hg. v. Andrea Allerkamp u. Dagmar Mirbach. Hamburg 2015 (= Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 15), [i.D.]. Meier: Recht der Natur (wie Anm. 1), § 8; so auch schon Köhler: Ivris natvralis exercitationes (wie Anm. 20), § 287.
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den. Diese leichtere Verständlichkeit der empirischen Methode beruht darauf, dass bei ihrer Verwendung »alle Beweise [...] kürzer und leichter« sind, weil hier das Recht der Natur »aus seinem nächsten Grunde, aus der menschlichen Natur, [...] ohne ihre Abhänglichkeit von GOtt zu betrachten«, abgeleitet wird.30 Demgegenüber ist die theologische Methode voraussetzungsreicher und dementsprechend anspruchsvoller, weil sie »die natürliche Gottesgelahrheit und [die] ganze Metaphysik voraus[setzt], und [...] ihre Beweise durch die natürliche Gottesgelahrheit bis auf die allerersten Gründe der menschlichen Erkenntnis« fortsetzt. Sie richtet sich deshalb an diejenigen, die schon über »einen geübtern tiefsinnigen Verstand und mehr schon erlangte philosophische Wissenschaft« verfügen. Allerdings besteht der Vorteil der ›theologischen Lehrart‹ darin, dass das Naturrecht hier »aus der ersten Quelle aller wahren Verbindlichkeit hergeleitet wird«. Denn der göttliche Wille »als unseres höchsten Gesetzgebers und Oberherrns, ist nicht nur der wahre erste Grund aller Naturgesetze, sondern auch aller wahren bürgerlichen und anderer willkührlichen Gesetze«, so dass im Rahmen dieser Methode »das Recht der Natur auf das tiefsinnigste bis zu seinem ersten Ursprunge hinaufgeführt« und mit »göttliche[r] Autorität« ausgestattet wird. Insbesondere aber stützt sich die theologische Variante das Naturrecht auf »edlere Bewegungsgründe« als dies bei der bloß empirischen Lehrart der Fall ist. Meier plädiert aber letztlich für die ›vermischte Lehrart‹, weil hier die Vorteile beider Methoden kombiniert werden könnten. Alexander Aichele hat im Hinblick auf die entsprechenden Überlegungen bei Köhler mit Recht darauf hingewiesen, »daß die Nutzung beider Quellen [d. h. der Natur der Menschen und Dinge auf der einen und den ›göttlichen Grundsätzen‹ auf der anderen Seite, D. H.] wenigstens zu miteinander verträglichen, d. h. hier: in einem Ableitungsverhältnis stehenden, Sätzen führen muß oder sogar auf ein und dasselbe Prinzip«.31 Des Weiteren stellt Aichele die nahe liegende Frage, warum Köhler »diesen doppelten Untersuchungsgang« überhaupt für notwendig hält. Als mögliche Gründe führt er einerseits »eine epistemologische Motivation« an, dergestalt, »daß sowohl eine größere Sicherheit, gar Gewißheit der aufgefundenen Sätze gewonnen werden könnte, wenn sich die Ergebnisse beider Untersuchungen welchseitig bekräftigten«. Die andere Zielsetzung sieht Aichele in dem metaphysischen Interesse, »aus einer möglichen Verträglichkeit bzw. Identität der Ergebnisse die [...] harmonische Übereinstimmung der Bereiche des Natürlichen und des Göttlichen« zu bestätigen. Sicherlich haben solche epistemologischen Intentionen eine wichtige Rolle gespielt. Aber angesichts der engen Verknüpfung zwischen den Überlegungen zum naturrechtlichen Methodenpluralismus einerseits und dem ›Naturrecht des Atheisten‹ andererseits scheint es eher, dass hier das entscheidende Motiv zu suchen ist. Jedenfalls stellt Meier in seinem Recht der Natur explizit einen Zusammenhang her, der offenbar schon bei Köhler und Baumgarten den Methodenpluralismus motiviert hatte. Meier behauptet nämlich, dass »aus der vorstehenden Untersuchung [über die verschiedenen Methoden der Begründung des Naturrechts, D. H.] die »berühmte Frage [...]: ob es ein Recht der Natur eines Atheis30
31
Schon in seiner Philosophischen Sittenlehre ([s. Anm. 6], I, § 91, S. 209,) hatte Meier erklärt: »Die meisten Pflichten gegen uns selbst und andere Menschen, die Pflichten der Gerechtigkeit, das gantze Recht der Natur und das bürgerliche Recht, können bewiesen werden, ohne ein höchstes Wesen anzunehmen; und ein Atheist kan, wenn er sonst keinen andern Irrthum hat, alles übrige, ausser der Religion, zugestehen, und er kann ehrbar, gerecht, dienstfertig, gastfrey u. s. w. seyn.« Aichele: Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? (s. Anm. 25), S. 124.
Naturrecht und Naturzustand in Meiers Recht der Natur
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ten geben könne; oder ob aus dem der Gottesleugnung nothwendig folge, daß der Atheist, wenn er auf eine mit sich selbst übereinstimmende Art denken wolle, die Verbindlichkeit der Naturgesetze leugnen müsse?« (§ 9), entschieden werden kann.32 Meiers Beantwortung dieser Frage macht – wiederum in Anknüpfung der Ausführungen bei Köhler und Baumgarten – deutlich, worin eigentlich die systematische Funktion eines Naturrechts für Atheisten besteht. Aber schon bei Köhler wird deutlich, dass diese doppelte Beweisführung der Widerlegung derjenigen dient, die sich der Leugnung des höchsten Wesens (»ignoratio Summi Numinis«) schuldig machen.33 Diese könnten sich der von der Moralphilosophie aufgezeigten Verbindlichkeit nicht entziehen, weil diese auch »sine fide«, d. h. ohne Rückgriff auf Glaubenswahrheit oder religiöse Überzeugungen begründet werden könnten. Meier liefert also den entscheidenden Hinweis zu den Gründen des Methodenpluralismus: Der Naturrechtslehrer muss im Falle des Atheisten auf dessen spezifisches Erkenntnisinteresse bzw. auf seine eingeschränkten Erkenntnisgründe eingehen; er muss deshalb eine normative Begründung entwickeln, die auf den Unglauben Rücksicht nimmt – und diese Begründung macht von der ›empirischen Methode‹ Gebrauch, die nichts voraussetzt, was ein Atheist nicht akzeptieren könnte. Dieses ›Naturrecht des Atheisten‹ zeichnet sich durch eine Reihe von moralphilosophischen Minimalannahmen aus, insofern auf theologische Bezüge verzichtet werden kann. Aber zugleich bleibt es aufgrund dieses Verzichts defizitär: Es handelt sich um eine Schwundform desjenigen Naturrechts, das durch die natürliche Theologie erleuchtet wird und dadurch an Vollkommenheit gewinnt.34 Die Frage nach einem Naturrecht der Atheisten umfasst allerdings eine Reihe von unterschiedlichen Aspekten, die sorgsam unterschieden werden müssen. Bereits Baumgarten hat dann in seinem Kommentar zu Köhlers Exercitationes die allgemeine Frage bezüglich des Naturrechts des Atheisten in drei Teilfragen, die jeweils unterschiedliche Aspekte thematisieren, aufgespalten: »1) an daretur ius naturae, si non daretur Deus? Negatur. 2) An Atheus excepto atheismi errore sanam rationem sequens potest conuinci de iure naturae? Et affirmatur. 3) An ius naturae aeque bene ab atheo cognosci potest, ac ab admitente theologiam naturalem? Et negatur«.35 Meier geht in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter, indem er zu den drei schon von Baumgarten aufgeworfenen Fragen noch zwei weitere hinzufügt.36 Diese fünf fragen sollem im Folgenden skizziert werden: 1.
32 33 34 35 36
»Ob es ein Recht der Natur geben könne, wenn der Atheist Recht hätte, und wenn also dem zufolge kein GOtt würklich wäre?« – Meier bemerkt dazu, dass es sich einerseits um eine »abgeschmackte Frage« handele, »weil sie einen ganz unmöglichen Fall
Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 9. Köhler: Exercitationes (wie Anm. 20), § 286. Scattola: Die Naturrechtslehre A. G. Baumgartens (s. Anm. 16), S. 254f. Baumgarten: Ivs naturae (s. Anm. 16), prol. § 6. Die nachfolgenden Zitate stammen aus Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 9.
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voraussetzt«.37 Auf der anderen Seite kann man diese Frage als eine »sehr vernünftige« ansehen, »weil sie die Abhänglichkeit des Rechts der Natur von dem Wesen GOttes anzeigen soll«. In dieser Hinsicht kann in der »natürlichen Gottesgelahrheit [...] nemlich erwiesen werden, daß das Wesen Gottes der erste Grund aller Möglichkeit und Wahrheit sey.«
37 38
2.
Zweitens stellt Meier die Frage: »Ob ein Atheist, wenn er ausser seiner Gottesleugnung sonst keinen Irrthum heget, welcher aller Sittlichkeit und Verbindlichkeit widerspricht, von der Verbindlichkeit des Rechts der Natur überzeugt werden könne?« – Meiers Antwort fällt differenziert aus, indem er von den geläufigen Unterscheidung verschiedener Typen von Atheisten Gebrauch macht.38 Es macht einen gravierenden Unterschied, ob es sich um einen (bloß) theoretischen oder um einen praktischen Atheisten handelt: Wenn nämlich »nichts weiter als ein Gottesleugner ist, und in seinen übrigen Meinungen der gesunden Vernunft Gehör gibt: so kan er, nach der empirischen Lehrart, richtig von der natürlichen Verbindlichkeit, von den Naturgesetzen, und von dem Rechte der Natur überzeugt werden«. Anders sieht der Fall aus, wenn der Atheist »zugleich ein Fatalist ist, wenn er die Freyheit des menschlichen Willens leugnet, wenn er die innerliche Sittlichkeit der freyen Handlungen nicht zugibt u. s. w.[,] so leugnet er zugleich alle natürliche Verbindlichkeit, und er kan kein Recht der Natur zugeben.«
3.
Die dritte Frage betrifft den kognitiven Gehalt des Naturrechts für Atheisten: »Ob das Recht der Natur von einem Atheisten eben so gut erkannt werden könne, als von einem andern, welche von der natürlichen Gottesgelahrtheit überzeugt ist, wenn übrigens alles von beyden Seiten einander gleich ist?« – In Bezug auf diese Frage lautet Meiers Antwort, dass bei einem Atheisten die »Erkenntniß des Rechts der Natur, unmöglich den höchsten Grad der Vollkommenheit erreichen [kann], dessen ein Mensch fähig ist, und er kan unmöglich die natürliche Verbindlichkeit in ihrer ganzen Stärke einsehen«. Das Naturrecht des Atheisten ist eine Schwundform der wahren Naturrechtslehre, weil der Atheist nicht über sämtliche Gründe des Naturrechts verfügen kann.
4.
»Ob ein Atheist natürlicher Weise verpflichtet werden könne, das ist, ob er seines Irrthums ohnerachtet die Naturgesetze so lebendig erkennen könne, daß er dieselben würklich ausübe, und sich gegen andere Menschen nach den Regeln der Gerechtigkeit und Menschenliebe richte, ob er die Pflichten gegen sich ausüben, und dienstfertig, gutthätig gegen andere und so weiter seyn könne?« – Daran ist nach Meiers Auffassung, »was die Möglichkeit betrift, [...] nicht zu zweifeln«, denn »der Atheist kann von dem Rechte der Natur überzeugt werden, und wer von einer Verbindlichkeit überzeugt ist, kan sie auch ausüben«. Hatte Meier in der Beantwortung der dritten Frage darauf aufmerksam gemacht, dass das Naturrecht der Atheisten nur eine beschränkte Erkenntnis seiner Geltungsgründe ermöglicht, macht er in der Beantwortung der vierten Frage auf eine weitere Schranke aufmerksam, die den Umfang der naturrechtlichen Pflichten betrifft. Das Naturrecht der Atheisten ist von geringerer Extension, weil hier
Denn die Annahme, Gott existiere nicht, kann nur eine – unter ganz bestimmten methodischen Voraussetzungen erlaubte – Hypothese darstellen. Vgl. hierzu Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992, S. 175ff.
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»die ganze natürliche Verbindlichkeit zu den Pflichten gegen Gott« wegfällt. Interessanterweise leitet Meier im Rahmen seiner Antwort zu einem neuen Gesichtspunkt über, der die Denunziation der Atheisten durch die »Bekenner Gottes« betrifft. Diese seien über das Ziel hinausgeschossen, wenn sie »in ihrem Eifer [...] dieselben als die schändlichsten Bösewichter abgemalt [hätten], und vorgegeben hätten, daß mit der Gottesleugnung die Ausübung keiner einzigen Pflicht und Tugend bestehen könne«. Die Person Spinozas ist der beste Gegenbeweis für die Möglichkeit eines Menschen, welcher »an Tugend so gar viele Christen sehr weit hinter sich gelassen« hat. 5.
Schließlich behandelt Meier die Frage: »Ob ein Atheist in einem eben so hohen Grade verpflichtet werden könne, als ein Mensch, welcher einen Gott glaubt, wenn übrigens alles von beyden Seiten einander gleich ist?«39 – Das bestreitet Meier allerdings: »Alle wahre Gesetze, und also auch die natürlichen, erlangen eine grössere Verbindlichkeit, wenn sie als Gesetze GOttes zugleich betrachtet werden«. Der Glaube an die »Oberherrschaft GOttes, seine Gerechtigkeit und Majestät« sind Mittel der »Verstärkung« im Hinblick auf die »Bewegungsgründe«, die »zu der Ausübung der natürlichen Pflichten« dienen können, »und diese Verstärkung fält bei einem tugendhaften Atheisten ganz und gar weg«.40 Im gesellschaftlichen Recht, d. h. im Recht des sozialen Zustandes wird die Frage aufgeworfen, »ob nemlich ein Atheist ein guter Gesellschafter und Bürger seyn könne, oder ob er in keiner Gesellschaft geduldet werden könne, oder ob er in keiner Gesellschaft geduldet werden müsse [d. h. nach dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts: geduldet werden dürfe], weil er um seines Irrthums willen das Band der Gesellschaft nothwendig zerreissen müsse?« Diese unterstellte Verknüpfung von Lasterhaftigkeit und Gottlosigkeit, die zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt, hält Meier allerdings für eine ebenfalls abgeschmackte Problemstellung: »Es ist also eine sehr elende Widerlegung der Gottesleugnung, wenn man die Atheisten als die lasterhaftesten Leute abschildert«.
Es sollte deutlich geworden sein, dass Meiers Methodenpluralismus kein Konkurrenzverhältnis der unterschiedlichen Verfahrensweisen zu einander bedeutet, vielmehr stehen sie in einem methodischen Ergänzungsverhältnis. Denn die verschiedenen Methoden beruhen zwar auf unterschiedlichen Perspektiven, führen aber dennoch auf dasselbe Ziel hin. Deshalb intendiert Meier mit einer von theologischen Prämissen unabhängigen Begründung der naturrechtlichen Prinzipien nicht eine säkulare Rechtstheorie, sondern sieht in einer solchen Vorgehensweise vielmehr eine Möglichkeit, der Gefahr der durch den Unglauben herbeigeführten Immoralität vorzubeugen, weil auch der Atheist, wenn er nur vernünftigen Argumenten zugänglich ist, die Geltung praktischer Gesetze nicht in Abrede stellen kann.41 Dieser Methodenpluralismus ist
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Meier: Recht der Natur (wie Anm. 1), § 9. Auch in diesem Punkt knüpft Meier an Baumgarten an; vgl. hierzu die Bemerkungen von Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart, Bad Cannstatt 2011, S. 122f. Vgl. hierzu Verf.: Die Grenzen der Toleranz und die Rechtsstellung der Atheisten. Der Streit um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in der neuzeitlichen Naturrechtslehre. In: Lutz Danneberg, Sandra Pott, Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin, New York: 2002, S. 219–273.
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somit durch die seit Wolffs Oratio de Sinarum philosophia practica42 in Gang gekommene Debatte um die Frage eines Naturrechts der Atheisten motiviert. Dennoch liegt auf der Hand, dass eine solche theologiefreie Naturrechtsbegründung den Auftakt zu einer umfassenden Säkularisierung der praktischen Philosophie der deutschen Aufklärung bilden kann, wenn aus anderen Gründen, die eher auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie liegen, die Zweifel an der Erkennbarkeit bzw. der Existenz Gottes wachsen. Wenn die Existenz Gottes fragwürdig geworden ist, dann ist ein säkulares Naturrecht nicht mehr bloß eine Denkmöglichkeit zur Verhinderung atheistischer Immoralität, sondern wird zur philosophisch einzig akzeptablen Form praktischer Philosophie.43
3. Der systematische Gegenstand des Naturrechts: Das »Recht freier Individuen im Naturzustand« Im Fokus von Meiers Naturrecht steht das »Recht freier Individuen im Naturzustand«. Diese strikte Fokussierung auf die Rechtsverhältnisse des Naturzustandes ist aus zwei Gründen auffällig. Zunächst einmal deshalb, weil Meier damit die in der Naturrechtslehre bis dato gängige systematische Verknüpfung von Naturrecht oder den klassischen Dreischritt der Naturrechtslehre – als Lehre von den Rechten und Pflichten der Menschen im Naturzustand – der Lehre vom staatsbegründenden Vertrag – als der Lehre von den rechtlichen Konstitutionsbedingungen legitimer staatlicher Herrschaft und schließlich der Staatslehre – als der Lehre von den politischen Institutionen im status civilis – aufgibt. Das hat zur Folge, • dass die einzelnen Menschen als ursprünglich frei und gleich bzw. als »vernünftig freye Wesen oder Personen« betrachtet werden müssen, weshalb »kein Mensch unter die Sachen zu rechnen« ist (§ 247), •
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dass zum anderen alle Herrschafts- und Unterordnungsverhältnisse (wie Sklaverei, Knechtschaft44), aber auch diejenigen Formen der Vergesellschaftung, die traditionel-
Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica/Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Hg. von Michael Albrecht. Hamburg 1985. Kant wird darüber hinaus noch einen spezifisch moralphilosophischen Grund gegen eine theologische Fundierung der Ethik vorbringen, mit dem er die Möglichkeit einer theonom begründeten Moralphilosophie überhaupt bestreitet. Schon in seiner Vorlesung zur Moralphilosophie aus den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts erklärt Kant, das Moralprinzip müsse als »unmittelbares principium der Sittlichkeit [...] ein pur reines intellectuelles principium der reinen Vernunfft« sein, »so fern der Grund der Sittlichkeit durch den Verstand unmittelbar erkannt wird«. Aber dieses Prinzip muss dem Willen des Menschen zugleich immnanent sein: »Es kann nicht heissen, du sollst nicht lügen, weil es verbothen ist. Demnach kann das principium der Moralität auch kein externum folglich auch kein Theologicum seyn«, Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie. Hg. von Werner Stark. Berlin 2004, S. 60f. Wer ein moralisches Gesetz nur deshalb befolgt, weil Gott es ihm angeblich geboten hat, der verfügt nicht über ein moralisches Motiv der Befolgung dieser Norm, sondern handelt bestenfalls pflichtmäßig aufgrund der Furcht vor Bestrafung. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 247: »In dem Rechte der Natur kan ohnedem die Frage nicht einmal aufgeworfen werden, ob ein Knecht eine Sache sey, weil in dem natürlichen Zustande kein Mensch weder als ein Knecht, noch als ein Herr betrachtet werden kan.«
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ler Weise schon im Naturrecht behandelt wurden wie Familie, Ehe aus dem Meierschen Recht der Natur ausgeschlossen werden, und dass schließlich •
auf die Darstellung des Naturzustandes kein unmittelbares exeundum-Argument folgt. Die Frage nach den Rechten und Pflichten der Menschen im status civilis hat Meier später in seiner Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen behandelt.
Die programmatische Ausrichtung seiner Naturrechtslehre, d. h. die Konzentration auf die Rechte und Pflichten der Menschen im natürlichen Zustande, hält Meier konsequent durch. Das bedeutet, dass er im Naturrecht nur die Verstöße gegen die äußeren Pflichten, zu denen ein korrespondierendes Zwangsrecht gedacht werden kann und durch deren Übertretung bei anderen ein Schaden, d. h. die willentliche Verletzung eines fremden Rechts bewirkt wird, thematisiert.45 Jenseits der Unterlassungspflicht, das fremde suum nicht zu schädigen, sind die einzelnen in ihrem Tun und Lassen rechtlich völlig frei. »Der erste Grundsatz des Rechts der Natur« ist das Verbot, das Seine (suum naturale) eines anderen zu verletzen: Laß einem jedweden Menschen das natürliche Seine, oder ein jedweder Mensch ist, in dem natürlichen Zustande, durch das Gesetz der Natur äusserlich verbunden, einem jedweden andern Menschen dasjenige Seine zu lassen, was demselben in diesem Zustande zukommt (§ 19).46
Der erste Grundsatz bildet zugleich »die erste Zwangspflicht des Rechts der Natur, welche alle übrigen Pflichten [...] in sich begreift« (§ 19). Meier greift damit die beiden seit dem Corpus iuris civilis überlieferten Formeln des neminem laede bzw. des suum cuique tribue auf, die beide den gleichen Normgehalt besitzen. Dementsprechend sind nach dem Rechte der Natur [...] alle Handlungen erlaubt und gerecht, die keine Beleidigungen [d. h. keine Verletzungen der Rechte anderer, D. H.] sind, oder durch welche kein Mensch einem andern Menschen das Seine wider seinen Willen nimmt, in so fern es das Seine desselben ist (§ 102).
Nur dort, wo tatsächlich eine Beleidigung, d. h. eine Schädigung des Menschen in Bezug auf das Seinige vorliegt, kann von einem Unrecht die Rede sein. Demgegenüber kann »keine freye Handlung eine Beleidigung seyn [...], wenn sie nicht einem andern Menschen einen eigentlich so genannten Schaden verursacht« (§ 24). Der ›erste Grundsatz des Rechts der Natur‹ kann entweder als Verbot, einen anderen »in Absicht dessen zu beleidigen, was in dem uneingeschrenkten natürlichen Zustande zu dem Seinen gehört« (§ 24) oder als Unterlassungsgebot formuliert werden47, insofern die Verletzung fremder 45
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Vgl. auch Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 24: »Ein jeder Mensch ist in dem natürlichen Zustande verbunden, keinem andern einzelnen Menschen, einen Schaden zu thun. [...] Diese Verbindlichkeit ist nicht nur eine natürliche, sondern auch eine äusserliche Pflicht in dem natürlichen Zustande, und sie kan als der erste Grundsatz des Rechts der Natur angesehen werden.« Vgl. Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten (s. Anm. 3), § 44: »Laß einem jeden andern Menschen in dem natürlichen Zustande das natürliche Seine, faßt alle Zwangspflichten des Rechts der Natur in sich; und, ein jeder Mensch hat ein Recht auf das natürliche Seine, ist der Inbegrif aller natürlichen Rechte der Menschen in dem natürlichen Zustande.« Die Pflichten des Naturzustandes sind deshalb in erster Linie Unterlassungspflichten: »Laß einem jedweden Menschen das natürliche Seine, oder ein jeder Mensch ist, in dem natürlichen Zustande, durch das
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Rechte, die Meier durchgängig mit dem Terminus »Schade« (damnum)48, also als die gewollte und widerrechtliche »Verminderung« des fremden suum (§ 22)49, bezeichnet, verhindert werden soll.50 Dies ist insofern interessant, als Meier stets den Schaden als das begriffliche Gegenteil des Nutzens, somit die nachteilige Folge einer Rechtsverletzung (laesio)51, nicht die Rechtsverletzung als solche in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt. Wenn Meier eine »Schätzung des Schadens nach den Regeln des Rechts« (§ 23) fordert, so ist mit diesem Begriff des Schadens, der nach Meier nur in einer Verminderung oder Aufhebung des – angeborenen oder erworbenen – Seinigen eines jeden bestehen kann, eine deutliche Eingrenzung der Klasse der juridisch relevanten und insbesondere der strafbaren Handlungen verbunden. Das »natürliche Seine (suum naturale)«, auf das jeder Mensch im Naturzustand ein angeborenes Recht hat und das deshalb zugleich als Schranke für die Freiheit anderer fungiert und also Grund ihrer Unterlassungspflichten ist, wird von Meier nicht eigens definiert. Zur Analyse der verschiedenen »Beleidigungen in dem natürlichen Zustande«, die den gesamten Gegenstand der drei Kapitel des Rechts der Natur bilden, nennt Meier eine ganze Reihe von angeborenen Rechten, obwohl wir bei ihm keinen förmlichen Rechtekatalog finden. Grundlegend sind das Recht auf Leben (§§ 98, 100, 106), das Recht »zu der vollkommensten Gleichheit mit andern Menschen, und zu der höchsten Freiheit« (§ 128)52, aus denen diverse andere natürliche Rechte abgeleitet werden.53
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Gesetz der Natur äusserlich verbunden, einem jedweden andern Menschen dasjenige Seine zu lassen, was demselben in diesem Zustande zukommt« (§ 19). Auch hierin folgt Meier dem Naturrecht Köhlers, vgl. Köhler: Exercitationes (s. Anm. 22), § 769: »Malum ortum ex læsione externa dicitur damnum, item injuria. Damnum esse malum ortum ex violatione τϐ suum cuique«. An späterer Stelle (§ 159) hat Meier die Injurie als »Beleidigung des ehrlichen Namens« thematisiert. In § 22 des Rechts der Natur bestimmt Meier den Schaden als »Verlust« bzw. »Verminderung« von etwas, was »zu dem natürlichen Seinen gehört«, wozu allerdings eine willentliche Handlung des Schädigers erforderlich ist. Nicht jeder Schaden, den jemand durch einen Verlust erleidet, ist Folge eines Unrechts. Dazu gehört auf Seiten des Schädigers die Absicht, ein Unrecht zu begehen. Eduard Heilfron: Römische Rechtsgeschichte und System des römischen Privatrechts. Berlin 51903, S. 445: »Schaden ist jede ungünstige Veränderung der Rechtslage einer Person, sei es hinsichtlich ihres Vermögens (materieller Schaden), sei es in sonstigen Beziehungen (immaterieller Schaden), z. B. Verletzung der Persönlichkeit an: Leben, Körper, Ehre, Namen, Urheberrecht).« Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Leipzig, Halle 1742, Bd. 34, S. 365: »Schade, Damnum, ist dasjenige Ubel, so aus einer Beleidigung entstehet, wenn der Beleidiger entweder eine Hinderniß; oder eine Beraubung desjenigen Guts, so uns von Rechts wegen zukommt, verursachet«; vgl. auch Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten Vigilantius. In: In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA Band, Seitenzahl], hier Bd. XXVII, 2.1, S. 690: »Die Laesion hat den Schaden zur Folge, d. i. malum ex laesione proveniens.« Hierin sieht Meier einen »Inbegriff sehr vieler natürlicher Rechte« (§ 128) und zugleich »die Würde der menschlichen Natur«, der gemäß jeder »in sich selbst den natürlichen Trieb [fühlt], sich selbst zu beherrschen, und alle seine Handlungen nach seinen eigenen Einsichten einzurichten« (ebd.). Hierzu gehören u. a. die Verfügung über den eigenen Körper und seine Teile, das Recht der körperlichen Unversehrtheit (§ 110) unter Einschluss des Rechts der Befriedigung beliebiger sexueller Neigungen (§ 122), das Recht des Krieges (d. h. der Anwendung von Zwang) als Abwehr eines ungerechten Angriffs bzw. zur Erzwingung von Schadensersatz (§§ 113, 129), das Recht der präventiven Anwendung von Zwang im Falle der moralischen Gewissheit eines bevorstehenden ungerechten An-
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Mit seiner Einschränkung des Naturrechts auf die juridischen Unterlassungspflichten im Naturzustand antizipiert Meier in gewisser Weise Kants Rechtslehre, für den ebenfalls »die Befugniß, das gegen andere zu thun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert«, eine Befugnis darstellt, die implizit »schon im Princip der angebornen Freiheit« liegt und deshalb »von ihr nicht [...] unterschieden« werden kann.54 Festzuhalten ist, dass Kant hier das Unrecht wie Meier als eine ›Schmälerung‹ des fremden suum betrachtet.55 Alle Handlungen ohne rechtliche Schadensfolge für andere sind deshalb durch das Naturrecht autorisiert – dieses Prinzip hat fundamentale Auswirkungen auf die Unterscheidung von juridischen und ethischen Pflichten. Zunächst ist die Selbstschädigung nach dem Naturrecht kein Gegenstand der juridischen Be- oder Verurteilung: »Kein Mensch kan sich durch seine eigne freye Handlungen beleidigen, und durch dieselben sich selbst Schaden thun« (§ 33). Meier bestreitet nicht, dass ein Mensch durch Handlungen seine »Pflichten gegen sich selbst« verletzen kann, aber solche Handlungen fallen nicht unter das Naturrecht im engeren Sinne, weil in ihnen keine Beleidigung anderer vorliegt.56 Das Naturrecht abstrahiert deshalb von der Betrachtung
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griffs (§§ 121, 133), das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden« (§ 134), die »höchste Freyheit zu denken und zu reden« (§ 135), das Recht, das Seine »zu seinem Vergnügen« zu gebrauchen (§ 136), das Recht auf einen »ehrlichen Namen« (§ 149), vgl. hierzu die Aufzählung von Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 82f. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre. In: AA VI, S. 238 In Kants Schrift Zum ewigen Frieden (AA VIII, S. 350) findet sich allerdings der folgende kritische Kommentar zu einer solchen Rechtsdefinition, wie sie bei Meier vorliegt: »Rechtliche (mithin äußere) Freiheit kann nicht, wie man wohl zu tun pflegt, durch die Befugnis definiert werden: »alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut«. Denn was heißt Befugnis? Die Möglichkeit einer Handlung, so fern man dadurch keinem Unrecht tut. Also würde die Erklärung so lauten: »Freiheit ist die Möglichkeit der Handlungen, dadurch man keinem Unrecht tut. Man tut keinem Unrecht (man mag auch tun was man will), wenn man nur keinem Unrecht tut«: folglich ist es leere Tautologie«. Kants eigene ›Erklärung‹ der äußeren rechtlichen Freiheit macht deutlich, warum ihm – über den angeblich tautologischen Charakter hinaus – die genannte Definition als unzulänglich erscheint: Für ihn besteht die rechtliche Freiheit in der »Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als denen ich meine Beistimmung habe geben können« (AA VIII, S. 350). Diese Bestimmung vermag nicht zu überzeugen, denn erstens wird hier nur eine formale Bedingung für das Vorliegen von rechtlicher Freiheit (nämlich die prinzipielle Zustimmungsfähigkeit der jeweiligen gesetzlichen Regelung des Freiheitsgebrauchs) genannt, zum anderen taugt sie nur zur Charakterisierung der staatsbürgerlichen Freiheit in Bezug auf gemachte, d. h. staatliche Gesetze. Demgegenüber ist die Frage der Einschränkung des Gebrauchs der ›angeboren Freiheit‹ auf die Bedingung der Vereinbarkeit mit der Freiheit aller ein Gebot der Rechtsvernunft und insofern von der Frage der Zustimmungsfähigkeit unabhängig. Kant selbst hat in dem sog. Gemeinspruchaufsatz eine Definition der (rechtlichen) Freiheit formuliert, die der Sache nach mit derjenigen Meiers übereinstimmt. Dort bedeutet Freiheit, dass niemand »mich zwingen kann auf seine Art [...] glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zweck nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des Andern) nicht Abbruch thut« (AA VIII, S. 290). Kriterium der rechtlichen Erlaubtheit ist hier – wie bei Meier – die Vereinbarkeit mit den Rechten der anderen. Eine vergleichbare Position findet sich in Kants Schrift Zum ewigen Frieden: »überhaupt ist das böse Beispiel, was eine freie Person der andern giebt, (als scandalum acceptum) keine Läsion derselben« (Kant: Zum ewigen Frieden [s. Anm. 55], S. 346). Aber schon Wolff hatte in diese Richtung argumentiert, wenn er in seinem Jus naturae erklärt, dass im Naturzustand niemanden eine natürliche Strafkompetenz
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der Übertretung von Tugendpflichten, ihm ist als juridisches Normensystem – wie Kant später in seiner Rechtslehre sagen wird – »nichts Ethisches beigemischt«;57 dem Naturrecht ist die Fokussierung auf die rechtlich gebotene Schadensverhinderung eigentümlich. Deshalb schließt das bloße Naturrecht das subjektive Recht nicht nur »zu allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen« ein, sondern auch das Recht »zu allen innerlichen Sünden, das ist zu allen Sünden, durch welche kein anderer Mensch äusserlich beleidiget wird« (§ 134); dieses Recht gehört zu den »angebohrnen Recht der Menschen« (§ 134). An späterer Stelle heißt es: »Nun hat ein jeder Mensch in dem natürlichen Zustande das Recht, alle Sünden auszuüben, und alles Böse hervorzubringen, wenn es nur keine Beleidigung anderer Menschen ist« (§ 290).58 Welchen Gebrauch ein Mensch insofern von seiner Freiheit macht, geht das Recht – sofern niemand dadurch verletzt wird – nichts an. Deshalb sind »alle Ergetzlichkeiten und Belustigungen [...] nach dem Recht der Natur unschuldig, [...] und sollten sie übrigens auch noch so sündlich und lasterhaft seyn« (§ 136): Gesetzt ein Mensch versaufe und verspiele sein Haab und Gut, um sich ein elendes Vergnügen zu machen, wen beleidiget er dadurch im natürlichen Zustandes? Wenn er aber geborgtes Geld durchbringt, und sich dadurch ausser Stand setzt, seine Gläubiger zu bezalen: so will er, zu seinem Vergnügen, andere um das Ihrige bringen. Folglich können die Gläubiger ihn, von Rechtswegen, mit Gewalt an seinem Vergnüngen hindern. Daher kan erwiesen werden, daß die Obrigkeit nicht alle sinnlichen Ergetzlichkeiten mit Gewalt hindern kan, sondern nur diejenigen, durch welche die öffentliche Wohlfarth mehr Schaden leidet, als der Vortheil ist, der dadurch entsteht (§ 136).
Ich möchte diese juridische Entgrenzung des Freiheitsgebrauchs im Naturzustand an zwei besonders aussagekräftigen Beispielen erläutern: zum einen am Beispiel des Selbstmordes bzw. der Selbsttötung, zum anderen am Beispiel des außerehelichen Geschlechtsverkehrs bzw. der Prostitution.59
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(jus puniendi) zukomme, wenn nicht eine Schädigung vorliege. Dementsprechend könne im Naturzustand niemand »ob actum vitiosum« (z. B. im Falle von Prostitution oder von übertriebenem Luxus) bestraft werden, wenngleich solches nicht »sine indignatione« betrachtet werden könne. Vgl. Christian Wolff: Jus naturae methodo scientifica pertractatum. Pars octava. Halle 1748, § 652. – Die Differenz zwischen Wolff und Meier ist dennoch fundamental. Für Wolff kann das Laster im Naturzustand nicht bestraft werden, bei Meier hat der Einzelne dagegen ein subjektives Recht auf Begehung lasterhafter Handlungen. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § D (AA VI, S. 232). Eine ähnliche Position hatte schon Johann Jacob Schmauss: Neues Systema des Naturrechts. Göttingen 1754, bezogen, für den das erste natürliche Recht »das Recht nach seiner Natur, freyen Willen und Wohlgefallen, so bequem, frölich und vergnügt als er es nur zu haben kan, zu leben«. Dieses Recht dehnt Schmauss ganz folgerichtig »auf alle Laster, und actiones inhonestas und indecoras, wann nur der andere Mensch nicht dadurch beleydiget wird« (S. 476f.) aus. Es bleibt rätselhaft, warum Meiers durchaus provokative Stellungnahmen zur juridischen Beurteilung des Selbstmordes, des außerehelichen Geschlechtsverkehrs bzw. der Prostitution bei den Zeitgenossen, insbesondere bei den Theologen, nach meinem Kenntnisstand keine Reaktion hervorgerufen haben.
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1. Selbsttötung: Was die rechtliche Behandlung des Selbstmordes betrifft, so betritt Meier hier rechtsphilosophisches Neuland, indem er eine naturrechtliche Erlaubnis zum Selbstmord entwickelt. Jeder Mensch, so erklärt Meier, hat ein »angeborenes Recht auf sein Leben« (§ 100) hat. Dieses Recht ist »das vollkommenste Recht«, insofern es die vollkommene Verfügung über den eigenen Leib das eigene Leben umfasst. Zu dieser absoluten Verfügung gehört auch der beliebige Gebrauch des eigenen Lebens, somit aber auch das Recht der Selbsttötung. Denn der Selbstmord, wenngleich er ›sündlich‹ ist, fällt nicht unter die schon genannte Regel zur Bestimmung der Rechte im Naturzustand, wonach alle Handlungen »erlaubt und gerecht« sind, durch welche eine andere Person »beleidigt wird« (§ 102); er gehört deshalb »gar nicht in den Umfang dieser Naturgesetze« (ebd.). Das Besondere von Meiers Position liegt darin, dass er zwischen dem ethischen Verbot des Selbstmordes, das diesen zu einem ›sündlichen‹ Unterfangen macht, und seiner juridischen Erlaubnis unterscheidet. In diesem Zusammenhang kritisiert Meier das gängige Verbot der Selbsttötung in den zeitgenössischen Moralphilosophien: Der Einfall mancher Sittenlehrer, daß deswegen der Selbstmord unerlaubt sey, weil niemanden sein Leben von Rechtswegen als das Seine angehöre, indem er es sich nicht selbst gegeben habe, ist vollkommen falsch (§ 100).60
Das Argument für die rechtliche Erlaubtheit des Selbstmords liegt nach Meier darin, dass nur unter der Voraussetzung, dass »unser Leben [...] im strengsten Verstande, und mit dem vollkommensten Rechte, das Unsrige ist«, die Tötung durch einen anderen Menschen als eine Rechtsverletzung, d. h. als Verbrechen (als Mord) angesehen werden kann. Denn hätten die einzelnen nicht eine umfassende Verfügungsgewalt über ihr Leben, die jeden Eingriff eines anderen ausschließt, wäre der Mord keine strikte »Beleidigung«, weil auf Seiten des Getöteten kein vollkommenes Recht am eigenen Leib und Leben vorläge. Die Selbsttötung widerspricht also nicht dem Grundsatz des Naturrechts, obwohl es in moralphilosophischer Perspektive »doch eine sehr große Sünde seyn [könne], wenn wir dieses Recht [auf Leben, D. H.] dergestalt brauchen, daß wir ihm freywillig entsagen, und uns selbst ums Leben bringen« (§ 100).
2. Außerehelicher Geschlechtsverkehr / Prostitution: Noch auffälliger ist Meiers Position im Hinblick auf die naturrechtliche Beurteilung sexueller Praktiken. Auch hier ist Meier bemüht, seine naturrechtliche Grundnorm konsequent anzuwenden und das Normensystem des Naturrechts von allem ethischen Beiwerk zu befreien, wodurch er sich in den denkbar größten Gegensatz zu Wolff versetzt. Denn während für Wolff 60
Diese traditionelle Position des Selbstmordverbots findet sich auch in Zedlers Universal-Lexicon. Dort heißt es, der »grobe Selbst-Mord […], wenn jemand voersetztlich gewaltthätige Hand an sich legt, und sich selbst das Leben nimmt, [… ist] schlechterdings unrecht und offenbarlich wider das Gesetz der Natur« (Johann Heinrich Zedler [Hg.]: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon. Leipzig/Halle 1743, Bd. 36, Sp. 1595). Einen Überblick über den »Diskurs über den Selbstmord im 18. Jahrhundert« gibt Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Göttingen 1999, S. 45ff., die allerdings nicht Meier erwähnt.
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jeder »Beyschlaf, der allein der Wollust wegen begehrt wird« und jeder »Gebrauch der Geburtsglieder aus gleicher Absicht« für »durch das Gesetze der Natur verbothen und also von Natur unerlaubt« ist,61 betont Meier die naturrechtliche Unverfänglichkeit und strafrechtliche Irrelevanz einvernehmlicher Geschlechterbeziehungen. Zwar liegt, wenn ein Mann eine Frau mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr zwingt, die rechtsrelevante Beleidigung der »Nothzüchtigung« vor, die der Frau das Recht gibt, sich mit allen Mitteln gegen ihren Vergewaltiger zu wehren.62 Aber völlig anders liegt der Fall, wenn der Geschlechtsverkehr einvernehmlich erfolgt: Wenn aber die Jungfrau den ersten Beyschlaf freywillig duldet, und den Verlust ihrer Jungfrauschaft genehmiget: so ist sie nach den äusserlichen Gesetzen nicht beleidiget, und es ist ihr kein eigentlich so genannter Schade zugefügt worden. Wenn also zwey Personen von verschiedenen Geschlechte einander zum Beyschlaf überreden, oder aus feuriger Liebe und sinnlicher Wollust dazu verleitet werden, oder wenn wohl gar die Mannsperson mit der Jungfrau eines Lohns wegen einig geworden, folglich wenn die Hurerey ohne Gewaltthätigkeit getrieben wird; so mag ein Sittenlehrer alle diese Handlungen für noch so sündlich ausgeben, er kan völlig recht haben; allein eine solche Hurerey ist keine Nothzüchtigung, und die Jungfrau wird dadurch gar nicht nach dem Rechte der Natur beleidiget (§ 122).
Der legitimierende Grund für die Erlaubnis des einvernehmlichen des »freywilligen Beyschlafe[s]« ist das Naturrecht, das einerseits der Frau das Recht erteilt, ihren ganzen »Körper und alle Theile desselben [...] zu brauchen, um ihre eigene Wollust zu stillen, oder um ihrem Liebhaber ein Vergnügen zu machen, oder um einen Lohn zu verdienen, wenn sie nur keinen andern Menschen dadurch etwas, wider seinen Willen, von dem Seinen nimmt« (§ 122), und selbstverständlich ist es andererseits auch dem Mann erlaubt, sich nach Belieben mit der Geliebten zu vergnügen. Im Falle der Prostitution hat »kan eine Jungfrau [!] mit Recht [...] den versprochenen Lohn [...] fodern« (ebd.). Meier antizipiert auch den nahe liegenden Vorwurf, durch seine Überlegungen würde »der Hurerey das Wort geredet« und dieselbe für »unsündlich ausgegeben« oder »nur für eine kleine Sünde« erklärt: Dieser Vorwurf beruht seiner Ansicht nach auf einem Missverständnis, das auf der mangelnden Unterscheidung von Naturrecht und Ethik beruht. Auch Meier bestreitet nicht, dass die »Hurerey« eine Sünde darstellt und es deshalb eine ethische Pflicht ist, keine Prostitution zu treiben. Aber sie ist keine rechtsrelevante Beleidigung und kann daher vom Naturrecht nicht verboten werden (§ 122). Durch diese juridische Entgrenzung des äußeren Freiheitsgebrauchs unterscheidet sich Meier deutlich von tugendethischen Aufladung des Naturrechts Christian Wolffs und anderer Wolffianer. Wolff war der Auffassung gewesen, dass jegliche Übertretung des moralischen Gesetzes zugleich rechtlich relevant sei.63 Wichtiger aber ist der Umstand, dass Meiers Naturrecht der Sache 61 62
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Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (s. Anm. 21), § 854. Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 119ff. Meier spricht übrigens in diesem Zusammenhang stets von Jungfrauen, weil nach seiner Auffassung die Ehe nicht zum Naturrecht im engeren Sinne, d. h. nicht zum Recht des Naturzustandes gehört. An späterer Stelle behandelt Meier auch den Fall, »wenn eine Mannsperson von geilen Frauenspersonen gezwungen wird, wollüstige Mißhandlungen zu erdulden« (§ 127). Vgl. Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (s. Anm. 21), § 43, wo Wolff den ›allgemeinen Grundsatz des Rechts der Natur‹ folgendermaßen bestimmt: Das Gesetz der Natur verbindet uns, »die Handlungen auszuüben, welche die Vollkommenheit des Menschen und seines Zustandes befördern; und diejenigen zu unterlassen, welche seine und seines Zustandes Unvollkommenheit befördern [...]. Dieser Grundsatz des Rechts der Natur (principium juris naturæ) ist gantz allgemein. Aus demselben
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nach den Kantischen Rechtsbegriff antizipiert. Indem Meier den Normgehalt des Naturrechts auf die Unterlassung der Verletzung fremder Rechtsansprüche beschränkt, wird der rechtliche Freiheitsgebrauch eines jeden nur mehr der Form nach bestimmt, nämlich durch die gleiche Freiheit der anderen. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Handlung hängt nicht mehr wie z. B. bei Wolff von ihrer Übereinstimmung mit dem materialen Zweck der Vollkommenheit ab, sondern bloß von ihrer formalen Übereinstimmung mit dem rechtlichen Freiheitsgebrauch aller.
4. Der Naturzustand als Kriegszustand Wie viele andere Naturrechtslehrer seiner Zeit behandelt Meier die Fragen des Naturrechts als Frage nach den Rechten und Pflichten der Menschen in einem nichtstaatlichen bzw. natürlichen Zustand. Die Konzeption des Naturzustandes ist demnach kein historisches Modell, das den hypothetischen Ausgangspunkt der Menschheitsentwicklung bezeichnen oder »der historischen Deutung der Entstehung staatlicher Ordnung«64 dienen soll. Die systematische Umdeutung der Naturzustandskonzeption zu einem geschichtsphilosophischen Lehrstück über den vorgesellschaftlichen, vormoralischen Ausgangspunkt der Menschheitsentwicklung, spielt bei Meier keine Rolle. Alle entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen sind vielmehr ausgeschlossen, so dass Meier mit seiner Konzeption des Naturzustandes keinen Beitrag für die kurze Zeit später unter dem Einfluss von Rousseau Diskurs über die Ungleichheit einsetzende Anthropologisierung und Historisierung des Naturzustandes liefert, zumal ja, wie schon angedeutet, Meiers Referenzautoren Köhler und Baumgarten einer früheren Epoche des Naturrechts angehören. Im Naturzustand werden die Menschen immer schon als Personen betrachtet, »die in Absicht auf einander würklich frey handeln können« (§ 98). Bei der Konzeption des Naturzustandes handelt es sich vielmehr um eine theoretische Konstruktion in juridischer Absicht. Einschränkend muss allerdings konstatiert werden, dass Meier sich über den methodischen Status des Naturzustandes im Sinne einer rechtstheoretischen Konstruktion nicht weiter auslässt. Trotz der Betonung, der Naturzustand sei ein »Zustand der vollkommensten Gleichheit und Freyheit« (§ 129), lässt Meier keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesem Zustand wegen des bloß privaten Modus der Rechtsbestimmung und -durchsetzung notwendigerweise um einen Zustand unvermeidlicher Konflikte, um einen Kriegszustand65 handelt:
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werden, durch eine beständige Verbindung von Schlüssen, alle Wahrheiten hergeleitet, welche zum Rechte der Natur gehören [...]«. – Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Voraussetzungen überhaupt keine Handlung rechtmäßig sein kann, die der naturrechtlichen Forderung des beständigen Strebens nach Vollkommenheit widerspricht. Die systematische Stellung der (ethischen) Verbindlichkeit zur Beförderung der Vollkommenheit duldet keinen tugendfreien Raum einer bloß rechtlichen Sphäre der Schadensvermeidung. Es gibt deshalb bei Wolff nur insofern eine mit dem natürlichen Gesetz übereinstimmende rechtliche Befugnis, »damit wir unserer Verbindlichkeit [gegen das natürliche Gesetz, D. H.] ein Genüge thun können« (ebd., § 81). Diethelm Klippel: Ideen zur Revision des Naturrechts. Die Diskussion zur Neubegründung des deutschen Naturrechts um 1780. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 80. Meier bezeichnet deshalb das erste Kapitel seines Naturrechts auch als eine »allgemeine Abhandlung vom Kriege« (Meier: Recht der Natur [s. Anm. 1], § 90).
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Dieter Hüning So wenig, in dem bürgerlichen Zustande, der bürgerliche Krieg oder der Proceß völlig vermieden werden kan; eben so unvermeidlich ist der Krieg, in dem natürlichen Zustande der Freyheit. Denn es ist unmöglich, daß ein Mensch in diesem Zustande mit einem andern Menschen, niemals wegen alles desjenigen, was [das] Seine ist verschiedener Meynung seyn solte. Wenn ein Mensch allen übrigen Menschen zu verstehen gibt, daß er etwas für [das] Seine halte, daß er gewisse Rechte habe, daß er dieses oder jenes Verhalten eines andern Menschen für eine Handlung halte, durch welche er werde beleidiget werden, oder schon beleidiget worden sey, daß er den von andern erlittenen Schaden so oder so hoch rechne: u. s. w. ist es wohl wahrscheinlich, daß alle andere Menschen allemal ohne Widerspruch, dieser seiner Meynung beypflichten werden? (§ 58).
In einem solchen Zustand permanent möglicher Rechtsstreitigkeiten hat jeder Mensch das Recht, auch unter Einsatz von Zwang, »sich in den Zustand der vollkommensten Sicherheit zu versetzen« (§ 59).66 Dieses Recht kulminiert in einem »Recht zum Kriege«, d. h. in einem Recht, »von einem andern die Beobachtung einer Zwangspflicht durch den Krieg zu erpressen« (§§ 63f.). Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass Meier sich mit diesen Überlegungen zur unvermeidlichen Konflikthaftigkeit des status naturalis an die berühmt-berüchtigte Konzeption des Naturzustandes als bellum omnium contra omnes bei Hobbes anschliessen würde. Trotz des Anscheins kann von einer solchen Anknüpfung allerdings keine Rede sein. Denn anders als Hobbes und Thomasius betrachtet Meier die natürlichen Gesetze nicht bloß »als heilsame Rathschläge der gesunden Vernunft« (§ 3), sondern als wirklich geltende und verpflichtende Gesetze. Allerdings schränkt er diese Aussage von der juridischen Geltung der natürlichen Gesetze auf die philosophische Perspektive ein: »Wer diese Frage bloß als ein Weltweiser beurtheilt, und den Begriff von Gesetzen vor Augen hat, den ich in der allgemeinen practischen Weltweisheit erwiesen habe, der wird ohne alle Bedenklichkeit diese Regeln für wahre Gesetze halten« (§ 3). Anders wird die Frage nach der Geltung der natürlichen Gesetze aus der juristischen Perspektive und dem ihr eigentümlichen positivistischen Geltungsverständnis beantwortet: Ein Civiljurist gewöhnt sich an, bey einem Gesetze keine andere Regel zu gedenken, als welche durch die gesetzgebende Gewalt in einem gemeinen Wesen zu einer Vorschrift des freyen Verhaltens der Unterthanen gemacht worden, welche durch eine willkührliche Strafe ihre verbindende Kraft bekommen, und deren Uebertretung ein Recht gibt, den Uebertreter vor dem Richterstule des gemeinen Wesens zu belangen (§ 3).
Sind die natürlichen Gesetze wirkliche, auch äußerlich verbindliche Gesetze, dann ergibt sich daraus zwingend der Schluss, dass der »verfluchte[...] Grundsatz, [...] daß wider einen Feind alles erlaubt sey« (§ 68) in Meiers Naturrecht keine Grundlage hat.
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Dieses Recht auf Sicherheit realisiert sich in verschiedenen Stufen: Jeder Mensch hat im Naturzustand das Recht, »alle Mittel sich zu verschaffen, wodurch er sich in Sicherheit setzen kann«, Allerdings denkt Meier hier bloß an subjektive Sicherungsmaßnahmen: Um sich in »vollkommenste Sicherheit« zu setzen, kann jeder »z. E. seine Gärten mit Mauren umgeben, seine Thüren und Fenster sorgfältig verwahren, sein Geld und andere Sachen in feste Schränke und Kasten verschließen, sich tödtliche Waffen anschaffen, u. s. w.« (§ 60). Hinzu kommt »ein Recht, alle Hindernisse seiner Sicherheit aus dem Wege zu räumen«, sowie »ein Recht, demjenigen der ihn beleydigen will, die Mittel und die Gelegenheit zu nehmen, deren derselbe sich bedient, um die Beleidigung würklich zu machen« (§ 60). Darüber hinaus hat jeder Geschädigte im Naturzustand ein Recht auf Schadensersatz (§ 61).
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5. Das Schicksal der natürlichen Rechte im status civilis oder die Relativierung des Naturrechts im Staat Wir hatten darauf hingewiesen, dass Meiers Naturrecht strikt von allen den status civilis betreffenden Fragen abstrahiert, weil er die Behandlung der gesellschaftlichen Rechte und Pflichten eigenständigen Darstellungen vorbehalten wollte. Dennoch teilt Meier das naturrechtliche Normierungsverständnis, dergestalt das Naturrecht sei »zu einer gründlichen Kenntniß des besondern bürgerlichen Rechts eines jeden Volcks, nicht nur nützlich sondern auch unentbehrlich. Kein Jurist kan, ohne gründliche Einsicht in das Recht der Natur, ein gründlicher Jurist seyn« (§ 16). Denn es sei »unleugbar: daß kein willkührliches bürgerliches Gesetz, und keine Auslegung und Anwendung desselben, richtig und gerecht seyn kan, wenn sie dem Recht der Natur widersprechen und dasselbe aufheben« (§ 16). Zum Abschluss unseres Durchgangs durch Meiers Recht der Natur soll noch ein kurzer Blick auf seine Behandlung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht bzw. nach der Anwendbarkeit naturrechtlicher Prinzipien auf den status civilis gestellt werden.67 Im ersten, 1770 erschienenen Band seiner Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen betont Meier zunächst die Kontinuität des Naturrechts im status naturalis und status civilis. Insofern das Recht der Natur »den Menschen nur nach denjenigen Bestimmungen der menschlichen Natur betrachtet, die er mit allen andern Menschen gemein hat, [...] so behält er, auch in der Gesellschaft, Rechte und Zwangspflichten, welche das Recht der Natur erweist« (§ 5). Das »gesellschaftliche Recht ist nichts anders als ein Recht der Natur, welches auf die mannigfaltigen Gesellschaften, in den die Menschen mit einander stehen, angewendet wird«. Man könne deshalb – so hatte Meier schon in seinem Recht der Natur erklärt – die »richtigen [d. h. rechtmäßigen, D. H.] bürgerlichen Gesetze als Zusätze zu dem Rechte der Natur betrachten, wodurch das letzte dergestalt bestimmt wird, daß es in dem bürgerlichen Zustande ausgeübt werden kann« (§ 16). In diesem Zusammenhang hebt Meier die kriteriologische Funktion des Naturrechts hervor, gemäß welcher die bürgerlichen Gesetze zwecks Gewährleistung ihrer Legitimität mit den Normen des Naturrechts übereinstimmen müssen, so dass »keine gerechte Gesellschaft dem Rechte der Natur widersprechen müsse«. Auf der anderen Seite betont Meier die Bedeutung der Auswirkungen des Eintritts in den status civilis auf die normative Geltung des Naturrechts und betont die Diskrepanz zwischen dem Natur- bzw. dem gesellschaftlichen Recht. Mit dieser Behauptung verknüpft Meier zunächst die eher harmlos klingende Überlegung, dass die weitreichende natürliche Freiheit des Naturzustandes im status civilis beschränkt werden kann und muss.68 Nicht die Notwendigkeit 67
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Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen (s. Anm. 3), Bd. I, S. 4f.: »Die ganze Kenntniß, die ein Mensch von seinen würklichen Rechten und Pflichten erlangen soll, [...] wird [...] erst alsdenn volkommen practisch, wenn man die Verbindlichkeiten der Menschen, welche das Recht der Natur und die philosophische Sittenlehre abhandelt, auf den gesellschaftlichen Zustand anwendet, und daher lernt, was sie durch diesen Zustand, und durch die verschiedenen Arten desselben, für besondere Bestimmungen bekommen.« Vgl. hierzu Meier: Recht der Natur (s. Anm. 1), § 135: »In dem natürlichen Zustande hat ein jeder die höchste Freyheit zu denken und zu reden, wenn er nur, durch irgends eine seiner Reden, keinen andern Menschen im eigentlichen Verstande beleidiget. In dem bürgerlichen Zustande kan die höchste
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einer solchen Beschränkung ist das eigentliche rechtsphilosophische Problem, sondern die Frage, wie weit das staatliche Recht der Freiheitseinschränkung denn gehen und ob es ein allgemeingültiges Prinzip dieser Bestimmung der rechtlichen Freiheit im Staat geben kann.69 Es zeigt sich aber, dass Meier nicht zwischen der Notwendigkeit der Modifikation (bzw. der Einschränkung) der natürlichen Rechte und ihrer Aufhebung einen rechtlichen Unterschied machen will. Zwar ist zunächst bloß davon die Rede, dass »das Recht der Natur, durch die gesellschaftlichen Rechte, mannigfaltig eingeschrenkt, näher bestimt, oder auf eine andere Art abgeändert« wird (§ 5),70 so dass die Menschen neue Rechte erwerben oder natürliche Recht verlieren können.71 Deshalb erklärt Meier an anderer Stelle, »daß das blosse Recht der Natur nicht zureichend sey, das gerechte Verhalten in den Gesellschaften zu bestimmen«.72 Aber Meier vermag kein Kriterium dieser Modifikationen unter staatlichen Bedingungen anzugeben, was nichts anderes bedeutet, als dass die ›Abänderung‹ des Naturrechts Sache des Souveräns ist. In dieser Hinsicht gelangt Meier nicht über den Stand der Debatten innerhalb der Wolffschen Schule hinaus. Das Kriterium der Einschränkung der rechtlichen Freiheit ist das »gemeine Beste«73 – das bekanntlich bei Wolff und seiner Schule nur der Titel für beliebige, aus dem Geist des paternalistischen Wohlfahrtstaates erfolgende Freiheitseinschränkungen ist. Der Sache nach läuft Meiers Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und staatlichem Recht bzw. von status naturalis und status civilis darauf hinaus, die persönliche Freiheit, Unabhängigkeit und Autonomie der einzelnen in der fiktiven Welt des Naturzustandes zu platzieren, während die realen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse durch die Interessen und Funktionsbedingungen der staatlichen Herrschaft dominiert werden. Für diese Herrschaftsinteressen aber bildet das Naturrecht und sein auf den Naturzustand beschränktes Freiheitsversprechen keine einschränkende Norm, sondern vielmehr die Grundlage der Ermächtigung. Nun-
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Landesobrigkeit das Recht haben, das öffentliche Bekenntniß einer Religion oder einer andern Meynung, und einen gewissen äusserlichen Gottesdienst, mit Gewalt zu hindern«. Ein anderes von Meier erwähntes Beispiel der Freiheitseinschränkung ist das Verbot der ›sinnlichen Ergetzlichkeiten‹ (ebd. § 136). Selbst Rousseau – den man in staatsrechtlicher Hinsicht als den Antipoden Meiers betrachten kann – ist von der Notwendigkeit der den einzelnen durch die staatlichen Gesetze angelegten Ketten überzeugt, wie der berühmte erste Satz des ersten Kapitels seines Contrat social deutlich macht: »L’HOMME est né libre, et partout il est dans les fers, Tel se croit le maître des autres, qui ne laisse pas d’être plus esclave qu’eux. Comment ce changement s’est-il fait? Je l’ignore. Qu’est-ce qui peut le rendre légitime? Je crois pouvoir résoudre cette question« (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou principes du droit politique I, 1. In: Ders.: Œuvres complètes. Ed. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1964, tom. III, p. 351). Es geht Rousseau also um die Angabe der Legitimationsbedingungen staatlicher Herrschaft: Für ihn ist nur diejenige Freiheitseinschränkung legitim, die mit den Bedingungen der Möglichkeit dieser Freiheit selbst übereinstimmt. Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen (s. Anm. 3), § 41: »Diese Abänderung der Rechte und Pflichten des Rechts der Natur ist kein Widerspruch.« Dementsprechend kritisiert Meier die Auffassung »manche[r] Lehrer der gesellschaftlichen Rechte«, die behaupteten, »daß das natürliche Recht einzelner Menschen, in allen gerechten Gesellschaften, unverändert bleibe« (Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten [s. Anm. 3], Bd. I, § 41). Zur Ambivalenz von Meiers Ausführungen über die Geltung des Naturrechts und die Veräußerlichkeit der natürlichen Freiheit vgl. Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 83f. Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten (s. Anm. 3), Bd. I, § 43. Ebd., § 16.
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mehr wird – scheinbar unter Anerkennung der fortdauernden Geltung naturrechtlicher Normen – die Notwendigkeit der ›Einschränkung, Bestimmung und Abänderung‹ derselben propagiert. Dem Staatsinteresse an der Beschränkung der rechtlichen Freiheit der Untertanen entspricht bei Meier die Vorstellung der grundsätzlich Dispositionsfreiheit des einzelnen sowohl über die angeborenen wie die erworbenen Rechte, denn zur natürlichen Freiheit gehört nach Meiers Auffassung das Recht des Gebrauchs wie der Unterlassung der rechtlichen Befugnisse, die zum suum eines jeden gehören. Meier reiht sich damit ein in die Tradition des älteren deutschen Naturrechts, für welches es sich bei den iura connata, mit denen das Naturrecht jeden Menschen ursprünglich ausgestattet hatte, »nicht um iura inalienabilia«, vielmehr stehen die iura connata in ihrem ganzen Umfang zur (vertraglichen) Disposition.74 Die aus dem suum naturale fließenden subjektiven Rechte des Naturzustandes erweisen sich als »konstruktive Prinzipien ohne Abwehrsubstanz gegen vertragliche Aufhebung«.75 Das gilt insbesondere für die Annahme der natürlichen Freiheit und Selbstständigkeit jedes einzelnen im Naturzustand, weil Meier – wie schon Wolff – zwischen dieser Annahme und dem Verlust der persönlichen Freiheit und der Behauptung der rechtlichen Möglichkeit der Sklaverei keinen Widerspruch zu erkennen vermag.76 Denn Meier hält es für rechtlich möglich, dass ein »Gesellschafter«, d. h. ein Mitglied der societas civilis, »alle Rechte des natürlichen Zustandes, auf eine gerechte Art, verliere«, so dass »durch eine Gesellschaft, der natürliche Zustand eines Gesellschafters ganz aufgehoben werden, und verloren gehen [...]. Wer sich freywillig in die Sclaverey begiebt, oder mit Recht zu einem Sclaven gemacht wird, der verliert seinen ganzen natürlichen Zustand«. Deshalb kritisiert Meier auch den ›falschen Gedanken‹, »als wenn bey einem Gesellschafter ein Theil seines natürlichen Zustandes noch fortdauerte, und das kann man bei der Sclaverei nicht annehmen«.77 Wo liegen nun die Gründe dafür, dass Meier die Klärung des von ihm selbst aufgeworfenen Problems »des Verhältnisses von Naturrecht zu staatlichem Recht«78 nicht gelungen ist? Zunächst ist zu betonen, dass sich Meier sich mit seiner widersprüchlichen Einschätzung im Hinblick auf die Fortgeltung des natürlichen Rechts unter den Bedingungen des status civilis in guter Gesellschaft befindet. Auch die Protagonisten der neuzeitlichen Naturrechtslehre waren an diesem Punkt der Bestimmung der Grenzen legitimen staatlichen Zwangs durchweg gescheitert, weil sie die natürliche Freiheit als etwas betrachtete, über das die einzelnen frei disponieren 74
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Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 76f., ebenso Nele Schneidereit: Christian Wolffs Lehre von den iura connata und ihre freiheits- und völkerrechtliche Bedeutung, erscheint in: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), die die entsprechenden Überlegungen Wolffs zur Modifikation der natürlichen Rechte unter den Bedingungen des status civilis präzise herausarbeitet. Bei Meier geschieht die Entäußerung der iura connata durch Vertrag: »So bleiben die Rechte eines Menschen so lange die seinen, bis er dahin einwilliget, daß sie aufhören sollen, die seinigen zu seyn« (Meier: Recht der Natur [s. Anm. 1], § 246) oder infolge eines Verbrechens. Meier selbst hatte dies in der Allgemeinen practischen Weltweisheit zunächst noch offen gelassen. In dem Lehrstück der herrschaftlichen Gesellschaft bzw. des herrschaftlichen Rechts »muß auch untersucht werden, ob diese Gesellschaft allemal auf einem Vertrage beruhe, oder ob sie auf einem andern rechtmäßigen Grunde beruhen könne; und ob manmal Sclaverey rechtmäßiger Weise, nach den Naturgesetzen, entstehen könne« (ebd., § 292). Vgl. Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 77. Ebd., S. 37. Meier: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen, (s. Anm. 3), Bd. 1, § 43. Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 83.
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könnten und im Rahmen des Gesellschaftsvertrags auch disponieren müssten. Die Gewährleistung von Rechtsfrieden und -sicherheit wurde bei Hobbes, Pufendorf, Thomasius oder Wolff verknüpft mit der bedigungslosen Unterwerfung der einzelnen unter den machthabenden Willen der staatlichen Obrigkeit. Erst Rousseau hat allen Begründungen des Freiheitsverzichts im Staatsrecht eine entschiedene Absage erteilt, weil niemand auf seine persönliche Freiheit verzichten könne, ohne zugleich aufzuhören, überhaupt ein Rechtssubjekt zu sein. Ein solcher Vertrag aber, der die Aufhebung der persönlichen Freiheit zum Gegenstand hätte, ist null und nichtig, weil sich Voraussetzung und Resultat des Vertragsschlusses widersprechen.79 Wir hatten andererseits gesehen, dass Meier in seiner Analyse der juridischen Struktur des Naturzustandes in gewisser Weise den Positionen, die Kant am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Rechtslehre vertreten wird, recht nahe kommt: der Begriff des Unrechts ist eingeschränkt auf die willentliche Verletzung des naturrechtlichen Rechtsanspruchs anderer. Darüber hinaus unterliegt der Freiheitsgebrauch keinen weiteren Einschränkungen. Angesichts der zeitgenössischen Bestrebungen der kriminalpolitischen Aufklärung, die mit den Namen Beccaria, Voltaire und – im Alten Reich – Hommel verbunden ist, hätte man erwarten können, das Meier mit seinem naturrechtlich stark restringierten Unrechtsbegriff sich diesen Reformbestrebungen anschließt und aus seinen naturrechtlichen Überlegungen zur Entgrenzung der natürlichen Freiheit von ethischen Gesichtspunkten Argumente für die Verabschiedung von Sittlichkeitsund Religionsdelikten aus dem Kanon strafbarer Handlungen entwickelt. Dies ist allerdings bei Meier nicht der Fall, weil für ihn aus der Geltung des Naturrechts im Naturzustand kein Argument für die Bestimmung der Grenzen des Rechts im status civilis abgeleitet werden kann. Selbstmord, Prostitution oder Gotteslästerung sind durch das Naturrecht nicht verboten, aber das bedeutet keineswegs, dass die einzelnen auch im Staat ein Recht auf solche Handlungen hätten. Ebenso sind die einzelnen im Naturzustand zwar gleich und frei, aber daraus erwächst ihnen kein unverzichtbarer Anspruch gegenüber der staatlichen Herrschaft. Das zum Rechtsstatus des Menschen bzw. zu seiner »Personnatur«80 bzw. zu seiner Menschheit die unveräußerliche rechtliche Freiheit gehört, ist ein von Meier noch nicht gefasster Gedanke. In der Tat unterstellt Meier die Möglichkeit des vertraglichen Verzichts auf die angeborenen Rechte: Sowohl die angeborenen wie die erworbenen Rechte des Menschen im Naturzustand bleiben »so lange die seinigen, bis er darin einwilliget, daß sie aufhören sollen, die seinigen zu seyn« (§ 246; S. 468). Der Naturzustand ist zwar ein Zustand der angeborenen Freiheit und Gleichheit, aber diese jura connata bestehen im status civilis nicht fort.81 Diethelm Klippel hat in seiner klassischen Studie über die politischen Freiheitsrechte den Grund hierfür insbesondere in der politischen Funktion des älteren Naturrechts gesehen, das in erster Linie »der rechtlichen und politischen Begründung von Ansprüchen und Handlungen der Herrscher« gedient habe, so dass sich die Naturrechtslehre der deutschen Aufklärung als »Fürstenrecht und Fürstenethik« erweise.82
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Rousseau: Du contrat social (s. Anm. 70), p. 356: »Dire qu’un homme se donne gratuitement, c’est dire une chose absurde et inconcevable; un tel acte est illégitime et nul, par cela seul que celui le fait n’est pas dans son bon sens.« Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 19), S. 120. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 94f.
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Ich möchte außer der politischen Funktion des älteren Naturrechts auf einen weiteren, eher systematischen Grund für die fehlende »Abwehrsubstanz« der angeborenen Rechte bei Meier hinweisen, der in dem Umstand begründet liegt, dass Meier die Verwirklichung der Glückseligkeit für das materiale Telos des Naturrechts hält und somit sein Rechtsbegriff an die Realisationsbedingungen der Glückseligkeit, die von ihm unter dem Titel des ›gemeinen Besten‹ zur Hauptaufgabe staatlicher Politik erklärt wird, gebunden bleibt. Weil es in Bezug auf die Glückseligkeit überhaupt »kein gemeinschaftliches Prinzip« der Willensbestimmung geben kann, weil – wie Kant im Gemeinspruchaufsatz sagt – die Menschen darüber »gar verschieden denken«, so kann es auch kein allgemeines Prinzip geben, durch das in Bezug auf die Bewerkstelligung allgemeiner Glückseligkeit der Gebrauch und insbesondere die Grenzen der Ausübung der Staatsgewalt bestimmt werden könnten. In dem Maße aber, wie die Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt in die bloße Entscheidungsgewalt des Staatsoberhauptes fällt, werden die einzelnen Bürger ihm gegenüber rechtlos. Diese Einschätzung stimmt damit überein, dass Meier der traditionellen Auffassung von der Gründung des Staates als einer »Verbindung von Menschen zum Zwecke der gemeinschaftlichen Beförderung ihrer Glückseligkeit«83 und vom Zweck des Staates als des Sachverwalters öffentlicher Wohlfahrt folgt84, kann man davon ausgehen, daß die jura connata unter den Bedingungen des status civilis marginalisiert bzw. aufgehoben werden. Meiers Naturrecht hinterlässt – darauf hat schon Dominik Recknagel in seinem Beitrag hingewiesen – einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits haben wir gesehen, dass Meier vergleichsweise liberale Positionen im Bezug auf den normativen Regelungsbereich der natürlichen Gesetze bezieht: Jede Handlung ist hier rechtmäßig, durch die andere in ihren gleichen Rechten nicht beleidigt werden, und seien die Handlungen auch noch so unmoralisch. Aber es bleibt unklar, wie das Verhältnis von status naturalis und status civilis beschaffen ist, und welche Geltung den natürlichen Rechten im letzteren überhaupt noch zugebilligt wird. Die scheinbare juridische Liberalität im Naturzustand schließt die Rechtlosigkeit des einzelnen im Staat nicht aus, jedenfalls nennt Meier kein Prinzip, gemäß welchem diese Rechtlosigkeit ausgeschlossen werden könnte.
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Julius Ebbinghaus: Vorbemerkung zu: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht. Hg. von Hariolf Oberer u. Georg Geismann. Bonn 1986, S. 99. Vgl. Klippel: Ideen zur Revision des Naturrechts (s. Anm. 63), S. 85, der dies als den »für den aufgeklärten Absolutismus typische[n] Staatszweckbegriff« betrachtet.
V. ÄSTHETIK UND SPRACHE
STEFANIE BUCHENAU
Weitläufige Wahrheiten, fruchtbare Begriffe. Georg Friedrich Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften
Georg Friedrich Meier hat die Ästhetik zwar nicht erfunden, aber er ist dem eigentlichen Begründer dieser Disziplin mit der Veröffentlichung eines ersten ausführlichen Ästhetiktraktats zuvorgekommen. Schon zwei Jahre vor der Erscheinung von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica publiziert Meier den ersten und zweiten Band seiner Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften; der dritte Band folgt 1750, zeitgleich mit dem ersten Teil von Baumgartens Aesthetica. Meier stützt sich dabei auf das Collegium, das er sich von seinem gerade an die Viadrina nach Frankfurt an der Oder berufenen Lehrer Baumgarten ausgebeten hat, um in Halle dessen Ästhetik-Vorlesungen fortzusetzen: Als der Herr Profeßor nach Frankfurth beruffen worden, sohat er Gelegenheit gehabt, seinen hier in Halle schon entworfenen Plan der Aesthetik weiter auszuführen. Er hat in einem Collegio über die Aesthetik, die Anfangsgründe des schönen Denkens, in kurzen lateinischen Paragraphen ausgeführt.1 Ich habe mir dieses Collegium ausgebeten, und ich habe darüber schon einige gelesen, bis ich nunmehr, mit Genehmhaltung des Herrn Profeßors, den ersten Theil in der gegenwärtigen Gestalt dem Drucke übergeben habe.2
Mit der Vorlesung und dem Druck der Anfangsgründe gibt Meier somit dem Wunsch der Studenten nach einer Fortsetzung der Lehrveranstaltungen über die Ästhetik nach; letztere hatten sogar eine Petition an den preußischen König gerichtet, um durchzusetzen, dass Baumgarten trotz seiner Berufung nach Frankfurt seine Vorlesungen in Halle noch zu Ende führen könne. Das Ergebnis wirkt auf den ersten Blick wenig überzeugend. Mögen die Anfangsgründe auch zu Meiers Lebzeiten mehr als die Aesthetica den »Beyfall der Welt«3 erhalten haben, so empfindet der heutige Leser sie als ungeordnet, kompilatorisch, verblümt, ausschweifend, verwässert; um
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Das Collegium Baumgartens wurde 1907 von Bernhard Poppe transkribiert und als Anhang seiner Dissertation publiziert: Kollegium über Ästhetik. In: Ders. : A. G. Baumgarten, seine Stellung und Bedeutung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehung zu Kant. Nebst einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Borna, Leipzig 1907, S. 59–258. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Halle 1748–1750, andere Auflagen 1754, 1755, 1759, [ND Hildesheim 1976], Vorrede (unpag.). Ebd.
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Stefanie Buchenau
in den Begriffen seiner Zeit zu sprechen, als »weitläuffig«,4 ja als »seicht«. Sie enthalten ganz offensichtlich eine Anhäufung von Versatzstücken aus allen Meier zugänglichen Schriften Baumgartens, nämlich vor allem aus der Aesthetica in der Fassung des Meier zu Verfügung stehenden Collegiums, aus den Abschnitten zur Psychologie aus der Metaphysica von 1739, und aus den Meditationes philosophicae.5 Meier entleiht der Aesthetica die Aufteilung in einen theoretischen und in einen praktischen Teil, in eine aesthetica docens und utens. Im ersten Teil übernimmt er größtenteils den Inhalt der Aesthetica samt ihrer Gliederung in Heuristik, Methodologie oder Methodenlehre und Semiotik; diese entspricht der antiken Triade inventio, dispositio, elocutio, wie sie bei Cicero angelegt ist. Wie Baumgarten führt auch Meier nach einem allgemeinen Abschnitt über die Schönheit überhaupt die sechs oder sieben Attribute aus, die sie Baumgarten zufolge näher beschreiben: Reichtum, Größe, Großmut, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Licht usw. Den Teil über den schönen Geist felix aestheticus stellt Meier im Gegensatz zu Baumgarten hinten an. Die Abschnitte zu den unteren Seelenvermögen aus der Metaphysica bilden grosso modo den zweiten Teil der Anfangsgründe, und die Meditationes philosophicae den dritten. Schon aus dieser Versatztechnik ergibt sich eine gewisse Breite der Darstellung. Außerdem aber versucht Meier in den Anfangsgründen offenbar, Baumgartens eigene Gedanken weiter auszuführen und dadurch die stilistischen Schwächen der baumgartenschen Schriften zu kompensieren. Deren Bündigkeit und »körnichte« Verknappung ist darauf zurückzuführen, dass Baumgarten dem mündlichen Vortrag einen größeren Wert als dem schriftlichen Text einräumte. Er betrachtete letzteren als bloße Vorlesungsgrundlage und reicherte ihn während der Vorlesung mit Beispielen an.6 Meier hingegen strebt eine »Weitläufftigkeit« an, die zur Klärung wenig beiträgt. Jeder der drei Bände der Anfangsgründe umfasst um die 400 bis 700 Seiten einschließlich der übersetzten Beispiele, über 1500 insgesamt: Diese Länge übertrifft bei weitem die der Aesthetica. Die von Baumgarten vorgeschlagenen Klassifikationen – Reichtum, Armut, Wahrheit, Falschheit der Erkenntnis, in niedriger, mittlerer und erhabener Denkungsart usw. – werden weiter symmetrisch ausdifferenziert und dekliniert sowie an zahlreichen (im Anhang übersetzten) Beispielen aus der antiken Rhetorik und neueren Dichtkunst – Haller, Lange, Gellert, Klopstock, einige Franzosen, aber auch Milton – veranschaulicht. Man mag sich gar nicht ausmalen wollen, wie der praktische Teil ausgesehen hätte, den Meier am Schluss kurz skizziert: Ich war, bey dem Anfange dieses ganzen Werks, willens, zum Beschlusse desselben den practischen Theil der Aesthetik zu entwerfen, und zu zeigen, wie viele besondere Gattungen und Arten der schönen Gedanken, unter den Regeln der Aesthetik könten begriffen werden. Ich hätte, wenn ich diesen Vorsatz ausgeführt hätte, in einer volständigen Tabelle zeigen wollen, wie viele verschiedene Arten der aesthetischen Ausführungen, und der Werke des Geistes schon erfunden und gebräuchlich sind, und welche als so viele Ströme zu betrachten, in welche sich die Aesthetik als eine reiche Quelle ergießt. 4 5
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Der deutsche Begriff »Weitläuffigkeit« (oder »Reichtum«) entspricht dem lateinischen »ubertas«. In der Vorrede verweist Meier außerdem auf Baumgartens Philosophische Briefe von Aleteophilus. Auch die 1748 bereits erschienene Ethica hinterlässt ihre Spuren in den Anfangsgründen, vor allen in den Abschnitten über ästhetische Würde, ohne aber wie die oben genannten Schriften in ihrer Gesamtheit eingegliedert zu werden. Siehe Gottlieb Alexander Baumgarten: Ausführungen in seinen Gedancken vom vernünftigen Beifall auf Akademien. Halle 1740. ND in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 20 (2008), S. 271–304.
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Ich hätte unter andern die verschiedenen Arten der Reden und der Gedichte erzehlt, und ich hätte den Unterscheidungscharacter einen jeden derselben, nach den Regeln der Aesthetik, geschildert.7
Gleichzeitig aber behauptet Meier hier wie auch in anderen Schriften8 ausdrücklich, er sei »mehr als ein Übersetzer und Paraphraste«. Wenn des Herrn Profeßors Dictata gedruckt wären, so würde ich es völlig dem Urtheile der Leser überlassen können, zu untersuchen, was dem Herrn Profeßor zugehöre, und was von mir herrühre. Allein da dieses nicht ist, so kan es vielleicht Leute geben, die um wer weiß was für Ursachen sagen werden, daß ich an der Aesthetik weiter keinen Antheil habe, als daß ich sie deutsch heraus geben. Ob mir nun gleich an dergleichen übereilten Urtheilen wenig gelegen ist, so kan ich doch kühnlich sagen, daß ich mehr gethan habe als ein bloßer Uebersetzer und Paraphraste.9
Dieses »mehr«, das Meier geleistet haben will und das offensichtlich nicht rein quantitativ zu verstehen ist, soll im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen. Die Frage ist, inwiefern verfolgt Meier, der behauptet, er habe hier »seine und meine Gedanken unter einander gemengt«, auch ein eigenes philosophisches Projekt? Inwiefern denkt Meier die philosophischen Möglichkeiten des von Baumgarten entworfenen neuen ästhetischen Paradigmas weiter? Oder: Was versteckt sich hinter dem so rätselhaften, Mona Lisa gleichen Lächeln Meiers auf dem von dem zeitgenössischen Künstler Gottfried August Gründler verfertigten Porträt? Meine Antwort gliedert sich in zwei Teile: Der erste beschäftigt sich mit Meiers neuen systematischen Anordnung der Ästhetik, der zweite mit seiner neuen philosophischen Schreibart.
1. Systematik Werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die Gliederung der Anfangsgründe und deren Nutzung von Baumgartens Schriften. Aus der Einleitung ist relativ klar ersichtlich, dass Meier eine gewisse systematische Leistung für sich einfordert: Er möchte eine Wissenschaft begründen, »unumstößliche« Anfangsgründe bereitstellen;10 und genauer noch: Er möchte diese Anfangsgründe besser begründen als sein Lehrer. Wohl deshalb auch stellt er die Begründung der Ästhetik als ein kollektives Projekt dar. Zwar bleibt »Herrn Baumgarten der Ruhm, daß er der erste [sei], welcher einen systematischen Plan der Aesthetick entworfen, denselben ausgeführet, und mit seinen Erfindungen bereichert ha[be]«, zugleich haben an dieser Erfindung sowohl die antiken Redner und Poetiker, als auch die Neueren – einschließlich Meier – ihren Anteil. Wer die philosophische Historie versteht, dem kan nicht unbekant sein, daß jederzeit die Ausübung einer Wissenschaft das erste ist, welches von derselben bekant wird. Alsdenn finden sich geschickte Köpfe, welche diese und jene eintzelne Stücke der Theorie nach und nach erfinden, bis endlich ein systematischer Kopf die zerstreueten Glieder samlet, und eine eigene und besondere Wissenschaft aus denselben bildet. So lange es Maler, Dichter, Redner, Musickverständige und so weiter gegeben hat, so lange ist die Aesthetick ausgeübt worden. Aristoteles, Cicero, Quintilian, Longin und vielen andere vortref7 8 9 10
Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), § 736. Vgl. auch den Beginn von Meiers Metaphysiktraktat und den Beitrag von Guiseppe Motta im vorliegenden Band. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), Vorrede. Vgl. ebd., § 3.
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Stefanie Buchenau liche Männer, welche von der Rede und Dichtkunst unter den Alten geschrieben, haben viele eintzelne aesthetische Materien abgehandelt. Auch in den neuern Zeiten fehlt es uns nicht an solchen eintzelnen Abhandlungen.11
Zu diesen neueren Abhandlungen zählen, wie Meier im Folgenden ausführt, sowohl französische und englische, als auch deutschsprachige Werke: Des Bouhours maniere de bien penser dans les ouvrages de l’esprit, Boileau[s] Gedicht von der Dichtkunst, Popens Gedichte von der Critick, Johann Ulrich Königs Untersuchung vom Geschmack, Crousaz du beau […]. Vornehmlich müssen hieher die schweizerischen Schriften gerechnet werden, als Herr Breitingers critische Dichtkunst, seine Abhandlung von Gleichnissen, Herr Bodmer von poetische Gemälden und dem Wunderbaren in der Poesie, nebst den geistvollen Schriften, wie auch die greifswaldischen critischen Versuche, nebst anderen kleinern critischen Abhandlungen, und andern critischen Monathsschriften, die jederman bekant sind, und sonderlich in Leipzig häuffig heraus gekommen sind.12
Aber auch Meier fordert, bei aller »zärtlichen Liebe für den Lehrer« und der dem Schüler gebührenden Demut, einen eigenen Beitrag in dieser kollektiven Erfindung für sich ein. Dieser Beitrag und die »Verbesserung« von Baumgartens System besteht offensichtlich darin, höher noch als Baumgarten anzusetzen und den ersten Grund der Ästhetik von höheren Prinzipien her abzuleiten. Dieser erste Grund oder »Anfangsgrund« ist die Schönheit. Dieser Begriff findet sich zwar auch bei Baumgarten; Meier aber entwickelt seine systematische und metaphysische Verankerung. Baumgarten hatte sich in seinen Schriften vor allem mit dem Verhältnis von Logik, Psychologie und Ästhetik beschäftigt. In den Meditationes philosophicae hatte er die Ästhetik als neue Logik der sinnlichen Vermögen bestimmt. Diese Neubestimmung ergibt sich aus einer neuen Verteilung der Zielsetzungen von philosophischer und dichterischer Rede, die bestimmte rationalistische Ambitionen einschränkt. Die philosophische und logische Rede ist per se nicht schön und nicht dichterisch, sie zielt nur auf Wahrheit. Die dichterische Rede hingegen setzt sich Schönheit zum Ziel.13 Die Ausbildung dieses Vermögens zur schönen Rede, das Baumgarten Sinnlichkeit oder aisthesis nennt, ist der Gegenstand einer eigenen Vernunftkunst und Propädeutik, nämlich der Ästhetik, die dem System vorausgehen muss. Baumgarten selbst beschäftigt sich in den Meditationes vor allem mit der Logik und diskutiert diese weitere systematische Verankerung in Ontologie und Psychologie in den ästhetischen Schriften selbst nicht, obwohl er sie in seiner Metaphysik berücksichtigt. Meier seinerseits bezieht diese in die Ästhetik mit ein und zeigt damit ausdrücklicher, dass die Ästhetik auf höheren Prinzipien sowohl der Psychologie als auch der Ontologie beruht. Wie Baumgarten bereits in der Metaphysik ausführte, ist der Begriff von Schönheit in der Seele verankert. Ich trage ihn in mir, genauer: die Schönheit bestimmt als telos, Ziel, Zweck, nicht nur einer Kunst, ars, sondern eines eigenen Vermögens, facultas. Aus Meiers Ausführungen wird deutlicher als bei Baumgarten, dass aus der oben skizzierten, von Baumgarten vorgenommenen Aufspaltung des logos, der Vernunft oder Sprache in zwei gesonderte Vermögen, nämlich in ein philosophisches und ein dichterisches Vermögen, die Sinnlichkeit ganz neu definiert wird, 11 12 13
Ebd., § 6. Ebd. Vgl. die Ausführungen zu Baumgarten in meiner Studie The Founding of Aesthetics in the German Enlightenment. Cambridge 2013, insbesondere Kapitel 6 bis 8.
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und zwar als ein menschliches, sprachliches und im weiteren Sinne vernünftiges Vermögen, das nun aber, weil es bildlich ist und weil es uns die Sache selbst vor Augen stellt, Sinnlichkeit genannt wird. Es gibt somit eine besondere, menschliche Form von Sinnlichkeit, neben dem tierischen Sinnesvermögen, das dem philosophischen genau analog ist. Deutlicher noch als Baumgarten entwickelt Meier diese Vermögen in genauer Symmetrie zum Vernunftvermögen, insofern sie Aufmerksamkeit, Abstraktionsvermögen, Vermögen zur Erfassung von Übereinstimmungen und Unterschieden, Gedächtnis, Dichtungs- und Urteilskraft, Vorhersehungs-, Vermutungs- und Bezeichnungsvermögen umfassen. Meier stellt die bei Baumgarten bereits angelegte logische und psychologische Verankerung des Schönheitsbegriffs klarer heraus. Darüber hinaus entwickelt er eigene und innovative Gedanken zu einer ontologischen Verankerung und prägt den neuen, von Baumgarten nicht verwendeten Ausdruck einer »Metaphysik der Künste«.14 Weil die Metaphysik die ersten Gründe der ganzen menschlichen Erkenntnis enthalte, so verhalte »die Aesthetik sich gegen alle schönen Künste und Wissenschaften so […], als die Metaphysik gegen die ganze menschliche Erkenntnis«; sie werde »daher mit Recht die Metaphysik aller schönen Wissenschaften und Künste genannt«.15 Denn während Baumgarten seine Ästhetik nur logisch und psychologisch als auf die Vollkommenheit der Erkenntnisvermögen zielend bestimmt und die Ordnung und Vollkommenheit der Welt gar nicht thematisiert, stellt Meier Vollkommenheit und Schönheit als Attribute der Welt dar: In dieser Welt herscht eine so algemeine und vortreffliche Ordnung, daß keine Veränderung sich in dem Umfange der ganzen Natur zutragen kan, welche nicht einer oder der anderen Regel der Ordnung gemäß sein solte. Diese durchgängige Regelmäßigkeit ist insonderheit alsdenn am augenscheinlichsten, wenn eine Erscheinung volkommen ist, und man kan sagen, daß man diese Volkommenheit nicht eher einzusehen vermögend ist, ehe man nicht die Regeln versteht, durch deren genaue Beobachtung die Volkommenheit hervorgebracht wurde. Die schöne Erkentnis gehört unter diejenigen Veränderungen der Geisterwelt, welche, weil sie so volkommen ist, ihre Schönheit durch die Übereinstimmung mit den Regeln der Vollkommenheit erhält.16
Offensichtlich bezweckt Meier mit dieser Bezeichnung die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Ästhetik von den Künsten auf die Natur: Meier behauptet, schön sei nicht nur die Kunst, sondern auch die Natur, die Welt, das Sein überhaupt. Baumgarten hatte die Schönheit vor allem auf Kunst und Redekunst bezogen und sie mithilfe rhetorischer Termini beschrieben. Meier nimmt diese als Attribute der Schönheit auf und schließt die Naturschönheit (vor allem die Schönheit der Frauenzimmer17) explizit mit in den Begriff der Schönheit ein – obwohl er die Naturschönheit weiterhin nach dem Paradigma der Kunstschönheit denkt. Genauer: Die Kunst bietet, gerade weil ihre Vollkommenheit und Regelmäßigkeit augenscheinlich sind, weil sich ihr Zweck, ihre Absicht und die Mittel zur Erreichung dieser Absicht an ihren Regeln ablesen lassen, den Schlüssel zum Verständnis der Regelmäßigkeit und Ordnung der Welt, die ihrerseits von einer noch größeren Kunstfertigkeit des göttlichen Erfinders zeugt. In diesem Sinne weist die Schönheit, Vollkommenheit und Regelmäßigkeit der Kunst den Weg zur Erfassung der 14 15 16 17
Siehe hierzu auch den Beitrag von Gideon Stiening im vorliegenden Bande. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), § 4. Ebd., § 1. Vgl. ebd., § 38.
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Vollkommenheit des Seins. Wenn sich aber dem Betrachter die Vollkommenheit der Welt über deren Schönheit offenbart, so muss die systematische Zergliederung des Begriffes der Schönheit der der Vollkommenheit vorhergehen. In diesem Sinne – indem er die Reihe der ontologischen Grundbegriffe um den der Schönheit ergänzt – revidiert Meier hier nicht nur Baumgartens Ästhetik, sondern auch Wolffs Versuch einer systematischen und methodischen Ontologie.18 Von der gleichen Tendenz zur Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Schönheit zeugt auch der dritte Teil. Dieser befasst sich mit den besonderen Teilen oder Elementen der schönen Rede. Indem Meier hier die Argumentation der Meditationes philosophicae in größerer »Weitläuffigkeit« noch einmal aufrollt, bietet er eine äußerst hilfreiche Anleitung zum Lesen dieses schwierigen Textes und räumt mit einigen gängigen Missverständnissen auf. Wie Baumgarten, so weist auch Meier auf die Bedeutung einer weiten Sichtweise auf die Rede. Wenn die in dieser Rede enthaltenen Einzelbegriffe auch schön sein mögen, so richtet der Dichter seinen Blick trotzdem zunächst auf die Schönheit der oratio in ihrer Gesamtheit und auf deren »malerische« Verteilung und Gewichtung, die Licht und Schatten abmisst. Nur aus einer solchen geweiteten Sichtweise heraus können die drei Komponenten der allgemeinen Schönheit in den Blick geraten. Zu diesen gehören außer der inventio auch dispositio und elocutio (Ordnung und Ausdruck). Diese drei Komponenten bilden eine Einheit. Es ist aus diesem Abriss ersichtlich geworden, dass Meier die Ästhetik in Weiterführung von Baumgartens Ansatzes weiter zu systematisieren, den Begriff der Schönheit aus höheren Begriffen abzuleiten sucht und gleichzeitig mit Blick auf die Teile der schönen Rede zergliedert. Inwiefern aber begründet ein solcher Begriff der Schönheit ein System? Inwiefern ist er »unumstößlich« und nicht etwa »gewiss«? Und warum wird die aesthetica docens um einen praktischen Teil – aesthetica utens – ergänzt? Um die Besonderheit dieser bei Baumgarten angelegten und von Meier weitergeführten Systematik zu verstehen, muss der Leser sich zunächst von gewissen festgefahrenen Denkmustern lösen. Die Prinzipien oder Anfangsgründe, auf denen diese vorkantische Ästhetik beruht, sind weder formal, noch theoretisch, sondern materiell und praktisch. Ihre Wissenschaftlichkeit ist keine mathematische, insofern sie nicht von gewissen Prinzipien ihren Ausgang nimmt, sondern eine solche Gewissheit am Ende steht. Aber wie die Mathematik auch, die sich Wolff zufolge aus der Messkunst entwickelt, kann sich die Ästhetik nichtsdestotrotz von einer empirischen Kunst, ars, zu einer systematischen oder zusammenhängenden Wissenschaft, scientia, entwickeln. Die Ausübung, schreibt Meier im obigen Zitat, kommt zuerst. Die alten Dichter haben diesen Begriff der Schönheit schon in sich getragen, denn sie haben die Wissenschaft zuerst ausgeübt: Auf dieser Grundlage haben die Poetiker nach und nach einzelne Stücke der Theorie zusammengetragen, und Baumgarten hat diese Begriffe in ihrem Zusammenhang dargestellt. Eine solche Systematisierung kann Kritikern und Dichtern gleichermaßen einen festen, gründlichen 18
Siehe neben Wolffs Traktaten und Abschnitten über die Ontologie auch Wolffs Artikel De notionibus directricibus & genuinousu philosophiae primae In: Christian Wolff: Horae subsecivae Marburgenses. Frankfurt a. M., Leipzig, 1729–1730. [ND in Christian Wolff: Gesammelte Schriften. Hildesheim 1983, Bd. XXXIV/1, S. 310–350]. Eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Von denen zur Richtschnur dienenden Begriffen und von dem rechten Gebrauche der Grundwissenschaft befindet sich im Band XXI/2 der Gesammelten Schriften (S. 108–168).
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und unumstößlichen Leitfaden für die dichterische Schöpfung und Beurteilung an die Hand geben. Diese Sichtweise entspricht Wolffs eigener Argumentation in der Auseinandersetzung mit Descartes und Leibniz um die Natur von Methode und Wissenschaft, wie Wolff selbst sie in seinem Traktat über die Baukunst in den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften ausführt.19 In Wolffs Augen kann man Wissenschaft und Methode gar nicht anders begründen als materiell, wenn man den grundlegenden Beitrag der Künste zu deren Entwicklung berücksichtigen will. Der Zusammenhang der empirischen Regeln dieser Künste besteht bereits und zeugt von einer gewissen, im weiteren Sinne systematischen Rationalität der Handwerker und Künstler. Die philosophische Systematisierung oder Verwissenschaftlichung dieser Künste dient lediglich der Verdeutlichung und größeren Ordnung; und letztendlich einer praktischen Zielsetzung, der Anwendung auf den Einzelfall. Diese grundlegende Einsicht der wolffianischen Ästhetik stellt Meier klar heraus. Die »Größe« und »Fruchtbarkeit« des Begriffs der Schönheit besteht darin, dass er ein weites Feld offen legt: deshalb auch die Ergänzung um einen praktischen Teil. Der Begriff der Schönheit soll neue Regeln und »Mittel entdecken, wodurch diese Schönheiten erhalten werden«.
2. Schreibart Indem Meier in seiner Neuordnung Baumgartens systematischen Ansatz weiterführt, dessen Besonderheit in seiner materiellen Fundierung und praktischen Zielsetzung besteht, erweist er sich schon als ein verständiger Schüler. In seiner Rhetorik oder Schreibart aber zeigt sich, dass Meier Baumgarten nicht nur korrekt liest, sondern auch in gewisser Hinsicht über seinen Lehrer hinaus geht, indem er die neu gewonnenen Einsichten auf die Schreibart von Philosophie und Wissenschaft anwendet. Aus obigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass Baumgartens Bestimmung der Schönheit mit einer gewissen Kritik an der Philosophie einhergeht. Die neue Abgrenzung ergibt sich daraus, dass Baumgarten die Ambitionen der rationalistischen Philosophie, wahr und schön zu denken, anzweifelt, dass er die Philosophie neu und bescheidener definiert als auf Wahrheit oder genauer auf logische Transparenz ausgerichtet. Um der Anschaulichkeit ihrer Wahrheit (oder logischen Stringenz) willen muss die Philosophie auf Symbole zurückgreifen und eine gewisse Dürre, Trockenheit, Abstraktion und relative Armut ihrer Symbole in Kauf nehmen. Meier kritisiert diese Abgrenzung und die sich aus ihr ergebende beschränkte Auffassung von Philosophie als Gelehrsamkeit. Gerade weil sie sich mit den edelsten und höchsten Wahrheiten beschäftigt, darf sich die Philosophie nicht in gelehrter »Schulfüchserei« erschöpfen. Denn diese Gefahr droht ihr aufgrund der ihr konstitutiven Abstraktion – jener Seelenhand19
Christian Wolff: Anfangsgründe aller Mathematischen Wissenschaften. 4 Bde., Frankfurt a. M., Leipzig, Halle 1750–1757 [ND in Wolff: Gesammelte Schriften [s. Anm. 18] Bd. I. 12–15. Hg. von J. E. Hofmann. Hildesheim 1999]. Vgl. auch wiederum Buchenau The Founding of Aesthetics (s. Anm. 13), insbesondere Kapitel 1.
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lung, in der man gewisse Merkmale nur dunkel vorstellt,20 deren »Tochter die Unachtsamkeit« ist.21 Will sich die Philosophie der Wahrheit und der systematischen Fruchtbarkeit ihrer abstrakten Begriffe versichern, bedarf sie selbst der ästhetischen Erkenntnis, Methode und Schreibart. Die neue Sichtweise auf die fruchtbaren Begriffe der Philosophie finden sich bereits in Meiers Traktat zur Abbildung eines wahren Weltweisen. Sie wird in den Anfangsgründen vorausgesetzt und einige Jahre später in der Vernunftlehre22 entwickelt. In der Abbildung eines wahren Weltweisen heißt es: Ein ächter Weltweiser erkennt die edelsten und fruchtbarsten philosophischen Wahrheiten am klärsten. Je edeler und fruchtbarer eine Wahrheit ist, desto klärer, deutlicher, vollständiger, ausführlicher, bestimmter und lebhafter sucht er sie zu erkennen.23
Die angestrebte Verbindung von philosophisch-logischer oder gelehrter und ästhetischer oder schöner Denk- und Schreibweise entspricht somit nicht einfach einer im schlechten Sinne rhetorischen ›Verseichtigung‹ der Ästhetik; sie ist vielmehr methodisch und philosophisch motiviert. Wenn auch Meier seine Darstellung als docens, Lehrart, bezeichnet, so gibt es keine philosophischere Alternative zu dieser Lehrart, keine Doppelung von philosophisch-systematischer und populärer oder didaktischer oder rhetorischer Darstellung. Es geht darum, die höchsten Begriffe der Philosophie nicht nur verständlich, sondern auch, wie es in dem obigen Zitat und auch zu Beginn der Anfangsgründe heißt, »fruchtbar« zu machen. Dieses Argument erklärt den antispekulativen Zug Meiers: seine Abwendung von einer gewissen Art von Metaphysik und Philosophie. Die Fruchtbarkeit (foecunditas) der Begriffe wird bereits bei Wolff und Baumgarten24 zu einem neuen Thema und terminus technicus der Philosophie. Wolff widmet ihnen eine kurze Schrift in den Marburger Nebenstunden.25 ›Fruchtbar‹ sind Wolff zufolge Begriffe, wenn sie »Bestimmungen eines Dinges [enthalten], daraus sich das übrige, welches einem Ding zukomt, abnehmen lässt. Die Begriffe sind also insofern fruchtbar, insofern sich aus ihnen nach richtigen Schlussregeln andere Beschaffenheiten (praedicate) eines Dinges herleiten lassen«. Wolff erläutert diese Bestimmung, indem er den metaphorischen Gehalt des von ihm gewählten Terminus kommentiert. In dieser Benennung ist etwas uneigentliches, insoferne nehmlich eine Aehnlichkeit zwischen den fruchtbaren Begriffen und einem fruchtbaren Saamen anzutreffen ist, welche Vergleichung einen undeutlichen Begriff in dem Gemüth erreget, vermöge dessen es das Wort (terminum) eines fruchtbaren Begriffes verstehet, ob es schon an einer deutlichen Erklärung fehlet. Bey einer jeden verblümten Redensart (metaphora) haben wir zwey Begriffe, deren einer ohne dem andern seyn kan, aus deren Vergleichung aber durch die (abstraction) Absonderung ein gewisser dritter Begriff entstehet, welcher etwas vorstellet, das in beyden zugleich befindlich ist und deßwegen die Sache, worin die Vergleichung ge20 21 22 23 24 25
Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), § 312. Ebd., § 313. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, insbesondere § 91. Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745, § 47. Vgl. Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysica. Halle 1739 (21745), § 166. Das lateinische Original ist in den Horae Subsecivae (Kleine Schriften, Bd. II, S. 105–165) enthalten, die deutsche Übersetzung unter dem Titel Von den fruchtbaren Begriffen in Christian Wolff: Gesammelte kleine philosophische Schriften. Halle 1737 [ND in Wolff: Gesammelten Schriften (s. Anm. 18), Bd. I.21, 2, S. 80– 107].
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schiehet (tertium comparationis), genennet wird, außer welchem die Aehnlichkeit, darauf die verblümte Redensart (metaphora) sich gründet sich nicht erstreckt. Ohnerachtet nun dasjenige, was man mit einem verblümten Nahmen (nomine metaphorico) belegt, verstanden werden kan, wenn man gleich auf das andere, von welcher die Benennung hergenommen, nicht acht hat : so hat doch die verblümte Redensart, wenn man sich deren recht zu gebrauchen weiß, den Nutzen, daß man zu einer deutlichen Erklärung des Wortes gelangen kan, daraus sicher ferner abnehmen lässet, was für eine Sache darunter stecke.26
Der verblümte Begriff trägt durch Aufdeckung neuer Ähnlichkeiten und der Bildung eines neuen Vergleichungsbegriffs zur Verdeutlichung des höheren Begriffs bei. Im vorliegenden Fall wird Wolff zufolge eine bestimmende und »nicht ausschweifende« Ähnlichkeit zwischen dem Samen und denjenigen Begriffen, die man fruchtbar nennt, erkannt. Meier entwickelt diese Idee in einem größeren Rahmen, indem er uns an die erste praktische Bestimmung der Philosophie als Weltweisheit erinnert und in diesem Sinne die Fruchtbarkeit der Deutlichkeit vorordnet.27 Philosophie zielt nicht per se auf Deutlichkeit, sondern verdeutlicht ihre Begriffe um deren größerer Fruchtbarkeit willen, um die in ihnen enthaltenen Merkmale mannigfaltig aufzudecken und sie für die Praxis produktiv zu machen. Wenn auch Meier den praktischen Teil seiner Ästhetik nicht ausführt, so dient doch gleichwohl die philosophische Verdeutlichung letztendlich der Anwendung auf den Einzelfall. Der Gehalt des Begriffes ›Schönheit‹ ist besonders reich oder fruchtbar, aber uns bisher – wie in einem gewissen Maße alle höheren Begriffe – nur dunkel bekannt. Er bedarf der weiteren Erleuchtung der (als Kette von Vernunftschlüssen betrachteten) Rede durch die philosophisch-ästhetische Begriffsauflösung. Wie schon für Wolff ist auch für Meier der logische Schluss ein Werkzeug der Erfindung. Deshalb dienen niedrigere, »nachdrückliche«28 und »lebhafte« Begriffe wie »Brenpunct«, »Licht« und »Quelle« zur Verdeutlichung des höheren und – da abstrakt – auch weniger »nachdrücklichen«29 Begriffes der Schönheit: Dergleichen Begriffe, die gleichsam trächtig sind, verursachen das Körnichte in unseren Gedanken. So ofte man dieselben überdenkt, entdeckt man was neues in ihnen, welches man vorher noch nicht wahrgenommen, und man mus gleichsam in der Geschwindigkeit, einen weitläuffigen Commentarium über sie machen. Indem sie uns vieles mit einemmale vorstellen, so geben sie uns eine weite Aussicht.30
Der Vergleich leitet die Betrachtung des Lesers, führt zur Bildung neuer Vergleichsbegriffe und zur Verdeutlichung des höheren und allgemeineren Begriffs als Teil eines bestimmteren und niedrigeren Begriffes. Beschränken wir uns hier auf ein Beispiel, den Begriff des »Brenpuncts«: [Es m]uß etwas da seyn, welches man eins, den Brenpunct oder den Bestimmungsgrund der Schönheit nent. Man kan in der Aesthetik ohne Irthum behaupten, dass dieser Brenpunct ein Zweck sey. Je grösser also dieser Zweck ist, folglich aus je mehrern und größern Theilen er zusammengesetzt ist, desto groesser ist die Schönheit. […] Gleichwie eine unendliche Anzal von Lichtstralen auf einen Brenspiegel fallen, durch denselben gebrochen und dergestalt zu einander gebeugt werden, das sie in einem Punct zusammenfliessen, und eben dadurch den durchdringenden Glantz dieses Puncts verursachen; also müssen auch die verschiedenen Dinge, das mannigfaltige in einer Schönheit, die hinreichenden 26 27 28 29 30
Wolff: Von den fruchtbaren Begriffen( s. Anm. 25), § 2. Vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 22), § 31. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), § 126. Ebd., § 127. Ebd., § 126.
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Stefanie Buchenau Gründe eines Zwecks seyn. […] Wenn ein Brenspiegel nicht gehörig geschliffen ist, so wird der Brenpunct nicht feurig und glänzend genug werden, weil er nicht alle Lichtstralen dichte genug zusammenpreßt. Und eben so verhält es sich auch bei der Schönheit, wenn das mannigfaltige nicht in einem hohen Grade übereinstimt. 31
Der »Brenpunct« ersetzt offensichtlich das von Baumgarten zu eng gefasste Thema. Meier entwickelt diesen neuen Vergleich, um die Zentralität der Dichtkunst in der ästhetischen Debatte zu relativieren, und mehr Raum für die restlichen Künste zu schaffen. Der Vergleich der Schönheit als Absicht der Kunst mit einem Brennpunkt mag nicht nur die weitere Lichtmetapher weiter ausführen, sondern soll auch neue Merkmale der Schönheit in diesen Künsten vor Augen führen, und so ganz im Sinne Wolffs »fruchtbar« wirken. Aber Meier setzt die Idee der fruchtbaren Begriffe noch allgemeiner um: Es gibt nicht nur »fruchtbare« Begriffe, sondern auch »fruchtbare« Dinge, »fruchtbare« Wahrheiten und »fruchtbare« Köpfe. Die Fruchtbarkeit ist zunächst wie die Schönheit objective in der Sache begründet, (wenn viele Folgen aus ihr her fließen); außerdem subjective im »fruchtbaren« und nicht »mageren« Kopf. Wie auch die Dichtung enthält die philosophische Rede Figuren, Argumente (dreifacher, nämlich beweisender, bewegender oder erläuternder Art) und Beispiele, die neue Merkmale oder notae des bedeuteten Gegenstandes aufdecken sollen.32 Meier zufolge ist vor allem die ästhetische Weise des Denkens fruchtbar, da sie neue Erkenntnisse hervorbringt. Hingegen ist die philosophische, die klassifizierend von den allgemeinsten Sätzen ansetzt, nur dann fruchtbar, wenn es ihr gelingt, abstrakte und höhere auf konkrete und niedrigere und bekanntere Begriffe zurückzuführen. Eine solche Klärung der von uns oftmals nur dunkel vorgestellten höheren Begriffe besteht in der Vergegenwärtigung oder Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeiten in den niedrigeren, bekannteren Begriffen, die den höheren konstituieren. Nur ein solcher Blick auf das weite Feld der Schönheit enthüllt neue Ähnlichkeiten und Attribute der Schönheit. Dazu reicht es nicht, sie durch die philosophische Form der Argumentation (Gegenüberstellung, Klassifikation usw.) mit andern abstrakten und höheren Begriffen in ein Verhältnis zu setzen oder sie philosophisch zu zergliedern. Es ist notwendig, sie auch ästhetisch zu zergliedern. Dazu dient die Verbindung von allgemeinem Satz und Beispiel. Zum Beispiel erläutert der Blick auf Hallers poetisches Gemälde Die Alpen die Regel, dass in der schönen Kunst eine unendliche Menge von Vorstellungen enthalten sein muss. Dem gleichen Zweck dienen die Beispiele von der biblischen Beschreibung eines Pferdes im Buch Hiob (»Sie ist von Gott selbst gemacht«)33 und von der Schönheit, dem Reichtum polyphoner und polyinstrumentaler Orchestermusik: Jederman weis, daß wenn sonst alles seine Richtigkeit hat, eine Musik unendliche mal schöner ist, wenn viele Instrumente von verschiedener Art zugleich gespielt werden, und in einem Stücke von einem jeden Spieler sehr viele Noten gegriffen werden, als wenn ein einziger, auf einem einzigen Instrumente, nur blos die Hauptnoten eines Schülerstücks spielt.34
Philosophische und ästhetische Argumentation müssen in ein dynamisches Verhältnis gesetzt werden, damit die durch den hohen und abstrakten Begriff gewährleistete Weite des Blicks und 31 32 33 34
Ebd., § 24. Ebd., § 124. Hiob 39,19–25; Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 1), § 30. Ebd.
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die Vielfalt der Beispiele dazu beitragen kann, dass der Leser sich der fruchtbareren, weil höheren, sich auf eine Mannigfaltigkeit beziehender Merkmale gewahr werde und sich einen allgemeineren Begriff von Schönheit bilde. Gleichzeitig darf der Philosoph den Endzweck seiner Rede nicht aus den Augen verlieren. Wie der Künstler, so muss auch der Philosoph Licht und Schatten malerisch zu verteilen wissen und philosophische und ästhetische Ausführungen miteinander vermischen. Wenn es auch eine »Thorheit« wäre, ein Gedicht über die Monaden zu verfassen,35 so können sich doch einige philosophische und abstrakte Wahrheiten auch in einem Gedichte finden. Dies erfordert manchmal ausführliche Weitläufigkeit, manchmal aber auch Sparsamkeit und Kürze. So verzichtet Meier auf die Ausführung aller Attribute der Schönheit im niederen, mittleren und hohen Stil und verwendet im zweiten Teil weit weniger Beispiele als im ersten. Jede zu große Weitläufigkeit oder verschwenderische Art zu denken36 – jede Umständlichkeit à la Boileau – muss unbedingt vermieden werden, damit der Leser nicht den Überblick über das Ganze verliert. Der Unterschied zwischen Dichter und Philosoph liegt daher einfach in der jeweiligen Gewichtung von Gelehrsamkeit und Schönheit. Der Philosoph muss den logischen Vollkommenheiten Vorrang über die ästhetischen einräumen und letztere sparsamer berücksichtigen.37 Weil sie in diesem Sinne sekundär sind, nicht aber weil sie äußerlich, vom Inhalt abtrennbar wären, sind die ästhetischen Vollkommenheiten hier »Zierat« und beblümen die Felder der Gelehrsamkeit.
3. Schluss Aus dieser neuen Perspektive zeigt sich die relative philosophische Eigenständigkeit Meiers in den Anfangsgründen. Meier entwickelt nicht nur die Systematik Baumgartens weiter und ist damit aus der kollektiven Sichtweise, die Meier uns nahe legt, vielleicht der noch bessere Erfinder. Sein eigentliches Verdienst besteht allerdings wohl mehr in der Erfindung einer neuen Schreibart. Diese ergibt sich zwar einerseits aus Baumgartens Argumentation und bietet auch eine mise en abyme des ästhetischen Paradigmas seiner Zeit – sie bilden den Reichtum, die Mannigfaltigkeit ab, in der Baumgarten und Meier zufolge alle Schönheit bestehen muss. Anderseits zeugt sie von einer neuen Anwendung auf die philosophische und wissenschaftliche Prosa, die sich aus der Rückbesinnung auf die eigentliche (heuristisch-praktische) Bestimmung von Wissenschaft und Philosophie bzw. Weltweisheit und aus der Besinnung auf die Bedingungen wissenschaftlicher und heuristischer Fruchtbarkeit ergeben. Es würde sich gewiss lohnen, den Einfluss von Meiers neuer Schreibart auf andere Zweige der Wissenschaft, zum Beispiel auf die Medizin in Halle, näher zu verfolgen.38
35 36 37 38
Ebd., § 46. Ebd., § 45. Vgl. auch wiederum Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 22), § 34. Vgl. hierzu den Beitrag von Udo Roth in diesem Band.
GIDEON STIENING
»Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste« Georg Friedrich Meiers ästhetische Theorie Die Aesthetick räumt den Kopf auf und sie macht die Wege eben, worauf die Wahrheit in die Seele ihren Einzug halten kann. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (§ 15)
1. Zur Einführung Im dritten Teil seiner zwischen 1755 und 1759 in Halle erschienenen Metaphysik, der die Psychologie als Lehre von den ›endlichen Geistern‹ enthält, kommt Georg Friedrich Meier im Zusammenhang der Ausführungen zu den unteren Seelenvermögen zu dem Urteil, dass »das sinnliche Erkenntnißvermögen nicht nur dasjenige Erkenntnißvermögen [ist], welches wir am meisten brauchen, sondern welches auch beständig in uns und bey aller unserer Erkenntniß entweder allein, oder in Gesellschaft des Verstandes, geschäftig ist«.1 Diese leibnizsche Argumente aufnehmende Einsicht von der quantitativen Bedeutung sinnlicher Erkenntnis für den Menschen wird jedoch vom Hallenser Philosophen nicht ausschließlich positiv gewertet. Denn bei der zugleich konstatierten Schwäche des Verstandes muss sich der Mensch eingestehen: Daher ist bey uns die sinnliche Erkenntniß, wenigstens gewöhnlicher Weise, stärker, als die deutliche; und wenn wir die deutliche mit ihr verknüpfen, welche uns den Gegenstand von eben der Seite vorstelt, als die deutliche. Und daher rührt unser ganzes Verderben, daß die Sinnlichkeit über den Verstand herscht. Wenn wir uns die Sünde noch so deutlich als böse vorstellen, so ist doch die sinnliche Vorstellung des Scheinguten in der Sünde stärker.2
Die empirische Dominanz des Sinnlichen – Leibniz behauptete in der Monadologie, dass der Mensch als »reiner Empiriker«, der er zum Großteil seines Lebens sei und bleibe, nicht anders handele als »die Tiere«3 – hat also auch normative Konsequenzen. Die größere Menge und die größere Stärke der sinnlichen Eindrücke gegenüber den Operationen des Verstandes lässt den Menschen zum Bösen und zur Sünde neigen, gegen die die Schwäche der Vernunft selbst nicht anzukommen vermag. Nach Meier gibt es für dieses Problem jedoch eine wirksame Lösung:
1 2 3
Zitiert nach Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1765, Bd. III, S. 85 (§ 526). Ebd. S. 86. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 28. In: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. 2 Bde. Hamburg 1966, Bd. II, S. 441f.
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Gideon Stiening Da nun das sinnliche Erkenntnißvermögen sich bey aller unserer Erkenntniß geschäftig erweist, und so viel Macht über die ganze Seele ausübt: so breitet sich die gröste Unvollkommenheit über alle unsere Erkenntniß, und die äussterste Zerrüttung über die ganze Seele aus, wenn dasselbe nicht aufs möglichste verbessert wird. Daher preißt sich diejenige Wissenschaft von selbst ungemein an, welche man die Aesthetik nennt, oder die Wissenschaft der Regeln, wie wir eine Sache auf eine recht vollkommene Art sinnlich erkennen und vortragen sollen. In dieser Wissenschaft wird gezeigt, wie wir das untere Erkenntnißvermögen verbessern, und recht gebrauchen sollen. Und da alle schönen Künste und Wissenschaften sich mit den Vollkommenheiten der Dinge beschäftigen, in so ferne sie sinnlich erkannt werden: so kan man mit Recht sagen, daß die Aesthetik die erste Gründe aller schönen Künste und Wissenschaften enthalte, und daß sie also mit Recht, als eine allgemeine Theorie aller dieser Künste und Wissenschaften, könne und müsse angesehen werden.4
Mit diesen ebenso knappen wie energisch ausgeführten Argumenten lastet Meier der Ästhetik eine enorme Bürde auf: Er bestimmt die Ästhetik als eine Wissenschaft von den Regeln der sinnlichen Wahrnehmung vor allem durch eine gewichtige praktische Funktion. Die Ästhetik könne auf das moralische und auf das religiöse Problem, das die Sinnlichkeit dem Menschen bereite, weil der Mensch durch seine Sinnlichkeit und deren Dominanz im Vermögensapparat nicht nur mit einer Tendenz zum moralisch Bösen, sondern einem Hang zur Sünde ausgestattet sei, Lösungen bieten. Gegen beide Neigungen kann und soll nach Meier die Ästhetik deshalb Abhilfe schaffen können, weil sie das Sinnliche unter Regeln zu stellen vermag. Regeln sind nach Meier aber natürlich-theoretische Gesetze wie moralisch-praktische Normen, weshalb schon der Einhaltung von Naturgesetzen normative Funktion zukommen soll. Die Problematik des Sollens-Charakters von (theoretischen) Naturgesetzen wird im Rationalismus aber, und so bei Meier sowie weit darüber hinaus, nicht debattiert.5 Eine unter Regeln gestellt Sinnlichkeit – so die Prämisse des meierschen Arguments – verliere ihren despotischen Charakter – jene Tendenz zur »Tyrannei des Sinnenhanges«, die noch Kant als Gefahr für die moralische Gesinnung beschwor.6 Diese Betonung ihrer ethischen und theologischen Funktion in der Reflexion auf ihre erkenntnistheoretische Stellung ist insofern bemerkenswert, als Meier in seiner zwischen 1748 und 1750, also nur einige Jahre zuvor erschienenen Ästhetik, den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften, auf diese Funktion nicht bzw. nicht in dieser drastischen Form zu sprechen kommt. Zwar macht er mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass ästhetische Valenz nur dann erreicht werden kann, wenn der schöne Gegenstand den Tugendgesetzen nicht widerspricht: [F]olglich besteht die aesthetische Würde der Gedanken schlechthin betrachtet darin, wenn ein Gegenstand dergestalt gedacht werden kan, daß dadurch die Tugend nicht verletzt und das Laster befördert wird. Alles Lasterhafte ist eine sehr grosse Unvollkommenheit, folglich kan ein lasterhafter Gedanke, der die Tugend hindert und das Laster befördert, keine wahre Schönheit, und folglich keine aesthetische Grösse besitzen.7
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), Bd. III, S. 86f. (§ 527). Siehe hierzu ausführlich Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 173ff. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA, Band Seitenzahl], hier Bd. V, S. 433. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Halle 1748–1750, hier Bd. I, S. 121 (§ 66).
Meiers »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«
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Und aufgrund dieser strengen ethischen Bedingung alles Schönen muss man selbst anerkannten Künstlern absprechen, tatsächlich Schönheiten produziert zu haben: Wir wollen also den Schlus machen, daß auch die allerschönsten Gedanken dadurch einen Schandfleck bekommen, wenn sie irgends einer Tugend zuwider sind, ihr Urheber mag auch noch so ein grosser Man seyn. Ich habe, um dieser Ursache willen, auch so gar den Horaz in einigen Stellen getadelt, ob ich ihn gleich für einen der schönsten Poeten halte.8
Amoralität schmälert mithin nach Meier die ästhetische Leistung eines Gegenstandes nachdrücklich – die moralische Qualität bzw. die Abwesenheit von Amoralität eines schönen Gegenstandes bildet folglich eine entscheidende Bedingung seiner Möglichkeit. Gleichwohl führt der Hallenser Ästhetiker an keiner Stelle dieser früheren Schrift aus, dass die moralische und religiöse Gesinnung durch die Ästhetik befördert würde. Gibt es Gründe für diese auffällige Abweichung? Im Folgenden sollen die Grundzüge der meierschen Ästhetik als einer ›Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste‹ rekonstruiert werden; deren praktische Valenz ist vor dem Hintergrund des obigen Befundes zu prüfen.
2. Ästhetik und Metaphysik Prima vista könnte man es sich leicht machen mit einer Beantwortung der Frage nach der praktischen Dimension einer ›Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste‹ in Meiers Anfangsgründen und darauf verweisen, dass der Autor seine Ästhetik explizit in einen theoretischen und einen praktischen Teil untergliederte, wobei er nur den ersten Teil tatsächlich ausführte. Allerdings bezieht sich diese Unterscheidung der ganzen Disziplin keineswegs auf einen ethischen und einen metaphysischen bzw. epistemologischen Teil; vielmehr heißt es hierzu: Es kommen also in der Aesthetik zwey Haupttheile vor I) der theoretische und lehrende Theil (Aesthetica theoretica, docens). Die lehrende Aesthetick untersucht die Regeln der schönen Erkentnis überhaupt, ohne zu untersuchen, wie dieser oder jener besonderer Gegenstand ins besondere schön gedacht werden müsse; II) der practische und ausübende Theil (Aesthetica practica, utens). Die ausübende Aesthetick geht die allervornemsten besondern Fälle durch, welche das schöne Denken fordern, und enthält einen kurzen Entwurf aller schönen Künste und Wissenschaften.9
Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis des Ästhetischen ist für Meier folglich der zwischen einer ästhetischen Grundlagenwissenschaft und Fragen ihrer praktischen Anwendung und damit auch zwischen deskriptiven und normativen Teil – unabhängig von Fragen der Moral, denn eine ästhetische Normativität kann schon im 18. Jahrhundert unabhängig von moralischen Maximen begründet werden, wie die Beispiele Friedrich Justus Riedels und Michael Hißmanns belegen.10 Mit dieser Distinktion wird nach Meier also nicht der Unterschied zwi8 9 10
Ebd., S. 145 (§ 75). Ebd., S. 13 (§ 7). Vgl. hierzu Friedrich Justus Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767 sowie Michael Hißmann: Ueber den Hautzweck der dramatischen Poesie. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., S. 553–564; zu Riedels Postulaten einer ethisch indifferenten Ästhetik vgl. Rita Terras: Friedrich Justus Riedel: The Aesthetic Theory of a German Sensualist. In: Lessing Yearbook IV (1972), pp. 157–182; zu Hißmanns vergleichbarer Position Gideon Stiening: »Die Nerven deines
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Gideon Stiening
schen einer metaphysischen oder epistemologischen Grundlegung und den ethischen Dimensionen des Schönen erfasst, sondern der zwischen Theorie und Praxis des Kunstschönen.11 Was also ist nach Meier ›Ästhetik‹ und in welchem Verhältnis steht sie zu den genannten Wissenschaften: der Metaphysik, der Erkenntnistheorie oder der Ethik? Mit Bezug auf seinen Lehrer Gottlieb Alexander Baumgarten, dessen Leistungen für die Entstehung der neuen Wissenschaft besonders gewürdigt werden,12 liefert Meier zunächst eine Wort- und sodann eine Begriffbestimmung, d. h. eine allgemeine Definition von Ästhetik: »Die Wissenschaft, die ich iezo unter den Händen habe, ist von ihrem Erfinder die Aesthetick genent worden, und sie handelt von der sinnlichen Erkentnis und der Bezeichnung derselben überhaupt«.13 Nach dieser vorerst äußerlichen Bestimmung des Gegenstandes der Ästhetik wird Meier jedoch im Hinblick auf deren wissenschaftlichen Status deutlicher; unter dem Vorwand einer Fortsetzung der Debatte über den strittigen Namen der neuen Wissenschaft hält er nämlich fest: Unterdessen ist diese Benennung [d. i. Ästhetik] nicht nothwendig. Wem es beliebt, der kann diese Wissenschaft entweder die Theorie der schönen Erkentnis überhaupt nennen; oder die Theorie der schönen Wissenschaften; oder die ersten Gründe oder Anfangsgründe der schönen Wissenschaften oder die Grundwissenschaft der schönen Erkentnis oder die Metaphysick der Rede- und Dichtkunst; oder die Logick der untern Erkentniskräfte oder wie es ihm sonst gefällig ist, und sich zu der Sache schickt.14
Theorie, Anfangsgründe, Grundwissenschaft, Metaphysik, Logik; Meier hat einige Begriffe im Angebot, die als Bezeichnung für die neue Wissenschaft dienen könnten. Die begrifflichen und sachlichen Differenzen, die – man nehme nur das Beispiel Logik und Metaphysik – nicht ganz unerheblich sind, fallen in diesem Zusammenhang offenbar nicht ins Gewicht. Entscheidend scheint Meier einzig zu sein, dass die Ästhetik nur als allgemeine Grundlagenwissenschaft angemessen zu erfassen ist, die mithin die allgemeinen Begriffe, Urteile und Grundsätze erfasst, die für die besonderen Formen der »untern Erkentiskräfte« und die – davon unterschieden und doch daraus abgeleitet – für die schönen Wissenschaften wie Dichtkunst, Rhetorik, Musik, oder bildende Kunst konstitutiv sind.15 Unter Metaphysik der Rede- und Dichtkunst versteht Meier also eine Wissenschaft, die die allgemeinen kategorialen Voraussetzungen für diese beiden Sprachkünste formuliert. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Ästhetik allerdings insofern normativer Natur, als sie Regeln für die Konstitution der sinnlichen Erkenntnis überhaupt und der
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Schönheitsgefühls.« Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des ›Sturm und Drang‹. In: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013, S. 253–276. Vgl. hierzu auch Ricardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 154–158, spez. S. 155; Pozzos strenge Anbindung der meierschen Ästhetik an die Rhetorik scheint allerdings vor dem Hintergrund der prägenden systematischen Bedeutung von Metaphysik und Psychologie verfehlt. Zum Verhältnis zwischen Meiers Anfangsgründen und Baumgartens Ästhetik vgl. Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 20–22 sowie den Beitrag von Stefanie Buchenau in diesem Band. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 3 (§ 2). Ebd., S. 5 (§ 2); Hervorhebung von mir. Dass Meier allerdings die Anzahl und Ordnung der besonderen Künste als veränderbar denkt, belegt in seiner hervorragenden Studie Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs »Schöne Wissenschaften«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1990), S. 136–216, spez. S. 158–165.
Meiers »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«
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daraus resultierenden schönen Erkenntnis rekonstruieren, d. h. die Künste im Hinblick auf die Formen ihrer Rezeption und ihrer Produktion mit und durch Gründe erfasst werden können. Meier ist also davon überzeugt, dass es so etwas wie eine allen besonderen Formen künstlerischer Reflexion zugrunde liegende allgemeine, und zwar deskriptive wie normative Wissenschaft gibt, die in die »unendlichen Verschiedenheit des Geschmacks« Einvernehmlichkeit – nicht Einheit – zu bringen vermag. Eine Wissenschaft aber ist die Ästhetik nur genau dann, wenn sie – ganz nach rationalistischem Verständnis – ihre Erkenntnis aus Gründen abzuleiten vermag: Die Aesthetick sol eine Wissenschaft seyn. Da nun eine Wissenschaft eine Erkentnis ist, welche aus ganz unumstößlichen Gründen hergeleitet wird, so mus auch die ganze Aestehick auf dergleichen Gründe gebauet werden.16
Wie für Leibniz und Wolff,17 wie aber auch für Gottsched,18 so muss auch für Meier – bei aller Auseinandersetzung mit dem Leipziger Widersacher19 und aller Distanz zu Wolff beispielsweise in Fragen des Naturrechts20 – die uneingeschränkte Anwendbarkeit des Satzes vom zureichenden Grunde gewährleistet sein. Noch in seiner Metaphysik wird Meier diese Universalität des principium rationis sufficientis, das schon für Leibniz wie für den ganzen Rationalismus keineswegs nur ein logisches Prinzip ist,21 gegen laut werdende Einwände verteidigen: Diese ist der so berühmte und bestrittene Grundsatz, worüber die Weltweisen noch nicht einig werden können. Die Gegner dieser Wahrheit leugnen sie nicht ganz. Sie würden verrückt seyn, wen sie sagen wollten, daß gar nichts einen Grund habe. […] Allein man streitet, über die Allgemeinheit dieser Wahrheit. Man will nicht zugestehen, daß nichts ohne Grund sey, und man behauptet, es könne etwas möglich seyn, ob es gleich keinen Grund habe. Wir behaupten diese Wahrheit ganz allgemein. Wir schließen nichts aus, und sagen: alles hat seinen Grund. Alles, Gott und die göttlichen Dinge, endliche Dinge, alle Veränderungen, alle freye Handlungen, die nothwendigen Wahrheiten, die Wesen der Dinge, alles, was möglich ist, es mag nun würklich seyn oder nicht, alles ohne Ausnahme hat einen Grund. Wir sagen nicht, dass alles seine Ursach habe, denn wir unterschieden die Ursache von den Gründen. Wir sagen auch nicht, daß alles seinen Grund außer sich habe, und wir behaupten nicht bloß, dass alles einen Erkenntnißgrund habe. Sondern wir sagen: alles was möglich ist, es mag nun übrigens seyn was es will, und beschaffen seyn wie es will, wenn es nur möglich ist, hat einen Grund, warum es ist, es mag nun dieser Grund bloß möglich oder zugleich würklich seyn, und er mag entweder außer der Sa-
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Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 5 (§ 3). Siehe hierzu u. a. Gertrud Kahl-Furthmann: Der Satz vom zureichenden Grund von Leibniz bis Kant. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), S. 107–122. Zu Gottsched rationalistischer Poetik vgl. Gideon Stiening: »[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.« Gottsched und Wolff. In: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched. Philosophie, Poetik, Wissenschaft. Berlin, Boston 2014, S. 39–60, spez. S. 57ff. Siehe hierzu u. a. Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911, S. 195ff.; Andres Strassberger: Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Tübingen 2010, S. 493–506, spez. S. 495f.; dokumentiert in Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. In 3 Teilen. Ediert, mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort hg. von Hans-Joachim Kertscher. Bd. 2: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig. Halle 2000. Vgl. hierzu die Beiträge von Dominik Recknagel und Dieter Hüning in diesem Band. Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: »Ein jedes Ding muß seinen Grund haben«? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das ›principium rationis sufficientis‹. In: Hans-Joachim Kertscher u. Ernst Stöckmann (Hg.): Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Berlin, Boston 2012, S. 7–42.
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Gideon Stiening che seyn oder nicht. So muß man diesen Satz verstehen, wenn man ihn in seinem ganzen Umfange verstehen will.22
Wenn dieser universelle Geltungsumfang des principium rationis sufficientis aber zutrifft, und Meier macht zeitlebens keinerlei Anstalten, diesen Status zu bezweifeln,23 dann muss der Satz des zureichenden Grundes auch auf die Gegenstände der schönen Wissenschaft anwendbar sein, was jedoch aufgrund der »unendlichen Verschiedenheit des Geschmacks« bislang Schwierigkeiten zu bereiten schien und daher nicht explizit ausgeführt wurde. Mit Baumgarten aber und Meier soll sich dieser Zustand der ›schönen Wissenschaften‹ ändern.24 Als Wissenschaft und als Grundlagentheorie wird die Ästhetik vor diesem Hintergrund wie folgt definiert: Es kommen demnach in der Aesthetick nur die ersten Gründe vor, woraus entweder alle Schönheiten der Erkentnis und der Bezeichnung derselben fliessen, oder doch die meisten Arten derselben. Weil nun die Metaphysik die ersten Gründe der ganzten menschlichen Erkenntnis erhält, so kann man sagen, daß die Aesthetick sich gegen alle schönen Künste und Wissenschaften eben so verhalte, als die Metaphysick gegen die ganze menschliche Erkentnis und dass sie daher mit Recht die Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste könne genannt werden.25
An dieser Stelle scheint die Ästhetik jedoch nicht selbst Metaphysik zu sein, sondern eine ihr analoge Funktion einzunehmen.26 Ist die Metaphysik für die menschliche Erkenntnis überhaupt die allgemeine Grundwissenschaft, weil sie die für sie fundierenden Begriffe, Urteile und Grundsätze formuliert, so nimmt die Ästhetik diese fundierende Funktion für die sinnliche Erkenntnis und damit alle Künste und schöne Wissenschaften ein. Nach Meier ist die Wissenschaft der Metaphysik bzw. die Metaphysik als Wissenschaft also nichts anderes als eine solche Grundlagentheorie des menschlichen Erkennens, die Begriffe, Kategorien und Grundsätze der jeweiligen Wissenschaften liefert; in der »Einleitung in die Metaphysik« aus dem Jahre 1755 schreibt er ihr einen solchen Status auch tatsächlich zu: Die Metaphysik ist demnach die Wissenschaft, welche die ersten Gründe, oder die ersten Grundwahrheiten der ganzen menschlichen Erkenntniß enthält. […] Die Metaphysik ist demnach als eine Quelle zu betrachten, aus welcher alle Wissenschaften, alle Künste und selbst die richtige Erkenntniß, des
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), I, S. 55. Weshalb die These, Meier neige in epistemologischen Fragen dem lockeschen Empirismus zu, unverständlich ist, vgl. aber Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007 oder auch Strassberger: Gottsched und die »philosophische« Predigt (s. Anm. 19), S. 494; zur Kritik an dieser These schon Gideon Stiening: Ein »Paradies der Phantasten«. Hallenser Neuigkeiten zur Anthropologie der Einsamkeit, der Vorurteils und der Gespenster. In: Wezel-Jahrbuch 10/11 (2007/08), S. 340–356. Dass ihnen das keineswegs durchgehend (siehe Winckelmanns ab 1755 erscheinende Kunsttheorie), aber durchaus nachhaltig gelang, zeigen die Ausführungen von Moses Mendelssohn: Betrachtung über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1.2 (1757), S. 231–268, der ganz in baumgarten-meierschem Sinne definiert: »[D]as Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in dem sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit.« Zitiert nach: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Hg. von Christoph Schulte, Andreas Kennecke u. Grażyna Jurewicz. 2 Bde. Darmstadt 2009, Bd. I, S. 175. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 7f. (§ 4); Hvhb. von mir. So auch Strube: »Schöne Wissenschaften« (s. Anm. 15), S. 160.
Meiers »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«
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gemeinen Lebens, als so viele Ströme, herausfließen. Sie ist die Wurzel aller Erkenntniß, der Anfang aller Erkenntniß, und sie wird also mit Recht die Hauptwissenschaft genannt.27
›Metaphysik‹ bedeutet in diesem Verständnis nicht ein ›System der reinen theoretischen Vernunft apriori‹,28 sondern gleichsam eine Wissenschaftstheorie, die allgemeine Begriffe und Grundsätze bereitstellt, die in allen anderen Wissenschaften, aber auch in den Künsten sowie letztlich gar in den Formen und Inhalten des Alltagswissens Anwendung finden, weil allererst diese Begriffe der Erkenntnis Gewissheit verschaffen können. Diese Gewissheit erlangen jene Begriffe und Grundsätze ausschließlich durch eine hinreichende Begründung für ihre Geltung: Ein vernünftiger Liebhaber der Wahrheit ist also überzeugt, daß er nicht nur, in aller seiner Erkenntniß, zu einer gründlichen Gewißheit zu gelangen trachten müsse, sondern daß er auch niemals gewiß werden könne, wenn er nicht Grund anzugeben weiß, warum er etwas für wahr oder für falsch halte.29
Dieses Verständnis von Metaphysik, innerhalb dessen der epistemische Status der Erkenntnis – mithin ihre Apriorität oder Aposteriorität – indifferent ist, weist Meier einmal mehr als einen Parteigänger Baumgartens aus; dieser hatte nämlich in der Einleitung zu seiner Metaphysik definiert: »Die Metaphysik ist die Wissenschaft der ersten Erkenntnißgründe in der menschlichen Erkenntniß«.30 Diese Betonung, ja Ausschließlichkeit der Erkenntnisgründe, die die Metaphysik zu bestimmen habe und sie damit ihren Ausgangspunkt bei der Subjektivität nehmen lässt, ist allerdings bei Christian Wolff noch keineswegs zu verzeichnen; in dessen Deutscher Metaphysik wird das Kapitel zur allgemeinen Metaphysik, d. h. zur Ontologie, wie folgt überschrieben: »Von den ersten Gründen unserer Erkäntniß und allen Dingen überhaupt«.31 Ausdrücklich unterscheidet Wolff in dieser Überschrift zwischen den Erkenntnisgründen und den Dingen überhaupt und schreibt der Ontologie zu, beide Themenfelder zu bearbeiten.32 Für Wolff gibt es mithin eine Wissenschaft von den Dingen überhaupt, die unabhängig von der menschlichen Subjektivität einen objektiven Anfang aller Wissenschaften konstituiert.33 Wolff hat auch durchaus gute Gründe, eine solche Unterscheidung zu treffen. In der Vorrede zur lateinischen Ontologie hält er nämlich fest: »Notiones nostras distinctas ex rebus ipsis derivavimus, ex quibus per omnem Philosophiam sapere potius nobis visum est, quam ex aliorum cogitatis«.34
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), I, S. 5f. So die Bestimmung der Metaphysik durch Kant in Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft will auftreten können. In: AA IV, S. 264f. Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), I, S. 2. Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysik. Übers. von Georg Friedrich Meier. Anmerkungen von Johann August Eberhard. [Halle 1783]. Hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004, S. 6 (§ 1). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. Halle 1751, S. 6 (§ 10). Vgl. hierzu auch die Studie von Robert Schnepf: Allgemeine Metaphysik als erste Philosophie. Zum Problem kategorialer Begriffsbildung in Christian Wolffs Ontologie. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolf (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 1, S. 181–203. Siehe hierzu auch Ernst Vollrath: Die Gliederung der Metaphysik in einer Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis. In: Zeitschrift für philosophische Forschung XVI (1962), S. 258–284. Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie. Nach der wissenschaftlichen Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind. §§ 1–78. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. hg. von Dirk Effertz. Hamburg 2005, S. 12.
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Die Begriffe der Metaphysik, ja der gesamten Philosophie, so sie denn durchgehend begründet und kohärent verknüpft sind, »einer Ketten gleich […], da immer ein Glied an dem anderen, und solchergestalt ein jedes mit allem zusammen hänget«,35 erwachsen den Sachen selbst, sind also mit ihnen identisch, wenn sie hinreichend begründet und eben damit deutlich sind. Von den deutlichen Begriffen aber geht alle Philosophie als Wissenschaft aus und damit von der Metaphysik als Grund-Wissenschaft, die die deutlichen Grundbegriffe für alle Erkenntnis definiert. Wolff erhebt folglich erkennbar Anspruch auf einen Rationalismus,36 der Ontologie durch Analyse der Begriffe als Wissenschaft der Dinge überhaupt betreiben kann. Nicht so Baumgarten und Meier: Sowohl in beider Metaphysik als auch in Meiers Ästhetik als einer ›Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste‹ liegt der Fokus des Regelungsgegenstandes dieser Wissenschaften auf den Gründen und Formen der Erkenntnis, und zwar einmal der Erkenntnis überhaupt und einmal der sinnlichen Erkenntnis.37 Metaphysik ist damit in beiden Fällen (und zwar auch als Ontologie) eine Theorie der ersten Gründe der Erkenntnis überhaupt sowie der Erkenntnis der Seele, Gottes und der Welt. Metaphysik ist damit schon bei Meier einerseits Erkenntnistheorie, d. h. Grundlegung aller Wissenschaft durch Bestimmung ihrer Erkenntnismöglichkeit;38 andererseits ist eine ›Metaphysik der schönen Wissenschaften‹ vor diesem Hintergrund zunächst und zumeist eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis oder wie schon Baumgarten feststellte: »scientia cognitionis sensitivae«.39 Wolfgang Wieland hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff der Ästhetik bei Baumgarten und Meier allerdings zweierlei Aufgaben impliziert, »die einer Geschmackslehre und die einer generellen Wissenschaft von der Sinnlichkeit überhaupt«.40 Eine ›Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste‹ ist damit als Theorie der unteren Erkenntnisvermögen zugleich eine Theorie der sinnlichen Erfahrung und eine solche des Geschmacks, und zwar im Selbstanspruch des Autors aus guten Gründen. Sie ist damit aber nicht eine Ontologie des Schönen bzw. eine objektive Werkästhetik.41 Es geht also weder Baumgarten noch Meier mit ihren Ästhetiken ausschließlich um eine Fundierungswissenschaft für die sinnliche Erkenntnis überhaupt, sondern auch für besondere sinnliche Erkenntnisse, nämliche jene des Schönen und Hässlichen.42 Das wird von Meier mit Nachdruck ausgeführt: Die Aesthetick handelt von der schönen Erkentnis, und der Bezeichnung derselben überhaupt. Es kommen also in derselben überhaupt folgende Untersuchungen vor: 1) werden die verschiedenen Ar35 36 37 38 39 40 41
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Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 31), Vorrede, unpag. [*4]. Anders dazu Hans-Jürgen Engfer: Rationalismus versus Empirismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996, S. 274–283, der Wolff eng an Locke bindet. Siehe hierzu auch Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S. 307ff. Zu dieser epistemologisierenden Tendenz in der Metaphysik des 18. Jahrhundertes vgl. ebd. S. 308. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch – Deutsch. Übers., mit eine Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. Hamburg 2007, S. 10 (§ 1). Wolfgang Wieland: Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, S. 70. So auch zutreffend Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Jürg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin 2005, S. 365–402, spez. S. 401. Siehe hierzu auch Rudolf A. Makkreel: The Confluence of Aesthetics and Hermeneutics in Baumgarten, Meier, and Kant. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 54.1 (1996), pp. 65–75.
Meiers »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«
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ten der Schönheiten der sinlichen Erkentnis untersucht. Es wird nicht nur gewiesen, worin diese Schönheiten bestehen und welches die entgegen gesetzten Häßlichkeiten sind; sondern es werden auch die Mittel entdeckt, wodurch diese Schönheiten erhalten werden. Eben auf diese Art werden auch 2) die Schönheiten der Bezeichnung dieser Erkentnis untersucht, es mag nun dieselbe entweder durch Worte und eine Rede, oder durch andere Zeichen geschehen. Zum 3) werden die würckenden Ursachen dieser Schönheiten in Betrachtung gezogen, oder die sinlichen Erkentniskräfte; und 4) wird von diesen Stücken nur überhaupt gehandelt.43
Das letzte Element dieser Definition – die ›Behandlung überhaupt‹ – erläutert Meier dadurch, dass es in der Ästhetik nur um die ersten Gründe aller Schönheiten der Erkenntnis gehen könne, weil es Aufgabe der besonderen Künste und schönen Wissenschaften sei, die je spezifischen Gründe und Grundsätze dieser Wissensbereiche zu benennen. Trotz der dominierenden Beispiele aus der europäischen Literatur ist Meiers Ästhetik im Selbstanspruch keine Poetik. Dass es Meier mit der Bestimmung der Ästhetik als einer »Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste« keineswegs darum ging, die von Wolff zwar aus dem 17. Jahrhundert übernommene,44 doch allererst von ihm kanonisierte Architektur45 der Metaphysik als der »Haupt-Wissenschaft« zu modifizieren bzw. um eine weitere metaphysica specialis zu ergänzen, zeigt ein erneuter Blick in seine Metaphysik. Hier heißt es gegen Ende der allgemeinen Einleitung: Im Anfange bestand die ganze Metaphysik nur aus der Ontologie, und höchstens noch aus der Lehre von GOtt. Es gieng aber mit ihr, wie mit allen Wissenschaften. […] Die neueren Weltweisen fanden, daß der Umfang der Metaphysik viel grösser sey. Man rechnete also zu derselben noch die Lehre von der Welt, und von der Seele. Daher besteht ietzt die Metaphysik aus vier Wissenschaften, aus der Ontologie, Cosmologie, Psychologie, und natürlichen Theologie; oder aus den Lehren von dem Dinge, von der Welt, von der Seele, und von GOtt. Man kann sagen, daß in der Metaphysik noch mehr Wissenschaften vorkommen, wenn man nemlich alle Hauptmaterien, von denen in ihr gehandelt wird, als besondere Lehrgebäude ansehen, und sie mit besondern Namen benennen wolte. Allein das würde gar keinen Nutzen haben. Wir geben auch zu, daß vielleicht noch mehrere Wissenschaften möglich sind, welche, wenn sie erfunden seyn werden, mit Recht zur Metaphysik werden gerechnet werden müssen. Allein wenn man alles zusammennimmt, was die Lehrer der Metaphysik bisher erfunden haben, so kan es insgesamt füglich unter den vier genannten Wissenschaften begriffen werden.46
Erkennbar schwankt Meier zwischen dem Interesse, die durch Baumgarten ›erfundene‹ und durch ihn popularisierte und erweitere Ästhetik der Metaphysica specialis zuzurechnen und damit das Spektrum der metaphysischen Wissenschaften zu erweitern; er verbleibt gleichwohl in den Ordnungsmustern der von Wolff vorgegebenen Architektur der Metaphysik, und dies offenbar auch, um einer Inflationierung des Begriffs vorzubeugen. Zudem hatte Wolff nachgewiesen, dass es diese und genau diese Felder einer metaphysica specialis geben könne und müsse.47 Daher taucht die Ästhetik in Meiers Metaphysik allererst im Zusammenhang der Psycholo43 44 45
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Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 7 (§ 4). Siehe hierzu erneut Vollrath: Gliederung der Metaphysik (s. Anm. 33), S. 277. Dass schon Wolff den Begriff der Architektur für die Ordnungsstruktur seines Systems verwendet, lässt sich nachlesen bei Gabriel Rivero: Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant. Berlin, Boston 2014, S. 11–39, spez. S. 19f. Meier: Metaphysik (s. Anm. 7), I, S. 27f. (§ 17). Vgl. hierzu Jindřich Karásek: Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur systematischen Begründung des Systems der Metaphysik bei Wolff und Kant. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolf (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 1, S. 71–98, spez. S. 84.
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gie auf. Im Rahmen einer utilitaristischen Apologie der Psychologie als Wissenschaft, deren Nutzen damit begründet wird, dass sie erstens die Grundlagen der natürlichen und der geoffenbarten Theologie sowie zweitens die Grundlagen der ganzen praktischen Weltweisheit enthalte, heißt es dann drittens: Zum dritten ist die Psychologie deswegen eine so nützliche Wissenschaft, weil sie die ersten Gründe aller schönen Künste und Wissenschaften enthält. […] Die ganze Theorie der schönen Künste und Wissenschaften hanget also, von der Einsicht in die Natur der untern Kräfte der Seele, ab [… ]. Da wir nun durch die Psychologie, diese Kräfte der Seele, ihre Natur und Vollkommenheit, kennen lernen: so beruhen alle schönen Künste und Wissenschaften, so wohl der Theorie als auch der Ausübung nach, auf der Psychologie. Nur ein Mensch, der aus tiefer Unwissenheit die schönen Künste und Wissenschaften verachtet, kann an der Erheblichkeit dieses Nutzens der Psychologie zweifeln. Wer aber weis, was für ein grosser Theil der Vollkommenheit des Menschen, und seiner gesamten Glückseligkeit, auf der Ausübung der schönen Künste und Wissenschaften beruhet; der ist auch überzeugt, daß dieser Nutzen der Psychologie, seiner Wichtigkeit wegen, zureichend ist, diese Wissenschaft allen vernünftigen Leuten ungemein anzupreisen.48
Die Psychologie als Moment der Metaphysica specialis dient also auch 1757 der Ästhetik als Grundlagenwissenschaft. Und erneut referiert Meier in dieser Metaphysik auf den praktischen Nutzen der Ästhetik als gewichtiges, weil wirksames Instrument der Glückseligkeit des Menschen. Im direkt anschließenden Paragraphen entwickelt Meier allerdings die nämliche Funktion und Bedeutung der Psychologie für die Logik, die die oberen Erkenntniskräfte begründe und systematisiere. Diese eigentümliche Parallele von Ästhetik und Logik aufgrund ihrer Zuständigkeit für untere und obere Erkenntniskräfte und der dadurch sich ergebenden Grundlegungsfunktion der Psychologie für beide Wissenschaften wurde von Meier schon in den Anfangsgründen entwickelt.
3. Ästhetik und Logik Meier korreliert die Ästhetik nicht nur mit der Metaphysik und weist ihr als Grundlagentheorie der unteren Erkenntniskräfte den Status einer solchen »Haupt-Wissenschaft« zu;49 er stellt auch eine besondere Beziehung dieser neuen Wissenschaft zur Vernunftlehre, d. h. zur Logik her: »Alle unsere Erkenntnis ist entweder deutlich vernünftig philosophisch, oder undeutlich und sinnlich. Mit der ersten beschäftigt sich die Vernunftlehre, und mit der letzteren die Aesthetick«.50 Diese Parallele von Logik und Ästhetik konnte sich auf eine terminologische Innovation Baumgartens stützen, der die Ästhetik auch als »gnoseologia inferior« bzw. als »logica cognosci48
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), Bd. III, S. 14f. (§ 477); Meier hätte sich für diese Argumentation auf seinen Lehrer Baumgarten beziehen können, der ganz analog eine solche Grundlegungsfunktion der Psychologie innerhalb der Metaphysik entwickelte: »Weil die Psychologie die ersten Grundsätze der Theologien, der Ästhetik, der Logik und der practischen Wissenschaften enthält, so wird sie mit Grunde zu der Metaphysik gerechnet« (Baumgarten: Metaphysik [s. Anm. 30], S. 112, § 368). Zur Bestimmung der Metaphysik als »Haupt-Wissenschaft« vgl. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen Schriften, die in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt=Weisheit herausgegeben. Frankfurt a. M. 1733, S. 7 (§ 4) sowie Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), Bd. I, S. 6 (§ 3). Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 8 (§ 5).
Meiers »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«
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tivae inferioris« bezeichnet hatte.51 Meier geht aber einen Schritt weiter und drängt darauf, dass beide Wissenschaften aufgrund ihrer evidenten Korrelierbarkeit in epistemologischer Hinsicht auch in anderer Hinsicht in Beziehung zu setzen seien: »Diese beyden Wissenschaften kommen darin mit einander überein, daß sie beyde Regeln vorschreiben, wie wir Erkentnis erlangen und vollkommen machen sollen«.52 Logik und Ästhetik kommen darin überein, sind also darin identisch, dass sie die verschiedenen Erkenntnisprozesse des Menschen gesetzmäßig ordnen und durch diese Ordnung einen Erkenntnisgewinn ermöglichen; beiden Wissenschaften eignet mithin ein theoretischer und ein praktischer Zug: theoretisch in der Bestimmung der Gesetze der Erkenntnis, praktisch in der Verbesserung der Erkenntnis durch Einhaltung dieser Gesetze im Erkenntnisvollzug. Nach diesen Argumenten zur Identität von Logik und Ästhetik geht Meier dazu über, deren Unterschiede zu fixieren, die garantieren, dass sie nicht nur Namen für ein und dieselbe Sache darstellen: »Sie sind aber darin von einander unterschieden, daß die eine die Vollkommenheiten der vernünftigen, und die andere die Schönheiten der sinnlichen Erkenntnis zum Zwecke hat«.53 Diese Distinktion vermag jedoch prima vista nur bedingt zu überzeugen, denn auch die Erkenntnis von Schönheiten sind solche von Vollkommenheiten; es gehört entschieden zum Eigentümlichen der baumgartenschen und meierschen Konzeptionen der schönen Erkenntnis, eine Vollkommenheitsästhetik zu formulieren;54 so heißt es einige Seiten weiter: Daß die Schönheit überhaupt eine Vollkommenheit sey, in so ferne sie undeutlich oder sinlich erkant wird, ist, unter allen gründlichen Kennern der Schönheit, heute zu Tage eine so ausgemachte Sache, daß es unnöthig zu seyn scheint, davon einen weitläuftigen Beweis zu führen.55
Im Hinblick auf den Begriff der Vollkommenheit als ihr jeweiliger Zweck unterscheiden sich Logik und Ästhetik also nicht; so hatte auch Baumgarten mit Bezug auf die eigene Metaphysik und d. h. mit Bezug auf den auch hier zentralen Vollkommenheitsbegriff definiert: Der Zweck der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Dies aber ist die Schönheit (Metaphy, §§ 521, 662) Und zu meiden ist die Unvollkommenheit derselben als solcher, Dies aber ist die Häßlichkeit (Metaphy, §§ 521, 662).56
Es sind mithin lediglich die spezifischen Formen der Vollkommenheit, die Logik und Ästhetik unterschieden, hier die höheren, rationalen Erkenntnisse, dort die niederen, sinnlichen; doch auf Vollkommenheiten referieren beide, darauf ist noch zurückzukommen. Zunächst ermöglicht die ebenso eigentümliche wie charakteristische und noch weiter zu erörternde Parallelisierung von Logik und Ästhetik einen Seitenblick auf die Gründe bzw. auf 51 52 53 54
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Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 30), S. 120 (§ 395). Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 8 (§ 5). Ebd. Zu diesem Begriff vgl. Achim Vesper: Lust als ›cognitio intuitiva perfectionis‹. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 4, S. 283–296. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 38 (§ 23); dass Meiers spezifische Ausfüllung des Begriffs der Vollkommenheit insbesondere im Hinblick auf das Kriterium der Lebendigkeit anders aussieht als der Baumgartens, zeigt minutiös: Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2008, S. 136–147. Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 39), S. 22 (§ 14).
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gewichtige Bedingungen, die diese Zusammenstellung erlauben. Denn eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass die Ästhetik den Status einer Metaphysik erhalten konnte, bestand in der schon von Wolff vorgenommenen Aufnahme der empirischen Psychologie in den Kanon der metaphysischen Disziplinen.57 Diese Aufnahme ist deshalb problematisch, weil die empirische Psychologie systematisch und methodisch nur auf Erfahrungen rekurrieren kann und so an sich nicht mehr als empirische Allgemeinheiten zu erkennen in der Lage ist. Leibniz hatte überaus deutlich gemacht, dass es für ihn einen qualitativen, nur für die Gottesinstanz zu überbrückenden Unterschied zwischen Tatsachen- und Vernunftwahrheiten gibt und dass ausschließlich die letzteren notwendige Urteile hervorzubringen in der Lage seien.58 Daher hatte Leibniz der Erfahrung die Möglichkeit abgesprochen, notwendige Wahrheiten und damit solche der Metaphysik hervorzubringen: Die Sinne sind zwar für alle unsere wirklichen Erkenntnisse notwendig, aber doch nicht hinreichend, um uns diese Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit zu geben, weil sie stets nur Beispiele, d. h. besondere oder individuelle Wahrheiten geben. Nun genügen aber alle Beispiele, die eine allgemeine Wahrheit bestätigen, mögen sie noch so zahlreich sein, nicht, um die allgemeine Notwendigkeit eben dieser Wahrheit darzutun, denn es folgt nicht, daß das, was geschehen ist, immer ebenso geschehen werde.59
Von diesem Grundsatz rationalistischer Epistemologie scheint sich aber Wolff und scheinen sich Baumgarten und Meier verabschiedet zu haben: Tatsächlich heißt es zu Beginn des dritten Kapitels der Deutschen Metaphysik, das den für jede Metaphysik zunächst überraschenden Titel trägt »Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen«: Ich verlange hier noch nicht zu zeigen, was die Seele ist, und wie die Veränderungen sich in ihr ereignen, sondern mein Vorhaben ist jetzund bloß zu erzehlen, was wir durch die tägliche Erfahrung von ihr wahrnehmen. Und will ich hier weiter nichts anführen, als was ein jeder erkennen kann, der auf sich acht hat. Diese wird uns zum Grund dienen anderes daraus herzuleiten, das nicht ein jeder sogleich vor sich sehen kann. Nehmlich wir wollen von demjenigen, was wir von der Seele wahrnehmen, deutliche Begriffe suchen, und hin und wieder einige wichtige Wahrheiten anmercken, die sich daraus erweisen lassen. Und diese Wahrheiten, die durch untrügliche Erfahrungen bestätiget werden, sind der Grund von den Regeln, darnach die Kräfte der Seele sowohl in Erkäntniß, als im Wollen und nicht Wollen dirigiret werden.60
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Vgl. hierzu Temilo van Zantwijk: Der Kanon-Begriff der Logik und die empirische Psychologie in der nachkantischen Tradition. Erläuterungen zum intentionalen Umfangsbegriff. In: Georg Eckhardt, Matthias John, Temilo van Zantwijk u. Paul Ziche: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 21–72, spez. S. 46ff. Siehe hierzu u.a. Gottfried Wilhelm Leibniz: Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis. In: Ders.: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1885, Bd. VII, S. 309: »Il y a une distinction essentielle entre vérités nécessaires ou vérités éternelles, et vérités de fait ou vérités contingentes, et elles différent entre elles à peu près comme les nombres rationnels et les nombres sourds. Car les vérités nécessaires peuvent être ramenées à des identiques, comme les quantités commensurables peuvent l’être à une commune mesure; mais dans les vérités contingentes, comme dans les nombres sourds, la résolution va à l’infini, et ne se termine jamais; c’est pourquoi la certitude et la raison parfaite des vérités contingentes n’est connue que de DIEU, qui embrasse l’infini d’un seul coup d’œil.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand. Übers., eingeleitet u. erläutert von Ernst Cassirer. Hamburg 31971, S. 4f. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 31), S. 106f. (§ 191).
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Die empirische Psychologie liefert nach dieser Argumentation Erfahrungen, die in deutliche Begriffe zu überführen sind, auf derer Grundlage »wichtige Wahrheiten« formuliert werden können, die der rationalen Psychologie zuarbeiten. Damit aber scheint der ›garstig breite Graben‹ zwischen der verité de fait und der verité de raison überwunden, und zwar keineswegs von oder mithilfe der Gottesinstanz.61 Zwar scheint der Hallenser Philosoph in seinen Ausführlichen Nachrichten von dieser starken These abzurücken – und zwar aufgrund von Kritiken, die zwei seiner bedeutendsten Schüler Ludwig Philipp Thümmig und Georg Bernhard Bilfinger in ihren Grundlagenwerken vortrugen62 – wenn er zur Begründung dafür, »[w]arum der Autor die Psychologiam empiricam der Cosmologie praemittiret«, schreibt: Ich habe einen Theil der Psychologie vor der Cosmologie abgehandelt. Der Grund dafür ist dieser. Die Psychologie theile ich in zwey Theile ein. Der eine handelt von demjenigen, was man von der Seele des Menschen aus der Erfahrung erkennet: der andere aber erkläret alles aus der Natur und dem Wesen der Seele und zeiget von dem, was man observiret, den Grund darinnen. Den ersten Theil nenne ich Psychologiam empiricam, den andern aber Psychologiam rationalem. Die Psychologia empirica ist eigentlich eine Historie von der Seele und kan ohne alle übrige Disciplinen erkandt werden: hingegen die Psychologia rationalis setzet die Cosmologie als bekandt voraus. Wenn man demnach die Disciplinen in ihrer Ordnung besonders tractiren will; so folget auf die Ontologie die Cosmologie und auf diese die Psychologie […]. Allein weil ich die verschiedene Disciplinen, welche zur Haupt-Wissenschaft gehören, nicht ins besondes abgehandelt, so habe ich den einen Theil von der Psychologie, nemlich die Empiricam, vor die Cosmologie gesetzet, weil sie leichter als diese ist und Anfängern anmuthiger fället, denen der Verdruß dadurch benommen wird, den sie bey der Ontologie gehabt, indem sie auf verschiedenes genauer haben acht geben müssen, als sie zu thun etwan gewohnet sind.63
Wolff reduziert hier seine weit reichende Entscheidung, die empirische Psychologie zu einem eigenen Kapitel der Metaphysik zu machen, auf didaktische Beweggründe.64 Diese von strengen Wolffianern induzierte Depotenzierung hat sich allerdings nicht mehr durchgesetzt. Vielmehr erhebt schon Baumgarten die empirische Psychologie zu einem eigenständigen Beweisabschnitt seiner Metaphysik, und zwar ohne jede zusätzliche Begründung oder Einschränkung: Weil die Psychologie die ersten Grundsätze der Theologien, der Ästhetik, der Logik und der practischen Wissenschaften enthält, so wird sie mit Grunde zu der Metaphysik gerechnet. Die Psychologie leitet ihre Sätze her 1.) auf eine nähere Art aus der Erfahrung, die Erfahrungspsychologie (psychologia empirica), 2) aus dem abstracten Begriff von der Seele durch eine längere Reihe von Vernunftschlüssen, die vernünftige Psychologie (psychologia rationalis).65
An keiner Stelle des Werkes wird aber die Tatsache, dass eine Erfahrungspsychologie einen eigenen Abschnitt der Metaphysik ausmacht, noch eigens begründet. Sie ist Teil der Metaphysik 61
62
63 64
65
Vgl. hierzu auch Hans Werner Arndt: Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983, S. 31–47. Ludwig Philipp Thümmig: Institutiones philosophiae Wolfianae. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1725/26, Bd. I, S. 71ff. sowie Georg Bernhard Bilfinger: Dilucidationes de Deo, anima humana, mundo et generalioribus rerum affectibus. Tübingen 1725, S. 3f. Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 49), S. 231f. (§ 79). Zu diese Sachverhalt und Wolffs eigentümlicher Zurücknahme siehe auch Heiner F. Klemme: Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg 1996, S. 15–24; Klemme arbeitet allerdings das Skandalon einer ›empirischen Metaphysik‹ nicht genügend heraus. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 30), S. 112 (§ 368f.).
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als einer »Wissenschaft der ersten Erkenntnisgründe in der menschlichen Erkenntniß«. Zu Recht weist die Forschung darauf hin, dass diese – systematisch äußerst problematische, weil sachlich unhaltbare – Nobilitierung der empirischen Psychologie eine entscheidende Voraussetzung für die Karriere der Erfahrungsseelenkunde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt.66 Dennoch bleibt, bei allem Interesse daran, einem sinnlichen Weltverhältnis zur Eigenständigkeit zu verhelfen,67 diese ›Metaphysik des Empirischen‹ der Sache nach problematisch.68 Doch auch für Meier scheint dieser Sachverhalt eine Selbstverständlichkeit zu sein; in der Einleitung zum dritten Teil seiner Metaphysik heißt es: Die Psychologie wird in die erfahrende, und vernünftige Lehre von der Seele eingetheilt. Die erfahrende oder empirische Psychologie ist diejenige Wissenschaft von der Seele, welche auf eine nähere Art aus der Erfahrung hergeleitet wird. In dieser Psychologie samlen wir alle Erfahrungen, die wir von den Würkungen und Veränderungen unserer eigenen Seele haben können. Wir unterscheiden die verschiedenen Veränderungen unserer Seele von einander, und machen uns von denselben, vermittelst unseres inneren Gefühls, deutliche Begriffe, und alsdenn handeln wir in derselben alles ab, was durch einen einzigen Schluß oder doch durch einen kürzern Beweis, aus diesen unmittelbaren Erfahrungen von unserer eigen Seele, fließt.69
Wie in Wolffs Einführung der empirischen Psychologie in die Metaphysik ermöglicht die Überführung von Erfahrungen in Begriffe und Schlüsse die Formierung von Erkenntnissen, die dem Status metaphysischer Wahrheiten entsprechen können.70 Von einer didaktischen Depotenzierung ist hier wie schon bei Baumgarten nichts zu entdecken. Meier verteidigt den metaphysischen Status der Psychologie auch mit Nachdruck gegen zeitgenössische Versuche, sie in die Naturlehre zu verlegen; mit deutlichen Anspielungen auf die Experimental-Seelenlehre seines ehemaligen Kollegen an der Hallenser Universität, dem Helmstedter Mediziner und Philosophien Johann Gottlob Krüger,71 heißt es: Es würde eine grosse Unbequemlichkeit verursachen, wenn man die Psychologie aus der Metaphysik heraus reissen, und sie als eine besondere Wissenschaft abhandeln wollte. Man müste entweder in ihr 66 67 68
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Schwaiger: Baumgarten (s. Anm. 12), S. 27f. Siehe hierzu Klaus-Erich Kaehler: Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant. In: Aufklärung 20 (2008), S. 117–136. Deshalb stellt Kant in der Kritik der reinen Vernunft kategorisch fest: »[W]o bleibt denn die empirische Psychologie, welche von jeher ihren Platz in der Metaphysik behauptet hat, und von welcher man in unseren Zeiten so große Dinge zur Aufklärung derselben erwartet hat, nachdem man die Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszurichten? Ich antworte: sie kommt dahin, wo die eigentliche (empirische) Naturlehre hingestellt werden muß, nämlich auf die Seite der angewandten Philosophie, zu welcher die reine Philosophie die Prinzipien a priori enthält, die also mit jener zwar verbunden, aber nicht vermischt werden muß. Also muß empirische Psychologie aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein, und ist schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen« (KrV B 876). Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), Bd. III, S. 10f. (§ 474). Vgl. hierzu u. a. Luigi Cataldi Madonna: Erfahrung und Intuition in der Philosophie Christian Wolff. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolf (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 2, S. 173–193. Vgl. hierzu Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstedt 1756; Krüger hatte in der Tat seine Experimental-Seelenlehre als Teil der Naturlehre definiert (ebd., Vorrede [unpag. *7]; vgl. hierzu Gideon Stiening: Zwischen System und Experiment. Johann Gottlob Krügers ›Versuch einer Experimental-Seelenlehre‹. In: Questio. Yearbook of the History of Metaphysics 15 (2016) [i.D.].
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keine Gründlichkeit suchen, oder man müste unendlich viele ontologische und cosmologische Wahrheiten ihr einverleiben, und da würde sie gar zu weitläufig werden. Einige handeln von der Seele in der Naturlehre, weil sie diese als die Wissenschaft betrachten, die von den Naturen der Dinge handeln. Allein dieses streitet wider die angenommene Erklärung der Naturlehre, indem man durch dieselbe die Wissenschaft von den Naturen der Körper versteht.72
Psychologie ist nach Meier also – auch als empirische73 – selbstverständlicher Teil der Metaphysik und wird in diesem Status gegen zeitgenössische Versuche verteidigt, sie zum Gegenstand einer Naturwissenschaft zu reduzieren. Erst diese Nobilitierung der empirischen Psychologie als Wissenschaft von den unteren Erkenntnisvermögen erlaubt es zudem, ja legt es geradezu nahe, deren spezifische Realisation in den ästhetischen Erfahrungen zu systematisieren und – wie allererst bei Meier – diese in den Stand einer Metaphysik zu erheben. Eine ›Metaphysik der schönen Wissenschaften und Künste‹ ist mithin ohne jene Prozesse der Neuordnung und Neuwertung der empirischen Psychologie in ihrem Verhältnis zur Metaphysik nicht er erklären. Eine der entscheidenden Bedingungen für diesen von Wolffs Deutscher Metaphysik ausgehenden und in den beiden großen Psychologien, die in die frühen 1730er Jahren erscheinen, fortgeführten Theorieprozess liegt in einer überraschenden Wendung in der wolffschen Logik. Hier hatte Wolff nämlich im Zusammenhang seiner Theorie des Beweises ausgeführt: In specie autem probatio Demonstratio dicitur, si in syllogismis, quos inter se contractenamus, non utamur praemissis, nisi definitionibus, experientiis indubitatis, axiomatis & propositionibus jam demonstratis: Ut adeo demonstrationes tandem nitantur definitionibus, experientiis indubitatis & axiomatis.74
Ohne weitere Erläuterung werden an dieser Stelle unbezweifelbare Erfahrungen in den Rang von Beweisen erhoben; Wolff hat diesen Begriff andernorts ausführlichen begründet. Er steht im Zusammenhang der Ausweitung des Beweisbegriffes und dessen telos der Gewissheit auf empirische Urteile75 und zeigt das große Interesse des Hallenser Philosophen an der Aufwertung empirisch-experimenteller Erkenntnisse. Wolff wiederholt diese gleichwohl auffällige Argumentation in der 1730 in erster Auflage publizierten lateinischen Ontologie; dort heißt es: In philosophia prima utendum est methodo demonstrativa. Si in Logica, Philosophia practica & Physica, Theologia naturalis, Cosmologia generali & Psychologia omnia rigorose demonstranda sunt: saepe utendum est principiis ontologicis, consequenter in Ontologia admittendum non est, quod sufficienter explicartum atque experientia indubitata & demonstratione nitur.76
Zwar wird hier der Beweis von der unzweifelhaften Erfahrung unterschieden, beide erhalten aber den Rang, Instrument der demonstrativen Methode zu sein. Dass diese Ausführungen, die bestimmte Erfahrungen mit Definitionen und Axiomen gleichsetzen, einerseits einen Bruch mit 72 73 74 75
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Meier: Metaphysik (s. Anm. 1), Bd. III, S. 6f. (§ 471). Siehe hierzu auch den Beitrag von Andree Hahmann in diesem Band. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, Methodo Scientiarum atque Vitae aptata. Frankfurt a. M., Leipzig 1728, S. 379 (§ 498). Vgl. hierzu die Analysen und Interpretationen der experientia indubitata bei Arndt: Rationalismus und Empirismus (s. Anm. 61), S. 32f. sowie Luigi Cataldi Madonna: Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie Christian Wolff. In: Ders.: Christian Wolff und das System des klassischen Rationalismus. Die philosophia experimentalis unversalis. Hildesheim, Zürich, New York 2005, S. 83–121, spez. S. 110ff.; beide Interpreten arbeiten allerdings die Widersprüche dieses Begriffs nicht heraus. Wolff: Erste Philosophie (s. Anm. 34), S. 20f. (§ 4).
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der Wissenschaftstheorie des Rationalismus bedeuten, liegt auf der Hand.77 Andererseits ermöglicht aber diese Aufwertung bestimmter Erfahrungen zu Beweisverfahren die Aufnahme der empirischen Psychologie in die Metaphysik. Darüber hinaus konnte Wolff die vom ihm in der Nachfolge Leibnizens propagierte Begründung der Geltung und Wirksamkeit der beiden obersten Prinzipien des Rationalismus, den Satz des Widerspruchs und den Satz des Grundes, nicht nur in der Vernunft, sondern auch und gar zunächst in der Erfahrung fundieren: Eam experimur mentis nostrae naturam, ut, dum ea judicat aliquid esse, simul judicare nequeat, idem non esse. Experientia, ad quam hic provocamus, obvia est, ut alia magis obvia censure nequat. Ea enim praesto est, quamdiu mens sui sibi conscia.78
Dieses Verständnis unzweifelhafter Erfahrungen, das weit reichende Konsequenzen bis in die Spätaufklärung enthält,79 hat Wolff erst in der lateinischen Logik und der lateinischen Ontologie ab Ende der 1720er Jahre vorgestellt; die Deutsche Logik (1713) ist von einer solchen Erfahrungstheorie noch durchaus frei.80 Vor dem Hintergrund dieser eigensinnigen Erfahrungstheorie wird allerdings verständlich, warum zwar Wolff selber nur zögernd, wie seine Ausführlichen Nachrichten zeigen, wohl aber einige seiner Schüler annehmen konnten, die empirische Psychologie, die als Wissenschaft unbezweifelbare Erfahrungen liefere, könne zu einem Teil der Metaphysik erhoben werden bzw. warum der Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis der Status einer Metaphysik zukommen konnte und auch sollte. Darüber hinaus lässt sich allererst vor dem Hintergrund dieses aufgewerteten Erfahrungsbegriffs erkennen, wie es zu der oben betrachteten Parallelisierung von Logik und Ästhetik kommen konnte. Erst wenn die Erfahrung nicht mehr nur defizient gegenüber dem Vermögen der Begriffe ist, lässt sich eine Wissenschaft der unteren mit einer Wissenschaft der oberen Erkenntnisvermögen analogisieren. Es sind mithin nicht allein Baumgartens Innovationen zum schönen Denken, es sind auch die Wandlungen des wolffschen Erfahrungsbegriffs, die die Bedingungen für das Entstehen einer Ästhetik als »Metaphysick der schönen Wissenschaften und Künste« liefern. Kehren wir noch einmal zum oben betrachteten § 5 der Einleitung in die Anfangsgründe zurück, der die betrachtete Parallele von Ästhetik und Logik ausführte und begründete. Denn in der Fortsetzung des Arguments zur funktionalen Äquivalenz von Logik und Ästhetik stellt Meier fest: Ja, man kan sagen, daß die Vernunftlehre die Aesthetick voraus setze. Unsere ersten Begriffe sind sinlich, und die Vernunftlehre zeigt, wie wir dieselben deutlich machen sollen. Die Vernunftlehre setzt die Empfindungen und Erfahrungen voraus, und lehrt nur, wie wir sie auf eine philosophische Art 77 78 79
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Vgl. hierzu auch Engfer: Rationalismus versus Empirismus? (s. Anm. 36), S. 279 sowie Dirk Effertz: Einleitung. In: Wolff: Erste Philosophie (s. Anm. 34), S. XXIV–XXIX, spez. S. XVI. Wolff: Erste Philosophie (s. Anm. 34), S. 60 (§ 27). So meint noch Ernst Platner, dass der Satz des Grundes – auch in seiner universellen Geltung – aus der Erfahrung abzuleiten sei; vgl. Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig 1772, S. 50 (§§ 180–183). Zwar gibt es auch hier eine Erfahrungstheorie (Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche. Halle 111742, S. 110–125), doch enthält diese noch keines Vorstellung und Theorie einer unzweifelhaften Erfahrung.
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anwenden sollen. Die Aesthetick mus also der Vernunftlehre den Stof zubereiten und einen Menschen also geschickt machen, ein guter Logicus zu werden.81
Und dann folgt die von Baumgarten übernommene, berühmte Bestimmung: Weil nun die Ästhetick sich gegen die sinliche Erkentnis eben so verhält, als die Vernunftlehre gegen die vernünftige; so kan man sie die Logic der untern Erkentniskraft nennen, (Gnoseologiam inferiorem).82
Damit wird die Ästhetik zu einer Propädeutik der Logik, die bestimmte wissenschaftsmethodische Funktionen zu erfüllen hat, die ihren Status als Metaphysik keineswegs unterminiert und doch einen weiteren Unterschied zwischen Logik und Ästhetik festhält. Dieser Unterschied ist nach der zunächst erkenntnislogischen Distinktion ein erkenntnisgenetischer. Beide Disziplinen sind dabei erkenntnislogisch auf einer Ebene, weil sie jeweils die Grundlegungen für die unteren und oberen Erkenntniskräfte entwickelt und begründen. Dabei attestiert Meier der Ästhetik keineswegs einen systematischen »Vorzug« vor der Logik und damit der sinnlichen vor der begrifflichen Erkenntnis;83 vielmehr soll die Ästhetik als Ordnung der sinnlichen und ästhetischen Erfahrung den Boden für eine gelingende Ordnung der Begriffe ebnen. Meier interpretiert diesen erkenntnisgenetischen Primat der Ästhetik auch anthropologisch;84 das ist nicht notwendig, wird aber von der empfindsamen Öffentlichkeit des 1750er Jahre besonders wohlwollend aufgenommen: Ein Mensch, der beyde Wissenschaften versteht, kann seine ganze Erkentnis ausbessern; wer aber nur eine versteht, kann nur ohngefehr die Helfte verbessern. Ja, weil sehr leicht erwiesen werden kan, daß nur der geringste Theil unserer Erkentnis deutlich ist, so getraue ich mir zu behaupten, daß ein blosser practischer Aestheticus unendliche mal vollkommener sey, als ein blosser practischer Logicus.85
Das Verhältnis von Logik und Ästhetik realisiert sich mithin nicht nur auf wissenschaftstheoretischer, sondern auch auf anthropologischer Ebene, indem erst Logik und Ästhetik gemeinsam die sinnlichen und rationalen Erkenntnisvermögen des Menschen zu verbessern vermögen. Ist aber eine Entscheidung zwischen beiden Disziplinen zu treffen, dann gibt Meier dem ›Ästheticus‹ deshalb den Vorzug, weil er als kultivierter ›Bezähmer‹ seiner potentiell bösen und sündhaften Sinnlichkeit86 – und hier kommt also die ethische Dimension der Ästhetik auch in den Anfangsgründen ins Spiel – immerhin eine gefällige Interpersonalität auszubilden vermag: Ein blosser Logicus ist eine so schulfüchsische und düstere Creatur, daß man ihn ohne Lachen nicht betrachten kann, da im Gegentheil ein blosser Aestheticus menschlich ist und sich jederzeit mehrern Personen gefällig machen kan. Ein schöner Vortrag findet einen viel stärckern und ausgebreiterten
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Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 8f. (§ 5). Ebd., S. 9. So aber in offensichtlicher Unkenntnis der Texte Reinhard Brandt: Ästhetik. In: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch der Europäischen Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Stuttgart 2015, S. 41–52, hier S. 50. Siehe hierzu aber schon die präzisen Hinweise bei Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 472. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 9 (§ 5). Vgl. hierzu auch die exzellente Studie von Rudolf A. Makkreel: Aesthetics. In: Knud Haakonssen (ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. 2 vol. Cambridge 2006, vol. II, pp. 516–556, esp. p. 522–523.
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Gideon Stiening Beyfal, als eine blosse mathematische Demonstration, und sehr ofte mus die blosse Vernunftlehre der Aesthetick die Wahlstat überlassen, wenn sie in einem besondern Falle in einen Streit gerathen.87
Dass Meier die durchaus ideologieanfällige Problematik, dass die Wahrheit dem Schönen bisweilen in einem Konfliktfall weichen muss, nicht kritisch analysiert, sondern schlicht konstatiert, verweist keineswegs auf einen modernen Ästhetizismus, sondern auch die auf an dieser Stelle vorausgesetzte enge Verknüpfung von Moral und Ästhetik, so dass es das Gute (im Gewande des Schönen) ist, dem die Wahrheit bisweilen zu weichen hat. Gleichwohl erweist sich auch, wie weit sich Meier von den Vorgaben Wolffs und Baumgartens entfernte.
4. Ästhetik und ›pragmatische Anthropologie‹ Anders als eine sich ab den 1750er Jahren dem englischen Empirismus und französischen Sensualismus öffnende, zumeist nicht akademische Öffentlichkeit vorgab, anders auch als eine zumeist historische oder germanistische Forschung annimmt, die vom Rationalismus gerne als wirklichkeitsferner ›Systemphilosophie‹ spricht,88 waren schon die Vertreter der deutschen rationalistischen Schulphilosophie daran interessiert, ihre systematischen Ergebnisse einem pragmatischen Nutzenkalkül auszusetzen und sie daran messen zu lassen. Nicht allein Gottsched hält schon 1733 in seiner Einführung in die gesammte Weltweisheit fest: Ich bin in derselben [d. i. Einleitung zur Weltweisheit], von der Erklärung abgegangen, die Herr Hofrath Wolf von der Philosophie gegeben hat. […] Nun halte ich zwar nicht davor, daß man selbige einer Ungereimtheit überführet, oder sogar wiederleget hätte, daß man sie nicht mehr behaupten können: Dennoch ist mirs vorgekommen, daß die Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind, dem ersten Ansehen nach, einen viel zu speculativen und bloß theoretischen Begriff, von der Weltweisheit gebe. Soll ich denn bloß von der Möglichkeit der Dinge (denken die meisten, die denselben hören oder lesen) subtile Vernünfteleyen in der Philosophie antreffen? Soll ich nur Hirngespinste machen, und Luftschlösser bauen lernen? Was wird mir eine solche Philosophie in der Welt, in den Geschäften, im gemeinen Leben nutzen?89
Gottscheds Kompendium sollte eine lesbare Einführung in die wolffsche Philosophie bieten und als solche der Forderung einer Philosophie für die Welt und des gemeinen Lebens Rechnung tragen.90 Gottsched gilt zu Recht als einer der bedeutendsten, weil erfolgreichsten Popularisato-
87 88 89
90
Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 8 (§ 5). Vgl. hierzu jüngst erneut Jörn Garber: Anthropologie. In: Thoma (Hg.): Handbuch (s. Anm. 83), S. 23–40. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Darinn alle philosophischen Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauch Academischer Lectionen. Leipzig 1733, Vorrede unpag., [S. 16]; zu Gottscheds Stellung eines äußerst selbstständigen Wolffianers und Popularisators vgl. schon Benno Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. Leipzig 1876 [ND Hildesheim 1973]; Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: The Review of Metaphysics XLIX.2 (1995), pp. 295–339. Darauf verweist zu Recht schon Wolfgang Riedel: Einleitung: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel. In: Jacob Friedrich Abel: Karlsschul-Schriften. Eine Quellenedition zum Phi-
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ren der wolffschen Philosophie,91 und drängt eben als solcher auf eine Praxisrelevanz dieser Wissenschaft. Gottsched ist jedoch nur ein Beispiel für weitere Wolffianer, die solche Praxisrelevanz ihres Rationalismus einklagen oder nachweisen. Dazu gehörte u. a. schon Christian Wolff selber, der einen Nutzen noch seiner abstraktesten Philosophie beanspruchte und zu bestimmen bemüht war; keineswegs ging es ihm um die Kultivierung eines wirklichkeitsfernen Elfenbeinturmes, sondern um das Eingreifen in den Aufklärungsprozess der sich grundlegend wandelnden europäischen Gesellschaften; schon in der Vorrede zur 4. Auflage seiner Deutschen Metaphysik heißt es im Jahre 1729, also einige Jahre vor Gottsched: Unter den Waffen; die ich gewehret, die Profanität zu besiegen, und die natürliche als christliche Religion zu vertheidigen, reche ich für allen Dingen, daß ich nicht allein durch Regeln in der Logick, sondern auch durch Exempel im Wercke selbst in gegenwärtigem Buche gezeiget, wie man in dergleichen Materien auf eine demonstrativische Art zu verfahren hat.92
Wolff hält sich für den Verteidiger der christlichen Weltordnung, und zwar gerade mit der Entwicklung seiner umfassend demonstrativen Methode. Vor dem Hintergrund der soziopolitischen Brisanz des Säkularisierungsproblems noch im 18. Jahrhundert ist Wolffs Anspruch nur durchaus verständlich.93 Erkennbar nimmt dieses Interesse am Nachweis einer pragmatischen Dimension der eigenen Philosophie nach 1723 und der von ihm als ebenso unberechtigt wie ungerecht empfundenen Vertreibung aus Halle zu.94 Dennoch beleuchtet Wolff nach 1723 nur Dimensionen seiner Philosophie deutlicher, die in ihr von Grund auf angelegt waren: die Ordnung der Praxis nach rationalen Kriterien und damit der Nutzen seines Denkens für die Wirklichkeit. Wider die »Atheisterey« gibt es aus seiner Sicht nämlich gute, gar hinreichende Gründe, solange dieser selbst sich rationaler Argumente bedient, von anderen Formen des Atheismus setzt sich Wolff mit anderen Mitteln ab: [D]enn mit den Schweinen, die deswegen dieselbe [d. i. die »Atheisterey«] sich gefallen lassen, weil sie ihre Glückseligkeit darinnen zu finden vermeinen, dass sie leben können, wie sie wollen, habe ich hier nichts zu thun.95
Keines der Argumente und keine der Positionen muss man inhaltlich teilen, um Wolff dennoch das substanzielle Interesse an den Dimensionen einer Klugheitslehre, die aus den Prinzipien
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losophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 375–450, hier S. 404. Vgl. hierzu Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 21945 [ND Hildesheim 1992], S 199–230, spez. S. 211ff. sowie Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau, [Geschichte der Philosophie VIII]. München 1984, S. 235f. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 31), Vorbericht. So zu der vierten Auflage hinzu kommen, unpag. [§ 7]; Hvhb. von mir. Vgl. hierzu die von Johannes Bronisch (Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin 2010, S. 72ff.) anschaulich geschilderten Vorgänge am Hofe des preußischen Kronprinzen, die aufgrund der vermeintlichen Zweifel Friedrichs an der Unsterblichkeit der menschlichen Seele ausgelöst wurde, und eine Staatskrise zur Folge hatten. Siehe hierzu u. a. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Metaphysik als Provokation. Christian Wolffs Philosophie in der Ideenpolitik der Frühaufklärung. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolf (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 5, S. 303–317. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 31), Vorbericht. So zu der vierten Auflage hinzu kommen, unpag. [§ 7].
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seiner Philosophie abgeleitet ist, zu attestieren. Wolff nimmt daher zu Recht für seine gesamte Philosophie in Anspruch, an einem solchen Nutzen für das Leben nicht nur interessiert, sondern orientiert sein; ausdrücklich heißt es im Discursus Praeliminaris von 1728: »Wir bemühen uns, sichere Erkenntnis zu erlangen, nicht aus Eitelkeit, sondern weil wir am Fortschritt der Wissenschaften und am Nutzen für das Leben interessiert sind«.96 Wenn Meier also eine ausführliche Begründung für den Nutzen seiner neuen Wissenschaft liefert, dann schließt er sich an diese pragmatischen Tendenzen innerhalb des Wolffianismus an, die seit den 1720er Jahren deutlicher als zuvor zu verzeichnen waren. Dabei entwickelt Meier insgesamt fünf Argumente, die den Nutzen der Ästhetik belegen können sollen: Der erste Nutzen der Ästhetik liegt in ihrer Befähigung zur epistemologischen und methodischen Aufbereitung der sinnlichen Erfahrungen für deren Verwendung in den oberen Erkenntnisvermögen bzw. Wissenschaften. Meier bereitet hier die noch in der Metaphysik vorgetragene propädeutische Funktion der Ästhetik vor, die zwar rein erkenntnistheoretisch bleibt, aber den Status einer notwendigen Durchgangsstation für alle Wissenschaften erhält: »Mir deucht, daß diese Beobachtung ein unumstößlicher Beweis sey, daß die höheren Wissenschaften unter den Menschen nicht einmal möglich sind, wenn nicht die schönen Wissenschaften vorhergegangen«.97 Erkennbar verwischt Meier in diesen Argumenten die Grenze zwischen wissenschaftstheoretischen und -historischen Argumenten. Der zweite Nutzen der Ästhetik besteht umgekehrt nicht in der Aufbereitung des sinnlichen Wissens für die rationale Erkenntnis, sondern in der Veranschaulichung und Ausbreitung des schon gewonnen wissenschaftlichen Wissens in die Öffentlichkeit. Am Beispiel der Fabel dokumentiert Meier, dass die »Aesthetik die Ausbreitung der Wahrheiten ungemein« befördere.98 Ästhetik wird damit durch ihre Fähigkeit zur Popularisierung des Wissens ein gewichtiges Instrument zur umfassenden Durchsetzung der Aufklärung über Gelehrtenkreise hinaus.99 Als dritten Nutzen trägt Meier – allerdings ohne das drängende Argument aus der Metaphysik schon parat zu haben – die Befähigung der Ästhetik zur Kultivierung der sinnlichen Vermögen des Menschen vor, die den größten Teil der menschlichen Erkenntnis ausmachen. Weil die Ästhetik mehr und anderes befördert als die jedem »Schulfuchs« zur Verfügung stehenden rationalen Fähigkeiten, ist sie diejenige Wissenschaft, die zu einer ›vollständigen anthropologischen Schätzung‹ beiträgt: »Die schönen Wissenschaften beleben den ganzen Menschen. Sie hindern die Gelehrsamkeit nicht, sondern machen sie menschlicher«.100 An solchen Passagen – mehr als 96
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Christian Wolff: Discursus praeliminaris de Philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 163; vgl. hierzu auch den Beitrag von Lothar Kreimendahl: Empiristische Elemente im Denken Wolffs. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolf (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. 5 Teile. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 1, S. 95–112. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 21 (§ 13). Ebd., S. 22 (§ 14). Diesen Nutzen der Ästhetik arbeitet heraus Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularisierung der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, spez. S. 37–51; Böhr überbewertet allerdings die Stellung der Ästhetik in Meiers Werk; diese bleibt nämlich allen anderen Wissenschaften untergeordnet, wie noch Meiers Metaphysik, die Böhr nicht zu Rate zieht, belegen kann. Von einer »Abwertung der deduktiven Methode« zugunsten einer »Aufwertung der Ästhetik« (ebd., S. 50) ist bei Meier nichts zu entdecken. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 25 (§ 15).
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an Baumgartens Ästhetik – wird erkennbar, warum und in welcher Weise die Anthropologie der Spätaufklärung auf dem Feld der Ästhetik ihre Argumente suchte und zunächst und zumeist bei Meier fündig wurde. Dass diese Kultivierung des ›ganzen Menschen‹ aber vor allem – bis hin zu Platner und Schiller – eine Domestizierung seiner Sinnlichkeit impliziert, zeigt die folgende, in ihrer Anschaulichkeit die weiteren Debatten prägende Passage: Man tue noch hinzu, daß die verwilderten sinlichen Kräfte der Seele, den höhern Wissenschaften, gewaltige Hindernisse in den Weg legen. Der Verstand ist zu schwach diesen Rebellen mit Nachdruck zu widerstehen, er mus der Gewalt des Pöbels in der Seele weichen, und ein Kopf, der eine unvollkommene untere Erkentniskraft besitzt, kan von der Wahrheit gar nicht überredet werden.101
Ohne die Schärfe gegen die Bos- und Sündhaftigkeit der menschlichen Sinnlichkeit, die er in der Metaphysik herausarbeiten wird, schon hier als Argument zu verwenden, wird doch ersichtlich, dass Meier schon in den Anfangsgründen – und eben noch in der Metaphysik – an der kritischen Abwertung der Sinnlichkeit des Menschen in moralischer Hinsicht festhält. Von einer ›Emanzipation der Sinnlichkeit‹, die die Forschung gerne mit der von ihr ausgerufenen ›anthropologischen Wende‹ verbindet,102 lässt sich jedenfalls bei Meier und dessen Bild von den sinnlichen Seelenvermögen als dem ›Pöbel der Seele‹ nicht viel entdecken. Meier führt diesen Abschnitt mit Argumenten zum vierten und fünften Nutzen der Ästhetik fort, die darin bestünden, dass diese Wissenschaft den besonderen Künsten, die die Wohlfahrt der Menschheit beförderten, Grundlegungen verschaffe sowie das Vermögen des Geschmacks produktiv kultiviere, d. h. verbessere. Sechstens und letztens kommt Meier endlich doch auf den Nutzen der Ästhetik für die »philosophische Sittenlehre« zu sprechen, indem er ihr den Status eine ›Methodenlehre der praktischen Vernunft‹ zuschreibt, nämlich die Fähigkeit zu ermitteln, »wie wir dasselbe [d. i. die moralische Ausbesserung der sinnlichen Kräfte] bewerkstelligen können«.103 Meier geht zum Abschluss seiner Einleitung noch auf eine Reihe von Einwänden gegen die Ästhetik und damit gegen die schönen Wissenschaften und Künste selber ein. All diesen zumeist wissenschaftsmethodischen oder moralischen Einwänden hält Meier aber die allgemeine Nützlichkeit der Ästhetik gerade für die Erkenntnis der Wahrheit und damit die Beförderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt entgegen: »Eine volkommen deutliche Erkentnis, und eine schöne sinliche Erkentnis stimmen so vortreflich mit einander überein, daß die eine von der andern ungemeine Vortheile zu erwarten hat«.104 Meier hat damit die schon von Wolff, aber auch von Gottsched eingeforderten Kriterien der Nützlichkeit der jeweiligen Wissenschaften präzise abgearbeitet: Nicht nur habe die Ästhetik, so Meier, wissenschaftsintern eine unverzichtbare Funktion, weil sie in der Aufbereitung des sinnlich Gegebenen den oberen Wissenschaften das Material in angemessenen Form präsentiere, auch habe die Ästhetik wissenschaftsextern bedeutende Funktionen, weil sie durch die Popularisierung des wissenschaftlichen Wissens zur Aufklärung und Wohlfahrt des Menschengeschlechts beitrage und durch die Domestizierung der Sinnlichkeit deren moralische und reli101 102 103 104
Ebd., S. 26f. (§ 15). Paradigmatisch hierzu u. a. Jörn Garber u. Heinz Thomas (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 29f. (§ 18). Ebd., S. 35 (§ 21).
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giöse Negativität zu zügeln und damit zu mäßigen beitrage; sie hat damit außerhalb der Wissenschaften sowohl auf die Gesellschaft als auch auf den Einzelnen nachweisbaren Einfluss.
5. Schlussbemerkung Meier erweist sich mit dieser Konzeption von Ästhetik als ein Neuerer, der aber weniger an der »äußeren Grenze der Wolffschen Schulphilosophie«105 als vielmehr in deren Zentrum einen innerschulischen Reformprozess in Gang setzt,106 und der damit dem Wolffianismus einen Einfluss über die Jahrhundertmitte auf die neuen empfindsamen Generationen sichert.107 Während von Frankreich und Großbritannien ausgehend der Einfluss einer empiristischen Theorie des Geschmacks – am konsequentesten Denis Diderots Essais sur la peinture (1751), David Humes Essay on the Standard of taste (1757) und Kants Beobachtungen über das Gefühl der Schönen und Erhabenen (1764)108 – sich allmählich formiert und auch in der deutschen Philosophie und Literatur ab den 1760er Jahren an Bedeutung gewinnt, garantiert Meier mit seiner populären Ästhetik eine Kontinuität rationalistischen Argumentierens auch auf dem Feldern der Theorie des Schönen, die sich u. a. über Mendelssohn, Lessing und Sulzer109 bis in die 1770er Jahre verlängert.110 Wie auf anderen Feldern der Philosophie ist Meier kein Revolutionär, aber ein Reformer des Wolffianismus.111 Damit gelingen ihm jedoch viele einzelne Bestimmungen, die ausgehend von seinem umfangreichen ästhetischen Kompendium Eingang in die zeitgenössischen Debatten finden. So sind es nicht erst Goethe und Herder,112 sondern es ist schon Meier, der den Dichter wieder zu einem alter deus, einem zweiten Schöpfer erhebt, wenn er schreibt: Weil die Erdichtungen Gedanken sind, die wir selbst erfinden und ausdenken, so sind es unsere eigene Creaturen, und wir verhalten uns gegen dieselben gleichsam als Schöpfer. Man kan also mit volkom-
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So aber Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 91), S. 228. So auch das Fazit der Studie von Kaleri: Ästhetische Wahrheit (s. Anm. 41), S. 400ff. So auch, wenngleich die Substanz des Wolffianismus bei Meier unterschätzend Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892 [ND Hildesheim, New York 1975], S. 24–49; schlicht falsch ist die These von einer »Gleichgiltigkeit [Meiers] gegen die spekulative Metaphysik«. Vier Bände sprechen eine deutliche Sprache. Vgl. hierzu u. a. Karl-Heinz Schwabe: ›Science of man‹ and ›Criticism‹. Zur anthropologischen Grundlegung der Ästhetik bei David Hume und Henry Home, Lord Kames. In: Aufklärung 14 (2002), S. 233–256. Vgl. hierzu noch Johann Georg Sulzer: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und ihrer besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772. Zu Mendelssohns Variante rationalistischer Ästhetik vgl. Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010, S. 191–244; zu Lessings Variante des Rationalismus vgl. Cassirer: Aufklärung (s. Anm. 84), S. 261. Für den Bewusstseinsbegriff zeigt das Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 34–36 u. ö. Siehe hierzu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 21988, Bd. I, S. 129ff.
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men gutem Grunde sagen, daß ein schöner Geist ein schöpferisches Vermögen (esprit createur) besitzen müsse.113
Meier popularisiert diesen älteren Topos114 und bereitet ihn in dieser Weise für dessen zweite Karriere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vor. Dass er dabei – wie Lessing115 – mehr auf die selbstaktiv-handelnde Dimension des ›genialen‹ Künstlers, also seine auch fleißige Ausbildung setzt, denn auf die Dimensionen seiner natürlichen – und damit unverfügbaren – Determiniertheit hat weniger mit einem »nicht-essentialistischen Naturbegriff« zu tun,116 als mit seinem Rationalismus.
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Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 7), Bd. I, S. 512 (§ 218). Siehe hierzu die Hinweise von Wolfgang Riedel: Anmerkungen [zur Genie-Rede]. In: Jacob Friedrich Abel: Karlsschul-Schriften. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773– 1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie, hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 557. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens (s. Anm. 112), S. 69–95. So aber Stefan Borchers: Die Erzeugung des ›ganzen Menschen‹. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2011, S. 176–183.
JUTTA HEINZ
Die »Wissenschaft der Beurtheilungskunst« Georg Friedrich Meiers Abbildung eines Kunstrichters
1. »Im Schweiß ihres Angesichts – über das Schöne richten«? Das Schreckensbild des Kunstrichters Georg Friedrich Meiers Abbildung eines Kunstrichters ist eines seiner früheren Werke; es erscheint 1745, also noch vor seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor, und sozusagen im Doppelpack mit der Abbildung eines wahren Weltweisen.1 Genau 50 Jahre später gibt ein neuerer Ästhetiker ebenfalls ein Abbild dieser seltsamen Spezies »Kunstrichter«: 1
Ein Vorläufer ist Meiers Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst (in: Beyträge zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Bd. 7, 25. Stück (1741), S. 242–286; hier zitiert nach: Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. 3 Bde. Hg. von Hans-Joachim Kertscher u. Günter Schenk. Halle 1999, hier Bd. 2, S. 9–44), der bereits viele Parallelen zur späteren Abbildung eines Kunstrichters aufweist: Auch hier geht es Meier angesichts der bereits erreichten Verdienste der deutschen Sprache, Literatur und Kritik um die festere Begründung von Geschmacksurteilen; sie werden ebenfalls aus dem baumgartenschen Vollkommenheitsbegriff abgeleitet (der hier aber noch ohne den späteren Kriterienkatalog auftritt); es gibt sehr ausführliche Überlegungen über verschiedene Größen- und Gradabwägungen der Güte poetischer Werke. Interessant ist die Unterscheidung verschiedener Gattungen von Kunstrichtern: Es gibt »mathematische Kunstrichter« (können Grade der Vollkommenheit nach den Regeln der Kunst bestimmen, S. 19); »poetische Kunstrichter« (können Grade der poetischen Schönheiten genau bestimmen, S. 28); »poetische Meßkünstler« (können über Treffliches, Mittelmäßiges und Schlechtes urteilen, S. 28). »Trefflichkeit« kommt dabei dem Schriftsteller, nicht dem Dichter zu, der etwas bessere Werke macht als nur mittelmäßige (S. 23); wer schlechte Gedichte macht, ist ein »Stümper« (S. 27). Das Mittelmäßige wird dabei vor allem abgelehnt, weil es keine Emotionen auslöst (»Es geht mir bey Erblickung einer solchen poetischen Larve, wie die Leute zu erzählen pflegen, die das Gespenst ihres Freundes gesehen. […] Statt der Begierde ihm in die Arme zu fallen, fühlte ich, daß alle meine Blutstropfen eiskalt wurden«, S. 37). – Ein weiterer Text, der sich mit der Frage nach der richtigen Kunstrichterei beschäftigt, ist der Aufsatz Gedanken über die Frage: Ob ein Kunstrichter seine Urtheile jederzeit erklären und beweisen müsse (In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache, 13. Stück (1744), S. 3–21; hier zitiert nach: Frühe Schriften, Bd. 2, S. 49–61). Er weist ebenfalls eine Vielzahl von Parallelen zur Abbildung auf, die hier bis in einzelne Formulierungen reichen (z.B. »Proceßordnung der Critik«, S. 51).
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Jutta Heinz Nichts ist gewöhnlicher als daß sich die Gelehrten, den gebildeten Weltleuten gegenüber, in Urtheilen über die Schönheit die lächerlichsten Blößen geben, und daß besonders die Kunstrichter von Handwerk der Spott aller Kenner sind. Ihr verwahrlostes, bald überspanntes bald rohes Gefühl leitet sie in den mehresten Fällen falsch, und wenn sie auch zu Vertheidigung desselben in der Theorie etwas aufgegriffen haben, so können sie daraus nur technische (die Zweckmäßigkeit eines Werks betreffende) nicht aber ästhetische Urteile bilden, welche immer das Ganze umfassen müssen, und bey denen also die Empfindung entscheiden muß. Wenn sie endlich nur gutwillig auf die letztern Verzicht leisten und es bey den erstern bewenden lassen wollten, so möchten sie immer noch Nutzen genug stiften, da der Dichter in seiner Begeisterung und der empfindende Leser im Moment des Genusses das Einzelne gar leicht vernachläßigen. Ein desto lächerlicheres Schauspiel ist es aber, wenn diese rohen Naturen, die es mit aller peinlichen Arbeit an sich selbst höchstens zu Ausbildung einer einzelnen Fertigkeit bringen, ihr dürftiges Individuum zum Repräsentanten des allgemeinen Gefühls aufstellen, und im Schweiß ihres Angesichts über das Schöne richten.2
Schillers Polemik in Über naive und sentimentalische Dichtung vorerst bei Seite gelassen, hat der Begriff des »Kunstrichters« innerhalb dieses halben Jahrhunderts allerdings einige einschneidende Bedeutungsänderungen durchlaufen. Für die frühe Aufklärung war ein Kunstrichter jemand, der kompetent über Werke der »schönen Künste und Wissenschaften«3 urteilen konnte – und zwar vor allem diejenigen der Vergangenheit (der Klassiker) sowie primär aufgrund gelehrter Kenntnisse der Kunstregeln. Eine exemplarische Aufzählung solcher gelehrter »Kunstrichter« von der Antike an gibt beispielsweise Johann Christoph Gottsched in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst: Ich trage also auch bey dieser neuen Auflage kein Bedenken, zu gestehen, daß ich alle meine critischen Regeln und Beurtheilungen, alter und neuer Gedichte, nicht aus meinem Gehirne ersonnen; sondern von den größten Meistern und Kennern der Dichtkunst erlernet habe. Aristoteles, Horaz, Longin, Scaliger, Boileau, Bossü, Dacier, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evremond, Fontenelle, la Motte, Corneille, Racine, Des Callieres und Füretiere; ja endlich noch Schaftesbury, Addison, Steele, Castelvetro, Muralt und Voltaire, diese alle, sage ich, waren diejenigen Kunstrichter, die mich unterwiesen und mich einigermaßen fähig gemacht hatten, ein solches Werk zu unternehmen.4
Auf einige dieser Autoritäten und Solitäre bezieht sich Meier in seiner Abbildung eines Kunstrichters, ebenso wie auf Gottsched selbst.5 Beinahe zur gleichen Zeit jedoch entsteht auch ein journalistisch geprägtes Massen-Rezensionswesen; ein prägnantes Datum dafür ist die Gründung
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Die ganze Passage zum »critischen Gleichgewicht« ist fast identisch (vgl. S. 61); sie schließt die Abhandlung ab und weist darauf hin, dass der Verfasser über diesen Punkt noch weitere Ausführungen wird folgen lassen. Interessant ist hier vor allem Meiers Verteidigung der »Zeitungsschreiber«, die nicht alle ihre Urteile philosophisch genau begründen könnten (vgl. S. 54). Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften. Hg. von Benno von Wiese unter Mitwirkung von Helmut Koopmann. Weimar 1962, S. 488f. Die Begriffsgeschichte von Kunstkritik verläuft damit teilweise parallel zur Geschichte des Begriffs »Schöne Wissenschaften«, vgl. dazu ausführlich Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs »schöne Wissenschaften«. In: Archiv für Begriffsgeschichte XXXIII (1990), S. 136–216. Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. 6.1. Hg. von Joachim u. Brigitte Birke. Berlin 1973, S. 13. Georg Friedrich Meier: Abbildung eines Kunstrichters. Halle 1745 (im Folgenden zitiert mit der Sigle: AK).
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der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste im Jahr 1757, der eine Vielzahl spezialisierter Rezensionszeitschriften bis in Schillers Zeit folgen werden.6 Schiller hatte im obigen Zitat beide Gruppen, den »Kunstrichter von Handwerk« ebenso wie den Gelehrten in den schönen Wissenschaften, im Blick; ihnen werden als ebenso kompetent Geschmacksurteile fällende Gruppen die »Kenner« und »gebildeten Weltleute« gegenübergestellt.7 Am Kunstrichter kritisiert Schiller vor allem zweierlei: Zum einen verfüge er über kein ästhetisch ausgebildetes, sondern nur über ein »bald überspanntes, bald rohes Gefühl«; zum anderen sei auch seine Regelkenntnis auf die technischen Einzelheiten des dichterischen Handwerks beschränkt. Deshalb könnten Kunstrichter von vornherein niemals zu wirklichen »ästhetischen Urteilen« kommen, »welche immer das Ganze umfassen müssen«; weder verfügten sie über eine harmonische Einheit von Gefühl und Verstand in ihrer Persönlichkeit, noch könnten sie im Werk die harmonische Ganzheit von Form und Inhalt erkennen, da sie sich immer nur an Details festbissen.8 Kurz: Der Kunstrichter wird die klassizistische Autonomieästhetik nie verstehen, gerade weil er ein Kunstrichter ist. Nun macht es schon chronologisch wenig Sinn, Meier vorzuwerfen, er würde der schillerschen Ästhetik nicht gerecht. Ich will den distanzierenden Blick zurück vielmehr nutzen, um – durchaus auch in apologetischer Hinsicht – Meiers Konzept des Kunstrichters daraufhin zu prüfen, inwiefern es nur eine populäre Reproduktion der baumgartenschen Ästhetik (und Vernunftlehre) in angewandter Form ist oder ob es auch einzelne innovative Aspekte enthält. Ich werde dazu zunächst auf die Stellung der meierschen Kunstkritik im Kontext der poetologischen Debatten der Zeit sowie ihren Ort im System der Wissenschaften eingehen. Der Haupt6
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Friedrich Nicolai erläutert in der Vorläufigen Nachricht des ersten Bandes programmatisch sein Verständnis von Kritik: »Die Kritik ist es also ganz allein, die unsern Geschmack läutern, und ihm die Feinheit und die Sicherheit geben kann, durch die er sogleich die Schönheiten und die Fehler eines Werkes einsieht […]. Unser Zweck, ist die Beförderung der schönen Wissenschaften, und des guten Geschmacks unter den Deutschen« (Bd. 1, S. 3f.). Auch auf diese journalistische Literaturkritik bezieht sich Meier bereits in Ansätzen, meist jedoch negativ (vgl. z.B. seine Kritik der Zeitungsschreiber, AK, S. 33f.). Zum Verhältnis von Kenner und Kunstrichter vgl. auch den Art. Kunstrichter in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste: »Dieser Name kommt eigentlich nur demjenigen zu, der außer den Talenten und Kenntnissen des Kenners […] auch noch alle Kenntnisse des Künstlers besitzet, und dem es also, um ein Künstler zu seyn, nur an der Fertigkeit der Ausübung fehlet.« Kritik entsteht für Sulzer analytisch aus der »Betrachtung der Kunstwerke«, geht diesen also nicht voraus; Kunstwerke werden von Genies geschaffen, aus denen Kunstrichter dann die Regeln abstrahieren. Sie begann mit einzelnen Bemerkungen und wurde dann zu einer eigenen Wissenschaft, die nun aber zur »Modewissenschaft« und zum »Gewäsche« verkommen sei (Bd. 2. Leipzig 1774, S. 632f.). Diese Kluft zwischen ästhetischer Theorie und Praxis thematisiert Goethe ironisch in Wilhelm Meisters Lehrjahre anhand der Titelfigur: »Er saß nun zu Hause, kramte unter seinen Papieren, und rüstete sich zur Abreise. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte, ward bei Seite gelegt, er wollte bei seiner Wanderung in die Welt auch von jeder unangenehmen Erinnerung frei sein. Nur Werke des Geschmacks, Dichter und Kritiker wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten gestellt; und da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte, so erneuerte sich seine Begierde nach Belehrung, als er seine Bücher wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch meist unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung von der Notwendigkeit solcher Werke, viele davon angeschafft, und mit dem besten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte sich hineinlesen können.« Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 5: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Hg. von Hans-Jürgen Schings. München 1988, S. 35.
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teil wird dem Verhältnis der Kunstkritik zur baumgarten-/meierschen Ästhetik insgesamt gewidmet sein. Am Ende werde ich zusammenfassend versuchen, ihre innovativen Aspekte herauszustellen.
2. Patriotische Geschmacksbildung und »aufgeweckte« Abbildung Seine Motive und Absichten bei der Abfassung der Abbildung eines Kunstrichters9 erläutert Meier in der Vorrede sowie in den ersten Paragraphen der Schrift: Es handele sich um ein Unternehmen, das »ein ieder vernünftiger Kenner, in unsern Tagen für überaus nothwendig« halten werde, und zwar zum einen als wahres patriotisches Werk im Dienste der Geschmacksbildung des etwas rückständigen deutschen Volkes, zum anderen im Blick auf die gelehrte Kritik selbst. Das sind verbreitete Topoi des Geschmacksdiskurses; Meier verfolgt darüber hinausgehend gar kulturimperialistisch anmutende Großziele: Blicke man allein auf die »grosse Anzahl der deutschen Kunstrichter«, so bestehe begründete Aussicht darauf, demnächst wenigstens in dieser Hinsicht »das herrschende Volck des Erdbodens«10 zu sein. Allerdings habe gerade diese Inflation selbsternannter Kunstrichter dazu geführt, dass, wer nur den Antilongin gelesen hat; wer ein halb dutzend critischer Flüche und Schimpfwörter, mit einer gebietherischen Stimme, aussprechen, und mit den Wörtern Galimatias, Schwulst, Kriechend, u.s.w. mit einer satirischen Mine, um sich werfen kan,
schon Anspruch auf das »Richteramt«11 erhebe. Hier könne nur Ordnung geschaffen werden, indem ein Idealbild als Maßstab aufgestellt werde und die Willkür unqualifizierter Geschmackskontrolleure einer regelförmigen, vernünftig begründbaren »Beurtheilungskunst« weiche.12 Neben dieser Grundlagen- und Aufräumungsarbeit im Feld der Kritik selbst geht es Meier um die Stellung der Kunstkritik im auf der Basis der Vorarbeiten von Baumgarten (sowie letztlich Wolff und Leibniz) zu errichtenden neuen System der Wissenschaften. Das bleibt ein zentrales Anliegen der meisten meierschen Publikationen, die die baumgartenschen Grundlagenschriften (in diesem Falle vor allem die noch unveröffentlichte Ästhetik) auf ihre Fruchtbarkeit für die Konstitution weiterer Einzeldisziplinen untersuchen.13 In der Vorrede beschreibt 9
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Günter Schenk behandelt die beiden Abbildungen als Beispiele »›berufsethischer‹ Schriften […] für zwei altehrwürdige Berufsstände, die neue sittlich-wissenschaftliche Normen, die gegen die tradierte Gewohnheit gerichtet sind«, postulieren (Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994, S. 40); er nennt auch Meiers wichtigste zeitgenössische Quellen zur Geschmacksthematik (ebd.). Zu Meiers Lehrprosa insgesamt Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007 (die Arbeit geht auf die hier behandelten Texte aber nicht ausführlicher ein). AK, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 7. Schließlich sei eine solche kritische Klärung der Grundlagen auch eine wichtige Voraussetzung für die Beilegung der »Dichterkriege«, die das Reich der schönen Wissenschaften nun seit beinahe 30 Jahre beunruhigten; sein Werk schließt mit der expliziten Hoffnung auf Befriedung des »critischen Reichs« (AK, S. 224). Diese Intention hebt bereits Samuel Gotthold Lange in seiner Meier-Biographie hervor: »Meier hat die vom Leibnitz gemachte Grundlage, und von Wolfen weiter ausgemauerte Errichtung des Systems der
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Meier zunächst die Geschichte der Kritik als Wissenschaft mittels einer ausgebauten Metapher, die symptomatisch für Meiers Versuche in der »schönen Schreibart« ist: Es verhält sich mit den Wissenschaften, wie mit den Strömen. Ein Strom ist bey seiner Quelle ein kleiner Bach. So oft, als er ein neues Land durchfließt, so oft vereinigen sich mit ihm mehrere Flüsse, dadurch er nach und nach zu einer grössern Weite und Tiefe aufschwült.14
Ebenso habe sich auch die Kritik von ihrer »Kindheit«15 bei den Alten über die philologische Textkritik im engeren Sinne bis hin zur »Beurtheilung der Gedancken selbst«16 entwickelt. Und Meier selbst macht den letzten Schritt, indem er den »Strom« der Kritik nun ins Meer der Metaphysik und Vernunftlehre münden lässt: Was hindert also, den Umfang der Critik unendlich zu machen, und ihr Gebieth über alle möglichen Dinge zu erstrecken? Ich behaupte also, daß man mit hinreichendem Grunde, die Critik, welche ich die Beurtheilungskunst nennen will, durch eine Wissenschaft erklären könne, von den Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten der Dinge zu urtheilen.17
Das Projekt kann damit als eine Art Vorläufer des kantischen Kritizismus betrachtet werden.18 Es gründet in der Metaphysik als Grundlagenwissenschaft von den Vollkommenheiten bzw. Unvollkommenheiten aller Dinge, untersucht diese aber nicht im Blick auf ihre Begründungszusammenhänge, sondern auf eine mögliche Anwendung im Urteil – und das nicht nur konventionell eingegrenzt auf Gegenstände der schönen Künste und Wissenschaften, sondern entgrenzt im Blick auf »die Geschäfte des gemeinen Lebens«.19 Was diese Ausweitung genauer bedeutet, wird vor allem im Blick auf das Genre klar, das Meier für dieses Vorhaben wählt: Er gibt nämlich eine »Abbildung«20 und nicht eine gelehrte Abhandlung in Form einer reinen Logik der Beurteilung. Das begründet er folgendermaßen: Ich hätte meiner Arbeit die Gestalt einer Wissenschaft geben müssen, und ich kan selbst nicht recht sagen, was mir an derselben nicht gefiel. Ich habe geglaubt, daß mein Vortrag practischer, und vielleicht aufgeweckter und angenehmer gerathen würde, wenn ich einen Kunstrichter abschilderte.21
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neuen Philosophie, weiter in die Höhe geführt, und neue Gebäude hinzugefügt« (Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778, S. 8); er gilt ihm deshalb als »Eroberer« neuer Gebiete (ebd., S. 7), der eine »Charte der Wahrheiten« (ebd., S. 98) entwirft. AK, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd. Auch Schenk: Leben und Werk (s. Anm. 9) sieht Meiers Schrift als »echten Vorläufer der Kritik der Urteilskraft« (S. 42). AK, S. 25. Der Titel lässt sich seit dem 17. Jahrhundert häufiger nachweisen und meint nicht immer konkret, dass mit ihm wirklich Illustrationen verbunden sind. Vgl. zum Verständnis des Begriffs im 18. Jahrhundert Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Deutschen Mundart. Leipzig 1793–1801, Art. Abbildung: »1) Die Handlung des Abbildens; plur. inusit. 2) Das dadurch entstandene Bild, oder die dadurch entstandene Vorstellung selbst; wofür doch Bild, Bildniß, Nachbild u.s.f. üblicher sind« (Bd. 1, S. 11). Eine ähnliche Titelgestaltung findet sich z. B. bei August Hermann Francke: Idea Studiosi Theologiae oder Abbildung eines Theologie Beflissenen […]. Halle 1712. AK, S. 13.
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Es ist interessant, dass sich Meier hier eines für ihn ansonsten nicht gerade typischen Arguments vom Typ des ästhetischen je ne sais quoi bedient.22 Der eigentliche Kern der Begründung zielt aber auf die von Meier in all seinen Schriften verfolgten Bemühungen sowohl um Deutlichkeit und Verständlichkeit des philosophischen Diskurses als auch um »schöne« Lesbarkeit. Es gehört gerade zum Kernbestand der Kunstrichterei für Meier, nicht in den trocken akademischen Ton zu verfallen. Das sollen in der Abbildung vor allem die Beispiele sicherstellen, die den ansonsten klassisch aphoristisch gehaltenen Lehrvortrag begleiten sowie die Regeln illustrieren und für die sich Meier im Vorwort eigens entschuldigt: Während er nämlich die von ihm hergeleiteten Regeln durchweg für richtig und unangreifbar halte, könne man die von ihm gewählten Beispiele – und zwar sonderlich solche aus dem »gemeinen Leben«, aber auch bei namentlich genannten Kritikerpersönlichkeiten – sicherlich kritisieren. Meier macht damit klar, dass er sich auf einem der am meisten umkämpften diskursiven Schlachtfelder der Zeit schlechthin bewegt, nämlich dem »Dichterkrieg« zwischen Gottsched und den Schweizern.23
3. Die Beurteilungskunst im Kontext der baumgarten-/meierschen Ästhetik: Proportionale Urteilskraft Während die Ausweitung der Kritik ebenso wie das Genre der »Abbildung« Kandidaten für eine innovative Eigenleistung Meiers sind, bewegt er sich inhaltlich zunächst ganz in den von Baumgarten vorgegebenen Bahnen und sagt das auch explizit in der Vorrede.24 So gibt er als erstes an, wie die Wissenschaft von der Beurteilungskunst systematisch untergliedert werden müsste, wenn man sie denn nicht als »Abbildung«, sondern als »Logik« der Kritik konzipierte, wie er zuerst plante:25 nämlich (natürlich) zunächst in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der theoretische enthielte zum einen die »Instrumental-Critik oder die Logik der Critik«26 und spalte sich wiederum in zwei Teile auf. Im ersten gehe es um die Beurteilungskraft als Instanz der Kritik schlechthin. Sie teilt sich wiederum in die »vernünftige« oder »höhere« Beurteilungskraft, die dementsprechend vernünftige, d. h. deutliche und eigentlich philosophische Erkenntnisse liefert und der Logik in der Vernunftlehre entspricht, und die niedere Erkenntniskraft bzw. ihr Synonym, den »Geschmack«, die nur sinnliche Erkenntnisse liefert, denen aber auch eine spezifische Vollkommenheit zugeschrieben werden kann.27 Der zweite Teil der theo22 23
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Das im Übrigen in der Abbildung abgehandelt wird; es entstehe vor allem bei Problemen der adäquaten sprachlichen Darstellung von ästhetischen Einsichten (vgl. ebd., S. 94f.). Vgl. dazu die Edition von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk (s. Anm. 1), v. a. Bd. 2, wo nicht nur Meiers Beiträge, sondern auch die der anderen Parteien abgedruckt sind; zum Hintergrund vgl. das Nachwort, das die poetologischen Streitigkeiten auf die Unterschiedlichkeit der religiösen Positionen zurückführt, sowie Schenk über Meiers weitere Publikationen in diesem Zusammenhang (Schenk: Leben und Werk [s. Anm. 9], S. 48–55). »Am allermeisten aber habe ich des Herrn Professor Baumgartens noch ungedruckte Aesthetik gebraucht« (AK, Vorrede). Vgl. ebd., S. 13. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 11f.
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retischen »Instrumental-Critik« wäre den Gegenständen der Kritik gewidmet und verhielte sich zur ganzen Beurteilungskunst wie die Metaphysik zur ganzen Gelehrsamkeit: Er gebe die ersten Gründe ab und bestünde wiederum aus zwei Teilen, nämlich den »höchsten Gattungen«28 der Gegenstände auf der einen und den »niedrigen Gattungen« auf der anderen Seite (zu dem beispielsweise alle Gegenstände aus der Sittenlehre gehörten).29 Diese systematischen Ausführungen bringt Meier jedoch eher pflichtschuldig hinter sich, um sich dann vor allem auf die für die Ästhetik zentrale Instanz des Geschmacks zu konzentrieren; in der oben erläuterten Hierarchie der Erkenntnisvermögen also die »untere Beurtheilungskraft«,30 die nicht nur allgemein Vollkommen- und Unvollkommenheiten, sondern speziell Schönheiten bzw. Hässlichkeiten detektiert. Der Geschmack ist für Meier kein eigenes, klar abgrenzbares Vermögen, sondern eine synthetische Tätigkeit verschiedener (höherer und niederer) Erkenntniskräfte, die in verschiedenen Graden und Maßen der Vollkommenheit zusammen wirken.31 Ihre Vollkommenheiten entsprechen im Großen und Ganzen dem Katalog der sechs Vollkommenheiten bzw. »Schönheiten« der Erkenntnis, wie ihn Baumgarten in seiner (fragmentarischen) Ästhetik und dementsprechend Meier in seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften sowie in einer Reihe weiterer Schriften zugrunde legt: also dem Reichtum/der Menge der Erkenntnis, ihrer Größe/Fruchtbarkeit, Deutlichkeit/Klarheit, Wahrheit/Richtigkeit, Gewissheit und Lebendigkeit;32 dazu kommt noch, das ist ein spezieller Zusatz nur für die Kunstkritik, die Leichtigkeit der Beurteilung. Die Doppelbenennungen spiegeln bereits eine gewisse Inkonsistenz, die auch durch die Übersetzung aus dem Lateinischen entsteht; ich werde darauf im Einzelnen kurz eingehen. Meier durchläuft im Hauptteil der Schrift die Vollkommenheitskriterien einzeln, bestimmt sie mit einigermaßen ermüdender Vollständigkeit (also immer positiv/negativ) und widmet vor allem ihrem jeweils proportional gegeneinander abzuwägenden Einsatz viel Aufmerksamkeit. Ich gebe eine kurze Zusammenfassung am Text entlang:
28 29 30 31
32
Ebd., S. 12. Zu den rhetorischen Vorbildern dieser Gliederung vgl. Ricardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. AK, S. 14. Ähnlich argumentiert Meier im Auszug aus der Vernunftlehre (Halle 1752). Dort findet sich auch eine genauere Abgrenzung von vernünftiger Erkenntnis und »historischer Erkentniß«; die vollkommenere historische Erkenntnis ist die »schöne Erkentniß« (S. 6). Insgesamt jedoch gilt der empiristische Grundsatz, dass alles, was im Verstand ist, vorher in den Sinnen gewesen sein muss: »Indem ein Mensch keine vernünftige Erkentniß von einer Sache erlangen kan, wenn er nicht vorher eine historische Erkentniß von derselben besizt« (S. 6). Vgl. AK, S. 18. So unterscheidet er in den Anfangsgründen der schönen Wissenschaften Reichtum, Größe, Wahrheit, Lebhaftigkeit, Gewißheit, sinnliches Leben; im Auszug der Vernunftlehre (s. Anm. 31) Weitläufigkeit, Größe/Wichtigkeit, Wahrheit, Klarheit, Gewißheit, practische gelehrte Erfahrung. Das Gliederungsmuster findet sich auch variiert in den Gedanken von Schertzen sowie dem Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst.
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a) Menge und Vielheit33 Diese Kategorie ist für Meier im Blick auf den Kunstrichter die wichtigste: »Wer einen Kunstrichter abbilden will, der muß, vor allen Dingen, den gantzen Umfang der Beurtheilungskraft desselben abzeichnen, und die Grentzen desselben gehörig bestimmen«.34 Prinzipiell besteht Meier jedoch erneut darauf, dass der Anwendungsbereich der Kritik unbegrenzt ist und auch die »Geschäfte des gemeinen Lebens«35 umfasst. Jeder einzelne Kunstrichter muss aufs allergenaueste realisieren, was genau sein »Gebieth«36 ist, auf das er aufgrund von Begabung und Ausbildung gegründete Ansprüche machen kann. Je weiter sich dieses Gebiet allerdings erstreckt, desto vollkommener wird der Kunstrichter, der insgesamt auf »überaus weitläuftige Gelehrsamkeit, und Erkenntniß unzäliger Dinge«37 achten muss. Als Ideale einer umfassenden Urteilskraft werden Bayle und Baumgarten38 genannt; wer hingegen ein »leerer und ungehirnter Kopf«39 ist, hüte sich besser im Urteil (das gilt vor allem für allzu junge Kritiker und Zeitungsschreiber). Problematisch ist aber auch, wenn der Kunstrichter auf der einmal erreichten Stufe der Urteilskraft stehen bleibt. Das macht Meier nun erstmals mit einem Beispiel aus dem »gemeinsten Leben« deutlich: Wer den Schnitt des eigenen Hochzeitskleides einfür allemal für den Gipfelpunkt der Mode hält, hat offensichtlich den Anschluss an einen aktuellen Geschmacksdiskurs verloren.40 b) Größe41 Jedes zu beurteilende Ding, so Meier wiederum in Berufung auf den Proportionalitätsgrundsatz, hat seine spezifische Größe, die einen entsprechend großen bzw. kleinen Geist für den Kritiker erfordert. Diese Größe kann im engeren Sinne physisch sein, beispielsweise wenn viele Teile zu einem Ganzen zusammenkommen; es kann sich aber auch um eine qualitative moralische Größe handeln, die »Würde« eines Gegenstandes, der der Kritiker angemessen gerecht werden muss. Gelingt ihm das, wird seine Kritik »fruchtbar«, womit dem unendlichen Strome der Nutzen der Weg geöfnet wird. Zu dem Ende muß, ein Kunstrichter, nicht nur viele Wissenschaften verstehen, und in dem gantzen Felde der Gelehrsamkeit kein Fremdling seyn, sondern auch die Welt kennen, damit er die Gegenstände dergestalt zu beurtheilen im Stande sey, daß sie durch seine Beurtheilung in die Verbesserung der Gelehrsamkeit, und des gemeinen Lebens einen Einfluß haben.42
33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
AK, S. 21; dem entspricht die »Ubertas« bei Baumgarten, vgl. dazu Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 29), S. 201. AK, S. 21. AK, S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 29f. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 38. »Quantitas« bzw. »dignitas« bei Baumgarten, vgl. dazu Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 29), S. 208. AK, S. 55.
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Wiederum wird also die Universalität der Kenntnisse, und zwar nicht nur in akademischer Hinsicht, als besondere Vollkommenheit gesehen: Der Kunstrichter sollte nicht nur möglichst verschiedene Wissenschaften kennen, sondern auch in einem allgemeinen Sinn über Lebenserfahrung verfügen – nur so kann er wirklich für das Leben fruchtbar werden. Seine abschreckenden Gegenbeispiele nimmt Meier hier deshalb zum einen aus der Alltagserfahrung: »Frauenzimmer« und »kleine Herren« beurteilten modische Details, als handele es sich um Staatsaffären43 –, zum anderen aber auch aus der akademischen Welt: Gelehrte, die sich nur mit den allergrößten Weltfragen beschäftigten, machten sich ebenso eines Verstoßes gegen den Proportionalitätsgrundsatz schuldig – und würden dadurch letztlich »unfruchtbar«. c) Klarheit44 Hier bezieht sich Meier auf die leibnizsche Systematik mit den polaren Kategorien von klarer vs. dunkler bzw. deutlicher vs. verworrener Erkenntnis. Zunächst macht Meier das auch in anderen Schriften wiederholte Zugeständnis,45 dass es »Vollkommenheiten« gebe, die vom Menschen prinzipiell »nicht anders als dunckel erkannt werden können«.46 Für die Kunstkritik im speziellen gilt die Klarheit als das größte Ideal, da Deutlichkeit in diesem Bereich nicht erreicht werden kann – kommt sie doch, systemkonform, nur der höheren Beurteilungskraft zu, während der niedere Geschmack niemals zu differenzierten Begriffen vordringen kann. Es ist jedoch entscheidend für den Kunstrichter, dass er niemals nur die höhere Beurteilungskraft zu Rate zieht, sondern den Geschmack immer beteiligt.47 Größere Klarheit erreicht er dabei sowohl durch den kombinierten Einsatz möglichst vieler verschiedener Einzelvermögen48 wie auch kontinuierliche Übung; das Ziel ist eine »erleuchtete Beurtheilungskraft«,49 wie sie beispielsweise Gottsched oder Baumgarten erreicht hätten.50
43 44 45
46 47 48 49 50
Vgl. ebd., S. 56. »Lux« bei Baumgarten; vgl. Alexander G. Baumgarten: Ästhetik / Aesthetica. Lateinisch-deutsch. Hg. v. Dagmar Mirbach. Hamburg 2013, Sectio XXXVII: Lux aesthetica. Die Begründung dafür liegt zwar eher in den beschränkten Erkenntnisfähigkeiten des Menschen; gleichwohl gibt es bei Meier auch skeptische Tendenzen. Zur Unterscheidung in einen »allgemeinen Zweifler« (Skeptiker) und den »besonderen« vgl. beispielsweise Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745, S. 144f. Vgl. AK, S. 84. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 97. Ebd., S. 101. Dass Baumgarten das faktische Vorbild für die Abbildung eines Kunstrichters ist, gibt Meier an dieser Stelle explizit zu (vgl. AK, S. 102); hingegen existiere für die Abbildung eines wahren Weltweisen kein Vorbild (vgl. Meier: Abbildung [s. Anm. 45], S. 198); nach Samuel Lange gibt sie »sein eigen Bild« (Lebens Meiers [s. Anm. 13], S. 120f.) wieder. Die Lichtmetapher wird in der Abbildung eines wahren Weltweisen noch deutlich ausgebaut: Verschiedene Lichter aus verschiedenen Vermögen stellen dort eine größere Vollkommenheit des Urteils her (Meier: Abbildung [s. Anm. 45], S. 97f.).
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d) Wahrheit51 Wahrheit wird, im Einklang mit der rationalistischen, rein formalen Wahrheitstheorie, im Wesentlichen durch die Richtigkeit der Beurteilung definiert, die sich aus der »Ordnung des mannigfaltigen einiger Sachen«52 zwangsläufig ergibt; als Kontrollmechanismen fungieren die Gesetze vom zureichenden Grund und der Widerspruchsfreiheit sowie die allgemeinen Regeln der Logik. Tatsächlich jedoch sei in Fragen des Geschmacks vollständige Wahrheit ebenso wenig zu erreichen wie Deutlichkeit der Beurteilung; es geht Meier auch hier nur darum, sich einem Ideal weitest möglich, aber immer proportional zur Sache selbst anzunähern und dabei die erreichbaren Grade und »verschiedenen Stuffen«53 der Wahrheit im Blick zu behalten. An dieser Stelle wird Meier besonders ausführlich in der Beschreibung der Fehlleistungen, die sich aus Verstößen gegen diese Grundsätze ergäben: Mögliche Quellen der verbreiteten Irrtümer der Kunstrichter seien falsche Begriffe und »falsche Vorurteile« – es gibt allerdings auch wahre54 –, die Übereilung im Urteil, die Überschätzung wahlweise des Neuen bzw. Alten auf Kosten des jeweils anderen; »Egotismus«, Rechthaberei, Widerspruchsgeist und ganz allgemein zu große Leidenschaftlichkeit – was Meier angesichts der allgemeinen Erfahrung zu dem Schluss führt, dass »wo nicht alle, doch die meisten Kunstrichter Egotisten sind«55 und es überhaupt »iederzeit der sicherste Weg« sei, wenn man bei der Beurteilung »dem größten Hauffen« widerspreche.56 e) Gewissheit57 Die Gewissheit ist eng mit der Wahrheit verbunden; sie ist sozusagen ihre zwangsläufige Folge im Subjekt, wenn eine Wahrheit »klar« erkannt wird, hat aber ebenso wie die Wahrheit ihre Grade und Stufen: Völlig gewiss können nur Vernunftwahrheiten erkannt werden, während moralischen Wahrheiten bestenfalls Wahrscheinlichkeit zukommt und Wahrheiten des Geschmacks Plausibilität.58 Am besten für die Kunstrichterei ist es auch hier, wenn alle Arten von Gewissheit miteinander verbunden auftreten. Selbst bei völliger vernünftiger Gewissheit sollte der Kunstrichter jedoch keine diktatorischen »Machtsprüche«59 fällen und auch nicht mit allen Mitteln der rhetorischen Kunst auf Überredung setzen, sondern durch seine »schöne und reitzende Art«60 der Darstellung überzeugen. Allerdings kommt hier das System ein wenig ins 51 52 53 54 55 56
57 58 59
60
»Veritas« bei Baumgarten, vgl. Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 29), S. 213. AK, S. 111. Ebd., S. 109. Vgl. AK, S. 117. Ebd., S. 120. Ebd., S. 130. Entsprechend pessimistisch eingefärbt ist auch Meiers Menschenbild in dieser Schrift: »Man muß es zur Schande der Menschheit sagen, daß wenn man einen Menschen nennt, man, in den meisten Fällen, ein Thier dencken muß, welches von seinen Leidenschaften maschinenmäßig getrieben wird« (AK, S. 125f.). »Certitudo« bei Baumgarten, vgl. Pozzo: Meiers »Vernunftlehre« (s. Anm. 29), S. 225. Vgl. AK, S. 136. Vgl. ebd., S. 145. Die Gefahren bestehen hier vor allem in der »Demonstrirsucht« (AK, S. 153); als Beispiel aus dem gemeinen Leben werden die Unvernünftigkeiten in der Frauenmode angeführt, gegen die alle logische Demonstration nichts helfe (vgl. ebd., S. 147). Ebd., S. 141.
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Wanken. Denn zum einen beharrt Meier im Sinne der rationalistischen Vermögenslehre darauf, dass der Geschmack als unteres Beurteilungsvermögen im Falle abweichender Urteile von der Vernunft diszipliniert werden müsse: »Er muß ihn als einen Rebellen betrachten, der ohne Vernunft, den Ansprüchen seines Oberherren, widerspricht«; das gleiche gelte jedoch, überraschenderweise, »auch in dem entgegengesetzten Falle«.61 Zudem sei der Geschmack notwendig in gewissem Maße subjektiv, auch wenn das nicht generell die alte Floskel de gustibus non est disputandum rechtfertige, die gern für völlig unsinnige Geschmacksurteile missbraucht werde.62 Tatsächlich sei es nämlich durchaus möglich, dass eine Sache gleichzeitig schön und hässlich ist – zumindest in einzelnen Teilen und für verschiedene Betrachter.63 f) Lebendigkeit64 Unter der »Lebendigkeit« versteht Meier die sinnlichen Wirkungen des Urteils auf Gefühle und Willen, die für ihn absolut notwendig sind: Ein reines Vernunfturteil wäre matt und tot; nur Urteile, die Vergnügen machen, Emotionen auslösen65 und damit zu Handlungen veranlassen, erreichen reale Wirkungen.66 Das begründet Meier mit einem apodiktischen Satz aus der Erfahrung, nicht aus der Vernunftlehre: »Die Erfahrung lehrt, daß die sinnlichen Vorstellungen bey uns, wenn das übrige gleich ist, lebendiger sind, als die deutlichen«.67 Auch hier gelte selbstverständlich das Gesetz der Proportionalität: Weder sollten zu starke noch zu grobe Gefühle ausgelöst werden. Bewahre man aber das rechte Maß, hat die richtig betriebene Kunstrichterei sogar eine therapeutische Wirkung: Sie hält den Kunstrichter selbst »lebendig und geschäftig« und verhindert melancholische Anwandlungen.68 g) Leichtigkeit Diese Kategorie führt Meier für die Kritik neu ein; sie ergibt sich offensichtlich aus pragmatischen Erwägungen. Die Kritik soll dem Kunstrichter leicht von der Hand gehen – sonst hat er offensichtlich seinen Beruf verfehlt; das erreicht man durch Zeit und Übung vor allem der ein-
61 62 63 64 65 66
67 68
Ebd., S. 147. Als Begründung dafür führt Meier an: »Alle Kunstrichter haben verschiedene Gebiethe; verschiedene Pflichten, und befinden sich in verschiedenen Umständen« (ebd., S. 152). »Kan es sich allerdings zutragen, daß der eine an einem Dinge eine Schönheit gewahr wird, und der andere eine Häßlichkeit, und sie haben alle beyde Recht.« (AK, S. 148). »Vita cognitionis aesthetica« bei Baumgarten (Ästhetik [s. Anm. 44], Sectio I, § 22). »Durch diesen Zug bekomt, das Bild eines Kunstrichters, eine Schönheit, welche rührt und bewegt« (AK, S. 155). Ganz parallel heißt es auch in der Abbildung eines wahren Weltweisen (s. Anm. 45), S. 159: »Ein Weltweiser der die philosophischen Wahrheiten nicht lebendig erkennt, ist nur ein halber Weltweiser«. Alle philosophischen Wahrheiten sind nach Meier praktisch, sonst sind sie keine (vgl. ebd., S. 161). Deshalb machen sie auch dem wahren Weltweisen ein »ungemein starckes, aber proportionirtes Vergnügen« (S. 164). Entsprechend heißt es im Auszug aus der Vernunftlehre (s. Anm. 31), S. 65: »Das Practische in der gelehrten Erfahrung wird nur durch das Leben würklich practisch.«. AK, S. 160. Ebd., S. 165.
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schlägigen Vermögen von Witz und Scharfsinn sowie »Reflexion und Comparation«.69 Das gleiche gilt für den Vortrag selbst, sei er schriftlich oder mündlich, der »geschickt« sein muss und weder gegen die Regeln der Vernunftlehre noch die der Sittenlehre noch die der Rhetorik und Poetik verstoßen darf. Den Schlussteil der Schrift bilden ergänzende Bestimmungen des »Characters eines Kunstrichters«, von denen Meier zugibt, sie einfach nicht systematisch untergebracht zu haben.70 Besonders interessant erscheint mir Meiers hier vorgetragenes Konzept des »critischen Gleichgewichts«, das sozusagen eine Variante des leibnizschen Gedankens von der besten aller möglichen Welten ist und versucht, die konfliktträchtigen Auswüchse einer notwendig in gewissem Maße subjektiven Kunstrichterei wieder harmonistisch einzufangen: Durch die natürliche Verschiedenheit der Geschmäcker entsteht nämlich nach Meier ein ständiger Krieg, der aber notwendig ist, um die kritische Welt im Gleichgewicht zu erhalten: »Der allgemeine Friede würde die Kunstrichter zu sicher machen«.71 Anthropologisch bemerkenswert sind überdies seine teilweise geradezu rührend lebensnahen Überlegungen zur Entwicklung der kritischen Kompetenzen über die Lebenszeit: Wie verhält sich der Kunstrichter, der den »Wendezirckel seines Lebens«72 überschritten hat?73 Ganz am Ende allerdings schert Meier doch wieder ins System ein, indem er die sittlichen Aspekte des Kunstrichteramts noch einmal hierarchisch gegliedert aufführt. Der moralisch korrekte Kunstrichter dient natürlich an erster Stelle der Verherrlichung der Ehre Gottes, an zweiter der »Vollkommenheit der Welt, des gantzen menschlichen Geschlechts, und eines gantzen Volcks«74 – hier findet sich also der patriotische Aspekt wieder. An dritter Stelle kommt immerhin die eigene Vollkommenheit, bevor erst an vierter Stelle die Vollkommenheit der zu beurteilenden Gegenstände folgt – also der Kunstwerke und Künstler ebenso wie der Gegenstände des gemeinen Lebens.
4. Innovative Aspekte: Proportionalität, Anthropologisierung und Subjektivierung Damit ist die »Proceßordnung der Critik«75 – so Meier abschließend zu seiner Abhandlung – abgeschlossen. Unabhängig von der Frage, ob damit ein zukunftsfähiges Konzept von Kunstkritik entworfen ist – die von der Geschichte eher negativ beantwortet wurde –, zeigt die Abbildung 69 70
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Ebd., S. 176. Die genaue Formulierung lautet: »die ich nicht füglich und natürlich genug, in den Zusammenhang meiner vorhergehenden Gedancken, habe einflechten können« (AK, S. 183); die beinahe identische Formulierung findet sich auch in der Abbildung eines wahren Weltweisen ([s. Anm. 45], S. 181). Dazu gehören die »critische Gerechtigkeit« (AK, S. 184) und die »critische Billigkeit« (ebd., S. 193), die »critische Freyheit« (ebd., S. 206) und Überlegungen zu »critischen Secten« (ebd., S. 208). Ebd., S. 205. Ebd., S. 217. Vgl. auch die Abbildung eines wahren Weltweisen (s. Anm. 45), S. 195. AK, S. 221. Ebd., S. 223.
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immerhin einige über die baumgartensche Metaphysik und Ästhetik hinausweisende Aspekte. Prinzipiell folgt Meier den Vorgaben von höherer Vernunftlehre und niederer Ästhetik vor allem im Blick auf die grundlegenden Definitionen seiner Begriffe, die Grundstruktur der Argumentation und den Aufbau der Abhandlung; ebenso in der Einbindung des Ganzen in ein geschlossenes metaphysisches bzw. moralisches System, das harmonistisch von der besten aller möglichen Welten auch im Blick auf die Kritik ausgeht und den Kunstrichter auf die Verfolgung ontologisch streng vorgegebener Vollkommenheiten verpflichtet. Indem Meier seine Theorie jedoch zum einen vor dem durchaus realen Hintergrund der historischen wie aktuellen Kunstkritik mit ihren Streitigkeiten und Auswüchsen situiert und zum anderen auf Phänomene des »gemeinen Lebens« ausweitet, wird die Theorie einem etwas härteren Praxis-Check unterzogen (dazu tragen auch die eingestreuten Beispiele wesentlich bei). Dabei ergibt sich eine Reihe von Akzentverschiebungen und Relativierungen im Blick auf die »reine« Theorie: (1) Die teilweise bis ins Kleinste durchexerzierte Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes in den verschiedenen Vollkommenheitskategorien führt zu einer kontinuierlichen Abschwächung jeglicher absolut vertretener Werte und Regeln. Wichtig werden Dinge wie Grade und Stufen, Wahrscheinlichkeit und Plausibilität, Abwägung von Schaden und Nutzen in individuellen Fällen, Berücksichtigung von subjektiven Umständen und Eigenheiten. Die rationalistische Psychologie wird dabei gleichsam von innen heraus skeptisch ›angekränkelt‹: Wie subjektiv sind Geschmacksurteile genau? Wie kann die Vernunft gleichzeitig der tyrannische Aufseher und der solidarische Gefährte des Geschmacks sein? Was hat es für Konsequenzen für die deutliche philosophische Erkenntnis in Begriffen, wenn die Vollkommenheiten der klaren Erkenntnis eigentlich anthropologisch stärker verankert sind und ihr praktischer Anwendungsbereich deutlich größer, fruchtbare Erkenntnisse also letztlich wichtiger sind als nur richtige?76 All diese Überlegungen spielen später auch eine wichtige Rolle in der Vernunftlehre, haben sich aber möglicherweise aus den vorgeordneten Überlegungen zur Kritik mit ihrem breiten Realitätsbezug ergeben. (2) Der allgemeine Primat der Praxis gegenüber der Theorie ist bei Baumgarten schon vorbereitet, wird hier aber durch die Hochschätzung der Kategorien der Lebendigkeit und Fruchtbarkeit besonders verstärkt; diese gewichtigen Eigenschaften werden der theoretischen Erkenntnis zudem geradezu kategorisch abgesprochen. Meier bewegt sich damit nicht nur im Kontext einer »Aufwertung der Sinnlichkeit«, sondern auch (zumindest ein paar Schritte weit) in Richtung auf eine Anthropologie des »ganzen Menschen«. Insofern wäre Schiller von Meier aus durchaus zu widersprechen: Wenn im Kunstrichter mit seiner Beurteilungskraft ein synthetisches Vermögen wirksam wird, das aus gleichermaßen höheren wie niederen, vernünftigen wie sinnlichen und emotionalen Komponenten besteht, geht es nicht nur um technische Details und einzelne Fertigkeiten, die im »Schweiße des Angesichts« ausgeübt werden, sondern um ein in einem langen
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Vgl. dazu auch die Einleitung von Mirjam Reischert im Neudruck der Abbildung eines wahren Weltweisen. Hildesheim, Zürich, New York 2007, S. XXX.
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Prozess der akademischen und lebensweltlichen Bildung erworbenes, ganzheitliches Urteil eines ganzen Menschen über die ganze Welt.77 (3) Besonders bemerkenswert erscheint mir schließlich Meiers vielleicht gewagtester Punkt, nämlich die Ausweitung der Kunstrichterei auf das »gemeine Leben«. Letztlich wird hier deutlich, dass es ihm eben nicht um die Entstehung eines spezialisierten Rezensionswesens geht, sondern um eine Kritik der Urteilskraft als umfassendes synthetisches Vermögen. Im Beurteilen wird die Weltweisheit notwendig praktisch, da sich Urteile – jedenfalls sofern sie über analytische Schlüsse hinausgehen – immer auf konkrete Gegenstände und Sachverhalte in all ihrer lebensweltlichen oder künstlerischen Komplexität beziehen. Diese Komplexität spiegelt sich in den komplizierten individuellen und fallbezogenen Abwägungsprozessen, zwischen denen sich die Urteilskraft im Einsatz verschiedener Einzelvermögen mit verschiedenen Vorzügen und Nachteilen zur gleichen Zeit bewegt. Das Argument weitet Meier in der nicht nur parallel erschienenen, sondern auch parallel strukturierten Abbildung eines wahren Weltweisen noch aus, indem er einen subjektiven Zugang zur Erkenntnis nicht als Hindernis, sondern geradezu als unentbehrliche Voraussetzung allen »lebendigen« Wissens sieht: Da nun ein wahrer Weltweiser, die lebendigste Erkenntniß der philosophischen Wahrheiten, sucht […] so beschäftiget er sich, vornehmlich und am meisten, mit denjenigen Theilen der Weltweisheit, und mit denen Wahrheiten, die anthropologisch sind, die ihm eine genaue Selbsterkenntniß verschaffen […]. Ja, ein rechtschaffener Weltweiser setzt alle philosophische Wahrheiten, die er untersucht, in eine Verhältniß gegen sich, und sucht an ihnen insgesamt Theil zu nehmen, so viel es möglich ist.78
Mit einem solchen ›weltweisen‹ Kunstrichter hätte wohl auch Schiller keine Probleme mehr gehabt.
77
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Eine noch deutlichere Formulierung findet sich in der Abbildung eines wahren Weltweisen (s. Anm. 45, S. 98): »Seltsame Weltweisen! die ihr nach einem reinen Verstande strebt, und nichts als Geist seyn wolt. Ihr verbessert den geistigen Theil eurer Seele, und versäumt den untern, sinnlichen, und thierischen gantz und gar. Was habt ihr vor Vortheile? Ihr werdet Mißgeburten, die einen so ungeheuren Kopf haben, daß der übrige Körper nur ein Anhang desselben zu seyn scheint.«. Dabei helfen dem »wahren Weltweisen« vor allem die »schönen Wissenschaften«. »Er ist ein Poet und Redner, wenigstens der Theorie nach, und versteht die schönen Wissenschaften« (ebd., S. 98f.). Ebd., S. 166.
HANS-PETER NOWITZKI
Von den Seelen der Tiere und ihren Sprachen Johann Jakob Plitts Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere
Dieß All ist Gottes Werk, nach seines Wesens Flüssen, Nachbildend ausgeschmückt, gemacht ihn zu genießen. Dieß ist der hohe Zweck, nach welchem alles strebt.1
1. Was wollen wir denn mit so viel unsterblichen Seelen? »Schon als Thier, hat der Mensch Sprache«,2 so die gnomisch-provokante Hypothese Johann Gottfried Herders in seiner Ende des Jahres 1770 der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres zur Beurteilung vorgelegten, zwei Jahre darauf publizierten akademischen Preisschrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Er verweist mit der bedacht als Auftakt gewählten, Irritationen bezweckenden Formulierung auf die philosophische und theologische Tragweite der Thematik. Natürlich meint er, bereits die so genannte tierische Ökonomie des Menschen verfüge über die Voraussetzungen für eine tierische Kommunikation. Mit dem Menschsein jedoch komme eine weitere, dieser Spezies eigentümliche Sprachdimension hinzu, die sich von denen der Tiere fundamental unterscheide. Herder knüpft damit an eine Diskussion an, die, obschon seit der Antike geführt, von Descartes im Jahre 1637 mit der Abhandlung Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences aufs Neue angestoßen worden war. Es waren die philosophischen und theologischen Voraussetzungen und Konsequenzen der methodischen Festlegungen Descartes’ vor allem, die die kommenden anderthalb Jahrhunderte beschäftigten sollten, ja im Grunde genommen die Wissenschaft noch heute beschäftigen. Die Meier-Plitt-Kontroverse aus den Jahren 1748/49 bildet den Stand der deutschen Diskussion in der Schulphilosophie wolff-baumgartenscher Prägung ab, in zeitlicher Parallele zu den Lösungsangeboten u. a. des condillacschen Sensualismus, dessen Programmschriften Essai sur 1
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[Christoph Martin Wieland] Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, und Mitgliedes der königl. preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Halle [1751, vordatiert auf] 1752, S. 147; Christoph Martin Wieland: Die Natur der Dinge in sechs Büchern. In: Wielands Gesammelte Schriften. Hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. Erster Band. Poetische Jugendwerke. Erster Theil. Hg. von Fritz Homeyer. Berlin 1909, S. 5–129, hier S. 117: 6, 7–9 (künftig: AA I/1, Seitenzahl: Gesang, Vers). Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. Von Herrn Herder. Auf Befehl der Academie herausgegeben. Berlin 1772, S. 3.
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l’origine des connoissances humaines im Jahre 1746 und Traité des animaux mit dem vierten Kapitel des zweiten Teils, Du langage des animaux überschrieben, im Jahre 1755 erschienen. Mit Descartes’ Unterscheidung von res extensa und res cogitans wurde zugleich die aristotelisch-scholastische, funktional bestimmte und triadisch strukturierte Seelenlehre3 verabschiedet, die die Seele auf die Geistseele reduziert und in Gänze der res cogitans zugeschlägt. Damit ging die Einebnung des Unterschiedes von anorganischer und organischer Materie sowie die Eliminierung organisch-unbewusster Wesen einher. Fortan wurde das herkömmlicherweise der anima vegetativa und sensitiva überantwortete Organische komplett dem Mechanischen zugewiesen, was unmittelbar in die Konzeption des Tierautomaten mündete. ›Sprache‹ ist Descartes’ dualistischer Substanzenmetaphysik zufolge Ausdruck des Geistigen, Ausfluss des Verstandes (raison). Da allein der Mensch als homo duplex neben dem Körperlichen zudem über Geistiges verfüge, sei er auch als der einzig Sprachbegabte im Reich des Organischen anzusehen.4 Im Discours de la méthode von 1637, wo er mit dem Problem ringt, woran man erkennen könne, ob es sich um einen Automaten oder um einen menschlichen, d. h. beseelten Körper handelt,5 macht er zwei Kriterien namhaft: Das erste ist, daß sie [die Tiermaschine resp. -automat] niemals Worte oder andere von ihnen gemachte Zeichen würden brauchen können, wie wir tun, um anderen unsere Gedanken mitzuteilen. Denn es läßt sich wohl begreifen, wie eine Maschine so eingerichtet ist, daß sie Worte hervorbringt und sogar bei Gelegenheit körperlicher Handlungen, die irgendeine Veränderung in ihren Organen verursachen, einige Worte ausstößt, wie beispielsweise, wenn man sie an irgendeiner Stelle berührt, daß sie frägt, was man ihr sagen wolle; wenn man sie anderswo anfaßt, daß sie schreit, man tue ihr weh, und ähnliche Dinge; nicht aber, daß sie auf verschiedene Art die Worte ordnet, um dem Sinn alles dessen zu entsprechen, was in ihrer Gegenwart laut wird, wie es doch die stumpfesten Menschen vermögen. Und das zweite ist, daß, wenn sie auch viele Dinge ebensogut oder vielleicht besser als einer von uns machten, sie doch unausbleiblich in einigen anderen fehlen und dadurch zeigen würden, daß sie nicht nach Einsicht, sondern lediglich nach der Disposition ihrer Organe handeln. Denn während die Vernunft ein Universalinstrument ist, das in allen möglichen Fällen dient, müssen diese Organe für jede besondere Handlung eine besondere Disposition haben, und deshalb ist es moralisch [hier im Sinne von ›praktisch‹] unmöglich, daß in einer Maschine verschiedene Organe genug sind, um sie in allen Lebensfällen so handeln zu lassen, wie unsere Vernunft uns zu handeln befähigt.6 3
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Traditionell unterschied man (a) θρεπτικὴ ψυχή, anima vegetativa, Nährseele (Wachstum, Ernährung, Reife, Verfall), (b) αἰσθητική ψυχή, anima sensitiva, Sinnesseele (Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen) und (c) νοῦς, anima rationalis, Geistseele (Verstand, Vernunft) (Aristot. an. 2, 2–4); dazu Hubertus Busche: Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche. Hamburg 2001. Vgl. auch Descartes au Marquis de Newcastle (Egmond, 23. November 1646). In: Oeuvres de Descartes. Correspondance IV. Juillet 1643–Avril 1647. Publiée par Charles Adam et Paul Tannery. Paris 1901, pp. 569–577, hier p. 573. Discours de la Methode Pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les sciences. Plus La Dioptriqve. Les Meteores. Et La Geometrie. Qui sont des essais de cete Methode. A Leyde de l’Imprimerie de Ian Maire. M DC XXXVII. Auec Priuilege, Cinquième Partie, pp. 56–60. Dt. René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Ins Deutsche übertragen von Kuno Fischer. Fünftes Kapitel. Stuttgart 1993, S. 52–56. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 53; Descartes: Discours (s. Anm. 5), p. 57: »Dont le premier est que iamais elles ne pourroient vser de paroles, ny d’autres signes en les composant, comme nous faisons pour declarer aux autres nos pensées. Car on [corr. ou] peut bien conceuoir, qu’vne machine soit tellement faite qu’elle profere des paroles, & mesme qu’elle en profere quelques vnes à propos des actions corporelles qui causeront quelque changement en ses organes: Comme si on la touche en
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Mithilfe der beiden Kriterien sei man stets in der Lage zu entscheiden, ob etwas Tier oder Mensch ist. Descartes’ Sprachenargument insistiert auf die Unterscheidung von Imitat und Signifikant. Papageien imitierten ohne mentales Korrelat, Menschen sprächen mittels Zeichen als Ausdruck mentaler Gegebenheiten. Die damit angesprochene Intentionalität der Lautäußerung erweist sich so als ein anthropologisches Kriterium. Die Lautäußerungen der Tiere seien lediglich Vokalisationen von Automaten. Ausschlaggebend hierfür seien nicht die unterschiedlichen anatomisch-physiologischen Gegebenheiten, denn Spechte und Papageien könnten ebenso gut Worte hervorbringen, nur eben ›reden‹ könnten sie nicht, d. h. ihren Lautäußerungen entsprechen keine mentalen Korrelate.7 Dies beweise nicht bloß, »daß die Tiere weniger Vernunft als die Menschen, sondern daß sie gar keine haben«.8 Jene seelenmetaphysische Distinktion sei Descartes zufolge deshalb überaus wichtig, weil es – sieht man einmal vom Atheismus ab – eben gerade jene Annahme sei (wonach »die Seele der Tiere mit der unsrigen wesensgleich [sei],
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quelque endroit, qu’elle demande ce qu’on luy veut dire; si en vn autre, qu’elle crie qu’on luy fait mal, & choses semblables: Mais non pas qu’elle les arrenge diuersement, pour respondre au sens de tout ce qui se dira en sa presence, ainsi que les hommes les plus hebetez peuuent faire. Et le second est, que bienqu’elles fissent plusieurs choses, aussy bien, ou peutestre mieux, qu’aucun de nous, elles manqueroient infalliblement en quelques autres, par lesquelles on découuriroit qu’elles n’agiroient pas par connoissance, mais seulement par la disposition de leurs organes: Car au lieu que la raison est vn instrument vniuersel, qui peut seruir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particuliere disposition pour chasque action particuliere; d’où vient qu’il est moralement impossible, qu’il y en ait asséz de diuers en vne machine, pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie, de mesme façon que nostre raison nous fait agir.« Ebd., p. 85: »& toutefois [les pies et les perroquets] ne peuuent parler ainsi que nous, c’est a dire, en tesmoignant qu’ils pensent ce qu’ils disent«. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 54: »und doch können sie [die Spechte und die Papageien] nicht ebensogut wie wir reden, das heißt zugleich bezeugen, daß sie denken, was sie sagen«. Descartes: Discours (s. Anm. 5), p. 58: »que les bestes ont moins de raison que les hommes, mais qu’elles n’en ont point du tout«. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 54. Vgl. auch Descartes au Marquis de Newcastle (Egmond, 23. November 1646): »Car, bien que Montagne & Charon ayent dit qu’il y a plus de difference d’homme à homme, que d’homme à beste, il ne s’est toutesfois iamais trouué aucune beste si parfaite, qu’elle ait vsé de quelque signe, pour faire entendre à d’autres animaux quelque chose qui n’eust point de rapport à ses passions; & il n’y a point d’homme si imparfait, qu’il n’en vse; en sorte que ceux qui sont sours & muets, inuentent des signes particuliers, par lesquels ils expriment leurs pensées. Ce qui me semble vn très-fort argument, pour prouuer que ce qui fait que les bestes ne parlent point comme nous, est qu’elles n’ont aucune pensée, & non point que les organes leur manquent. Et on ne peut dire qu’elles parlent entr’elles, mais que nous ne les entendons pas; car, comme les chiens & quelques autres animaux nous expriment leurs passions, ils nous exprimeroient aussi bien leurs pensées, s’ils en auoient« (Œuvres de Descartes. Correspondance IV. Juillet 1643–Avril 1647 [s. Anm. 4], pp. 569–577, hier p. 575); »Denn obgleich Montaigne und Charon behauptet haben, daß es von Mensch zu Mensch größere Unterschiede gebe als von Mensch zu Tier, so ist doch niemals ein so vollkommenes Tier gefunden worden, das sich irgendeines Zeichens bedient hat, um anderen Tieren etwas verständlich zu machen, was keine Beziehung zu seinen Gefühlen hat; und es gibt keinen so unvollkommenen Menschen, der sich deren nicht bedient, sodaß die Tauben und Stummen besondere Zeichen erfinden, mit denen sie ihre Gedanken ausdrücken. Das scheint mir ein sehr starkes Argument für den Beweis zu sein, daß die Tiere deswegen nicht wie wir sprechen, weil sie keinerlei Gedanken haben, nicht aber, weil ihnen nur die Organe fehlen. Und man kann nicht sagen, daß sie untereinander sprechen, wir sie aber nicht verstehen; denn wie die Hunde und einige andere Tiere uns ihre Gefühle ausdrücken, würden sie uns ebenso gut ihre Gedanken ausdrücken, wenn sie welche hätten.« (René Descartes: Briefe 1629–1650. Hg. von Max Bense. Köln, Krefeld 1949, S. 363–368, hier S. 367).
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und wir daher nach diesem Leben nichts zu fürchten noch zu hoffen [hätten], nicht mehr als die Fliegen und die Ameisen«9), die schwache Gemüter am leichtesten »vom rechten Wege der Tugend« führen könne. Im Gegensatz zu den sterblichen und verweslichen Körpern der Tierautomaten stürben die vom Körper vollkommen unabhängigen Menschenseelen nicht mit diesem, sondern seien unsterblich.10 Auch beschränke sich das ›Denken‹ darüber hinaus nicht nur auf das Erkennen, Wollen, Einbilden, sondern begreife das Empfinden mit ein.11 Damit glaubt Descartes aber nur bewiesen zu haben, dass es unbeweisbar sei, dass Tiere denken, da alle tierischen Funktionen mechanisch erklärbar seien. Über den negativen Beweisgang hinaus jedoch, räumt er ein, sei ein positiver Beweis, dass Tiere nicht denken, nicht führbar.12 Dem entgegenstehende philosophische Konzeptionen wie der Sensualismus, vertreten etwa von Gassendi, La Fontaine und Condillac, gehen von der Existenz tierischer Intelligenzen aus und fassen deren Unterschied zu den menschlichen als einen nur graduellen auf, was es ihnen gerechtfertigt erscheinen lässt, ihnen auch durchaus eigene Sprachen (langages des bêtes) zuzugestehen. Auf derlei tierische (zoosemiotische) Kommunikationsformen merkte man in der Folge immer dann auf, wenn es darum ging, das spezifisch Menschliche vom übrigen Bereich des Organischen abzugrenzen. »Man will behaupten«, lässt sich der königlich-preußische Zensor Johann Peter Süßmilch im Anhang seiner Sprachursprungsschrift von 1766 vernehmen, »daß die Thiere eben so wie die Menschen sprechen sollen. Man will sie dadurch auch eben so vernünftig wie die Menschen machen und dadurch allen Unterscheid auch in Absicht der Bestimmung zwischen Menschen 9
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Descartes: Discours (s. Anm. 5), p. 60: »il n’y en a point qui esloigne plutost les esprits foibles du droit chemin de la vertu, que d’imaginer que l’ame des bestes soit de mesme nature que la nostre, & que par consequent nous n’auons rien à craindre, ny à esperer, après cete vie, non plus que les mousches & les fourmis«. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 55. Discours (s. Anm. 5), p. 60: »que la nostre est d’vne nature entierement independante du cors, & par consequent qu’elle n’est point suiette à mourir auec luy: puis d’autant qu’on ne voit point d’autres causes qui la destruisent, on est naturellement porté à juger de là qu’elle est immortelle«. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 56. Renati Des-Cartes Principia Philosophiæ. Amstelodami, Apud Ludovicum Elzevirium, Anno M DC XLIV. Cum Privilegiis, p. 3 [§] IX: »Cogitationis nomine, intelligo illa omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est: Atque ita non modò intelligere, velle, imaginari, sed etiam sentire, idem est hîc quod cogitare«; »Unter der Bezeichnung ›Denken‹ verstehe ich alles, was auf bewußte Weise in uns geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu unserem Bewußtsein gehört. Deshalb ist nicht nur Einsehen, Wollen, Vorstellen, sondern sogar Empfinden hier dasselbe wie Denken.« (René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch–Deutsch. Übersetzt u. hg von Christian Wohlers. Hamburg 2005, S. 17). Descartes au Henricus Morus (Egmond, 5. Februar 1649). In: Œuvres de Descartes. Correspondance V. Mai 1647–Février 1650. Publiées par Charles Adam et Paul Tannery. Paris 1903, pp. 267–279, hier p. 276 seq.: »Quamuis autem pro demonstrato habeam, probari non posse aliquam esse in brutis cogitationem, non ideò puto posse demonstrari nullam esse, quia mens humana illorum corda non peruadit. [...] non sit tam probabile omnes vermes, culices, erucas, et reliqua animalia immortali anima praedita esse, quam machinarum instar se movere«; »Obwohl ich für bewiesen halte, daß es unbeweisbar ist, daß Tiere denken, glaube ich deshalb doch nicht, es sei beweisbar, daß die Tiere nicht denken. Denn das Herz der Tiere bleibt dem menschlichen Geist verschlossen. [...] es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß alle Würmer, Mücken, Raupen und die übrigen Tiere sich auf rein mechanische Weise bewegen, als daß sie eine unsterbliche Seele haben« (Die Vernunft der Tiere. Hg. von Hans-Peter Schütt. Frankfurt a. M. 1990, S. 106).
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und Thieren aufheben und sodann dadurch weiter die Unsterblichkeit des Menschen, wegen der vollkommenen Gleichheit mit dem Vieh, aufheben«.13 In der Folge wäre eine gänzliche Neubestimmung des ontologischen, ethischen und theologischen Status des Menschen notwendig. Süßmilch verweigert sich dem; ihm ist die Sprache die vom Schöpfer zwischen Tier und Mensch gezogene »Grenzscheidung«, die »grosse Scheidewand«.14 Die Tiersprachen drohen die herkömmlichen Ordnungsmuster zu unterminieren und ins Wanken zu bringen: Entweder wird das Tierische durch die Annahme einer der Menschenseele ähnlichen Tierseele aufgewertet, was eine Herabstimmung der Menschenseele bedeuten würde, oder aber dem Tier wird Seelisches in Gänze abgesprochen und das Tierische ausschließlich dem Bereich des Materiellen zugewiesen. Damit würden aber auch all diejenigen Vermögen, die das Tier mit der Seele des Menschen eint, als mechanische diskreditiert, was ebenfalls eine Abwertung der Menschenseele zur Folge hätte. Damit stößt die Tiersprachen-Frage in fundamentale anthropologische und theologische Bezirke des Selbstverständnisses vor. Die Dynamisierung der philosophisch15 und theologisch begründeten und statisch aufgefassten Seinsstufenordnung (scala naturae)16 zeitigt fatale Folgen, wie Bayle ausführt: Es seien vor allem »die Gottlosen bestreb[t], die Thiere der Vollkommenheit des Menschen zu nähern«, mit der Konsequenz, dass Eigenschaften Gottes wie (Eigen-)Liebe, Beständigkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit17 zur Disposition stünden, so dass also Kernbestände des christlichen Gottes- und Weltverständnisses, der Schöpfungslehre, der ›gefallenen‹, ›versöhnten‹ und ›vollendeten Welt‹ (Hamartiologie, Soteriologie und Eschatologie) einer grundlegenden Neukonzeption bedürften. Aus der Gleichsetzung von Tier- und Menschenseele folgt zudem, daß, wenn ihre Seelen materialisch und sterblich sind, es die Seelen der Menschen auch sind, und daß, wenn die Seele des Menschen ein geistiges und unsterbliches Wesen ist, es die Seele der Thiere auch sey. Entsetzliche Folgerungen, man mag sich auf eine Seite wenden, zu welcher man will; denn setzet man, die Unsterblichkeit der Seele der Thiere zu vermeiden, voraus, daß die Seele des Menschen mit dem Körper stirbt, so stößt man die Lehre von einem zukünftigen Leben um, und untergräbt die Grundfesten der Religion. Will man aber, um unserer Seele das Vorrecht der Unsterblichkeit zu erhalten, dasselbe auch bis auf der Thiere ihre ausdehnen, in was für Abgründe befindet man sich nicht? was wollen wir denn mit so viel unsterblichen Seelen machen? Wird denn für dieselben auch ein Paradies und eine Hölle seyn? werden sie aus einem Körper in einen andern gehen? werden sie auch nach dem Maße, wie die Thiere sterben, vernichtet werden? Wird Gott unaufhörlich eine unzählige Menge Geister schaffen, um sie so bald darauf wieder in das Nichts zu versenken?18 13
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Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben von Johann Peter Süßmilch, Mitglied der Königl. Preußischen Academie der Wissenschaften. Berlin, zu finden im Buchladen der Realschule. 1766, S. 99–104: I. Anhang. Kurze Betrachtung von der Sprache der Thiere, hier S. 99. Ebd., S. 104. Vgl. Aristot. pol. 1256b. Vgl. dazu Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M. 1993. Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; Mit des berühmten Freyherrn von Leibnitz, und Herrn Maturin Veissiere la Croze, auch verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen wie auch einigen Zugaben versehen, von Johann Christoph Gottscheden. Vierter und letzter Theil. Q bis Z. Mit einem vollständigen Register über alle vier Theile. Mit Röm. Kaiserl. auch Königl. und Chursächs. allergnädigster Freyheit. Leipzig, 1744, Sp. 78a–94b: Art. ›Rorarius‹, hier Sp. 79b. Ebd., Sp. 82b.
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Vier Quellen vor allem waren es, aus denen sich im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert die Tierseelen- resp. Tiersprachendebatte, Brennspiegel der zeitgenössischen anthropologischen Diskussion, speiste: (1) aus der literarischen Fabeltradition eines Aisopos, Phaidros und La Fontaine, (2) dem naturwissenschaftlich-biologischen Diskurs, wie er von den Präformisten und Epigenetikern gepflegt wurde und u. a. um die Frage der Konstanz oder Veränderlichkeit der Arten kreiste, (3) der theologischen Diskussion, in der die einen vehement die Primordialität bzw. Superiorität des Humanen im Vergleich zum Animalischen verteidigten, während die anderen den Anthropozentrismus geißelten, den Theozentrismus reprintisierten und mehr Demut einklagten, und schließlich (4) dem philosophischen Diskurs, den u. a. das Problem beschäftigte, ob und inwiefern die mechanistisch-materialistische Erklärung der Tierseelenfunktionen nicht tendenziell eine ebensolche Depotenzierung der menschlichen Seelenfunktionen nach sich ziehe.19 Lavater etwa ist sich der ungeheuren Tragweite ebenso wie der Brisanz der Fragestellung durchaus im Klaren, wenn er in seiner Übertragung von Charles Bonnets Philosophischer Untersuchung der Beweise für das Christenthum (1769) anmerkt: Mich dünkt, die meisten Einwendungen, die gegen die Fortdauer der Thiere gemacht werden können, könnten gewissermassen, die Offenbarung auf die Seite gesetzt, eben so gut gegen die Fortdauer des Menschen gemachet werden: Ja vielleicht eben so gut, gegen eine Thatsache, d. i. gegen die wirkliche Existenz der Thiere.20
Die Meier-Plitt-Kontroverse schließt sich damit einerseits unmittelbar an die philosophischen und theologischen Diskussionen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an, führt aber auch schon Gedanken des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts mit sich, und zwar in Form der von 19
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Vgl. dazu u. a. Johann Georg Theodor Gräße: Bibliotheca psychologica oder Verzeichniß der wichtigsten über das Wesen der Menschen- und Thierseelen und die Unsterblichkeitslehre handelnden Schriftsteller älterer und neuerer Zeit, in alphabetischer Ordnung zusammengestelt, und mit einer wissenschaftlichen Übersicht begleitet. Leipzig 1845; Maximilian Perty: Über das Seelenleben der Thiere. Thatsachen und Betrachtungen. Leipzig, Heidelberg 1865; Hester Hastings: Man and Beast in french Thought of the eighteenth Century. Portland u. a. 1936; Leonora Cohen Rosenfield: From Beast-Machine to Man-Machine. The Theme of Animal Soul in French Letters from Descartes to La Mettrie. New York 1940; Albert George Adam Balz: Cartesian Studies. New York 1951, S. 106–157; Dieter u. Roland Narr: Menschenfreund und Tierfreund im 18. Jahrhundert. In: Studium Generale 20.5 (1967), S. 293–303; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine oder Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, München 1975, S. 32–42; Werner Krauss: Exkurs I: Zur Tierseelentheorie im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Aufklärung II: Frankreich. Hg. von Rolf Geißler. Berlin, Weimar 1987, S. 174– 210 u. 234–237 (=Werner Krauss. Das wissenschaftliche Werk; 6); Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant. Frankfurt a. M. 1988; Die Vernunft der Tiere. Hg. von Hans-Peter Schütt. Frankfurt a. M. 1990; Helmut Weiß: Animal Language: a Chapter from Controversy between Rationalism and Sensualism. In: Diversions of Galway. Ed. by Anders Ahlqvist. Amsterdam 1992, pp. 203–212; Hans Werner Ingensiep: Der Mensch im Spiegel der Tier- und Pflanzenseele. Zur Anthropomorphologie der Naturwahrnehmung im 18. Jahrhundert. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994, S. 54–79; Ders.: Tierseele und tierethische Argumentationen in der deutschen philosophischen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 3 (1995), 103–118; Die Seele der Tiere. Hg. von Friedrich Niewöhner u. Jean-Loup Seban. Wiesbaden 2001; Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin, New York 2006; Hans Werner Ingensiep u. Heike Baranzke: Das Tier. Stuttgart 2008. Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater. Zürich 1769, S. 32Anm. **.
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Leibniz philosophisch initiierten naturwissenschaftlichen Transformationslehre, die die Konstanz der Arten zunehmend fragwürdiger werden lässt. Termini wie ›Entwicklung‹, ›Veränderung‹ und ›Vervollkommnung‹ avancieren nun im Verlauf philosophisch-theologischnaturwissenschaftlichen Diskussion zu Schlüsselbegriffen.
2. Der Wurm als Verehrer Gottes In den zur Herbstmesse 1748 erschienenen, auf 1749 vordatierten Essay Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere21 Georg Friedrich Meiers leitet eine programmatischapologetische Passage ein, die unmissverständlich den subjektiv-empfindsamen Zugang zur Welt einerseits und die Anerkennung ihrer objektiven Werthaltigkeit andererseits betont: »Ich bin ein Einwohner dieser Welt, und ich halte es für eine meiner edelsten Pflichten, das Gantze, wovon ich ein Theil zu seyn das Glück habe, auf eine demselben würdige Art zu dencken«.22 Der Autor versteht sich als Teil des göttlichen Schöpfungswerkes und stört sich an dem gängigen Anthropozentrismus und -morphismus. Provokant, in montaignescher Manier,23 geißelt er eingangs seiner sieben Bogen umfänglichen Abhandlung die menschliche Hybris, sich und seine Ansichten als maßgebliche zu postu21
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Georg Friedrich Meiers öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. Halle 1749 [21750]. Vgl. Leben Georg Friedrich Meiers von Samuel Gotthold Langen. Halle 1778, S. 146–148. Meiers neues Lehrgebäude gliedert sich folgendermaßen: Einleitung: §§ 1–9 (S. 3– 20). Von den Seelen der Thiere: §§ 10–22 (S. 20–44). Von demienigen, was man mit Gewißheit von den Seelen der Thiere sagen kan: §§ 23–28 (S. 44–64). Von der Vernunft der Thiere: §§ 29–43 (S. 64– 84). Von dem Gebrauche der Vernunft der Thiere: §§ 44–70 (S. 85–119). Bereits am 14. Oktober 1748 sandte Meier Exemplare des Versuches eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere an Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (Meier an Bodmer [Halle, den 14. Oktober 1748]. In: Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911, S. 260f., hier S. 261). Schon im Jahre 1750 erschien in Halle bei Hemmerde eine von Christian Friedrich Helwing verfertigte französische Übertragung unter dem Titel Essais sur un nouveau systeme des Ames des Bêtes, traduit de l’allemand de Mr. George Frederic Meier Professeur en Philosophie a Halle. Vgl. auch Günter Schenk: Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1984, S. 93. Meiers Überlegungen zur Tierseele haben die Diskussion im 18. und noch im 19. Jahrhundert nachhaltig geprägt; sie beeinflussten die Arbeiten von Johann Friederich Scholz und Georg Schade, Johann Gottlob Krüger, Hermann Samuel Reimarus und Justus Christian Hennings. (Vgl. Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Darmstadt 1999, S. 332. Zander ist allerdings die Abhängigkeit Scholzens von Meier verborgen geblieben). Auch Johann August Unzer, der mit Meier vertrauten Umgang pflegte und von diesem protegiert wurde, knüpfte an Meiers Überlegungen mit dem Grundriß eines Lehrgebäudes von der Sinnlichkeit der thierischen Körper (1768) und den Ersten Gründen einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771) an und modifizierte sie, vgl. hierzu Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003, S. 108 u. S. 133. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 3. Bereits Michel de Montaigne empört des Menschen Hybris (la présomption), sich besser als das Tier und sich in der Kette der Wesen diesem vor- und darübergesetzt zu wähnen (vgl. 1 Mose 28). Er, das elendeste und gebrechlichste Geschöpf (la plus calamiteuse & fragile de toutes les creatures), ist zu-
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lieren: »Diese kleine Creatur ist so thöricht, sich mehrentheils mit ihren Gedancken in sich selbst zu versencken, und sich zum Mittelpuncte der gantzen Schöpfung zu machen«. Der sich darin aussprechenden Geo- und Anthropozentrik sei es geschuldet, dass der Mensch glaube, »[a]lles ausser ihm muß [...] nothwendig klein und unvollkommen« sein, dabei verkennend, dass er »dadurch in seinen Gedancken dasienige Werck aufs äusserste [verderbe], welches doch ein Meisterstück der Gottheit ist«.24 Wie nur könne der Mensch sich solch »erstaunlich kleine und unanständige Begriffe«25 von der Schöpfung machen? Aus der ›verrückten‹ Perspektivierung resultierten mannigfaltige Vorurteile, über sich selbst wie über die anderen Kreaturen. Der Überhebung des Menschen korreliere eine Verkleinerung der übrigen Schöpfung. Adhortativ macht sich Meier ans Werk, mit seinem Essay der gängigen Aberrationen abzuhelfen und »erhabnere Begriffe, von der Grösse, Pracht und Schönheit der gantzen Creatur«26 aufzuweisen. Mittels einer an Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes27 angelehnten kosmischen Wanderung28 entführt Meier seinen Leser zunächst auf den Jupiter, dann auf den Saturn und schließlich an den vermeintlichen, letztlich vergeblich gesuchten Rand des in Zeit und Raum
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gleich das hochmütigste, dünkelhafteste (la plus orgueilleuse). (In: Essais de Montaigne, Avec les Notes de M. Coste. Nouvelle Édition. Tome IV. A Londres, Chez Jean Nourse & Vaillant. M.DCC.LXVIII. Livre Second. Chapitre XII. Apologie de Raimond de Sebonde, p. 203). »Nous ne sommes ny au dessus, ny au dessous du reste« (ebd., p. 220). »Wir stehen weder über noch unter den Übrigen.« In: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Ins Deutsche [von Johann Joachim Christoph Bode] übersetzt. Dritter Band. Berlin 1793: Zweytes Buch. Zwölftes Kapitel. Rettung des Raymond de Sebonde, S. 306; »Car enfin tout ce qui n’est comme nous sommes, n’est rien qui vaille: Et Dieu pour se faire valoir, il faut qu’il y retire [...]. Par où il appert que ce n’est par vray discours, mais par une fierté folle et opiniatreté, que nous nous preferons aux autres animaux, & nous sequestrons de leur condition & societé.« Essais de Montaigne (s. o.), p. 296; Dt. »Denn kurz und gut, was nicht so ist, wie wir, das taugt nicht! Und selbst Gott, um in unsern Augen etwas zu seyn, muß sich nach uns gestalten [...]. Woraus dann erhellet, daß es nicht aus richtiger Beurtheilung, sondern aus thörigtem eigensinnigen Stolze herrührt, wenn wir uns über die andern Thiere hinaus setzen, und uns so viel mehr dünken als sie, daß keine Gemeinschaft unter uns Platz finde.« In: Michael Montaigne’s Gedanken 3 (s. o.), S. 373f. – Sich auf Montaigne beziehend räumt Descartes ein, dass er ebenso wenig wie dieser von einer ›absoluten Herrschaft der Menschen über alle anderen Tiere‹ ausgeht (»les homme ont vn empire absolu sur tous les autres animaux«; Descartes au Marquis de Newcastle (Egmond, 23. November 1646). In: Oeuvres de Descartes. Correspondance IV. Juillet 1643–Avril 1647 (s. Anm. 4), pp. 569– 577, hier p. 573. Vgl. auch Descartes: Discours (s. Anm. 5), p. 58. Dt. Descartes: Abhandlung (s. Anm. 5), S. 54. – Hermann Samuel Reimarus rückt dann wieder an die Stelle der Anthropozentrik die Theozentrik (Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet von Hermann Samuel Reimarus Professor in Hamburg. Zweyte verbesserte Auflage. Hamburg 1755, S. 413 u. S. 583); dazu Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 217 u. S. 255. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 4. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. [Bernard Le Bovier de Fontenelle]: Entretiens sur la pluralité des mondes[.] A Paris, Chez la Veuve C. Blageart, Court-neuve du Palais, au Dauphin. M.DC.LXXXVI. Avec privilege du Roy. Auf Fontenelle verweist Meier in diesem Zusammenhang auch in seiner Metaphysik Dritter Theil. Zweyte Auflage, Mit königl. Pohl. und Churfürstl. Sächs. allergnädigster Freyheit. Halle 1765, S. 502, § 789. Vgl. Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972, S. 170–176; Karl S. Guthke: Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und
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unendlichen Universums: »Was für eine Welt! Ich [...] sehe, daß es unmöglich sey, die gantze Welt zu übersehen«.29 In Anbetracht der Unendlichkeit des Weltenraumes muss der Leser anerkennen, dass sein Ansinnen, sich mit einer gedanklichen ›Verrückung‹ ins Extraterrestrische zum Zwecke der Vermeidung des anthropozentrischen Blickes, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist: »Ich mag mich so weit in den Raum sencken, als ich will: so finde ich so viele Welten noch vor mir, als hinter mir; ich kan gleichsam aus dem Mittelpuncte des Gantzen nicht heraus kommen«.30 Der zunächst von Optimismus begleitete Vorsatz, den eigenen Blick zu objektivieren, erweist sich schnell als illusionär. Menschliche, makroskopisch perspektivierte Einsicht wird stets standortgebunden sein; der objektive, mithin bloß vernunftgeleitete Blick aufs zeiträumliche Ganze wird unvermeidlich eine Schimäre bleiben müssen: »Die Unwissenheit solte uns antreiben, neutrale Zweifler zu bleiben«.31 Sich wieder auf die irdische oeconomia naturae zurückwendend und erwägend, ob wenigstens hier dem menschlichen Geist ein vollständiger Überblick möglich sein könnte, muss er, der meiersche Leser konzedieren, dass die zeitliche und räumliche Unendlichkeit nicht nur eine Eigenschaft der makrokosmischen, sondern auch der mikrokosmischen Dimension ist. »Gleichwie sich in dem gantzen Weltgebäude Welten auf Welten thürmen: so stecken Welten in andern Welten«, geordnet, schön und vollkommen, bevölkert mit »denckenden und verständigen Wesen«.32 Resigniert bekennt Meier angesichts der unfassbaren Größe, Weite und Tiefe des Kosmos: »Die Sprache sinckt unter der Last der Begriffe«.33 Daher sei man zur »Demut« aufgerufen und gefordert, sich von liebgewordenen Vorurteilen zu trennen und »sich selbst nicht zum Maaßstabe und Beurtheilunggrunde der übrigen denckenden Wesen [zu] mache[n]«.34 Meier ist mit seinem Versuch eines neuen Lehrgebäudes angetreten, die von Descartes entseelte Tierwelt aufs Neue zu beleben, um so dem Schöpfer wieder eine Vielzahl dienender Bewunderer zuzuführen.35 Dabei werden die mechanistisch-kalte cartesische Welt religiös-empfindsam aufgehellt und die Tiere als Teil der Schöpfung aufs Neue in die göttliche Geborgenheit überführt. Es geht Meier vornehmlich darum, dass man sich das ubiquitäre Gottschöpfertum und seine Schöpferfürsorge ja nicht zu klein vorstelle: Unendlich seien seine Macht, Güte und Weisheit. Unzählige Wesen sublunarer und kosmischer Natur habe er dem Menschengeschlecht vergesellschaftet, unter ihnen bloß denkende wie Engel und Teufel,36 aber auch Tierseelen. Da es nicht nur unvernünftige, sondern auch vernünftige Tiere gebe, sei es nicht korrekt, den Menschen ein »vernünftiges Thier« zu nennen.37 Dass es in der ›besten‹ der Welten »unvernünftige Thiere« gibt, erwächst aus der Notwendigkeit, dass »es zwischen den Substanzen, die blos dun-
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Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction. Bern, München 1983, S. 250–271; Zander: Geschichte der Seelenwanderung (s. Anm. 21), S. 361–365. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 7. Ebd., S. 6. Ebd., S. 27. Vgl. Leibniz: Monadologie §§ 66–69, sowie Theodicee §§ 19. 70. 195. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 17. Vgl. Weiß: Animal Language (s. Anm. 19), S. 204. Meier: Metaphysik Dritter Theil (s. Anm. 27), S. 422, § 734. Für gewiss gibt Meier die Existenz guter und böser Genien, die dem Menschen »von der Geburt an« helfen oder schaden, an. »Die heilige Schrift setzt diese Meinung ausser Zweifel« (ebd., S. 457, § 755).
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kele Vorstellungen haben, und zwischen den Geistern, auch blos sinnlich denkende Substanzen geben« müsse.38 Gottes Macht, Weisheit und Güte, so Meiers physikotheologischer, sich am unendlichen Kosmos erbauender Blick, offenbare sich nicht nur im Menschen, sondern – darin ist er sich mit Friedrich Christian Lesser einig – auch im kleinsten Wurm. Es hat ja der grosse GOtt alle und jegliche Geschöpffe, mithin auch die Insecten, denen vernünfftigen Menschen als Spiegel und Zeugen seiner unendlichen Macht und unerforschlichen Weisheit zu vernünfftiger Betrachtung vorgestellet. [...] Daher soll ja billig der Mensch, welcher von dem grossen GOtt mit Verstand begabet ist, solchen auch darzu anwenden, daß er alle Geschöpffe desselben zum Preiße des Schöpffers betrachte.39
Dies vorausgesetzt, sei es mitnichten unangebracht zu untersuchen, ob auch Tiere Seelen haben, und wenn ja, welcher Art diese sind. Dem möchte Meier mit keiner treulich skizzierten ›Litterärgeschichte‹ der Tierseelendiskussion nachkommen,40 sondern mit einer systematischen Untersuchung, die sich vier aufeinander aufbauenden Problemkreisen widmet: (1) Haben Tiere Seelen? (2) Welche Kräfte und Vermögen können den tierischen Seelen »mit vollkommener Gewissheit«41 zugeschrieben werden? (3) Sind Tierseelen vernünftig? (4) Sind sie bereits im Erdenleben mit Vernunft begabt oder erst postmortal? Während sich Johann Gottfried Herder eingangs seiner Sprachursprungsschrift auf einen weiten, den Menschen einschließenden, den unbefangenen Leser zunächst einmal frappierenden Tierbegriff stützt (»Schon als Thier, hat der Mensch Sprache«), macht Meier einen engeren, dem Gemeinsprachlichen verpflichteten Tierbegriff geltend, gleichwohl wissend, dass die Menschen zuweilen auch den Tieren zugerechnet werden. »Allein jedermann weiß, daß man das 37 38 39
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Ebd., S. 423, § 734, und S. 501, § 788. Ebd., S. 501, § 788. Friedrich Christian Lessers [...] Insecto-Theologia, Oder: Vernunfft- und Schrifftmäßiger Versuch, Wie ein Mensch durch aufmercksame Betrachtung derer sonst wenig geachteten Insecten Zu lebendiger Erkänntniß und Bewunderung der Allmacht, Weisheit, der Güte und Gerechtigkeit des grossen GOttes gelangen könne. Franckfurt, Leipzig 1738, S. 2f. Hierfür verweist er auf die von Georg Heinrich Ribovius (1703–1774) im Anhang zu Hieronymus Rorarius’ (1485–1556) Tierseelenabhandlung gelieferte Dissertatione historico philosophica de anima brutorum mit ihren 275 Paragraphen (vgl. Hieronymi Rorarii Exlegati Pontificii Qvod animalia brvta sæpe ratione vtantvr melivs homine libri dvo qvos recensvit dissertatione historico-philosophica De Anima Brvtorvm adnotationibvsqve avxit Georg. Heinr. Ribovivs LL. AA. M. Helmstadii Impensis Christ. Frider. Weygandi M DCC XXIIX, pp. 297–829) sowie auf die von Johann Heinrich Winkler herausgegebenen sechs Abhandlungen: 1. Die verschiedenen Meynungen einiger Weltweisen von der Existenz der Seelen der Thiere. In einer Gesellschaft guter Freunde untersucht. Leipzig 1741 [31743]; 2. Philosophische Untersuchung der Frage, ob die Seelen einiger Thiere einen gewißen Grad der Vernunft haben. In einer Gesellschaft guter Freunde angestellet. Leipzig 1742; 3. Die Frage, ob die Seelen der Thiere Verstand haben? In einer Gesellschaft guter Freunde untersucht. Leipzig 1742; 4. Philosophische Untersuchung der Frage, ob die Seelen der Thiere mit ihren Leibern sterben? In einer Gesellschaft guter Freunde untersucht. Leipzig 1743; 5. Das Wunderbare in den Seelen der Thiere in einer Gesellschaft guter Freunde abgehandelt. Leipzig 1744; 6. Einige Fragen über das Wunderbare der Seelen der Thiere. Leipzig 1745. Vereint erschienen sie unter dem Titel Philosophische Untersuchungen von dem Seyn und Wesen der Seelen der Thiere, von einigen Liebhabern der Weltweisheit in sechs verschiednen Abhandlungen ausgeführet, und mit einer Vorrede von der Einrichtung der Gesellschaft dieser Personen ans Licht gestellt von Johann Heinrich Winkler, der griech. und lateinischen Sprache Professorn zu Leipzig. Leipzig 1745. Vgl. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 19. Ebd., S. 20.
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Wort Thier gemeiniglich so zu brauchen pflegt, daß man darunter alle Thiere dieses Erdbodens, ausser den Menschen, versteht«.42 Zur Beantwortung der ersten Frage, ob Tiere Seelen haben, knüpft Meier an Descartes an, ihm zugutehaltend, dass er seine These von der Seelenlosigkeit der Tiere nicht als gewiss, sondern nur als wahrscheinlich ausgegeben habe. Zudem müsse man beachten, dass man zu Descartes’ Zeiten noch keinen Unterschied zwischen Seele und Geist gemacht habe.43 Heutzutage indes wisse man, »daß eine Substanz noch nicht ein Geist ist, wenn sie gleich unkörperlich ist und dencken kann; denn das Wesen eines Geistes erfodert Verstand, Vernunft und Freyheit«.44 Der Beweis (a), den Meier im Anschluss an die leibnizsche Monadenlehre Descartes entgegensetzt, ist folgender Gestalt: »Ein Harmonist, dergleichen ich bin, sagt, daß«
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44 45
(1)
»die Bewegungen des thierischen Körpers ihren nächsten Grund in dem Körper, und den entferntern in der Seele habe.«
(2)
»Nun besteht der hinreichende Grund einer Sache in allen ihren Gründen, den nächsten und entferntern zusammengenommen.«
(K 1)
»Folglich liegt der hinreichende Grund einer Bewegung des Thiers, in seinem Körper und seiner Seele zugleich.«
(K 2)
»Folglich nicht allein in dem Körper.«45
Ebd., S. 65. Zum weiteren Tierbegriff vgl. Alexander Gottlieb Baumgartens Professors der Philosophie Metaphysik. Halle 1766, S. 268f.; § 544: »Und da ein Thier (animal) ein Ding ist, welches aus einer Seele und aus einem Körper besteht.« Ebd., S. 301 § 590: »Ein Thier, welches eine bloß sinnliche Seele hat, ist ein unvernünftiges Thier, oder ein Vieh (brutum), das Thier aber, dessen Seele ein Geist ist, ist ein vernünftiges (animal rationale).« Leibniz unterscheidet die vernunftbegabte Seele (l’Âme raisonnable), den Geist (l’esprit), von der einfachen Seele (le simple Âme, l’Âme ordinaire): Der Geist ist im Gegensatz zur einfachen, nur der Perzeptionen fähigen Seele darüber hinaus in der Lage zu apperzipieren und insofern »nicht nur ein Spiegel des Universums der Geschöpfe, sondern außerdem ein Ebenbild der Gottheit zu sein. Der Geist hat nicht nur eine Perzeption der Werke Gottes, sondern er ist selbst auch imstande, etwas ihnen Ähnliches – wenn auch nur im kleinen – hervorzubringen.« (»Il n’est pas seulement un Miroir de l’univers des creatures, mais encore une image de la Divinité. L’esprit n’a pas seulement une perception des ouvrages de Dieu, mais il est même capable de produire quelque chose qui leur ressemble, quoique en petit.« In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Principes de la nature et de la grace fondés en raison § 14; vgl. Monadologie §§ 82–84 sowie Theodicee §§ 91, 147, 397). Er kann träumend Dinge erfinden, wachend sich als Baumeister betätigen und in den Wissenschaften die nach Gewicht, Maß, Zahl usw. eingerichtete Welt erforschen. Indem er sich so in seiner kleinen Welt betätigt, ahmt er das, was Gott in der großen tut, nach. (Leibniz: Monadologie § 14) Dadurch werden sie, die im Reich der Natur tätigen Geister (les Esprits), zugleich Teilhaber an Gottes Reich der Gnade. (Ebd., § 15.) Vgl. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Freyherr von Wolffen [...]. Neue Auflage hin- und wieder vermehret. Mit allergnädigsten Privilegiis. Halle 1747, S. 556, § 896: »Wir nennen insgemein einen Geist ein Wesen, das Verstand und einen freyen Willen hat. Da nun die Seelen der Thiere keinen Verstand und keinen Willen haben (§ 892); so sind sie auch keine Geister. Hingegen da die Seelen der Menschen Verstand und einen freyen Willen haben (§ cit.); so sind sie Geister.« Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 27. Ebd., S. 28f. Zur Zirkularität der Beweisführung vgl. Falk Wunderlichs Beitrag im vorliegenden Band.
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Descartes’ Sprachkriterium glaubt Meier dadurch aufweichen zu können, dass er die starke Interpretation des rationalistischen Mentalismus ›Sprachlosigkeit impliziert Vernunftlosigkeit‹ abschwächt zu ›Sprachlosigkeit impliziert mangelhafte Vernunft‹. Denn auch der Mensch sei manchmal, sei es durch alkoholische, sei es durch emotionale Betäubung, nicht sprachfähig.46 Vielmehr überträfen Tiere den Menschen in manchen Erkenntnissen, was der Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tiere dennoch nichts benehme. Und schließlich gereiche es, so Meiers theologisch-teleologisches Raisonnement, »dem menschlichen Geschlechte zu einer nützlichen Demüthigung, wenn es viele Menschen gibt, die von einem Hünerhunde weit übertroffen werden«.47 Neben dem Beweis der tierischen Beseeltheit mittels des Satzes vom zureichenden Grunde werden von Meier noch zwei weitere angeführt: (b) der, wie er sich ausdrückt, ›abgedroschene‹ Beweis per analogiam, der auf die Ähnlichkeit der Organe der tierischen Sinne mit denen des Menschen rekurriert, ergänzt durch den Hinweis auf die generelle Nutzen- und Zweckerfülltheit der Schöpfung, und (c) der Beweis aus der immanenten Vollkommenheit der Schöpfung, wozu gehöre, dass diese beeinträchtigt wäre, wenn sie als solche nicht auch von möglichst vielen wahrgenommen und genossen werde. »Nun ist offenbar, daß die Menschen, nicht alles schöne des Erdbodens, dencken und geniessen können. [...] Der Überfluß der Güter der Natur ist, für die Menschen, zu groß«. Die Natur, zu weise und bei aller Freigebigkeit zu sparsam,48 habe ihnen deshalb die Tiere an die Seite gesetzt. Als empfindende Wesen verfügten sie über so »geschicklich eingerichtet[e]« Organe, durch die »als durch Canäle, die Süßigkeiten der Natur in denckende Wesen strömen können: so ist kein Zweifel«, heißt es weiter, »daß in den Körpern der Thiere Seelen wohnen, welche die Welt dencken und geniessen«. Keine Schönheit und Lieblichkeit ginge nun mehr »ungenossen« verlohren. »Und das erfodert die Weisheit, und Güte des Vaters der Welt«.49 Denn einer der »größten Nutzen und Absichten der Welt« bestehe darin, »daß sie von denckenden Wesen gedacht werde, die auf diese Weise Gottes vollkommene Schöpfung spiegelten«. (Vgl. 1 Kor 13, 12.) Ohne die »Gedancken« vorstellender Wesen, die die Vollkommenheit der Welt genössen, wäre die »gantze Schönheit der Welt« vergeblich.50 Als beseelte Wesen empfänden die Tiere nicht nur, sondern handelten auch mit Willkür, d. h. sie begehren und verabscheuen »nach Belieben«.51 Man müsse den tierischen Seelen dem46 47 48
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Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 31. Ebd., S. 32f. Vgl. Theologia naturalis methodo scientifica pertractata. Pars prior, integrum systema complectens, qua existentia et attributa Dei a posteriori demonstrantur. Autore Christiano Wolfio, Academiae Marburgensis p. t. ProRectore. Editio nova priori emendatior. Cum Privilegiis. Francofurti & Lipsiae, M DCC XXXIX, p. 613 seq. § 663: »Deus nihil facit frustra«, sowie p. 614 seq. § 664: »Natura nihil facit frustra«. Dahinter stehen die Aristotelischen Gedanken, daß Gott und die Natur nichts ohne Zweck tun (Aristot. cael. 1, 4, 271a33: Ὁ δὲ θεὸς καὶ ἡ φύσις οὐδὲν μάτην ποιοῦσιν. Vgl. auch Aristot. pol. 1, 1253a9: οὐθὲν [...] μάτην ἡ φύσις ποιεῖ) und daß die Natur nicht nur nichts Überflüssiges tut, sondern es auch an dem Notwendigen nicht fehlen lasse (Aristot. an. 3, 9, 6; 432b21–22: ἡ φυσις μήτε ποιεῖ μάτην μηθὲν μήτε ἀπολείπει τι τῶν ἀναγκαίων. Lat. »Natura non abundat in superfluis, nec deficit in necessaries«). Vgl. auch Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 23), S. 275. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 41f. Ebd., S. 40f. Ebd., S. 43. Vgl. dagegen die Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Pragmatisch entworfen von Just.[us] Christian Hennings. Halle 1774, S. 415–419, § 65 u. S. 466f., § 72Anm. i.
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zufolge all das zuerkennen, was man auch den menschlichen Seelen einräumt, ausgenommen das Vernunftvermögen und die Freiheit. Tierseelen verfügten aber »ohne Zweifel« über »die gantze Sinnlichkeit, alle untere und sinnliche Erkenntniß- und Begehrungskräfte, und alles, was nicht in der Vernunft hinreichend gegründet ist«.52 Ihnen ist Witz als Vermögen, Gleiches im Verschiedenen zu bemerken, ebenso eigen wie Scharfsinn als Vermögen, im Gleichen das Verschiedene aufzufinden. Darüber hinaus hätten sie ein Dichtungsvermögen, eine sinnliche, moralische und ästhetische Urteilskraft, ein Vorhersehungs- und ein Begehrungsvermögen und, »kan man endlich wohl zweifeln«, ein »Vermögen, ihre Gedancken zu bezeichnen«. »Die Abwechselung der Stimme, ihre Geberden, ihre Minen, alles ist ein Mittel, wodurch sie ihre Gedancken ausdrucken, und sie sind die geschicktesten Pantomimen«. Meier befindet sich damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum französischen Sensualismus. Denn, Condillacs sensationes transformées53 abgerechnet, die von ihm nicht beliehen werden, stimmt Meier mit wesentlichen Positionen des französischen Philosophen überein: Wie dieser gesteht er den Tieren Denkfähigkeiten wie Vergleichen, Urteilen, Abstrahieren, Memorieren zu, verdanken sie sich doch allesamt den auch ihnen zu Gebote stehenden Sinnesempfindungen. Gleichwohl sei deren Sprache keine artikulierte,54 sondern gehörte einer prinzipiell andersgearteten Kommunikationsform zu: der sich gestisch und schreiend äußernden Aktionssprache (langage d’action).55 Über deren Existenz sollen den Leser Meiers Beobachtungen an einem Ameisenhügel unterrichten: »In einer geringen Entfernung meiner Ohren von dem Neste, hörte ich« – er hatte kurz zuvor Teile des Hügels verwüstet – »ein starckes verwirrtes Summen. Dies mochten die vermischten Stimmen derjenigen seyn, welche bey diesem allgemeinen Unglücke nicht stumm seyn konnten. Einige frischten ohne Zweifel ihre Mitbürger zur Arbeit an, einige ertheilten Befehl, einige klagten über ihr Schicksaal, einige bedauerten ihre Jungen, einige ihren Vorrath an Getreide, einige 52
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Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 44. Vgl. auch S. 69: »Das Vermögen unserer Seele [...] heißt das Erkenntnißvermögen. Wir haben also ein zweyfaches Erkenntnißvermögen. Ein unteres und sinnliches, wodurch dunckele und klare, aber verworrene Vorstellungen gewürckt werden können. [...] Das Vermögen aber, wodurch deutliche Vorstellungen gewürckt werden können, heißt die obere Erkenntnißkraft oder der Verstand.« Vgl. Traité des Sensations, A Madame La Comtesse De Vassé, Par M. l’Abbé De Condillac, de l’Académie Royale de Berlin. Tome I. A Londres; & se vend A Paris M.DCC.LIV, pp. 1–16: Dessein de cet Ouvrage, hier pp. 6–9. Auch Christian Wolff war das Fehlen artikulierter Sprache das die Tierseele von der Menschenseele Unterscheidende (vgl. Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata, qua ea, quæ De anima humana indubia experientiæ fide innotescunt, per essentiam et naturam animæ explicantur, et ad intimiorem naturæ eiusque autoris cognitionem profutura proponuntur. Autore Christiano Wolfio [...]. Editio nova priori emendatior. Cum Privilegiis. Francofurti & Lipsiæ, MDCCXL, S. 675, § 759). Vgl. [Étienne Bonnot de Condillac]: Essai sur l’origine des connoissances humaines. Ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain. A Amsterdam M.DCC.XLVI, part. I, p. XIV. sect. II, chap. IV, p. 77, § 46; part. II. sect. I, chap. 1. pp. 4–14, §§ 1–9; chap. II. pp. 19–24, §§ 13–15 sowie Traité des Animaux, Où après avoir fait des observations critiques sur le sentiment de Descartes & sur celui de M. de Buffon, on entreprend d’expliquer leurs principales facultés. Par M. l’Abbé De Condillac, de l’Académie royale de Berlin. On a joint à cet Ouvrage un Extrait raisonné du Traité des Sensations. A Amsterdam, Et se vend à Paris M.DCC.LV, part. II, chap. IV, pp. 95–105: Du langage des Animaux. Die Aktionssprache (»Les cris inarticulés & les actions du corps, sont les signes de leurs pensées«; ebd., p. 100) ist zwar keine artikulierte Sprache wie beim Menschen, aber eine Vorstufe dazu: »Le langage d’action prépare à celui des sons articulés.« (Ebd.)
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den kostbaren Bau ihrer Stadt«.56 Diese und andere Beobachtungen lassen Meier, der dabei sicher auch gleich lautende Ausführungen des Platonikers Kelsos gegenwärtig hat,57 schlussfolgern, dass die Ameisen miteinander kommunizierten und sich dafür einer Sprache bedienten.58 Meier stützt seine Annahme tierischer Seelen auf die generelle Unterscheidung von vier Verstandes- und zwei Vernunftgraden.59 Der Tierseele stünden sämtliche Verstandesgrade zur Verfügung, von der Vernunft allerdings nur der erste Grad. Das bedeutet, dass sie fähig sind, allgemeine Begriffe, Urteile und Schlüsse zu bilden und den Zusammenhang einzelner Dinge deutlich zu erkennen, nicht aber, das wäre der zweite Vernunftgrad, den Zusammenhang allgemeiner Sätze einzusehen.60 Dem Sprachkriterium, das von Descartes als entscheidendes Kriterium herausgearbeitet worden war, wenn es darum ging, einem Wesen Vernunft ab- oder zuzusprechen, widmet sich Meier nochmals und einlässlich im Schlussteil seiner Abhandlung, »Von dem Gebrauche der Vernunft der Thiere« überschrieben. Danach sei es unrichtig anzunehmen, die Bezeichnung der Gedanken mit Worten sei der Vernunft wesentlich. Selbst die Menschen bedürften ihrer nicht notwendig; oft genügten andere Zeichen. Meier weist das Wortsprachenargument mit dem Hinweis auf die mathematische Zeichen- sowie die Gebärden- und Tonsprachen zurück. Er führt nonverbale Ausdrucksformen ins Feld, die zusammen mit der artikulierten Sprache dann aber doch zumindest (a) den »Gebrauch der Vernunft« durch ihre Tresorfunktion beförderten und (b) die Kommunikation unter den Sprachbenutzern ermöglichten. Tiere verfügten, so Meier61, der Sprache als einen »Inbegriff vieler willkührlichen Zeichen vernünftiger Gedancken«62 56 57
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Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 56f. Kelsos unterstellte Ameisen und Bienen eine Regierungsform sowie Tugenden wie Gerechtigkeit und Mildtätigkeit und behauptete, dass sich Ameisen gemeinsam unterredeten und beratschlagten (Orig. c. Cels. 4, 81–85). Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 62. »Ich weis niemand, der diese Stufen genauer aus einander zu setzen bemühet gewesen wäre, als der durch viele nützliche und angenehme Schriften berühmte Herr Professor Georg Friedrich Meier, in seinem Versuche eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere.« (Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, vorgestellet von Hermann Samuel Reimarus, Professor in Hamburg und Mitgliede der kaiserlichen Academie der Wissenschaften in St. Petersburg. Zweyte Ausgabe, welche mit einem Anhange vermehret worden. Hamburg 1762, S. 61–476, hier S. 260, § 120; zu Meier vgl. S. 260–276 §§ 120–123.) Reimarus zufolge ist es ein methodischer Fehler, wenn man den Menschen in die Rolle des Tieres versetzt und dann zu »denken, wie wir es müßten gemacht haben, wenn wir dazu [zu Kunstmäßigem, Zweckmäßigem] gelangen wollten.« (Ebd., S. 242, § 116.) Man verkennt dabei, was die so genannten niederen Seelenkräfte vermögen, indem man auch beim Menschen den Umfang der »angeborene[n] Kunstfertigkeiten« übersieht (ebd., S. 242, § 116). Unbeachtet bleibt dabei, dass die ›tierischen Kunsttriebe‹, die »unedleren Seelenkräfte«, vollkommener sind als die menschliche Vernunft, denn Gott hat sie »weislich determiniret, und dadurch [...] erhöhet« (ebd., S. 242f., § 116). Darin bezeugt sich neuerlich des Schöpfers »Kunst der Sparsamkeit, sowohl in körperlichen Dingen, als in den Seelenkräften der Thiere« (ebd., S. 243, § 116). Reimarus ist die Vernunft, die Einsicht in die verborgensten Wahrheiten gewährt und zur Tugend und Religion führt, zu edel, als dass sie der Schöpfer den Tieren mit ihren »niederträchtigen sinnlichen Begierden des Hungers und der Brunst« verliehen haben könnte (ebd., S. 258, § 119). Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 74. Meier geht von einem natürlichen Sprachursprung unter den Menschen aus (vgl. ebd., S. 103). Ebd., S. 103.
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auffasst, nicht nur über natürliche, sondern auch über arbiträre Sprachzeichen, wenn auch nicht über Wortsprachzeichen.63 Letztlich zieht sich Meier dann doch auf eine weniger starke Position zurück. Was er bislang gesagt habe, habe das absolute Vermögen, das Vermögen an sich zum Gegenstand gehabt. Relativ bzw. für sich jedoch betrachtet64 zeigt sich, dass die Tierseelen in diesem Leben, keine allgemeine deutliche Erkenntniß haben; und daß ihnen folglich der Gebrauch des dritten und vierten Grades des Verstandes, und des zweyten Grades der Vernunft fehlt; daß es aber verschiedene Classen der unvernünftigen Thiere, in Absicht auf die Grade des Verstandes gebe; und daß sie endlich nach vielen Verwandelungen durch den Tod in einen Zustand kommen werden, in welchem sie den Gebrauch aller Grade des Verstandes und der Vernunft erlangen, und folglich zu der Staffel der Geister werden erhoben werden.65
Meiers Plädoyer für die Tierseelen gründet damit in einer metempsychotische und metamorphotische Elemente koppelnden Seelentheorie, die tierseelische Entwicklung konzeptionell zu fassen bemüht ist. Danach durchlaufe die tierische Seele alle Verstandes- und Vernunftgrade 63
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Dem signum naturale ist eine vis significandi eigen, die es mit dem Bezeichneten als der ›wesentlichen Bedeutung‹ von sich aus, quasi ›natürlich‹, verknüpft, indem es eine Idee der bezeichneten Sache erzeugt (ideam rei significatae). Dem signum artificiale fehlt die vis significandi; sie wird ersetzt durch die ›Gewöhnung‹ (consuetudo). ›Wesentlich‹ ist eine Bedeutung, wenn zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine Kausal- oder Ähnlichkeitsbeziehung besteht. Vgl. dazu Ulrich Ricken u. Patrice Bergheaud: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990, S. 217. Vgl. Georg Friedrich Meiers Betrachtung über die Natur der gelehrten Sprache (Halle 1763), wo es von den unvernünftigen Tieren heißt: »Man kan gründlich überzeugt werden, daß sie Deutlichkeit in ihren Empfindungen haben, und also einen Verstand besitzen, durch welchen sie diese Deutlichkeit hervorzubringen im Stande sind. Weil wir aber bey ihnen keine Fertigkeit bemerken, solche willkührliche Zeichen zu gebrauchen, dergleichen bey uns die Sprache ausmachen; so können wir auch durch die Erfahrung nicht beweisen, daß sie einen solchen Verstand besitzen, vermöge dessen sie allgemeine Wahrheiten, und andere Dinge, die nicht in die Sinne fallen, deutlich denken könnten.« (Ebd., S. 30.) ›Absolut möglich‹ ist etwas, das an sich betrachtet keinen Widerspruch in sich schließt, ›relativ unmöglich‹ ist etwas, das unter gewissen Umständen einen logischen oder moralisch-theologischen Widerspruch in sich schließt (vgl. Prüfung derer Gründe, womit der Herr Hr. Georg Friedrich Meier öffentlicher ordentlicher Lehrer der Weltweisheit zu Halle, Die Vernunft der Thiere in diesem und jenem Leben erweisen will; Nebst einem Anhang, worin die Schrift: Amusement philosophique sur le langage des Bêtes: beurtheilet wird von Johan Jakob Plitt. Cassel 1749, S. 87 u. S. 96. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 107. Vgl. auch ebd., S. 50: »Die Seelen der Thiere sind also zu einem Leben ohne Ende bestimmt. Sie werden, nach Verlassung ihres gegenwärtigen Körpers, vermöge der Leibnitzianischen Grundsätze, mit neuen Körpern vereiniget, und in diesem neuen Zustande entweder vollkommener und glücklicher als in diesem Leben, oder unvollkommener und elender werden.« Vgl. Leibniz: Monadologie §§ 66–78, bes. §§ 72–75, sowie Theodicee §§ 89–91, 124. Leibniz steht der Metempsychose jedoch ablehnend gegenüber. Stattdessen favorisiert er die Präformationstheorie. Seelen sind für Leibniz ewig und nie ohne einen Körper. Beim Absterben ihres makroskopischen Körpers behält die Seele ihre mikroskopische »organische Maschinerie«, den feinstofflich-ätherischen Astralleib, mit dem sie anschließend wieder einen neuen makroskopischen Körper beziehen kann. Diesen Vorgang nennt er daher nicht ›Metempsychose‹, sondern ›Metamorphose‹ (Leibniz: Principes de la nature et de la grace [s. Anm. 43], § 6). Vgl. Martin Hense: »Aber der menschliche Verstand [...] siehet Gestalten, nicht wandernde, sich emporarbeitende Seelen«. Von der erkenntnistheoretischen Bedeutung einer esoterischen Figur von Locke und Leibniz bis zu Bonnet. In: Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin, Boston 2013, S. 159– 182, hier S. 169–172.
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und entwickle sich so nach und nach zu einem Geistwesen.66 Als Erdenwesen sei das Tier noch mit einer Seele begabt, die »keine deutlichen abstracten Begriffe hat, keine allgemeinen Urtheile fällt, und keine allgemeine Schlüsse macht; oder dem der Gebrauch des dritten und vierten Grades des Verstandes [...] und des zweyten Grades der Vernunft fehlt«. Ein Tier hat danach einzelne klare Vorstellungen, denen viele verworrene verschwistert sind, darunter gelegentlich einmal einige oder eine einzelne deutliche.67 Meier verbindet hier augenscheinlich Origenes’ universalistisch-liebestheologische Wiederbringungslehre (ἀποκατάστασις πάντων; vgl. Orig. princ. 1, 6, 3. 3, 6, 5 – 6), wonach sich alle Wesen auf dem Weg der Vervollkommnung zu Gott hin befinden, mit Leibniz’ Konzeption der besten aller möglichen Welten.68 Damit dynamisiert er die von ihm monadologisch gedachte Welt, die, wie er meint, weder mit dem »Lehrgebäude der Weltweisheit« noch »dem Lehrgebäude der heiligen Schrift« kollidiere und so »unschuldig, und gar nicht gefährlich« sei.69 Mit der Erhöhung und Vermannigfaltigung der Seelen, d. h. ihrer Vervollkommnung, vervollkommne sich auch das Ganze. Während die Tiere für Reimarus von Beginn ihrer Existenz an durch ihre Triebe bzw. Instinkte als ihnen von Gott ›eingepflanzte, angeborene Eigenschaften der Seelen‹ vollkommene Lebewesen70 und der Mensch und das Menschengeschlecht die einzigen sind, die sich im Laufe ihrer irdischen Existenz vervollkommnen können und müssen,71 eröffnet die Meiersche Seelenkonzeption den Tieren einen 66 67 68
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Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 107. Ebd., S. 71. Noch in seinen Betrachtungen über die würkliche Religion des menschlichen Geschlechts (Halle 1774, S. 95f., §§ 47 u. 48) vertritt Meier die Seligmachung nicht nur der Christen, sondern auch der Heiden. Vgl. Dieter Breuer: Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 21 (1985),1, S. 1–30, Franz-Heinrich Kettler: Die Ewigkeit der geistigen Schöpfung nach Origenes. In: Reformation und Humanismus. FS Robert Stupperich. Hg. v. Martin Greschat u. Johann Friedrich Gerhard Goeters. Witten 1969, S. 272–297, und Ralph Häfner: Johann Lorenz Mosheim und die Origenes-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Johann Lorenz Mosheim (169–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hg. v. Martin Mulsow, Ralph Häfner, Florian Neumann u. a. Wiesbaden 1997, S. 229–260. Origenes versuchte mit seiner Konzeption der Apokatastasis panton der moraltheologisch katastrophalen Folgen des Höllenstrafendogmas Herr zu werden, indem er das Verhältnis der göttlichen Liebe und Gerechtigkeit neu bestimmte, der Liebe das Primat vor der Gerechtigkeit zuwies und die ›liebende Wiederbringung der gesamten Schöpfung‹ vertrat (Breuer [s. Anm. 68], S. 2). Um 1700 fand die Wiederbringungslehre bei radikalpietistischen Reformern (Johann Wilhelm u. Johanna Eleonora Petersen, Gottfried Arnold und Dichtern wie Friedrich Gottlieb Klopstock (Der Meßias ein Heldengedicht. Halle 1748–1773, 9, 333. 19, 91–235. 7, 399–448) und Christoph Martin Wieland (Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Halle 1752, S. 23. AA I/1, S. 30: 1, 586; s. Anm. 1) begierige Aufnahme (Breuer [s. Anm. 68], S. 7, 17–19). Dazu auch Karl S. Guthke: Der Mythos der Neuzeit (s. Anm. 28), S. 262f., und Friedhelm Groth: Die »Wiederbringung aller Dinge« im württembergischen Pietismus. Göttingen 1984, S. 38–51 und S. 277–284, Marcus Meier: Der bekräfftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 137–151, ders.: Horch und Petersen. Die Hintergründe des Streis um die Apokatastasis im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 157–174. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 115. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (s. Anm. 23), S. 326f. »Alle Thiere erreichen zwar durch ihre Sinne und Triebe, ohne Fehl, eine gewisse Art, und einen gewissen Grad der Vollkommenheit, und daraus fliessende Lust und Glückseligkeit; aber sie bleiben auch immerfort in einerley unbeweglichen Schranken stehen, und können nicht ein Haarbreit weiter kommen.« (Ebd., S. 506) »Der Mensch hingegen kommt mit keiner bestimmten Fertigkeit und Kunst auf die Welt; er hat aber eine unbeschränkte Fähigkeit des Verstandes, und Begierde des Willens, zu einer immer höheren Vollkommenheit, und eine vernünftige Freyheit des Willens, daß er die besten
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den Menschen ebenbürtigen, nur eben postmortalen Perfektibilitätshorizont. Können sich auch die unvernünftigen Tiere im Status ihrer irdischen Existenz noch keinen Begriff von Gott machen, so werden sie endlich doch einmal durch metempsychotische Vervollkommnung in einen Zustand gelangen, der sie zu »Verehrer[n] Gottes«72 macht. Zwanglos lässt sich damit der vielfache, häufig mit Schmerzen verbundene Tod der Tiere rechtfertigen, und zwar als eine Befreiung der Seele von ihrem Körper, worin dem allweisen und -gütigen Ratschlag Gottes aufs Trefflichste entsprochen werde: »Den Thieren kann keine grössere Wohlthat wiederfahren, als wenn sie getödtet werden«, so Meier.73 Der Tiertod wird eschatologisch gerechtfertigt als Dispensation eines unzureichenden irdischen Daseins zugunsten eines ersehnten vollkommeneren Zustandes. Durch die Vermehrung der ›Aufmerksamkeit‹ bzw. des Verstandes und der Vernunft im Zuge postmortaler Reinkarnation werde den Tieren durch den »gütigen Vater aller seiner Geschöpfe« das Übel des menschenverschuldeten Todes vergolten. Auf diese Weise temporalisiert und dynamisiert Meier die im Schöpfungsplan festgelegte so genannte Stufenleiter der Wesen.
3. Denn Gott hats beschlossen Schon im Jahr darauf, 1749, erscheint in Kassel, im Verlag Johann Bertram Cramers, die Prüfung derer Gründe, womit der Herr Hr. Georg Friedrich Meier öffentlicher ordentlicher Lehrer der Weltweisheit zu Halle, Die Vernunft der Thiere in diesem und jenem Leben erweisen will; Nebst einem Anhang, worin die Schrift: Amusement philosophique sur le langage des Bêtes: beurtheilet wird von M. Johan Jakob Plitt.74 Im Titel bereits kündigt sich die argumentative Stoßrichtung der Abhandlung an, fokussiert sie doch das vermeintliche Vernunftvermögen der Tiere im gegenwärtigen und kommenden Leben. Der Autor der Streitschrift, Johann Jakob Plitt (1727–1773)75, nachmaliger Prediger und theologischer Schriftsteller, hatte zunächst die Gymnasien in Lippstadt (Ostern 1741) und Soest (1742) besucht, bevor er sich im Herbst 1744 an der Marburger Universität als Theologiestudent eingeschrieben hat. Im Frühjahr 1745 schließlich geht er an die Hallesche Fridericiana, um
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Mittel zu diesem Zwecke wählen kann. Daher ist der Mensch unter allen Thieren des Erdbodens der einzige, der in seinem Geschlechte vollkommener wird, und werden kann, als seine Vorfahren, und als er selbst anfangs gewesen.« (Ebd., S. 507). Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 118f. Ebd., S. 118. Rez. in D. Friedrich Wilhelm Krafts Neue Theologische Bibliothek, darinnen von den neuesten theologischen Büchern und Schriften Nachricht gegeben wird. Vier und funfzigstes Stück. Leipzig 1751, S. 305–310, sowie in: [Johann Georg Heinsius] Unpartheyische Kirchen-Historie Alten und Neuen Testamentes Des dritten Theils Zweyte Abtheilung Welche das rückständige der Kirchen-Geschichte von 1746. bis 1750. enthält. Jena 1754, S. 1445. Vgl. Die Verbindlichkeit wahrer Christen, nach dem Muster JEsu, ihren Willen dem Göttlichen Willen zu unterwerfen. Wurde, als der Weiland Hochwürdige, in GOtt Andächtige und Hochgelahrte Herr, Herr Johann Jacob Plitt, der Heiligen Schrift Doctor, Ministerii Senior und Consistorial-Rath zu Frankfurt am Mayn, am 5ten April 1773. durch einen seligen Tod diese Welt verlassen, den darauf erfolgten 8ten April bey Dessen Beerdigung einer ansehnlichen und volkreichen Versammlung in hiesiger Haupt-Kirche zu den Barfüssern, aus Matthäi 26, v. 39. vorgestellet, von Johann Jacob Willemer, Evangelischen Predigern dahier. Frankfurt a. M. 1773, S. 21–38, sowie Hermann Dechent:
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bei dem orthodoxen, in der Dogmatik sich stets auf die demonstrative Beweisführung stützenden Siegmund Jacob Baumgarten76 Theologie zu hören. Daneben besuchte er Johann Georg Knapps (1705–1771) theologische, Johann Heinrich Schulzes (1687–1744) orientalische und exegetische sowie die philosophischen Vorlesungen Christian Wolffs (Mathematik), Johann Gottlob Krügers (Physik) wie auch Georg Friedrich Meiers. Unter dessen Vorsitz verteidigt er im April 1747 eine akademische Streitschrift.77 Nach Marburg zurückgekehrt, erwirbt er im Jahre 1748 die Magisterwürde78, um eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Die ihm unerwartete Wahl zum Prediger in Kassel gibt seinem beruflichen Werdegang jedoch eine andere Richtung. Von 1749 bis 1755 versieht er in Kassel ein Predigtamt, danach folgte er einem Ruf als Theologieprofessor an die Universität Rinteln an der Weser, wo er bis zum Jahre 1762 lehrt. Den dafür erforderlichen theologischen Doktorgrad erwirbt er zuvor noch in Göttingen mit der theologischen Inauguraldissertation De gloria dei in promvlgatione legis Sinaiticae a blasphemis quorvndam verae religionis hostivm calvmniis vindicata (Göttingen 1755). In Rinteln gibt er neben theologischen stets auch philosophische Lektionen. Anschließend, im Jahre 1762, folgt er in Frankfurt am Main Johann Philipp Fresenius (1705–1761) im Amt als Senior des lutherischen Predigerministeriums und als Hauptprediger der Barfüßerkirche, Frankfurts Hauptkirche, nach. Der erst 35jährige schafft es, seinen Zweiflern zuvorzukommen und mit einer breiten seelsorgerlichen Arbeit zu überzeugen. An ihm ist es dann auch im Jahre 1764, die Krönungspredigt anlässlich der Inthronisation Josephs II. zu halten. Goethe, der seinerzeit Plitts Predigten ein Vierteljahr mit- und nachschrieb, um sie seinem Vater mitzuteilen,79 weiß über ihn zu berichten, dass er, »ein großer, schöner, würdiger Mann« gewesen sei, der aber »vom Katheder (er war Professor in Marburg gewesen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht« habe. Misstrauisch beäugt man Plitts Ankündigung, seine Predigten als »eine Art von Religions-Cursus« einzurichten und sie »in einem gewissen methodischen Zusammenhang« vorzutragen.80 Denn es war
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Johann Jakob Plitt. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 26 (1888), S. 307–309. Vgl. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 119Anm. *: »meinen unsterblichen Lehrer den weltberühmten hallischen Gottesgelehrten Hr. D. Sigm. Jak. Baumgarten«. Siegmund Jacob Baumgarten, Sohn Jacob Baumgartens (1668–1722) – eines Erfurter Schülers August Hermann Franckes –, lebte während seines Studiums in Halle im Hause von dessen Sohn Gotthilf August Francke. Vgl. Martin Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974; Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang. In: Geschichte des Pietismus II: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, S. 319–357, zu Baumgarten insb. S. 329–333, und Ernst Feil: Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 43–49. Johann Jakob Plitt: Meditationes Philosophicae de vita cognitionis ab eivs claritate, veritate et certitvdine non necessario pendente (Halle 1747). Auf sie verweist er in der Dedikation der Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. A4a Unter dem Vorsitz von Johann Konrad Spangenberg verteidigte er als Respondent seine Dissertatio inauguralis philosophica De eo quod iuris naturae est circa gradus prohibitos et eorundem dispensationem (Marburg 1748). Vgl. Nicholas Saul: »Prediger aus der neuen romantischen Clique«. Zur Interaktion von Romantik und Homiletik um 1800. Würzburg 1999, S. 142–144. Johann Wolfgang von Goethe. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster bis Dritter Teil. In: HA 9, S. 5–598, hier: S. 143–145.
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bekannt, dass er darin der Wolffschen Methodik entspricht und sie more geometrico einrichtet, dabei Definitionen und Schlussweisen seines Lehrers Alexander Gottlieb Baumgarten wörtlich zitierend, immer auf eine klare und deutliche Begriffsverwendung achtend.81 »Mit einem einnehmenden Äußern, einer wohlgebildeten Gestalt, einer kräftigen Stimme und einem klaren und fließenden Vortrage vereinigte Plitt gründliche Kenntnisse in den einzelnen Zweigen des theologischen Wissens, und besonders in den orientalischen Sprachen«, weiß ein Biograph zu berichten. »Die liebenswürdigen Züge seines Characters als Mensch flossen aus der ungeheuchelten Religiosität, die ihn beseelte. Den Glauben an eine unmittelbare Offenbarung ließ er sich nicht nehmen«.82 Jener jüngst erst in Marburg zum Magister der Philosophie gekürte Student, vor kurzem noch Schüler Meiers83, trat mit der Prüfung derer Gründe an, Meiers Ansichten über die Tierseelen Paroli zu bieten. Schon nach wenigen Zeilen ist klar, dass hier ein logisch und theologisch versierter, klar und konzise argumentierender, die Schwächen und impliziten Voraussetzungen Meiers prägnant benennender Autor am Werk ist. Die Abhandlung zerfällt in zwei Teile und ist Meier, nicht seinem Lehrer, sondern »Seinem Hochgeneigten Gönner«,84 dediziert. Im ersten Teil widmet er sich der Prüfung derer Gründe (S. 13–148) und im zweiten, als Anhang bezeichneten, der Beurteilung von Bougeants Amusement philosophique85 (S. 149–254). Zwei Meiersche The81
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Plitt, der eine »grosse Liebe [...] zur Hauptwissenschaft [i. e. Metaphysik] hatte«, hörte während des Studiums in Halle bei Meier u. a. Metaphysik nach Baumgarten (Johann Jakob Plitt: Rettung einiger Erklärungen und Beweise der Metaphysik. Halle 1746, S. 6). Beider Umgang war einst sehr vertraut. Gemeinsam mit »Plitte«, wie Meier ihn zu nennen pflegte, reisten sie im Mai 1747 ins Magdeburgische Laublingen zu Lange (Meier an Lange [Halle, den 8. Mai 1747]. In: M. Sam. Gotthold Lange Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. Zweyter Theil. Halle 1770, S. 212–221, hier: S. 213f. Meier an Lange [Halle, den 24. Mai 1747]. In: ebd., Erster Theil. Halle 1769, S. 177–179, hier S. 179). Bereits in seiner ersten akademischen, gegen den pietistischen Pädagogen Christian Gottfried Struensee (1717–1782) gerichteten Arbeit, der Rettung einiger Erklärungen und Beweise der Metaphysik (s. Anm. 81), verlieh Plitt seiner Überzeugung Ausdruck, dass das Studium der Metaphysik auch den Theologen höchst nötig ist. Denn Irrende und »listige Feinde der Religion« wie Naturalisten, Atheisten und Deisten ließen sich schlechterdings kaum aus der Heiligen Schrift belehren. Hierfür müsse er, um die »Kriege des HERRN seines GOTTES« zu führen, auf den Verstand des Irrenden einwirken, indem er ihm die Falschheit seiner Ansichten »aus vernünfftigen Gründen« dartut. Erst im Anschluss daran könne auch dessen Wille mithilfe der biblischen Offenbarung ›verbessert‹ werden. (Ebd., S. 34f.) Mit Christian Wolff stritt er gegen die Verkennung der Vernunft und die Diffamierung der Philosophie als ›Magd der Theologie‹ (vgl. Daß in dieser als der besten welt eine Auferstehung der toden zukünftig sey, wird aus der vernunft erwiesen, von Johan Jacob Plitt. Marburg 1748, S. 4f.). Vielmehr sei erwiesen, »daß eine aufgeklärete weltweißheit den menschen nicht von GOtt abführe, sondern ihm vielmehr den weg zur wahren geoffenbarten religion zeige, auch ihn in den stand setze, den feinden der religion nachdrücklich zu begegnen« (ebd., S. 6), zumal sie dem Menschen auch dann noch bleibt und Trost spendet, wenn sich sein Geist vom irdischen Körper getrennt haben werde (ebd., S. 7). Heinrich Doering: Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt. Dritter Band. N–Scho. Neustadt an der Orla 1833, S. 343–349, hier: S. 345. Vgl. Plitt Daß in dieser als der besten Welt (s. Anm. 81), S. 74, § 40 Anm.: »meines vormaligen Lehrers des berühmten Herrn Professor Meier[]«. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. A2a. [Guillaume-Hyacinthe Bougeant] Amusement philosophique sur le langage des bestes. A Paris M.DCC. XXXIX. Avec Approbation & Privilege du Roy. Dt. [Guillaume-Hyacinthe Bougeant] Philosophischer Zeit-Vertreib über die Thier-Sprache, Aus dem Frantzösischen ins Deutsche übersetzet, und mit einigen kurtzen zufälligen Anmerckungen begleitet. Franckfurt, Leipzig, 1740.
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sen stehen im Fokus von Plitts Kritik: (1) Tierseelen haben schon in diesem Leben Vernunft, und (2) Die Seelen steigen nach diesem Leben zu vollkommenen Geistern auf. Beide werden von Plitt hinsichtlich ihrer philosophischen (S. 1–99, §§ 1–51) und ihrer theologischen Plausibilität (S. 99–148, §§ 52–74) gesichtet. Plitt lobt, nachdem er den Wolffschen Beweis aus der Vorstellung kurz skizziert hat86, den von Meier aufgestellten Beweis der Tierseelen, der sich auf den Nutzen und Genuss in der Welt beruft (c), überzeugt, dass »sich keiner mehr, wenn es auch Cartesius selbst wär, unterstehen wird, denen Thieren die Selen abzusprechen, wenn er diesen Beweis eingesehen hat«.87 Meier gehe allerdings darin zu weit, dass er den Tierseelen Vernunft beilege. Anstoß nimmt Plitt auch an Meiers Skalierung des Verstandes in vier Grade. Es sei schon richtig, wie Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Metaphysik88 schreibe, dass es unterschiedliche Vollkommenheitsgrade des Verstandes gebe, nur können diese nicht auf vier eingeschränkt werden, sondern seien in ihren Abstufungen schlichtweg ›unzehlbar‹.89 Und die Tiere hätten, da sie »ein ganz ander Wesen haben als wie ein Geist, [...] nicht den geringsten Grad des Verstandes«.90 Analog verhalte es sich mit der Skalierung der Vernunft in zwei Grade. Das alles ist von Plitt ganz wolffisch gedacht: Tiere haben zwar Seelen, verfügen über Sinne, Einbildungskraft und sinnliche Begierden, auch über Affekte, nicht aber über einen mit Verstand und Vernunft verknüpften Willen. Beide, Verstand und Vernunft, seien den Menschenseelen vorbehalten.91 Nächstdem attackiert Plitt Meiers Beweise aus der Erfahrung, insbesondere seine Tiersprachenargumente, die erweisen sollten, dass Tiere nicht nur klare, sondern auch deutliche Begriffe, mithin Verstand und Vernunft hätten. All jene von Meier ins Feld geführte tierische Handlungen ließen sich auch allein aus klaren Begriffen herleiten; ein Rekurs auf deutliche Begriffe sei unangebracht und unnötig.92 Die Kunstfertigkeit der Tiere indes, der Spinnen, Bienen und Schwalben etwa, sei Ausdruck eines im Körper gegründeten natürlichen, d. h. angeborenen
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Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 17 § 3. Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott (s. Anm. 43), S. 492, § 789: »Daß die Thiere auch Seelen haben.« Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 20, § 5. Metaphysica per Alexandrvm Gottlieb Bavmgarten Professorem Philosophiae. Halae 1739, pp. 158, seq. § DCXXXVII; p. 47, § CCXXXXVI. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 23, § 8. Ebd., S. 25, § 9; vgl. Wolff: Psychologia rationalis (s. Anm. 54), S. 678, § 764. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott (s. Anm. 43), S. 552, § 888: »Sinnliche Begierde entstehet aus undeutlichen Vorstellungen des Guten (§ 434) und ist zu ihr der Sinn und die Einbildungs-Kraft genung (§ 277). Da nun die Thiere Sinnen (§ 794) und die Einbildungs-Krafft haben (§ 870); so müssen sie auch sinnliche Begierden haben, die daraus entspringen. Und die Erfahrung stimmet damit überein. Wir finden in den Thieren Affecten diese aber können nirgends seyn, wo nicht sinnliche Begierden statt finden (§ 439).« Ebd., S. 552f., § 889: »Gleichwie die sinnliche Begierde aus den Sinnen und der Einbildungs-Krafft herstammet (§ 434); so kommet hingegen der Wille in soweit er jener entgegen gesetzet wird [...] aus dem Verstande und der Vernunfft, und erfordert demnach eine deutliche Vorstellung des Guten (§ 492, 277), dadurch man eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten bekommet (§ 368), als unseres Thuns mit unserem Zustande (§ 496, 422). Da nun die Thiere keinen Verstand und keine Vernunfft haben (§ 869); so kan ihnen auch eigentlich kein Wille beygeleget werden.« Vgl. auch Wolff: Psychologia rationalis (s. Anm. 54), S. 676–678, §§ 760f., § 763. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 33–37, §§ 14–17.
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Instinktes als eines stimulus (Triebfeder).93 Hierin stimmt er mit Reimarus, der Plitts Arbeit kannte und in seinen Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere erwähnte,94 überein. Eigentlich schöpferisch zeige sich ein solcher stimulus bei Tieren niemals; den Menschen allein sei es vorbehalten, durch oftmaliges Wiederholen Lerneffekte zu erzielen und schließlich einmal »neue Entdeckungen, Veränderungen und Erfahrungen« zu machen.95 Neben dem Vermögen, klare Begriffe zu haben, (1) und dem natürlichen Trieb (2) gebe es, so Plitt, noch eine dritte Quelle tierischer Handlungen, die manche verleitet habe, den Tieren Vernunft zuzusprechen, und das ist das so genannte Vernunftähnliche (analogon rationis).96 Plitt dehnt die Wolffsche Definition des Vernunftähnlichen, der es auf die Erwartung ähnlicher Fälle beschränkte, mit Alexander Gottlieb Baumgarten auf alles aus, was die sinnlichen, also klaren und verworrenen Vorstellungen betrifft. Das gelte für die unteren Erkenntniskräfte (facultas cognoscitiva inferior) ebenso wie für die unteren Begehrungskräfte (facultas appetendi inferior). Zum Vernunftähnlichen gehören der sinnliche Witz (ingenium sensitivum), der sinnliche Scharfsinn (acumen sensitivum), das sinnliche Gedächtnis (memoriam sensitivam), das Dichtungsvermögen (facultas figendi), das sinnliche Urteilsvermögen (iudicium sensitivum), das Vorhersehungsvermögen (expectatio casuum similium) und das sinnliche Bezeichnungsvermögen (facultas characteristica sensitiva).97 Auf die Tiersprache kommt Plitt ausführlich in den Paragraphen 39 bis 41 zu sprechen. Er schließt sich darin ohne Einschränkungen Descartes an, dessen Passage aus der Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs er in extenso zitiert98. Plitt unterscheidet verschiedene Zeichensprachen: Hand-, Fuß- und Augensprache99, aber auch Wortsprachen. Letztere können sich natürlicher oder arbiträrer Zeichen bedienen. Die 93 94 95 96
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Ebd., S. 40, § 20. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 59), S. 61–476, hier S. 260, § 120Anm. 65. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 44, § 21; vgl. Anm. 71. Metaphysica per Alexandrvm Gottlieb Bavmgarten (s. Anm. 88), p. 161, § DCXXXX: »Analogon rationis [est] complexu[s] facultatum animae nexum confuse repraesentantium.« Dt. »Das Vernunftähnliche ist der Inbegriff aller Erkenntnisvermögen, welche die Verbindungen der Dinge undeutlich vorstellen.« (Dt. Georg Friedrich Meier.) Vgl. auch Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott (s. Anm. 43), S. 228f., § 374: »Die Erwartung ähnlicher Fälle (§ 331) hat eine Ähnlichkeit mit der Vernunft. Denn wenn wir gemercket, daß bey gewissen Umständen etwas geschehen ist, und wir uns bey Wiedererblickung eben derselben Umstände darauf Rechnung machen, daß es wieder geschehen soll; so hat es das Ansehen, als wenn man hier eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge hätte und aus einem das andere zu schliessen wüste.« Und ebd., S. 229, § 375 heißt es weiter: »Sie vertritt aber in dem grösten Theile der Handlungen der Menschen nicht allein die Stelle der Vernunft, sondern kan auch der Vernunft gleichgültig (§ 17), ja gar gemäß werden (§ 369), wenn man die Umstände richtig determiniret, unter welchen etwas geschiehet.« Die Erwartung ähnlicher Fälle kann sich auch ohne das Mitwirken der Vernunft, allein durch den Beistand der Einbildungskraft und des Gedächtnisses vollziehen (ebd., S. 229f., § 376). Das lasse sich auch bei den Tieren beobachten. Häufig sei es als Beitrag der sog. tierischen Vernunft gedeutet worden (ebd., S. 230, § 377). Als solches sei das Analogon rationis bei den Tieren »gleichsam der niedrigste Grad der Vernunfft, oder die nächste Staffel zur Vernunfft, oder auch der Anfang der Vernunfft. Unterdessen da die Thiere niemahls weiter kommen; so bleiben sie immer auf der untersten Staffel stehen: sie fangen immer an und vollenden nichts.« (Ebd., S. 540, § 872.) Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 54f., § 29. Ebd., S. 71f., § 39.
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Kreierung und Verwendung arbiträrer Zeichen ist an die Vernunft gebunden und den Tieren daher verwehrt. Eine natürliche Zeichensprache indes wird man ihnen nicht absprechen können; die Möglichkeit ist ihrer körperlichen und seelischen Beschaffenheit zufolge gegeben, die Notwendigkeit mit ihrer Geselligkeit verknüpft, die Wirklichkeit einer solchen durch die tägliche Erfahrung bewährt.100 Die natürliche Zeichensprache ist das den drei Quellen tierischer Handlungen gemäße, d. h. zureichende äquivalente Ausdrucksmittel. Plitts Prüfung von Meiers philosophischer Begründung der Vernünftigkeit tierischer Seelen fällt ernüchternd aus: Alle hierfür von Meier ins Feld geführten Argumente laufen gleichsam ins Leere. Nicht anders verhält es sich mit der Revision der theologischen Argumente.101 Auch hier stützt sich Plitt auf den Satz, dass die Seelen der Tiere wesentlich, und nicht nur graduell, von denen der Menschen unterschieden seien, so dass die Entwicklung der Seelen zu Geistern die Überschreitung einer absoluten Grenze, einen Sprung in der Natur darstellt und anerkannten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zuwiderläuft. Die Natur macht jedoch nicht nur keine Sprünge (natura nihil facit per saltum),102 in ihr geschieht auch nichts ohne hinreichenden Grund. Plitt setzt Meier die Wolffsche Ansicht entgegen, wonach die tierischen Seelen zwar unverweslich (ewig), aber nicht unsterblich seien (da ihnen Bewusstsein fehle) und auch nach ihrer Trennung vom Körper nicht ihr von der Menschenseele unterschiedenes Wesen änderten.103 Meiers Ansichten von den Tierseelen widersprächen nicht nur der Vernunft, da sie ›hypothetisch‹ wie ›moralisch‹ unmöglich sind104, sondern auch der biblischen Offenbarung. Es sei ungereimt, dass die Tiere nach dem Tod der gleichen Herrlichkeit teilhaftig werden sollten wie die Menschen.105 Plitt beruft sich hierfür auf zwei neu- und alttestamentliche Schriftstellen, auf den zweiten Petrusbrief106 und auf den Psalm 32, 9.107 Die beiden Bibelstellen kommen darin überein, dass Tieren keine Vernunft zukomme. In 2 Pt 2, 12 heißt es unmißverständlich: Οὗτοι δὲ, ὡς ἄλογα ζῶα φυσικὰ, γεγεννημένα εἰς ἅλωσιν καὶ φθορὰν, ἐν οἷς ἀγνοοῦσι βλασφημοῦντες, ἐν τῇ φθορᾷ αὐτῶν καταφθαρήσονται, von Luther folgendermaßen verdeutscht: »Aber sie sind wie die vnuernünfftigen Thier / die von natur dazu geborn sind / das sie gefangen vnd geschlacht werden«. Zentral ist hier die Phrase ὡς ἄλογα ζῶα φυσικὰ. Luther übersetze ἄλογον ζῶον zutreffend mit ›unvernünftiges Tier‹, φυσικὰ indes gebe er irrtümlicherweise adverbial und 99
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Vgl. die unter dem Vorsitz des Altdorfer Professors der Geschichte und Metaphysik Daniel Wilhelm Moller (1642–1712) von Georg Gabriel Kessler am 27. Mai 1702 verteidigte Dissertation Συζήτησις De pediloquio. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 76–80, § 41. Ebd., S. 99–148, §§ 52–74. Der gnomisch verdichtete Kontinuitäts- bzw. Stetigkeitsgedanke schreibt sich bereits aus der Antike her (griech. Ἡ φύσις οὐδὲν ποιεῖ ἅλματα). Einer seiner eifrigsten Verfechter war Gottfried Wilhelm Leibniz (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1707), 4, 16, 12: »Tout va par degrés dans la nature et rien par saut et cette règle à l’égard des changements est une parti de ma loi de la continuité.«) Vgl. auch Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott (s. Anm. 43), S. 28f., § 58: »Was die Stetigkeit ist.«, und Carl von Linné in der Philosophia Botanica (1751), S. 27, § 77. Plitt: Prüfung derer Gründe (1749), S. 96, § 50. Vgl. auch Wolff: Psychologia rationalis (s. Anm. 54), S. 656f., § 737; S. 679, § 766; S. 679f., § 769. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 98, § 51. Ebd., S. 131, § 67. Ebd., S. 102–107, § 53. Ebd., S. 107–112, §§ 54f.
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nicht adjektivisch und mit dem Voranstehenden verbunden wieder, wo es hier doch soviel heißt wie ›natürlich‹, dem Ding ›von Natur zugehörig‹. φυσικὸν ζῶον ἄλογον bezeichnet danach ein Tier, das von Natur aus unvernünftig ist. Gleiches werde in Psalm 32, 9 ausgesagt. Dort heißt es: »SEid nicht wie Ross vnd Meuler / die nicht verstendig sind / Welchen man Zeum vnd Gebis mus ins Maul legen / wenn sie nicht zu dir wöllen«. Bei der Übersetzung habe sich Luther wohl nach dem Griechischen und nicht, wie er hätte tun sollen, nach dem Hebräischen gerichtet: Denn aus dem hebräischen Text gehe klar hervor, dass es im Nachsatz nicht »wenn sie nicht zu dir wöllen« heißen sollte, sondern »damit sie sich nicht zu dir nahen«. Zudem ist dort von ( ןיבהVerstand) und ( ןיאnicht) (hebr. ןיא ןיבה, griech. οὐκ ἔστιν σύνεσις) die Rede, wodurch unmißverständlich klar sei, »daß den Thieren gar kein Verstand zukomme. Wo aber kein Verstand ist, da kan auch keine Vernunft seyn«.108 Aber nicht nur den von Gott in der Bibel direkt offenbarten Sätzen widersprechen Meiers Annahmen, sondern auch den sich daraus ergebenden sog. »Folgerungswahrheiten«.109 Das ist der Fall, wenn Meier110 sich für die Wahrscheinlichkeit seiner Versöhnungs- und Wiederbringungstheorie auf Paulus’ Römerbrief 8, 19 beruft, wo es heißt: »Denn das engstliche harren der Creatur wartet auff die offenbarung der kinder Gottes«. (ἡ γὰρ ἀποκαραδοκία τῆς κτίσεως τὴν ἀποκάλυψιν τῶν υἱῶν τοῦ θεοῦ ἀπεκδέχεται.) Diese bis heute von den Theologen vielfach kontrovers diskutierte Bibelperikope mit ihrem argumentativen Fluchtpunkt Röm 11, 32 (»Denn Gott hats alles beschlossen vnter dem vnglauben / Auff das er sich aller erbarme.«) – wobei die Erlösung an die Bedingung des Glaubens geknüpft bleibt; vgl. Röm 1, 16f. – birgt viel Konfliktpotential, finden sich doch im Römerbrief Belege für einen eschatologischen Dualismus ebenso wie für einen Universalismus.111 Vor allem überrascht die Röm 8, 19 – 22 gegebene, die gesamte unbelebte und belebte Schöpfung gleichermaßen einbegreifende Erlösungsthese, auf die schon Johannes Chrysostomos aufmerksam machte.112 Daher wird der paulinische Brief gewöhnlich immer dann herangezogen, wenn es darum geht, eine neutestamentliche Allversöhnungslehre zu begründen, die der Universalität der Sündenverfallenheit eine ebensolche der Erlösung an die Seite stellt. Entscheidend hierfür ist das Verständnis von κτίσις; »alle schwärmerische Gedanken, welche manche Ausleger der h. Schrift bey dieser Stelle vorgetragen haben, sind größtentheils in der unrichtigen Bestimmung der Bedeutung dieses Worts gegründet«.113 Es lässt sich als Vorgang übersetzen, als ›Schöpfung‹, oder als Ergebnis der Handlung, 108 109 110 111
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Ebd., S. 110f., § 55. Ebd., S. 100, § 52. Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 115, § 66: »Ja vielleicht liesse sich, das ängstliche Harren der Creatur, durch diese Meinung aufs ungezwungenste erklären.« Vgl. Horst R. Balz: Heilsvertrauen und Welterfahrung. Strukturen der paulinischen Eschatologie nach Römer 8, 18–39. München 1971, S. 11f. u. S. 15–26; Olle Christoffersson: The Earnest Expectation of the Creature. The Flood-Tradition as Matrix of Romans 8: 18–27. Stockholm 1990, S. 19–46, und Klaus Haacker: Der Brief des Paulus an die Römer. Leipzig 42012, S. 200. Vgl. MPG 60 (1862), 529f. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 120, § 62. Heutige Exegeten schließen sich dem Meierschen Verständnis von κτίσις an dieser Stelle an; vgl. Hans-Jürgen Findeis: Von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit. Zur Hoffnungsperspektive der Schöpfung nach Röm 8, 19–22. In: Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments. FS Wilhelm Thüsing. Hg. v. Thomas Söding. Münster
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als ›Geschöpf‹, ›Kreatur‹ wiedergeben. Wenn es als ›Geschöpf‹, d. h. als etwas Erschaffenes aufgefasst wird, das den Grund seiner Wirklichkeit nicht in sich, sondern außer sich hat – worin sich alle Übersetzer einig sind –, so bleibt zu klären, welche Art von ›Geschöpf‹ gemeint ist. Fünf Bestimmungen konkurrieren miteinander: (1) die unbelebten und unvernünftigen Geschöpfe sowie die Sonne, die Planeten und Sterne sowie die Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft; (2) die guten Engel, (3) alle Menschen, (4) die noch unbekehrten Heiden und (5) die bekehrten Heiden. Letztere Bedeutung allein, so Plitt, werde dem Intendierten vollauf gerecht. Die erste Bestimmung jedoch, der auch Meiers Lesart entspricht, sei – wohl auch, weil ihr als in paulinische Soteriologie eingebetteter kosmologischer Eschatologie eine säkularisierende Tendenz innewohnt – ›ungereimt‹ und von den »ältern Manichäer[n], Priscillianisten, Origenisten« vertreten worden, die »sich lächerliche Irrthümer in den Kopf gesetzt« hätten.114 Plitt beruft sich für seine Interpretation von κτίσις als ›Heide‹ auf das hebr. היירבim Auslegungsmidrasch Bereschit rabba (5. Jh.) zur Genesis.115 Das deckt sich mit dem Inhalt des achten Kapitels, wonach »die durch den lebendigen Glauben an Jesum Christum gerechtfertigten Selen von aller Verdammniß frey wären«.116 Nicht die apokalyptische Sehnsucht der gesamten Schöpfung noch die der unbeseelten oder beseelten Schöpfung schlechthin, sondern nur die Sehnsucht gläubiger, mithin vor Gott gerechtfertigter vernünftiger Seelen,117 also der ›Kinder Gottes‹, nach Befreiung und kommender Herrlichkeit, werden hier thematisch. Für das Verständnis von Röm 8, 19 bedeutet das: »das sehnliche Warten, das ernstliche Verlangen,118 derer aus denen Heiden zu Christo bekehrten, aber noch unter dem Joch ihrer leiblichen Herren seufzenden und die Bande der Knechtschaft tragenden Christen, ist sehr groß, und wartet zugleich mit uns mit der inbrünstigsten Begierde auf die Zeit, da eben diese Herrlichkeit an denen Kindern Gottes offenbaret werden soll«.119 Die Paulinische Formulierung verliere allein damit alle Dunkelheit. Sie zwingt nicht nur nicht zur Annahme einer tierischen Vernunft im dies- und jenseitigen Leben, sondern widerspricht dieser geradezu: Würde nicht, wenn man die Meynung des Hr. Professors annehmen wolte, daraus folgen, daß manches Thier, Ochse, Esel, Hund, eben der Herrlichkeit dereinst nach dem Tode teilhaftig werden solle, welche denen Kindern Gottes, denen Glaubigen, alsdann mitgetheilet werden soll? Aber wer kan dieses wohl in Ernst ohne einen innern Widerspruch seines eigenen Gewissens behaupten? Ich glaube kein Mensch.120
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1996, S. 196–225, bes. S. 210, S. 212f., S. 217f., S. 222–224; Jens Adam: Paulus und die Versöhnung aller. Eine Studie zum paulinischen Heilsuniversalismus. Neukirchen-Vluyn 2009, S. 350f., und Balz: Heilsvertrauen und Welterfahrung (s. Anm. 111), S. 17, sowie Martin Brecht: Der Mensch in der als Schöpfung aufgefaßten Welt. Die Konzeption einer pietistischen Kreaturen-Theologie. In: Pietismus und Neuzeit 36 (2010), S. 119–140. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 121, § 62Anm. *. Ebd., S. 122, § 63. Ebd., S. 124, § 64. Die Vernünftigkeit der Seelen bezeuge auch das ἀποκαραδοκία, wörtl. Erwarten, Sehnsucht, von τό κάρα, das Haupt, der Kopf, und δοκεύω, ich warte, lauere, also: »etwas mit ausgestrecktem Haupt, mit ausgestrecktem Halse, das ist, sehnlich erwarten« (ebd., S. 126, § 64). Luthers Übertragung »engstliche harren« steht quer zu Röm 8, 15 und verkennt die Zuversichtlichkeit der Erwartung (vgl. Phl 1, 20). Dazu Haacker: Der Brief des Paulus an die Römer (s. Anm. 111), S. 200f. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 125, § 64. Ebd., S. 130f., § 67.
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Plitts Fazit ist niederschmetternd: Meiers Abhandlung verstoße gegen Vernunft- wie Offenbarungswahrheiten gleichermaßen und sei daher gefährlich. Er nehme Unmögliches an, indem er »die Arten derer Dinge miteinander vermischet« und damit die »Ordnung der Natur« unterläuft.121 Auch im Hinblick auf die tierethische Dimension der Fragestellung sind beider Konsequenzen verschieden: Während Meier Gottes Genugtuung für die irdischen Leiden der tierischen Kreaturen geltend macht und damit ihre dereinstige Vergeistigung begründet, verweist Plitt auf den Grundsatz, dass die Absicht Gottes aus dem Nutzen der Dinge zu schlussfolgern sei (vsus rerum sunt fines Dei)122, so dass der Tiertod auch kein Übel (malum), für das Genugtuung eingefordert werden könnte, sondern ein Gut (bonum) sei. Das Tier verdankt sein Dasein der menschlichen Dienstbarkeit.123 Ihr Tod »ist etwas gutes, folglich nichts böses, folglich kein Übel [...]. Sie [die Tiere] haben kein Recht etwas anders von denen Menschen zu fodern«.124 Sie sind der himmlischen Gerechtsame nicht fähig, da sie weder der Freiheit teilhaftig und damit sündenfähig seien noch über Personalität verfügten. Im Gegensatz zu Meier, der tendenziell die eschatologische Gleichheit aller Kreaturen betont (Universalismus), vertritt Plitt, darin ganz und gar lutherisch-orthodox argumentierend, ihre fortdauernde Ungleichheit. Tiere seien keine mit Freiheit und Bewusstsein begabten Personen, daher auch nicht straffähig.125 Ihr Tod könne daher auch nicht als Strafe aufgefasst werden. Sie seien bestimmt, den Menschen zu nutzen und als Nahrungsmittel zu dienen. Meiers Behauptung, der ›verächtliche Wurm sei ein künftiger Verehrer Gottes‹126, müsse zurückgewiesen werden. Der protestantischen Rechtfertigungslehre zufolge könnten die Tiere durch ihr Leiden von Gott keine Genugtuung erlangen. Allein durch Glauben (sola fide) könne man der Seligkeit teilhaftig werden (Apg 4, 12. Röm 3, 28), was voraussetzt, dass Tiere in der Lage sein müssen, an Gott glauben zu können: »Welche anstößige Folgerungen!«127 Gott habe zwar unzweifelhaft die Welt zu seiner Ehre hervorgebracht, nicht jedes der Geschöpfe aber könne seine Vollkommenheiten ›erkennen‹ und ihn dadurch ›verherrlichen‹. Die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe könnten Gott vielmehr nur ›objektiv‹ (Ps 19, 2), die Geister darüber hinaus aber auch ›subjektiv‹ verherrlichen. Plitts Widerstand gegen Meiers origenistischen Universalismus mündet schließlich in der rhetorischen, ins Extrem getriebenen Frage, was ihn denn nach der Annahme, alle Tierseelen würden einmal Geister, noch hindere, die Vergeistigung auch noch auf die Gesamtheit aller leblosen Kreaturen auszuweiten?128 Die Annahme einer postmortalen ›Vervollkommnung‹ der Schöpfung zur Verherrlichung des vollkommenen Schöpfers sei un121 122 123
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Ebd., S. 132f., § 69. Ebd., S. 143, § 73. 1 Mo 1, 28–31: »Vnd Gott segnete sie [Menlin vnd Frewlin] / vnd sprach zu jnen / Seid fruchtbar vnd mehret euch vnd füllet die Erden / vnd macht sie euch vnterthan. Vnd herrschet vber Fisch im Meer / vnd vber Vogel vnter dem Himel / vnd vber alles Thier das auff Erden kreucht.« Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 138f., § 71. Zur Voraussetzung der vom Bewusstsein (apperceptio, conscium esse) gestifteten Personalität für Strafen und Belohnungen im Reich Gottes vgl. Meier: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (Halle 1746, S. 49f.), sowie Ders.: Beweis, daß keine Materie denken könne (Halle 21751, S. 74f.). Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 118, § 70. Plitt: Prüfung derer Gründe (s. Anm. 64), S. 114, § 57. Ebd., S. 146f., § 74.
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vereinbar mit seiner Vollkommenheit als Vollkommenheit. Eine Dynamisierung des Schöpfungsplanes widerspräche der geschlossenen Architektonik des biblisch offenbarten Weltbildes und trüge letztlich nicht zur Verherrlichung bei, sondern unterstellte in letzter Konsequenz Gottes Schöpfung Unvollkommenheit. Plitts Affront gegen Meiers universalistische Interpretation der Wiederbringungslehre liegt in seiner lutherisch-orthodoxen Haltung begründet: Wir wissen, daß Gott alle Menschen wolle selig haben, 1 Tim. 2, 4. Wir wissen, daß er ihnen auch deswegen seinen eingebohrnen Sohn geschenket habe, damit sie der wieder mit ihm versöhnen möchte. Joh. 3, 16. Wir wissen, daß dieser auch würklich in die Welt gekommen, für die Menschen das Gesetz erfüllet, Gal. 4, 4. und daß sie, wenn sie nur an ihn glauben, auch ewig selig werden sollen. Röm. 3, 28.129
Verdammung der unbekehrten Heiden, Christologie und föderaltheologisch gefasste, Versöhnung, Erlösung und vollendende Weltwiederherstellung bringende eschatologische Perspektive lassen sich mit der von Meier für die Tierseelen in die Diskussion eingebrachten heterodoxen Wiederbringungslehre schlechterdings nicht vermitteln.130
4. Glaubt nicht, dass ohne Huld die Gottheit strafen kann Plitts Kritik konnte den publizistischen Erfolg von Meiers Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere, der nichts weniger als eine Gelegenheitsschrift darstellt,131 indes nicht nachhaltig schmälern. Er findet vielfach begeisterte Aufnahme, so bei Johann Friedrich Scholz und Georg Schade,132 aber auch bei dem jungen Christoph Martin Wieland. Wieland, der Meier im Frühsommer 1751 sein Lehrgedicht Die Natur der Dinge zur kritischen Durchsicht und Veröffentlichung zusendet,133 ist nicht nur ein eifriger und genauer Leser der Beurtheilung des Heldengedichts, 129 130
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Ebd., S. 134, § 70. Vgl. Confessio Augustana. Art XVII: »De Christi Reditu ad Iudicium. Item docent, quod Christus apparebit in consummatione mundi ad iudicandum, et mortuos omnes resuscitabit, piis et electis dabit vitam aeternam et perpetua gaudia, impios autem homines ac diabolos condemnabit, ut sine fine crucientur. Damnant Anabaptistas, qui sentiunt hominibus damnatis ac diabolis finem poenarum futurum esse.« Dt. »Der siebenzehende Artickel: [Von der Wiederkunft Christi zum Gericht.] Auch wird gelehret, daß unser HERR JEsus Christus am Jüngsten Tage kommen wird, zu richten, und alle Todten auferwecken, den Glaubigen und Auserwehlten ewiges Leben und ewige Freude geben, die gottlosen Menschen aber, und die Teuffel, in die Hölle und ewige Straffe verdammen. Derhalben werden die Wieder-Täuffer verworfen, so lehren, daß die Teuffel und verdammte Menschen nicht ewige Pein und Quaal haben werden.« Der Versuch eines neuen Lehrgebäudes (s. Anm. 21) ist – wie die Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (s. Anm. 125) und der Beweis Daß die Menschliche Seele ewig lebt (Halle 1751) auch – inhaltlich und systematisch in Meiers Metaphysikkonzeption als integraler und systematischer Bestandteil in der rationalen Psychologie verankert (Meier: Metaphysik Dritter Theil [s. Anm. 27], S. 499, § 786, u. S. 501, § 788). Vgl. Mulsow: Monadenlehre (s. Anm. 21), S. 65–67. Vgl. Dieter Martin: »Die Natur der Dinge«. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart, Weimar, S. 152–156, sowie Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands »Natur der Dinge«. Würzburg 1989.
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der Meßias (Halle 1749)134 – jenes Klopstockschen Gedichts, das sich »der sündigen Menschen Erlösung«135 widmet, und zwar aller! –, sondern ist auch ein aufmerksamer und dankbarer Rezipient des Versuchs eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. Davon zeugt die in Alexandrinern abgefasste Lehrdichtung Die Natur der Dinge mit der ihr inkorporierten Eloge: O Meyer, den mit Lust das kluge Deutschland liest, Von dessen weisem Mund platonscher Honig fließt, Wie deutlich hast du uns die Möglichkeit gelehret, Daß sich auch in dem Vieh der Seele Werth vermehret. Dir löset die Natur des Knotens schwierig Band, Aus welchem Leibnitz sich kaum durch Maschinen wand.136
Wieland eint mit Meier und u. a. Brockes die Überzeugung, daß grundlegende theologische Dogmata korrekturbedürftig sind. Möglicherweise begünstigte diese pietistische Residentia wie etwa die Lehre von der Apokatastasis panta und das Primat des Gefühls als Affekt (nicht als Empfindung) vor dem Verstand. Deutlich zeigt das bereits der Anlaß der Lehrdichtung, der Besuch einer »etwas kalten«137 Sonntagspredigt des Vaters über 1 Jh 4, 8 und 16: »GOtt ist die Liebe« (ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν),138 die dem Sohn »höchlich missfallen« hat. Mit »Exaltation und 134
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Vgl. dazu Hans-Joachim Kertscher: Gotthold Ephraim Lessings Kritik an Georg Friedrich Meiers MessiasRezension. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Manfred Beetz u. Giuseppe Cacciatore. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 237–254. [Friedrich Gottlieb Klopstock] Der Messias ein Heldengedicht. Halle 1749, S. 3, 1, 1. [Gesänge 1–3 zit. nach: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. Werke. Band 4.3: Der Messias. Text / Apparat. Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1996, S. 1–66 (=Hamburger Klopstock-Ausgabe)] »Übrigens habe er sich schon in seiner Jugend nie eine ewige Hölle denken können, sondern eine solche Behauptung stets für eine wahre Gotteslästerung gehalten, und daher sey die Idee von dem geretteten Abbadonna so früh in seinem Gedichte vollendet worden. Selbst über den Versöhnungstod habe er früh eine andere Vorstellung gehabt, als die strenge dogmatische. [...] das Erlösungswerk [dürfe] man nicht für einen verpflichtenden Glaubenspunkt, sondern für das, was es doch aller Geschichte zufolge allein seyn könne, für einen jüdisch-christlichen Mythos [...] halten« ([Carl August Böttiger] Klopstock, im Sommer 1795. Ein Bruchstück aus meinem Tagebuche. In: Minerva. Sechster Jahrgang für das Jahr 1814. Leipzig, S. 313–352, hier: S. 345f.). Vgl. auch Klopstocks Brief an Carl Friedrich Cramer (11. Januar 1791). In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Abt. Briefe. Band 7.1: Briefe 1783–1794. Hg. v. Helmut Riege. Berlin, New York 1994, S. 213–216, hier S. 215 (=Hamburger Klopstock-Ausgabe). Dazu Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Kronberg/Ts. 21975, S. 174–190; Johann Anselm Steiger: Aufklärungskritische Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi und Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Christian Friedrich Daniel Schubarts. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 125–172, hier S. 163–167, Walter Sparn: »Der Messias«. Klopstocks protestantische Ilias. In: Protestantismus und deutsche Literatur. Hg. v. Jan Rohls u. Gunther Wenz. Göttingen 2004, S. 55–80, und Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 205–260. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 136. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 109: 5, 447–452. [Christoph Martin Wieland]: Anti-Ovid, oder die Kunst zu lieben. Mit einem Anhang lyrischer Gedichte. Amsterdam 1752, S. 1–20, Anti-Ovid, Erster Gesang, hier S. 18: »mit denkendem Verstand │Den Fontenell und Meier unterhalten«. [Ders.]: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts der Noah. Von dem Verfasser des Lehrgedichts Uber die Natur der Dinge. Zürich 1753, S. 322. Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt. Ein Lehrgedicht in sechs Büchern. 1751. In: C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Supplemente. Erster Band. Leipzig 1798, S. 5. Vgl. Thomas Söding: »Gott ist Liebe«. 1 Joh 4, 8. 16 als Spitzensatz Biblischer Theologie. In: Der lebendige Gott (s. Anm. 113), S. 306–357.
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Beredsamkeit« habe er daraufhin »sein System der Liebe«, eben jene Natur der Dinge entworfen, worüber er mit seinem Vater sodann in Streit geriet.139 Streitpunkte werden der Gottesbegriff ebenso wie die sich daraus ergebenden soteriologischen und eschatologischen Konsequenzen gewesen sein. Wieland wird nicht müde, in seinem Gedicht Gottes Liebe, Barmherzigkeit und Güte140 zu betonen, dem es ferne sei, über die Sünder ewige Höllenstrafen zu verhängen: »Glaubt nicht, daß ohne Huld die Gottheit strafen kann, | Die Liebe bessert stets. Ein wüthender Tyrann | Straft bloß um weh zu thun, Gott züchtiget zu bessern, | Und wird dem, den er straft, die Huld auch einst vergrößern«. Nachdem sich die reuigen Sünder nach »lange[r] Quaal und Angst und späte[m] Leid« im Bußkampf gereinigt und entstofflicht haben, werde sich der Schöpfer ihrer erbarmen und sie schließlich auch in die Schar der Seligen aufnehmen.141 An die Stelle der Leibnizschen Monadologie, die Wieland im Gegensatz zu Meier ablehnt, setzt er, im Bestreben, die ›Harmonie‹ noch weiter als jener zu treiben, den Pythagoreischen Dualismus142 und deutet die Welt pythagoreisch-neuplatonisch: Danach ist die beständig wirkende Gottheit allein »eine wahrhaftige Monas« (μονάς), die Welt hingegen »ein zusammengesetztes aus geistigen und körperlichen Kräften«, eine »Dyas« (δυάς).143 Während die Monas das Bestimmende, ist die Dyas das Bestimmbare. Gott ist »der Quell, aus welchen alles fließet, und in welchen alles zurückströmet«.144 Davon ausgehend konzipiert Wieland seine soteriologischeschatologische Seelenwanderungslehre.145 Die »aus Geistern und Körpern« bestehende harmonische Welt (ἁρμονία) ist das »Werk eines unendlichen Wesens«. Auch die Gestirne lassen sich als »Thiere« auffassen, da sie wie jene beseelte Körper seien. Mit Platon (Plat. Tim. 30–31) postuliert er, dass das Vollkommenste stets Vollkommenes und eher Vernunftbegabtes als VerKarl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. v. Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin 2005, S. 274 (3. Januar 1801) und S. 232 (28.–30. Dezember 1797). 140 [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 49f., S. 131, S. 135, S. 158, S. 164. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 48f.: 2, 473–477. 479f. 489–491. S. 105: 5, 307. S. 108: 5, 437. 445. S. 124: 6, 257. 262. S. 128: 6, 417. 141 [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 159–161, und S. 158–164 (vs. ewige Höllenstrafen). AA I/1 (s. Anm. 1), S. 125f.: 6, 295–338. S. 124–128: 6, 257–418, hier: S. 125: 6, 321–324. S. 126: 6, 333. In seiner Besprechung von 1, 396 (»GOtt ist die Liebe«) des Klopstockschen Messias lobt Meier enthusiasmiert und eben nicht von ungefähr: »Wie evangelisch, wie erquickend ist dieses nicht! Die gantze Rede, die der Dichter GOtt den Vater halten läßt, ist die Rede eines zärtlichen Vaters, eines Erbarmers« (Georg Friedrich Meiers Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück. Zweyte Auflage. Halle im Magdeburgischen. Verlegts Carl Herrmann Hemmerde. 1752, S. 24). Ähnlich lässt sich Brockes vernehmen: Sich Gott als einen »alten Mann« vorstellen, der »nur aufs Böse siehet«, um die »Laster scharf zu bestrafen« hieße, sich einen »unanständigen« Begriff von seiner Vollkommenheit zu machen. Gott ist nicht nur unendlich gerecht, unendlich sind auch seine Weisheit und Liebe: »gerecht ist seine Liebe. Sie straft zur Beßrung allezeit.« (Barthold Heinrich Brockes: Geistige Abgötterey und ihre Schädlichkeit. In: Herrn B. H. Brockes, L. weil. Rathsherrn der kaiserlichen freyen Reichsstadt Hamburg, Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur, Nebst seinen übrigen nachgelassenen Gedichten, als des Irdischen Vergnügens in GOTT Neunter und letzter Theil. Mit Königl. Poln. und Churfl. Sächs. allergnädigster Freyheit. Hamburg, bey Georg Christian Grund, und in Leipzig bey Adam Heinrich Holle, 1748, S. 417.) 142 [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. [a5b]. b5a. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 5 u. S. 13. 143 [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. [a6a]. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 6. Vgl. Hippol. haer. 6, 23. 144 [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. [a5b]. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 6. 145 Vgl. dazu [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. b4b. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 12. 139
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nunftloses hervorbringe.146 »Gott ist das Muster, wornach die Welt gebauet ist. Dieser platonische Satz«, so Wieland, »ist der Mittelpunct der Vollkommenheit unsers Systems«. Alle gottesebenbildliche Substanzen, die Seelen, sind »zur Empfindung geschickt«, da Gott ein »empfindendes Wesen« ist.147 Mit der Ebenbildlichkeit ist den Seelen viererlei eigentümlich: Sie empfinden oder stellen sich Wahrheiten vor (1), können Vergnügen empfinden (2) und Vollkommenheiten lieben, wenn auch einige nur die sinnlichen, und nicht auch die ewigen gottähnlicheren (3), und sind imstande, durch eine ihnen eigene »Schöpfungskraft« »etwas von ihnen abhängendes wirklich [...] [zu] machen«, Geistiges und Materielles (4).148 Als »Spiegel der Gottheiten« sind, unter Berufung auf Cicero (Cic. rep. 6, 26), die ›Geistigkeiten‹ gleichsam »Untergötter«.149 Sie lassen sich anhand des Vollkommenheitsgrades ihrer Gottähnlichkeit in verschiedene Arten unterteilen: Cherubime und Seraphime (1), Menschenähnliche (2), Menschen (3), Tiere einschließlich der Gestirne (4) und Pflanzen (5).150 All diese Wesen strebten nach der Vereinigung mit Gott, und werden sie schließlich auch, nachdem sie sich vervollkommnet haben werden, »alle erhalten«.151 Dass die Tiere beseelt sind, ist für Wieland ebenso unstreitig wie die Existenz von Pflanzenseelen, Planeten-, ja sogar so etwas wie elementarischen Seelen152 (möglich, dass er hierbei die im hermetisch-kabbalistischen Schrifttum begegnenden Nymphen bzw. Ondinen, Sylphen, Gnomen und Salamander im Sinn hat153). Der Plausibilität halber greift er dafür auf ein Meiersches Argument zurück: »Was für ein Meer von Lust verflöße ungeschmecket? | Wie viele Anmuth blieb unbrauchbar und verstecket?«154 Der Mensch, die irdische Krone der Schöpfung, steht im Verbund der Kette der Wesen allen anderen Seelenwesen voran. Der Abstand zwischen Tier und Mensch ist jedoch bei weitem nicht so groß, wie häufig angenommen wird.155 Was das Tier vom Menschen unterscheidet, sind sicher nicht der Verstand und die Vernunft. Eher noch seien das Lachen oder die Sprache
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[Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. [a6a.b]. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 6. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. [a7a]. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 7. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. b1a.b. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 8. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. b2a. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 10. Vgl. dazu Leibniz’ Rede von den Menschen als ›kleinen Göttern‹ (›petits Dieux‹; Leibniz: Theodicee, § 147). [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. b3a.b. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 10. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. b6a. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 14. »Was dieses All umfängt, | Ist bloß die ewge Schaar, die sich empfindt und denkt, | Von welcher jedes Glied in einem Leib sich zeiget, | Durch den es nach und nach auf höh’re Stufen steiget. | Die Sonnen, die sich dort in lichten Wirbeln drehn, | Planeten, Luft und Meer, und alles was wir sehn, | Ist nicht ein bloßer Stoff, der unbeseelt veraltet. | Nein, Geistigkeiten sinds, die uns ihr Leib gestaltet.« [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 83f. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 72: 3, 747–754. Vgl. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 110. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 91: 4, 659. Siehe dazu u. a. die um 1700 äußerst populäre Schrift Le Comte de Gabalis ou Entretiens sur les Sciences secretes (A Paris M.DC.LXX. Avec Privilege du Roy.) von Nicolas-Pierre-Henri de Montfaucon, abbé de Villars (1635–1673). [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 96. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 82: 4, 295f. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 97: »Gesteh, erhabner Mensch, zum mindsten im Vertrauen, | Du bist von gleichem Stamm mit dem verworfnen Vieh, [...] | [...] dich bläht dein tiefers Wissen.« Möglich sei auch ein Abstieg auf der Wesensleiter (vgl. ebd., S. 135). AA I/1 (s. Anm. 1), S. 82: 4, 304f. 311. S. 108: 5, 422–426.
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Anthropina.156 Tiere, so Wieland, können schlussfolgern und willkürlich und moralisch handeln. All dies versetze sie in die Lage, sich dereinst, im postmortalen Zustand, zu vervollkommnen und weitere Stufen der Wesensleiter zu erklimmen: »Jetzt sind sie [die Tiere] nicht was wir; und wird nach fernen Tagen | Sie einst ihr künftig Glück auf unsre Staffel tragen, | So wird ein gleicher Weg, den alle Geister gehn, | In beßre Nachbarschaft uns über sie erhöhn«.157 An der Vervollkommnungsmöglichkeit partizipieren auch die Pflanzenseelen; sie erhüben sich dereinst zum Tier: »Der Floren düftig Volk hebt sich durch gleiches Recht, | Wenn es verblühend stirbt, zum thierischen Geschlecht«.158 Damit bricht Wieland die theologisch verbürgte Konstanz der Arten spekulativ auf: »Nach manchem Jahre geht ein neuentstandnes Thier | Aus niedrern Classen aus, lebhafter an Begier | Und reifer zum Genuß«.159 Die Chain of being wird so nicht nur temporalisiert und dynamisiert, sondern auch substantiell veränderbar gedacht. In der Näherung zu Gottes »entfernten Thronen«, zum »Ursprung« des Alls, »wächst die Kraft« in den Seelen und lässt sie »in höhre Sphären« gelangen.160 Daraus erklärt sich jene Transitorik der Dinge (daher der Titel Die Natur der Dinge, nicht der Seelen), die mit der Dialektik von Materiellem und Geistigem gegeben ist. Der schöne Marmor birst in der »lüftigen Fluth« von Wind und Wasser in seine Bestandteile, die dann von den Pflanzen und Tieren aufgenommen werden (»Sinkt thauend in ein Kraut, und mehrt der Thiere Blut«), solange, bis sich das »inner[e] Licht« des Marmors, sein noch ›protoseelischer‹ Bestandteil, »aus seinen Wolken dränget, | Und selbst zur Seele wird, und einen Leib empfänget, | Der größre Bilder faßt«. So bahnt die Vergänglichkeit des Materiellen, sein Zerfall, der verschönernden Neuordnung der Schöpfung den Weg. Das ist das »ewige Gesetz, der Wesen steter Lauf« im Mikro- wie im Makrokosmischen, die sich in Ewigkeit »auf gipfellosen Leitern« bewegen.161 Wielands argumentative und inhaltliche Abhängigkeiten von Meiers Tierseelenschrift sind unverkennbar. Wie dieser wählt er nicht einen kosmologischen Ausgangspunkt schlechthin, sondern einen schöpfungs- bzw. naturtheologischen. Und ebenso wie dieser ist ihm an der Vermehrung der Verehrer Gottes durch umfänglicheren Niesbrauch der Schöpfung gelegen. Im Unterschied zu diesem beschränkt er sich jedoch nicht auf die Tierseelen – für die Annahme von Pflanzenseelen hat Meier nur Spott übrig162 –, sondern weitet die Apokatasis panta-Lehre 156 157 158 159 160 161 162
[Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 134. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 107: 5, 390–396. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 100. Vgl. auch ebd., S. 133f., und S. 131 (Seelenaufstieg, Astralleib). AA I/1 (s. Anm. 1), S. 84: 4, 399–402. S. 106f.: 5, 365f. 381–385. S. 105: 5, 303–318. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 133. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 107: 5, 373f. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 145. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 115: 5, 697–699. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 140. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 111: 5, 558f., 561. [Wieland] Die Natur der Dinge (s. Anm. 1), S. 140, 147. AA I/1 (s. Anm. 1), S. 112: 5, 567–571. 575. S. 117: 6, 11. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, S. 542, § 372. Wieland rechtfertigt seine Ansicht, wonach »[a]lle empfindende Wesen […] zur Glückseligkeit bestimmt« sind, ungeachtet des zweifellos vorhandenen »sittlichen Übels« mit dem Hinweis auf »die bekannte Hypothese des Origenes«, des »gelehrteste[n] und tugendhafteste[n], unter den christlichen Vätern des dritten Jahrhunderts«. Origenesʼ Apokatastasishypothese sei, so Wieland, »ungeachtet sie von der Kirche verworffen worden, in einer poetischen Cosmologie, wo das ganze System bloß als eine wahrscheinliche Dichtung anzusehen ist, gar wol [zu …] dulde[n]« ([Wieland]: Die Natur, oder die vollkommenste Welt; ein Lehrgedicht, in sechs Büchern. In: Poetische Schriften Des Herrn Wielands. Ier Band. Zürich [1761, vordatiert auf] 1762, S. 21–178, hier S. 163f.).
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kosmisch. Mit der bei Wieland weit stärker hervortretenden naturtheologischen Fundierung werden die säkularen Tendenzen der Apokatastasis panta-Lehre forciert, was Meiers in Vorrede zur Natur der Dinge geäußerten philosophischen Vorbehalt erklärt.
5. Wir Menschen sind Kinder des Vergnügens Zentral für die Argumentationen Meiers wie Wielands sind der neue Stellenwert der Sinnlichkeit und des mit ihr verbundenen Genusses. Die Aufwertung des sinnlichen Genusses wird als gleichsam sub species aeternitatis notwendig ausgewiesen. Meiers Uminterpretation von Baumgartens Theorem der ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‹163 unter Rückgriff auf LeibnizWolff, wonach die »Schönheit in der sinnlicherkannten Vollkommenheit«164 bestehe, in die ›sinnliche Erkenntnis des Vollkommenen‹165, wird damit umso verständlicher, obgleich Baumgartens neue Erkenntnislehre des ›Sinnlichen‹ und die von ihm eingezogene Unterscheidung zwischen logischer Vollkommenheit auf der einen Seite und sinnlicher auf der anderen, dadurch wieder eingeebnet zu werden drohen.166 Meiers Fokus ist eben kein primär erkenntnistheoretisch-philosophischer, sondern ein theologisch-kosmologischer: Ich will alle Wissenschaften und Künste, die gesamte Weltweisheit, die Naturlehre, die Mathematick, die Anatomie, die Historie und wie sie alle heissen mögen, als einen nothwendigen Anhang und Commentarius zur Gottesgelahrtheit ansehen, ohne welchem dieselbe gantz dunckel, unverständlich und verworren bleibt.167
Die Wissenschaften und Künste sind vielmehr nur unterschiedliche Arten der Religionsausübung. Denn Religion ist wesentlich »lebendige[] rührende[] und thätige[] Erkentniß der göttlichen Vollkommenheiten«.168 Vehement streitet Meier deshalb gegen ein Religionsverständnis, das sich »alle[m] Vergnügen, alle[r] Wollust der Sinne, alle[m] Gebrauch der zeitlichen und irrdischen Güter« widersetzt. Vielmehr gehören sinnlich-vergängliche Vergnügen gleichermaßen zur Religion wie zum Menschen:
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Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnvllis ad poema pertinentibus. Halle 1735, S. 6f. 4. 7–8. Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, qua ea, quæ de anima humana indubia experientiæ fide constant, continentur et ad solidam universæ philosophiæ practicæ cc theologiæ naturalis tractationem via sternitur. Autore Christiano Wolfio [...]. Editio nova priori emendatior. Cum privilegiis. Francofurti & Lipsiæ MDCCXXXVIII. Prostat in officina libraria Rengeriana, S. 421, § 545. Georg Friedrich Meiers öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. [Erster Theil] Halle 1748, S. 38, § 23: »Daß die Schönheit überhaupt eine Vollkommenheit sey, in so ferne sie undeutlich oder sinlich erkant wird, ist, unter allen gründlichen Kennern der Schönheit, heute zu Tage eine [...] ausgemachte Sache.« Vgl. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 83f., und Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Band 5/2: Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 194. Georg Friedrich Meiers öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle Gedancken von der Religion. Halle 1749, S. 39, § 22. Ebd., S. 86, § 42.
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Hans-Peter Nowitzki Wir Menschen sind, unserer gantzen natürlichen Anlage und Bestimmung nach, Kinder der Lust, des Vergnügens und der Frölichkeit. GOtt hat uns in die allerschönste Welt gesetzt, welche mit unendlich vielen reitzenden Schönheiten ausgeschmückt ist. Alle unsere Sinne und Erkentnißkräfte sind recht dazu gemacht, das Vergnügen mit tiefen Zügen zu trincken, welches von allen Creaturen her auf uns zuwalt.
Dieses »unschuldige Vergnügen« ist etwas Natürliches, dem Menschen von Gott Mitgegebenes, nichts zu Unterdrückendes oder zu Verfemendes. Vielmehr ist es Gottes Wille, »alles mögliche Vergnügen aus dem Creaturen [zu] schöpfen«.169 Der Mensch ist daher verpflichtet, seine Sinnlichkeit zu schulen und zu verbessern, denn ohne diese ist er nicht vermögend, »das Weltgebäude zur Ehre GOttes recht [zu] beschauen«.170 Die theologische Beschäftigung mit Gott und seiner Vollkommenheit ist ein »Dienst Gottes« wie die »vollständige[] [naturwissenschaftliche] Erkenntniß einer Sache [und] [...] ihrer Folgen und Würckungen«. Und nicht nur die Gegenstände Gott und sein Schöpfungswerk (revelatio naturalis), sondern auch die Vermögen, dieselben zu erkennen und zu genießen, sind göttlich.171 »[L]ebendige[] Erkentniß der göttlichen Vollkommenheiten«172 und ihr Genuss, vorausgesetzt, sie beziehen sich auf Gott, sind Meier essentielle Bestandteile von ›Religion‹.173 »Dergestalt können und müssen alle Wissenschaften
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Ebd., S. 103–105, § 48. Vgl. auch Meier: Beweis daß die Menschliche Seele ewig lebt (s. Anm. 131) S. 11f., § 4. Georg Friedrich Meiers, öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit, und der Königlichen Academie der Wissenschaften in Berlin Mitgliedes, philosophische Sittenlehre. Dritter Theil. Zweyte und verbesserte Auflage. Halle 1764, S. 59, § 542. Meier: Gedancken von der Religion (s. Anm. 167), S. 33, § 19. Ulrich Dierse (Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie. In: Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. FS Günter Gawlick. Hg. v. Lothar Kreimendahl. Stuttgart 1995, S. 33–46, hier: S. 39Anm. 25 verweist für den Ursprung der Begriffsprägung von der ›lebendigen Erkenntnis‹ als der nicht leblos-spekulativen, sondern anschauenden, d. h. rührenden, praktisch tätig werdenden Erkenntnis auf Alexander Gottlieb Baumgartens Ethica philosophica (Halle 1740), p. 6, § XV: »Religio est viua entis perfectissimi cognitio.« Vgl. Metaphysica per Alexandrvm Gottlieb Bavmgarten (s. Anm. 88), pp. 173 seq., § DCLVIIII (Unterscheidung der rührenden von der spekulativen Erkenntnis). Vgl. Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pnevmatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie erläutert; die Streitigkeiten der ältern und neuern Philosophen erzehlet, die dahin gehörigen Bücher und Schrifften angeführet, und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet werden. Mit nöthigen Registern versehen und hg. von Johann Georg Walch, der Heil Schrifft Doctor. und P. P. auf der Universität Jena. Leipzig 1726, Sp. 1606: »Lebendige Erkänntnis [...]. Die Reden-Art ist verblümt, welche von einer natürlich belebten Sache hergenommen, daß wenn dieselbige lebet, so befinden sich deren Theile in einer Bewegung. Wenn nun unsere Erkänntnis so beschaffen, daß durch selbige der Wille in eine Bewegung gesetzt wird, so sagt man, sie sey lebendig. Soll aber der Wille bewegt werden, so müssen die Bewegungs-Gründe vorhanden seyn, mithin kan man sagen, die Erkänntnis sey lebendig, wenn sie einen Bewegungs-Grund in sich fasset, dadurch der Wille zum Guten angereitzet und vom Bösen abgehalten, da sie hingegen todt ist, wenn sie dergleichen Bewegungs-Grund nicht abgiebt, ohnerachtet sie wahr ist.« Vgl. zum Terminus ›lebendige Erkenntnis‹ Meier: Metaphysik 3 (s. Anm. 27), S. 315–317, § 669, im Gegensatz zur ›lebhaften‹, d. h. viele Merkmale umfassenden, d. h. ›klaren Erkenntnis‹ vgl. ebd., S. 52–53, § 503. Vgl. Clemens Schwaiger: Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung. In: Aufklärung 20 (2008), S. 219–237, hier S. 233–235. Meier: Gedancken von der Religion (s. Anm. 167), S. 35, § 20 u. S. 30, § 17.
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und Künste, als Theile der Religion, angesehen werden«. Sie sind »verschiedene Schauplätze der Thaten Gottes«, die man untersucht, »um Spuren der Gottheit« aufzufinden.174 Das heißt: Alle Wahrheiten sind theologisch, und müssen billig theologisch seyn. Ein Naturlehrer kan sich der Sache GOttes, der Religion, ofte viel nachdrücklicher annehmen, wenn er die Flügel eines Schmetterlings durch ein Vergrösserungs-Glaß betrachtet; wenn er diesen bewundernswürdigen Schauplatz der göttlichen Vollkommenheiten, in Beziehung auf GOtt, betrachtet, und dadurch bis zu der Erkenntniß der Weisheit und Güte GOttes, die er auch in der Verfertigung der Flügel eines Schmetterlings bewiesen hat, mit einem edlen Schwunge sich erhebt: als ein Mann, der um einer Redens-Art willen, der Menschlichkeit uneingedenck, wider seinen Nebenmenschen rast und wütet.175
›Genuss‹ ist Gottesdienst, vorausgesetzt die von Gott mitgegebenen Sinne zur Wahrnehmung seines Schöpfungswerkes sind dazu bestimmt. Die sinnliche Empfindung der Natur als physikotheologische Beschäftigung mit der Offenbarung Gottes hat zwingend in seinen Lobpreis zu münden. Sie ist insofern ›Gottesdienst‹,176 indem sie die von Gott intendierte adäquate Wahrnehmung und Wertschätzung des Schöpfungswerkes durch den Menschen als eines ganzen, Sinne, Verstand und Vernunft gleichermaßen umfassenden Wesens fundiert. Das irdische, aus dem ›Buch der Natur‹ geschöpfte Vergnügen bestätigt das in der ›Heiligen Schrift‹ verheißene und bereitet darüber hinaus vor auf das dereinst noch zu erwartende ewige himmlische Vergnügen. Die irdisch erfahrenen Vergnügungen in Gott sind ein Vorklang himmlischer Genüsse und evozieren insofern einen spezifisch eschatologischen Erwartungshorizont. Die physikotheologische Motivation erst, d. h. die harmonische Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie, verleiht der Empfindung ihren ›Sinn‹, kann ihr allererst die überwältigende Großartigkeit des dem Menschen unermesslichen Schöpfungswerkes eröffnen. Die Betrachtung der und die Beschäftigung mit der Natur wird begriffen als Hinwendung zu Gott. Die nicht mehr nur gedankliche, sondern nun auch sinnliche Erfassung der Natur als »[v]ernünftigsinnlicher Gottesdienst«177 stiftet eine bislang ungekannte Gottesnähe. Dass sie entsprechend 174 175 176
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Ebd., S. 36, § 21. Ebd., S. 37, § 21. Vgl. Einige kleine Schriften theils zur Geschichte der Natur, theils zur Physicotheologie gehörig, ausgefertiget von Friedrich Christian Lesser. Leipzig, Nordhausen 1754, wo es in der Vorrede heißt, daß sich bereits viele Gelehrte der Naturkunde verschrieben haben, um »aus den Wercken der Natur denen aufmercksamen Lesern eine Ehrfurcht und innerlichen Dienst gegen den anbethenswürdigen GOtt, und dessen ehrvolle Eigenschafften ein[zu]prägen« (S. A2a). Zur Naturbeobachtung als Gottesdienst vgl. Kemper: Deutsche Lyrik (s. Anm. 166), S. 106 u. S. 109–127. »Vernünftig-sinnlicher GOttes-Dienst. | A. Wie ist doch das Geschenck der Sinnen so herrlich, wenn mans recht ermißt! | Ach, daß die Menschheit GOtt, dem Geber, dafür so unerkänntlich ist! | B. Ich finde, daß auch Hunde riechen; ich sehe, wie auch Ochsen-Augen | Der Sonnen Licht und Gras und Blumen, so wohl als wir, zu sehen taugen: | Was machst du denn für Wercks davon? A. Sie haben Sinnen, das ist wahr; | Und zwar noch wol so gut als wir, auch ofters besser noch; allein | Soll zwischen uns und ihnen denn so gar kein Unterschied nicht seyn? | Daß willst du ja wol eben nicht. Nun kann ja der in nichts so klar, | Als eben darin nur bestehen, | Daß wir auf andre Weis’, als sie, empfinden, schmecken, hören, sehen. | Gebrauchen wir durch die Vernunft die Sinnen anders nicht, als sie; | So folgt der Schluß von selbst: der Mensch ist auch nicht besser, als ein Vieh. | Will man sich aber von demselben, wie es ja unsre Pflicht, entfernen; | Laßt uns die Sinnen, GOtt zum Ruhm, der sie uns giebt, gebrauchen lernen! | Dieß kann nun GOtt-gefälliger auf andre Weise nicht geschehn, | Als wenn durch des Verstandes Licht wir würcklich sehen, daß wir sehn; | Empfinden daß und was wir riechen; vernünftig schmecken, wenn wir schmecken; | Nicht ohn Gefühl seyn, wenn wir fühlen; auch
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der Sinnesausstattung der Wesen variiert, wird Meier nicht müde zu betonen. Innerhalb der besten aller möglichen Welten178 ist allen Sinneswesen ein bestimmter Platz angewiesen, den tätig auszufüllen ihnen die jeweiligen Sinne nicht nur ermöglichen, sondern zugleich zur Aufgabe machen. Gott als in allen seinen Werken allgegenwärtig aufzufassen bedeutet demnach, auch die tierische Haushaltung als Bestandteil der göttlichen Haushaltung zu begreifen, ihre Existenz als Beitrag zur genießenden Verherrlichung der Schöpfung Gottes aufzufassen. Jene Art ›Weltheiligung‹, um eine treffliche Benennung Ulrich Dierses179 für solcherart Natursakralisierungen zu beleihen, ist in ihren theologischen Konsequenzen gleichwohl überaus fragil. Mit der Relativierung der Stellung des Menschen innerhalb der Naturordnung und der gleichzeitigen Entgrenzung der Schöpfung ins Mikros- wie Makroskopische gleichermaßen geraten wesentliche Gehalte der christlichen Dogmatik ins Wanken.
6. Das Werk lobt allemal den Meister In Abgrenzung zur demutsvollen pietistisch-bigotten Weltabgewandtheit und -versagung verweist Meier den Leser unermüdlich auf die schon im Diesseits verfügbaren Genüsse. Während der Pietismus180 auf Buß- und Betfertigkeit sowie auf Askese, dramatische Bekehrung und das Primat des Gefühls, die Emotion (›Buch des Herzens‹ bzw. ›Gewissens‹), setzt und, allein auf die im Bibelwort geoffenbarte Glaubenswahrheit bauend, jedweder innerweltlicher Sinnlichkeit abhold ist, lenkt Meier – und mit ihm Brockes181 und Wieland – den Blick auf die Schönheiten der Schöpfung (›Buch der Natur‹) mit all ihrer Augen-, Ohren- und Sinnenlust. In seinen Arbeiten formuliert er eine Gegenposition zur weltversagenden Sittenstrenge des Pietismus: Endlich habe ich es mit einigen mürrischen und catonischen Sittenlehrern zu thun, welche zum Lachen sagen, du bist toll, und zur Freude, was machst du? [...] Wenn diese Leute die Sinlichkeit nennen hören, so können sie dabey nichts weiter denken, als die Erbsünde, und dasjenige, was die Schrift Fleisch nennt. Da nun das göttliche Gesetz die Creutzigung des Fleisches befiehlt, was auch kein ver-
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deutlich hören, wenn wir hören. | Alsdann wird man durch Seel’ und Leib, die GOtt uns beide schenckt, ihn ehren; | Weil wir so dann in allem Weisheit und Liebe, ja ihn selbst, entdecken; | Durch nichts wird unser GOtt auf Erden in unsern Seelen herrlicher; | Dieß heißt, nach Davids Regel: Schmecken und sehn, wie freundlich GOtt der HErr!« In: Hn. B. H. Brockes, Lt. Com. Palat. Cæsar., Raths-Herrn der Stadt Hamburg, und Amtmanns zu Ritzebüttel, Irdisches Vergnügen in GOTT, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Fünfter Theil, mit einer Vorrede zum Druck befördert von B. H. Brockes, Jun. Hamburg 1736, S. 398f. Georg Friedrich Meiers, öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, und der königlichen Academie der Wissenschaften in Berlin Mitgliedes, Metaphysik Vierter Theil. Mit königl. Pohl. und Churfürstl. Sächs. allergnädigster Freyheit. Halle1759, S. 316–339, §§ 988–1000. Vgl. Dierse: Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie (s. Anm. 172), S. 41. Vgl. Wolfgang Martens: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus. In: Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Hg. v. Norbert Hinske. Heidelberg 1989, S. 183–208, sowie Theodor Verweyen: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«. In: ebd., S. 209–231, hier: S. 225–230, sowie Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts (s. Anm. 76), S. 319–357. Vgl. Wilhelm Deckelmann: Das Glaubensbekenntnis von Barthold Heinrich Brockes. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 36 (1937), S. 146–161.
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nünftiger Mensch leugnet, so gefält es diesen Herren, durch den Mischmasch ihrer Begriffe verleitet, die Ästhetik mit dem grossen Banne zu belegen.182
Die »finstern Sittenrichter« übersehen dabei, dass ›Sinnlichkeit‹ und ›Erbsünde‹ Unterschiedliches benennen, Sinnlichkeit beherrscht, nicht aber bekämpft oder gar ausgerottet werden muss. »[M]itten in dem Stande seiner Unschuld [hat Adam] die Eva zärtlich geliebt«.183 Allen Menschen sei unterschiedslos von Gott die Liebe »eingepflanzt« worden; ohne Liebe wären die Menschen Barbaren. Sie ist es, die den Menschen gesellig, freundlich, zärtlich, mitleidig, guttätig und tugendhaft macht.184 Sinnlichkeit wie Rationalität sind für Meier komplementäre Erkenntnisweisen. Deshalb wendet er sich auch mit Verve gegen den vereinseitigenden Rationalismus linguistischer, philosophischer oder poetischer185 Couleur. Die Betrachtung der Natur ist gleichermaßen Mahnung, Gott zu ehren, und Vergnügen, seine Größe, Macht und Weisheit empfinden und erkennen zu können, im Vorgefühl jenseitiger Glückseligkeit. Vergnügende Erkenntnis Gottes und seiner Schöpfung verlangt nach Anschaulichkeit. Der Mensch ist verpflichtet, das Vergnügen zu suchen: »Wir sind Kinder des Vergnügens, indem uns GOtt aus Vergnügen über unser Daseyn erschaffen hat. [...] Das wahre Vergnügen entsteht allemal, aus einer wahren Erkenntniß wahrer Vollkommenheit«.186 Die Religion verschafft dem Menschen »wahres Vergnügen«, weil sie in einer »Erkenntniß GOttes und seiner Vollkommenheiten, welche uns zum Dienst GOttes bewegt,« besteht.187 »Alles wahre Vergnügen, wonach meine Seele schmachtet, findet seine Nahrung in GOtt«.188 Eines solchen Vergnügens wird man desto mehr teilhaftig, je mehr der unendlichen Vollkommenheiten Gottes erkannt werden189: »Wer demnach die allerweitläuftigste Erkenntniß von GOtt erlangen will, der muß alles Mannigfaltige, was sich in und von dem höchsten Wesen von uns Menschen 182 183 184 185
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Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. [Erster Theil] (s. Anm. 165), S. 35, § 22. Ebd., S. 36, § 22. Ebd., S. 37, § 22. Vgl. ebd., S. 187, § 91: »Viele Kunstrichter stehen in den Gedanken, als wenn die ästhetische Wahrheit, mit er logischen und metaphysischen, völlig einerley sey. [...] Die Schönheit der Erkenntnis hat ihren Sitz, in dem sinlichen Theile derselben.« Ebd., S. 191, § 92: ›Unleugbar‹ sei, »1) daß nicht, eine jede metaphysische und logische Wahrheit, auch zugleich eine ästhetische sey. Manche Wahrheiten können blos mit dem Verstande erkant werden, und wenn dieselben sinlich vorgestelt werden, so verursachen sie einen ästhetisch falschen Gedanken. [...] 2) Daß nicht, eine jede metaphysische und logische Unrichtigkeit, zugleich eine ästhetische sey. Manche Gedanken sind nach dem Urtheile des Verstandes falsch, die demohnerachtet ästhetisch wahr sind.« Vgl. dazu auch Meiers die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748–1750) vorbereitenden Arbeiten, die Abbildung eines Kunstrichters (1745), die Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts (1746) sowie die Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747). – Meier und Samuel Gotthold Lange nahmen sich die kollegialische Zusammenarbeit Bodmers und Breitingers zum Vorbild und trachteten, in deren »Fußstapfen zu treten«. (S. G. Lange an Johann Jakob Breitinger [5. Juli 1746]. In: Georg Friedrich Meier. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. Teil 3. Hg. v. Hans-Joachim Kertscher u. Günter Schenk. Halle 2002, S. 45f. Georg Friedrich Meiers, öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit, und der Königlichen Academie der Wissenschaften in Berlin Mitgliedes, philosophische Sittenlehre. Erster Theil. Zweyte und verbesserte Auflage. Halle 1762, S. 92f., § 42. Vgl. auch Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. [Erster Theil] (s. Anm. 165), S. 37, § 22. Meier: philosophische Sittenlehre. Erster Theil (s. Anm. 186), S. 94, § 42. Ebd., S. 99, § 43. Ebd., S. 155–157, § 66.
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erkennen läßt, gebührend zu erkennen suchen«.190 »Das Werk lobt allemal den Meister, und es schimmern demnach die Vollkommenheiten GOttes aus ihren Folgen und Würkungen hervor«.191 So ist jede Erkenntnis der Natur stets auch eine theologische. Insofern können und müssen alle Wissenschaften, alle Theile der Gelehrsamkeit, alle Arten der menschlichen Erkenntniß, sie mögen sich nun entweder mit allgemeinen Wahrheiten und bloß möglichen Dingen beschäftigen, oder mit dieser Welt und ihren Theilen, die Naturlehre, die Geisterlehre, die Mathematic, und wie sie alle Namen haben mögen, eine Gottesgelahrtheit seyn [...]. Alles Studiren demnach, und alles menschliche Denken, kan und muß ein Gottesdienst seyn, indem wir es zur Vermehrung der Erkenntniß GOttes anwenden.192
Neben der Vernunfterkenntnis a priori und dem Glauben ist die Erfahrung einer von drei Wegen zur theologischen Gewissheit.193 Denn jede Kraft, jedes Vermögen sei den Menschen von Gott verliehen worden, damit sie »ihn durch dasselbe [...] verehren. Er hat uns demnach die Sinne, die Einbildungskraft, und alle untere Erkenntnißkräfte zu dem Ende gegeben, damit wir ihn dadurch erkennen«.194 Durch die äußerlichen und innerlichen Sinne erlangt der Mensch nicht nur schlechthin alle Erfahrungen,195 sondern ist zugleich in der Lage, Gott und seine Vollkommenheiten zu erfahren: »Wenn ich etwas schmecke und sehe, so ist dasselbe ein Werk GOttes. [...] Und man kan also im eigentlichen Verstande sagen, daß wir schmecken und sehen können, wie freundlich der HErr sey«.196 (Ps 34,9). Deshalb solle man sich auch stets bei den sinnlichen Erfahrungen bewusst sein, dass Gott die erste Ursache des Wahrnehmbaren ist, dass es Teil seiner Vollkommenheiten ist.197 »Wenn wir also GOtt gehörig verehren wollen, so sind wir verbunden, denselben aufs möglichste zu empfinden, und Erfahrungen von ihm und seinen Vollkommenheiten zu erlangen«.198 Die theozentrische Zurichtung allen Denkens und Handelns läuft auf die Forderung zu, wonach die ganze praktische Philosophie »kan und muß, ein Gottesdienst, seyn«199, ja »[u]nser gantzes Leben muß, ein beständiger Gottesdienst seyn«.200 »›Die Theologie ist die Lehre von Vereinigung der Menschen mit GOtt, aus der nähern göttlichen Offenbarung in der Schrift,‹ oder die Lehre von dem Genuß und Dienst GOttes aus der heiligen Schrift«,201 so Siegmund Jacob Baumgarten, Meiers Hallescher Lehrer in theologicis, den er als ›Vater‹, den jüngeren Alexander Gottlieb Baumgarten hingegen als ›freundschaftli190 191 192 193 194 195 196 197
198 199 200 201
Ebd., S. 159, § 69. Ebd., S. 160, § 69. Ebd., S. 162f., § 70. Ebd., S. 282, § 125. Ebd., S. 250, § 113. Ebd., S. 252, § 114. Ebd., S. 253, § 114. Ebd., S. 254, § 114. Vor zweierlei müsse man sich dabei allerdings hüten: vor der Schwärmerei (wenn ein Mensch »seine Einbildungen, für eine Empfindung, von GOtt und göttlichen Dingen« hält und vor der »Spinosisterey« (wenn ein Mensch »alles in der Welt für Theile der Gottheit« hält). (Ebd., S. 254f., § 114.) Ebd., S. 252, § 114. Ebd., S. 480, § 192. Ebd., S. 326, § 140. Siegmund Jacob Baumgartens ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral mit einer Vorrede Herrn D. Joh. Salomo Semlers. Mit allergnädigster Chursächsischer Freyheit. Halle 1767, S. 9, § 2.
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chen Bruder‹ verehrte.202 Der ältere Baumgarten hatte sich schon mit seiner Disputatio theologica de conversione non instantanea von 1743 vom pietistischen ›Bußkampf‹ als Ausdruck gelingender Bekehrung verabschiedet, den Autonomieanspruch der ratio bestritten und, Religiosität und Rationalität verknüpfend, die von Wolff rational gefasste Subjektivität um ihre emotionale Seite bereichert.203 ›Genuss‹ gewährt nicht nur das Wort Gottes, sondern auch seine Schöpfung. Hierfür kann Meier auf Alexander Gottlieb Baumgartens Konzeption der Theologia naturalis in der Metaphysik zurückgreifen. Darin bezieht sich Baumgarten, der Meier gleichend, seine metaphysischen, ethischen und ästhetischen Überlegungen im Theologischen münden lässt204, auf die gemeinreformatorische Pflicht der Menschen, Gott, ihren Schöpfer, zu preisen und seinen Ruhm (gloria Dei) zu vermehren205. ›Gott die Ehre geben‹ bedeutet für Baumgarten, ihn im Erkennen und Bewundern der Vollkommenheiten seiner Schöpfung zu preisen: Agnitio perfectionis maioris in aliquo est Honor. Honor maior est Gloria. [...] Gloria dei ergo est maior cognitio summarum ipsius perfectionum. Quo plures, quo magis, ergo quo clarius, quo certius, quo ardentius, quo verius, quo plures, quo maiores alicuius perfectiones cognoscunt, hoc maior est gloria [...]. Hinc summa dei gloria est clarissima, verissima, certissima, ardentissima plurimarum maximarum ipsius perfectionum in plurimis cognitio [...]. Gloria dei est bonum [...].206 – Die Erkenntniß einer grössern Vollkommenheit in einem Dinge ist die Ehre desselben (honor), und eine grössere Ehre ist Ruhm oder Preiß (gloria). Folglich besteht der Ruhm GOttes in der grössern Erkenntniß seiner höchsten Vollkommenheiten; und der gröste Ruhm GOttes besteht in der klärsten richtigsten gewissesten und lebendigsten Erkenntniß seiner meisten höchsten Vollkommenheiten, welche in so vielen Dingen würklich ist als möglich. Der Ruhm GOttes ist was Guts.207
Gott hat die Welt als beste erschaffen, damit aus ihr seine Vollkommenheiten erkannt werden können. Die Kreaturen wurden dabei von Gott mit der größtmöglichen Vollkommenheit ausgestattet (perfectio creaturarum),208 ihrem Ursprung ebenso wie ihrer innerweltlichen Entwicklung nach. Diejenigen Wesen unter ihnen, die der Erkenntnis fähig sind, können den Ruhm Gottes mehren. Bestimmt der Vorsatz, Gottes Ruhm zu mehren, den freien Willen eines We202 203 204
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Leben Georg Friedrich Meiers (s. Anm. 21), S. 86; vgl. auch ebd., S. 33–35. Vgl. Walter Sparn: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten. In: Zentren der Aufklärung I (s. Anm. 180), S. 71–89. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten. Praelectiones Theologiae dogmaticae (Auszüge). Hg. v. Dagmar Mirbach u. Thomas Nisslmüller. In: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hg. v. Alexander Aichele u. Dagmar Mirbach. Hamburg 2008, S. 305–350, hier: S. 306, sowie Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier. Nach dem Text der zweiten, von Joh. Aug. Eberhard besorgten Ausgabe 1783. Mit einer Einführung, einer Konkordanz und einer Bibliographie der Werke A. G. Baumgartens von Dagmar Mirbach (Tübingen). Jena 2004, p. XI. Vgl. Christoph Strohm: Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus. Berlin, New York 1996, S. 311, und Giovanna D’Aniello: Von der Religion zur Theologie. Schleiermacher als Schüler Eberhards? In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Hg. v. Hans-Joachim Kertscher u. Ernst Stöckmann. Berlin, Boston 2012, S. 165–184, hier: S. 166–168. Metaphysica Alexandri Gottlieb Bavmgarten Professoris Philosophiae. Editio III. Halle 1750, p. 341, § 942; vgl. Meier: Metaphysik Vierter Theil (s. Anm. 178), S. 352f., § 1010f., S. 360, § 1015; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 42), S. 359–362, §§ 701f., 704, 706, sowie Feil: Religio (s. Anm. 76), S. 83–88. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 42), S. 359. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 206), S. 343, § 945. Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 42), S. 360f., § 703.
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sens, so »verherrlichet er den Ruhm Gottes (illustratio gloriæ divinæ, cultus dei)«. Beides, die Verherrlichung und der Ruhm Gottes, sind die Bestandteile der Religion (Gloria dei et illustratio eius sunt Religio).209 Daher ist die Religion der Endzweck der Schöpfung.210 Mit Verstand von Gott begabt, hat der Mensch die Pflicht, die gesamte Schöpfung zum Preis des Schöpfers zu betrachten und ihre oft auch verborgenen Herrlichkeiten aufzusuchen: Wer göttliche Dinge mit der gehörigen Aufmerksamkeit betrachtet, der wird natürlicher Weise zu einer so andächtigen Gemüthsfassung bewegt, die ausser den stillen, sanften und seligen Belustigungen, die damit verknüpft sind, vortrefliche Anreitzungen zu Gottesdienstlichen Handlungen enthält, und dieses sind die größten Thaten, die eine vernünftige Creatur verrichten kan.211
Meier beläßt es zwar bei Baumgartens Akzentuierung des Gottesdienstes im Sinne des Ruhmes und der Verherrlichung Gottes mittels rationaler Erkenntnis (cognitio intellectualis sive rationalis). Denn dass die Welt »gedacht« wird, ist ihm einer der »größten Nutzen und Absichten der Welt«: »Die gantze Schönheit der Welt, die Pracht der Farben, die Lieblichkeit der Töne, das reitzende des Geschmacks, des Geruchs und des Gefühls können, ohne Gedancken, nicht statt finden«.212 Darüber hinaus ist er jedoch bestrebt, die Zahl der Erkenntnisfähigen überhaupt, der sinnlich und rational Erkennenden, und damit solchen, die Gott auch nur genießend zu verherrlichen vermögen, zu vervielfachen. Meiers an Siegmund Jacob Baumgartens TheologieKonzeption und an Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik orientierte Erkenntnislehre erweist sich so als in erster Linie theologisch motiviert und perspektiviert. Mit Nachdruck ist angesichts dessen Günter Gawlick zuzustimmen, dass die philosophiegeschichtliche Reduktion Meiers als Ästhetikers und Popularisators der metaphysischen Ansichten Alexander Gottlieb Baumgartens entschieden zu kurz greift. Bei aller Breite seiner Themengebiete bildet unverkennbar die Religionsphilosophie einen, wenn nicht gar den Schwerpunkt seines Schaffens schlechthin,213 beginnend mit den bereits im Jahre 1749 erscheinenden Gedancken von der Religion214 bis hin zu den zwischen 1761 und 1767 publizierten acht Bänden der Philosophischen Betrach209
210 211
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214
Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 206), S. 343, § 947; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 42), S. 361, § 704. Der Paragraph 947/704 bildet ein, wenn nicht das Kernstück der Baumgartenschen, Metaphysik, Ethik und Ästhetik auf die Theologie hin ausrichtende Weltanschauung. Er ist der in Baumgartens Ethica philosophica (Halle 1740) am meisten herangezogene Metaphysik-Paragraph (Baumgarten: Metaphysik 1783 [s. Anm. 204], p. XIX). Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 206), S. 344, § 949; Baumgarten: Metaphysik (s. Anm. 42), S. 362, § 706. Georg Friedrich Meier: Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen? (1746) In: Georg Friedrich Meier. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. Teil 1. Hg. v. Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk. Halle 1999, S. 126–140, hier: S. 131, § 6. Daran knüpft er auch mit seiner Hermeneutik von 1757 an; vgl. Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996, S. 17, § 38. Meier: Versuch eines Lehrgebäudes (s. Anm. 21), S. 40. Günter Gawlick: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung I (s. Anm. 180), S. 157–176. Vgl. auch Dierse: Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie (s. Anm. 172), sowie Feil: Religio (s. Anm. 76), S. 88–23. Meier: Gedancken von der Religion (s. Anm. 167), S. 38f.: »Wir können GOtt nicht unmittelbar erkennen, und ein in allen übrigen Dingen gantz Unwissender kan sich unmöglich einen Begrif von GOtt machen. Die Creaturen sind die Leitern, auf denen wir nach und nach uns bis zu GOtt erheben. Es lerne
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tungen über die christliche Religion.215 Früh schon vom Vater zum Predigerberuf bestimmt, studierte er in Halle eben nicht nur Philosophie, sondern auch Theologie und blieb zeitlebens ein warmherziger und doch auch entschiedener Apologet der christlichen Religion. In seiner theonomen, Metaphysik und Offenbarung harmonisierenden Wissenschaftsbegründung ist die Physikotheologie als Versuch, die Naturwissenschaft für die christliche Apologetik fruchtbar zu machen, integraler Bestandteil. Mit ihrer Hilfe hofft er, die modernen zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Wahrheitserweis mit der christlichen Schöpfungs- und Vorsehungslehren verbinden zu können. Denn in der Betrachtung und Untersuchung der Naturzwecke und -absichten offenbart sich zugleich ihr Schöpfer und heischt ästhetische Bewunderung seines Werkes. Darum ist es Aufgabe des Menschen, sich naturgemäß und damit auf Gott wohlgefällige Weise an dem ›Buch der Natur‹ sinnlich zu vergnügen. Deshalb schenkte Meier der Ausmittelung des Verhältnisses beider Offenbarungen, der Offenbarung Gottes in der ›Heiligen Schrift‹ und in der Natur, und ihrer Harmonisierung als ›Physico-Theologie‹ von Anfang an große Aufmerksamkeit. Der Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere muss als exzeptioneller physikotheologischer Vorstoß verstanden werden, dem im ersten Drittel neu entstandenen Frömmigkeitsbewusstsein im Sinne eines vernünftigen Moralismus Rechnung zu tragen.216 Der Physikotheologie ist mit ihrer Harmonisierung von Natur und Heiliger Schrift zweifellos eine apologetische Tendenz eigen. Andererseits unterläuft sie diese, indem sie mit ihren in Dichtung, Naturwissenschaft und Philosophie unermüdlich traktierten aposteriorischen Gottesbeweisen grundlegende Dogmen des Christentums aufkündigt, wie etwa das Dogma des Sündenfalls, der des Menschen und der Welt Verderbtheit zur Folge gehabt habe: Welche Schönheit, welche verehrungswürdige Zweckmäßigkeit konnte man in Rücksicht dessen in der Natur noch zu finden hoffen? Nächstdem unterläuft sie das geschlossene biblische Weltbild und die Vorrangstellung des Menschen im göttlichen Schöpfungsplan, unterminiert das Dogma von der Verbalinspiration der ›Heiligen Schrift‹ und drängt Christologie und Erlösungslehre in eine bloße Randständigkeit.217 Der christlich-orthodox gedachte personale, unberechenbare, mit der menschlichen Vernunft nicht faßbare Gott (Deus absconditus) und seine einmal vollbrachte endliche Schöpfung müssen nun einem unendlichen ubiquitären Gottschöpfertum und ständiger Schöpferfürsorge weichen, an die Stelle der tradierten endlichen Sphärenhierarchie tritt jetzt ein entgrenzter unendlicher planetarischer Kosmos. Die Substituierung des endlichen geozent-
215 216 217
also iemand hundertmal eine gewisse Anzahl von Formeln und Glaubensbekenntnissen auswendig, er nenne GOtt allmächtig, güte, weise u. s. w. was wird er dabey dencken können, wenn er nicht, aus der Betrachtung der Wercke GOttes, ein Gefühl der Vollkommenheiten GOttes bekomt? Was kan ich mir von der Gelehrsamkeit eines Schriftstellers für einen Begrif machen, wenn ich nicht seine gelehrten Gedancken lese? Wenn ich aus der Astronomie den erstaunenswürdigen Weltbau habe kennen lernen, wenn ich die Regeln der Bewegung und Ordnung, die Natur der Dinge, und tausend andere Sachen habe kennen lernen, alsdenn lobt den Meister sein Werck, und ich kan in der That viel dencken, wenn ich die Quelle aller Dinge allmächtig, allweise, und im höchsten Grade gütig nenne. Ich will demnach die gantze Gelehrsamkeit, alles Studieren, alles menschliche Wissen zu dem Ende beständig treiben [...].« Man ist danach gehalten, die Natur zu untersuchen, den ganzen Kosmos auszumessen, da Gott ihnen die »abstractesten und tiefsinnigsten Wahrheiten [...] eingegraben hat.« 1 (1761); 2 (1762); 3 (1762); 4 (1763); 5 (1764); 6 (1765); 7 (1766); 8 (1767). Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts (s. Anm. 76), S. 319–357, hier S. 334. Kemper: Deutsche Lyrik (s. Anm. 166), S. 49f.
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rischen Weltbildes, wie es u. a. William Derham publikumswirksam in seiner Astro-Theology, or a Demonstration of the Being and Attributes of God from a Survey of the Heavens (1715) propagierte, durch ein unendliches heliozentrisches Weltbild mit einer unendlichen Anzahl von Sonnen und bewohnter Welten,218 wirft sodann die theologische Frage auf, ob Jesus Christus’ Tod und Sühneopfer wirklich nur ein einmaliger Akt war oder ob er mehrmals gekreuzigt werden musste – eine »neue Ketzerey«219, wie Brockes meint: Was würde durch den Glauben vieler Erden Mit der Religion doch für ein Zustand werden? Sprich: Sollte CHristus nur allein Für eine Welt gestorben seyn? Wie oder sind von ihnen allen Die ersten Adams auch gefallen? Sind tausend Even auch von tausend Schlangen Durch tausend Äpfel hintergangen?220
Die Vervielfachung der Welten verlangt eine neue Sicht auf die bislang im Vergleich damit recht übersichtliche Kette der Wesen und eine Neuverortung des irdischen Menschengeschlechts innerhalb der nun kosmisch gelängten scala naturae. »Mir schauert fast die Haut«, heißt es wiederum bei Brockes, »wann ich dieß [daß die Schönheit der Erde nicht für das irdische, sondern für außerirdische Geschlechter zum Genuß geschaffen sei] überlege, | Daß unser Geist hiedurch fast aus der Menschen Orden | Herausgerissen sey, und gantz zum Vieh-Geist worden«.221 Diese und andere verunsichernd-beunruhigende Fragen und Probleme wurden mit Meiers Tierseelenabhandlung virulent und zeigten auf das Eindrücklichste Möglichkeiten und Grenzen des physikotheologischen Projektes auf.
218 219
220 221
Viele hielten auch die Sonnen für bewohnbare Orte, vgl. u. a. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 23), S. 162f. Barthold Heinrich Brockes: Das durch die Betrachtung der Grösse GOttes, verherrlichte Nichts der Menschen. In einem Gespräche Auf das Neue Jahr, 1722. In: Hrn. B. H. Brockes, L. Com. Palat. Cæs. und Raths-Herrn der Stadt Hamburg, Irdisches Vergnügen in GOTT, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Erster Theil, nebst einem Anhang etlicher übersetzten Fabeln Des Herrn de la Motte. Mit einer gedoppelten Vorrede von Herrn Hof-Raht Weichmann, Siebende, neu-übersehene und verbesserte Auflage. Hamburg 1744, S. 423– 457, hier S. 431).Vgl. auch Leibniz: Monadologie §§ 65–67, sowie Theodicee §§ 19 u. § 195. Brockes: Das durch die Betrachtung der Grösse GOttes, verherrlichte Nichts der Menschen (s. Anm. 219), S. 435. Barthold Heinrich Brockes: Nothwendigkeit der Betrachtung: In: Hn. B. H. Brockes, Lt. Com. Palat. Cæs. und Raths-Herrn der Stadt Hamburg, Irdisches Vergnügen in GOTT, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Vierter Theil, mit einer Vorrede zum Druck befördert von Michael Richey, P. P. Dritte Auflage. Hamburg, S. 236.
VI. ANHANG
1. Zeittafel
29. 03. 1718
Geburt Georg Friedrich Meiers in Ammendorf bei Halle als Sohn des dortigen Pastors Gebhardt Friedrich Christoph Meier und seiner Frau Dorothea Meier, geb. Kuskopf
1730
Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen endgültige Übersiedlung nach Halle zunächst ins Haus des Stiefbruders, im März 1730 ins Haus des Ober-Diakonus der St. Ulrichkirche, Christoph Semmler (1669–1740), um dort die von diesem geleitet ›Realschule‹ zu besuchen, früh schon kränkliche Konstitution
19. 06. 1730
Immatrikulation an der Academia Fricdericiana
ab 1731
Erste und in der Folge gute Kenntnisse mit der Wolffschen Mathematik
Ostern 1735
Tatsächlicher Beginn des Studiums der Philosophie und der Theologie auf der Halleschen Universität; Meier hört Vorlesung und besucht Collegia vor allem bei Martin Heinrich Otto, Alexander Gottlieb Baumgarten und Sigmund Jacob Baumgarten
ab SS 1738
Erster Unterricht in Mathematik am Waisenhaus
05. 04. 1739
Promotion zum Magister philosophiae; Ermutigungen zur akademischen Laufbahn durch S. J. Baumgarten
September 1739
Erteilung der venia legendi aufgrund der Schrift Meditationes mathematicae de nonnullis abstractis mathematicis
WS 1739/40
A. G. Baumgarten wechselt an die Academia Viadrina nach Frankfurt/Oder; Meier übernimmt viele seiner Studenten und liest in der Folge u. a. Logik nach Wolff, Metaphysik und Naturrecht nach Baumgarten, allgemeine Philosophie nach Gottsched und Thümmig
06. 12. 1740
Christian Wolff kehrt nach Halle zurück, was von Meier ausdrücklich begrüßt wird
ab 1741
erste Publikationen zur Poetik und zur Metaphysik
380
Zeittafel
1744
Gedancken von den Scherzen erscheint in Halle und wird schnell rezipiert
1745
mit der Abbildung eines Kunstrichters greift Meier in die dichtungstheoretische Kontroverse zwischen Gottsched und Bodmer/Breitinger ein und stellt sich auf die Seite der Schweizer
WS 1745/46
erstes Kolleg über Ästhetik mit großen Lehrerfolgen vor teilweise mehreren hundert Zuhörern
04. 11. 1746
Ernennung zum Extraordinarius der philosophischen Fakultät
1748
Ruf nach Göttingen (abgelehnt); Berufungsangebote des Herzogs von Braunschweig nach Helmstedt oder Braunschweig (abgelehnt)
10. 12. 1748
Ernennung zum ordentlichen Professor der philosophischen Fakultät; Ausweitung der Lehrtätigkeit mit großem Erfolg bis 1776 (Schüler u. a. Johann August Eberhardt, Thomas Abbt, Karl Abraham von Zedlitz und Christian Gottfried Schütz)
ab 1748/49
Ermittlung gegen Meier in Berlin wegen Leugnung der Unsterblichkeit der Seele in seiner Schrift Gedancken vom Zustand der Seele nach dem Tode (Halle 1746); Niederschlagung des Vorwurf durch Intervention Christoph Ludwig von Stille (1696–1752), Generalmajor, Kurator der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und Mitglied der Tafelrunde um Friedrich II.
1748–1750
Anfanggründe aller schönen Wissenschaften erscheinen in Halle
03. 06 1750
Heirat mit Johanna Concordia Hermann
14. 01. 1751
Aufnahme als Vollmitglied in die Akademie der Wissenschaften zu Berlin Meiers Vernunftlehre erscheint in Halle; Immanuel Kant wird über 30 Jahre nach diesen Werk seine Logik-Vorlesungen gestalten
1752 1753
Auftreten akuter Krankheitserscheinungen, die Meier zur Unterbrechung der Lehrtätigkeit zwingen
1754
Unterredung mit Friedrich II. in Halle; Aufforderung des Königs zu Vorlesungen über John Lockes Essay concerning human understanding; Meier kommt dem königlichen Befehl im SS 1754 nach, hat aber nur 4 Hörer
381
Bibliographie
1753–1761
Meiers Philosophische Sittenlehre erscheint in 5 Bänden in Halle
1755–1759
Meiers Metaphysik erscheint in 4 Teilen in Halle
Juli 1759–Juli 1760
Prorektor der Universität Halle; Meier wird in dieser Funktion durch württembergische Besatzungstruppen während des 7-jährigen Krieges für kurze Zeit festgenommen
WS 1776
Abbruch der Vorlesungstätigkeit wegen Krankheit
21. 06. 1777
Tod in Giebichstein
2. Bibliographie der Werke von und der Forschungsliteratur zu Georg Friedrich Meier von Ronny Edelmann
Vorbemerkung Die vorliegende Bibliographie wurde im Wesentlichen unter Rückgriff auf diverse Bibliothekskataloge und -datenbanken sowie auf die Literaturverzeichnisse der das Werk Georg Friedrich Meiers betreffenden Forschungsliteratur angelegt. In die Werkbibliographie wurden alle gedruckten und publizierten Werke Meiers aufgenommen, einschließlich aller bekannten Dissertationen, in denen Meier entweder als Respondent oder als Präses fungierte. Unter den jeweiligen Beiträgen finden sich im Werkverzeichnis Anmerkungen, die auf weitere Auflagen, Übersetzungen, aber auch auf Reprints und Editionen verweisen. Damit Frequenz und Fokus der Publikationstätigkeit Meiers nachvollziehbar ist, wurden Neuauflagen ergänzend unter dem Jahr ihrer Veröffentlichung aufgeführt. Reprints und Editionen wurden ebenso mit vollständigen bibliographischen Daten unter ihrem jeweiligen Publikationsdatum in die Werkbibliographie aufgenommen. Es wurden nur diejenigen von Meier verfassten Beiträge in den u.a. von ihm herausgegebenen ›Moralischen Wochenschriften‹ berücksichtigt, die bereits von der Forschung identifiziert wurden. Auf eine an sich wünschenswerte ergänzende Autopsie wurde im Rahmen der hier vorliegenden Bibliographie verzichtet. Die Dokumentation der unmittelbaren Rezeption von und der Forschung zu Georg Friedrich Meier beginnt mit seiner akademischen Tätigkeit und reicht bis zum April 2015. Aufgenommen wurden alle gedruckten Beiträge, die sich entweder ausdrücklich im Titel auf Meier beziehen oder im Rahmen ihres jeweiligen Ansatzes ausführlicher auf Meier zu sprechen kommen. In den Anmerkungen unter den entsprechenden Titeln werden die Meier gewidmeten Abschnitte jeweils angegeben. Rezensionen wurden im Sinne einer Meier-Rezeption nur aufgenommen, insofern sie von der Forschung ermittelt und zu Lebzeiten Meiers abgefasst wurden. Die vorliegende Bibliographie stellt derzeit die umfassendste Dokumentation der Werke von und über Georg Friedrich Meier dar – es versteht sich, dass sie einen Anspruch auf tatsächliche Vollständigkeit nicht erheben kann. Für wertvolle Hinweise sei an dieser Stelle Paola Rumore (Turin) ganz herzlich gedankt.
Bibliographie
383
1. Werkbibliographie 1738 Baumgarten, Siegmund Jakob [Präses]; Meier, Georg Friedrich [Resp.]: Exercitatio Theologica De Discrimine Ejus Quod Naturale Et Morale Dicitur In Theologia. Theol. Diss. Halle [1738]. Neu gedruckt 1744 und 1751.
1739 Meier, Georg Friedrich; Sprengel, Jacob Heinrich: Meditationes mathematicae de nonnullis abstractis mathematicis. Phil. Diss. Halle 1739. Michaelis, Christian Benedict [Präses]; Meier, Georg Friedrich [Resp.]: Dissertatio Inauguralis Philologica, Qua Soloecismus Generis Ab Syntaxi Sacri Codicis Ebraei Depellitur. Phil. Diss. Halle 1739.
1741 Meier, Georg Friedrich: Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst. In: Beyträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit 7.25 (1741), S. 242–286. Neu ediert Halle 1999.
1742 Meier, Georg Friedrich: Beweiß: daß keine Materie dencken könne. Halle 1742.
Zweyte vermehrte Auflage 1751; Anm.: Sowohl 1742 als auch 1743 von demselben Drucker sowie mit gleichem Umfang herausgegeben, kein Vermerk darüber, ob es sich bei der Fassung 1743 um eine Neuauflage handelt.
1743 Meier, Georg Friedrich: Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Halle 1743. Zweyte Auflage 1752.
1744 Meier, Georg Friedrich: Gedancken über die Frage: Ob ein Kunstrichter seine Urtheile jederzeit erklären und beweisen müsse? In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache 13 (1744), S. 3–21. Neu ediert Halle 1999.
Meier, Georg Friedrich: Gedancken von Schertzen. Halle 1744.
Andere vermehrte Auflage 1754; Reprint Kopenhagen 1977 [=1744]; neu ediert Halle 1999; Übersetzung ins Englische 1764, Neuauflage 1765: The merry philosopher. Or, thoughts on jesting [...], übers. von [unbekannt]. London 1764/1765.
Meier, Georg Friedrich: Sendschreiben an den Verfasser des Aufsatzes: Etwas merckwürdiges De Mundo Archetypo in dem dritten Beytrage der fortgesetzten Samlung von alten und neuen theologischen Sachen auf das Jahr 1742. Halle 1744. Meier, Georg Friedrich: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744.
384
Bibliographie Zweite, verbesserte Auflage 1759; Reprint Frankfurt a.M. 1971 [= 1744].
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung der Frage: Ob Milton in der Wahl der Haupthandlung in dem verlohrnen Paradiese glücklich gewesen? In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache 13 (1744), S. 29–49. Neu ediert Halle 1999.
1745 Meier, Georg Friedrich: Abbildung eines Kunstrichters. Halle 1745. Meier, Georg Friedrich: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745.
2., vermehrte und verbesserte Auflage 1762; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1745].
Meier, Georg Friedrich: Gedanken von dem Werthe der freyen Künste und schönen Wissenschaften in Absicht auf die obern Kräfte der Seele. In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache 14 (1745), S. 131–141. Neu ediert 1999.
[Meier, Georg Friedrich]: Gründliche Anweisung wie jemand ein neumodischer Weltweiser werden könne. In einem Sendschreiben an einen jungen Menschen. Frankfurt [a.M.]/Leipzig 1745. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1745].
Meier, Georg Friedrich: Seiner Hochedelgebohrnen dem Herrn Professor Baumgarten bezeuget wegen des Todes seiner Ehegattin sein Beileid. Halle 1745. Meier, Georg Friedrich: Seiner Hochwürden, dem Herrn Doctor Baumgarten, wünschet zu seinem Geburtstage Glück. Halle 1745.
1746 Meier, Georg Friedrich: Gedancken von der Ehre. Halle 1746. Meier, Georg Friedrich: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. Halle 1746. Zweyte Auflage 1749; dritte Auflage 1762.
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen? In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache 15 (1746), S. 179–200. Neu ediert Halle 1999.
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen in Absicht auf die schönen Wissenschaften. Halle 1746. Reprint Halle 1993 [=1746]; neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts, wider das 5 Stück des 1 Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Halle 1746. Neu ediert Halle 2000.
1747 Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. Halle 1747. Reprint Hildesheim [u.a.] 1975 [=1747].
Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung des abermaligen Versuchs einer Theodicee. Halle 1747. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Plitt, Johann Jakob [Resp.]: Meditationes philosophicae de vita cognitionis ab eius claritate, veritate et certitudine non necessario pendente. Phil. Diss. Halle 1747. [Meier, Georg Friedrich]: Gedancken von Gespenstern. Halle 1747.
Bibliographie
385
Zweyte Auflage 1749; Übersetzung ins Französische 1751; außerdem enthalten in: Lenglet du Fresnoy, Nicolas (Hg.): Recueil de dissertations anciennes et nouvelles. Sur les apparitions, les visions, et les songes. Avignon/Paris 1753.
Meier, Georg Friedrich: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747. Reprint Hildesheim [u.a.] 2012 [=1747].
[Meier, Georg Friedrich]: Vorläufige Antwort auf die neueste ungeschliffene Schrift eines Herrnhuthers wider den Hern Doctor Baumgarten. Frankfurt [a.M.]/Leipzig 1747. Meier, Georg Friedrich: Vorrede vom Werthe der Reime. In: Samuel Gotthold Lange: Horatzische Oden. Halle 1747, S. 3–21. Reprint Stuttgart 1971 [=1747]; Vorrede vom Werthe der Reime neu ediert Halle 2002.
1748 Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 6 Theile = 271 Stk. Halle 1748–1750. Neuauflage 1764; Reprint Hildesheim [u.a.] 1987 [=1748–1750].
Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 1. Theil. Halle 1748.
Andere Auflage/Zweite und verbesserte Auflage 1754/1759; dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 1976 [=1754–1759]; Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1. Aufl.) Teil 2: 1749, Teil 3: 1750.
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung der Christlichen Religion, wider Herrn Johann Christian Edelmann. Halle 1748. Zweyte Auflage 1749.
[Meier, Georg Friedrich]: Vertheidigung der Gedanken von Gespenstern. Halle 1748. Andere Auflage 1755.
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung seiner Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode. Halle 1748. Zweyte Auflage 1754.
[Meier, Georg Friedrich]: Verurtheilung der Baumgartischen Anmerkungen zu der Algemeinen Welthistorie. Eine Erzehlung vom Blocksberge. Mitgetheilt von Hans Erlenbach dem jüngern, Subrector zu Kiphausen unweit des Blocksberges. Halle 1748.
1749 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 2. Theil. Halle 1749.
Andere Auflage 1755; dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint Hildesheim [u.a.] 1976 [=1755].
Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung des Heldengedichtes der Meßias. 1tes Stück. Halle 1749. 1 und 2tes Stück: 1752; neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich [Präses]; Hesse, Otto Justus Basilius [Resp.]: Dissertatio Philosophica De Volvptate Cvm Religione Conivncta. Phil. Diss. Halle 1749. Meier, Georg Friedrich: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. 2. Aufl. Halle 1749. Dritte Auflage 1762.
Meier, Georg Friedrich: Gedancken von der Religion. Halle 1749. Zweyte Auflage 1752.
[Meier, Georg Friedrich]: Gedancken von Gespenstern. 2. Aufl. Halle 1749.
Übersetzung ins Französische 1751; außerdem enthalten in: Lenglet du Fresnoy, Nicolas (Hg.): Recueil de dissertations anciennes et nouvelles. Sur les apparitions, les visions, et les songes. Avignon/Paris 1753.
Meier, Georg Friedrich: Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. Halle 1749.
386
Bibliographie Zweyte Auflage 1750; Übersetzung ins Französische 1750: Essais Sur Un Nouveau Systeme Des Ames Des Bêtes, übers. von Christian Friedrich Helwing. Halle 1750.
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung der Christlichen Religion, wider Herrn Johann Christian Edelmann. 2. Aufl. Halle 1749. Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung seiner Beurteilung des Heldengedichts, der Meßias, wider das 75ste Stück der Hallischen Zeitungen. Halle 1749. Neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich: Von der Glückseligkeit durch äussere Umstände. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift 2.88 (1749). Meier, Georg Friedrich: Von der wahren Glückseligkeit. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift 3.114 (1749).
1750 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3. Theil. Halle 1750.
Zweite, verbesserte Auflage 1759; dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint Hildesheim [u.a.] 1976 [=1759].
Meier, Georg Friedrich: Betrachtung, wie ein Frauenzimmer das Bücherlesen mit häuslichen Geschäften nützlich zu verbinden habe? In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift 5.192 (1750). Meier, Georg Friedrich [Präses]; Sucro, Johann Joseph [Resp.]: Dissertatio Philosophica De Somno Morali. Phil. Diss. Halle 1750. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Schmaling, Gottlieb Christoph [Resp.]: Meditationes Philosophicae Morales De Virtutis Philosophicae Cum Christiana Convenientia Et Disconvenientia. Phil. Diss. Halle 1750. Meier, Georg Friedrich: Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. 2. Aufl. Halle 1750. Übersetzung ins Französische 1750: Essais Sur Un Nouveau Systeme Des Ames Des Bêtes, übers. von Christian Friedrich Helwing. Halle 1750.
Meier, Georg Friedrich: Von der Kunst zu schweigen und zu reden. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift 5.204 (1750). Meier, Georg Friedrich: Woher es komme, daß ein Hochmüthiger und ein Niederträchtiger sich zu geselligen Umgang nicht schicken? In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift 5.188 (1750).
1751 Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 12 Theile = 488 Stk. Halle 1751–1756. Neuauflage 1764–1767 (Theil 1-4); Reprint (Theil 3-4) Hildesheim [u.a.] 1992 [=1752].
Meier, Georg Friedrich: Beweis daß die menschliche Seele ewig lebt. Halle 1751. Zweyte Auflage 1754.
Meier, Georg Friedrich: Beweis daß keine Materie dencken könne. 2. verm. Aufl. Halle 1751.
1752 Meier, Georg Friedrich: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752.
Zwote verbesserte und vermehrte Auflage 1760; außerdem enthalten in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 16, Abth. 3: Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Bd. 3: Logik. 2. Auflage 1916. Berlin/Leipzig 1914; neu ediert Hamburg 2006.
Bibliographie
387
Meier, Georg Friedrich: Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung. 2. Aufl. Halle 1752. Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung des Heldengedichtes der Meßias. 1 und 2tes Stück. Halle 1752. Neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich [Präses]; Ellenberger, Friedrich Wilhelm [Resp.]: Dissertatio Philosophica Prima De Interdicto Sollicite A Philosopho Inculcando: Ne Iures In Verba Magistri. Phil. Diss. Halle 1752. Meier, Georg Friedrich: Gedancken von der Religion. 2. Aufl. Halle 1752. Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre. Halle 1752. Zwote Auflage 1762; neu ediert Halle 1997.
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung seines Beweises des ewigen Lebens der Seele und seiner Gedancken von der Religion. Halle 1752. Neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich: Vorrede. In: [Christoph Martin Wieland]: Die Natur der Dinge. In sechs Büchern. Halle 1752. Neu ediert Halle 2002.
1753 Meier, Georg Friedrich: Abermalige Vertheidigung seines Beweises, daß die menschliche Seele ewig lebe. Halle 1753. Meier, Georg Friedrich: Gedancken vom Glück und Unglück. Halle 1753. Meier, Georg Friedrich: Gedancken vom philosophischen Predigen. In: Wöchentliche Hallische Anzeigen 12 (1753), S. 193–202. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 1. Theil. Halle 1753.
Zweite, verbesserte Auflage 1762; Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 2007 [=1762–1774]; Philosophische Sittenlehre Teil 2-5 (1. Aufl.): 1754, 1756, 1758, 1761.
Meier, Georg Friedrich: Von dem Gegenstand der menschlichen Erkenntnis. In: Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift 6 (1753), S. 387–402. Meier, Georg Friedrich: Vorrede. In: Renatus Le Bossu: Abhandlung vom Heldengedicht. Nach der neuesten französischen Ausgabe übers. und mit einigen kritischen Anmerkungen begleitet von Johann Heinrich Z[opf]. Halle 1753. Neu ediert Halle 2002.
1754 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 1. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1754.
Dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 1976 [=1754–1759]; Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (2. Aufl.) Teil 2: 1755, Teil 3: 1759.
Meier, Georg Friedrich: Beweis daß die menschliche Seele ewig lebt. 2. Aufl. Halle 1754. Meier, Georg Friedrich: Gedanken vom Philosophischen Predigen. Halle 1754. Zweite Auflage 1762.
Meier, Georg Friedrich: Gedancken von Schertzen. 2., verm. Aufl. Halle 1754.
Reprint Kopenhagen 1977 [=1744]; neu ediert Halle 1999; Übersetzung ins Englische 1764, Neuauflage 1765: The merry philosopher. Or, thoughts on jesting [...], übers. von [unbekannt]. London 1764/1765.
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 2. Theil. Halle 1754. Zweite, verbesserte Auflage 1762; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1762].
388
Bibliographie
Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung seiner Gedancken vom Zustande der Seele nach dem Tode. 2. Aufl. Halle 1754. Meier, Georg Friedrich: Vorstellung der Ursachen, warum es unmöglich zu seyn scheint, mit Herrn Profeßor Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen. Halle 1754. Neu ediert Halle 2000.
Meier, Georg Friedrich: Zuschrift an seine Zuhörer, worin er Ihnen seinen Entschluß bekannt macht, ein Collegium über Locks Versuch vom menschlichen Verstande zu halten. Halle 1754. Außerdem enthalten in: Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen, vom 24.10.1754, unter dem Titel: Ein bisher auf deutschen Universitäten ungewöhnliches Collegium.
1755 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 2. Theil. 2., Aufl. Halle 1755.
Dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint Hildesheim [u.a.] 1976 [=1755].
Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über die Schrancken der menschlichen Erkenntniß. Halle 1755. Meier, Georg Friedrich: Betrachtung über die Fehler der menschlichen Tugenden. Halle 1755. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Merzdorf, Georg Friedrich [Resp.]: Dissertatio Philosophica Poenas Divinas Bonitati Dei Non Esse Contrarias Demonstrans. Phil. Diss. Halle 1755. Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 1. Theil: Die Ontologie. Halle 1755.
Zweite Auflage 1765; Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 2007 [=1765]; Metaphysik (1. Aufl.) Teil 2-4: 1756: Die Cosmologie, 1757: Die Psychologie, 1759: Die natürliche Gottesgelahrheit.
[Meier, Georg Friedrich]: Vertheidigung der Gedanken von Gespenstern. 2. Aufl. Halle 1755.
1756 Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 2. Theil: Die Cosmologie. Halle 1756. Zweite Auflage 1765; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1765].
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 3. Theil. Halle 1756. Zweite, verbesserte Auflage 1764; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1764].
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung einiger Ursachen warum Die Tugendhaften in diesem Leben ofte unglücklicher sind, als die Lasterhaften. Halle 1756.
1757 Das Reich der Natur und Sitten. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 12 Theile = 418 Stk. Halle 1757–1762. Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1757. Neu ediert Halle 2002.
Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 3. Theil: Die Psychologie. Halle 1757. Zweite Auflage 1765; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1765].
Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. Reprint Düsseldorf 1965 [=1757]; neu ediert Halle 1996.
1758
Bibliographie
389
Meier, Georg Friedrich: Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1758. Neu ediert Halle [1991/1992].
Meier, Georg Friedrich [Präses]; Leupold, Benjamin [Resp.]: Dissertatio inauguralis, qua initia religionis christianae in Silesia ante Micislai primi tempora, Phil. Diss. Halle 1758. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 4. Theil. Halle 1758. Zweite, verbesserte Auflage 1766; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1766].
Meier, Georg Friedrich: Versuch einer Erklärung des Nachtwandelns. Halle 1758.
1759 Meier, Georg Friedrich: Ad exsequiarum sollemnia [...] Johannis Junckeri [...] celebranda [...] invitat. In: Christian Balthasar Kittemeier: Abkündigung, welche den 28.October 1759. in allen drey HauptKirchen der Stadt Halle und in Glaucha geschehen [Für Johann Juncker.] Halle 1759. Meier, Georg Friedrich: Ad Ferias Nativitati Christi Sacras Pie Celebrandas Fridericianae Prorector Georgius Fridericus Meier, [...] Cives Hortatvr Proposita Meditatione Ex. Ioann. I, 14. De Verbo Carne Facto. Halle [1759]. Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1759.
Dritte und verbesserte Auflage 1769 (Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen); Reprint Hildesheim [u.a.] 1976 [=1759].
Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit gegen die Gottesgelahrheit. Halle 1759. Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 4. Theil: Die natürliche Gottesgelahrheit. Halle 1759. Zweite Auflage 1765; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1765].
Meier, Georg Friedrich: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. 2., verb. Aufl. Halle 1759. Reprint Frankfurt a.M. 1971 [= 1744].
1760 Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über die Trostgründe in Kriegszeiten. Halle 1760. Meier, Georg Friedrich: Commemoratione Conatuum Henr. Guilielmi Ludolfi Circa Ecclesiae Orientalis Salutem Inde Ab Anno MDCCIIII. Usque Ad Illius Obitum. Halle [1760]. Meier, Georg Friedrich: Historia doctrinae Nicolai Clenardi de Muhammedanorum ad Christum conversione. Halle 1760. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Gedanken von den Würkungen des Teufels auf dem Erdboden. Halle 1760. Meier, Georg Friedrich: Zuschrift an Seine Zuhörer, worinn er anzeigt, wie er künftig seine philosophischen Lesestunden halten will, und zugleich von der Ordnung im Studieren handelt. Halle 1760.
1761 Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 1. Stück. Halle 1761.
Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion 2.-8. Stück: 1762: 2. Stück, ebenfalls 1762: 3. Stück, 1763: 4. Stück, 1764: 5. Stück, 1765: 6. Stück, 1766: 7. Stück, 1767: 8. Stück; außerdem ins Niederländische über-
390
Bibliographie setzt: Philosophische Aanmerkingen omtrent de christlyke religie van George Fred. Meier [...], übers. von J. W. van Haar. Den Haag 1763.
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 5. Theil: Mit Register. Halle 1761. Zweite, verbesserte Auflage 1774; Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1774].
1762 Meier, Georg Friedrich: Abbildung eines wahren Weltweisen. 2., verm. u. verb. Aufl. Halle 1762. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1745].
Meier, Georg Friedrich: Beyleid-Schreiben an die Frau Profess. Baumgartin in Frankfurt. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Seeland, Georg Christian [Resp.]: Dissertatio Inauguralis Historica De Caletensi Pacificatione Anni MDXXI. Phil. Diss. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Pockels, Friedrich Gottlieb [Resp.]: Dissertatio Philosophica De Mundo Optimo Maxima Dei In Finitis Imagine. Phil. Diss. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich: Gedanken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. 3. Aufl. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich: Gedanken vom Philosophischen Predigen. 2. Aufl. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 2. Stück. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 3. Stück. Halle 1762. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 1. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1762.
Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 2007 [=1762–1774]; Philosophische Sittenlehre Teil 2-5 (2. Aufl.): 1762, 1764, 1766, 1774.
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 2. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1762. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1762].
Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre. 2. Aufl. Halle 1762. Neu ediert Halle 1997.
1763 Der Glückselige. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 12 Theile = 392 Stk. Halle 1763–1768. Meier, Georg Friedrich: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben. Halle 1763. Meier, Georg Friedrich: Betrachtung über die Natur der gelehrten Sprache. Halle 1763. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Wielke, Hieronymus Gottfried [Resp.]: Dissertatio Inauguralis Philosophica De Universalitate Providentiae Divinae In Mundo Optimo. Phil. Diss. Halle 1763. Meier, Georg Friedrich: Gedancken von dem Einfluße der göttlichen Vorsehung in die freyen Handlungen der Menschen. Halle 1763. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 4. Stück. Halle 1763.
1764 Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 6 Theile = 271 Stk. 2. Aufl. Halle 1764. Reprint Hildesheim [u.a.] 1987 [=1748–1750].
Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 1-4 Theil. 2. Aufl. Halle 1764–1767. Reprint (Theil 3-4) Hildesheim [u.a.] 1992 [=1752].
Meier, Georg Friedrich: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764.
Bibliographie
391
Reprint Hildesheim [u.a.] 2006 [=1764].
Meier, Georg Friedrich: Betrachtung über die menschliche Glückseligkeit. Halle 1764. Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung der Betrachtungen des Herrn Marquis von Argens über den Kayser Julian. Halle 1764. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Büttner, Carl Friedrich [Resp.]: Dissertatio Inauguralis Philosophica, De Summo Gradu Amoris Quo Deum Prosequi Obligamur. Phil. Diss. Halle 1764. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 5. Stück. Halle 1764. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 3. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1764. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1764].
Meier, Georg Friedrich: Sendschreiben an Herrn Inspector und Prediger Samuel Gotthold Langen wegen des Absterbens seiner Ehegattin († 23. Mai 1764). Halle 1764. Meier, Georg Friedrich: Sendschreiben an Herrn Inspector und Pastor Samuel Gotthold Langen wegen des Absterbens seines Sohnes. Halle 1764. Meier, Georg Friedrich: Vom Glück und Unglück. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift. 2. Aufl. 114 (1764).
1765 Meier, Georg Friedrich: Gedanken von dem unschuldigen Gebrauche der Welt. Halle 1765. Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 4 Theile. 2. Aufl. Halle 1765. Reprint des Gesamtwerkes Hildesheim [u.a.] 2007 [=1765].
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 6. Stück. Halle 1765. Meier, Georg Friedrich: Sendschreiben an Herrn Inspector und Pastor Langen bey seiner andern Verheirathung. Halle 1765.
1766 Meier, Georg Friedrich: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle 1766. Neu ediert (dt.) und ins Italienische übersetzt, Pisa 2005.
Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 7. Stück. Halle 1766. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 4. Theil. 2., verb. Aufl. Halle 1766. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1766].
1767 Meier, Georg Friedrich: Philosophische Betrachtungen über die christliche Religion. 8. Stück. Halle 1767. Meier, Georg Friedrich: Recht der Natur. Halle 1767. Reprint Hildesheim [u.a.] 2014 [=1767].
1768 Meier, Georg Friedrich [Präses]; Schütz, Christian Gottfried [Resp.]; Schwenckner, Christian W. [Resp.]: Dissertatio Philosophica Inavgvralis De Origine Ac Sensv Pvlchritvdinis. Phil. Diss. 2 Bde. Halle 1768. Meier, Georg Friedrich: Laetam Christi Nati Solemnitatem. Praemissa Commentatione Brevis Ad Rom. VIII, 3. Halle 1768.
392
Bibliographie
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 1. Theil. Halle 1768. Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit 2-4 Theil: 2. Theil: 1769, 3. Theil: 1770, 4. Theil: 1771.
1769 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 2. Theil. 3., verb. Aufl. Halle 1769. Anm.: Für die 3. Aufl. nur Theil 2 nachgewiesen; Reprint Hildesheim [u.a.] 1976 [=1755].
Meier, Georg Friedrich: Auszug aus dem Rechte der Natur. Halle 1769. Neu ediert Halle 2014.
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 2. Theil. Halle 1769.
1770 Meier, Georg Friedrich: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen. 1. Theil. Halle 1770. 2. Theil: 1773.
Meier, Georg Friedrich: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 3. Theil. Halle 1770.
1771 Meier, Georg Friedrich: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 4. Theil. Halle 1771.
1772 Meier, Georg Friedrich: Kunst zu predigen. Halle 1772.
1773 Meier, Georg Friedrich: Lehre von den natürlichen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten der Menschen. 2. Theil. Halle 1773.
1774 Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über die würkliche Religion des menschlichen Geschlechts. Halle 1774. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 5. Theil: Mit Register. 2., verb. Aufl. Halle 1774. Reprint Hildesheim [u.a.] 2007 [=1774].
1775 Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über das Bemühen, der christlichen Religion ihre erste Einfalt und Reinigkeit wieder herzustellen. Halle 1775. Meier, Georg Friedrich [Präses]; Leichtner, Paul [Resp.]: Dissertationem philosophicam, qua probatur faciliorem esse intellectui humano summam evidentiam incognitione abstracta quam in non abstracta. Phil. Diss. Halle 1775.
Bibliographie
393
1776 Meier, Georg Friedrich: Betrachtung über die natürliche Anlage zur Tugend und zum Laster. Halle 1776.
1884 Muncker, Franz: Briefwechsel Klopstocks und seiner Eltern mit Carl Hermann Hemmerde und Georg Friedrich Meier. In: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884), S. 225–288.
1911 Meier, Georg Friedrich: Ungedruckte Briefe. In: Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911.
1947 Georg Friedrich Meier, Thoughts on Jesting. Ed. by Joseph Jones, Austin, University of Texas Press, 1947. (Review by Helmut Kuhn. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism Vol. 7, No. 3 (Mar., 1949), p. 264).
1965 Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. (Instrumenta philosophica, 1.) Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Reprint. Düsseldorf 1965.
1971 Meier, Georg Friedrich: Vorrede vom Werthe der Reime. In: Samuel Gotthold Lange: Horatzische Oden. Und eine Auswahl aus des Quintus Horatius Flaccus Oden, 5 Bücher. Halle 1747/1752. (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des 18. Jahrhunderts.) Mit einem Nachwort von Frank Jolles. Reprint. Stuttgart 1971. Meier, Georg Friedrich: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744. (Athenäum-Reprints.) Reprint. Frankfurt a.M. 1971.
1975 Meier, Georg Friedrich: Beurteilung der Gottschedischen Dichtkunst. Halle 1747. Reprint. Hildesheim [u.a.] 1975.
1976 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Theile. 2., verb. Aufl. Halle 1754–1759. (Documenta linguistica. Reihe 5: Deutsche Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts.) Reprint. 3 Bde. Hildesheim [u.a.] 1976.
394
Bibliographie
1977 Meier, Georg Friedrich: Gedancken von Schertzen. Halle 1744. (Text & Kontext, 3.) Mit Einleitung, Zeittafel und Bibliographie hg. von Klaus Bohnen. Reprint. Kopenhagen 1977.
1987 Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 6 Theile = 271 Stk. Halle 1748–1750. Mit einem Nachwort neu hg. von Wolfgang Martens. 3 Bde. Reprint. Hildesheim [u.a.] 1987.
1991 Schenk, Günter (Hg.): G. Fr. Meier und die Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften (Bibliothek mitteldeutscher Denker. Abt. 1: Hallesche Aufklärer, 1.) Mit begleitenden Texten versehen. Halle [1991/1992]. Darin neu ediert: Meier, Georg Friedrich: Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1758.
1992 Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 3. u. 4. Theil. Halle 1752. Mit einem Nachwort neu hg. von Wolfgang Martens. Reprint. Hildesheim [u.a.] 1992.
1993 Meier, Georg Friedrich: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen in Absicht auf die schönen Wissenschaften. Halle 1746. Ediert, mit einem begleitenden Text versehen u. hg. von Günter Schenk. Halle 1993.
1996 Langer, Thurid (Hg.): Über die Gelehrsamkeit eines Frauenzimmers. Texte von und über Frauenzimmer von Johanna Charlotte Unzerin, Johann Gottlob Krüger, Georg Friedrich Meier, Johann Joachim Lange. Textauswahl und -bearbeitung nebst Einleitung von Thurid Langer. (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente.) Halle 1996. Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. (Philosophische Bibliothek, 482.) Ediert, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg von Axel Bühler u. Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996.
1997 Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre. Halle 1752. (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Monographien.) Ediert und mit einem Appendix hg. von Günter Schenk. 3 Bde. Halle 1997.
Bibliographie
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1999 Meier, Georg Friedrich: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. In 3 Teilen. (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente.) Ediert, mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort hg. von Hans-Joachim Kertscher. Bd. 1: Das Streben nach den philosophischen Grundsätzen einer neuen deutschen Dichtung. Halle 1999. Darin u.a. folgende Werke Meiers neu ediert (teils nur in Auszügen): Versuch einer philosophischen Abhandlung von dem Mittelmäßigen in der Dichtkunst (1741); Gedancken über die Frage: Ob ein Kunstrichter seine Urtheile jederzeit erklären und beweisen müsse? (1749); Gedancken von Schertzen (1744); Untersuchung der Frage: Ob Milton in der Wahl der Haupthandlung in dem verlohrnen Paradiese glücklich gewesen? (1744); Gedanken von dem Werthe der freyen Künste und schönen Wissenschaften in Absicht auf die obern Kräfte der Seele (1745); Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen? (1746).
2000 Meier, Georg Friedrich: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. In 3 Teilen. (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente.) Ediert, mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort hg. von Hans-Joachim Kertscher. Bd. 2: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig. Halle 2000.
Darin u.a. folgende Werke Meiers neu ediert (teils nur in Auszügen): Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen in Absicht auf die schönen Wissenschaften (1746); Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts, wider das 5 Stück des 1 Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1746); Beurtheilung des Heldengedichtes der Meßias (1749/1752); Vertheidigung seiner Beurteilung des Heldengedichts, der Meßias, wider das 75ste Stück der Hallischen Zeitu ngen (1749); Vertheidigung seines Beweises des ewigen Lebens der Seele und seiner Gedancken von der Religion (1752); Vorstellung der Ursachen, warum es unmöglich zu seyn scheint, mit Herrn Profeß-or Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen (1754).
2002 Meier, Georg Friedrich: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. In 3 Teilen. (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente.) Ediert, mit Textkommentar, Zeittafel und einem Nachwort hg. von Hans-Joachim Kertscher. Bd. 3: Philosophische Ästhetik - Literaturtheorie - neue deutsche Literatur. Halle 2002. Darin u.a. folgende Werke Meiers neu ediert (teils nur in Auszügen): Vorrede vom Werthe der Reime (1747); Vorrede [aus: {Christoph Martin Wieland}: Die Natur der Dinge] (1752); Vorrede [aus: Renatus Le Bossu: Abhandlung vom Heldengedicht {...}] (1753); Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (2002); sowie diverse Briefe Meiers.
2005 Meier, Georg Friedrich: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle 1766 = Contributi alla dottrina dei pregiudizi del genere umano. Edizione critica. (Philosophica, 20.) Ediert (dt.) sowie ins Italienische übersetzt, mit einem Vorwort von Paola Rumore hg. von Heinrich P. Delfosse; Norbert Hinske; Paola Rumore. Kritische Ausgabe. Pisa 2005.
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Bibliographie
2006 Meier, Georg Friedrich: Allgemeine practische Weltweisheit. Halle 1764. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 107.) Hg. von Jean Ecole. Reprint. Hildesheim [u.a.] 2006. Schenk, Günter; Meÿer, Regina (Hg.): Ethisch-pietistische Prägungen der Logik im 18. Jahrhundert. Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier. (Philosophisches Denken in Halle. Personen und Texte. Abt. 1: Philosophen des 18. Jahrhunderts, 3.) Halle 2006. Darin neu ediert: Meier, Georg Friedrich: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752.
2007 Meier, Georg Friedrich: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 100.) Mit einer Einführung von Mirjam Reischert, hg. von Jean Ecole [u.a.] Reprint. Hildesheim [u.a.] 2007. [Meier, Georg Friedrich]: Gründliche Anweisung wie jemand ein neumodischer Weltweiser werden könne. In einem Sendschreiben an einen jungen Menschen. Frankfurt [a.M.]/Leipzig 1745. In: Ders.: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 100.) Mit einer Einführung von Mirjam Reischert, hg. von Jean Ecole [u.a.] Reprint. Hildesheim [u.a.] 2007. Meier, Georg Friedrich: Metaphysik. 4 Theile. 2. Aufl. Halle 1765. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 108.) Mit einem Vorwort von Michael Albrecht, hg. von Jean Ecole [u.a.] 4 Bde. Reprint. Hildesheim [u.a.] 2007. Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 5 Theile. 2., verb. Aufl. Halle 1762–1774. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 109.) Mit einem Vorwort von Michael Albrecht, hg. von Jean Ecole [u.a.] 5 Bde. Reprint. Hildesheim [u.a.] 2007.
2012 Meier, Georg Friedrich: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben. Halle 1763. (Perspektiven der Aufklärung, 3.) Ediert, kommentiert und mit einem Nachwort hg. von Hans-Joachim Kertscher. Halle 2012. Meier, Georg Friedrich: Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 131.) Mit einer Einleitung von Björn Spiekermann, hg. von Jean Ecole [u.a.] Reprint. Hildesheim [u.a.] 2012.
2014 Meier, Georg Friedrich: Recht der Natur. Halle 1767. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 141.) Mit einem Vorwort von Dominik Recknagel, hg. von Jean Ecole [u.a.] Reprint. Hildesheim [u.a.] 2014. Schenck, Günter (Hg.): Naturrecht als Lehrfach an der Philosophischen Fakultät der Fridericiana am Beispiel von Georg Friedrich Meier. (Philosophisches Denken in Halle. Personen und Texte. Abt. 1: Philosophen des 18. Jahrhunderts, 8.) Mit einem Nachwort. Halle 2014. Darin neu ediert: Meier, Georg Friedrich: Auszug aus dem Rechte der Natur. Halle 1769.
Bibliographie
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Meier, Georg Friedrich: Tentativo di un’ermeneutica generale, a cura di Manuela Mei, Pisa, ETS, 2014. (Übers. von Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, zweisprachig)
2. Rezeption und Forschungsliteratur 1744 [Bodmer, J. J]: [Rezension zu:] Meier, Georg Friedrich: Gedancken von Schertzen. Halle 1744. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 1.48 (1744), S 379f.
1746 [Gottsched, Johann Christoph]: [Rezension zu:] Meier, Georg Friedrich: Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts, wider das 5 Stück des 1 Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Halle 1746. In: Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 2 (1746), S. 283–285. Neu ediert Halle 2000.
Unzer, Johann August: Gedanken vom Schiksal der Gelehrten in einem Glückwunschungsschreiben an Hrn. M. Georg Friedrich Meier als Derselbe eine Philosophische Profession auf der Friedrichs Universität erhielte. Halle 1746.
1748 [Anonym]: Gedanken über zwo Schriften von Gespenstern, davon die eine in 4. die andere in 8. 1747 vor weniger Zeit herausgekommen sind, ohne Benennung der Verfasser, jene zu Leipzig, diese zu Halle. In: Critische Bibliothek (1748), S. 37–69. Sucro, Johann Georg: Widerlegung der Gedancken von Gespenstern. Halle 1748. Zweite Auflage 1754.
1749 Hess, Johann Caspar: Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias. Veranlasset durch Herrn Georg Friedrich Meiers, öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, Beurtheilung dieses Heldengedichts. Zürich 1749. Lange, Samuel Gotthold: Versuch, Des von dem Herrn Georg Friedrich Meyer öffentlich ordentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle in seinen Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode geleugneten Mathematischen Erweises der Unsterblichkeit der Seele. Bernburg 1749. Lessing, Gotthold Ephraim: [Rezension zu:] Meier, Georg Friedrich: Beurtheilung des Heldengedichtes der Meßias. Halle 1749. In: Berlinische privilegierte Zeitung 34 (1749). Plitt, Johann Jakob: Prüfung derer Gründe, womit der Herr Hr. Georg Friedrich Meier öffentlicher ordentlicher Lehrer der Weltweisheit zu Halle, Die Vernunft der Thiere in diesem und jenem Leben erweisen will. Cassel 1749.
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1752 [Anonym]: [Rezension zu:] Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre. Halle 1752. In: Tübingische Berichte von gelehrten Sachen 52/53 (1752).
1762 Frenzel, Ferdinand Heinrich: Philosophisches Bedenken, wegen der philiosophischen Betrachtung des Herrn Professors Meiers in Halle, über die christliche Religion. In einem Sendschreiben an [...] Georg Friedrich Meier. Hof 1762.
1765 Seiler, Georg Friedrich: Betrachtung über die neue philosophische Vorstellung der Dreyeinigkeit, welche der Herr Professor Meier in Halle geliefert hat, oder Entwickelung der Frage: Sind die göttlichen Personen, Substanzen, Accidenzien oder keines von Beiden? Breslau 1765.
1766 [Anonym]: [Rezension zu:] Seiler, Georg Friedrich: Betrachtung über die neue philosophische Vorstellung der Dreyeinigkeit, welche der Herr Professor Meier in Halle geliefert hat, oder Entwickelung der Frage: Sind die göttlichen Personen, Substanzen, Accidenzien oder keines von Beiden? Breslau 1765. In: Theologische Berichte von neuen Büchern und Schriften 3 (1766), S. 571–585.
1769 [Anonym]: [Rezension zu:] Meier, Georg Friedrich: Recht der Natur. Halle 1767. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 8.2 (1769), S. 273f.
1778 Lange, Samuel Gotthold: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778.
1794 Förster, Johann Christian: Uebersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte. Halle 1794. Vereinzelt Erwähnung Meiers bzgl. Stellung an der Universität; Titel-Auflage 1799; neu ediert Halle 1998.
1806 Baur, Samuel: Gallerie historischer Gemählde aus dem 18. Jahrhundert. Ein Handbuch für jeden Tag des Jahres, Fünfter Theil: Charakter-Zeichnungen interessanter Menschen aus der neuen Geschichte. Hof 1806. Darin: Kapitel VI: »Philosophen«, Punkt 51: »Georg Friedrich Meier. Professor der Philosophie in Halle«, S. 307– 313.
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1884 Muncker, Franz: Briefwechsel Klopstocks und seiner Eltern mit Carl Hermann Hemmerde und Georg Friedrich Meier. In: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884), S. 225–288.
1892 Sommer, Robert: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik. Von WolffBaumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892.
Darin: »Meier’s Aesthetik und Psychologie«, S. 24–57; Reprint Amsterdam 1966 [=1892]; Reprint Hildesheim [u.a.] 1975 [=1892].
1902 Dessoir, Max: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Bd. 1. 2., völlig umgearb. Aufl. Berlin 1902.
3. Aufl. (Neudruck der 2. Aufl.) 1910; darin: Kapitel »Die ältere Schule Wolffs«, Punkt b: »Bedingte Anhänger Wolffs«, S. 92–94. Reprint Amsterdam 1964 [=1902].
1903 Spitzer, David: Darstellung und Kritik der Thierpsychologie Georg Friedrich Meier’s. Diss. Györ 1903.
1904 Sonderling, Jakob: Die Beziehungen der Kant-Jäscheschen Logik zu George Friedrich Meiers »Auszug aus der Vernunftlehre«. Phil. Diss. Tübingen 1904.
1910 Bergmann, Ernst: Georg Friedrich Meier als Mitbegründer der deutschen Ästhetik. Unter Benutzung ungedruckter Quellen. Habil. Leipzig 1910.
1911 Bergmann, Ernst: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911. Knüfer, Carl: Grundzüge der Geschichte des Begriffs Vorstellung von Wolff bis Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der philosophischen Terminologie. Halle 1911. Reprint Hildesheim [u.a.] 1975 u. 1999; darin: Kapitel 3: »Der Einfluss empirisch-psychologischer, logischer und erkenntnistheoretischer Motive auf die Bestimmung des Vorstellungsbegriffs bei Georg Friedrich Meier und Johann Heinrich Lambert«, S. 21-32.
1926 Böhm, Hans: Das Schönheitsproblem bei Georg Friedrich Meier. In: Archiv für die gesamte Psychologie 56 (1926), S. 177–252.
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1938 Schröder, Karl: Das Freiheitsproblem bei Leibniz und in der Geschichte des Wolffianismus. Frankfurt a.O. 1938. = Diss. Halle 1937; darin: Kapitel V: »G. F. Meier«, S. 76ff.
1940 Schaffrath, Josef: Die Philosophie des Georg Friedrich Meier. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsphilosophie. Eschweiler 1940. = Diss. Freiburg i.Br. 1939.
1945 Wundt, Max: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, 32.) Tübingen 1945. Reprint Hildesheim [u.a.] 1964 u. 1992; darin: Zweites Hauptstück, Kapitel 2: »Wolffs Schule«, Punkt b: »Die Lehrbücher [...] Meier«, S. 226–228.
1957 Menzer, Paul: Georg Friedrich Meiers Ästhetik. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Reihe G 6 (1957), S. 779–786.
1960 Nivelle, Armand: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. Berlin 1960. 2. erg. Aufl. 1971; darin: Kapitel 2: »Meier«, S. 39–47.
1965 Geldsetzer, Lutz: Einleitung. In: Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. (Instrumenta philosophica, 1.) Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Reprint. Düsseldorf 1965 [=1757], S. I–XXVIII.
1967 Wiebecke, Ferdinand: Die Poetik Georg Friedrich Meiers. Ein Beitrag zur Geschichte der Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert. Göttingen 1967. = Diss. Göttingen 1965.
1973 Longo, Mario: Alle origini dell’ermeneutica, l’Auslegungskunst di Georg Friedrich Meier. In: Proteus 4 (1973), S. 141–162.
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1975 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. (Studienausgabe der Vorlesungen, 5.) Hg. von Jean Bollack; Helen Stierlin. Frankfurt a.M. 1975. 2. Aufl. 1984; 3. Aufl. 1988; darin: Zu Meier, S. 98–134.
1977 Bohnen, Klaus: Einleitung. In: Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen. Halle 1744. (Text & Kontext, 3.) Mit Einleitung, Zeittafel und Bibliographie hg. von Klaus Bohnen. Reprint. Kopenhagen 1977, S. VIII–XXXIV.
1980 Bender, Wolfgang: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 481–506.
1981 Wessel, Leonhard P.: G. F. Meier and the Genesis of Philosophical Theodicies of History in 18th-Century Germany. In: Lessing Yearbook/Jahrbuch 12 (1981), S. 63–84.
1983 Möller, Uwe: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München 1983. = Diss. Münster 1981; darin: Kapitel 4: »Die Bedeutung der Rhetorik für das ästhetische System in Meiers »Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften«.«, S. 83–98.
Schneiders, Werner: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Abt. 2: Monographien, 2.) StuttgartBad Cannstatt 1983. = Habil. Trier 1979; darin: Kapitel V: »Pragmatische Vorurteilskritik«, Paragraph 2: »Gnoseologischer Pragmatismus bei Meier«, S. 203–232.
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1985 Reinardt, Elfriede [=Conrad, Elfriede]: Die Definition und Einteilung der Logik bei Immanuel Kant und Georg Friedrich Meier. Phil. Magisterarbeit. Trier 1985.
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1987 Henrichs, Norbert; Weeland, Horst (Hg.): Briefwechsel deutschsprachiger Philosophen 1750–1850. 2 Bde. München 1987 Darin: Zur Korrespondenz von Meier, Bd. 1: S. R149; Bd. 2: S. N3-6; N327
Martens, Wolfgang: Nachwort des Herausgebers. In: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 6 Theile = 271 Stk. Halle 1748– 1750. Mit einem Nachwort neu hg. von Wolfgang Martens. Bd. 3: Teil 5 und 6 (1750). Hildesheim [u.a.] 1987, S. 401–431.
1989 Gawlick, Günter: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 15.) Heidelberg 1989, S. 157–176.
1990 Bohnen, Klaus: [Art.] Meier, Georg Friedrich. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 8: Mat-Ord. Gütersloh 1990, S. 54–56. 2., vollst. überarb. Aufl. 2010.
Segreff, Klaus-Werner: [Art.] Meier, Georg Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie, hg. von d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 16: Maly - Melanchthon. Berlin 1990, S. 649–651. Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs »Schöne Wissenschaften«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1990), S. 136–216, spez. S. 158–165.
1991 Boswell, Terry: Quellenkritische Untersuchungen zum Kantischen Logikhandbuch. (Studien zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, 3.) Frankfurt a.M. 1991.
= Diss. Trier 1990; darin: Unterkapitel 1: »Die Lehre von der Begriffszerlegung«, Paragraph 7: »Der fünfte Abschnitt des Auszugs Meiers, »von der Klarheit der gelehrten Erkenntnis«, S. 107–116, und Unterkapitel 2: »Die Lehre vom Vernunftschluß«, Paragraph 10: »Der zehnte Abschnitt des Auszugs Meiers, »von den gelehrten Vernunftschlüssen«, S. 131–136.
Schenk, Günter: Ein Hallescher Ismael? In: Ders. (Hg.): G. Fr. Meier und die Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften (Bibliothek mitteldeutscher Denker. Abt. 1: Hallesche Aufklärer, 1.) Mit begleitenden Texten versehen. Halle [1991/1992] [=1758], S. I–VIII. Darin neu ediert: Meier, Georg Friedrich: Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1758; Band nicht eigens datiert.
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Schenk, Günter: Einführung in die »Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften«. In: Ders. (Hg.): G. Fr. Meier und die Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften (Bibliothek mitteldeutscher Denker. Abt. 1: Hallesche Aufklärer, 1.) Mit begleitenden Texten versehen. Halle [1991/1992] [=1758], S. IX–XXII. Darin neu ediert: Meier, Georg Friedrich: Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1758; Band nicht eigens datiert.
1992 Martens, Wolfgang: Nachwort des Herausgebers. In.: Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift, hg. von Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier. 3. u. 4. Theil. Halle 1752. Mit einem Nachwort neu hg. von Wolfgang Martens. Reprint. Hildesheim [u.a.] 1992, S. 413–457. Pott, Martin: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. (Studien zur deutschen Literatur, 119.) Tübingen 1992. = Diss. Münster (Westf.) 1990. Darin: Punkt: »Psychologie des Aberglaubens (G. F. Meier)«, S. 324–332.
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Greisch, Jean: Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte. München 1993.
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Darin: Kapitel »Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–62) and Georg Friedrich Meier (1718–77): A Historical Sketch«, S. 5–13.
Kertscher, Hans Joachim: Georg Friedrich Meier und Christoph Martin Wieland. In: Ders.: »Dichters Lande«. Aufsätze zur literarischen Kultur in Mitteldeutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. (Schriftenreihe Schriften zur Kulturwissenschaft, 96.) Hamburg 2013, S. 113–128. Rumore, Paola: Materia cogitans. L’Aufklärung di fronte al materialismo. (Europaea memoria. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen, 1.) Hildesheim [u.a.] 2013. Darin: Kapitel 4: »La Ragioni del Materialismo«, Punkt 4.1: »Un contesto ancora antiquato: le reazioni a Meier«, S. 147–161.
2014 Albrecht, Michael: Der späte Wolffianismus. 1. Georg Friedrich Meier. In: Helmut Holzhey u. Vilem Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Erster Halbband. Basel 2014, S. 197–201. Dyck, Corey W.: Kant and rational psychology. Oxford 2014. = Diss. Boston o.J.; darin: Punkt 2.2 »Wolffian Rational Psychology and Pietist Pneumatology«, S. 44–50.
Raatz, Georg: Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen« (1748). (Beiträge zur historischen Theologie, 173.) Tübingen 2014.
= Diss. Leipzig 2012; darin: »Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik - Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers Debattenbeitrag«, S. 255–266.
Recknagel, Dominik: Vorwort. In: Georg Friedrich Meier: Recht der Natur. Halle 1767. (Christian Wolff. Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente, 141.) Mit einem Vorwort von Dominik Recknagel, hg. von Jean Ecole [u.a.] Reprint. Hildesheim [u.a.] 2014, S. 1–31. Schenk, Günter: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Naturrecht als Lehrfach an der Philosophischen Fakultät der Fridericiana am Beispiel von Georg Friedrich Meier. (Philosophisches Denken in Halle. Personen und Texte. Abt. 1: Philosophen des 18. Jahrhunderts, 8.) Mit einem Nachwort. Halle 2014, S. 169–232.
Bis April 2015 Beiser, Frederick: Wolff, Chladenius, Meier. Enlightenment and hermeneutics. In: Jeff E. Malpas u. Hans-Helmuth Gander (Ed.): The Routledge companion to hermeneutics. (Routledge philosophy companions.) London [u.a.] 2015, pp. 50–62.
Personenregister
Abbt, Thomas [Abt] 48, 62, 380 Achenwall, Gottfried 256 Addison, Joseph 324 Alberti, Michael 50, 187, 192f., 195 Aničkov, Dmitrij Sergeevič 123f. Aquin → Thomas von Aquin Aristoteles 68, 84, 90, 100, 107, 289, 324 Arnauld, Antoine 114 Arndt, Johann Gottfried 53 Basedow, Johann Bernhard 168 Baumeister, Friedrich Christian 123 Baumgarten, Alexander Gottlieb 14, 19, 21f., 27–29, 35, 55f., 83–85, 87–89, 95f., 99, 101–105, 108–110, 113, 115f., 118, 121, 124–129, 131–136, 138f., 141f., 188f., 191f., 199, 203, 211–218, 221, 223, 232, 236, 243, 245f., 254–257, 260, 262, 264, 266f., 269, 277, 287–294, 296f., 302, 304–307, 309–312, 314– 316, 319, 323, 325f., 328–331, 335, 337, 355–357, 367f., 373f., 379 Baumgarten, Jacob 354, 373 Baumgarten, Siegmund Jakob 30, 33f., 43– 45, 47, 51, 169, 225, 227f., 354, 372– 374, 379 Bayle, Pierre 226, 330, 341 Bergmann, Ernst 45, 246
Berkeley, George 224 Bilfinger, Georg Bernhard 123f., 311 Bloch, Marcus Elieser 205 Bodmer, Johann Jakob 29, 35, 39, 45–47, 290, 343, 371, 380 Böhm, Andreas 101, 123 Boileau, Nicolas 290, 297, 324 Bolten, Joachim Friedrich 187 Bolten, Johann 187 Bolten, Johann Christian 187–189, 197– 199, 202f., 207f. Bossu, René Le 320 Bouhours, Dominique 290, 324 Breitinger, Johann Jakob 35, 46, 290, 343, 371, 380 Brockes, Barthold Heinrich 363f., 370, 376 Brucker, Johann Jacob 226 Budde, Johann Franz 29, 226 Büsching, Anton Friedrich 31 Buhle, Johann Gottlieb 104, 246 Callières, François de 324 Canz, Israel Gottlieb 165, 169, 175f., 178, 180 Cartheuser, Johann Friedrich 200 Castelvetro, Lodovico 324 Charlotte Sophie Gräfin von Waldeck 187 Charon, Pierre 339
415
Personenregister
Christian VI. (König von Dänemark und Norwegen) 117 Chrysostomos → Johannes Chrysostomos Cicero, Marcus Tullius 288f., 365 Cocceji, Samuel Freiherr von 30 Condillac, Étienne Bonnot de 337, 340, 349 Corneille, Pierre 324 Corvinus, Christian Johann Anton 123 Crusius, Christian August 51, 124–127, 129f., 136f., 140–142, 167, 219 Dacier, André 324 Darjes, Joachim Georg 123, 169 Demokrit 68 Descartes, René [Cartesius] 22, 90, 163, 166, 175, 293, 337–340, 345, 347f., 350, 356f. Diderot, Denis 320 Eberhardt, Johann August 102, 380 Empiricus → Sextus Empiricus Erxleben, Dorothea Christiane 79 Eschenbach, Johann Christian 125, 130f., 138, 142 Euripides 68 Fabricius, Erich 53 Fabricius, Johannes Albertus 226 Feder, Johann Georg Heinrich 101, 123 Fénelon, François 324 Flügge, Christian Wilhelm 164f. Fontaine, Jean de La 340, 342 Fontenelle, Bernard le Bovier de 324, 344 Francke, August Hermann 27, 33, 45, 187, 327, 354 Franz Adolph Fürst von Anhalt-BernburgSchaumburg 37 Fresenius, Johann Philipp 354 Freytag, Gustav 33 Friedrich Wilhelm I. (König in Preußen) 171 Friedrich II. (König von Preußen) 36, 380
Furetière, Antoine 324 Gassendi, Pierre 340 Gebauer, Johann Jakob 25 Gebauer, Johann Justinus 13, 31, 36, 43– 54, 57, 104 Gellert, Christian Fürchtegott 288 Gesner, Andreas Samuel 53 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 29, 34, 37 Goethe, Johann Wolfgang von 320, 325, 354 Götz, Johann Nikolaus 29, 34 Gottsched, Johann Christoph 28, 32, 35f., 46, 55, 68, 115, 124, 227, 245, 303, 316f., 324, 328, 331, 379f. Grotius, Hugo 252, 265 Gründler, Gottfried August 289 Gundling, Nicolaus Hieronymus 256 Gunnerus, Johan Ernst 116–118, 121 Hagen, Moritz von 26 Haller, Albrecht von 288, 296 Harenberg, Johann Christoph 195f. Haubold, Christian Ernst 52 Heilsberg, Christoph Friedrich 206 Helvétius, Claude Adrien 227 Hemmerde, Carl Hermann 20, 39f., 43–54, 102, 113 Hendel, Johann Christian 45, 50 Hennings, Justus Christian 53, 169, 343 Herbst, Nikolaus Friedrich 51 Herder, Johann Gottfried 320, 337, 350 Herz, Marcus 205–208 Hißmann, Michael 204, 301 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 29 Hirzel, Hans Kaspar 34 Hobbes, Thomas 165, 278, 282 Hoffmann, Benjamin Gottlob 52 Hoffmann, Carl Christoph von 29, 31, 41 Hoffmann, Friedrich 192 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 71, 301, 324
416 Hume, David 156, 158, 220, 222, 224f., 227, 320 Huetius, Petrus Daniel 226 Hutcheson, Francis 220, 224f. Jacobi, Friedrich Heinrich 204 Jacobi, Johann Georg 37 Jakob, Ludwig Heinrich 168 Johannes Chrysostomos 359 Johannes Duns Scotus 100 Juncker, Johann 187 Kant, Immanuel 18f., 21, 84, 87, 90f., 99– 102, 123f., 127, 129, 153, 160, 168, 204–208, 213–216, 219, 223, 226, 228f., 270, 273f.. 277, 282f., 300, 305, 312, 320, 327, 380 Kelsos 350 Klopstock, Friedrich Gottlieb 39, 45f., 288, 352, 363f. Klotz, Christian Adolf 37 Knapp, Johann Georg 354 Knorre, Karl G. 41 Köhler, Heinrich 212–214, 217, 254–257, 260, 263–267, 272f. König, Johann Ulrich 290 Krüger, Johann Gottlob 189, 192f., 198, 312, 343, 354 Kümmel, Carl Christian 39 Kunckel, Johann Friedrich 50 Kußkopf, Dorothea → Meier, Dorothea Lambert, Johann Heinrich 123, 246 Lange, Anna Dorothea 34 Lange, Doris 60 Lange, Joachim 25, 56, 214 Lange, Johann Joachim 33 Lange, Samuel Gotthold 25, 28–30, 33–36, 40f., 47f., 50, 56–62, 64–68, 70, 104, 129, 169, 173, 180, 182, 192, 246, 254, 288, 326, 331, 355, 371 Lavater, Johann Caspar 204, 342 Lehms, Georg Christian 68f., 73
Personenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 16, 21, 83f., 86, 88, 90, 96f., 99, 107, 113–118, 120f., 140, 166, 190, 197, 212, 232f., 237, 243, 293, 299, 303, 310, 314, 326, 331, 334, 342f., 347, 351f., 358, 364f., 367 Lenz, Samuel 33 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 40, 320f. Linné, Carl von 358 Locke, John 31, 83, 97, 99, 111, 118, 146, 156, 159, 171, 173f., 186, 222, 225f., 304, 306, 380 Löscher, Valentin Ernst 166 Longin (Longinus) 289, 324 Luther, Martin 33, 358–361 Malebranche, Nicolas 114 Maria Josepha Fürstin von AnhaltBernburg-Schaumburg 37 Mascho, Friedrich Wilhelm 53 Meckel, Johann Friedrich (d. Ä.) 200 Meier, Dorothea (geb. Kußkopf; Ehefrau) 25, 34, 379 Meier, Gebhard Friedrich Christoph (Vater) 25f. Meier, Johanne Concordia 44 Melanchthon, Philipp 165 Ménage, Gilles 226 Mendelssohn, Moses 18, 116, 166, 204– 206, 208, 218f., 228f., 304, 320 Mettrie, Julien Offray de La 227 Michaelis, Christian Benedikt 28 Miller, Johann Peter 48 Milton, John 288 Mölling, Christoph Matthias 51 Molina, Luis de 232, 237f., 242 Montaigne, Michel de 226, 339, 343f. Mothe le Vayer, Franciscus de la 226 Müller, Johann Daniel 166, 180–182 Muralt, Beat Ludwig de 324 Nenter, Georg Philipp 195 Nicolai, Christoph Friedrich 39, 140f., 204f., 325
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Personenregister
Nicolai, Ernst Anton 191–193, 195–198 Nicolai, Gottlob Samuel 39f. Niemeyer, August Hermann 38 Nösselt, Johann August 31 Otto, Martin Heinrich 33, 254, 379 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 207 Pelt, Friedrich Christian 50 Perrault, Charles 324 Perthes, Friedrich 50 Pistorius, Johann Gottlieb 53f. Platon 166, 175, 364f. Platner, Ernst 116, 203f., 314, 319 Plitt, Johann Jakob 22, 337–376 Pufendorf, Samuel 60, 212, 215, 232, 282 Pyra, Jakob Immanuel 34f., 192 Quintilian (Marcus Fabricius Quintilianus) 289f. Racine, Jean 324 Ramler, Karl Wilhelm 29 Reimarus, Hermann Samuel 116, 343f., 350, 352, 357 Reinbeck, Johann Gustav 171f., 175, 177 Reusch, Johann Peter 101, 123f. Reuss, Maternus 123 Ribovius, Georg Heinrich 346 Riedel, Friedrich Justus 301 Röper, Johann Andreas 193–196, 198 Rorarius, Hieronymus 346 Rousseau, Jean-Jacques 277, 280, 282 Rudnick, Paul Jacob 34 Rüdiger, Andreas 167 Saint-Évremond, Charles de 324 Scaliger, Julius Caesar 324 Schaumann, Johann Christian Gottlieb 51 Scherzer, Johann Adam 106f. Schiller, Friedrich 53, 319, 324f., 335f. Schiller, Johann Friedrich 53
Schmauss, Johann Jacob 274 Schubert, Johann Ernst 166 Schütz, Christian Gottfried 44, 52, 380 Schulze, Johann Heinrich 354 Schumacher, Johann Daniel 30 Schwetschke, Carl August 44 Scotus → Johannes Duns Scotus Semler, Christoph 27 Sextus Empiricus 214, 226 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of 220, 224, 324 Simonis, Johann 37 Spener, Philip Jakob 232 Spielberg, Heinrich Matthias 26 Spielberg, Nicolaus Heinrich 27 Spinoza, Baruch de 165, 257, 269 Stahl, Georg Ernst 187, 192 Steel, Richard 324 Stephanus, Henricus 226 Stiebritz, Johann Friedrich 33 Stille, Christoph Ludwig von 30, 34, 36, 380 Struensee, Christian Gottfried 355 Struensee, Karl Gustav 31 Struensee, Johann Friedrich 31 Suárez, Francisco 252 Süssenbach, Christoph 195 Süßmilch, Johann Peter 340f. Sucro, Christoph Joseph 29 Sucro, Johann Josias 29 Sulzer, Johann Georg 34, 192, 320, 325 Sunten, Johann Caspar Sunten 53 Tetens, Johann Nicolaus 116, 121 Thomas von Aquin 106f. Thomasius, Christian 14, 56f., 60, 65, 68f., 78, 84, 185, 254, 256, 278, 282 Thümmig, Ludwig Philipp 28, 124, 166, 175, 311, 379 Ulrich, Johann August Heinrich 123 Ulrich, Johann Heinrich Friedrich 38
418 Unzer, Johann August 116f., 188f., 192f., 196, 343 Unzer, Johanne Charlotte 40 Ursinus, Theodor Christoph 59 Uz, Johann Peter 29, 34 Voltaire 282, 324 Wieland, Christoph Martin 18, 39, 46, 352, 362–367 Winckler, Johann Heinrich 123, 346 Wolff, Christian 14–16, 19, 21, 27, 29f., 44, 55–57, 63, 69f., 83f., 99, 101, 105–107,
Personenregister
113, 115f., 123f., 127–134, 141f., 148f., 165–167, 169–175, 179f., 185, 189– 191, 203, 211–216, 218, 222f., 228f., 247, 254f., 259f., 263f., 270, 273–277, 280–282, 292–296, 303, 305–307, 310– 314, 316–320, 326, 349, 354–357, 367, 373, 379 Zedlitz und Leipe, Karl Abraham Freiherr von 29, 31f., 380 Ziegler, Johann Gotthilf 40 Zimmermann, Johann Georg 205 Zückert, Johann Friedrich 200–202