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German Pages [161] Year 2012
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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Jürgen Beushausen
Genogramm- und Netzwerkanalyse Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen
Mit 15 Abbildungen und 2 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
S Inklusive Manual zum Download unter www.v-r.de/genogrammanalyse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40183-5 ISBN 978-3-647-40183-6 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Psychosoziale Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Bedeutung multiperspektivischer Ansätze in der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Grundpositionen einer beziehungs- und lebensweltorientierten Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Bedeutung der Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Die Kriterien der familiären Funktionstüchtigkeit . . . . . . . 42 3.1 Familiale Beziehungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.1.1 Die Eltern-Kind-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1.2 Die Geschwisterpositionen und die Geschwisterbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.1.3 Das Verhältnis zwischen Enkelkindern und Großeltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.4 Familiale Paarbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.2 Die Funktionalität familialer Strukturen . . . . . . . . . . . . 52 3.3 Der Familienzyklus und generationsübergreifende Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4 Die soziale Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gesundheit und soziale Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Netzwerke und soziale Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kriterien sozialer Inklusion und Integration . . . . . . . .
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5 Die angewandten Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.1 Genogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.2 Netzwerkanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.3 Die visuelle Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
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Inhalt
6 Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen . . . . . . 6.1 Anmerkungen zum Umgang mit dem Manual . . . . . . 6.2 Das Genogramm von Frau M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Genogramm von Herrn D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Manual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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1 Einführung
Für die Analyse »problematischer Auffälligkeiten« von Gesundheit und Krankheit benötigt man flexible Methoden, um einen umfassenden Zugang zum Menschen und seinen Kontexten zu gewinnen. In vielen Praxisfeldern der psychosozialen Arbeit hat sich die auf systemische Konzepte beruhende Genogramm- und Netzwerkarbeit bewährt. Die Form der Inklusion/Exklusion und der Integration/ Desintegration in die gesellschaftlichen Funktionssysteme und Lebenswelten kann mit diesen Methoden beschrieben werden. Sie bieten die Möglichkeit eines ganzheitlichen Zuganges und ermöglichen eine schnelle, flexible Kontaktaufnahme, mit der Anschluss an relevante Ereignisse, Probleme und Ressourcen gewonnen werden kann. Rasch kann ein Überblick über die Problembereiche, die Lebenslage und -geschichte gewonnen und ein kognitiver oder emotionaler Zugang gesucht werden. Die Netzwerkanalyse kann hierbei ergänzend zur Genogrammarbeit eingesetzt werden. Die Genogrammarbeit wurde zunächst als Repräsentationsform entwickelt, um Systeminformationen im Rahmen familientherapeutischer Arbeit und in der Darstellung in biografischen Werken zu vermitteln, bevor sie als Forschungsmethode in den Sozialwissenschaften, der Familientherapie und in vielen Feldern biopsychosozialer Praxis Anwendung fand (siehe Schiepek, 1999; Hildenbrand, 1998, 2007; von Schlippe u. Schweitzer, 1997; Heinl, 1987, 1988; Kaiser, 1989; Roedel, 2006; Stierlin, 1978; Massing et al., 1992; Kühling u. Richter, 2007; McGoldrick u. Gerson, 1990, McGoldrick; Gerson u. Petry, 2009). Um die Einbeziehung der Meso- und Makroebene neben der Mikroebene, der Familie, zu betonen, bezeichnet Kaiser (1989) diesen methodischen Zugang als »Genografische Mehrebenenanalyse«. Mit dem Begriff der Mesoebene werden Einflüsse naher Institutionen wie Schule, Freizeitgruppe und andere bezeichnet. Diese Ebene steht in Verbindung mit der Makroebene, auf der Normen, Werte, Gesetzmäßigkeiten, Vorstellungen und handlungsleitende Ideologien gebildet werden. In der Literatur wird dieses © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
Verfahren auch als Genogrammarbeit bezeichnet. Da der Begriff Genogramm den gleichen Sachverhalt wie die Bezeichnung Genografische Mehrebenenanalyse bezeichnet, werden beide Begriffe synonym verwendet. Die Genografische Mehrebenenanalyse integriert System-, Situations-, Lebenswelt- und genografische Analysen zu einer umfassenden Analyse der Komplexität von Symptomen, die für Gesundheit und Krankheit in Vergangenheit und Gegenwart relevant waren und sind. Sie bietet die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte und Interaktionen in Familien (und Netzwerken) in relativ kurzer Zeit differenziert und übersichtlich darzustellen. Mit dieser Methode werden in einer grafischen Form Informationen über mindestens drei Familiengenerationen erhoben. Auf der vertikalen Ebene werden die Strukturen über die einzelnen Generationen abgebildet; dies ermöglicht, wiederkehrende familiäre Muster, Traditionen und familiäre Strukturen zu untersuchen. Auf der horizontalen Ebene werden die Beziehungen der Familienmitglieder dargestellt. Die Analyse dieser Beziehungen kann auch die sozialen Umwelten der Klienten bzw. der Familien einschließen. Mit Hilfe der Genografischen Mehrebenenanalyse können die Hintergründe einer Situation, eines Symptoms, eines anderen Familiengeschehens oder die Ressourcen historisch ergründet werden. Familienereignisse können mit individuellen Schicksalsschlägen und zugleich mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Krieg, Vertreibung und anderem in Verbindung gesetzt werden. Die historische Kontinuität von Generation zu Generation kann ebenso erfasst werden wie mögliche Wirkungen der Familienbiografie auf das einzelne Familienmitglied. Das System Familie wird im Rahmen dieser Analyse in seinen Bezügen zu seinen Umwelten (Nachbarschaft, Schule etc.) und Systemen der Makroebene (Gemeinde, politische und rechtliche Verhältnisse usw.) analysiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen die Bildung von Hypothesen über Vergangenheit und Gegenwart sowie für die Zukunft der Klientinnen und ihrer Familien. Das »intersubjektive Sinngeschehen« und die diskontinuierlichen Strukturen werden mittels des Genogramms ordnend erfasst. Mit Hilfe des Genogramms können die jeweils historisch gewachsenen sozialen, personalen, ökonomischen und politischen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
Bedingungskonstellationen, innerhalb derer sich Einschränkungen und Entfaltung individueller Entwicklungsmöglichkeiten ergeben, analysiert werden. Es dient der Kontaktaufnahme mit einer Person oder einem System, um Interpretationen von Entwicklungen und Geschehnissen auszuarbeiten. In den Gesprächen können erste Hypothesen entwickelt werden, die als Konstruktionen von Beobachtern zu betrachten sind. Die Genogrammarbeit stellt einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Familiensituation, den »unsichtbaren Bindungen« und den Nachwirkungen verdrängter Schicksale der Eltern und Großeltern her. Der Kalender werde zum Sprechen gebracht, resümieren McGoldrick et al. (2009). Diese Perspektive gestattet es zudem, die »soziale Realitätskonstruktion« selbst in die Analyse einzubeziehen. Jedes Genogramm zeigt im Prozess der Analyse eine Struktur, ein Muster, eine Gestalt, die häufig mehrfach reproduziert und transformiert wird. »Gegenstand der Fallkonstruktion ist die Herausarbeitung dieser den spezifischen Fall kennzeichnenden Struktur in ihrer Reproduktions- und Transformationsgesetzlichkeit. Mit dieser Fallstruktur wird die regelhaft-habituelle Weise, die Welt zu deuten und handelnd in sie einzugreifen, kurz: als sinnhafte zu konstruieren, verstanden, und […] zum Ausgangspunkt für die Reflexion von neuen Handlungsoptionen verstanden« (Hildenbrand, 1998, S. 117). Ziel einer solchen Analyse ist eine Strukturgeneralisierung im Dienste der Konstruktion von theoretischen Ansätzen. Dabei werden die Interpretationen ständig überprüft. Die Genogrammarbeit legt ihren Schwerpunkt bisher auf psychologische Aspekte in familialen Systemen. Beispielhaft bezieht sich Roedel (2006) in seiner Praxis der Genogrammarbeit ausschließlich auf die Analyse der innerfamiliären Familienbeziehungen, während McGoldrick et al. (2009), Hildenbrand (2007) sowie Reich, Massing und Cierpka (2003) darstellen, dass mit dieser Methodik auch weiter gefasste Systeme der Familie, die Freundeskreise, die gesamte Gesellschaft und Kultur in die Analyse einbezogen werden können. Dies schließe, so die genannten Autoren, auch den soziokulturellen Kontext (Schule, Gericht u. a.) ein. In der Darstellung ihrer Beispiele aus der Praxis beziehen sie sich jedoch im Wesentlichen auf den familiären Kontext. Die Fokussierung der sozialen Situation ist aus einem weiteren Grund bedeutsam: Werden die familiären Beziehungen zu sehr in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
den Mittelpunkt der Analyse gestellt, besteht die Gefahr, eine aktuelle Problematik zu sehr auf diese Beziehungen zu fokussieren. Denkbar ist beispielsweise, dass Arbeits- oder nachbarschaftliche Beziehungen bedeutsame Faktoren für die Entstehung einer Problematik darstellen und diese Beziehungskontexte nicht ausreichend gewürdigt werden. Der Einsatz des Genogramms erfolgt im Wesentlichen im klinischen Bereich, zum Beispiel betonen McGoldrick et al. (2009, S. 13) die weite Verwendung des Genogramms in der Medizin und der Familientherapie. Sie wenden sich somit zumeist an die Berufsgruppen der Therapeutinnen und Therapeuten und nicht an die zahlenmäßig größeren Berufsgruppen in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen. Diese Berufsgruppen benötigen in ihrer Praxis ein Instrumentarium, das auch die Bedeutung der sozialen Faktoren und des Milieus aufzeigt. Mit diesem Buch wird daher eine Handreichung nicht nur für den klinischen Bereich, sondern auch für den Einsatz in weiteren professionellen Handlungsfeldern zur Verfügung gestellt. Die hier vorgestellte Genogrammarbeit verbindet interdisziplinär verschiedene soziale Arbeitsfelder und Berufsgruppen. Sie ist somit ein Beispiel für die Zusammenarbeit verschiedener Professionen. Die Netzwerkanalyse ermöglicht ebenfalls die Erfassung sozialer Beziehungen auf der horizontalen Ebene. Bekannt sind die Verfahren Soziogramm, Netzwerkkarte und Ecomap, mit denen auf der horizontalen Ebene aktuelle Beziehungen dargestellt werden. Auch bei dieser Methode können ergänzend auf der vertikalen Ebene Beziehungen dargestellt werden. So kann beispielsweise mit Hilfe eines Zeitstrahls der Prozess einer langjährigen Beziehung (Freundschaft, mehrgenerationale Nachbarschaft, Arbeitskollege) visualisiert werden. Sollen hauptsächlich nichtfamiliäre Systeme, zum Beispiel Freundschaften und Nachbarschaften, analysiert werden, bietet sich die Netzwerkanalyse als ein ergänzendes Instrumentarium an, dass sich in ein »ökosoziales Systembild« (Ritscher, 2002) integrieren lässt. Mit einem kurzen Blick auf die Geschichte der Diagnostik soll aufgezeigt werden, wie sich die Blickwinkel verändern. Diagnostisch bezieht sich die Medizin und die Psychologie als Unterscheidungsund Untersuchungsmethode zunächst auf ein Individuum. Sie ist defizit- und pathologiezentriert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich viele psychische Erkrankungen auf das Gehirn © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
und die Nerven zurückführen, so dass Annahmen verfolgt werden, nach denen andere schwere Erkrankungen ebenfalls Hirnerkrankungen seien. Auch der von Freud verwendete Begriff der Neurose legt dies nahe (siehe Stierlin, 2001). Dies führt in der Psychiatrie zu einer Verengung des Blickfeldes auf den Organismus bzw. auf das Zentralnervensystem. Freud und seine Nachfolger erweitern den psychoanalytischen Kontext: Welche konflikthaften Beziehungsmuster etabliert der Patient in seinem Lebensalltag und in der Beziehung zum Therapeuten? Ihr Ziel ist es, die unbewusste Konfliktdynamik herauszuarbeiten und auf der Strukturebene zu analysieren, inwieweit der Patient seine innere Welt regulieren kann und ob er über strukturelle Fähigkeiten der Beziehungsgestaltung verfügt. Erfasst wird dies heute im System der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD, 2007). Mit der Entwicklung der Systemwissenschaften richtet sich der Fokus auf Systeme und hier besonders auf Familien. Nicht mehr kausale Ursache-Wirkungs-Bezüge werden analysiert, sondern komplexe, zirkuläre Rückkopplungs- und Selbstorganisationstheorien (siehe Beushausen, 2002). Die einzelne Person gerät in der Folge in der Familientherapie zunächst aus dem Blick, fokussiert werden auf der horizontalen und der vertikalen Ebene Beziehungen und Strukturen in Familien. Das Augenmerk richtet sich auf das »Beobachtbare«. Ausnahmen sind so genannte Familientherapien ohne Familie, das heißt, es wird systemisch bezogen auf die Familienmitglieder »gedacht« und auf die »innere Familie« fokussiert (siehe z. B. Schwartz, 1997). In den letzten zehn Jahren rückt zunehmend die Suche nach Lösungen und Ressourcen in den Mittelpunkt. Jetzt wird es (wieder) Zeit, »das Soziale« in den Blick zu nehmen. In der Sozialen Arbeit ist dies nicht neu. Bereits 1927 formuliert Alice Salomon: »Aus der Ermittlung von Tatbeständen wirtschaftlicher oder anderer Art ist eine soziale Diagnose geworden, die alle Seiten des menschlichen Lebens, die Anlage und Entwicklung, Milieu und Schicksal in das rechte Licht setzen und zu einem Gesamtbild vereinigen soll, das für die Hilfeleistung den Ausgangspunkt abgibt und das Ziel bestimmt« (Salomon, zit. nach Neuffer, 1990, S. 30). Zudem steht eine Demokratisierung im Verhältnis zwischen Beratern/Therapeuten und Klienten/Patienten an. Stierlin fordert bereits 2001: »Therapeut und Klient verstehen sich als gleichberech© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
tigte, auf Kooperation angewiesene und gleichsam mit offenen Karten spielende Partner« (S. 138). Dieses Postulat ist bisher nur in Ansätzen umgesetzt. Analysiert werden mit Hilfe der hier vorgestellten Methoden die Lebenslagen und Lebenswelten der Betreuten. Das Lebenslagenkonzept, das als »Lebenslagenansatz« in der Politikfeldanalyse eingeführt ist, ist ein sozialwissenschaftliches Konzept, in dem das Zusammenwirken der unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren in den konkreten Lebensverhältnissen von Individuen und sozialen Gruppen erfasst wird. Als »Lebenslagen« werden die individuellen Handlungsspielräume definiert, die von einer Vielzahl von individuell nicht beeinflussbaren strukturellen Faktoren begrenzt werden. Die Lebenslage wird zentral vom Haushaltseinkommen beeinflusst, die den Zugang zur Befriedigung zahlreicher Bedürfnisse regelt, die zudem geschlechterdifferenziert zu erfassen sind. Für den Berater ergibt sich hieraus die Lebensweltorientierung als Grundhaltung. Der Lebenslagenansatz wird als Analyseinstrument für die zielgruppenorientierte Erfassung von Politikfeldern eingesetzt, beispielsweise hat die Bundesregierung den Lebenslagenansatz als theoretisches Konzept ihrer Armuts- und Reichtumsberichterstattung zugrunde gelegt. Neben den objektiven (materiellen und immateriellen) Dimensionen werden in diesem Ansatz die subjektiven Dimensionen einbezogen, indem Aktivitäten und Entscheidungen, aber auch Interessen und Erwartungen von Menschen in Beziehung zu objektiven Dimensionen gesetzt werden. Der Ansatz ist mehrdimensional ausgerichtet und zeichnet sich durch den Doppelcharakter der Lebenslagen, der objektiven Strukturiertheit und den subjektiven Deutungsmustern aus. Die Lebenslagen markieren einerseits den Rahmen von Möglichkeiten, von Handlungsspielräumen, andererseits können diese auch aktiv gestaltet werden. Der Begriff der Lebenswelten hingegen beschreibt in Bezug auf den Soziologen Alfred Schütz jene »Wirklichkeit«, in der der Mensch lebt, denkt, handelt und sich mit anderen verständigt (siehe Kleve, 2000). In der Lebenswelt, die dem Menschen vorgegeben ist, bewegt er sich mit anderen in selbstverständlicher Weise. Sinnzusammenhänge sind klar und vertraut und müssen nicht ständig erschlossen werden. Hierzu gehören die tatsächlichen und alltäglichen Umstände, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einführung
in denen der Mensch sich bewegt. Die Lebenswelten, die in unterschiedliche Lebensräume und -felder untergliedert sind, werden als kulturell geformte Sinnwelten verstanden und bilden die Basis der Wahrnehmung und des Verstehens. Erfahrungen in den Lebenswelten werden im Lebenslauf gesammelt. Habermas nahm diesen Begriff in seiner Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt auf. System beinhaltet hier den Bereich der Gesellschaft, in der mit Hilfe der Kommunikationsmedien Macht, Geld und Recht agiert wird, während unter Lebenswelt der eher private und vertraute Bereich der Gesellschaft verstanden wird, in die Verständigung mittels der kommunikativen Rationalität erfolgt (siehe Kleve, 2000). Kommuniziert wird primär nicht rechtlich, ökonomisch und politisch, sondern moralisch und normativ. Der Einsatz der hier verwendeten Methoden basiert auf Grundsätzen psychosozialer Arbeit, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Psychosoziale Diagnostik hat folgende Grundpositionen zu berücksichtigen: 1. Soziale Problemlagen, Gesundheit und Krankheit können nicht mit eindimensionalen Erklärungsmodellen, linearen UrsacheWirkungs-Bezügen und ohne eine historische Betrachtung erfasst werden. Daher benötigen wir ein vernetztes ganzheitliches, multiperspektivisches Konzept und eine durch sie geleitete Praxis. Mehrperspektivität setzt Interdisziplinarität voraus, in der die Methoden einer Disziplin in den Bereich einer anderen übertragen werden, und Transdisziplinarität, die zentriert, was zwischen den Disziplinen geschieht und sie »übersteigt«. 2. Die Einheit von Körper, Psyche und sozialem Kontext kann als anthropologische Grundkonstante verstanden werden. Psychosoziale Tätigkeiten gründen sich (für mich) auf ein biopsychoökosoziales Menschenbild, in dem der Mensch ganzheitlich betrachtet wird. Menschen sind nach Petzold (2009) Erkenntnis suchende »KörperSeele-Geist-Subjekte« in einem ökologischen und sozialen Kontext und Kontinuum. Kontinuum bezieht sich auf die Lebenszeit, den Lebenszyklus und schließt eine mehrgenerationale Betrachtung ein. Gesundheit und Krankheit sind in diesem Modell kein Zustand, sondern ein dynamisches Geschehen. In diesem Konzept ist zu beachten: (1.) Der Leibbegriff ist umfassender als der Körperbegriff, er bezieht sich auf den belebten, mit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Bewusstsein ausgestatteten, vom Subjekt erlebten Körper. (2.) Die soziale Ebene schließt das Ökologische, die Lebenswelt, die Umwelt ein. Umwelt wird als eine vom Menschen aktiv zu gestaltende Lebenswelt verstanden, wobei die Zerstörungen der Lebensbedingungen des Menschen thematisiert werden müssen. (3.) Eine Konsequenz aus dem biopsychoökosozialen Verständnis ist, dass die Unterscheidung psychosomatisch versus nichtpsychosomatisch nicht sinnvoll ist, da in jedem Krankheitsprozess biopsychosoziale Faktoren Einfluss haben. 3. Der Konstruktivismus bildet für mich die Grundlage des Erkennens. Soziale Probleme, Gesundheit und Krankheit sind sozial konstruiert, also beobachterabhängig. Als »integrativer« (siehe Schmidt, 1998) Konstruktivist plädiere ich für eine erkenntnistheoretische Bescheidenheit: Aussagen sind vorläufige Annäherungen, andere Perspektiven und Hypothesen sind möglich und Interessen und Wünsche beeinflussen das Wahrnehmen und Denken. Hierbei ist Erkenntnisgewinn nicht wertfrei, sondern nach Habermas von »Erkenntnisinteressen« bestimmt. 4. Psychosoziale Arbeit ist im Grunde schon immer systemisch, denn Kontext und soziales Umfeld werden zentral einbezogen, es erfolgt eine Orientierung an den Aufträgen der Klienten und Ressourcen werden genutzt. Ursachen und Wirkungen stehen in einer unauflösbaren Wechselbeziehung. Probleme und Symptome sind zirkulär zu betrachten. Sie haben eine Funktion. Jedes Verhalten ist sinnvoll. Änderungen eines Systemmitgliedes verändern das ganze System, jedoch ist die Art der Veränderung kontingent. Kleine Veränderungen können weitere Veränderungen nach sich ziehen (oder auch nicht). 5. Ein Mensch kann sich besser entwickeln, wenn ihm partnerschaftlich im Sinne einer Ich-Du-Beziehung (Buber, 1958) begegnet wird. Psychosoziale Arbeit benötigt Begegnung. Die Persönlichkeit des Helfers ist ein entscheidender Wirkfaktor. Hilfreich sind soziale und emotionale Kompetenz, Zugewandtheit, Zuversicht, Empathie, Respekt, professionelle Distanz, Humor, Kreativität, interaktive Präsenz, Schwingungsfähigkeit, Wertschätzung, Balance zwischen Engagement und Gelassenheit, Selbstreflexion und Erfahrung. 6. Für die Kommunikation zwischen Berater und Klient bedeutet dies, dass Ambivalenzen, Differenzen und Dissens wohlwollend zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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akzeptieren sind. Dies setzt eine Selbstreflexion des Beraters, das heißt eine Beobachtung des Beobachters voraus. 7. Entscheidend ist neben der Person des Beraters die Passung von Methode, Konzept, Setting und Intervention. Bei der Auswahl der geeigneten Interventionen werden Kriterien von Wirksamkeit, ethische Aspekte und die Interessen des Beraters und seiner Institution berücksichtigt. 8. Psychosoziale Arbeit muss die sozialökologischen Dimensionen analysieren, das heißt auch das Fortschreiten der Ökonomisierung kritisch reflektieren und auf Veränderungen schädigender Verhältnisse drängen. Forschungsergebnisse zeigen, dass beispielsweise ein schlechter Gesundheitszustand verknüpft ist mit Arbeitslosigkeit, ungesunden Arbeitsbedingungen, Stress, fehlendem sozialen Rückhalt, schlechten Wohnverhältnissen, gesundheitlichem Risikoverhalten und Armut. Die Zentrierung auf die soziale Lage ist somit immer auch ein politischer Blick. 9. Mit Sensibilität und Respekt sind die kulturelle Unterschiedlichkeit (Managing Diversity) und die Geschlechterperspektive zu beachten. Aspekte wie Schicht, Alter, Gender, Migrationshintergrund, Religion oder Weltanschauung sind von hoher Relevanz. Empathie und Respekt bilden die Basis zur Entdeckung von Gemeinsamkeiten. 10. Die Beschäftigung mit Gesundheit und Krankheit zeigt, dass die psychosoziale Arbeit immer noch nicht genügend gesundheitszentriert ist. Wir benötigen eine doppelte Perspektive, die zugleich störungsbezogen und entwicklungsorientiert ist. Deshalb ist besondere Aufmerksamkeit auf die Arbeit mit protektiven Faktoren, salutogenen Einflüssen und resilienzfördernden Maßnahmen, Prävention und Ressourcenförderung zu legen. 11. Die Familie als das wichtigste soziale System steht zentral im Fokus psychosozialer Arbeit. Stichworte sind hier das Ziel der »bezogenen Individuation« (Boszormeyi-Nagy u. Spark, 1981), Zentrierung auf ein Lebensphasenkonzept und auf die Mehrgenerationenperspektive. Da Familien in Umwelten eingebunden sind, ist die Netzwerkarbeit ebenfalls eine zentrale Aufgabe. 12. Metaziel ist die Autonomie der Klienten und die Unterstützung der Selbstwirksamkeit. Der Klient soll erfahren, dass er seine Geschicke selbst steuern und Einfluss auf die Umwelten nehmen kann (Kohärenz). Die Förderung von Empowerment ist in diesem © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Prozess zentral. Gemeint ist der Prozess, in dem Menschen ermutigt werden, Bedürfnisse ernst zu nehmen, Interessen einzubringen und ihre Kompetenzen und Ressourcen zu sehen. 13. Bei allen Aktivitäten (Planung, Steuerung, Auswertung, Durchführung und Evaluation von Maßnahmen) sind die Betroffenen partizipativ zu beteiligen. Partizipation wird in diesem Prozess als Instrument genutzt, um die Akzeptanz einer Maßnahme zu steigern, und dient als ein normatives Ziel dazu, die Selbstbestimmung, die Selbsthilfefähigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit für eine Zielgruppe zu erhöhen. Angestrebt wird ein partnerschaftliches Verhältnis. In dieser Einleitung wurde zunächst ein Überblick über die Genogrammarbeit gegeben und grundlegenden Positionen psychosozialer Diagnostik thematisiert. Im zweiten Kapitel gehe ich ausführlicher auf die Diagnostik ein. Einführend befasse ich mich mit der Notwendigkeit multiperspektivischer Diagnostik im Kontext des Konstruktivismus. Im dritten Kapitel werden Kriterien familialer Funktionstüchtigkeit diskutiert, im vierten Kapitel werden ausgewählte Forschungsergebnisse zusammengefasst, mit denen Zusammenhänge zwischen der sozialen Lage und der Gesundheit von Individuen und Familien beschrieben werden. Nach einführenden grundlegenden Anmerkungen über die soziale Ungleichheit gehe ich auf ausgewählte soziale Problematiken ein und stelle ein Erklärungsmodell sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit vor. Die hier beschriebenen Untersuchungsergebnisse bilden für die Genogrammerhebung einen bedeutsamen Kontext, um dann Zusammenhänge zwischen der Gesundheit und der sozialen Lage zu erörtern. Im Fokus dieses Kapitels stehen die soziale Unterstützung in Netzwerken und die Bedeutung der Ressourcen. Im fünften Kapitel schließlich werden die angewandten Methoden des Genogramms und der Netzwerkanalyse beschrieben, um dann im Anschluss beispielhafte Genogramme vorzustellen. Im Anhang wird das verwendete Manual dokumentiert, die Downloadversion findet sich unter www.v-r.de/genogrammanalyse.
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2 Psychosoziale Diagnostik
2.1 Die Bedeutung multiperspektivischer Ansätze in der Diagnostik Verhaltensauffälligkeiten, Gesundheit, Krankheit und die Ressourcen von Personen können nicht mit eindimensionalen Erklärungsmodellen, linearen Ursache-Wirkungs-Bezügen und ohne eine historische Betrachtungsweise erfasst werden. Um Erkenntnisfortschritte im Verständnis der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Veränderung komplexer Phänomene zu erreichen, sind multidisziplinäre Ansätze notwendig, in denen ein Problemgegenstand mit multiplen Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen untersucht wird. Den Begriff der Multiperspektivität im Rahmen einer integrativen Sichtweise führte Petzold bereits in den 1980er Jahren ein, hierbei geht es um Polykontextualität, die nicht nur die quantitative Vervielfachung von Beobachterperspektiven meint, sondern auch den Umstand, dass jede Beobachtung ihrerseits beobachtbar ist (Eugster, 2000). Eine solche Analyse bietet die Möglichkeit, die jeweils theoretischen Zusammenhänge synchron, als Facetten eines komplexen Geschehens, zu betrachten. Die »Wirklichkeit« wird auf verschiedenen Facetten, wie durch unterschiedliche Optiken, evoziert. Dies darf jedoch nicht als ein fragmentierter Wahrnehmungs- und Verstehensprozess aufgefasst werden, denn der jeweilige Fokus hat die übrige »Wirklichkeit« als Horizont. Im Rahmen der Abstimmung und Angleichung der einzelnen Ansätze tauchen Brüche und Divergenzen auf, bei denen nicht die Vollständigkeit im Detail entscheidend ist; ein solcher Anspruch wäre hypertroph. Dieser theoriegeleitete Prozess, den Petzold als »polytheoretischen Diskurs« (1993, S. 2, 477) bezeichnet, benötigt auch eine Mehrdimensionalität in der theoretischen Betrachtungsweise. Eine einzelne Theorie oder Wissenschaft kann einem umfassenden Gültigkeitsanspruch nicht genügen. Theorien als »Welterzeugungsinstrumente« (Fuchs, 1999) sind immer sowohl ein- als auch ausschließend. Modelle der Beschreibung von Auffäl© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Psychosoziale Diagnostik
ligkeiten, Krankheit und Gesundheit betonen jeweils bestimmte Aspekte und Lebensbereiche und sind unterschiedlich integrativ in der Einbeziehung der einflussnehmenden Ebenen und Faktoren. Psychologische, soziologische und medizinische Erklärungsmodelle mögen in sich stimmig sein, sie erfassen jedoch nur jeweils begrenzte Ausschnitte der Wirklichkeit und sind an Ebenen der Abstraktion gebunden. Im Rahmen eines multiperspektivischen Ansatzes dienen ihre Klassifikationsschemata lediglich zur Einordnung in bestehende Wissenschaftsstrukturen und zur interdisziplinären Verständigung. Der Konstruktivismus und die Systemtheorien bilden die erkenntnistheoretischen Grundlagen des hier vorgestellten Ansatzes. Wenn Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler immer wieder Ausdrücke wie »Wirklichkeit« oder »Wahrheit« verwenden, sind dies Aussagen, in denen sie unterstellen, dass sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder einen allgemeinen Wahrheitscharakter haben. Dabei können nur Antworten gegeben werden, die in Übereinstimmung heute für »wahr« gehalten werden. Mit neuem Wissen werden »neue wahre« Antworten gegeben (Mitterer, 1999) und zugleich neue Wirklichkeiten konstruiert. Wirklichkeitserfahrungen bilden sich in komplexen, interaktionalen Konstitutionsprozessen zwischen Erkennenden und Erkannten als Wechselwirkungen von Systemen. Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes sind Beschreibungen und Diagnosen immer Unterscheidungen von Beobachtern, also soziale Konstruktionen. Aus systemtheoretischer Perspektive sind Symptome beobachtbare Ereignisse, Prozesse oder Zustände, die als Zeichen für andere, nicht beobachtbare Ereignisse, Prozesse oder Zustände in einem anderen, nichttransparenten Phänomenbereich einer tatsächlichen oder vermuteten »Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit« gedeutet werden (Simon, 1995a). Als Beispiele führt Simon Flecken im Gesicht, ein Humpeln im Gang oder Schmerzensschreie an, die, wenn sie wahrgenommen werden, als abweichend zum erwarteten »normalen« Zustand unterschieden werden. Eine solche Interpretation bzw. Unterscheidung muss jedoch nicht getroffen werden, sie erfolgt nur bei Phänomenen, bei denen der Beobachter das Bedürfnis hat, nach einer Erklärung zu fragen. Symptome sind demnach das Produkt von Unterscheidungen bzw. Interpretationen, die durch die Zuweisung zu einem System (dem Organismus, dem psychischen oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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sozialen System) durch Kommunikation sozial festgelegt werden. In Bezugnahme auf die Semiotik führt Simon aus: »Da ihnen kein unmittelbarer Mitteilungscharakter innerhalb zwischenmenschlicher Kommunikation zugeschrieben werden kann, werden sie als Zeichen gedeutet, die auf eine andere, ›ursächliche‹, Abweichung (Unterscheidung) außerhalb des Kontextes der direkten Interaktion und Kommunikation, das heißt außerhalb der Grenzen des sozialen Systems, verweisen« (1995b, S. 23). Zu einem Symptom wird ein Phänomen erst im Rahmen einer sozialen Konvention. Es bedarf also der kommunikativen Validierung, damit ein Phänomen zum Symptom wird und damit als Merkmal der Unterscheidung für beispielsweise eine Krankheit zu werden. Um die Entstehung von Symptomen zu erklären, sind charakteristische Beziehungen zwischen den verschiedenen Modi, wie und nach welchen Prämissen, Glaubenssätzen und Modellen Menschen ihre Wirklichkeit konstruieren, zu untersuchen. Phänomene, die zu Symptomen und Krankheit »werden«, sind Begriffe hoher logischer Ordnung. Sie beinhalten Prozesse auf zahlreichen Ebenen, die rekursiv im System Mensch und Umwelt wirken. Dabei gelten solche Abweichungen vom »Normalen« als krank, kriminell oder problematisch, über dessen Schwellenwert in einer gegebenen Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt »Konsens« herrscht. Wenn sich beispielsweise jemand »süchtig« trinkt, gilt er in unserem Gesundheitswesen als krank. Stürzt er sich »süchtig« in immer neue Arbeiten, gilt er nicht als »krank« (manchmal wird er allerdings als »Workaholic« bezeichnet). Mit dieser Konstruktion, in der eine Person beispielsweise als »krank« bezeichnet wird oder sich selbst als »krank« definiert, erhält das Individuum zugleich eine neue Rolle, nämlich die des »Kranken«. Verbunden mit der Rollenattribution eines »Kranken« sind verschiedenste Erwartungen. Zum Beispiel muss der Kranke für die Umwelt erkennbar leiden und den Willen zur Besserung haben, damit er Unterstützung erhält. Die Bestimmung von »Auffälligkeiten« erfolgt also in der Kommunikation zwischen dem Individuum und den bewertenden sozialen Umwelten. Dabei ist ein lediglich subjektives Empfinden des Einzelnen ein ebenso unzureichendes Kriterium wie die alleinige Beurteilung von »Fachleuten«. Um zu einer Übereinstimmung in der Bewertung zu kommen, muss das Symptom von den Teilnehmern dieses Bewertungsprozesses der gleichen Systemebene, zum © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beispiel dem Körperlichen, zugewiesen werden. Wird das Symptom verschiedenen Ebenen zugewiesen, zum Beispiel vom Patienten dem Körper und vom Arzt der Psyche, ist der Kommunikationsprozess gestört. Zu beachten ist zudem, dass auch Fachleute, etwa mehrere konsultierte Psychologen, mit ihrer Indikationsmacht ein Symptom unterschiedlich interpretieren, sie nehmen dann als Beobachter unterschiedliche Perspektiven ein. Ein Symptom kann für ein System »Sinn ergeben«. Mit dieser Aussage soll jedoch nicht suggeriert werden, dass Symptome einzig durch das (Er-)Finden entsprechender Szenen oder Atmosphären in der Biografie zu »erklären« seien bzw. dass dies ihr einzig möglicher »Sinn« wäre. »Sinn« entsteht vor allen Dingen dadurch, dass der Mensch Orientierungen und Einordnungsmöglichkeiten seiner Symptome erhält und sich selbst »Sinn« konstruiert. Als problematisch kann es sich erweisen, wenn diese Sinnsuche über eine Schuldzuweisung erfolgt oder wenn sie als eine schicksalhafte Wendung erlebt wird. Das Geflecht der vielfältigen, oft sehr komplexen Krankheitshintergründe werden wir nie in allen Einzelheiten analysieren können. Es ist sinnvoll, bei der Konstituierung von Symptomen jedes Betroffenen nach der adäquaten Wirklichkeitskonstruktion oder auch Wirklichkeitsillusion zu fragen. Dieser Prozess ist immer auch affektgesteuert; affektive und kognitive Komponenten wirken hier untrennbar zusammen. Nicht zu übersehen ist, dass Symptome wichtige soziale und psychische Funktionen haben: Sie sind niemals eindimensionalursächlich zu begreifen. Immer sind leibliche, psychische, geistige und soziale Gesamtheiten beteiligt, die in ihrer inneren Interdependenz und ihrer Historie gesehen werden müssen. Zudem kommt hinzu, dass die zu beobachtenden Phänomene immer wieder neu bewertet werden. Die Betroffenen entscheiden immer wieder neu, ob sie ein Phänomen wahrnehmen, »verdrängen« oder etwas dagegen tun. Auch die gesellschaftliche Bewertung bestimmt mit, wie »krank« oder »auffällig« sich eine Person fühlt. Für das hier vertretene systemtheoretische Verständnis sind die Erkenntnisse zum Beispiel von Kriz (1999) und Schiepek (1999) aufzunehmen. Diese nehmen auf die Subjekteigenschaft des Beobachters Bezug, während in »klassischen« systemischen Ansätzen Luhmann’scher Prägung die Person in der Theorie eliminiert wird. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Kriz (1999) und andere führen die Person wieder in die Theorie, um die Subjekthaftigkeit zu betonen, und lassen neben der Rekursivität Linearität und Kausalität bei der Betrachtung des Ineinandergreifens von Systemen zu. In diesem Prozess ist Erkenntnis und Erkenntnisgewinn nicht wertfrei, sondern von »Erkenntnisinteressen« (Habermas, 1981) bestimmt. Demnach ist auch eine Definition von Auffälligkeiten, Gesundheit und Krankheit in erheblichem Maße von soziokulturellen Interessen und Kontexten bestimmt. Gesellschaftliche Interessengruppen definieren und bewerten, was krank und gesund ist, Gesundheit und Krankheit sind sozial konstruiert. Hierbei vermag sich ein Gesellschaftssystem eher darüber zu einigen, was krank ist; eine Definition und Verständigung über gesundes Verhalten ist noch schwieriger, da hier noch mehr normative Maßstäbe einfließen (siehe hierzu Simon, 2000; bereits Keupp, 1991). Die Analyse eines Systems setzt immer schon ein entsprechendes Modell im Kopf des Beobachters voraus. Bezugspunkte sind sowohl die Kognitionen und Affekte des Individuums als auch die Muster und Prozesse, die das Individuum mit der Umwelt verbinden bzw. verbunden haben. Diesen Mustern wird Sinn und Bedeutung verliehen, indem Unterscheidungen getroffen werden. Sinnverstehen bezieht sich auf das »Zwischen« (Buber, 1958) der Verbindung der Subjekte in der Kommunikation, die zirkulär gestaltet werden. Ein umfassendes Modell der Konstruktion von Gesundheit und Krankheit muss, um einen Beitrag zu einem komplexen ätiologischen Modell zu leisten, die isolierte Fixierung auf körperliche, psychische oder soziale Merkmale überwinden. Begrifflich ist dieser Sachverhalt mit dem gebräuchlichen Terminus »Psychosomatik« nicht erfasst. Lediglich historische Gründe rechtfertigen es meines Erachtens, heute noch von psychosomatischen Krankheiten zu sprechen, da mit diesem Begriff nur Teilaspekte des unauflösbaren Ganzen hervorgehoben werden. Bereits 1973 zitiert Stierlin Aussagen von Wolff (1962) und Lipowski (1972), die den Begriff Psychosomatik für überholt und hinderlich halten, da sich die psychosomatische Medizin auf die Untersuchung psychischer Faktoren bei allen Krankheiten ausgeweitet habe (siehe Simon u. Stierlin, 1984). Der Begriff »Soziopsychosomatik« beschreibt diesen Sachverhalt angemessener. Egger (2005, S. 1) formuliert ähnlich: »Nach diesem Modell eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses kann es keine psychosomatischen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Krankheiten geben – genau so wenig wie es nicht-psychosomatische Krankheiten gibt.« Für den Konstruktionsprozess von Gesundheit und Krankheit ist ein weiterer Aspekt maßgebend. Für die interagierenden Systeme ist es bedeutsam, ob es gelingt, eine von den Klientinnen, ihren Angehörigen und den Expertensystemen akzeptierte gemeinsame oder eine divergierende Sicht von Wirklichkeit zu erzeugen. Diese jeweils subjektiven Sichtweisen der handelnden Systeme, die weder wertfrei noch rational sind, sind abhängig von Prozessen des »Ineinandergreifens« privater und theoretischer Konstrukte der Betroffenen und der Experten und Expertinnen (Welter-Enderlin, 1999). Gerhardt (1991) und Hurrelmann (1994) wiesen früh darauf hin, dass sich Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften vorrangig mit der Beschreibung von Krankheit und zu wenig mit der Beschreibung von Gesundheit beschäftigten. Dies hat sich zumindest in der Theorie verändert. Im Kontext der Salutogenese entwickelten sich Ansätze, die die Gesundheit in den Mittelpunkt stellen (siehe beispielsweise Becker, 2006; Hurrelmann, Klotz u. Haisch, 2009; Franke, 2008). Auch nach der Implementierung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wird das soziale Risiko von der Medizin und der Gesundheitspolitik wesentlich auf das Risiko, zu erkranken, reduziert. Der an »Funktionalität«, »Arbeitsfähigkeit« und damit an »Normalität« geknüpfte Gesundheitsbegriff verleiht mit dieser Logik der Medizin die Macht der unmittelbaren sozialen Kontrolle. Hierbei gerät die gesellschaftliche Produktion von Gesundheitsgefährdungen, Krankheiten, Umweltbelastungen, Armut, Arbeitslosigkeit, Über- und Unterforderungen im Arbeitsbereich, Stress und weiteren Lebensrisiken zu sehr aus dem Blick. Aus sozialen Problemen werden immer noch medizinische. Dabei verweist gerade die Zunahme der so genannten »Zivilisationskrankheiten«, zu denen Süchte, Essstörungen und andere zu rechnen sind, auf den Zusammenhang zwischen Lebensbedingungen, Lebensweisen, familiären Dysfunktionen sowie der Produktion von Verhaltensauffälligkeiten und Krankheiten. Bei der Betrachtung dieser Zusammenhänge ist der Sichtweise der kritischen Theorie (siehe Habermas, 1981; Gerhardt, 1989) zu folgen, nach der die Pathologie des Einzelnen der des sozialen Systems, in dem sich die Persönlichkeitsstruktur bildet, entspricht. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Problematische Phänomene, die als Symptome bezeichnet werden, schaffen in der betroffenen Persönlichkeit die Illusion, sich der Gesellschaft anpassen zu können, und die Hoffnung, die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu ertragen sowie Verhaltenserwartungen erfüllen zu können. Sie sind misslungene »Passungen« individueller Schemata in Bezug zur Umwelt und zugleich (extreme) Einengungen von Freiheitsgraden der Verhaltensoptionen (von Foerster, 1997). Für die betroffene Person heißt Gesundheit »Autonomie« trotz eines körperlichen, seelischen oder sozialen Handicaps. Autonomie meint (siehe Wirsching, Huber u. von Uexküll, 2000) das »Produktionsziel« einer sozial verantwortlichen Heilkunst. In der Literatur werden verschiedenste Modelle vorgestellt, mit denen versucht wird, Phänomene, das heißt Auffälligkeiten, Gesundheit und Krankheit zu analysieren. Diese ordnenden Klassifikationssysteme sind in einem unterschiedlichen Maße integrativ und multiperspektivisch. Einige Modelle, die für die Diagnostik grundlegend sind, sollen im Folgenden beschrieben werden. Ritscher (1996, S. 336 ff.) stellt Kategorien vor, mit denen auftretende Symptome drei Dimensionen zugeordnet werden können: – Philosophisch-erkenntnistheoretisch versteht Ritscher Symptome als einen sinnvollen Ausdruck (Repräsentant) für etwas anderes, ein »Signifikantes«, ein »Bezeichnendes«. Auf der Ebene des Bezeichneten ist der Sinn des Signifikanten bzw. des Symptoms zu suchen. Zu berücksichtigen ist, dass keine eindeutige Zuordnung des Symptoms zu allen Signifikanten möglich ist, da soziale Systeme nicht trivial sind. So ist jeder Signifikant im Grunde ein neuer »Signifikant«, der erneut nach seinem Sinn befragt werden muss. So fügen, das heißt konstruieren, wir eine Kette von Signifikanten zu einem vorläufigen und unabgeschlossenen Bild zusammen. – In einer pragmatischen Dimension versteht Ritscher Symptome als Probleme, die so bedrückend geworden sind, dass professionelle Hilfe außerhalb des betroffenen Systems gesucht wird. Der Blick richtet sich im Rahmen dieser Perspektive auf die Funktion eines Symptoms. Diese Funktion kann in der Stabilisierung eines eingeschliffenen Systemzustandes liegen. Oder ein Symptom bietet möglicherweise Schutz vor nicht zu bewältigen erscheinenden Veränderungen. Erst wenn sich ein System neue Ressourcen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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erschließt, verliert das Symptom seine bisherige Funktion und es kann aufgegeben werden. – In der linguistischen Dimension untersucht Ritscher die Funktionsbestimmung von Symptomen mit Hilfe unterschiedlicher Sprachmuster. Symptome können erstens als »Folge von …« beschrieben werden. Das problematische Verhalten eines Symptomträgers wird als Ausdruck und Folge problemerzeugender familiärer Interaktionen und Beziehungsmuster verstanden. Ein Symptom kann beispielsweise als eine (nicht die) Folge einer traumatisierenden sozialen Erfahrung im Kontext der politischökonomisch kulturellen Krise unserer Gesellschaft beschrieben werden. Zweitens kann ein Symptom als »Ausgangspunkt für …« in »Symptome erster und zweiter Ordnung« unterschieden werden. Hierbei führen Symptome erster Ordnung zu Bewältigungsversuchen innerhalb der bestehenden Muster. Sind diese nicht erfolgreich, reagiert das System häufig mit der Strategie des »immer mehr vom Gleichen«. Mit diesem Verhalten chronifiziert sich ein System und verstärkt so ein nicht erfolgreiches Problemmuster. Es erzeugt zudem neue Probleme. Diese »Symptome zweiter Ordnung« sind komplexer, ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die der »ersten Ordnung« und tragen zu einer Stabilisierung des Systems bei (Ritscher, 1996; siehe auch Simon, 1995a, 1995b). Drittens können Symptome als »Mittel, um zu …« dienen. Mit ihnen kann etwas zu erreichen versucht werden, was auf andere Weise nicht mehr zu bekommen ist. So erhalten Symptome (auch) eine »positive Funktion«, zum Beispiel Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese Verhaltensweisen tragen häufig zu einer Ausweitung des Ausgangssymptoms bei. Auf ein frühes integratives Modell von Bronfenbrenner (siehe hierzu von Schlippe, 1987; Petzold, 1993) soll als Nächstes verwiesen werden. Dieses Ordnungsmodell mit den vier Systemebenen Mikrosystem, Mesosystem, Exosystem und Makrosystem bringt die »horizontalen« Sozialisationsbedingungen mit »vertikalen« Einflüssen gesellschaftlicher Bedingungen in Verbindung. Es bildet einen grundlegenden Baustein für eine multiperspektivische Betrachtung. Jedoch werden die Beziehungen zwischen den Elementen und Ebenen in diesem Modell noch nicht genügend rekursiv betrachtet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die »produktive Realitätsverarbeitung« von Hurrelmann (1989, 1994) ist ein weiteres integratives Modell. Der Autor versteht die Persönlichkeitsentwicklung als einen weitgehend selbstgesteuerten Prozess, der in einer komplexen Beziehung zu organismusinternen und organismusexternen Lebensbedingungen steht. Umweltanforderungen, eigene Bedürfnisse, Interessen, Fähigkeiten, einschließlich der motorischen und körperlichen, werden aufeinander abgestimmt. Die Vorstellung von einer Umwelt, die sich in ständiger Umformung und Veränderung befindet und durch die Aktivität von Personen permanent beeinflusst wird, ist Bestandteil des Modells. Hurrelmann legt einen Schwerpunkt auf das Copingverhalten (die Erhaltung und Nutzbarmachung von Ressourcen) und das Selbstkonzept. Ein weiteres Modell soll kurz vorgestellt werden: Huber (2000, in Wirsching et al., 2000) versucht in seinem Ansatz, die vielfältigen Wechselbeziehungen von der molekularen Ebene bis hin zur gesellschaftlichen Kultur bei der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit zu erfassen. Dieses Modell soll beispielhaft für umfassende multifaktorielle Modelle vorgestellt werden (Abbildung 1). Das Modell von Huber hat zudem den Vorteil, neben den »kränkenden Kräften« auch »heilende« zu berücksichtigen. Die Einbindung eines Systems zeigt Abhängigkeiten, die als Behinderungen oder Ressourcen beschrieben werden können (Ritscher, 2004). Jedoch bedarf auch dieses Modell im Rahmen einer multiperspektivischen Sichtweise weiterer Ergänzungen. Auf einige weitere Modelle soll lediglich verwiesen werden: Minuchin (1983) legt in seinem systemischen Modell (»Das offen-systemische Modell der psychosomatischen Krankheit«) den Schwerpunkt auf einzelne außerfamiliäre Faktoren und Belastungen. Petzold (1993) verweist auf ein Modell von Lehr (1979), die in ihrem Modell auch Faktoren wie Hygiene, Klima und Ernährung aufführt, die sonst nicht genannt werden. Keupp (1991) legt in seinem Modell einen Schwerpunkt auf gesellschaftliche Zusammenhänge und die Bewältigung von psychosozialen Belastungen. Neuere Modelle stellen Petzold (1997, 2010), Franke (2008), Becker (2006) und Hurrelmann (2009) vor. Es kann zusammengefasst werden, dass eine multiperspektivische Analyse von Gesundheit und Krankheit die im Folgenden summarisch aufgelisteten Faktoren und ihre Auswirkungen (siehe auch Petzold, 1993) voraussetzt: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Abbildung 1: Der große Gesundheitsglobus (in Wirsching et al., 2000, S. 317)
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– kritische Lebensereignisse, – Einflüsse der sozialen und ökologischen Lebenslage (werden im Weiteren näher beschrieben), – die Funktionstüchtigkeit der Familie, – soziopsychophysischer Stress, – kumulative Misserfolge, die zu einer Negativkarriere führen, – das jeweilige Copingverhalten des Individuums und der beteiligten sozialen Systeme, – das Ausmaß der vorhandenen Ressourcen und das Vorhandensein von substitutiver Entlastung, – der Bezug zum eigenen Leib, dem Selbstwert und der eigenen Identität, – die internalisierten Werte und Normen, – die jeweilige Kohärenz und Sinngebung, – negative Ereignisketten, – permanente negative Milieus, Atmosphären und Beziehungen, – genetische Faktoren, – internale Negativkonzepte, – auslösende Aktualfaktoren und – so genannte »Widerfahrnisse«. Hierunter versteht Petzold (1993) Ereignisse, auf die ein Mensch keinen bzw. wenig Einfluss hat, wie eine nachlässige Hebamme, ein sadistischer Klassenlehrer, ein Geisterfahrer auf der Autobahn, chronische Armut, Hunger und Krieg, eine überforderte Mutter, der Bildungsstand der Eltern und andere. Die Berücksichtigung der Vielzahl der einwirkenden Faktoren benötigt die Einbeziehung von Kontext und Kontinuum des gesamten Lebens über mehrere Generationen. In einer mehrgenerationalen Betrachtung kommt den familiären Faktoren eine besondere Bedeutung zu. Die Familie ist der wichtigste soziale Ort zur Förderung der Gesundheit, da fast jedes wichtige Gesundheitsverhalten durch die familiären Muster und Strukturen geprägt wird (siehe Campbell, 2000). Ein kritisches Lebensereignis allein, etwa ein traumatisierendes Erlebnis in der Kindheit, führt in der Regel nicht zu einer Erkrankung. Häufig führen negative Ereignisketten zusammen mit einem negativen Milieu in sozialen Systemen zu einem Phänomen, das Krankheit genannt wird. Erst eine Kumulierung von © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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»kränkenden Kräften« führe zu »Schädigungen« (Petzold, 1993). Schädigungen in der Genese können in jedem Lebensalter (vorgeburtliche Schädigungen bis zu späten Schädigungen im Alter) wirksam werden. Fortdauernde Schädigungen in der Kindheit und Jugend wirken sich in der Regel nachhaltiger aus, da in diesem Alter weniger Abwehr- und Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Jedoch können maligne Sozialisationserfahrungen durch benigne korrigiert werden. Die meisten ernsthaften Schädigungen sind das Resultat einer allmählichen Entwicklung und von fortgesetzten Belastungen, die mit bestimmten Lebensweisen verbunden sind, die als besonders risikoträchtig gelten. Beispiele hierfür sind ungesunde Ernährung, belastende Arbeits- und Familienverhältnisse sowie beengende Wohnverhältnisse. Beim Kopplungsprozess der leiblichen, sozialen und psychischen Systeme kommt dem Gehirn eine besondere Bedeutung zu (Kriz, 1999). Das Gehirn prägt sich Erfahrungen ein, indem es neue Informationen mit schon bekannten verknüpft. Stimulierte Neuronen (elektromagnetische Kontakte) stellen die Verknüpfung zwischen den gespeicherten Informationen her. Das bedeutet, dass so genannte dentritische Spines zusammenwachsen (siehe Kriz, 1999; Roth, 2001). Aufgrund der Forschungen der Psychobiologie und der Psychoneuroimmunologie kann »der relevante Einfluß von Gedanken und Wahrnehmungen sowie deren Beeinflussung wiederum durch soziale Interaktionen auch von den konservativsten ›Somatikern‹ nicht mehr in Frage gestellt werden« (Kriz, 1999, S. 184). Somit sind frühere Vorstellungen von isolierten autonomen Systemen im Körper auch aus Sicht der Gehirnforschung nicht zutreffend. Aus neurobiologischer Perspektive ist ein System erkrankt, wenn das dynamische Gleichgewicht gestört ist, also entweder eine erstarrte Ordnung oder ein ungesteuertes Chaos herrscht. Das vorgestellte multiperspektivische Konzept fragt nach den Stärken und Widerstandsressourcen eines Individuums und seinen Umwelten, bezieht die Sinndimension ein und setzt bei der Selbstbestimmung des Menschen an. Die leiblichen, psychischen, geistigen und sozialen Elemente werden in ihrer Interdependenz gesehen. Ein multiperspektivisches Konzept stellt nicht nur die Pathogenese, sondern auch die Salutogenese in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Gesundheitsfördernd ist es, wenn in Systemen beim Diskurs © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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über Schädigungen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen möglich sind und ein hohes Maß an Ambiguität toleriert wird. Diese Toleranz kann dazu beitragen, ein System gesund zu erhalten bzw. weniger krank zu machen. Von Foerster (1996) spricht in diesem Zusammenhang vom »ethischen Imperativ«, der Wahlmöglichkeiten schaffe, da eine Verringerung von Freiheitsgraden den Menschen »krank« machen könne. Bei der Betrachtung von Gesundheit und Krankheiten kommen, wie durch ein Teleskop, unterschiedliche Teile des Gesamtsystems ins Blickfeld, während andere in den Hintergrund treten. Das bedeutet nicht, dass die anderen weniger wichtig sind. Entscheidend sind die Wechselwirkungen der soziokulturellen, interpersonellen, intrapsychischen, ökologischen und biologischen Dimensionen. Dabei spiegele Gesundheit die subjektive Verarbeitung und Bewältigung gesellschaftlicher Verhältnisse wider (Hurrelmann, 1994). Verhaltensauffälligkeiten, Krankheit und Gesundheit sind nicht nur Probleme des einzelnen Individuums oder seiner Familie, sondern haben immer einen Umweltbezug zur Gesamtgesellschaft. Gesundheit ist somit ein individuelles, aber auch ein öffentliches Gut. Sie zu erhalten liegt deshalb im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft.
2.2 Grundpositionen einer beziehungs- und lebensweltorientierten Diagnostik Bei der Erhebung von Daten mit Hilfe des Genogramms oder ähnlicher Verfahren geht es um die mehrdimensionale Erfassung der Interdependenzen von Psychodynamik und Soziodynamik, der Problemlagen und der Ressourcen. Die Genografische Mehrebenenanalyse und die Netzwerkanalyse sind in ihrer Anwendung keine universellen Verfahren. Sie haben ihre Schwerpunkte in der psychosozialen Analyse und bieten eine anschauliche, faktenorientierte, praxistaugliche Methodik. Sie ersetzen keine medizinische oder psychologische Diagnostik. Wie in jeder Form der Diagnostik ist ein Klassifikationssystem gefragt, das das Bedeutsame vom vermutlich Nebensächlichen unterscheidet. Benötigt werden erprobte und zielgenaue prozessuale Beobachtungsinstrumentarien, wie sie im Folgenden mit dem Genogramm und der Netzwerkkarte vorgestellt werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Prozessuale Diagnostik ist phänomenologisch-strukturell orientiert. Die Bedeutung dessen wird aus den folgenden Aspekten ersichtlich: 1. Der Begriff »prozessual« bezieht sich zum einen auf den zwischen Klient und Diagnostiker ablaufenden Prozess. Dieser Prozess wird selbst zum Gegenstand der Diagnostik und damit transparent. Zum anderen bezieht der Begriff sich darauf, dass in jedem gegenwärtigen Geschehen die Vergangenheit und im antizipierenden Sinn auch die Zukunft mit einbezogen ist. 2. Prozessuale Diagnostik geht von den Phänomenen aus, vom Vordergrund des Offensichtlichen, und betrachtet zunächst das, was uns der Klient im »Hier und Jetzt« an der Oberfläche zeigt. Impliziert ist, dass im »Hier und Jetzt« die gesamte Lebensgeschichte anwesend ist. Dies schließt auch den »Körper/Leib als gelebte Zeit« ein. 3. Sie versucht nicht, zu einer festgeschriebenen Diagnose zu kommen, die benennbar ist, sondern zum Wahrnehmen, Beschreiben und möglichst zum ganzheitlichen Erfassen von Abläufen. Dabei beinhaltet die Vielzahl an Eindrücken keine summative Aneinanderreihung, sondern wird zum gestalthaften Erfassen komplexer Wirklichkeit. Die Gesamtheit der Aspekte und Sichtweisen ist mehr und etwas anderes als ihre Summe. 4. Von der phänomenalen Ebene der ablaufenden Prozesse wird auf sinnhafte Strukturen geschlossen. Strukturen werden als die Gesamtheit von Elementen und Prozessen verstanden, die zeitlich überdauernde und an unterschiedlichen Stellen des Zeitkontinuums homolog identifizierbare Charakteristika haben. Strukturen sind nicht sichtbar, sie sind sozusagen die »Rückseite« der Phänomene und müssen hypothetisch erschlossen und überprüft werden. Es wird angenommen, dass im »Hier und Jetzt« die Strukturen des »Dort und Dann« »anwesend« sind und erkannt werden können. Der Leib und das Gedächtnis werden als Reservoir derartiger Strukturen bzw. Szenen aufgefasst (siehe Petzold, 1993). 5. Der »Diagnostiker« kann nicht objektiv wahrnehmen, da er Subjekt ist, mit einem individuellen Kontext und Kontinuum. Er und der zu diagnostizierende Mensch bilden ein System, gemeinsam sind sie Handelnde, wenn auch mit unterschiedlichen Machtmöglichkeiten und Ausdrucksformen. Der Beobachter steht nicht außerhalb des Systems, sondern ist Teil dessen (Kybernetik zweiter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Ordnung). Die Kommunikation verläuft zirkulär und prozesshaft. Dieser Prozess fordert im Wechselspiel eine Involvierung (Beteiligtsein an der Interaktion), eine Zentrierung (ein Bei-sich-selbst-Sein) und eine Exzentrizität (beobachten, erklären). Klienten und Berater sind somit gleichzeitig Subjekte und Objekte ihrer Beobachtungen, sie gestalten und erleben die Beziehung und beobachten sich selbst dabei. Das bedeutet, dass der Klient als Mitsubjekt betrachtet und mit ihm gemeinsam diagnostiziert wird. 6. Prozessuale Diagnostik ist ein fortlaufender Prozess, der in die Betreuung eingebettet ist, mit dem Bemühen um Übereinstimmung der Wahrnehmungen. Die Diagnostik setzt Veränderungen in Gang, in deren Konsequenz es wiederum zu einer Veränderung der Diagnostik kommt. Jede diagnostische Intervention wird damit auch zur therapeutischen/beratenden Intervention. 7. Diagnostik ist ein intersubjektiver Prozess. Bei dieser Konstruktion, die durch ein anamnestisches Vorgehen entsteht, handelt es sich, wie bereits ausgeführt, nicht um eine objektive Sichtweise von Problemlagen und auch nicht um Abbildung von »Wirklichkeit«. Vielmehr ist das »Bild« eine theoretisch und intersubjektiv gewonnene Perspektive, ein kleiner Ausschnitt, den eine Person mit ihrer Geschichte in Kooperation mit einer anderen Person entwirft. 8. Beim Abrufen der Erinnerungen der Lebensgeschichte geht es nicht nur um ein Abrufen von gespeicherten Gedächtnisdaten. Erinnern ist ein ganzheitlich-leibliches »Innewerden« von vergangenen Zeiten, Gefühlen, Situationen und Personen mit allen emotionalen und kognitiven Konnotationen im damaligen zeitlichen Zusammenhang. Der Mensch nimmt hierbei zwar die Ganzheit der früheren Bilder wahr, kann jedoch nur einen kleinen Teil seiner Lebensgeschichte im Bewusstsein äußerungsfähig als Erzählung rekonstruieren und aktualisieren. Hier wird deutlich, dass die Erinnerung selektiv aus dem Lebenskontext gelöst wird. Grundsätzlich erfolgt immer eine Komplexitätsreduktion in der Beobachtung, der Beschreibung und der Bewertung. Erinnerung wird selektiv aus dem Lebenskontext gelöst. Die Lebensgeschichte ist die Geschichte, die dieser Patient zu dieser Zeit diesem Berater/Therapeuten erzählt. Sie ist das Ergebnis eines gemeinsamen und intersubjektiven Vorgehens und damit gleichzeitig ein neuer und auch ko-kreativer Entwurf der Biographie. Petzold (1993) bezeichnet dieses Vorgehen, welches die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Probleme des Individuums in mehrspektivischer Hinsicht im Kontext der Lebensgeschichte und des kulturhistorischen Hintergrunds erfasst, als »Kontext-Kontinuum-Analyse«. Klassifikationen (siehe auch das Kapitel 4.3: Kriterien sozialer Inklusion und Integration) dienen als Hintergrund für eine Wirklichkeit, die wir figürlich mit diagnostischen Mitteln herstellen. Fügt sich die Diagnostik wie ein Puzzleteil in die Hintergrundklassifikation ein, kann von einer guten Passung gesprochen werden. Geschieht dies nicht, bleibt eine Differenz bestehen (siehe Röh, 2008). Diagnostik als eine systematische, regelgeleitete und wissenschaftlich fundierte Analyse erstellt Annahmen über die Zusammenhänge zwischen Beobachtung und Klassifikation und stellt Begriffe für die innerfachliche und interdisziplinäre Verständigung zur Verfügung. Diagnostik systematisiert das Wissen in Form einer orientierenden Landkarte (Heiner, 2004). Systemiker benutzen die Metapher von der Landkarte, das heißt, der Diagnostiker entwerfe eine Landkarte, die nicht mit der Landschaft verwechselt werden solle. Solch eine Landkarte könne stärker dialogisch, individualisierend oder stärker expertenbestimmt und generalisierend sein. Verschiedene Klassifikationsebenen sind denkbar und »nützlich«: – auf die Person bezogen (affektive, leibliche, kognitive Ebene), – bezogen auf soziale Sachverhalte der Mesoebene (Familie, Beziehungen, Partizipation, Gruppen) und der Makroebene (Schicht, Kommune, Milieu, Status etc.), – bezogen auf die Dimension »objektiv« und »subjektiv« und – auf die Zeitebene der Vergangenheit (mehrgenerationale Vorgeschichte, Anamnese), der aktuellen Gegenwart (Status, Ressourcen, Defizite) und der Zukunft (Erwartungen, Prognose). Bei diesem Prozess sind weitere Faktoren zu berücksichtigen, auf die ich im Folgenden kurz eingehe: – Die Diagnosenstellung ist vielfältig beeinflusst. Einflüsse von außen sind zum Beispiel: Anforderungen von Gesellschaft und/ oder Arbeitgebern – der gesellschaftliche Auftrag, der die Institution beeinflusst, etwa die persönlichen Ziele des Diagnostikers –, Arbeitsinhalte oder Spannungen im Team. Die Rolle und Person des Therapeuten beeinflusst ebenfalls die erzählte Lebensgeschichte und somit die Diagnose. (Habermas spricht in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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diesem Zusammenhang von den Einflüssen der herrschenden Interessen. Beispielsweise können Diagnosen als Instrumentarium zur Finanzierung oder zum Ausschluss von Behandlungsmöglichkeiten dienen.) Diagnosen sind Ausdruck von Definitionsmacht im Hinblick auf Normalität. Bei der Erstellung einer Diagnose ist zu beachten, dass immer eine Etikettierung erfolgt und damit beim Etikettierenden eine entsprechende Verhaltensweise. Diagnosen legitimieren das eigene professionelle Handeln, sie erfüllen das Interesse an passgenauen Hilfen, denn in der biopsychosozialen Arbeit nimmt der wirtschaftliche Legitimationsdruck und das Interesse an betriebswirtschaftlichen Steuerungsinstrumenten und Qualitätssicherungssystemen zu. Im diagnostischen Prozess entscheiden die Beteiligten über die Präzision der Informationen, die erhoben werden sollen. Eine allgemeine Kategorie wäre die Frage nach dem Familienstand, zum Beispiel »verheiratet«, eine mittlere Kategorie wäre beispielhaft die allgemeine Einschätzung der Partnerschaft als »unterstützend«. Mit hoher Präzision wären bezüglich der Partnerschaft zum Beispiel der Umgang mit Grenzen und die Substitutsbildung zu beschreiben. Die gesammelten und bewerteten Informationen sind dem Klienten »zurückzugeben«. Notwendig ist eine Demokratisierung im Verhältnis zwischen Beratern/Therapeuten und Klienten/ Patienten (siehe Stierlin, 2001). Durch Partizipation bei der Erhebung und der Auswertung erfolgt eine Stärkung der Autonomie.
Der diagnostische Prozess ist zu evaluieren und zu dokumentieren, systematisch auszuwerten und zu reflektieren.
2.3 Die Bedeutung der Ressourcen Ressourcenorientierung ist allgemein zu einem »Zauberwort« (Schemmel u. Schaller, 2003) geworden, das sich wie ein roter Faden durch neue Strömungen im Bereich der professionellen psychosozialen Arbeit zieht. In der Genogrammanalyse kommt der Ressourcenorientierung, wie beispielsweise auch in Grawes Entwurf einer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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allgemeinen Psychotherapie (1994), in Konzepten der Salutogenese oder in Konzepten der Gesundheitsförderung (Becker, 2006; Hurrelmann et al., 2009; Schemmel u. Schaller, 2003; Franke, 2008) immer mehr Raum zu. Die Nutzung der Ressourcen wird besonders in systemischen Ansätzen (siehe Schwing u. Fryszer, 2009; Ritscher, 2002; Hanswille u. Kissenbeck, 2008; Bleckwedel, 2008; Pauls, 2004) und in der integrativen Therapie (Petzold, 1997) in den Mittelpunkt gestellt. Eingang gefunden hat diese Orientierung auch in die ICF und ihre Fokussierung auf die Teilhabe. Die Ressourcenorientierung ist für die Theorie zu einer Leitorientierung geworden, auch wenn die praktische Umsetzung noch einige Zeit benötigen wird. Herringer (2006) kritisiert, dass gebrauchsfertige Erhebungsinstrumentarien fehlen, mit denen Ressourcen in strukturierter Form erfasst werden können. Das im Weiteren vorgestellte Manual soll hierzu einen Beitrag leisten. Um ressourcenorientiert tätig zu sein, ist es wichtig, genauer zu bestimmen, welche Faktoren gemeint sind. Schiepek und Cremers (2003, S. 154 f.) definieren diese allgemein als »Kraftquellen«. Sie führen aus: »Es sind Quellen aus denen man all das schöpfen kann, was man zur Gestaltung eines zufrieden stellenden, guten Lebens braucht, was man braucht, um Probleme zu lösen oder mit Schwierigkeiten zurecht zu kommen. Das können sehr verschiedenartige Bedingungen sein, denn jeder Mensch ist anders, und jede Situation, jede Herausforderung und Lebensphase braucht andere Ressourcen.« Menschen benötigen Ressourcen zur Bewältigung alltäglicher Probleme und erst recht für den Umgang mit krisenhaften Situationen. In der Lebensspanne entwickeln Ressourcen sich umso besser, wenn das Verhältnis von Möglichkeiten und Anforderungen ausgewogen ist und je erfolgreicher Anforderungen bewältigt wurden (Petermann u. Schmidt, 2009). Das Ressourcenkonzept geht davon aus, dass jeder Mensch eigene Copingstrategien für anstehende Handlungsanforderungen entwickeln kann. Grundannahme ist das Postulat, dass unsere Lebensführung, unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden abhängig sind von der Verfügbarkeit und dem Einsatz von Personen und Umweltressourcen. In einem zirkulären Prozess beeinflussen sich Kontextressourcen und persönliche Ressourcen, hierbei passen nicht alle Ressourcen auf alle Bedürfnisse. Um umfassend Ressourcen zu nutzen, ist mit Bezug auf Keupp (2003) gegen eine psychologisch verkürzte Ressourcenperspektive und für © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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eine Einbeziehung des Potentials von Netzwerken und der sozialpolitischen Ebene zu plädieren. Wie bereits in vorherigen Abschnitten ausgeführt, hat soziale Unterstützung (siehe Mielck, 2005, sowie die Studie »Gesundheit in Deutschland aktuell 2009. Gesundheitsberichtserstattung des Bundes« des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2011) positiven Einfluss auf den Gesundheitszustand. Erneut ist auf die besondere Bedeutung der Beziehungen zu Familienmitgliedern zu verweisen. Die Autoren des Siebten Familienberichts (2006) sehen hier einen Zusammenhang mit materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen, zu denen Bildung, Gesundheit, Zeit, Sozialkapital, Wohnen und Einkommen gehören. Als ein weiterer Faktor wirkt sich der Standard der gesundheitlichen Versorgung aus. Ein Faktor ist hier die Inanspruchnahme von Maßnahmen der Gesundheitsförderungen, zum Beispiel, ob an Früherkennungsprogrammen teilgenommen wird. Mielck (2005) weist beispielhaft darauf hin, dass Kinder aus unteren Schichten weniger an diesen Maßnahmen teilnehmen, also vorhandene Ressourcen von ihren Eltern weniger genutzt werden. Die Bedeutung der Ressourcen für die Problembewältigung bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse (siehe Schemmel u. Schaller, 2003; Petzold, 1997; Beushausen, 2010). Grawe (1994) betont in seiner Untersuchung über therapeutische Wirkfaktoren die Bedeutung der Ressourcenaktivierung. Er verweist auf empirisch abgesicherte Befunde, nach denen Patienten gut geholfen werden kann, wenn positive Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen diagnostiziert und unterstützt werden. Grawe sieht die Ressourcenorientierung neben der Problemaktualisierung, der aktiven Hilfe zur Problembewältigung und der therapeutischen Klärung als eine der vier therapeutischen Wirkprinzipien an. Eine wichtige Rolle spielt, in welchem Ausmaß der professionelle Helfer als einer der bedeutsamen Bezugspersonen als unterstützend, aufbauend und selbstwertstärkend erlebt wird. Das Ressourcenkonzept weist Gemeinsamkeiten zu weiteren Konzepten der Gesundheitsforschung auf. In erster Linie sind dies die Konzepte der Salutogenese, des Empowerment und der Resilienz. Antonovsky (1979) entwickelte das salutogenische Konzept des Sense of Coherence. Er formulierte die Grundfragen: Was hält den Men© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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schen trotz vielfacher Risiken und gefährlicher Bedingungen gesund? Wie und unter welchen Bedingungen entsteht Gesundheit? Antonovsky sah sein Modell der Salutogenese (von lat. salvus: gesund; griech. genese: Entstehung) als Ergänzung zur Pathogenese und verstand Krankheit und Gesundheit als ein Kontinuum innerhalb einer dynamischen Wechselbeziehung (Antonovsky, 1997). Dieses Modell betrachtet Krankheit und Tod als Bestandteile des Lebens. Krankheit wird als Verarbeitungsmöglichkeit im Umgang mit den Herausforderungen des Lebens gesehen. Zentrales Postulat ist der Kohärenzsinn. Dieser beinhaltet drei Komponenten: – Verstehbarkeit: Ich begreife größere Zusammenhänge, verstehe sie und kann sie mir erklären. – Handhabbarkeit: Ich besitze die Fähigkeit, meine inneren und äußeren Ressourcen zur Lösung meiner aktuellen Probleme einzusetzen. – Sinnhaftigkeit: Ich erkenne einen Sinn in dem, was ich tue, und bin bereit, mich dafür anzustrengen. Das Kohärenzgefühl entscheidet darüber, ob eine Situation als Stress oder als Herausforderung (Widerstandsressourcen/Widerstandsdefizite) angesehen wird. Die vorhandene Ausprägung der Kontrollüberzeugung bildet somit eine wichtige Ressource. Unterschieden wird die interne Kontrollüberzeugung, das heißt, wenn die Person grundsätzlich glaubt, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben, von der externen Kontrollüberzeugung, bei der eine Abhängigkeit vom Schicksal oder anderen Personen und Situationen angenommen wird. In einem Zusammenhang mit diesem Konzept steht das Konzept des Empowerment. Empowerment ist ein Sammelbegriff für Arbeitsansätze der psychosozialen Praxis, dessen Ziel es ist, Menschen zu ermutigen, eigene Stärken und Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln. Menschen werden unterstützt, Wege zu einem selbstbestimmten und autonomen Handeln zu beschreiten. Gemeint ist die Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, die Stärkung von Autonomie und Eigenmacht. Auch Empowerment richtet den Blick nicht auf mögliche Defizite, sondern auf die Ressourcen. Wie im Konzept von Antonovsky wird davon ausgegangen, dass Menschen über das Vermögen verfügen, ihr Leben selbst zu gestalten und Lebenssouveränität zu gewinnen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Das Resilienzkonzept beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit widrige Lebensumstände »stärken« können. Resilienz, als eine erworbene psychische Robustheit (Petermann u. Schmidt, 2009), meint die Fähigkeit, erlernte Mechanismen zur Bewältigung von Krisen trotz schwieriger Bedingungen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zur Verfügung zu haben (siehe Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2008). Bedeutsam sind die Faktoren – Akzeptanz (ich nehme die Situation an), – Optimismus (ich glaube, dass die Situation wieder besser wird), – aktive Lösungsorientierung (ich suche aktiv Lösungen), – Überzeugung der Selbstwirksamkeit (ich habe Einfluss), – günstiger Attributionsstil (ich bewerte positiv), – Netzwerkorientierung (ich suche mir Hilfe), – Zukunftsorientierung (siehe Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2008). Resilienz entwickelt sich als variable Größe prozesshaft im zeitlichen Verlauf in Anpassung an die Umweltbedingungen und darf nicht als stabile und überdauernde Persönlichkeitseigenschaft verstanden werden. Resilienz ist keine gegebene Größe, die einige Individuen besitzen und andere nicht (Bengel et al., 2009). Ressourcen der unterschiedlichen Bereiche sind voneinander abhängig, sie können sich im Negativen wie im Positiven verstärken. Auf Ressourcengewinn erfolgt oftmals ein weiterer Ressourcengewinn. In der Literatur werden Ressourcen in Kategorien unterteilt, von denen im Folgenden einige aufgeführt werden. Zu beachten ist, dass dies eine schematische, für die praktische Handhabung notwendige Unterscheidung ist. Um in der Praxis einen ersten Überblick über vorhandene und fehlende Ressourcen eines Klienten zu gewinnen, orientiere ich mich an den »5 Säulen der Identität« (nach Petzold, 1993) der integrativen Therapie. Diese sind: – Leiblichkeit, – soziale Beziehung (enge und weitere Beziehungen), – Arbeit und Leistung, – Normen und Werte, – materielle Sicherheit (bzw. sozioökonomischer und ökonomischer Kontext). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Diese lassen sich in der Praxis mit allen Klientenpopulationen zeichnerisch gut darstellen, um einen Überblick über wichtige Lebensbereiche zu gewinnen. Mielck (2005) unterscheidet individuelle (interne Kontrollüberzeugung, Kohärenzsinn) und soziale Ressourcen, bei denen die soziale Unterstützung im Mittelpunkt steht. Becker (2006) hingegen differenziert in interne und externe Ressourcen, die ich im Folgenden zusammenfasse, um die Vielfältigkeit aufzuzeigen. – Interne Ressourcen: gutes Selbstwertgefühl, optimistisch-bejahende Sicht des Lebens und der Zukunft, guter Realitätssinn, hohe Belastbarkeit in Stresssituationen, innere Ausgeglichenheit, Selbstsicherheit, Autonomie, Bereitschaft zu vergeben, Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, Ausdauer, Sorgfalt, Leistungsbereitschaft, Vorausdenken/Planen, Rücksichtnahme, Einfühlsamkeit, zwischenmenschliches Vertrauen, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Friedfertigkeit, Nichtaggressivität, Geselligkeit, Offenheit für Neues, Fröhlichkeit, Begeisterungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft, Wissen (beruflich, sozial, allgemein, Intelligenz), soziale Fertigkeiten und Rollen, Kenntnis von Normen, Regeln, Werten und physische Ressourcen (körperliche Fitness, Gesundheitszustand, physische Attraktivität). – Externe Ressourcen: Wertschätzung durch Familienmitglieder, gute soziale Beziehungen, liebevolle Beziehungen zur Familie, soziale Unterstützung durch Familie und/oder Freunde, attraktiver Sexualpartner, informative Mitmenschen, Haustier, gute Einbindung in soziale Netzwerke, günstige Gelegenheiten zur Ausübung eines Hobbys, anregende Umwelt, Umwelt mit Erholungswert, Sport- und Bewegungsangebote, gesunde Lebensmittel, keine Schadstoffbelastung, externe Wissensquellen, ausreichendes Einkommen, effizientes Gesundheitssystem, sicherer Arbeitsplatz, Kontrolle über die Arbeit, angemessene Entlohnung, Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, klare Verantwortung, klare Aufgaben, herausfordernde berufliche Aufgaben, verfügbare Wissensquellen, ergonomischer Arbeitsplatz, keine Schichtarbeit, angemessene Arbeitspausen und eine gute Arbeitsumwelt (kein Lärm Staub/Hitze, Kälte), gutes Betriebsklima.
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Diese Aufzählungen zeigen einerseits, wie komplex und vielfältig Ressourcen sind, andererseits besteht die Gefahr einer »Beliebigkeit«, wenn so vieles als Ressource bezeichnet und genutzt werden kann. Letztlich ist entscheidend, wie die Ressourcen vom Subjekt wahrgenommen und wie sie eingeschätzt werden, das heißt welche Bewertungen und Sinnzuschreibungen (siehe Willutzki, 2003), welche »relationale[n] Konstrukte« (Schiepek u. Cremers, 2003) vorgenommen werden. Herringer (2006), der ebenfalls Personenressourcen und Umweltressourcen unterscheidet, stellt in Bezugnahme auf Willutzki (2003) eine umfangreiche Übersicht vor, die aufgrund ihrer Differenziertheit und der Einbeziehung der ökosozialen Faktoren für mich beispielhaft ist. Ich stelle hier lediglich die von Herringer verwendeten Kategorien vor: Personenressourcen: – physische Ressourcen – der Leib, – psychische Ressourcen, – kulturelle und symbolische Ressourcen, – relationale Ressourcen, – Kompetenzen in Lebenskrisen und belastenden Lebenslagen. Umweltressourcen: – soziale Ressourcen, – ökonomische Ressourcen, – ökologische Ressourcen, – professionelle (Dienstleistungs-)Ressourcen. Ressourcen können mit Hilfe verschiedener Materialien und Methoden erhoben werden, die jeweils an die Klientel und deren Entwicklungsalter angepasst werden müssen. Hier werden diese mit Hilfe des Genogramms erhoben (siehe z. B. von Schlippe u. Schweitzer, 1997; Ritscher, 2002). Auf einige ergänzende Methoden, die sich gut in die Genogrammarbeit integrieren lassen, soll kurz verwiesen werden. Eine Form der Netzwerkkarte stellt Herwig-Lempp (2007) mit der VIP-Ressourcenkarte vor, in der für die vier Felder (Familie, Freunde, Beruf, Profis) unterstützende Kontakte eruiert werden. Küfner et al. (2006) verfassten ein psychosoziales ausführliches Dia© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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gnostikmanual für die Hilfe- und Therapieplanung, bestehend aus 16 Ratingskalen für neun Lebensbereiche, die nach den Aspekten Problembelastung, Ressourcen und Veränderungsziele beurteilt werden. Schiepek und Cremers (2003) stellen ein Verfahren zur Erhebung der Ressourcen mit einer Tabelle vor, in dem die Einschätzung der Ressourcen sehr individuell erfolgt. Einzelne Ressourcen können in der Stärke ihres Vorhandenseins von 1–10 eingeschätzt werden. Mit Hilfe von Buchstaben wird vermerkt, wie groß das Potential ist und in welchem Ausmaß es in Zukunft vorhanden sein soll. Ergänzend kann ein Ranking erstellt werden, welche Ressource die größte Bedeutung hat. Mit Hilfe einer Family Map/Ecomap trägt Pauls (2004) in ein Vier-Felder-Schema Stressoren, Belastungen, Defizite und auf der anderen Seite Stärken und Ressourcen, bezogen einerseits auf die Person und andererseits auf die Umgebung, ein. Dieses Schema kann mit allen Klienten gemeinsam ausgefüllt werden und bietet auch für die Supervision einen schnellen und praktikablen Überblick. Schiepek und Cremers (2003) entwickelten für die stationäre psychotherapeutische Praxis ein mehrdimensionales Assessmentverfahren. Dieses Ressourceninterview soll dem Klienten als praktische Reflexionshilfe für seine Ressourcensituation dienen. Ferner dient es der Einschätzung von quantitativen und qualitativen Ressourcenveränderungen im Rahmen der Behandlungsevaluation und in pädagogischen Settings (siehe Schiepek u. Cremers, 2003). Schiepek und Cremers wählen einen offenen Interviewzugang, um Kenntnisse über die vom Einzelnen konkret wahrgenommenen und erlebten Ressourcen zu erhalten. Zu Beginn berichtet der Klient über für ihn relevante personale und soziale Ressourcen, um dann eine differenzierte Einschätzung vorzunehmen. Herringer (2006) stellt eine von ihm modifizierte Form vor. Er erklärt den Klienten zunächst die Bedeutung der Ressourcen und fordert sie dann auf, sich Zeit zu nehmen, auf das Leben und die Lebensbelastungen in den letzten Monaten zurückzublicken, und wahrzunehmen, welche nutzbare Ressource vorhanden war. Im Anschluss an diese Einstimmung werden die benannten Ressourcen von dem Berater zusammengestellt und mit dem Klienten ein Rating auf einer Skala von 0–10 für jede einzelne Ressource erstellt. Eingeschätzt werden
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– »Grad der Ausprägung und der Verfügbarkeit der Ressource aktuell (›aktuelle Verfügbarkeit‹ V); – Ausmaß, in dem die Ressource vorhanden sein könnte, wenn sie nicht vernachlässigt (z. B. durch mangelnde Pflege), blockiert (z. B. durch innere Konflikte) oder verschüttet (z. B. durch aktuelle Probleme oder andere Präferenzen) wäre (›Potentialität‹ P); – Ausmaß, in dem die Ressource im Rahmen eines ressourcenorientierten Förderprogramms in einem definierten Zeitraum entwickelt werden soll (›Ziel‹ Z); – Relevanz der genannten Ressourcen im Bewertungshorizont des Klienten (›Relevanz‹ – R)« (Herringer, 2006, S. 5 f.). Im Einzelfall muss in der Anwendung überlegt werden, inwieweit der Klient über ein genügend differenziertes Wahrnehmungs-, Reflexions- und Verbalisierungsvermögen im Hinblick auf sein inneres Erleben und die sozialen Beziehungsmuster verfügt, um dann gegebenenfalls geeignete Modifizierungen vorzunehmen. Damit die Arbeit mit den Ressourcen kein modisches Etikett wird, das einen »Touch von Fortschrittlichkeit, Methodenaktualität und Innovation« verleiht, wie Herringer (2006, S. 1) formuliert, ist dieser ergänzende Blickwinkel kontinuierlich einzubringen. Die Forschung steht vor der Aufgabe, weitere Operationalisierungen der Kategorien zu entwickeln. Sie hat hierbei insbesondere auf die Trennung der durch Selbst- und Fremdbeurteilung analysierten Ressourcen zu achten und zu überlegen, wie diese Beurteilungen miteinander verbunden werden können. Anders als dies Petermann und Schmidt (2009, S. 55) postulieren, kann mit dem Konzept der Ressourcenaktivierung jedoch nicht erst gearbeitet werden, wenn ein empirisch abgesicherter Ressourcenkatalog vorliegt. Denn das, was jeweils als Ressource erlebt wird und hilfreich ist, ist eine sehr subjektive Einschätzung.
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3 Die Kriterien der familiären Funktionstüchtigkeit
3.1 Familiale Beziehungsstrukturen Mit dem Instrumentarium der Genografischen Mehrebenenanalyse lassen sich Kriterien (Beushausen, 2003) benennen, mit denen die familiale Funktionstüchtigkeit beschreibbar wird. Als funktional wird ein Zustand betrachtet, der zur Verwirklichung der Ziele eines Systems beiträgt, als dysfunktional ein Zustand, der die Entwicklung eines Systems behindert. Den Kontext für die Betrachtung der familiären Funktionstüchtigkeit bilden die Veränderungen der familiären Strukturen, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten sind. Hierbei ist zu beachten, dass die Lebensläufe von Frauen und Männern aufeinander bezogen und eingebettet sind in den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese Veränderungsprozesse führten zu einer rückläufigen Kinderzahl, einer gesunkenen Heiratsneigung, steigenden Scheidungsraten und einem hohen Anteil ehemals unkonventioneller Familienformen (Alleinerziehende, Stieffamilien, Pendlerfamilien, nichteheliche Lebensgemeinschaften). Bedeutsam ist, dass das deutsche »Lebenslaufregime« (Siebter Familienbericht, 2006) stark um den Arbeitsmarkt herum angelegt ist, wobei die vorhandenen Regeln den Familienernährer, in der Regel den Mann, in Bezug auf den Bildungs- Erwerbs- und Rentenbezug gut in die Lebensphasen einpassen. Die Situation stellt sich für die Frauen, die häufig neben der Kinderversorgung lediglich Zuverdiener sind, anders dar. Das geringere Einkommen führt oft zu geringen Rentenansprüchen. Ein besonderes Problem zeigt sich in der Irreversibilität (Siebter Familienbericht, 2006, S. 27) einer getroffenen Entscheidung. Heute ist die Existenzsicherung am ehesten durch zwei Personen zu erreichen, die sich koordinieren. Erler (2003) sieht familiale Lebensformen in diesem Prozess unter dem Zwang, Beziehungen zu korrigieren und Regeln neu zu definieren, wobei die Revolutionen der Familienbilder und -formen die Konsequenzen des Wandels darstellen. Insbesondere die finanzielle Situation der Familie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Familiale Beziehungsstrukturen
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hat prägenden Einfluss. Eine stetig steigende Zahl von Familienhaushalten muss ihren Alltag in prekären Einkommenslagen gestalten, dies trifft insbesondere alleinerziehende Mütter und ihre Kinder. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in der überproportionalen Betroffenheit von Erwerbslosigkeit (siehe den Siebten Familienbericht, 2006). In der Praxis bedeutet das oftmals einen weitgehenden Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit. Die Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz beeinflusst im erheblichen Maß die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Das Ausmaß der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ist geprägt durch die alltägliche Praxis der Lebensweise, die emotionalen Bindungen, das Vertrauen und die soziale Stabilität innerhalb der Familie, aber auch durch soziale Komponenten, wie zum Beispiel den Bildungshintergrund der Eltern und die ökonomische Situation (siehe Gesundheitsberichtserstattung des Bundes über die gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2010). Das Beziehungsgefüge zwischen den Elementen einer Familie lässt sich als Struktur verstehen, wenn ein Systemprozess regelhaft, organisiert und zielgerichtet abläuft (vgl. Simon, 2000). In diesem Kontext werden die interpersonellen Beziehungen, die Normen, Werte, Hierarchien, Machtverhältnisse, Bedürfnisbefriedigungen und Sicherheitsanforderungen der Familienmitglieder geregelt (siehe Cierpka, 1990). Die binnenfamilialen Beziehungsstrukturen von Familien, die im Weiteren erläutert werden, lassen sich in Generations- und Geschlechterbeziehungen differenzieren.
3.1.1 Die Eltern-Kind-Beziehungen Die Eltern-Kind-Beziehung beginnt bereits vor der Geburt; letztlich schon vor der Zeugung, wenn die auf das ungeborene Kind wirkenden mehrgenerationalen Vorstellungen, Wünsche, Delegationen und Vermächtnisse berücksichtigt werden. Das psychische Befinden der Eltern nimmt ebenso Einfluss auf die Schwangerschaft der Mutter wie die Stabilität der Paarbeziehung. Untersuchungen zeigen (siehe Kaiser, 1989), dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft unter besonderem Stress leiden, körperlich und psychisch weniger © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die Kriterien der familiären Funktionstüchtigkeit
gesund sind als Kinder von Müttern einer Vergleichsgruppe. Ob ein Kind erwünscht ist oder nicht, nimmt ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung. Unehelich geborene Kinder entwickeln eher psychische Störungen als ehelich geborene (Mattejat, 1988; Kaiser, 1989). Sie sind, so Kaiser, als Patienten in Kliniken überrepräsentiert. Der Charakter der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Aus einem Erziehungsverhältnis ist, so konstatiert bereits 1998 der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, ein Beziehungsverhältnis geworden, das partnerschaftliche Züge aufweise. Strittige Probleme würden zunehmend ausgehandelt. Den Eltern gelinge (meist) die »einfache Fürsorge« für die Kinder; jedoch stelle der kulturelle Wandel und die »neue Unübersichtlichkeit« die Eltern immer wieder vor neue Anforderungen. Die Eltern änderten vielfach ihr Denken und ihr Verhalten, da die prospektiven Erziehungsmöglichkeiten durch die eigenen, verinnerlichten Sozialisationsmuster behindert würden. Die Eltern stünden vor der Aufgabe, mit Mitteln und Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft hineinzuerziehen. Untersuchungen (Kaiser, 1989) zeigen ein erhöhtes Risiko psychischer Störungen bei einem Verlust eines Elternteiles und Zusammenhänge zwischen einem schlechten Gesundheitszustand der Eltern und der (psychiatrischen) Symptombelastung der Kinder. In fast jeder vierten Familie lebt heute ein chronisch krankes Kind. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht (1998) fasst Untersuchungen zusammen, nach denen bei einem Viertel der befragten Kinder (10- bis 13-jährige Jungen und Mädchen) ernste Konflikt- und Kommunikationsstörungen vorliegen. Diese Symptome sind eher beim Auftreten von Ehekonflikten der Eltern und einem uneinheitlichen Erziehungsstil zu beobachten. Haben die Eltern ein geringes Selbstwertgefühl und ist ihre Beziehung zu den Familienmitgliedern dysfunktional, ist die Gefahr größer, dass das Kind von den Eltern benutzt wird, um deren Selbstwertgefühl zu steigern. Väter oder Mütter mit einem niedrigen Selbstwertgefühl rivalisieren leichter mit dem Kind um den Partner. In diesen Fällen kommen die elterlichen Funktionen zu kurz und das Selbstwertgefühl und das Lebensgefühl der Familienmitglieder werden negativ beeinflusst. Solche Eltern erziehen oftmals überbehütend. Kinder von ängstlich gehemmten Eltern sind ebenfalls eher ängstlich und unsicher (Kaiser, 1989). Die Paar-Dyade der Eltern ist © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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in gestörten Familien oft durch enge Bindungen eines Elternteils an andere Familienmitglieder, besonders an die Großeltern, geschwächt (von Schlippe u. Schweitzer, 1997). Es wird angenommen, dass das Kleinkind eine warme, innige und dauerhafte Beziehung zu seiner Mutter oder einer beständigen Ersatzperson benötigt, um adäquate Beziehungen aufbauen und sich positiv entwickeln zu können. Die Qualität der Beziehung beider Elternteile zum Kind und frühe familiäre Muster prägen die Kinder und tragen zur Ausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen bei. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht (1998) empfiehlt eine Erziehung, die Eltern am sozialen Leben und an den Schulerfahrungen des Kindes teilnehmen lässt und den Umgang mit Regeln so gestaltet, dass sie einerseits mit dem Kind besprochen werden, und andererseits darauf achten, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Diese Erziehungshaltung trägt zu einem kompetenten, autonomen und verantwortlichen Handeln der Heranwachsenden bei. Kinder solcher als »autoritativ« bezeichneten Eltern sind im Durchschnitt selbstbewusster, haben bessere Schulnoten, neigen weniger zu Niedergeschlagenheit und Depressionen und zeigen weniger abweichendes Verhalten. Resignierend stellen die Autoren des Kinder- und Jugendberichts (1998) fest, dass nur eine Minderheit der Familien diesen Erziehungsstil anwendet. Die psychische Krankheit eines Familienmitgliedes ist kein Einzelschicksal, sondern es betrifft als »Familienkrankheit« immer das ganze System Familie. Ist ein Elternteil erkrankt, beinhaltet dies in der Regel eine Überforderung, die Bedürfnisse des Kindes müssen oft zurückstehen, oftmals kommt es zu einem Defizit an Aufmerksamkeit und Zuwendung, unter Umständen mit einem Ausfall der wichtigsten Grundbedürfnisse. Je jünger ein Kind ist, desto direkter wirkt sich dies auf das Wohlergehen des Kindes aus. Wenn beide Elternteile psychisch erkrankt sind, sind die Auswirkungen auf die Lebenswelt der Kinder besonders groß (siehe Lenz, 2005). Das Kind hat geringe Chancen, eine gesunde Entwicklung zum erwachsenen Mensch zu durchleben. Solchen parentifizierten Kindern mit einer starken Bindung fällt es oftmals äußerst schwer, sich vom Elternhaus zu lösen (siehe Schone u. Wagenblass, 2006).
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3.1.2 Die Geschwisterpositionen und die Geschwisterbeziehungen Familien unterscheiden sich hinsichtlich der Geschwisterpositionen in der Kinderzahl, durch größere oder kleinere Altersabstände und durch das Geschlecht der Kinder. Da auch die Eltern aus größeren oder kleineren Familien mit entsprechenden Geschwisterpositionen stammen, ergeben sich vielfältigste Geschwisterkonstellationen. Obwohl mit dem Rückgang der Geburtenzahlen ein Anstieg der Ein-Kind-Familien und ein Rückgang der Mehr-Kinder-Familien verbunden ist, wachsen die meisten Kinder mit Geschwistern auf. Nave-Herz (1994, S. 21) stellt Daten aus dem Mikrozensus von 1991 vor, nach denen 44,9 % mit einem Geschwister leben, 16,95 % mit zwei Geschwistern, 7,2 % mit drei Geschwistern und 31,3 % sind Einzelkinder. Die Stellung in dem Geschwistersystem gehört für ein Kind zu den wichtigsten Beziehungen. Geschwister werden füreinander sehr früh zu wichtigen Erfahrungspartnern im Erleben einer »gemeinsamen affektiven Intentionalität« (Sohni, 1998). Eine altersgemischte Geschwistergemeinschaft bietet die Möglichkeit, frühzeitig Integrationsprobleme lösen zu lernen. Familienergänzende Betreuungseinrichtungen können diese »Zwangsgemeinschaften« (Nave-Herz, 1994, S. 68) nicht ohne Weiteres ersetzen. Für Sohni ist die Annahme eines zweiten Triangulierungsprozesses, mit einem Geschwisterkind (tetradisches System), gleich bedeutsam oder sogar bedeutsamer als der erste ödipale Triangulierungsprozess. Die Umstellung eines triadischen Systems auf ein tetradisches System bedeutet aufgrund der größeren Komplexität des Systems eine strukturelle Zäsur. Die Einflüsse der Geschwisterpositionen sind vielfältig. Diese sind abhängig von der Anzahl der Geschwister, der jeweiligen Position in der Geschwisterreihe, dem zeitlichen Abstand und insbesondere dem Geschlecht. Geringe Altersabstände binden Geschwister eher stärker aneinander. Größere Altersabstände von circa sechs Jahren und mehr lassen die Geschwister ähnlich wie Einzelkinder aufwachsen. Die Geschwisterpositionen können sich aber auch durch besondere körperliche oder geistige Fähigkeiten der Kinder verändern. Ein Kind kann unabhängig von seiner tatsächlichen Position die Stellung eines älteren Geschwisterkindes erlangen oder aufgrund © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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von Schwächen »degradiert« werden oder ein mittleres Kind kann sich beispielsweise zu den älteren oder jüngeren Geschwistern hin orientieren. Kinderreiche Familien sind sozial eher benachteiligt. In größeren Familien müssen die ältesten Kinder oftmals eine besondere Verantwortung übernehmen, so dass deren Stressbelastung zunimmt. In der Folge führt dies häufig zu Störungen der Geschwisterbeziehungen und zu Parentifizierungen, bei denen die Übernahme bzw. Zuweisung elterlicher Rollen bzw. von Rollensegmenten an ein oder mehrere Kinder erfolgt. So sind Störungen der Geschwisterbeziehungen oftmals »elterninduziert«. Auch können Geschwisterkonflikte der Eltern über die Geschwisterkonstellation der Kinder aktualisiert werden (siehe Reich, 1995; Sohni, 1998) und so das familiäre Leben belasten. Das unauffällige, »gesunde« Kind ist in einer Geschwisterreihe häufig ein »Schattenkind« (Kaiser, 1989). Durch seine Unauffälligkeit stabilisiert es möglicherweise die Familie. Auch wenn diese Faktoren, insbesondere die des Geschlechts, der Kinderzahl und der Altersabstände, einen bedeutsamen Einfluss auf die Familienbeziehungen und die Entwicklung der Kinder nehmen, werden jedoch die Erfahrungen in einer gleichen Geschwisterposition sehr unterschiedlich beschrieben. Aufgrund dieser vielen einflussnehmenden Faktoren muss zusätzlich jeweils eine individuelle Analyse der Geschwisterpositionen erfolgen. Die Durchsicht der Literatur zeigt insgesamt, dass die Bedeutung der Geschwisterkinder für die Familienstruktur in der Familienforschung noch immer wenig reflektiert wird.
3.1.3 Das Verhältnis zwischen Enkelkindern und Großeltern Die Großeltern bilden den Ausgangspunkt der intergenerationalen Beziehungen. Oft sind sie neben den Eltern für die Kinder die wichtigsten direkten Bezugspersonen. Viele spielen mit ihren Enkeln, unternehmen etwas mit ihnen und erzählen, wie es früher war. Durch die Geburt der Enkel wird im Allgemeinen der Kontakt der erwachsenen Kinder zu ihren Eltern wieder intensiviert. Insbesondere die Großmütter unterstützen ihre Kinder in vielfältiger Weise – beson© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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ders bei der Kinderbetreuung und in Krisen. Die Großeltern gleichen viele Mängel der gesellschaftlichen Unterstützung aus; sie bilden oft den Kern des Unterstützungsnetzes für die junge Familie. Großeltern sind daher von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Sie fungieren als Träger der Familientradition und stellen vielfach für die Enkel im Prozess des gesellschaftlichen Wandels äußerer Geschehnisse mit den dazu gehörenden Unsicherheiten, politischen Veränderungen und Katastrophen ein beruhigendes, stabilisierendes und konstantes Element dar. Bei den Großeltern trifft sich oft die gesamte Familie. Diese führen die Spitze einer mehrgenerationalen familiären Hierarchie an. Nicht selten fungieren sie als »natürliche« Autorität in diesem System, die der Rolle der Großeltern sozial zugeschrieben wird. Diese besondere Rollendefinition der Großeltern hat insofern eine besondere Bedeutung für die Familie, als dass durch die gestiegene Lebenserwartung Enkel heute ihre Großeltern länger erleben, als das früher der Fall war. So hatten 1991 nur 19 % der 10- bis 14-Jährigen keine Großeltern mehr, 22 % hatten noch alle vier Großeltern (Zehnter Kinder- und Jugendbericht, 1998). Nach einer Untersuchung von Massing et al. (1992) beurteilen die Kinder ihr Verhältnis zu den Großeltern durchweg als positiv. Das Verhältnis zwischen den Großeltern und den Enkelkindern wird als unbeschwert, spannungsarm und stressarm beschrieben, da die Großeltern frei von disziplinarischer Verantwortung sind. Die Großmütter haben eher zu ihren Enkeltöchtern, Großväter zu ihren Enkelsöhnen eine gute Beziehung. Bereits 1989 bezeichnete Kaiser den Forschungsstand über die Großeltern-Kind-Beziehungen als unbefriedigend. An diesem Erkenntnisstand hat sich noch nicht viel geändert.
3.1.4 Familiale Paarbeziehungen Bis etwa Mitte der siebziger Jahre prägten vorwiegend systemexterne Bedingungen (ökonomische, rechtliche, Nichtakzeptanz vorehelicher Beziehungen) neben emotionalen Motivationen eine Eheschließung (Nave-Herz, 1994). Seitdem hat eine Heirat aus zwingender Notwendigkeit der Erfüllung elementarer Bedürfnisse oder als materielle © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Versorgungsinstitution an Bedeutung verloren. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ, 2010) hebt hervor, dass die Ehe als Rechtsform stabil bleibt, der Verlauf für die Ehepartner in der Regel aber völlig unterschiedliche Konsequenzen hat. Zu Beginn der Partnerschaft besteht der Wunsch, sich eng und dauerhaft zu binden. Den Ehepartnern ist bewusst, dass die biografischen Ereignisse (Geburten, Arbeitsplatzwechsel, Pflege von Angehörigen etc.) nicht nur individuell bedeutsame Ereignisse sind, sondern auch die Partnerschaft betreffen. Bei der Geburt des ersten Kindes reduziert meist die Frau die Berufstätigkeit ganz oder teilweise. Der Partner ist dann in der Rolle des Haupternährers. Diese Entscheidung führt zu einer praktischen und rationalen Aufgabenteilung der Partner. Dies hat zur Folge, dass die Ehepartner bei neuen Situationen oder Entscheidungen nicht wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren (BMFSFJ, 2010) und sich damit die Lebensverläufe, Lebensverlaufschancen, persönlichen Perspektiven und Sicherheiten der Frau und des Mannes verändern. Die Neudefinition der Ehe sei, so Erler (2003), durch die Idee der Gleichheit zwischen den Geschlechtern eine der größten und zugleich problematischsten Herausforderungen unserer Zeit. Die Entstehung von Partnerschaften folgt festen Regelsystemen. Diese werden beeinflusst durch die Familiengeschichte, persönliche Merkmale der Partner und durch ungelöste Konflikte der Familienmitglieder, die in die Paarbeziehung eingebracht werden. Bereits Freud ging davon aus, dass bei der Suche nach einem Partner eigene unbewältigte Konflikte aktiviert werden. Er beschrieb zwei grundlegende Modalitäten der Partnerwahl – die narzisstische Objektwahl und die Objektwahl nach dem Anlehnungstypus. Diese Typbildungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Ich liebe dich, weil du so bist, wie ich selbst sein möchte. 2. Ich liebe dich, weil du so bist wie ein früheres geliebtes Objekt. Kaiser (1989) referiert Untersuchungen, nach denen die Partnerwahl insbesondere durch räumliche Nähe (z. B. denselben Stadtteil), dieselbe Schicht, die gleiche Konfession, ähnliche Werteinstellungen, Rollen und Erwartungen beeinflusst wird. Noch immer wird die Ehe oftmals aufgrund einer unerwünschten Schwangerschaft eingegangen. Reich (1995) geht davon aus, dass die Partner in ihrer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beziehung die Bewältigung bisher ungelöster früherer Beziehungen anstreben. Diesen Prozess bezeichnet er als einen »widersprüchlichen Individuationsversuch beider Partner« (Reich, 1995, S. 6). Zudem bestehe die Tendenz, den Partner bzw. die Partnerin anderen früheren Bezugspersonen »ähnlich« zu machen. Eine Heirat sei für Paare heute keine »Notwendigkeit« mehr, die gesellschaftlich erwartet werde, und auch kein Automatismus. Sie ist eine bewusste Entscheidung. Die Eheschließung verschiebe sich durch die höhere Bildung und die damit verbundene Orientierung der Frauen auf eine Berufstätigkeit auf ein höheres Alter (Erler, 2003). Das wichtigste Motiv sei, einer bestehenden Partnerschaft einen festen sozialen und rechtlichen Rahmen zu geben (BMFSFJ, 2010). Die Einschätzung der Ehen erfolgt in der Literatur unterschiedlich. Wahl et al. (1989) registrieren in ihren Untersuchungen eine eher positive Einschätzung von partnerschaftlichen Beziehungen. Gegenseitiges Verständnis und Einfühlungsvermögen scheinen demnach vorzuherrschen. Die Partner seien der Meinung, dass sie ernst genommen würden, sie fühlten sich in der Beziehung kaum eingeengt und könnten Wünsche an den Partner frei äußern. Die Sexualität werde als wichtiger Bestandteil der Partnerschaft angesehen. Als gut werde überwiegend auch das Verhältnis zu den Schwiegereltern beschrieben, jedoch äußerten Frauen etwas häufiger den Eindruck, ihr Partner würde ihre Meinung nicht so ernst nehmen. Männer verträten eher die Ansicht, ihre Frau würde noch zu sehr von ihren Eltern beeinflusst (Wahl et al., 1989). Textor (1998) hingegen referiert Untersuchungen, nach denen Männer generell mit der Ehe zufriedener seien als Frauen. Sie reichten auch seltener die Scheidung ein. Die Ehepartner sind nach diesen Erkenntnissen eher zufrieden, wenn die »Kosten-Nutzung-Relation« stimmt und der Eindruck eines gerechten Austausches vorherrscht (ähnlich Reich, 1995). In zufriedenen Partnerschaften seien die Rollenmuster flexibler, progressive und regressive Muster wechseln sich ab. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen verweisen demnach auf eine eher positive Einschätzung der Ehe. Dem widerspricht die zunehmende Scheidungshäufigkeit seit Mitte der sechziger Jahre, die sich seitdem vervierfachte (Erler, 2003). Es ist davon auszugehen, dass zurzeit etwa jede dritte Ehe geschieden wird (BMFSFJ, 1999). Im Jahr 1996 geschiedene Ehen bestanden im Durchschnitt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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zwölf Jahre, wobei 14 % der Kinder von Ehepaaren vor Erreichen der Volljährigkeit von der Scheidung der Eltern betroffen sind, so berichtet das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1999). Den Anstieg der Ehescheidungen erklärt der Fünfte Familienbericht (1995) mit der hohen psychischen Bedeutung von funktionalen Beziehungen. Unharmonische eheliche Beziehungen könnten heute weniger als früher »ertragen« werden. Zusätzlich wirkten unter anderem finanzielle Schwierigkeiten, Suchtprobleme, physische und psychische Arbeitsbelastungen, Arbeitslosigkeit als Stressoren begünstigend auf den Prozess der Eheauflösung. Wenn eine Ehe vorzeitig endet, sei dies in der Vorstellung der Bevölkerung und der Verheirateten eine klare, »endgültige« Begrenzung, die Begriffe »Trennung« und »Auflösung der Ehe« werden wörtlich genommen (BMFSFJ, 2010). Die »Geschiedenen« wollen sich meistens nicht mehr mit dem Partner befassen, sie wollen ihren neuen Lebensabschnitt unabhängig und unbelastet von Ereignissen des Vorangegangenen gestalten. Das Verständnis, dass die getroffenen Entscheidungen und Lebensläufe lebenslang auch rechtsverbindliche Folgen in Bezug auf die Altersvorsorge haben, so die Studie des BMFSFJ (2010), sei kaum ausgeprägt. Ehekrisen treten auch dann auf, wenn sich die bisherigen Normen und Regeln für die Beziehung der Partner ändern und diese Normen und Regeln zugleich an eigene Lebenskrisen erinnern und somit die »Rückkehr des Verdrängten« ermöglichen (Reich, 1995). Überlegenswert ist jedoch, ob Verdrängung von Konflikten nur nachteilig ist, da viele Konflikte in den Partnerschaften aufgrund der äußeren strukturellen Gegebenheiten ohnehin nicht lösbar sind und viele ständig streitende Paare ihre Situation nicht negativ bewerten. Hieraus kann nicht auf einen generellen Bedeutungsverlust der Ehe geschlossen werden. »Gekündigt« wird nur dem Ehepartner, mit dem das Zusammenleben nicht länger erträglich ist. Die Ursache von Partnerschaftsproblemen sehen Reich (1987, 1995) und Cierpka, Frevert und Joraschky (2003) in gravierenden Konflikten zwischen den Eltern in den Herkunftsfamilien und in einer mangelnden Ablösung der Partner von ihren Herkunftsfamilien. Die in den Herkunftsfamilien ungelösten Konflikte wiederholen sich mit den Partnern, den Schwiegereltern oder den Kindern. Diese Erkenntnisse weisen auf die Bedeutung einer Mehrgenerationenper© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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spektive hin. Der Loyalitätstransfer von der Ursprungsfamilie auf die Paarfamilie und damit die Herausbildung einer neuen, abgegrenzten Familie ist hier nicht gelungen. Die Funktionalität der Partnerbeziehungen können ebenso durch die jeweiligen Geschwisterpositionen beeinträchtigt werden wie durch die jeweilige Phase im Familienzyklus. Beispielsweise können Kinder die Frau zunächst von ihrem Mann »abhängig« machen, so dass sie nicht berufstätig sein kann, später verhindert möglicherweise das Versorgen der Eltern eine Berufstätigkeit. Bei diesen Prozessen verläuft der Familienzyklus schichtspezifisch unterschiedlich. Die Beurteilung der Paardynamik erweist sich in der Praxis aus mehreren Gründen als äußerst schwierig. Bereits die Eheleute beurteilen die Qualität ihrer Beziehung sehr unterschiedlich; andere Familienmitglieder, die in die Systemprozesse der Familie eingebunden sind, bewerten die Beziehung wieder aus einer anderen Sicht. Da nicht zuletzt die Bewertung einer Ehe durch Beobachter durch die eigenen und die gesellschaftlich vermittelten Rollenbilder geprägt ist, lässt sich die Funktionalität von Paarbeziehungen nur sehr eingeschränkt beurteilen.
3.2 Die Funktionalität familialer Strukturen Einer strukturell orientierten Analyse der Familie stellt sich die Aufgabe, funktionale und dysfunktionale Strukturen, ihre Grenzen, Rollen, Hierarchien, Koalitionsbildungen und vieles mehr zu erfassen. Zu beachten ist, dass eine an dysfunktionalen Strukturen orientierte Analyse sich auf normative Vorstellungen über das Funktionieren einer gesunden Familie gründet. Auf dem Hintergrund einer sozialkonstruktivistischen Perspektive werden im Folgenden Kriterien für die Bewertung familiärer Funktionstüchtigkeit vorgestellt, die Kriterien bilden, mit denen die Genogramme und Netzwerkkarten analysiert werden können. Die soziale Steuerung von familiären Systemen erfolgt mit Hilfe von familialen Lebensphilosophien, Normen und Werten. Familiale Philosophien gründen sich auf ein Menschenbild, welches Annahmen über das Wesen des Menschen und wie dieser idealerweise sein sollte, aufstellt. Sie gründen auf normativen Setzungen, die Bestand© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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teile von Glaubenslehren sind, die aber häufig als solche nicht zu begründen sind und stellen sinnstiftende Elemente für die Familie und ihre Mitglieder dar. Mit dem Begriff der »Philosophie« ist hier nicht ein bestimmtes historisches System gemeint, sondern die Gesamtheit der Anschauungen, Einstellungen und Werthaltungen, die in der Familie relevant sind und die deren Alltagsphilosophie ausmachen. Die Steuerung von familiären Systemen erfolgt mit Hilfe einer Werteordnung, die sich nach praktischen Erfordernissen und den internalisierten Normen und Werten im Kontext der gesellschaftlichen Erfordernisse richtet. Soziale Werte sind Ausdruck der in einer Gesellschaft vorherrschenden Glaubensvorstellungen, Weltanschauungen und ihres Menschenbildes. Sie liefern Orientierungen für eine Vorstellung des Wünschbaren. Werte legen Menschen nicht eindeutig auf bestimmte Handlungsweisen fest, sie stecken jedoch Handlungsspielräume ab und erleichtern die Orientierung in sozialen Beziehungszusammenhängen. Werte sind wichtige Sinngeber für soziales Handeln. Gesellschaftliche Grundwerte werden häufig in symbolischen Formen zum Ausdruck gebracht. In Familien drücken sie sich beispielsweise in der Art des Umganges mit Konflikten oder mit »Gerechtigkeit« aus. Der Sinn der Werte muss in den Familien im Lebenszyklus immer wieder neu gedeutet und ausgehandelt werden. Was im Einzelnen erlaubt, was verboten ist, was als gut, schlecht, erstrebenswert oder abschaffungswürdig gilt, wird in Normen konkretisiert. Normen sind die Auslegungsvorschriften für die Werte. Normen lassen sich differenzieren in Muss- (ausnahmslose Geltung), Soll- (überwiegende Geltung) und Kann-Normen (mögliche Geltung). Handelnde Personen kennen und beachten die sozialen Normen und erwarten, dass die Interaktionspartner sie auch beachten. Unabhängig von der konkreten Beziehung zwischen einzelnen Personen schaffen sie eine regelnde Ordnung, nach der sich der Einzelne mehr oder weniger richten muss. Sie haben strukturgebende Wirkungen, verbinden sich zu Regelsystemen und werden zu sozialen Rollen. In gesellschaftlichen Situationen verbinden sie sich zu typischen Verhaltensmustern, in denen bestimmte Verhaltensweisen als »passend« bzw. »sinnvoll« beschrieben werden. Mit Hilfe der Normen wird Verhalten bewertet und im Falle einer Verhaltensabweichung mit Sanktionen reagiert. In ihren Auswirkungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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strukturieren sie das gesellschaftliche Zusammenleben, wobei sie sich im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels verändern und neu angepasst werden müssen. Die familiären Philosophien, Werte und Normen sind in einem zirkulären Prozess nicht nur geprägt durch die gesellschaftlichen Werteordnungen und Normen (Rechtsauffassungen u. a.), sondern auch durch die materiellen Lebensbedingungen. Diese üben prägnante Einflüsse aus, die auf der Meso-, Makro- und Exoebene vielfältige Bedingungen setzen und die Lebensphilosophien, Werte und Normen definieren. Einige Aspekte familialer Philosophien, Normen und Werte, mit denen die Funktionstüchtigkeit von Familien beurteilt werden kann, sollen kurz benannt werden: – Um funktional zu handeln, benötigen Familien ausreichende Anpassungsfähigkeit (Adaptabilität) an den Lebens- und Entwicklungsprozess ihrer Mitglieder. – Das Vorleben der Geschlechterrolle durch die erwachsenen Familienangehörigen prägt durch Anpassung und Gegenanpassung die Geschlechtsidentität. – Je knapper zum Beispiel die finanziellen Ressourcen von Familien sind, desto größer müssen die Anstrengungen sein, um sich materiell abzusichern, und umso mehr Wert wird dieser Absicherung beigemessen. – In vielen Familien ist der Wert »Gerechtigkeit« (vgl. Boszormenyi-Nagy u. Spark, 1981; Simon, 1995a) ein »Leitwert«, insbesondere bei der Verteilung von Liebe, Zuwendung, Geld, Besitz und Rechten. – Familiäre Werte drücken sich (auch) in der gegenseitigen Aboder Aufwertung der Familienmitglieder aus. Diese äußert sich sprachlich und mittels Gestik und Mimik. Bei der Abwertung handelt es sich um den Versuch, die anderen nicht als gleichwertig zu betrachten. Die Aufwertung kennzeichnet die Erhöhung anderer Menschen. Diese werden zum Maßstab des eigenen Handelns. – Familiäre Philosophien und Werte drücken sich darin aus, wie religiöse Auffassungen gelebt werden, welche Bedeutung Politik und die politische Vergangenheit der Eltern und Großeltern hat und welchen kulturellen Interessen und Hobbys die Familienmitglieder nachgehen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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– Der Umgang mit »Treue« zwischen den Ehepartnern, das Ausmaß des familiären Zusammenhaltes, der Selbstaufopferung und der Überfürsorge einzelner Familienmitglieder drückt ebenfalls die Familienwerte aus. – Im Umgang mit Leistung manifestieren sich für das Familienleben bedeutsame weitere Werte und Normen. – Die familiären Normen und Werte drücken sich nicht zuletzt im Umgang mit Konflikten aus. In den Familien können verschiedene Bewältigungsformen und Abwehrmechanismen im Umgang mit Konflikten beobachtet werden. Die häufigste problematische Form ist die »Konfliktvermeidung«. Verschiedene Wertauffassungen der Familienmitglieder und ihre normative Umsetzung sind häufig Anlass für Meinungsverschiedenheiten und Streit. Allgemein sind Regeln Metaphern, um die in einem System beobachtbaren Redundanzen zu beschreiben. Regeln sind Beschreibungen eines Beobachters, der Rückschlüsse zieht, wie sich die Mitglieder eines Systems darauf geeinigt haben, die »Wirklichkeit« zu definieren und wie sie das Verhalten anderer bewerten. Sie geben Auskünfte, wie ein erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten aussehen soll. Sie können für Situationen oder für Beziehungen gelten, explizit (offen), implizit (verdeckt, nicht bewusst), funktional oder dysfunktional sein. Die impliziten Regeln sind den Systemmitgliedern häufig nicht bewusst (von Schlippe u. Schweitzer, 1997). Wird eine implizite Regel bewusst gemacht, kann diese nicht mehr in der gleichen Weise wie früher befolgt werden, da sie zu einer expliziten Regel geworden ist. (Beispiel: In einer Familie erhalten alle Kinder seit Jahren das gleiche Taschengeld. Wenn diese Regel angesprochen wird und die Höhe des Taschengeldes neu besprochen wird, wird sie zu einer expliziten Regel.) Im Laufe des familialen Lebens verändern sich die Regeln und damit die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Familiäre Regeln tragen zur Identitätsfindung der Familienmitglieder und der Beziehungsdefinition bei. Sie dienen dazu, die Homöostase eines Familiensystems aufrechtzuerhalten. Sind die Regeln zu starr oder zu flexibel, sind sie dysfunktional, das dynamische Gleichgewicht kann nicht gewahrt werden und das Familiensystem reagiert nicht angemessen auf situative Anforderungen. Andere Regeln beziehen sich auf die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Art und das Ausmaß der Entwertungen (z. B. verbale Abwertungen eines Familienmitgliedes), der Kommunikationsabweichungen, der Familiengeheimnisse und der Familienmythen. Zudem wird bestimmt, wie die gegenseitigen Verpflichtungen im Hinblick auf die »Gerechtigkeit« und Unterstützung der Familienmitglieder geregelt sind. Zu den wichtigsten familialen Regeln gehören Koordinierungsregeln. Diese vermitteln die Spielregeln des als angemessen zu betrachtenden Fühlens, Denkens und Verhaltens und dienen zur Abstimmung der Mitglieder im Interesse gemeinsamer Zielerreichung. Verhaltensregeln gegenüber Dritten haben zum Beispiel die Aufgabe, Geheimnisse zu bewahren und/oder andere nicht zu verletzen. Die Familie vermittelt präskriptive Regeln der Interaktion und Kommunikation, mit denen bestimmte Ordnungen und Regelmäßigkeiten im menschlichen Verhalten hergestellt werden (beispielsweise der Spracherwerb). Neben den präskriptiven Regeln geben proskriptive Regeln Anweisungen darüber, was unterlassen werden muss. Die Durchsetzung von Regeln, Normen und Werten setzt soziale Kontrolle voraus. Mittels sozialer Kontrolle wird versucht, Personen zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft positiv bewertet werden. Dies geschieht durch Versuche, die innere Anerkennung der Normen zu fördern und zum Maßstab des eigenen Handelns werden zu lassen, oder durch äußere soziale Kontrolle, das heißt durch Druck in Form von Sanktionen. Regeln bestimmen somit, ob ein auffälliges oder problematisches Verhalten zu einer Ausgrenzung führt und welche gesellschaftliche Institution für die Sanktionen und die Beseitigung des Problems zuständig ist. Dabei ist es für eine Person und für die gesellschaftlichen Systeme äußerst bedeutsam, ob eine Verletzung einer Regel als »kriminell«, »krank« oder als »verrückt« bewertet wird. Für diese Unterscheidungen gibt es keine eindeutig abgrenzenden Merkmale, sondern sie sind Ausdruck gesellschaftlich produzierter Wirklichkeit. Der Begriff der Hierarchie bezieht sich einerseits auf die Organisation logischer Typen (Simon u. Stierlin, 1984). Systeme verschiedener logischer Typen stehen in der Art der Beziehung so zueinander, dass das System des höheren logischen Typus das des niederen als Element enthält; zum Beispiel enthält die Gesellschaft alle Familien und Individuen. Diese Aussage gründet sich auf ein Axiom des systemischen Denkens, nach dem sich die Charakteristika lebendiger © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Systeme auf jeder Systemebene wiederfinden. Andererseits beschreibt der Begriff »Hierarchie« in sozialen Systemen wie den Familien die Ordnung und Aufteilung von Macht und ihre Strukturen. Macht beruht auf der Möglichkeit von Gewaltanwendung und beinhaltet die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen (Weber, 1956). Chance meint bei Weber eine wertfreie Situation im Sinne einer »Möglichkeit«. In allgemeiner Form ist alles soziale Handeln in irgendeiner Form Machtausübung und jede Beziehung ist um den Ausgleich von Macht zentriert. Machtfragen stellen einen wesentlichen Aspekt familiärer Dynamik dar, wobei noch näher zu bestimmen ist, ob der aktuelle Einfluss einer Person auf andere oder schon die Möglichkeit und Fähigkeit dazu als Macht zu verstehen ist. In der frühen Literatur der Familientherapie werden bezüglich Hierarchie bzw. der Machtfrage in Familien sehr unterschiedliche Ansichten vertreten. Für eine Position stehen Minuchin et al. (1993), die eine eindeutige familiäre Machtaufteilung im Sinne einer hierarchischen Rangordnung der Eltern gegenüber den Kindern als Voraussetzung familiärer Funktionalität ansehen. Bateson (1990) hingegen beschreibt Macht nicht als ein ontologisches Phänomen. Er ist der Überzeugung, dass »kein Teil eines interaktiven Systems eine einseitige Kontrolle über den Rest oder irgend einen anderen Teil haben kann« (S. 408). Nicht unklare Machtverhältnisse, sondern der Glaube, innerhalb zirkulärer Interaktionen einseitig Macht ausüben zu können, hält er für die Quelle von »Pathologien«. Bateson stellt mit dieser Position das Vorhandensein einer realen Macht in Abrede. Macht ist für ihn eine pathologische Fiktion. In einer systemtheoretischen Position, die von der Zirkularität familiärer Interaktionen ausgeht, sind gradlinige Ursache-WirkungsKonzepte hinfällig. In einem solchem Konzept ist eine Machtposition (eher) ein Aspekt der Beziehung (als der eines Individuums). Als Systemeigenschaft ist Macht die potentielle oder aktuelle Fähigkeit eines Individuums, das Verhalten anderer Mitglieder eines sozialen Systems zu verändern. Luhmanns (1984) Konzept bietet die Möglichkeit einer Integration dieser gegensätzlichen Positionen. Er betrachtet Macht und Machtausübung im Spektrum der für eine Systemauffassung grundlegenden Kommunikationsprozesse. Für ihn verändert Macht lediglich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Verhaltensweisen im Kommunikationsdesign. Sie könne aber nicht das Verhalten der Beteiligten im Kommunikationsprozess festschreiben, sondern beschränke nur den Verhaltensspielraum. Handeln wirkt auf die eine oder andere Weise auf den Handelnden zurück, sie hat jedoch nicht für alle Beteiligten die gleiche Wirkung. Aus der Sicht des Subjekts sind Handlungen eines anderen durchaus Handlungen im Sinne einer gradlinigen kausalen Machtbeziehung. Simon (1995a) führt zur Differenzierung dieses Sachverhalts die Unterscheidung einer »harten und weichen Realität« (1995a, S. 192 f.) ein. So ist beispielsweise eine »härtere Realität« die Wirkung einer Interaktion eines Menschen mit einer heißen Herdplatte. Ähnlich ist es beim Einsatz von Gewalt eines Erwachsenen gegenüber einem kleinen Kind. Bei der »weichen Realität« ist hingegen die »intersubjektive, konsensuelle Validierung von Wirklichkeit« (S. 191) schwerer. Hier ist das Familienmitglied zum Beispiel bei einem Ehestreit bei den Interaktionen Subjekt und Objekt des Geschehens, »Täter« und »Opfer« zugleich. Für das Funktionieren einer Familie und für den Sozialisationsprozess sind Machtbeziehungen im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern an sich notwendig und nicht pathologisch. Durch Regeln sanktionierte und kontrollierte Macht ist für die Familien strukturgebend. In Familien werden als Mittel für die Durchsetzung von hierarchischer Macht physische oder psychische Gewalt, Bestrafung, Regeln, friedliche Mittel, Verbote und anderes genutzt. Sie benötigen verbindliche Absprachen über Zuständigkeiten, Rollen, Aufgaben und Zielstellungen, um funktional handeln zu können. Problematisch ist eine Machtstruktur, die erstarrt ist, und wenn die notwendige Anpassung an die Entwicklungs- und Lebensphasen der Familienmitglieder und der Familie nicht (mehr) gegeben ist oder wenn Macht willkürlich ausgeübt wird. Wird Macht von den Eltern nicht im ausreichenden Maße wahrgenommen, führt dies zu Rollenumkehrungen zwischen Eltern und Kindern. Die Verantwortung gegenüber den Kindern gebietet, den familieninternen und -externen Handlungsspielraum so zu begrenzen, dass die Eltern sich selbst als begrenzte, abhängige und die Konsequenzen des eigenen Handelns reflektierende Personen erfahren können. Innerhalb der Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche der Fami© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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lienmitglieder ist die familiäre Hierarchie unterschiedlich bestimmt. Diese Zuständigkeiten werden auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Bezugsrahmens und dessen objektiven Gegebenheiten im Systemkontext in Interaktionsprozessen geregelt. Die familiären Hierarchien spiegeln sich auch in der Bestimmung der Familienrollen und der familiären Aufgaben wider. Hausarbeit, die immer noch vorwiegend von den Frauen erledigt wird, kann als weniger »wert« als bezahlte Arbeit gelten. Diese reale Bedingung macht den Zugang zu sozial-materiellen Ressourcen für Frauen immer noch schwieriger als für Männer. Die eheliche und häusliche Rollen- und Aufgabenverteilung schafft für die Frauen äußerst belastende, aber häufig auch machtvolle Positionen innerhalb der Familien. In vielen Familien ist die Rolle der Frau so definiert, dass sie neben der Zuständigkeit für den Haushalt auch die der Kinderbetreuung und des Zuverdienstes innehat. Mit diesen Rollen, der im Verhältnis zum Ehemann ständigeren Präsenz zu Hause und der intensiveren Beziehung zu den Kindern, ist neben der Mehrfachbelastung auch ein Informationsvorsprung innerhalb dieses Zuständigkeitsbereiches gegeben. Rollen lassen sich als die Gesamtheit der Erwartungen und Normen definieren, die sich in einem System in Bezug auf die Position, Handlungen und Aufgaben herausbilden. Rollen sind Verhaltenserwartungen, die an eine Position in einem situativen oder sozialen Kontext gerichtet werden. Sie dienen der Verfestigung von Normen zu bestimmten Verhaltenskomplexen und beruhen auf Verhaltensregelmäßigkeiten, die auf gemeinsam geteilte Werte und Normen zurückgehen und einem starken Wandel unterliegen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Personen ihre Rollen trotz sich wandelnder Inhalte behalten. So bleibt beispielsweise ein Kind zeitlebens das Kind seiner Eltern, auch wenn es längst erwachsen ist. Informelle Rollen, die durch eine Rollenzuweisung zustande kommen (z. B. schwarzes Schaf, Außenseiter) sind zu unterscheiden von formal bestimmten Familienrollen (Mutter, Vater, Großmutter u. a.). Im unmittelbaren Interaktionsgeschehen äußern sich Rollen durch bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen. Die für die Funktionstüchtigkeit des Systems Familie bedeutsamsten Rollentypen sind die Geschlechtsund Generationsrollen. Bei der Beurteilung der Rollen in Familien kann unterschieden werden, ob diese wechseln (langsam oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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schnell) oder ob sie dauerhaft festgelegt sind. Jedes soziale System verfügt über Möglichkeiten, gegen Individuen, die sich nicht rollenkonform verhalten, mit Sanktionen vorzugehen. Die Rollenerfüllung wird durch Regeln bestimmt, die einen unterschiedlich hohen Grad der Verbindlichkeit haben. Rollen werden vom Individuum internalisiert und so zu eigenen Verhaltensmaßstäben. Je besser die Rollen innerhalb eines Systems aufeinander abgestimmt sind, desto eher werden Störungen des Zusammenlebens und der Sozialisation vermieden. Widerspricht die Rolleneinnahme den vorgegebenen Erwartungen oder sind die Rollen in sich widersprüchlich, kann es zu Konflikten und in deren Folge zu Pathologien kommen. Zu pathologischen Wirkungen kommt es besonders dann, wenn inhaltliche Rollendefinitionen angesichts fälliger Entwicklungen erstarren und wenn es zu den Parentifizierungen und Triangulierungen kommt, welche als klassische Generationsgrenzstörungen im Rollenkonzept beschrieben werden (siehe Richter, 1969; Schiepek, 1999). Unter Parentifizierung wird die Übernahme bzw. Zuweisung der elterlichen Rolle an ein oder mehrere Kinder verstanden. Hierbei kann es sich um eine Form der Rollenumkehr handeln. Der Begriff der Triangulierung meint zum einen lediglich eine Beschreibung der Beziehungen zwischen mindestens drei Personen oder zum anderen die Erweiterung einer konflikthaften Zweierbeziehung um eine dritte Person, die den Konflikt verdecken oder entschärfen soll. Diese dient dann auch dem (unbewussten) Ziel, innerhalb der Zweierbeziehung das Gleichgewicht wiederherzustellen. Richter erweiterte 1969 mit psychoanalytischen Vorstellungen sozialpsychologische Rollenkonzepte. In seinem Ansatz bestimmt sich die Rolle des Kindes im Wesentlichen aus der Bedeutung, die ihm im Rahmen der elterlichen Konflikte zufällt. Dabei kann einem Kind die Rolle des umworbenen oder umstrittenen Bundesgenossen zugewiesen werden oder auf ein Familienmitglied können negative Impulse übertragen werden (Sündenbock). Richter wies schon früh auf die Bedeutung der elterlichen Delegationen hin und beschrieb bereits in den sechziger Jahren Wiederholungen der familiären Rollen in den nachfolgenden Generationen, auch wenn er diesen Sachverhalt nicht explizit im Rahmen einer Mehrgenerationenperspektive betrachtete. Im damaligen Rollenkonzept konnte die Zirkularität
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der Beziehungen und deren wechselseitige Wirkungen noch nicht genügend erfasst werden. Ebenfalls früh beschrieben Buddeberg und Buddeberg (1982) für die Familie typische Rollenmuster, die kurz vorgestellt werden sollen: – Der Exponent übernimmt innerhalb einer familiären Untergruppe eine Führungsposition, hierbei kann er ein progressives oder regressives Verhalten zeigen (durch z. B. autoritäres Verhalten oder durch die Rolle eines »massiv Leidenden«). – Der Kompagnon verzichtet auf eine eigenständige Position; er wird auch als Bundesgenosse, Mitläufer oder Opfer bezeichnet. Häufig bildet er eine Koalition mit dem Exponenten. – Der Vermittler nimmt eine Position zwischen familiären Subsystemen oder Personen ein. – Der Emigrant distanziert sich auf krasse Weise von den Familienregeln oder sucht Anschluss an außerfamiliäre Gruppen. Von den Familienmitgliedern wird er teilweise beneidet, aber auch wegen seines mangelnden Engagements für die Familie kritisiert. – Der blinde Passagier: Dieses Familienmitglied ist so unauffällig, dass es häufig »unbemerkt« bleibt. Es zeichnet sich durch Unscheinbarkeit und »Normalität« aus. Dieser Aufzählung sind weitere zu analysierende typische Familienrollen hinzuzufügen: Familienliebling, Familientyrann, schwarzes Schaf (ähnlich der des Sündenbocks), die Rolle des Fürsorglichen bzw. des Helfers in der Familie und die des Hilfsbedürftigen. Richter beschrieb erstmals 1972 typische Rollenzuweisungen zwischen Eltern und Kindern, die er als Substitute kennzeichnete. In einer Übersicht stelle ich diese vor: – Das Kind dient als Substitut für einen anderen Partner – Gattensubstitut. – Das Kind übernimmt die Elternrolle für die Eltern bzw. für einen Elternteil – Elternsubstitut (Generationsumkehr – Rollenumkehr). – Das Kind wird zum Bündnispartner im Elternstreit. Es ist in der Rolle des umworbenen oder umstrittenen Bundesgenossen. – Substitut des idealen Selbst: Das Kind personifiziert die Hoffnung der Eltern auf Nacherfüllung des eigenen Strebens und soll das niedrige Selbstwertgefühl der Eltern ausgleichen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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– Substitut des negativen Selbst: Mittels einer projektiven Identifikation werden die negativen Aspekte des eigenen Selbst auf das Kind übertragen. Beispiel: Das Kind drückt die Depressionen aus, die ein Elternteil bei sich verleugnet. Auf diese Weise gelingt den Eltern in der Identifizierung mit ihrem Kind die schuldfreie Ersatzbefriedigung eigener, verpönter Impulse. Problematisch sind für die einzelnen Familienmitglieder und insgesamt für die Funktionalität der Familie »pathologische« Koalitionen. Koalitionen sind offene oder verdeckte, wechselnde oder stabile Bündnisse zwischen zwei oder mehreren Familienmitgliedern. Der Zweck solcher Bündnisse kann ein gemeinsames Ziel oder die gemeinsame Opposition gegen die Ziele anderer Familienmitglieder sein. »Dysfunktional« werden Koalitionen, wenn sie zu Störungen der Generationsgrenzen oder der Bildung von Substituten beitragen. Von den Familienrollen sind die bereits erwähnten Familienaufgaben zu unterscheiden. Aufgaben sind sowohl differenzierter als auch spezifischer als Rollen. Aus der Analyse einer Rolle ergibt sich eine Vielfalt verschiedener Aufgaben. Im Familienzyklus hat die Familie unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen, besondere Probleme stellen sich beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste. Typische Aufgaben, die eine Familie zu erfüllen hat, sind die Sozialisation der Kinder, die Aufrechterhaltung des biologischen Funktionierens der einzelnen Mitglieder, die Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten, die Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung der Beziehungen und die »Sinnstiftung«. Familienmitglieder können sich bei der Übernahme von Aufgaben überfürsorglich, überbehütend, zu autoritär, normenlos und inkonsistent verhalten. In dysfunktionalen »pathogenen« Familien werden bestimmte Aufgaben überbetont oder vernachlässigt. Durch Grenzen wird mitbestimmt, wer zu einem System gehört und wie er dazugehört. Familiäre Systeme regeln mit dem Merkmal der »Grenze« ihre Offenheit und Geschlossenheit. Damit ein System definiert werden kann, muss deutlich sein, wie weit das System reicht und wo die Umwelt anfängt. Das Ausmaß der Durchlässigkeit der Grenzen wird in einem beträchtlichen Ausmaß durch soziale Normen bestimmt. Jedes Individuum bringt auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte »Grenzregelungen« in künftige Beziehungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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ein, die sich intrapsychisch aus Selbst-Objekt-Differenzierungen ableiten lassen. An der Art der innerfamiliären Grenzen erkennen wir unterschiedliche Regeln für Angehörige verschiedener familialer Subsysteme. Es lassen sich innere und äußere Grenzen der Familie unterscheiden. Die innerfamiliären Grenzen kennzeichnen die Nähe-DistanzRegelung der Familienmitglieder und der Subsysteme untereinander sowie den Grad der Bereitschaft, Abgrenzungen wahrzunehmen. Die äußeren Grenzen regeln die Beziehungen der Familie zu den Umwelten. Da auch andere Systeme Grenzen haben, führt dies zu vielfältigen Grenzüberschneidungen. Je höher die Anforderungen bezüglich Aufwand und Zeit an eine Systemmitgliedschaft sind und je größer die Zahl der Mitgliedschaften ist, umso schwieriger ist es für den Einzelnen, Grenzen einzuhalten, umso unübersichtlicher wird die Situation und das Risiko von Grenzkonflikten steigt. Das Subsystem der Eltern hat eine doppelte Funktion, nämlich die des elterlichen und die des ehelichen Subsystems. Hier ist eine klare Abgrenzung besonders wichtig, um dem Paar zu ermöglichen, sich von den Kindern abzugrenzen und sich gegenseitigen Kontakt und Unterstützung zu bieten (siehe Frevert et al., 2003). Ist diese Grenze zu rigide, ist das Paar schnell isoliert; ist die Grenze zu diffus, können andere Untergruppen, wie zum Beispiel die Kinder oder ein Großelternteil, sich in die Paar-Dyade hineindrängen. Minuchin et al. (1983) beschreiben die innerfamiliären Grenzen mit den Polen »Verstrickung« versus »Isolierung«: – Isolierung: In »isolierten Familien« werden übermäßig rigide Grenzen entwickelt und die Kommunikation über die Grenzen der Subsysteme hinweg erschwert. Die Loyalitäten und Zugehörigkeitsgefühle sind wenig ausgeprägt. Es besteht eine Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten. Nähe verursacht große Angst. Hier finden wir Familien, in denen die Mitglieder »kalt und distanziert wie Fremde« nebeneinander leben und keine Einfühlung und kein Verständnis für andere entwickeln. – Klarheit: Die Grenzen sind flexibel und klar; die Mitglieder der Subsysteme vollziehen ihre Funktionen ohne unzulässige Einmischung von außen. Der Kontakt mit den Mitgliedern anderer Subsysteme gelingt angemessen. – Verstrickung: In solchen Systemen bestehen diffuse und ver© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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wischte Grenzen. Die Autonomie des Einzelnen ist beeinträchtigt, kognitive und affektive Fähigkeiten sind eingeschränkt, Trennungsangst ist typisch. Die verstrickten Familien wenden sich in einem Übermaß sich selbst zu und schaffen ihren eigenen Mikrokosmos. Die Nähe der Familienmitglieder zueinander ist ausgeprägt. Beim Pol der Verstrickung sind die Familienmitglieder eng miteinander verflochten, die interpersonalen Grenzen, besonders die Generationsgrenzen, sind unscharf und es findet eine ständige Vermischung von Gedanken, Gefühlen und Kommunikation statt. Die direkte Kommunikation ist häufig blockiert. Der Wert »Gemeinsamkeit« wird betont und es wird ein enger Zusammenhalt der Familie mit einer zu starken Abgrenzung nach außen angestrebt. Für die Kinder bedeutet dies hinsichtlich ihrer Autonomiebestrebungen eine Einschränkung in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Familiäre Verstrickungen schaffen starke gegenseitige Abhängigkeiten und bedingen Schwierigkeiten in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Familienmitglieder. Diese Beschreibung Minuchins ähnelt im Wesentlichen dem familientherapeutischen Kategoriensystem »übergroße Offenheit« (bzw. »Auflösung«) versus »Geschlossenheit« (vgl. Wirsching u. Stierlin, 1994). Den Pol der »Auflösung« kennzeichnet ein System, das die Überindividualität im Übermaß betont, sehr nach außen orientiert ist und in dem kein enger Zusammenhalt besteht. Die Polaritäten Geschlossenheit versus Offenheit beschreiben Wirsching und Stierlin (1994) mit den Polen »Isolation« und »Fusion«, die sie in folgende Abstufungen differenzieren: 1. Isolation, 2. starke Abgrenzung, ansatzweise Zugang, 3. Überwiegen der Abgrenzung, 4. dialogische Beziehung, 5. in wenigen Bereichen klare Abgrenzung, 6. Abgrenzung ist kaum möglich und wird auch nur schwer ertragen, 7. Fusion, symbiotische Beziehung. Geschlossenheit kennzeichnet Familien, die sich gegen ihre Umwelt hinter einer »Mauer« abschotten und versuchen, in ihrem eigenen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Mikrokosmos zu leben. Übergroße Offenheit bedeutet für die Familienmitglieder, dass diese mehr in der Umwelt »zu Hause sind« als in ihrer Familie. Diese Familien treten kaum als abgegrenzte Familien in Erscheinung. Grenzen haben eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des »Ichs«. Nur über eine gelungene Individuation, über eine Selbst-Objekt-Differenzierung, wird eine stabile persönliche Identität erreicht. Mit Boszormenyi-Nagy und Spark (1981) ist davon auszugehen, dass nur eine »bezogene Individuation« funktionell ist, bei der ein stets neu auszuhandelndes Gleichgewicht zwischen Trennendem und Vereinendem hergestellt wird. Mit dem Begriff der »bezogenen Individuation« werden zwei grundlegende Prinzipien menschlicher Entwicklung beschrieben: Zum einen die Ausbildung individueller Eigenschaften und psychologischer Grenzen (Individuation/ Autonomie) und zum anderen die Bezogenheit auf ein Gegenüber (Bindung). Dies gilt auch für Prozesse der Grenzziehung zwischen Subsystemen sowie zwischen Familien und ihren Umwelten. Dieses Konzept verbindet die Psychoanalyse mit einer systemischen Sichtweise, indem die fortschreitende Selbst-Objekt-Differenzierung als intrapsychischer Prozess verstanden wird. In den Familien lässt sich eine gelungene bezogene Individuation an den Fähigkeiten zum Dialog erkennen. Den Familienmitgliedern ist es möglich, eine eigene Meinung zu artikulieren und anderen zuzuhören. Es besteht die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Übereinstimmung und zur Angleichung, aber auch die Fähigkeit zur Abgrenzung und die Abgrenzung anderer ertragen zu können. Gefahren liegen in der Überindividuation; das heißt, die Abgrenzung ist starr und zu dicht, die Unabhängigkeit verwandelt sich in Isolation und Einsamkeit. Oder sie liegen in der Unterindividuation, in der die Abgrenzung misslingt; das heißt, die Grenzen sind zu weich und zu durchlässig. Die außerfamiliären Grenzen regeln die Qualität und Quantität des Austausches der Familie mit den sozialen Umwelten. Veränderungen im Lebenszyklus benötigen in den Familien notwendigerweise Veränderungen der Grenzen mit entsprechenden veränderten Aufgaben und Rollenverteilungen. Auch insofern sind Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Grenzveränderungen wichtig. Besonders in der Adoleszenzphase müssen die Generationsgrenzen verändert werden: Die Kinder wechseln im idealen Fall © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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aus der komplementären in eine »erwachsene« Beziehung gegenüber den Eltern. Der Begriff Mythos beinhaltet Leugnung und gegenseitiges Vortäuschen vermeintlicher Tatsachen. Mythen enthalten einen Wahrheitskern, sie verzerren die Wirklichkeit, wobei die Verzerrung von den Familienmitgliedern geteilt wird. Sie haben auch eine für die Systemerhaltung notwendige »rationale« Funktion (beispielsweise kann eine Familie darauf angewiesen sein, einen »guten Eindruck« zu vermitteln, obwohl der Vater seit Jahren eine Geliebte hat). Das Wertesystem vieler Familien fordert, zumindest den Schein zu wahren. Oftmals sollen einzelne Familienmitglieder geschützt werden, die bei bestimmten Punkten verletzlich sind. Mythen stützen so das familiäre Gleichgewicht. Sie sind besonders in Familien zu beobachten, in denen den Beteiligten die Kompetenz bzw. die kommunikativen Fähigkeiten zu anderen Problemlösungsmöglichkeiten fehlen (siehe Kaiser, 1989). Stierlin (1978) unterscheidet: 1. Harmoniemythen, bei denen das Bild einer glücklichen Familie vermittelt wird. 2. Entschuldigungs- und Wiedergutmachungsmythen, die zur Zuschreibung einer Schuld für ein Problem an eine bestimmte Person führen. Diese Person ist oftmals in der Rolle des Sündenbocks, an sie wird die »Schuld« delegiert. 3. Rettungsmythen bestimmen einen Außenstehenden zu einem idealisierten Retter. Ein Mythos bietet Sicherheit und Identität. Der Mythos ist für die Familie das, was für die Individuen die Abwehrmechanismen sind. Sie verdichten »prägnante Geschichten zu zentralen handlungsleitenden, -begründenden und sinnstiftenden Ideen, die gerade durch ihre symbolische Kraft zur familiären Kohäsion beitragen« (Ritscher, 1996, S. 212). Mythen erfüllen so eine doppelte Aufgabe: Sie verweisen auf das Scheitern der Einigungsprozesse und verdecken dieses Scheitern im Dienst der Aufrechterhaltung der familiären Kohärenz. Insofern tragen sie zur interaktiven Wirklichkeitskonstruktion der Familie bei (Buchholz, 1990). Familienmythen folgen einer Spielregel, an die sich die Mitspieler gebunden fühlen. Da durch Mythen die Beziehungs- und Handlungsmuster der Fami© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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lienmitglieder festgelegt werden, können sie als »selbsterfüllende Prophezeiung« wirken. Wie Mythen sind Geheimnisse zwischen den Familienmitgliedern für die Entwicklung einer Familie in einem gewissen Maße normal und notwendig. Dies sind zum Beispiel spielerische Geheimnisse, Ehegeheimnisse, schützende Geheimnisse und Geschwistergeheimnisse. Entscheidend ist, ob Geheimnisse produktiv oder destruktiv wirken. In Familien werden vielfach Themen, die angstbesetzt sind, zu Geheimnissen erklärt und tabuisiert. Familiengeheimnisse beziehen sich besonders auf Normverletzungen wie Inzest, sexuelle Gewalt, Kindesmisshandlung, außereheliche Seitensprünge, uneheliche Herkunft, das Verhalten der Familienangehörigen im Nationalsozialismus und auf Suizide bzw. Suizidversuche. Familiengeheimnisse bieten die Möglichkeit einer gemeinsamen Verleugnung (Mythos) und dienen dem Ziel, einzelne oder mehrere Angehörige zu schützen. Dies kann zu Realitätsverzerrungen führen. Kinder spüren jedoch intuitiv die Geheimnisse der Erwachsenen, wenn sie davon betroffen sind (Levend, 1997). Innerfamiliäre Geheimnisse bedeuten einen Loyalitätskonflikt für mindestens einen der Beteiligten und leisten so einen Beitrag zum Auftreten von familiären Funktionsstörungen. Wie bei den Mythen und Geheimnissen ist der Zweck eines Tabus, die Gefühle der Familienmitglieder und die familiären Beziehungen zu schützen. Hierbei geht es jedoch, im Unterschied zu den Geheimnissen, nicht um das Wissen um etwas, sondern es geht um Verhaltensregeln im Umgang mit diesem Wissen (Kaiser, 1989). Tabus sind unausgesprochene Ver- und Gebote, die sich auf Gedanken und Taten beziehen. Verletzungen des Tabus werden sanktioniert. Häufigste Tabuthemen in den Familien sind der weite Bereich der Sexualität, der Zärtlichkeit, der körperlichen Nähe und der offene Umgang mit Gefühlen. Ein weiteres bedeutsames häufiges Tabuthema ist das Verhalten der Familienmitglieder in der Zeit des Nationalsozialismus (siehe hierzu Heinl, 1988, 1994; Massing et al., 1992). Viele Kinder »wissen« nur wenig über die Involvierung ihrer Eltern und Großeltern in den NS-Staat. Vermächtnisse sind Aufgaben, die ein »Auftraggeber« an Angehörige der nächsten Generation weitergibt – »delegiert«. Stierlin (1978), der das Delegationskonzept entwickelte, betont, eine © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Delegation sei nur möglich auf der Grundlage einer starken, oft unsichtbaren Loyalität. Im typischen Fall habe der Delegierte eine lebenswichtige Aufgabe für seine Eltern zu erfüllen. Delegationen werden an die nachfolgenden Generationen weitergegeben durch nonverbale Signale, durch das Familienselbstbild und durch »Stimmungsansteckung« (Kaiser, 1989). Sie sind oft nicht bewusst bzw. einer bewussten Auseinandersetzung nicht zugänglich. Delegationsprozesse an sich sind notwendig, um dem heranwachsenden Kind sinnvolle Lebensziele, Inhalte und Richtungen zu vermitteln. Sie werden jedoch problematisch, wenn sie nicht auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt sind, überfordern, Konflikte auslösen und wenn sich die Aufträge nicht mit den Talenten, Fähigkeiten und Bedürfnissen des Delegierten in Einklang bringen lassen (wenn z. B. ein Kind auf jeden Fall studieren soll) oder es zu Auftragskonflikten kommt. Ein Beispiel: Ein Mädchen erhält die Delegation, einerseits als eine starke und selbstbewusste Frau in die »Welt zu gehen« und andererseits als Erwachsene die kranke Großmutter liebevoll und zeitaufwändig zu Hause zu pflegen. Stierlin (1978) unterscheidet Delegationen auf den psychischen Ebenen Es, Ich und Über-Ich: – Es-hafte Delegationen richten sich auf das Ausleben triebhafter Bedürfnisse, die dem Delegierenden niemals selbst möglich waren (z. B. das Ausleben von Sexualität oder das Experimentieren mit Drogen). – Der auf der Ich-Ebene Delegierte hilft dagegen primär bei der praktischen Lebensbewältigung (z. B. Stützen der Eltern, Einholen von Erkundigungen). – Über-Ich-Delegationen erfordern einen idealistischen Einsatz für ein hochgestecktes Ziel (z. B. ein herausragender Sportler oder Wissenschaftler zu werden). Stierlin verbindet in seinem Konzept der Delegation die Psychoanalyse mit systemischen Konzepten bzw. der Familientherapie. Er stellt sein Delegationskonzept in einen Zusammenhang mit der Trennungsdynamik zwischen den Generationen, also langfristig wirkenden Beziehungsstrukturen, und betont so die Bedeutung des Mehrgenerationenansatzes. Stierlins Definition berücksichtigt keine Aufträge der Kinder an ihre Eltern; der Delegationsbegriff enthält © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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keine rekursiven Elemente. Gerade in den letzten Jahren gewinnen die Aufträge der Kinder an die Eltern an Bedeutung. Simon und Stierlin (1984) treffen eine weitere Differenzierung: Sie unterscheiden zwischen gebundenen und ausgestoßenen Delegierten. Gebundene Delegierte müssen Aufträge bewältigen, die sie im Spannungsfeld der Familie festhalten. Ein Beispiel: Nach dem Tod des ältesten Sohnes soll der jüngere Bruder das Geschäft fortführen. Ausgestoßene Delegierte werden als Kinder wenig gebunden. Sie müssen sich früh darauf einstellen, mit einem Minimum an elterlicher Anerkennung und Zuwendung die elterlichen Erwartungen zu erfüllen. Dominiert der Ausstoßungsmodus, wird oft die Trennung von den Eltern beschleunigt; dies führt zu einer zu frühen Autonomie. In einer Familie mit Ausstoßungsmodus herrscht oft eine »kalte, versagende Atmosphäre« vor. Altersbedingte Abhängigkeitsbedürfnisse werden abgewiesen, Belohnung und Anerkennung fehlen. Auch als Erwachsene bleiben diesen Menschen oftmals die Möglichkeiten, sich anzulehnen und regressiv zu entspannen, versagt, und Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle werden zu sehr zurückgehalten (Stierlin, 1985). Herrscht der Bindungsmodus in einer Familie vor, bleibt das Kind länger und stärker in der Familie gefangen, eine Trennung von den Eltern verzögert sich. In Familien mit extremem Bindungsmodus beobachten wir Beziehungen, in denen sich alle Mitglieder der Familie mit den gleichen Augen sehen, gleich empfinden und denken sollen. Da dies nicht möglich ist, kommt es zu einer Vielzahl von Wahrnehmungsverzerrungen, projektiven und mystischen Umschreibungen. Jeder meint, die Gedanken des anderen lesen zu können und für ihn sprechen zu können. Dies beinhaltet eine Pflicht zur Loyalität, die sich über Generationen hinweg auswirken kann. Das Loyalitätskonzept wurde von Boszormenyi-Nagy und Spark in den siebziger Jahren entwickelt. Der Begriff Loyalität hat sprachlich seine Wurzel im französischen Wort »loi« und bedeutet gesetzestreues Verhalten. Hierunter wird die Verpflichtung verstanden, bestimmten Erwartungen der Familie, der Verwandten oder anderen Systemen gerecht zu werden. Boszormenyi-Nagy und Spark (1981) sprechen von »Verdienstkonten«, an denen sich nach ihren Vorstellungen familiäre Gerechtigkeit orientiert. Die Angehörigen einer Familie werden mit diesen Verdienstkonten oder einem so genannten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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»Kontenbuch« bewertet. Loyalität hilft der Familie über Generationen, ihre Kontinuität und Kohärenz zu wahren. Sie erteilt hierbei möglicherweise dysfunktionale Aufträge (Vermächtnisse). Loyalitätsprobleme treten insbesondere bei widersprüchlichen Aufträgen von Angehörigen an einen Delegierten auf. Loyalität erweist sich so als ein Schlüssel zum Verständnis der Delegation. Das gebundene Kind versucht häufig aus dieser Loyalität auszubrechen, bleibt jedoch in den alten Beziehungsstrukturen gefangen. Eine solch starke emotionale Bindung schließt die Erwartung ein, dass dieses Interesse erwidert wird. Hier zeigt sich der dialektische Charakter der Bindung in Zusammenhang mit der Vernachlässigung individueller Bedürfnisse. Loyalitätsverpflichtungen erstrecken sich auch auf außerfamiliäre Systeme (Gruppen, Vereine, Nachbarschaften usw.). Typischerweise wird ein Delegierter »mit einer Mission betraut«, jedoch gleichzeitig an einer »langen Leine« der Loyalität gehalten. Die Loyalität wird bewiesen, indem die Aufträge gewissenhaft erfüllt werden. Hiermit wird die Auftragserfüllung zur Quelle des Selbstwertes. Dieser Prozess kann der Gewissensentlastung der Eltern dienen (z. B. eine Schuld aus der NS- Zeit abarbeiten, indem das Kind in einem israelischen Kibbuz schwere Arbeit verrichtet). Das Loyalitätsbedürfnis sorgt dafür, dass Familiengeheimnisse geschützt und nicht in Frage gestellt werden. Verletzt ein Familienmitglied (oder ein Berater) die Loyalität, so muss er darauf gefasst sein, dass sich die Familie gegen ihn verbündet, denn die Loyalität garantiert jedem einzelnen Sicherheit und Schutz, um Schmerz und Konflikte zu vermeiden. Loyalitätsverletzungen eines Familienmitgliedes lösen so Schuldgefühle und Konflikte mit den Angehörigen aus. Das Eingehen neuer Beziehungen, insbesondere eine Heirat, bringt neue Loyalitätsverpflichtungen mit sich. Je starrer das Loyalitätssystem der Herkunftsfamilie ist, desto schwerer fällt den Individuen die »Ablösung«. »Junge« Paare müssen ihre Loyalitätsverpflichtungen von ihrer Herkunftsfamilie auf den neuen Partner übertragen. Bei der Bewertung dieser Beschreibungen ist zu berücksichtigen, dass hier die familiäre Funktionstüchtigkeit so genannter Normfamilien beschrieben wird. Viele der Familien sind jedoch »Patchwork-Familien«, in der ursprünglich verwandtschaftlich definierte Verhältnisse durch erworbene soziale Rollen ersetzt werden. Dies schafft für die Familienmitglieder besondere Konflikte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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3.3 Der Familienzyklus und generationsübergreifende Muster Es entspricht der Logik der Familienzyklusperspektive, sie auf der vertikalen Ebene durch die Mehrgenerationenperspektive zu erweitern. Hier wirken die Beziehungen der Großelterngeneration so fort, dass, bezogen auf die Funktionstüchtigkeit und die familialen Beziehungsstrukturen, von einer Mehrgenerationenfamilie gesprochen werden kann, wenn die Beziehungen von (mindestens) drei Generationen betrachtet werden. Eine Mehrgenerationenfamilie kann jedoch, bezogen auf die Haushaltsgemeinschaft, aus zwei Generationen bestehen. Die Mehrgenerationenperspektive geht davon aus, dass die intergenerationale Weitergabe vielfältiger Aspekte des Familienlebens über zentrale handlungsleitende, handlungsbegründende und sinnstiftende Ideen im aktuellen System präsent ist. Die Grundannahme der Mehrgenerationenperspektive ist, dass Verhalten, Gedanken, Normen und Werte und anderen aus früheren Generationen bedeutsam für die heutigen Interaktionen sind. Auf der vertikalen Beziehungsachse Eltern-Kinder werden die Beziehungen zur Großeltern- bzw. Enkelgeneration erweitert. Die Störungen und Konflikte der jeweiligen Kindergeneration werden vor dem Hintergrund der zum Teil unbewussten Konflikte zwischen Eltern und Großeltern und deren Beziehungen (bzw. den neuen Partnern und ihren/deren Eltern) interpretiert (interfamiliäre Übertragungsprozesse). Es wird angenommen, dass sich in Familien über die Generationen im Wesentlichen immer dieselben oder sehr ähnliche Konflikte abspielen. Diese Prozesse werden als »interfamiliäre Wiederholungszwänge« bezeichnet (Massing et al., 1992). Mit dieser Sichtweise bezieht die Mehrgenerationenperspektive analytische Theorien in ihren Ansatz ein. Boszormenyi-Nagy und Spark legen (1981) in ihrem Ansatz einen Schwerpunkt auf die Analyse von »unsichtbaren Bindungen« zwischen den Generationen, in der durch normative Verpflichtungen (Loyalitätsbindung) ein Ausgleich der Bedürfnisbefriedigung (Verdienstkonten) zwischen den Generationen erreicht wird. Familienmythen sind für diesen Prozess bedeutsam, da sie eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung der familiären Homöostase spielen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Auch durch die Wahl eines »passenden« Partners können Wiederholungen familiärer Strukturen in der nächsten Generation fortgesetzt werden, indem beispielsweise ein Partner ausgesucht wird, der ebenso starke Loyalitätsanforderungen wie die eigenen Eltern stellt. Oft entstehen aus solch einem Arrangement starke, unüberwindliche Konflikte. Der Lebenszyklus von Familien lässt sich allgemein in Entwicklungsschritte differenzieren (siehe Nave-Herz u. Markefta, 1989; Frevert et al., 2003). Diesen Einschnitten komme eine besondere Bedeutung zu, da sie häufig zu »Krisen« in der Funktionsfähigkeit der Familie führten. Die Lebenszyklen können unterschieden werden in: – Phase der Partnerschaft ohne Kinder, – Familie mit Kleinkindern, – Familie mit Kindern im Vorschulalter, – Familie mit Kindern im Schulalter, – Familie mit Adoleszenten, – Familie im Ablösungsprozess, – Familie bzw. Paar in der Lebensmitte, – Familie bzw. Paar im Alter. Die Übergänge von einer Lebensphase zur anderen sind nicht (mehr) eindeutig bestimmbar und sie gelten nicht für alle Familienformen (z. B. Alleinerziehende, Scheidungsehen mit einer erneuten Heirat u. a.) in gleicher Weise. Zu beachten ist, dass sich der Zeitpunkt der Eheschließung bedingt durch die höhere Bildung und die Berufsorientierung der Frauen um fünf Jahre (Schmidt u. von Stritzky, 2004) auf ein höheres Alter verschoben hat, obwohl bereits früher andauernde Partnerschaften (Erler, 2003) eingegangen werden. Gleichzeitig verschiebt sich der Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes. Die vermehrten frühen Partnerschaftserfahrungen tragen zu einem Individualisierungsprozess bei, der einen größeren Entscheidungsspielraum, aber auch weniger Orientierung durch normative Vorgaben ermöglicht. Der Wandel familialer Lebensweisen und die verlängerte Lebenszeit führen zu einer Verlängerung der nachelterlichen Phase. Der Familienzyklus entwickelt eine Dynamik im Lebensverlauf, die beeinflusst wird vom Rollenwandel von Frauen und Männern, der zunehmenden Partizipation von Frauen am Erwerbsleben und einer Diskontinuität und Perforation von individuellen Lebensverläu© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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fen und Berufsbiografien. Die Mehrzahl der Frauen und Männer wünscht sich ausdrücklich eine feste Partnerin bzw. einen festen Partner, obwohl eine Zunahme der Beziehungsmobilität und die Abnahme von »Kontinuitätsbiographien« festzustellen ist (Schmidt u. von Stritzky, 2004). Die Gestaltung der Übergänge erfordert Koordination und Synthese durch das Individuum sowie durch die Familie und führt bei der mangelnden Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben zu Konflikten und Störungen (siehe Frevert et al., 2003). Der soziale und technische Wandel der Gesellschaft verlangt einen stetigen psychischen Verhaltens- und Einstellungsveränderungsprozess, um auf die Anforderungen der Umwelt angemessen zu reagieren. Von einem kompetenten Individuum wird erwartet, dass es die Umweltressourcen und die persönlichen Ressourcen für eine »gute« persönliche Entwicklung einsetzt (Hurrelmann, 1994), während stetig multiple pathogene Einflüsse (Osten, 1995) einwirken. Schädigende Stimulierungen, die zur Entstehung von Krankheiten beitragen, sind nicht nur in der frühen Kindheit oder der triangulären Phase virulent; sie wirken über die gesamte Lebensspanne und tragen zur Entstehung von prävalent pathogenen Milieus (Petzold, 1993), besonders in kritischen Lebensphasen, bei. Die Entwicklungstendenzen und Aufgaben in den jeweiligen Lebensphasen sind für Individuen wie für Familien eher zu bewältigen, wenn diese in einem dosierten Maße mit Veränderungen und situativen Anforderungen konfrontiert werden. Erscheinen die neuen Anforderungen dem Individuum bzw. den Familien als angemessen, werden sie eher als Herausforderung begriffen und erfolgreich bewältigt. Können die Anforderungen nicht angemessen bewältigt werden, kann dies zu Krisen führen und es besteht die Gefahr, Symptome mit entsprechenden Abwehr-, Ausweich-, Rückzugs-, Konfliktund Aggressionstendenzen zu »produzieren«, mit der Folge, dass Phänomene in Form von Abweichungen, psychischen und sozialen Auffälligkeiten, Beeinträchtigungen und körperlichen Erkrankungen entstehen. Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben stärkt die psychosozialen Kompetenzen der Familienmitglieder. Mit Hilfe der Familienzyklusforschung können, so ist zusammenzufassen, wichtige Erklärungszusammenhänge über die Familie gewonnen werden. Ein qualitativer, phasenspezifischer Unterschied © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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in der Rollen- und in der Interaktionsstruktur von Familien lässt sich nach Scheller (1989) nur mit diesem Ansatz erfassen. Einschränkend sollte aber berücksichtigt werden, dass die Weitergabe von Deutungsmustern familiärer Strukturen eben nicht nur über die familiäre (und schulische) Sozialisation verläuft und damit von Familienzyklen abhängig ist, sondern zunehmend über die Massenmedien, die eigene, in der Regel marktspezifische Rezeptionsbedingungen seiner Inhalte schaffen. Mit dem Mehrgenerationenansatz lassen sich so physische, emotionale und soziale Dysfunktionen als Ausdruck und Folge von Problematiken verstehen, die sich über mehrere Generationen entwickelten und weitergereicht werden. Dieser Ansatz eignet sich für die Analyse mehrgenerationaler Beziehungen und Strukturen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es innerhalb und außerhalb der Ehe in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Lebensund Partnerschaftsformen gibt, denn lediglich ein Drittel aller Personen leben in einer traditionellen Form der »Normalfamilie«. Die Mehrheit lebt als Einelternfamilie, kinderloses Ehepaar, nicht eheliche Lebensgemeinschaft, Alleinlebende usw. Die amtlichen Statistiken geben, so Schmidt und von Stritzky (2004), nur unvollständige Informationen über die Dynamik des sozialen Wandels, da sie nur über die traditionellen Formen der Ehe und der Scheidung Auskunft geben. Ausgeblendet wurde, dass nur 23 % der festen Beziehungen ihrer Untersuchung ehelich sind und nur eine sehr geringe Zahl der Trennungen Scheidungen sind.
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4 Die soziale Lage
4.1 Gesundheit und soziale Lage Gesundheitszustand und sozioökonomische Faktoren sind eng verknüpft. Dies zeigt sich in den Bereichen sozialer Status (Schicht), Armut, Gender, Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit und Umweltbelastungen, für die hier wichtige Untersuchungsergebnisse vorgestellt werden sollen. Besondere Belastungen ergeben sich für die Kinder und Jugendlichen, auf deren Situation explizit eingegangen werden soll. Zunächst sollen jedoch die Begriffe »soziale Ungleichheit« und »Armut« erläutert werden. Dangschat (2002) sieht soziale Ungleichheit gegeben, wenn in einer Gesellschaft soziale Merkmale zu unterschiedlichen Positionen führen, die unterschiedliche Lebenslagen nach sich ziehen, wodurch sich eine unterschiedliche individuelle und kollektive Teilhabe an Entwicklungschancen sowie knappen und begehrten Gütern ergibt. Mielck (2005) sieht das Einkommen als zentralen Indikator für die vertikale soziale Ungleichheit. Armut wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gewichtet. Grundsätzlich wird Armut als Einkommensmangel unterhalb des Existenzminimums gesehen (absolute Armut). In entwickelten Industriestaaten verwendet man das Konzept der relativen Armut. Als arm werden in der BRD Personen bezeichnet, die Hartz IV oder andere Sozialleistungen beziehen. Erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit hat der Einfluss der sozialen Schicht, auf die ich zunächst eingehe. Angehörige des untersten Fünftels der Gesellschaft tragen in jedem Lebensalter statistisch betrachtet ein mindestens doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, wie Angehörige des obersten Fünftels. Von Geburt an summieren sich die größeren Gesundheitsbelastungen durch schlechtere Lebensbedingungen und riskanteres Gesundheitsverhalten. Die soziale Benachteiligung erzeugt so gesundheitliche Ungleichheit. Dabei kommen sowohl materielle Ursachen als auch psychosoziale Faktoren zum Tragen. Franke (2008) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die soziale Lage
verweist darauf, dass Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie früher sterben, sechsmal häufiger übergewichtig sind, mehr Geschlechtskrankheiten haben, nach einer Krebsdiagnose weniger lang leben und mehr psychische Störungen diagnostiziert werden. Unterschichtenangehörige erleiden mehr Unfälle (besonders Alleinerziehende und arbeitslose Eltern). Sie erleben ihren Gesundheitszustand als schlechter, sind insgesamt »unzufriedener« mit ihrem Leben und geben weniger unterstützende soziale Ressourcen an. Zudem nehmen sie seltener Krebsfrüherkennungsuntersuchungen wahr und werden aufgrund von Verletzungen häufiger ärztlich versorgt (siehe Franke, 2008; Mielck, 2005). Männer der höchsten Einkommensgruppe werden dagegen durchschnittlich zehn Jahre älter als die der niedrigsten und geben an, weniger chronische Erkrankungen, Depressionen und Behinderungen zu haben. Auswirkungen sozialer Schichtung sind in weiteren Lebensbereichen, die oftmals miteinander verwoben sind, zu konstatieren. Eindeutig empirisch belegt sind Zusammenhänge der Faktoren Rauchen, Übergewicht, unausgewogene Ernährung, Bluthochdruck, physische und psychische Arbeitsbelastung, beengte Wohnbedingungen sowie Lärm und Luftverschmutzung in der Wohnumgebung. Auch ein Vergleich der Anzahl der Schwerbehinderungen in den sozialen Schichten zeigt, dass wesentlich mehr Personen der unteren Schichten eine Schwerbehinderung haben, zudem ist diese bezogen auf den Grad der Behinderung ausgeprägter (siehe die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, 2006a). Angehörige unterer sozialer Schichten geraten eher in Armut, die in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen hat. 1998 waren 12 % der Bevölkerung arm, 2005 bereits 18 % (siehe Böhnke, 2009). Armut betrifft in Deutschland fast jedes vierte Kind unter 15 Jahren, wobei jüngere Kinder oder Haushalte von Alleinerziehenden und mit mehreren Kindern ein erhöhtes Risiko haben, SGB-II-Leistungen erhalten zu müssen. Relative Armut führt oftmals zu Ausgrenzung, zu einem Mangel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zu geringeren Verwirklichungschancen. Von sozialer Ungleichheit und Armut sind (siehe den 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005) besonders Kinder, Alleinerziehende, Familien, Arbeitslose und Migranten betroffen. Das höchste Armutsrisiko haben Familien mit zwei oder mehr Kindern. (15 % aller Kinder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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lebten 2003 in relativer Armut, 1998 waren es 13,8 %.) Besondere Risikofaktoren sind zudem ein niedriger Bildungsabschluss, eine unzureichende oder fehlende Arbeitsmarktintegration (siehe IAB, 2011). Zudem verbleiben arme Menschen heute länger in Armut. Länger als drei Jahre waren im Jahr 2000 27 % arm, bis zum Jahr 2006 stieg diese Zahl auf 37 % (Böhnke, 2009). Einkommensarme Menschen sind in vielen Bereichen in ihrer Teilhabe beeinträchtigt, wobei dauerhafte Armut jede Auffälligkeit verschärft. Arme Menschen gehen weniger zur Wahl und stehen dem politischen System kritischer gegenüber. Sie haben kleinere und eher auf Familien bezogene Netzwerke. Insgesamt sind sie mit dem Leben unzufriedener und sie sterben eher. Eine der Ursachen, die in die Armut führt, sind chronische Erkrankungen. Armut, Arbeitslosigkeit und ein niedriger sozioökonomischer Status sind Risikofaktoren, die die Entstehung bzw. Intensivierung von Tabakabhängigkeit begünstigen. Die Statistiken zeigen, dass Rauchen der größte gesundheitliche Risikofaktor ist: Jeder dritte Erwachsene raucht, jeder zehnte stark. Deutsche Jugendliche nehmen einen »Spitzenplatz« in der EU ein. Auch hier zeigt sich eine auf die soziale Schicht bezogene unterschiedliche Häufigkeit. 21 % der befragten Männer aus der oberen, 28,5 % der mittleren und 40,0 % der unteren Sozialschicht rauchen (Landesinstitut NRW, 2008). Auch gesundheitliche Belastungen als Folge von Umweltproblemen sind in Deutschland ungleich verteilt. Sozial- und umweltepidemiologische Studien weisen darauf hin, dass der soziale Status mit darüber entscheidet, ob und in welchem Umfang Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch ökologische Umweltbedingungen (Außenluft, Innenluft, sauberes Wasser, Lärm, hygienische Abfallentsorgung, Qualität der Lebensmittel, gut erreichbare Erholungsgebiete) belastet sind. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind von Umweltproblemen vielfach stärker betroffen und verfügen oft nicht über die notwendigen Voraussetzungen wie Einkommen, Vermögen und Bildung, um solche Belastungen zu vermeiden (Bunge u. Katzschner, 2009). So zeigen Untersuchungen (siehe Mielck, 2005) zur objektiven Belastung durch verkehrsbedingte Luftschadstoffe, Lärm im Wohnumfeld und Straßenverkehr, dass Menschen mit niedrigem sozialem Status stärker belastet sind als sozial besser Gestellte. Zudem kommen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Studien zur subjektiven Wahrnehmung der Belastung durch Straßenverkehr und verkehrsbedingte Luftschadstoffe ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich Menschen mit niedrigem sozialem Status stärker belastet fühlen als sozial besser Gestellte (Bunge u. Katzschner, 2009). Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Wohnqualität und sozialem Status zeigen, dass vor allem Einkommensarmut ein ausschlaggebender Faktor für schlechte Wohnbedingungen ist, welche die Gesundheit negativ beeinflussen können (Bunge u. Katzschner, 2009). Die gesundheitliche Situation von Frauen und Männern ist unterschiedlich. Die Ergebnisse des Telefonischen Gesundheitssurvey (Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, 2006b) zeigen, dass Frauen etwas mehr als Männer auf die Gesundheit achten. Frauen schätzen ihre subjektive Gesundheitslage als schlechter ein und geben mehr chronische Krankheiten an. Sie haben häufiger Arthrose, Arthritis, Rückenschmerzen, Angina pectoris, doppelt so viel Neurodermitis und fast doppelt so viele Depressionen. Frauen nehmen wesentlich häufiger Beruhigungs- und Schlafmittel, Antidepressiva, Schmerzmittel und Medikamente zur Gewichtsreduktion ein, die auf Dauer oftmals zu weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen führen. Circa zwei Millionen Frauen gelten als medikamentenabhängig. Dies ist eine für Frauen folgenreiche und typisch »unauffällige« Sucht. Frauen trinken jedoch wesentlich weniger Alkohol als Männer. Sie essen zu 70 % täglich Obst, Männer hingegen nur zu 35 %. Arbeitsverdichtung, Arbeitsplatzunsicherheit und allgemein belastende Arbeitsbedingungen gelten als langfristige Risikofaktoren für gesundheitliche Einschränkungen. Folgenreiche belastende Arbeitsbedingungen sind Umgebungsbelastungen (z. B. Lärm, Hitze), Unfallgefahren, körperliche Belastungen, psychische und psychosoziale Belastungen (Monotonie, Zeitdruck, Vorgesetztenverhalten). Monotone Arbeitsabläufe, hoher Zeitdruck, restriktives Vorgesetztenverhalten oder geringe Handlungs- und Entscheidungsspielräume tragen zu einer erhöhten Anfälligkeit für das Rauchen bei (3. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung). Eine spezifische Arbeitsbelastung, aus einer Kombination von hoher Anforderung und geringem Handlungsspielraum gilt als weiterer Risikofaktor. Auch bei diesen Risikofaktoren (siehe Mielck, 2005) sind die unteren Statusgruppen besonders starken Belastungen ausgesetzt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit sind seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Diskutiert werden zwei Erklärungsansätze: Zum einen führt Arbeitslosigkeit zu einem erhöhten Krankheitsrisiko (Kausalitätshypothese) und zum anderen führt Krankheit zu erhöhtem Arbeitslosigkeitsrisiko (Selektionshypothese). In der Praxis besteht zwischen dem Gesundheitszustand Arbeitsloser und deren verminderten Eingliederungschancen ein sich selbst verstärkender Zusammenhang. Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen mehr als nur ein lästiger Knick in der eigenen Erwerbsbiografie. Wer arbeitslos wird, erlebt dies meist als eine schwere Belastung, die gesundheitliche und psychische Folgen haben kann, wenn diese auch von den Arbeitslosen selbst teilweise verharmlost werden. Scham über den Verlust des Arbeitsplatzes und der Verlust der ehemaligen Kollegenschaft können zu sozialer Isolation beitragen. Dies führt dazu, dass Männer für Notfälle weniger unterstützende Kontakte haben. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit steigen die gesundheitlichen und ökosozialen Belastungen. Die finanziellen Möglichkeiten werden knapper und die soziale Isolation und gesellschaftliche Stigmatisierung nehmen zu (Adamy, 2010). Mit der Zeit wirken sich die Lebensgestaltung mit immer geringeren finanziellen Mitteln und die Verarbeitung von Misserfolgserfahrungen bei Bewerbungen ungünstig auf die psychische Gesundheit von Langzeitarbeitslosen und deren Familienangehörigen aus. Eine Folge sind häufigere Schulabbrüche der Kinder und eine mögliche Arbeitslosigkeit in der nächsten Generation (Adamy, 2010). Der Anteil der gesundheitlich Eingeschränkten steigt dabei mit dem Lebensalter und der Dauer der Arbeitslosigkeit (Adamy, 2010). Arbeitslose nehmen Gesundheitsdienste gehäuft in Anspruch (Kroll u. Lampert, 2011), gesundheitliche Einschränkungen hat jede/r fünfte bis sechste Arbeitslose. Subjektiv erleben sogar 45 % der Arbeitslosen ihre Gesundheit als eingeschränkt. Sie geben im Vergleich zu Pflichtversicherten psychisch bedingt vierfach häufiger Arbeitsunfähigkeitszeiten an (Gesundheitsreport der BKK, 2008). Die Arbeitslosen bilden die Gruppe mit den am stärksten ansteigenden psychisch bedingten Krankheitstagen. Arbeitslose weisen ein signifikant erhöhtes Morbiditätsrisiko auf, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, und sie beschreiben einen schlechteren subjektiven Gesundheitszustand © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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(Hollederer, 2009). Bei psychischen Störungen ist die Krankheitsdauer viermal so hoch. Jeder siebte Arbeitslose bekommt Psychopharmaka (Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, 2006a). Belegt sind vermehrte Hoffnungslosigkeit, Ängstlichkeit, ein verringertes Selbstwertgefühl und ein vermindertes Aktivitätsniveau. Arbeitslose sind überproportional von Schlafstörungen, depressiven Störungen sowie Angsterkrankungen betroffen und begehen häufiger suizidale Handlungen (Kroll u. Lampert, 2011). Der Konsum von Suchtmitteln (Alkohol und Tabak) ist erhöht. Behinderungen sind bei Arbeitslosen öfter anerkannt und es gibt mehr Krankenhausaufenthalte mit einer längeren Verweildauer. Arbeitslose zeigen ein eher ungünstiges Gesundheitsverhalten auch in den Bereichen Ernährung und Bewegung. Sportlich aktiv sind 30 % der Arbeitslosen, während Arbeitnehmer sich zu 40 % sportlich betätigen. Die Folgen der Arbeitslosigkeit zeigen sich im ökosozialen Umfeld. Allgemein gilt, die Wohnsituation ist schlechter, im Haus ist mehr Lärm und die Wohnung liegt öfter an Haupt- und Durchgangsstraßen (siehe den 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2008; Landesinstitut NRW, 2008). Sie haben somit insgesamt ein signifikant höheres und mit Dauer der Arbeitslosigkeit steigendes Mortalitätsrisiko (Büttner u. Schweer, 2011; Gesundheitsreport der BKK, 2008). Ein wichtiger Schutzfaktor ist die soziale Unterstützung (Kroll u. Lampert, 2011). Insgesamt weisen zahlreiche Befunde (siehe die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes über die gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2010) auf die schlechteren Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen hin, die unter sozial benachteiligten Lebensumständen aufwachsen. Allgemein gilt, je höher der soziale Status, desto besser sind die Chancen für ein gesunderes Aufwachsen, wobei die statusbildenden Merkmale (Bildungsniveau der Eltern, berufliche Stellung der Eltern, Haushaltsnettoeinkommen) bereits jedes für sich die Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen beeinflussen (siehe die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes über die gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2010). Für die gesundheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind neben der materiellen finanziellen Situation der Familie und der beruflichen Position der Eltern insbesondere die soziale Stabilität © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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und die emotionale Verbundenheit im familiären System bedeutsam. Die Familie als die wichtigste Sozialisationsinstanz sollte der Ort sein, in dem Kinder Rückhalt und Unterstützung erhalten. Sozialer Zusammenhalt und emotionaler Beistand erhöhen die Wahrscheinlichkeit, ein gesünderes und zufriedeneres Leben zu führen. Ein gutes Familienklima, regelmäßige gemeinsame Aktivitäten und gute Unterstützung wirken sich positiv auf die Lebenslage der Kinder und damit der gesamten Familie aus. Jugendliche, die über hohe familiäre Ressourcen verfügen, sind zu einem geringeren Teil übergewichtig, neigen seltener zu starkem TV- oder Videokonsum und üben seltener Gewalt aus. Gesundheitsrelevante Einstellungen und Verhaltensmuster werden bereits im Kindes- und Jugendalter geprägt und verfestigen sich im weiteren Lebensverlauf. Später können sie oft nur noch schwer verändert werden. Armut verändert die Beziehung zwischen den Kindern und ihren Bezugspersonen, indem Einschränkungen der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern erfolgen. Arme Kinder haben seltener das Gefühl, von den Eltern geliebt zu werden. Sie trauen sich weniger, über ihre Probleme und Sorgen zu sprechen. Die Armut verstärkt somit die kommunikative Asymmetrie in der Familie (siehe Alt u. Lange, 2009): Insgesamt kann Kinderarmut zur Steigerung von Gesundheitsrisiken führen. Zum Beispiel rauchen mehr Mütter und es trinken mehr Schwangere Alkohol mit einem niedrigen Sozialstatus. Arme Familien sind häufiger gezwungen, am Essen zu sparen. Geldmangel kann dazu führen, dass die Qualität und die Zusammensetzung der Nahrung vernachlässigt werden. Fehlernährung kann wiederum ein erhöhtes Auftreten von Essstörungen (z. B. Übergewicht und adipöse Kinder) bewirken. Circa jedes dritte dauerhaft in Armut lebende Kind entwickele ein aggressives, sozial unverträgliches Verhalten, im Gegensatz zu jedem zehnten Kind ohne Armutserfahrungen, so Alt und Lange (2009). Dauerhaft anhaltende Armut wirke sich auf den Freundeskreis aus. Diese Kinder haben weniger Freunde und erwerben weniger soziale Kompetenzen. Ihnen fällt es schwerer, neue Freundschaften zu schließen. Arme Kinder haben häufiger das Gefühl, mit Gleichaltrigen nicht mithalten zu können. Sie besitzen ein niedrigeres Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, was wiederum zum Rückzug der Kinder führen kann (siehe die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes über die gesundheitliche © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2010). Mit 6,4 % wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei diesen Kindern häufiger als bei Kindern mit hohem sozialen Status diagnostiziert. Hier liegt die Quote bei 3,2 %. Unfälle zählen zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern. Arme Kinder verletzen sich viel häufiger als nichtarme Kinder. Dies kann zum Teil damit begründet werden, dass Kinder mit einem niedrigen Sozialstatus seltener Schutzbekleidung (z. B. Helm) tragen. Sie machen zudem häufiger Gewalterfahrungen, sowohl als Täter als auch als Opfer. Von Armut betroffene Kinder und Jugendliche haben ein erhöhtes Risiko zu erkranken oder frühzeitig zu sterben (vgl. Trabert, 2009; Bergmann et al., 2007) oder Verhaltensstörungen zu entwickeln. Entwicklungsstörungen und Krankheiten, die zu Beeinträchtigungen im frühen Kindesalter bis zur Einschulung führen, treten vor allem in sozial schwächeren Familien auf (siehe den 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005, und die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes über die gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2010). Hierzu gehören Sehstörungen, Sprachauffälligkeiten, psychomotorische Defizite, Adipositas, Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung, psychiatrische Erkrankungen sowie emotionale und soziale Störungen. In sozial besser gestellten Familien werden hingegen Neurodermitis, Allergien und Asthma häufiger diagnostiziert. Schweres Asthma betrifft jedoch häufiger Kinder von Eltern mit einer niedrigen Schulbildung. Die Teilnahme an den Krankheitsfrüherkennungsprogrammen (U-Untersuchungen) ist bei sozial schwachen Familien geringer. Auch Schutzimpfungen werden bei Kindern mit niedrigem Sozialstatus weniger oder teilweise gar nicht nachgefragt (2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005). Sozial benachteiligte Jugendliche vernachlässigen im Vergleich zu Jugendlichen aus sozial besser gestellten Familien häufiger die Zahnpflege. Der Einstieg in das Rauchen bereits im Alter von 11 bis 15 Jahren wird durch die untere Schichtangehörigkeit deutlich begünstigt. Als ursächlich für die stärkere Verbreitung des Tabakrauchens werden die insbesondere bei armen Kindern gehäuft auftretenden Probleme, wie zum Beispiel geringes Selbstwertgefühl, Stressbelastungen in Familie und Schule sowie Beeinträchtigungen in der Bewältigung jugendtypischer Ent© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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wicklungsaufgaben angesehen (3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2008). Kinder aus sozial höher gestellten Familien frühstücken doppelt so häufig wie Kinder aus ärmeren Familien. Der Fernsehkonsum bei Kindern aus niedrigen Einkommensschichten ist mehr als doppelt so hoch (täglich oft vier Stunden und mehr) als bei Kindern aus den am besten gestellten Familien (2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005). Eindeutig sind auch die Zusammenhänge zwischen der Familienform und den Gesundheitschancen. Demnach haben Kinder in Einelternfamilien und Stieffamilien häufiger Gesundheitsprobleme als Kinder und Jugendliche, die mit beiden leiblichen Eltern zusammenleben. Nach dem subjektiven Gesundheitsempfinden befragt, berichten Jungen aus niedrigen Wohlstandsgruppen 1,6 mal häufiger als Jungen aus höchsten Wohlstandsgruppen von einer eher schlechten Gesundheitseinschätzung. Bei Mädchen ist das Verhältnis zwei zu eins. Im Hinblick auf psychosomatische Beschwerden (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, allgemeines Unwohlsein, Gereiztheit, schlechte Laune, Nervosität, Einschlafstörungen sowie Benommenheit oder Schwindel) zeigten die Befragungen, dass Mädchen stärker beeinträchtigt sind als Jungen, und dass bei Jungen vor allem ein geringer familiärer Wohlstand das psychische Wohlbefinden beeinflusst. Bei Mädchen ist eher der Berufsstatus der Eltern von Bedeutung (2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005). Übergewichtig sind 8,4 % der Jungen und 5,0 % der Mädchen. In den niedrigsten und mittleren Wohlstandsgruppen ist der Anteil der übergewichtigen und adipösen Kinder deutlich erhöht. Jungen scheinen (so Kolip u. Lademann, 2003) bis zur Pubertät das gesundheitlich empfindliche Geschlecht zu sein, anschließend kehre sich dieses Verhältnis um. Die Ursachen seien neben biologischen Faktoren auch sozial begründet, zum Beispiel durch riskanteres Verhalten mit einer höheren Verletzungsgefahr. Die soziale Lage könne Einflüsse der Geschlechtsunterschiede verstärken. So würden Mädchen mit niedrigem Sozialstatus und Migrationshintergrund das geringste Bewegungsverhalten aufweisen (Kolip u. Lademann, 2003). Zudem ist auf Zusammenhänge zwischen dem sozialen Status und der Bildung hinzuweisen. Bereits im Kindergarten sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien unterrepräsentiert. Entstehende © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Entwicklungsdefizite können dann während der relativ kurzen Grundschulzeit oft nicht ausgeglichen werden. Einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg zeigt der Schulerfolg der Kinder. Kinder aus armen Haushalten erhalten schlechtere Durchschnittsnoten, sie sind weniger erfolgreich in der Schule und erhalten weniger oft eine Empfehlung für den Besuch der Realschule und des Gymnasiums. Dass trotzdem 20 % der armen Kinder eine Realschule und 12 % ein Gymnasium besuchen, kann mit der Grundschule zusammenhängen. Diese könne eine soziale und kulturelle Ressource darstellen, die den Schulerfolg positiv beeinflusst (siehe Holz, 2010). Seit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahr 2001 wurde die große selektive Wirkung des deutschen Bildungssystems diskutiert. Das deutsche Bildungssystem wird als diskriminierend angesehen, weil es für Kinder aus finanziell schwachen Familien wenig zugänglich ist. Somit verstärkt das System die soziale Ungleichheit und verwehrt einem großen Teil der Jugendlichen, die aus bildungsfernen Familien kommen, die Bildungschancen. Am Beispiel einer so genannten »Problemgruppe« soll das Dilemma von psychischen/familiären Funktionsstörungen und sozioökonomischen Zusammenhängen aufgezeigt werden. Straus (2009) hat dies in seiner Expertise für den 13. Kinder- und Jugendbericht am Beispiel der Schüler von berufsbildenden Schulen deutlich gemacht. Diese Gruppe junger Erwachsener weise im Gegensatz zu einer repräsentativen Gruppe einen deutlich geringeren Bildungsstand, eine schlechtere sozioökonomische Lage und eine problematischere familiäre Situation (Eltern häufiger arbeitslos und geschieden) auf. Die Schüler seien so insgesamt komplexer belastet. Signifikant seien beispielsweise zudem die folgenden Untersuchungsergebnisse: Insbesondere die jungen Frauen schätzten ihren Gesundheitszustand subjektiv schlechter ein. Allgemein werde weniger auf die Gesundheit geachtet. Der Grad der Demoralisierung und der emotionale Stress seien bedeutsam höher. Im Vergleich zu einer Repräsentativerhebung seien die Schüler berufsbildender Schulen mehr psychosozialen Belastungen ausgesetzt und es würden mehr Körperbeschwerden geäußert. Es bestehe ein signifikanter Zusammenhang zwischen höherer Demoralisierung und Suizidphantasien, Risikoverhaltensweisen, psychosomatischen Belastungen, also eine Interdependenz der Belastungen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Wie lassen sich die genannten Unterschiede gesundheitlicher Ungleichheit in Bezug auf den sozialen Status erklären? Nach Franke (2008) und Mielck (2005) lassen sich folgende Erklärungsansätze unterscheiden: – Gesundheitsbedingte soziale Mobilität: Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich in den unteren sozialen Gruppen mehr Kranke befinden, weil Krankheit zu sozialem Abstieg führt. – Unterschiede im Verhalten: Hier wird davon ausgegangen, dass sich Angehörige unterer Schichten anders verhalten. Beispiele wären der Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, mangelndes Vorsorgeverhalten (Teilnahme an Vorsorge und Früherkennungsuntersuchungen) oder das Essen von Fastfood. – Materielle Lebensbedingungen: Die Ursache der gesundheitlichen Störungen wird mit den sozioökonomischen Bedingungen (feuchte Wohnung, ungünstiges Wohnungsumfeld, Staub und Lärm bei der Arbeit, schlechte Ernährung …) erklärt. – Einkommensungleichheiten, das heißt, der sozioökonomische Status beeinflusst den Gesundheitszustand, oder auch: »Armut macht krank.« Je größer die Diskrepanz zwischen reichster und ärmster Schicht, umso schlechter ist der allgemeine Gesundheitsstatus. Der Ansatz erklärt dies mit einem hohen Stresspegel, der zu einer psychologischen Last mit weniger Zusammenhalt, mehr Neid führt. – Der Gesundheitszustand beeinflusst den sozioökonomischen Status, plakativ formuliert bedeutet dies: »Krankheit macht arm.« – Diskutiert wird, inwieweit eine schlechtere Versorgung der Angehörigen unterer Schichten, zum Beispiel durch weniger Facharztbesuche, zur schlechteren gesundheitlichen Befindlichkeit beiträgt, indem Gesundheitsressourcen weniger wahrgenommen werden. Dragano (2009) erweitert die Erklärungsansätze gesundheitlicher Ungleichheit unter dem Aspekt der Lebenslaufperspektive. Er stellt Bezüge zwischen sozialen, psychischen und biologischen Faktoren her, die zu einer »Kette« von Risiken führen, wobei sich zahlreiche Belastungen in Kindheit und Jugend oftmals erst später auswirken. Die Merkmale Alter, Geschlecht und erfolgte Migration wirken modifizierend. Je mehr Risikofaktoren gleichzeitig auftreten, desto © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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höher wird die Erkrankungswahrscheinlichkeit, wobei die Risikofaktoren nicht nur miteinander interagieren, sondern sich auch im Zeitverlauf gegenseitig bedingen können, indem zum Beispiel ein Risikofaktor einen anderen nach sich zieht. In der internationalen Forschung wird dieses Phänomen als »chain of risk«, als Kette von Risiken, bezeichnet. Diese Erkenntnisse aufnehmend wird in Abbildung 2 in Anlehnung an Mielck (2000, S. 173, ähnlich 2005) und Dragano (2009, S. 28) ein Modell zum Verständnis der gesundheitlichen Ungleichheit im Lebenslauf vorgestellt.
Ungleichheit der Lebenswelt Schicht, Materielles, Bildung, Umfeld
unterschiedliche gesundheitliche Belastungen und Risiken
unterschiedliche Bewältigungsressourcen
Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung
unterschiedliche Familiensituation, z. B. Gewalt, Regeln
Unterschiede im Gesundheitsverhalten, Lebensbedingungen, Habitus, Lebensstil
gesundheitliche Ungleichheit Morbidität, Mortalität
Lebensphasen Abbildung 2: Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf
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Die Ungleichheiten der Lebenswelt sind im Kontext der ökologischen, kulturellen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu differenzieren in vertikale Ungleichheiten (Einkommen, Vermögen, Bildung, Status, Beruf, soziale Herkunft) und die horizontalen Ungleichheiten (Geschlecht, Lebensalter und Migrationshintergrund). Unterschiede im Gesundheitsverhalten meint beispielsweise den unterschiedlichen Umgang mit Stress und in den Ernährungsund Bewegungsgewohnheiten, die sich im individuellen Lebensstil und Habitus (Denk- und Wahrnehmungsmuster sowie Handlungsmöglichkeiten) zeigen. Insgesamt zeigt sich, dass Ungleichheit und Armutsrisiken tendenziell zugenommen haben, obwohl das Durchschnittseinkommen und das Bildungsniveau in den letzten Jahrzehnten gestiegen sind. Sozial benachteiligte Personen sind durch statistisch messbare Faktoren wie zum Beispiel durch schlechtere Wohnverhältnisse, vermehrten Zigarettenkonsum, größeren Bewegungsmangel, häufigeres Übergewicht und stärkere Arbeitsbelastung gekennzeichnet (siehe auch Wilkinson u. Marmot, 2004). Besondere Risikogruppen sind Arbeitslose und alleinerziehende Frauen. Die referierten Untersuchungsergebnisse zeigen, dass das Ausmaß der Gesundheit vorwiegend gesellschaftlich beeinflusst ist. Soziale Ungleichheit zeigt sich auf der vertikalen Achse als ein Merkmal des Unterschieds des sozialen Status und »horizontal«, als Unterscheidung von Merkmalen wie unter anderen Alter, Geschlecht, Familienstand, Anzahl der Kinder, Nationalität (Mielck, 2005). Um die Belastung einzelner oder besonderer Bevölkerungsgruppen zu beschreiben, ist es wichtig, die vertikalen und horizontalen Achsen in eine Analyse aufzunehmen. Wenn auch viele der dargestellten Zusammenhänge statistisch erfasst werden können, lassen sich andere nur in einer individuellen Analyse, zum Beispiel mit Hilfe der Genogrammerstellung, erfassen. Beispiele wären die Auswirkungen der Berufstätigkeit der Mutter oder die der jeweiligen Wohnsituation auf die Mitglieder der Familie.
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4.2 Netzwerke und soziale Unterstützung Für den Menschen als soziales Wesen ist der bedeutendste Faktor für die Gesundheit die Qualität der Einbindung in die sozialen Netzwerke. Soziale Netzwerke sind Muster von Kommunikations- und Austauschprozessen in Bindungen und Beziehungen, in die ein Individuum eingebunden ist. Zentraler Aspekt in der Fokussierung sozialer Netzwerke sind die sozialen Ressourcen, die einem Individuum oder einem System zur Verfügung stehen. Soziale Netzwerke lassen sich mit einer Reihe von Merkmalen beschreiben (siehe ausführlich Dehmel u. Ortmann, 2006). Dies sind zunächst die Größe und Dichte des Netzwerkes, die Zusammensetzung, die Erreichbarkeit, das zeitliche Ausmaß, die Vielgestaltigkeit und die Funktionalität. Dauer und Art der Veränderungen eines Netzwerkes können ebenso beschrieben werden wie die Qualität (Grad des Vertrauens, Intensität) der Beziehung und das Motiv einer Beziehungsgestaltung (Egozentrizität, Altruismus, Reziprozität, Kontrolle, Abhängigkeit). Zum besseren Verständnis sozialer Netzwerke im Lebenszyklus trägt das Konzept des Konvois bei (siehe Knoll u. Burkert, 2009; Petzold, 2010). Petzold (S. 65) bezeichnet Konvois als soziale Netzwerke, die im Kontext der Kontinuumsdimension betrachtet werden. Es wird davon ausgegangen, dass der Mensch nicht allein auf der Lebensstrecke fährt, sondern mit einem Weggeleit unterwegs ist. Ist dieses stabil, ressourcenreich und supportiv, so kann es »stressful life events« abpuffern, eine Schutzschildfunktion übernehmen und zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen. Wenn der Konvoi schwach, negativ oder gefährlich ist, stellt er ein Risiko dar. Erfassbar werden Konvois durch Konvoidiagramme. Klienten zeichnen ihre sozialen Netzwerke zu wichtigen Zeitpunkten des Lebenslaufs mit ihren benignen und malignen Einflüssen und sozialen Belastungen und Unterstützungen auf. Im Laufe des Lebens ändert sich der Konvoi hinsichtlich der Größe, Komplexität und Qualität. Im Idealfall bietet der Konvoi dem Individuum eine Grundsicherheit und angemessene soziale Unterstützung. In den ersten Lebensjahren bieten in der Regel die Eltern die meiste Unterstützung, später die Peergroup, der Partner und Geschwister. Netzwerke sind aus verschiedenen Gründen für die Gesundheit von zentraler Bedeutung. Am bedeutsamsten ist die soziale Unter© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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stützung. Diese wird in verschiedenen Formen gewährt (siehe Dehmel u. Ortmann, 2006), bei denen jedoch das Problem der mangelnden Trennschärfe besteht. Diese sind – emotionale Unterstützung (Geborgenheit, Trost, motivationale Unterstützung, Alltags-Interaktion, Wertschätzung), – Unterstützung beim Problemlösen (Orientierung), – praktische und materielle Unterstützung (Arbeitshilfen, Pflege, Informationen, Beratung), – soziale Integration (Geselligkeit, Beteiligung, Gebrauchtwerden), – Beziehungssicherheit erleben, – Stressreduzierung. Die wahrgenommene Unterstützung beeinflusst die Stressbewertung und diese in einem zirkulären Prozess die Stressbewältigung und die Gesundheit (siehe Knoll u. Burkert, 2009; Dehmel u. Ortmann, 2006). Netzwerke geben dem Individuum Anregungen für normative Vorgaben hinsichtlich gesundheitsförderlichen Verhaltens und bieten das Gefühl der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft. Sie bieten oftmals eine neue Teilidentität (z. B. als langjähriges Mitglied der Anonymen Alkoholiker). Eine Verringerung der Bindungskräfte im jeweiligen soziokulturellen Milieu, der Familie, der Nachbarschaft, der Kirche, der Gewerkschaft oder anderen kann durch die Vernetzung der Menschen und Institutionen die Vereinzelung vermindert oder verhindert werden. Professionelle Hilfen hierzu werden heute besonders in intimen Beziehungen durch Beratungsstellen angeboten. Hilfen für die Inklusion in weitere Netzwerke sind über bereits bestehende Angebote (Gemeindezentren, Selbsthilfegruppen u. a.) hinaus notwendig, denn auch weniger intime Beziehungen wie zum Beispiel Nachbarschaften und entfernte Bekannte sind förderlich, wenn sie Zugang zu wichtigen Ressourcen, zum Beispiel zu einer Arbeit, bei der Wohnungsrenovierung oder zu unterstützenden Kontakten, ermöglichen. Die unterstützende Wirkung sozialer Netzwerke wurde in vielen Untersuchungen bewiesen (siehe Dehmel u. Ortmann, 2006; Knoll u. Burkert, 2009; die Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, 2011). Befunde der Gesundheitsforschung zeigen die Bedeutung sozialer Netze für den Alltag und die Bewältigung von Krisen auf. Wir wissen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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beispielsweise, dass sozial integrierte Personen länger leben. Sozial eingebundene Menschen verhalten sich gesundheitsgünstiger als relativ isoliert lebende Menschen. Soziale Unterstützung wird in sozialen Beziehungen erbracht. Durch neue Kontakte und Vernetzungen können sich Synergieeffekte entfalten. Schwarzer (2002) referiert Forschungsergebnisse, nach denen Verheiratete im Durchschnitt glücklicher sind als Ledige, Verwitwete und Geschiedene. Die Partnerschaft stellt einen Schutz gegenüber seelischen Störungen dar, bis zu einem gewissen Grad sogar dann, wenn die Beziehung eher als angespannt und unbefriedigend eingeschätzt wird. Der Verlust wichtiger Bezugspersonen durch Tod, Trennung, Scheidung, Auszug hinterlässt eine Lücke im sozialen Netz. So steigt zum Beispiel im Jahr nach dem Tode des Ehepartners die Sterbewahrscheinlichkeit für die Witwe und besonders den Witwer (Schwarzer, 2002). In solchen Krisen gehen vielfach die Ressourcen der sozialen Netzwerke verloren, nicht nur durch den Tod des Angehörigen, sondern auch durch den gesellschaftlichen Wandel. Im Zuge der Individualisierung, Pluralisierung und Enttraditionalisierung der Lebensweisen ist das Individuum gefordert, im Lebenszyklus immer wieder neue soziale Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Unterstützung erhält eine Person eher, wenn sie als hilfsbedürftig eingeschätzt wird, wenn der Empfänger als veränderungswillig angesehen wird, für seine Situation als nicht verantwortlich gehalten wird und der mit der Hilfe verbundene Aufwand als angemessen betrachtet wird (Knoll u. Burkert, 2009). Zudem wird eher Hilfe von einem empathischen Unterstützer geleistet, je stärker die Verbindung zum Empfänger ist. Die wichtigsten Personen, die Unterstützung leisten, sind der Partner/die Partnerin und die Familienangehörigen. Bei Männern hat der eheliche Status positive Effekte auf das Wohlbefinden, bei Frauen hingegen ist die Qualität der Beziehung entscheidend (siehe Dehmel u. Ortmann, 2006). Frauen haben außerhalb der Partnerschaft durchschnittlich mehr vertraute Beziehungen als Männer, während für Männer meist die Partnerin die ausschließliche Ansprechperson für emotionale Probleme ist (siehe Schwarzer, 2002). Allerdings ist der Schutzeffekt der Ehe bei Frauen weniger ausgeprägt als bei Männern. Sie profitieren eher vom Kontakt zu ihren Kindern und ihrer Integration in andere soziale Netze. Allgemein nimmt die soziale © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Unterstützung im höheren Alter ab, sie ist am höchsten bei Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren. Angehörige mit mittlerer und höherer Bildung erhalten weniger Unterstützung als Frauen und Männer mit niedrigem Bildungsstatus (siehe Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2011). Untersuchungsergebnisse einer Langzeiterhebung von Christakis und Fowler (2010) zeigen, dass das Gewicht, das Rauchverhalten oder ein glücklicher Gemütszustand nicht nur Einfluss auf die eigenen Freunde haben, sondern im abnehmenden Ausmaß auch auf deren Freunde und Nachbarn. Die Autoren sprechen von sozialer Ansteckung durch das Weitergeben sozialer Normen. Soziale Netzwerke tragen jedoch nicht automatisch zu einer Verbesserung der Gesundheit bei. Nicht nur belastende Familienverhältnisse können pathogen wirken, auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe kann im Einzelfall eher belastend als stützend sein, wenn zum Beispiel die Erzählungen der anderen Mitglieder deprimieren. Es ist daher sinnvoll, nach belastenden Aspekten zu fragen. Belastungen entstehen zum Beispiel durch Verpflichtungen, Machtungleichgewichte und Konflikte. Die Einschätzung dessen ist abhängig von den Erwartungen, Bedürfnissen und individuellen Copingstrategien. Für den Hilfeempfänger kann Unterstützung belastend sein, wenn die Hilfe falsch oder unangemessen ist, die Wahl- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt werden (siehe Dehmel u. Ortmann, 2006). Übertriebenes Engagement kann zu Abhängigkeiten führen. Soziale Netzwerke können problematische Verhaltensweisen unterstützen und verstärken (z. B. riskanter Alkoholgebrauch). Allerdings setzt die Inanspruchnahme der Hilfen des Netzwerkes oftmals eine gewisse Gesundheit voraus, denn es wird die Fähigkeit benötigt, um Hilfe zu bitten und einzufordern. Hilfe erhalten zudem die Personen eher, die »attraktiv« für die Hilfegebenden sind. Auf Seiten des Unterstützers können Belastungen und Krisen eigene Zukunftsängste, Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Ohnmacht verstärken. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die objektive Unterstützung und die subjektiv erlebte (siehe Pauls, 2004) zu analysieren ist, also zwischen der subjektiv wahrgenommen und der tatsächlich erhaltenen Unterstützung zu unterscheiden ist. In der Analyse eines Genogramms oder Netzwerkes fragen wir in der Regel die subjektive Wahrnehmung ab. Wahrgenommene Unterstützung meint die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Einschätzung, ob man sich in (kritischen) Situationen auf die Unterstützung durch andere verlassen kann (Knoll u. Burkert, 2009). Ob sich also die erhaltene Unterstützung positiv auswirkt, hängt von der Bewertung des Empfängers ab. Im Einzelfall kann Unterstützung, zum Beispiel eine materielle Hilfe, als Einmischung erlebt werden. Die hier vorgestellten Untersuchungsergebnisse bilden für die Genogrammerhebung einen bedeutsamen Kontext.
4.3 Kriterien sozialer Inklusion und Integration Die Kategorisierung sozialer Dimensionen kann in der Sozialen Arbeit auf eine lange Tradition zurückgreifen, die bis zu Mary Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) reicht (siehe Riesenhuber et al., 2010). Gleichwohl hat die soziale Diagnose vergleichsweise wenig bewussten Eingang in die Praxis psychosozialer Arbeit gefunden. Bevor im Folgenden Verfahren vorgestellt werden, die auf verschiedene Weise Kriterien sozialer Inklusion und Integration beschreiben, ist auf einige Probleme bei der Konstruktion von Manualen, das heißt der Beschreibung der Differenzierung von Funktionssystemen und der Lebenswelten in Gesellschaften, hinzuweisen. Zunächst soll in Bezug auf Kleve (2000) die in der Praxis oftmals gleichzeitige Verwendung der Begriffspaare Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion thematisiert werden. Das Begriffspaar Integration/Desintegration bezieht sich auf die lebensweltlichen Zugehörigkeiten zu Gruppen, Netzwerken, Familien etc., in denen Menschen als ganze Person relevant sind. Personen können in Gruppen, Freundschaften und Familien integriert werden, aber nicht in lebensweltliche Gemeinschaften. Hingegen bezieht sich Inklusion/Exklusion auf eine Übernahme funktionalisierter Rollen, das heißt in einer ausschnitthaften sozialen Teilnahme von Personen an Systemen, die unter anderem materielle Ressourcen, Arbeit, Macht, Geld, Bildung oder soziale Hilfen bereitstellen. Kleve schließt hieraus, dass Integration und Inklusion gegenläufig sind und »dass der Inklusionsbereich der Gesellschaft tendenziell desintegriert ist und der Exklusionsbereich der Gesellschaft tendenziell integriert ist. Auf der Seite der Inklusion, also der Seite der funktionssystemischen Partizipation, ist keine Integration möglich, während Integration © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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außerhalb der Funktionssysteme, in deren Exklusionsbereich, in der Lebenswelt immer wieder neu von jedem und jeder einzelnen realisiert werden muss« (Kleve, 2000, S. 43 f.). Da die postmoderne Gesellschaft den Menschen demnach jeweils nur unter Teilaspekten einbindet, ist es sinnvoll, in der Beschreibung der Klienten Kriterien der Integration und der Inklusion zu benennen. Mit Bezug auf Kleve (2000) soll ein weiterer Aspekt aufgegriffen werden. Kleve beschreibt Funktionssysteme und weist ihnen zugehörige Codes zu. Dies sind die Bereiche Wirtschaft (zahlen/nicht zahlen), Recht (Recht/Unrecht), Wissenschaft (wahr/unwahr), Politik (Macht/Ohnmacht), Religion (Immanenz/Transzendenz), Erziehung (gute/schlechte Zensuren) und Soziale Arbeit (Hilfe/Nichthilfe). Diese Funktionssysteme sind trotz ihrer Autonomie voneinander abhängig, da sie sich gegenseitig mit Hilfe kommunikativer Prozesse Leistungen bereitstellen. Diese Funktionssysteme stehen in Interdependenz zu den Lebenswelten der Gesellschaft. Dies sind Familien, Freundschaftsbeziehungen, Netzwerke, soziale Milieus und unspezifische Interaktionen, die eben nicht primär rechtlich, ökologisch, politisch usw., kommunizieren, sondern primär moralisch und wert- und normengeladen (Kleve, 2000). Die gesellschaftlichen Funktionssysteme lassen sich in ihrer Hochkomplexität nur noch als eine Vielheit, als Komplexität von Selbstbeschreibungen darstellen. Dies bedeutet, dass die vielfältigen Realitäten einer Person auch in ein Manual der Beschreibung von Funktionssystemen und Lebenswelten einbezogen werden muss. In der Praxis wurden eine Reihe mehr oder weniger standardisierter Kategoriensysteme entwickelt (eine Übersicht geben Riesenhuber et al., 2010; Pantucek, 2009), die zum Teil diese Kriterien erfüllen und hier kurz aufgelistet werden sollen. Am bekanntesten sind das Diagnoseinstrument des Münchener Instituts für Therapieforschung PREDI (Küfner et al., 2006) und der Inklusionschart von Pantucek (2009). Küfner et al. erfassen im »Psychosozialen Ressourcenorientierten Diagnostiksystem« (PREDI) neben den Störungen und Problemen personale Ressourcen. Eruiert werden die Bereiche Alltagssituation, Wohnsituation, finanzielle Situation, rechtliche Situation, Arbeits- und Ausbildungssituation, körperliche Situation, psychische Situation, Beziehungssituation und die soziokulturelle Situation. Entwickelt wurde das Instrument zur Erfassung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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diagnostischer Informationen für unterschiedliche Arten von Hilfen. Im PREDI werden in der Kategorie Beziehungssituation einige, jedoch meines Erachtens nicht ausreichende, Angaben zum Bereich Partnerschaft, Familie/Lebensgemeinschaft und des sozialen Netzes erhoben. Nicht erhoben werden beispielsweise die Beziehungen zu sozialen Institutionen, zum Beispiel zu ARGE, Jugendamt und weiteren professionellen Helfern. Das DSM-IV (Sass et al., 2001), ein Klassifikationsinstrument der Erfassung psychischer Störungen, ist in fünf Achsen unterteilt. Dieses Instrument bietet auf der vierten Achse die Möglichkeit, psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme zu erfassen. Pantucek (2009) hält dieses Instrument jedoch nur für eingeschränkt auf einer Achse verwendbar. Er kritisiert, dass soziale Bedingungen nur als Nebenbedingungen gesehen würden und dass Belastungsfaktoren nur sehr ungenau klassifiziert werden können. Die ICF bietet ebenfalls die Möglichkeit, Beeinträchtigungen der Teilhabe und der Partizipation zu beschreiben. Ziel dieses Klassifikationssystems ist der Versuch, mit einer einheitlichen und standardisierten Sprache einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheit und damit zusammenhängenden Zuständen zu entwickeln. Beschrieben werden die Dimensionen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation sowie Umweltfaktoren. Der Begriff der Behinderung dient als Oberbegriff für Schädigungen und Beeinträchtigungen. Aktuell werden einrichtungsspezifische Core-Sets erarbeitet. In der Praxis oft eingesetzt wird die »Ecomap«, eine ökosoziale Kontextanalyse (siehe beispielsweise Ritscher, 2011; Pauls, 2004; Schwing u. Fryszer, 2009) zur grafischen Erfassung des sozialen Kontextes einer Person. In einer Zeichnung werden die Beziehungen zu anderen Personen, Institutionen und sozialen Netzen vergegenwärtigt. Durch verschiedene Linienführung werden positive, negative, konfliktreiche und andere Beziehungen markiert. Durch eingeklammerte Plus- oder Minuszeichen, die ergänzend neben die Beziehungslinien gesetzt werden, kann die Beziehung als energiebereichernd, energiekostend oder gleichgewichtig (Pauls, 2004) beschrieben werden. Umfassende Möglichkeiten der Kategorisierung bietet das »Person-In-Environment-System« (PIE), welches in den neunziger Jahren in den USA für die Soziale Arbeit entwickelt wurde und sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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in Deutschland noch nicht durchsetzen konnte (Pantucek, 2009). Dieses Instrumentarium ist auf Individuen ausgerichtet und enthält vier Achsen, denen eine Klassifikation zugeordnet wird (Probleme in sozialen Rollen, Probleme in der Umwelt, psychische Gesundheit, physische Gesundheit). Hahn (2006) verweist darauf, dass in Schulungsveranstaltungen zur Anwendung des PIE auffiel, dass es Sozialarbeiterinnen schwer fällt, standardisierte Diagnosen zu erstellen und soziale Probleme verlässlich zu bewerten. Zudem fehle bisher eine Adaption des PIE für das deutsche Rechts-, Gesundheits- und Sozialsystem. Pantucek (2009) entwickelte mit dem »Inklusionschart« ein Dokumentationssystem, um Daten über verschiedene Aspekte der materiellen Sicherung und der Einbindung in verschiedene soziale Systeme zu sammeln. Auf einer fünfteiligen Skala wird die Inklusion in wichtige Funktionsbereiche (Arbeitsmarkt, Sozialversicherung, Geldverkehr, Mobilität, Bildungswesen, Informationszugang, Gesundheitswesen, Kommunikation, lebensweltlicher Support) eingeschätzt. Diese Ebenen sind in der Regel miteinander verbunden. Beispielsweise führt die Aufnahme einer Beschäftigung in das System der Sozialversicherung und damit in das des Geldverkehrs. Der Grad der Inklusion kann durch das System bedingt sein, in der Person liegen oder durch beide Faktoren bestimmt sein. Eine bessere Inklusion kann durch eine Senkung der Schwellen und durch eine Veränderung der Person (z. B. dessen Motivation) erfolgen. Die Auswahl der Funktionsbereiche erfolgte pragmatisch, so Pantucek. In dem hier im Weiteren vorgestellten Manual wird auf diese Funktionssysteme zurückgegriffen, die eine Grundlage für die komplexe Erfassung bilden. Es greift jedoch noch weiter, wenn mit Hilfe der Genogrammerstellung mehrgenerationale Zusammenhänge berücksichtigt und interpretiert werden.
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5.1 Genogramme Die Genografische Mehrebenenanalyse integriert System-, Situationsund genografische Analysen zu einer umfassenden Beschreibung von Individuen und ihren Umwelten. Komplexe Sachverhalte und Interaktionen in Familien (und Netzwerken) können differenziert und übersichtlich dargestellt werden. Es werden in einer grafischen Form Informationen über mindestens drei Familiengenerationen erhoben. Auf der vertikalen Ebene werden die Strukturen über die einzelnen Generationen abgebildet, um wiederkehrende familiäre Muster, Traditionen und familiäre Strukturen zu untersuchen. Auf der horizontalen Ebene werden die Beziehungen der Familienmitglieder dargestellt. Hildenbrand (2007, S. 19) stellt in den Mittelpunkt seiner Analyse drei Bereiche, die für die Identitätsbildung zentral sind: – »Die materielle Selbsterhaltung, dokumentiert in der Entscheidung für einen Beruf; – spezifische Partnerwahlen und Entscheidungen für und gegen Kinder; – die Herstellung eines Bezuges zum Gemeinwesen, das heißt Wahl eines Wohnortes, Beziehungen zu lokalen bis hin zu umfassenden Institutionen, kurz: die Entwicklung zum Bürger im Sinne von citoyen oder citizenship.« Mit Hilfe des Genogramms können die jeweils historisch gewachsenen sozialen, personalen, ökonomischen und politischen Bedingungskonstellationen, innerhalb derer sich Einschränkungen und Entfaltungen individueller Entwicklungsmöglichkeiten ergeben, analysiert werden. Hildenbrand (2007) betont die Bedeutung einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, in der der Kontext einer Person oder Familie ausführlich fokussiert wird. Der Autor betont die Notwendigkeit, Lexika, Karten und weitere Quellen zum Kontextverständnis zu nutzen, die geeignet sind, die Milieulagen aufzunehmen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die Genogrammarbeit stellt auf der psychologischen Ebene einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Familiensituation und den Nachwirkungen verdrängter Schicksale der Eltern und Großeltern her. Die Einbeziehung solcher Denkkategorien stellt eine Brücke zu psychoanalytischen Ansätzen her, wenn davon ausgegangen wird, dass frühere, insbesondere unbewusste, konflikthafte, unerledigte Themen im Heute weiter wirksam sind. Reich et al. (2003) nehmen an, dass in Familien über die Generationen im Wesentlichen immer wieder dieselben Konflikte inszeniert würden, also ein »intrafamiliärer Wiederholungszwang« bestehe. Der Kalender werde zum Sprechen gebracht, resümieren McGoldrick und Gerson (1990). Diese Perspektive gestattet es zudem, die »soziale Realitätskonstruktion« selbst in die Analyse einzubeziehen. Jedes Genogramm zeigt im Prozess der Analyse eine Struktur, ein Muster, eine Gestalt, die häufig mehrfach reproduziert und transformiert wird. »Gegenstand der Fallkonstruktion ist die Herausarbeitung dieser den spezifischen Fall kennzeichnenden Struktur in ihrer Reproduktions- und Transformationsgesetzlichkeit. Mit dieser Fallstruktur wird die regelhaft-habituelle Weise, die Welt zu deuten und handelnd in sie einzugreifen, kurz: als sinnhafte zu konstruieren, verstanden, und […] zum Ausgangspunkt für die Reflexion von neuen Handlungsoptionen verstanden« (Hildenbrand, 1998, S. 117). Ziel einer solchen Analyse ist eine Strukturgeneralisierung im Dienste der Konstruktion von theoretischen Ansätzen. Dabei werden die Interpretationen ständig überprüft. Grundlage des Analyseprozesses ist eine offene dialogische Gesprächshaltung, die auf das Erzählen vom subjektiv Erlebten zielt, Fragen sind prozesshaft zu formulieren und auf eine Lebensphase oder eine bestimmte Situation fokussiert. Zu vermeiden sind reine Frage-Antwort-Schemata. Vor der eigentlichen Durchführung der Genogrammarbeit ist mit dem Klienten, dem Paar oder der Familie der »Sinn« der verwendeten Methode zu besprechen. Die Klienten erhalten, um das Genogramm anfertigen zu können, ein Blatt im Format DIN A1 und eine Reihe von verschiedenen Stiften zur Auswahl. Als Vorgabe wird den Klienten mitgeteilt, dass die gesamte Familie auf das eine Blatt zu »zeichnen« ist, und sie möglichst die Frauen mit einem Kreis und die Männer mit einem Quadrat darstellen möchten. Diese Art der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Darstellung entspricht den in der Genogrammarbeit gebräuchlichen Symbolen. Um die Art der Beziehungsgestaltung zu symbolisieren, sollen die Familienmitglieder durch Verbindungslinien miteinander verbunden werden. Einzelnen Klienten war diese Anleitung zu allgemein und zu verunsichernd, so dass ich zum Beispiel empfahl, mit der Darstellung der Eltern zu beginnen. Das Genogramm wird in der von mir hier vorgestellten Form von den Klienten (in meiner Anwesenheit) typischerweise in der dritten bis sechsten Beratungsoder Therapiestunde erstellt, das heißt »gezeichnet« und beschriftet: Die Namen, Geburts- und Todeszahlen, Datum der Eheschließung und -scheidung und eventuelle besondere Kennzeichen werden eingetragen. In der Regel werden in der Literatur für die Zeichnung des Genogramms die in Abbildung 3 dargestellten Symbole verwendet. männlich
weiblich
männlich, verstorben
Indexklientin
Ehe Abtreibung, Fehlgeburt
geschieden nichtformalisierte Lebensgemeinschaft
Abbildung 3: Symbolsprache des Genogramms
Die Klienten »erfanden« oftmals für ihre Zeichnungen andere Symbole (siehe Beushausen, 2004). Die Probanden erläutern während bzw. nach dem Zeichnen, um welche Personen es sich handelt, und »zeichnen« deren Beziehungen zueinander ein, die dann gegebenenfalls von mir aufgegriffen werden. Im Anschluss werden die Familienmitglieder mit einigen Attributen beschrieben und über deren Erlebnisse, Krisen und Krankheiten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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berichtet. Wichtige Daten wie Scheidungen, Berufe, Wohnungswechsel, Feindschaften, Sterbefälle, Krankheiten, Konflikte und anderes können schnell eingetragen und damit transparent gemacht werden. Nachdem die grafischen Symbole der einzelnen Personen aufgezeichnet sind, wird die Bedeutung der familiären Mythen, Koalitionen, Delegationen und Hierarchien analysiert, um Hypothesen über mögliche mehrgenerationale Wiederholungen zu bilden. Der Fokus liegt zudem auf der Exploration der familiären Beziehungen mit ihren Tabus, Koalitionen, Ängsten, Feindschaften und den sozialen Kriterien. Dabei werden die Familien in ihrem räumlich-zeitlichen Kontinuum betrachtet und die Beziehungskontexte zu relevanten Umwelten aufgenommen. Die Genografische Mehrebenenanalyse, die sich der zeichnerischen Genogrammerstellung anschließt, umfasst immer wieder Schritte der Synthese, um die Zusammenhänge zwischen den vielen Informationen zu strukturieren und Zusammenhänge zwischen den Generationen zu erarbeiten. Während der Analyse erhalten die Klienten die Möglichkeit, ausführlich und detailliert über ihre Familie und andere Systeme zu berichten. Ziel ist eine möglichst weitgehende Partizipation des Klienten. Bei der Erstellung des Genogramms wird den »Widerständen« und Ängsten der Klientin Rechnung getragen. Die Transparenz der Vorgehensweise wirkt in der Regel angstabbauend, auch introvertierte und ängstliche Klienten beteiligen sich aktiv. Bei der Erstellung des Genogramms werden zunächst sehr viele Informationen aufgenommen; im Laufe des Gesprächs ergibt sich eine Reduktion und Fokussierung auf bestimmte Fragestellungen. Die anfänglich umfangreichen Informationen sind notwendig, um die verschiedenen Ebenen der Probleme berücksichtigen zu können. Da einzelne Klienten durch die enorme Datenfülle und die Interpretationsmöglichkeiten verwirrt werden, ist in solchen Fällen eine Reduzierung der Themen sinnvoll. Die Klienten werden gleichzeitig spielerisch in systemisches Denken eingeführt (Hildenbrand, 1998; Kaiser, 1989). Diese Methodik ermöglicht den Klienten, die aktuelle Situation, eigene Verhaltensweisen und die der Angehörigen als eine gemeinsame Geschichte aus einer neuen Perspektive zu sehen und sich als Teil einer Familiengeschichte zu begreifen. Die Informationen enthalten Hinweise auf »brisante Themen«, ohne dass diese bereits auf »tieferer Ebene« erörtert werden müssen. Um »brisante« The© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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menbereiche anzusprechen, sind ein Vertrauensverhältnis und eine sensible Kommunikation zwischen Therapeut/Berater und Klient bzw. Familie notwendig. Dem Berater und Therapeuten bieten sich verschiedene Möglichkeiten, mit diesen Informationen umzugehen. Geht er auf die Inhalte vertiefend ein, wirkt dies erlebnisaktivierend. Durch die Fokussierung auf andere Familienmitglieder statt auf die eigene Person kann ein Entlastungseffekt erzielt werden, der verstärkt wird, wenn die komplexen Kontextbedingungen der Problembereiche deutlich werden. Bei der Erstellung von Genogrammen, die mit der gesamten Familie angefertigt werden, sind die familiären Geheimnisse oder Tabus besonders zu berücksichtigen, um da, wo es aus therapeutischer Sicht notwendig ist, die Familie zu schützen und nicht zusätzliche Widerstände gegen die Therapie zu »erzeugen«. Die Erhebung der Daten während der Genografischen Mehrebenenanalyse und stattfindende Beratungs- bzw. Therapiegespräche können sich gegenseitig befruchten und ergänzen. Einerseits kann in späteren Gesprächen auf die während der Genografischen Mehrebenenanalyse gewonnenen Erkenntnisse zurückgegriffen werden, andererseits können Aussagen der Klienten im Betreuungsprozess die Genografische Mehrebenenanalyse ergänzen. Die meisten der Klienten erhielten die von mir zusammengefasste Niederschrift des eigenen Genogramms. Dieses Vorgehen ermöglicht Korrekturen seitens der Klienten und hilft ihnen bei der kognitiven Verarbeitung. Bei mehreren Klienten lag die Annahme nahe, dass die eher »nüchterne und wissenschaftliche« Sprache der Niederschrift des Genogramms »Widerstände« und Unverständnis hervorrufen könne; ich habe dann eine Aushändigung der Niederschrift nicht angeboten. Ein weiterer Aspekt dieser Verfahrensweise ist für die Analyse der Genogramme ebenfalls relevant. Durch eine nicht nur sprachliche Darstellung können viele an Sprache gebundene Phänomene der Intellektualisierung und Rationalisierung »unterlaufen« werden. Aufschluss gibt häufig die Art, »wie« gezeichnet wird. Hierauf gehe ich im Weiteren näher ein. Die Genografische Mehrebenenanalyse bietet somit die Möglichkeit, vielfältige Informationen über familiäre Beziehungen und Strukturen effektiv und plastisch zu erheben (Kapitel 5.3). Sie eröffnet einen Zugang zum subjektiven Erleben, zu Interpretationen und Bewältigungsmustern der Familie aus Sicht des Klienten. Zum Abschluss © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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dieser Einführung sollen weitere Vorteile bzw. Möglichkeiten, die die Anwendung dieser Methode bietet, zusammengefasst werden: – Die Genogrammarbeit gibt Hinweise auf die Auswirkungen von sozialen, ökonomischen, politischen Ereignissen auf die Familienbeziehungen und -strukturen und damit einen Einblick in die generative Gebundenheit der biografischen Erfahrungen. – Es ist davon auszugehen, dass kritische Ereignisse und Lebensphasen der Familie Auswirkungen auf die Emotionen der Familienmitglieder und deren Lebensgeschichte haben. Dies trifft im besonderen Maße auf größere Verluste wie Todesfälle oder Scheidungen zu. Mit Hilfe der Genografischen Mehrebenenanalyse kann analysiert werden, wie die Familienmuster sich zu verschiedenen Zeiten, das heißt vor, bei oder nach dem Auftreten einer Krise (z. B. Tod eines Familienmitgliedes) verändert haben. – Die Thematisierung traumatischer Ereignisse und Beziehungsbrüche (so genannte »transgenerationale Traumatransmissionen«, Hildenbrand, 1998), einschließlich einer genauen zeitlichen Beachtung des Lebensalters der jeweiligen Generation, stellt einen Zusammenhang zwischen den historischen Fakten, den damit verbundenen emotionalen Brüchen und der sozialen Realität der Familie her. – Die Analyse des Genogramms kann spezifische Muster von Bewältigungsmechanismen der betreffenden Familie auf kritische Lebenssituationen aufzeigen, zum Beispiel systemspezifische Muster der Anpassungsfähigkeit oder der Rigidität, die in der Vergangenheit nach bestimmten Ereignissen (z. B. nach Todesfällen) auftraten. – Eine Grundeinheit lebender Systeme bildet das Beziehungsdreieck. In Familiensystemen werden häufig konflikthafte Zweierbeziehungen um eine dritte Person erweitert, die den Konflikt verdeckt und das System stabilisiert (Triangulierungen z. B. in Form eines Ehegattensubstituts), oder zwei Personen können sich gegen eine dritte zusammenschließen (Koalition). Mit Hilfe des Genogramms können verschiedene Formen von triadischen Beziehungen analysiert werden und generationsübergreifende Wiederholungen von Beziehungsdreiecken erkannt werden. – Transgenerationale Vermächtnisse und Delegationen der Eltern und Großeltern können schnell deutlich werden. Auf der verti© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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kalen Ebene kann sich in der Art der zeichnerischen Darstellung eine »soziale Vererbung« von Beziehungsmustern über Generationen ausdrücken. Beispielsweise können sich Wiederholungen der Nähe-Distanz-Regelungen oder im Umgang mit den Systemgrenzen zeigen, die Aufschluss über die Familienstruktur geben. Manche Familiensysteme reagieren in einer spezifischen Weise auf bestimmte sich wiederholende Daten im Jahresverlauf. (Zum Beispiel verhielt sich ein Vater jeweils im August depressiv. Nach der Analyse des Genogramms war zu vermuten, dass dieses Phänomen im Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter stand.) Auch solche Muster lassen sich mit Hilfe der Genografischen Mehrebenenanalyse eruieren. Am Beispiel der Bewertung der Geschwisterreihe soll ein weiterer Vorteil dieses qualitativen Verfahrens aufgezeigt werden. In einer Geschwisterreihe kann das zweitälteste Kind die Funktionen des älteren Kindes übernommen haben, da es zum Beispiel der ersehnte Junge war. Oder das jüngere Kind kann in die Position des Älteren kommen, wenn das älteste Kind lange krank war. In der Familie wird dann das älteste Kind als ein jüngeres behandelt. Die Analyse des Genogramms bietet die Möglichkeit, auch solche speziellen Phänomene zu erkennen und mögliche Auswirkungen auf die Entstehung der problematischen Verhaltensweisen zu erörtern. Krankheiten, Verhaltensauffälligkeiten, Haftaufenthalte, erhebliche Schulden, Suizidversuche, Essstörungen und Alkoholismen sind häufig schon in früheren Generationen »aufgetreten«. Ist solch ein Phänomen festzustellen, kann analysiert werden, ob dieses von Generation zu Generation »sozial vererbt« wird und welchen Einfluss dies auf das Familiengeschehen hat. Die Analyse ermöglicht eine Beschreibung der Bedeutung der reflexiven Verschränkung der Leiblichkeit mit der eigenen Biografie und der der Familie. Die Analyse des Genogramms kann bemerkenswerte Aufstiege und Misserfolge einzelner Familienmitglieder der verschiedenen Generationen in den Fokus der Betrachtung rücken lassen. Normen und Werte, sich in der Generationenfolge wiederholende Tabus, Familiengeheimnisse, Loyalitäten, familiäre Regeln und Traditionen in den Teilfamilien können erörtert werden und in einem Gesamtüberblick zusammengeführt werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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– Die Wiederholung von Beziehungsmustern (z. B. in der Generationenfolge ein jeweils ähnliches Heiratsalter) zu je gleichen Zeiten im Familienzyklus lassen sich mit dieser Methodik relativ einfach identifizieren. Durch die Altersangaben im Genogramm ist zu erkennen, ob die eingetretenen Ereignisse für die einzelnen Familienmitglieder innerhalb normativer Erwartungen bestimmter Lebensphasen liegen. Ist dies nicht der Fall, ergeben sich hieraus Hypothesen über ein mögliches Familienproblem. (Beispiel: Bekommt ein Paar erst im Alter von 45 Jahren das erste Kind, kann dies auf Probleme bei der Ablösung der Eltern von ihrem Elternhaus hinweisen oder auf jahrelange Schwierigkeiten der Partner, ein Kind zu bekommen.) Genogramme können so den »Kalender zum Sprechen bringen« (Heinl, 1988), indem Hypothesen über mögliche zeitliche Verbindungen zwischen den Ereignissen in der Familie hergestellt werden. – Krisensituationen (z. B. der Tod eines Familienmitglieds, die Geburt eines Kindes, die Pensionierung des Mannes oder der Zeitpunkt der Ablösung eines Kindes), die für die Familie neue Bedingungen, Anpassungen und Strukturen bedeuten, wiederholen sich in der Generationenfolge und lassen sich mit dieser Methode ebenfalls eruieren. – »Leitmotive« der Familienmitglieder, die als familienspezifische Muster von Generation zu Generation weitergegeben werden, können aufgedeckt werden, indem auf Wiederholungen geachtet wird. Diese Muster fungieren als machtvolle Verschreibungen, denen hohe Wertepriorität in den Familien eingeräumt werden. – Die Genogrammarbeit ermöglicht die Thematisierung von »ungelebten Leben« zu Zeiten von Tod, Krankheit, Trennung und Scheidung. – Es wird Auskunft gegeben über die Bedeutung kultureller Zugehörigkeit. – Die Analyse macht deutlich, wie Lebensgeschichten durch soziale Differenzen geprägt sind, und weist so auf die Relevanz sozialer Lagen und Milieus hin. – Zu berücksichtigen ist, dass in Deutschland die Erstellung eines Genogramms durch Assoziationen an die Erstellung von Stammbäumen im Dritten Reich belastet sein kann, da »Ariernachweise« über den Stammbaum eingeholt wurden. Werden solche © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Hinweise deutlich, ist dies selbstverständlich zu thematisieren und eventuell eine andere Methode der Erhebung der familiären Beziehungen vorzuziehen.
5.2 Netzwerkanalysen Der Einsatz von Genogrammen lässt sich in der Praxis gut mit Netzwerkanalysen kombinieren. Bei beiden Methoden tragen Symbole im Bereich der analogen Kommunikation mit Hilfe von Bildern zu einer Verdichtung bei. In diesen egozentrierten Methoden steht jeweils eine Person im Mittelpunkt. Um sie herum werden andere Personen, Personengruppen oder Institutionen zugeordnet. Dargestellt wird jeweils die subjektive Sicht, die immer eine Auswahl beinhaltet, denn nicht alle möglichen Beziehungen lassen sich aufzeigen. Dies bedeutet auch, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine sehr spezifische Konstellation erfasst wird. Um Netzwerkveränderungen zu erfassen, sind mehrere Erhebungszeitpunkte notwendig. Die Daten können beispielsweise zu Beginn und zum Ende einer Beratung/Therapie erhoben werden. Neben der Erfassung der aktuellen Beziehungen können auch Netzwerkanalysen eruiert werden, die sich auf Zeiträume der Vergangenheit oder auf Zukunftsprojektionen beziehen. Die Analyse der Beziehungen eines Individuums ist bereits sehr lange Bestandteil von Theorie und Praxis in psychosozialen Arbeitsfeldern (siehe Schwing u. Fryzer, 2009; Hass u. Petzold, 2011). Allgemein sind Netzwerkanalysen Methoden der Untersuchung sozialer Systeme, in denen ihre Sinn-, Handlungs- und Unterstützungssysteme und die in ihnen stattfindenden materiellen, interaktiven und kognitiven Prozesse analysiert werden (siehe Hass u. Petzold, 2011). Bereits in den zwanziger Jahren führte Jacob Levy Moreno Netzwerkuntersuchungen in einem Flüchtlingslager durch und entwickelte früh die Soziometrie als Wissenschaft der Messung menschlicher Beziehungen. In einem soziometrischen Test werden innerhalb einer Gruppe die gegenseitigen Präferenzen und Ablehnungen im Hinblick auf bestimmte Kriterien erhoben. Zum Beispiel könnte in einer Schulklasse gefragt werden, neben wem man gern oder nicht gern sitzen möchte oder mit wem zusammen man ein Referat halten möchte. Im dann erstellten Soziogramm können Gruppenrollen, Subsysteme © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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und Gruppenkonflikte analysiert werden. Diese Beziehungen wurden zeichnerisch dokumentiert und dargestellt. Moreno sprach vom »sozialen Atom« und stellte diese Netzwerkbeschreibung einer Person zudem im Psychodrama und im Soziodrama auf die Bühne. Früh integrierte er soziale, kognitive, kulturelle und emotionale Verbindungen. Eine Weiterentwicklung der soziometrischen Methode Morenos stellen Hass und Petzold (2011) vor. Die Autoren setzen dieses Verfahren im Rahmen von umfassenden Studien ein, sie entwickeln im Rahmen einer integrativen ambulanten Psychotherapie ein Instrumentarium, um in kurzer Zeit gut verständlich für den Klienten dessen Netzwerke prägnant in einer Tabelle zu erfassen. Zweidimensional werden die sozialen Beziehungen erhoben. Auf einer jeweils fünfstufigen Skala erfragen sie die generelle Zufriedenheit einer Person mit ihren Beziehungen. Die Klienten werden gebeten, die folgende Tabelle (Tabelle 1) auszufüllen. Tabelle 1: Zweidimensionales Netzwerk (siehe Hass u. Petzold, 2011, S. 253) Person
GeBeziehung schlecht
distanziert −− −− −− −− −− −− −− −− −− −−
− − − − − − − − − −
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
nah belastend + + + + + + + + + +
++ ++ ++ ++ ++ ++ ++ ++ ++ ++
−− −− −− −− −− −− −− −− −− −−
− − − − − − − − − −
unterstützend 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++ 0 + ++
In die Tabelle werden vom Klienten bis zu zehn Namen eingetragen, das jeweilige Geschlecht benannt und die Art der Beziehungsform mit einer Abkürzung (P = Partner, F = Freund, Ch = Chef etc.) eingetragen. Eingeschätzt werden die Dimensionen Nähe versus Distanz und belastend versus unterstützend. Um Netzwerke zu analysieren, wurden neben solchen soziometrischen Methoden verschiedene zeichnerische Darstellungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
entwickelt. Beziehungen in sozialen Systemen können zum Beispiel dargestellt werden, indem eine Familie mit Tiergestalten gemalt wird. Zudem können Beziehungsmuster leiblich, szenisch (z. B. in einer Skulptur) oder mit Hilfe verschiedener Medien (Geldstücke, Gespräch zwischen Musikinstrumenten, Kasperpuppen, Schachfiguren oder andere Hilfsmittel) erhoben werden. Für alle diese Techniken finden sich in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen (siehe Müller, 2006; Pantucek, 2009). Beispielsweise bezeichnet Pantucek seine Form der Darstellung eines sozialen Atoms als Fallraum und Ritscher (2002) die Darstellung sozialer Beziehungen mit Holzklötzen als Familienbrett, auf dem die Dimensionen Nähe–Distanz, zentral–marginal und Unterordnung–Überordnung dargestellt werden können. Herwig-Lempp (2007) verwendet das Instrument der VIP-Karte, das auch als Netzwerkkarte (siehe z. B. Pantucek, 2009), Egozentriertes Netzwerk oder Ecomap vorgestellt wurde. Im Mittelpunkt einer Weiterentwicklung dieser Techniken (siehe z. B. Pantucek, 2009) steht die Fokussierung auf den Sozialraum unter Bezugnahme der Beziehungen zu den Helfern (z. B. Betreuer, Hausarzt, Psychiater, Sozialarbeiter, Therapeut). Mit Hilfe der vier Felder werden die Beziehungen der sozialen Räume Familie, Beruf, Freunde und professionelle Helfer dargestellt. Abbildung 4 verdeutlicht diese Methode an einem Beispiel. Durch eine unterschiedliche Strichführung (z. B. durchgezogene Linien für eine positive, gestrichelte Linien für eine negative Beziehung) können erste Aussagen über die Beziehungsqualität getätigt werden. Deutlich wird, in welchem Bereich die meisten Beziehungen vorhanden sind bzw. wo diese fehlen. Wenn zudem die Beziehungen der Systemmitglieder untereinander eingezeichnet werden, können hieraus weitere Hypothesen gebildet werden. Im obigen Beispiel ist der Partner von Susanne die Person mit den meisten und engsten Beziehungen.
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Netzwerkanalysen
Familie
Beruf Vater Mutter
Partner Bruder
ARGE
Susanne Hausarzt
Nachbarin
Freundin Betreuer Psychiaterin
Freundschaften
Helfer
Abbildung 4: Netzwerkgrafik (Susanne)
In einer alternativen Methode können die Klienten ihre eigenen Lebensfelder in einem Kreis skizzieren und in diesem wichtige Personen markieren. Die Größe der »Tortenstücke« symbolisiert, wie viel Zeit oder Bedeutung ein Lebensbereich erfährt. Ein Beispiel (Abbildung 5) soll dies verdeutlichen. Ein Aspekt der Analyse der Netzwerkarten ist die Frage nach der Reziprozität, die sich auf die Balance des Gebens und Nehmens in den Beziehungen bezieht. Das Vorhandensein der Balance ist eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren von Unterstützungsbeziehungen. Das Reziprozitätsprinzip wird, in Abhängigkeit der verschiedenen kulturellen Ausprägungen, als eine übergreifende psychosoziale Gesetzmäßigkeit verstanden (Friedrich, 2010). Beziehungen drohen zu zerbrechen, wenn ein dauerhaftes Ungleichgewicht besteht Klassischerweise werden in der Praxis der Netzwerkbeschreibung die von Minuchin in den siebziger Jahren entwickelten Symbole © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
de
un
Fre
Natalie
Kai
Arbeitsbereich Meister
René
Klaus Lars
Kevin
rn
Mutter
Sp
or
t
te
El
Vater
Abbildung 5: Netzwerk von Lars
verwandt, die unter anderem unter dem Begriff der Map bekannt wurden (siehe z. B. Schwing u. Fryzer, 2009) und die sich mit der Genogrammerstellung verbinden lassen. Üblicherweise werden die in Abbildung 6 dargestellten Symbole benutzt. Als eine Ergänzung dieses Verfahrens stellen Schwing und Fryzer (2009) Familien-Helfer-Maps vor, in denen informelle oder professionelle Helfer mit ihren Symbolen einbezogen werden. Ritscher (2002, S. 306) verbindet diese Elemente mit Aspekten des Genogramms in einem »ökosozialen Systembild«, in welches wichtige Systeme eingetragen werden. Ritscher stellt ein solches Systembild eines Klienten vor (Abbildung 7).
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Netzwerkanalysen
männliches Familienmitglied weibliches Familienmitglied klare Grenze diffuse Grenze, Verstrickung, Fusion starre Grenze, Loslösung, Ausstoßung Nähe starke Nähe, Bindung, Überengagement Konflikt
verdeckter Konflikt
Umleitung eines Konfliktes
Koalition Abbildung 6: Symbole für die Map nach Minuchin (in Schwing u. Fryzer, 2009, S. 68)
Die vorgestellten Analysemethoden bieten viele kreative Möglichkeiten der Darstellung des Netzwerkes. Die Analyse orientiert sich neben der visuellen Analyse, auf die ich im nächsten Kapitel eingehe, nach Hass und Petzold (2011, S. 226) an den folgenden Dimensionen: 1. Die Quantität der Beziehungen wird erfasst, indem das Volumen und die Zahl der Relationen zwischen dem Kernindividuum und den anderen Personen gezählt und interpretiert werden. 2. Die subjektive Qualität wird analysiert, indem die positiven, negativen und indifferenten Relationen erfasst werden. 3. Die Distanz, mit der der Abstand der einzelnen Personen beschrieben wird, gibt Auskunft über die Intensität der Kontakte und der Handhabung von Nähe und Distanz. 4. Die Kohäsion, die Verbindung der Personen, wird analysiert. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
Abbildung 7: Das ökosoziale Systembild (aus Ritscher, 2002, S. 306)
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Netzwerkanalysen
5. Die Konnektierung, die Stellung des sozialen Atoms zu anderen sozialen Atomen und übergeordneten Netzwerken und Lebenswelten, wird betrachtet. 6. Mit der supportiven Valenz wird die Tragfähigkeit des sozialen Netzes mit ihren Ressourcenvorräten und der Unterstützungsbereitschaft seiner Mitglieder analysiert. 7. Die kokreative Valenz eruiert die Innovations- und Gestaltungskraft des Netzwerkes in der gemeinschaftlichen Nutzung von Ressourcen und Potentialen. Laireiter (2009) beschreibt ergänzende Parameter der Netzwerkanalyse, die für die Praxis eine wichtige Hilfestellung darstellen (Tabelle 2). Tabelle 2: Strukturierte und interaktionale Parameter egozentrierter Netzwerkbeschreibung (Laireiter, 2009, S. 83) Strukturparameter Größenparameter: • Größe/Range Vernetzungsparameter: • Konnektivität/ Verbundenheit • Dichte/Kohäsion regionale Struktur: • Cliquen
• Cluster
• Sektoren/Segmente
interaktionale Parameter Direktionalität/Richtung Reziprozität
Beschreibung/Operationalisierung Anzahl der im Netzwerk enthaltenen Akteure/Alteri Anzahl der Verbindungen/Beziehungen im Netzwerk Ausmaß der relativen Verbundenheit des Gesamtnetzwerkes Regionen/Gruppen höchster Verbundenheit (jedes Mitglied ist mit jedem verbunden; Dichte = 1,0) Regionen/Gruppen dichterer Verbindungen zwischen den Akteuren, jedoch geringer als in Cliquen Gruppen identischer Rollen im Netzwerk (Arbeitsbereich, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Familie, Freundeskreis etc.) Richtung der Beziehung, des Austausches, der Interaktion etc. Symmetrie im Austausch, der Beziehung etc.
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Die angewandten Methoden
Beziehungsrolle Uni- vs. Multiplexität Intensität
Frequenz »strong tie« vs. »weak tie« Homogenität vs. Heterogenität Dauer/Stabilität Entfernung Verteilung/Distribution Erreichbarkeit
soziale/interpersonale Rolle der Beziehung (Freund, Nachbar etc.) Ausmaß des Inhalts des Austausches/der Arten von Beziehung etc. Ausmaß des Austausches/der Nähe/Bindung/Interaktion etc. (z. B. emotionale Intensität, quantitative Intensität des Austauschs) Häufigkeit des Austauschs, des Kontakts, von Transaktionen etc. intensive/hochfrequente vs. wenig/niedrig frequente Beziehung psychologische/soziale Ähnlichkeit von Netzwerkmitgliedern Länge des Bestehens eines Kontaktes/einer Beziehung regionale Distanz zwischen den Akteuren geographische Verteilung des Netzwerkes Akteure geringer geographischer Entfernung/leichte Erreichbarkeit
Die vorgestellten Methoden betrachten den Protagonisten und seine Umwelten. Dies ist eine sinnvolle Analyse im Kontext der Kybernetik erster Ordnung, die den Beobachter, das heißt hier den Berater oder Interviewer, nicht in die Analyse einbezieht. Gleichwohl muss immer mit bedacht werden, inwieweit der Anwender dieser Methoden die Darstellung des Protagonisten allein durch seine Anwesenheit, Artefakte der sozialen Erwünschtheit, die Form der Fragestellung oder der verwandten Methodik beeinflusst.
5.3 Die visuelle Analyse Mit der visuellen Analyse wird ein weiterer Beitrag zur Weiterentwicklung der Arbeit mit Genogrammen und Netzwerkanalysen vorgestellt. In der Praxis wird das Genogramm durch den Berater/ Therapeuten mit Hilfe von Informationen, die durch Gespräche oder Fragebögen erhoben werden, angefertigt, obwohl bereits in der Standardliteratur zur Genogrammanalyse ein kreativer Umgang © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Die visuelle Analyse
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empfohlen wird. So weisen zum Beispiel von Schlippe und Schweitzer (1997) auf die Möglichkeit hin, farbige Hervorhebungen vorzunehmen oder Familienfotos einzubeziehen. Reich et al. (2003) schlagen vor, wichtige szenische Informationen der Genogrammgestaltung durch die Familienmitglieder aufzunehmen. Sie empfehlen beispielsweise zu beachten, wer zuerst beginnt, wer vergessen wird und welche Ursprungsfamilie auf dem Blatt mehr Raum einnimmt. Explizit empfahl Heinl (1987), sich mit der visuellen Analyse zu beschäftigen. Auch Reich et al. (2003) weisen auf die Bedeutung der Analyse visueller Aspekte hin, jedoch werden von diesen Autoren, wie auch sonst in der Fachliteratur (siehe Cierpka, 2003; Kriz, 1999; McGoldrick u. Gerson, 1990; von Schlippe u. Schweitzer, 1997; Massing et al., 1996, 1999; Beushausen, 2004) die besonderen Möglichkeiten, die eine visuelle Analyse bietet, nicht diskutiert. Deshalb ist es mein Anliegen, die weiteren, bisher wenig diskutierten Möglichkeiten in der Arbeit mit der Genografischen Mehrebenenanalyse darzustellen. In meiner therapeutischen Arbeit in einer Suchtberatungsstelle erwies sich die Fokussierung auf die Darstellung des von der Klientin selbst gezeichneten Genogramms als hilfreich (siehe Beushausen, 2003). Bevor im Folgenden verschiedene Aspekte der visuellen Analyse erörtert werden, soll der theoretische Rahmen, auf den dieses Verfahren gründet, skizziert werden. In der Genogrammarbeit werden Verbindungslinien zwischen Gegenwart und Vergangenheit gezogen und Projektionslinien für die Zukunft entworfen sowie die Einbettung des Individuums in soziale Systeme aufgezeigt. Innerhalb dieses Prozesses kann mit Heinl (1988) davon ausgegangen werden, dass die Zeichnung und die Analyse eines Genogramms »Schwingungen« auslösen, die bis in den Bereich früherer Lebenserfahrungen, einschließlich des vorsprachlichen Raumes, reichen. In diesem Raum des frühen Selbst bilden sich im Zuge der Entwicklung des frühkindlichen Organismus die »unbewussten« Substrate des »frühen« Genogramms (Heinl, 1988). In der Kommunikation des Erwachsenen sind diese frühen Erfahrungen verwoben, die wahrzunehmen und zu entschlüsseln sind. Jedes Genogramm weist eine Struktur, ein Muster, eine Gestalt auf, die häufig mehrfach reproduziert und transformiert wird. Dieser sprachlose Raum drückt sich in der visuellen Struktur eines Genogramms aus. Ein erstelltes Genogramm ist somit kein Zufallsprodukt, sondern © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
eine subjektive, unbewusste Verschlüsselung von internalisierten Vorgängen. Durch die von den Klienten während der Darstellung selbst vorgenommenen zeichnerischen Anordnungen können in einer gemeinsamen Suche nach »Auffälligkeiten« und Hinweisen neue Erkenntnisse gewonnen werden, die kennzeichnend für die familiären Strukturen und die Beziehungen zu den Umwelten sind. Diese sollen für die Diagnose familiärer Dysfunktionen und für die Hypothesenbildung einer Behandlung genutzt werden. Das von den Klienten gezeichnete Genogramm spiegelt die familiäre Situation oftmals auf der nonverbalen Ebene. Präverbale Kommunikationsmuster stellen die Stile dar, über die eine unbewusste, unterschwellige Transmission wichtiger Konzepte (Selbst, Autonomie, Raum, Rollen und Beziehungsmodell sowie Lebenseinstellungen) von einer Generation zur anderen erfolgt. Sie sind Leitlinien für die Rekonstruktionen des »sprachlosen Raumes« (Heinl, 1988), wobei die früheren Erfahrungen in den aktuellen Kommunikationsmustern eingewoben sind. Das Genogramm »verkörpert« die im Sozialisationsprozess lebenslang aufgenommenen Informationen in einem individuellen, subjektiven Familienmodell. Hypothetisch kann davon ausgegangen werden, dass diese im Prinzip wahrnehmbar und entschlüsselbar sind. Die visuelle Analyse bietet einen besonderen Zugang zum »unbewussten« Erleben des Klienten. Mit der visuellen Analyse wird der affektive Zugang zu den Lebensgeschichten der Familienmitglieder betont. Die Erinnerungsbereitschaft für Bilder, Gefühle und Gedanken wird gefördert. Durch die nonverbale Aktivität können Sinneserinnerungen intensiver aufgerufen werden als auf der rein verbalen Ebene. Oftmals unbewusste Affekte und Szenen können mit Hilfe der konzentrierten fokussierten Wahrnehmung auf das visuelle Erleben der Zeichnung ins Gespräch gebracht werden und so besser im Bewusstsein integriert werden. Die vom Berater/Therapeuten und vom Klienten formulierten Hypothesen sind im Gesprächsprozess auf ihre Relevanz zu überprüfen. Ein weiterer Aspekt dieser Verfahrensweise ist für die Analyse der Genogramme ebenfalls von Bedeutung: Durch eine nicht nur sprachliche Darstellung können viele an Sprache gebundene Phänomene der Intellektualisierung und Rationalisierung »unterlaufen« werden. Die praktische Durchführung der Genogrammarbeit und der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Die visuelle Analyse
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Netzwerkanalyse habe ich bereits beschrieben. In der von mir durchgeführten Form erläutern die Klientinnen in der Regel bereits während des Zeichnens, um welche Personen es sich handelt. Das Genogramm wird von den Klienten (in Anwesenheit des Beraters) »gezeichnet« und beschriftet, das heißt, die grafischen Anordnungen werden von den Klienten vorgenommen. Die Namen, Geburtsund Todesdaten, Daten der Eheschließungen und -scheidungen und eventuelle besondere Kennzeichen werden ebenfalls von den Klienten eingetragen. Durch den Gebrauch von Farben kann das Genogramm differenzierter und plastischer gestaltet werden. Im Anschluss wird erörtert, was sich in der zeichnerischen Darstellung des Klienten ausdrücken könnte. Gemeinsam werden so familiäre Substitute, Mythen, Koalitionen, Delegationen und Hierarchien analysiert, um Hypothesen über mögliche mehrgenerationale Wiederholungen zu bilden. Der Fokus liegt zudem auf der Exploration der familiären Beziehungen mit ihren Tabus, Koalitionen, Ängsten, Feindschaften usw. Dabei werden die Familie und ihre Umwelten in ihrem räumlich-zeitlichen Kontinuum betrachtet. In Paar- und Familientherapien kann das Genogramm von jedem Mitglied gezeichnet werden, um diese anschließend zu vergleichen. Hier ist oftmals aufschlussreich, welche Personen als zur Familie zugehörig erlebt werden und wer jeweils zum »Problemsystem« gehört. Eine visuelle Analyse (Beushausen, 2004) kann verschiedenste Aspekte aufnehmen und in die Kommunikation einbringen. Diese sollen anhand von Beispielen im Folgenden vorgestellt werden. Die visuelle Analyse erfolgt in der Regel über den ersten Gesamteindruck hin zu einer detaillierten Betrachtung. Dem Entstehungsprozess des Genogramms kommt eine Bedeutung zu. Es ist zu beachten, mit welcher Person, welchem Familienteil, begonnen wird. Die Sequenz der Zeichnung steht oftmals für eine Bedeutungshierarchie, das heißt, das erste gezeichnete Mitglied ist wahrscheinlich das »wichtigste«. Gleiches gilt für die »Äste« des Genogramms. Hierbei sind die Gewichtung und der Darstellungsstil des mütterlichen und väterlichen »Hauptastes des Stammbaums« zu beachten. Ein Beispiel findet sich in Abbildung 8.
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Die angewandten Methoden
Großvater
Großmutter
Vater
Bruder
Mutter Heike Tante
Abbildung 8: Heike
Die Abbildung weist auf ein deutliches Übergewicht der mütterlichen Seite hin. In dieser Zeichnung ist eine Person (der »durchgestrichene Bruder«) besonders gekennzeichnet. In diesem Fall weist dies auf die besondere Bedeutung dieser Person in der Familie hin. Symbole für Familienbeziehungen werden häufig »nicht zufällig« verändert. Dies können Mehrfachlinien, fette Linien oder Auslassungen (z. B. das Fehlen von Scheidungssymbolen) und anderes sein. Die »Tante« wurde, wie es »typischerweise ihrem Wesen entsprach«, mit dem männlichen Symbol gezeichnet. Diese Merkmale und Verwechselungen verdienen besondere Aufmerksamkeit. Wird ein Symbol für das Kind zwischen die Symbole der Eltern gemalt, kann dies auf eine Parentifizierung hinweisen. Die Art der Zeichnung kann auch Aufschluss über die Ausgestaltung der Familienrollen, Familienaufgaben, der hierarchischen Verhältnisse, der Paarbeziehungen und deren Strukturen sowie der Geschlechterrollen geben. In den grafischen Darstellungen werden Subsegmente häufig vergrößert oder verkleinert eingezeichnet bzw. an den Rand gestellt. »Verdopplungen« oder andere besondere Markierungen einer Person oder einer Beziehung in der Zeichnung können wichtige Hinweise geben. Im folgenden Beispiel ist die Mutter dreimal größer als alle anderen Personen gezeichnet (Abbildung 9).
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Die visuelle Analyse
Vater
Mutter Almut
Abbildung 9: Almut
Zugleich thematisiert die Klientin in der Zeichnung ihre Isolation in der Familie. Sie malt sich ohne eine Verbindungslinie in einem großen Abstand zu den anderen Familienmitgliedern in eine Ecke des Blattes. Wie in diesem Beispiel können auch »Lücken« im Genogramm Hinweise auf brisante emotionale Themen sein. Beispielsweise wurde von Almut ein Bruder »vergessen«. Häufig löst das Betrachten des Genogramms Assoziationen und bildhafte Metaphern aus. Mit diesen Assoziationen können wichtige familiäre Themen und Traditionen wahrgenommen und in das Gespräch gebracht werden (Heinl, 1987). Beispiele: die Familie in der Metapher eines Spinnennetzes, eines Dampfers oder einer Lokomotive. Im Genogramm spiegelt sich oftmals die Beziehung zwischen den Generationsebenen im unterschiedlichen vertikalen Abstand wider. Der Abstand auf der horizontalen Ebene im Bild stellt in der Regel symbolisch Nähe und Distanz zwischen den Familienmitgliedern dar und kennzeichnet so eine Nähe-Distanz-Problematik. Manchmal werden auch Teile der Familien im Genogramm nicht miteinander verbunden. Auch dies kann ein Hinweis auf eine besondere Distanz oder einen Streit sein. Mit der Zeichnung von Silke soll ein Beispiel vorgestellt werden, wie sich eine Nähe-Distanz-Problematik auch ausdrücken kann (Abbildung 10). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
Ilse
+4
+3
Hilde
+2
Heinz
Vater
Mutter
Onkel
Silke
–2
+1
Abbildung 10: Silke
In diesem Genogramm sind auf der Elternebene die Abstände zwischen den Geschwistern gering. Von Vater und Mutter gehen Verbindungslinien zu den Söhnen (nebeneinander aufgereiht unter dem Vater) und zu den Schwestern, die der Mutter zugeordnet sind. Diese Zuordnung verdeutlicht visuell die »Aufteilung« der Geschwister innerhalb der Familie. Von der Klientin gehen keine Verbindungslinien zum Vater oder zur Mutter. Die Zeichnung lässt eine Verstrickung der Mutter in ihrem Familiensystem vermuten. Auf der elterlichen Geschwisterebene fehlt eine sich später als bedeutsam erweisende Namensbezeichnung bei der Schwester der Mutter. Die Symbole für Familienmitglieder werden manchmal individuell abgewandelt. Von Silke wurde ein Bruder der Mutter mit dem Frauensymbol gezeichnet. Mehrfach »passierte« es den Klientinnen auch, dass sie sich als ein Viereck, das heißt als einen Mann malten. Andere typische Abwandlungen der Symbole sind doppelte oder dreifache Darstellungen der gleichen Person, Auslassungen oder Akzentuierungen (z. B. besondere Betonung durch Größenvariationen und »Füllen« des Symbols). Ein typisches Merkmal familiärer Dysfunktionen, die Substitutsbildung, wird im folgenden Beispiel deutlich (Ausschnitt, Abbildung 11). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die visuelle Analyse
GV
GM
Vater
GM
Doris
Mutter
Abbildung 11: Doris
Doris beschreibt sich selbst als Gefährtin des Vaters (Ehegattensubstitut). Abschließend soll ein weitere Zeichnung (Abbildung 12) vorgestellt werden, in der sich das Lebensgefühl von Sigrid, der jüngsten Tochter – keinen Platz in der Familie zu haben und nicht erwünscht zu sein –, ausdrückt. Lebensgeschichtlich ist bedeutsam, dass der Bruder K. (vier Jahre früher geboren) im Alter von acht Monaten verstarb und sie sich als dessen »Ersatz« versteht. In der vertikalen Reihenfolge der Geschwister war auf dem Originalblatt kein Platz mehr, so dass sie sich an einen Bruder seitlich »dranhängte«. Manchmal werden auch andere Personen, zum Beispiel ein Ehepartner, »schief drangehängt«. Auch dies kann ein Anstoß sein, über die Position dieses Familienmitgliedes näher nachzudenken. Die visuelle Analyse bietet somit eine zusätzliche Hilfestellung bei der Hypothesenerstellung sowie eine weitere Zugangsmöglichkeit zum Klienten und seiner Konstruktion des familialen Geschehens. In der zeichnerischen Darstellung können sich bedeutsame und relevante Informationen über die »Gestalt der Ursprungsfamilie« (Heinl, 1987) ausdrücken. Oftmals weist die visuelle Analyse auf © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Die angewandten Methoden
V
M
B
H
D
K
Sigrid
Abbildung 12: Sigrid (Ausschnitt)
besonders relevante Themen hin, die »schnell« und prägnant ins Gespräch gebracht werden können. Die von den Klienten selbst gezeichneten Genogramme geben zusätzliche Hinweise auf individuelle psychodynamische und familiendynamische Themen. Sie tragen so zu einer Erweiterung der diagnostischen und therapeutischen Perspektive bei. Dieses kreative, gestalterische Mittel unterstützt den Bewusstseinsprozess und führt zu neuen Sichtweisen. Die visuelle Analyse bietet die Möglichkeit, vielfältige Informationen über familiäre Beziehungen und Strukturen effektiv und plastisch zu erheben. Die kreative Arbeitsweise mit diesem darstellenden Mittel fördert den Interaktionsprozess des Wahrnehmens und Verstehens. Durch die Transformation vom »Unbewussten« ins Gespräch werden mit diesem Medium Perspektiven ermöglicht, mit denen neue Einstellungen, emotionale Zugänge, Handlungen und Hinweise für die Zukunft entdeckt werden können. Dieser Ansatz würdigt die schöpferische Kraft, die in der visuellen Darstellung enthalten ist, und investiert diese Ressourcen für kreative © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Die visuelle Analyse
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Lösungen im Wachstumsprozess der Klienten. Wie die Beispiele zeigen, erweitert sich durch die persönliche zeichnerische Gestaltung des Genogramms einerseits der individuell ausschöpfbare Spielraum für die Klienten und andererseits die Interpretationsmöglichkeiten der Therapeuten. Die visuelle Analyse eines Genogramms bietet, wie dargestellt, weitaus mehr Möglichkeiten der Betrachtung und Hypothesenbildung als üblicherweise in der Literatur beschrieben. Grenzen dieser Methodik zeigen sich in der Praxis mehrfach in der Arbeit mit Jugendlichen, die die Methodik »zu blöd« finden, oder bei Personen mit einem sehr geringen Reflexionsvermögen. In solchen Fällen sind andere Methoden (z. B. die Zeichnung eines »sozialen Atoms«) vorzuziehen.
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6 Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
6.1 Anmerkungen zum Umgang mit dem Manual Um das Manual, das Sie unter 6.4 finden, zu erstellen, waren mögliche Kriterien und Fragestellungen zu systematisieren und alle wichtigen gesellschaftlichen Funktionssysteme und Lebenswelten mit ihren verschiedenen Codes zu integrieren. Dies führte zunächst zu einer enormen Fülle von möglichen Kriterien (60 Seiten unter Verwendung von Vorlagen von Kaiser, 1989; Beushausen, 2002; Pantucek, 2008; Küfner et al., 2006; Menzel, 2010, und Herringer, 2006), die dann in ihrer Komplexität reduziert werden mussten. In der vorliegenden Version ließ sich schließlich der Umfang auf 13 Seiten reduzieren. Zur Erläuterung der einzelnen Punkte wurden ergänzende Kommentare eingefügt, die in der Downloadversion (Zugriff unter www.v-r.de/ genogrammanalyse) sichtbar sind. Da die Schwerpunkte der Genogrammanalyse im Einzelfall unterschiedlich sind und zum Beispiel von der speziellen Fragestellung, der aktuellen Situation des Klienten oder dem zur Verfügung stehenden Zeitbudget abhängen, wurden in keinem Fall alle im Manual aufgeführten Kriterien abgefragt. Auch wenn in der Praxis regelhaft nicht alle Lebensbereiche besprochen werden können, ist es wichtig, mit dem Manual mögliche Blickwinkel sehr weit zu öffnen, um Raum für vielfältige Lebenssituationen und Fragestellungen zu geben. Zudem soll das vorgestellte Manual in vielen psychosozialen Arbeitsbereichen einsetzbar sein. Die Beschreibung der beispielhaften Genogramme beginnt jeweils mit einer kurzen visuellen Analyse. Die Namen und wichtigsten Daten der Klienten wurden anonymisiert.
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Das Genogramm von Frau M.
6.2 Das Genogramm von Frau M.
Frau M.
Anlass für die Therapie ist eine Bulimie der dreißigjährigen Klientin. Die visuelle Analyse (Abbildung 13) stellt die problematische Beziehung von Frau M. zur Mutter und von dieser zur Großmutter in den Mittelpunkt. Auffällig ist die große Distanz zwischen den
Abbildung 13: Das Genogramm von Frau M. (Ausschnitt)
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Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
Eltern (die im Gespräch bestätigt wird). Der Bruder, der »wenig in der Familie auffiel« und von Frau M. »versorgt« wurde, schließt in der Zeichnung an Frau M. an. Großeltern väterlicherseits: Die Großmutter verstarb 1990. Frau M. schildert, dass ihre Oma sehr fromm gewesen sei. Diese habe neun Geschwister gehabt. In Omas Familie sei der jüngste Bruder, der »trinken« würde sowie »Spielschulden, Scheidungen und Ähnliches« gehabt habe, das »schwarze Schaf« der Familie gewesen. Ihr Großvater sei verstorben, als Frau M. ein oder zwei Jahre alt war. Die Oma sei im Leben »gut klar gekommen«. Frau M. habe sich zu ihr mehr Kontakt gewünscht, es habe jedoch nie geklappt. Diese Familie sei »sehr arm, aber sehr fromm und sehr in sich gekehrt« gewesen. Ihr Leben lang hätten sie »viel zu kämpfen« gehabt. Die Familie sei sehr musikalisch gewesen. Familiäres Geheimnis sei, dass der Großvater vermutlich Alkoholiker gewesen sei. Großeltern mütterlicherseits: Dieser Großvater verstarb, als Frau M. fünf Jahre alt war. Er sei in ihren ersten Lebensjahren viel für sie dagewesen. Für sie sei dieser Großvater sehr wichtig gewesen, bei ihm habe sie keine Angst gehabt. Als kleines Kind habe sie die Großmutter gern gemocht. Die Großmutter habe sich sehr um einen Onkel gekümmert, der viel Ärger gemacht habe, getrunken habe und sich habe scheiden lassen. In dieser Familie würden noch weitere Kinder trinken. Die Großmutter habe Asthma und »Krankheiten mit psychosomatischen Anteilen« gehabt. Sie sei depressiv gewesen. Nach Ansicht von Frau M. habe sie diese Krankheiten als Druckmittel in der Familie eingesetzt. Ihre Mutter sei immer »fix und fertig« gewesen, wenn sie wöchentlich zu ihr fuhr, um im Haushalt zu helfen. In der Ehe der Großeltern sei die Großmutter dominant gewesen. Vater: Ihren Vater beschreibt sie als sehr fromm, klug, geschickt, zuverlässig. Er könne sich gut durchsetzen; sei auch ängstlich und gesellig. Er ließe sich oft ausnutzen. Inzwischen ginge es ihm sehr gut. In seinem Leben habe er viel gearbeitet. In einem KFZ-Betrieb sei er Meister gewesen. Früher habe er wenig Selbstbewusstsein gehabt, dies habe er sich später erst erkämpft. Insgesamt sei er mit seinem Leben zufrieden. Das Verhältnis zu ihm schildert sie wie folgt: Er habe ihr viel verboten und sie immer bestraft, wenn sie sich schlecht betrug. Zur Strafe habe er sie häufiger geschlagen, sei jedoch auch liebevoll und zärtlich zu ihr gewesen. Für den Vater sei wichtig gewesen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Das Genogramm von Frau M.
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dass Frau M. hübsch angezogen sei, niedlich sei und nicht ausflippe. Häufig hätten andere Personen zwischen ihr und ihm gestanden. Frau M. habe heute zu ihm wenig Kontakt. Mutter: Frau M. schildert, ihre Mutter habe sich nicht von ihrer Mutter gelöst, sie würde sich heute noch aufregen, wenn sie »bei Oma war«. Für die Mutter sei der Opa sehr wichtig gewesen. In dieser Familie hätten die Brüder »es zu nichts gebracht«. Die Mutter habe ein Gefühl des Mitleids mit ihrem nächstälteren Bruder, diesem gegenüber sei der Großvater oft sehr aggressiv gewesen. Die Mutter sei der Liebling des Großvaters gewesen, während die beiden Brüder viel von ihrer Oma bekommen hätten. Frau M. beschreibt ihre Mutter als zuverlässig, fleißig, oft wütend, aufbrausend, ängstlich, ordentlich und genau. Sie sei oft traurig gewesen, habe oft geklagt und sich nicht gegen ihre Eltern durchsetzen können, sie habe sehr viel gearbeitet und gut mit Geld umgehen können. Frau M.s Mutter habe dreimal versucht sich zu suizidieren. Das Verhältnis zu ihr beschreibt sie wie folgt: Die Mutter habe oft große Angst um sie gehabt, ihr viele Vorschriften gemacht und peinlich auf deren Einhaltung geachtet. Oft habe sie ihr etwas verboten und ständig etwas an ihr etwas auszusetzen gehabt. Sie habe ihr das Gefühl gegeben, sie nicht mehr zu lieben, wenn sie etwas Verkehrtes getan habe; sie habe dann oft hart und verständnislos reagiert und sie häufig angeschrien. Sie sei oft kalt und feindselig gewesen und habe ihren Ärger an ihr ausgelassen. Die Mutter sei sehr mit sich selbst und ihrer Hausarbeit beschäftigt gewesen. An ihr könne sie kaum etwas Gutes entdecken. Ehe der Eltern: In der Ehe sei, ebenso wie bei den Großeltern, die Mutter dominant, obwohl »eigentlich der Vater der Überlegene sei«, er sich jedoch anpassen würde. Die Mutter habe häufig gelitten und sich als so schwach dargestellt, dass sie mit diesem Verhalten einen entscheidenden Einfluss gewonnen habe. Konflikte seien so geregelt worden, dass »Vater auf den Tisch haute und Mutter sich schwach machte«. Letztlich habe keiner etwas erreicht und jeder habe das gemacht, was er/sie für richtig hielt. Geschwister: Der Bruder ist ein gutes Jahr jünger. In der Familie falle er nicht auf. Er habe nach ihrer Ansicht keine psychischen Probleme. Ihr Gefühl zu ihm sei sehr ambivalent. In der Kindheit seien sie Verbündete gewesen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
Kontakte zu Bekannten, Nachbarn und Freunden hätte es sehr wenig gegeben. Sie hätten abseits von anderen Häusern gewohnt. Essen und Körper: Aktuelles Mittel zur Minderung des Gewichts ist für Frau M. Fasten und Erbrechen, früher auch Diäten und Klistiere. Vermehrt habe sie nach der Trennung von einem Freund erbrochen, sonst bei den vielfältigsten Situationen. Als Kind habe sie Übergewicht gehabt. Mit dem Essen verbindet Frau M. Harmonie und Kommunikation. In der Familie sei sehr bewusst und langsam gegessen worden. Schon als Kind sei sie »vor zu viel Essen« gewarnt worden. Andererseits sei gemahnt worden: »Kind, du musst doch was essen.« Auch ihre Mutter fühle sich zu dick, »da sei sie eitel«. Die Großmutter mütterlicherseits lege ebenfalls großen Wert darauf, schlank zu sein. Für die Männer sei dies kein Thema. Immer wieder habe sie sich selbst (»um Druck abzulassen«) mit einem Messer an den Beinen geritzt. Wohnung: In der Kindheit zog die Familie siebenmal um. Kindheit: Der Geburtsverlauf zeigte keine Besonderheiten. Als Kind habe sie häufig Fingernägel gekaut. Sie habe »Schulleistungsstörungen« gehabt, die Motorik sei beim Schreiben verlangsamt gewesen. In ihrer Kindheit habe sie viele Krankheiten, unter anderem Eiterflechte, Bauchschmerzen mit unklaren Befunden und häufig Angina gehabt. Von ihrer Familie habe sie in Bezug auf die Schule wenig Unterstützung erhalten. Wichtig sei gewesen, dass es dort keine Probleme gab. Sie habe Angst vor den Lehrern gehabt. Ihr Berufswunsch, wie die Mutter Krankenschwester zu werden, sei von den Eltern nicht unterstützt worden. Frau M. habe die Verbote der Eltern umgangen, später habe sie offen rebelliert. In ihrer Familie sei es in sexuellen Dingen sehr schamhaft zugegangen. Aufgeklärt worden sei sie durch die Schule und ihren Vater im Alter von zehn Jahren. Als Siebenjährige sei es zu »sexuellen Kontakten« mit einem gleichaltrigen Freund gekommen, der ihre Grenzen »deutlich missachtet« habe. Sie sei sich unsicher, ob sie dies als sexuelle Gewalt klassifizieren solle. Auch später habe sie häufiger sexuelle Kontakte gehabt, obwohl sie eigentlich keine Lust gehabt habe. Sie habe heute sexuelle Probleme. Zu Männern habe sie kurzzeitige Beziehungen gehabt. In ihrer Jugendzeit habe sie häufiger Haschisch, zeitweise auch Schmerzmittel genommen. Sie gibt an, dass sie häufiger Dinge kaufen würde, die sie gar nicht brauche. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Das Genogramm von Frau M.
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Selbsteinschätzung: Insgesamt sei sie mit sich selbst sehr unzufrieden. Sie könne schlecht Nähe zulassen, sich fallenlassen, Freude und Glück empfinden, Beziehungen aufrechterhalten, Aggressionen zeigen und sich entspannen. Tabus: Ein Tabu in der Familie sei die Sexualität gewesen; insbesondere für die Mutter sei Sexualität etwas Schlimmes und etwas, das keinen Spaß mache. Die familiale Struktur: Koalitionen hätte es zwischen Frau M. und ihrem Bruder und zwischen Frau M. und ihrer Mutter (gegen den Vater) gegeben. Heute seien die Eltern gegen Frau M. verbündet. Wie ein Onkel sei sie das »schwarze Schaf« der Familie. Als Kind sei ihre Mutter sehr hilfsbedürftig gewesen. Diese, ihr Bruder und Frau M. hätten sich aus den Familien schlecht ablösen können. Frau M. beschreibt, sie sei für ihre Mutter ein Substitut für einen Ehegatten gewesen. Zeitweise habe sie für die Mutter wie für eine »Freundin gesorgt«. Leistung sei nicht so wichtig gewesen, Hauptsache, in »der Schule war es in Ordnung«. Wie ihr Vater habe sie immer sehr viel gearbeitet, wie er habe sie Schwierigkeiten, sich auf der Arbeit (Verkäuferin) durchzusetzen. Kontakte zu Bekannten, Nachbarn und Freunden hätte sie, wie die Eltern und der Bruder, nur sehr wenige. In der Freizeit beschäftige sie sich allein. Sie könne Gitarre spielen. Die Beherrschung des Musikinstrumentes habe sie allein gelernt. Psychisch sei sie nur wenig belastbar. Den ganzen Tag zu arbeiten, falle ihr sehr schwer. Frau M. ist seit einem Jahr arbeitslos. Sie habe dann in einer Gärtnerei gearbeitet. Dort sei sie gemobbt worden. Arbeitslosengeld habe sie erst nach einigen Monaten beantragt. Sie könne nicht erklären, wieso sie dies erst so spät getan habe. Eine Freundin habe sie nicht. Auch sonst habe sie wenige Kontakte. Frau M. berichtet, kein Vorbild für ihre Geschlechtsrolle gehabt zu haben. Frauen hätten für sie nichts allein gekonnt, würden immer nur leiden, hätten es schwer, machten sich Sorgen und müssten sich benehmen. Kommentar: Die Beziehungen in der Familie sind meines Erachtens einerseits verstrickt, andererseits wird mit Ausschluss reagiert. Die Anpassungsfähigkeit an neue Situationen ist gering. Die Teilhabe am Arbeitsleben und bezüglich der sozialen Kon© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
takte ist eingeschränkt. Problembereiche liegen insbesondere in der Kommunikation, in der Selbstisolierung, der fehlenden Vernetzung und in der negativen Selbsteinschätzung. Beratungsbedarf besteht auch bei sozialrechtlichen Fragen (Arbeitslosigkeit).
6.3 Das Genogramm von Herrn D. Herr D. ist 1970 geboren, der Anlass für die Beratung ist ein Rückfall nach einer stationären Suchtbehandlung.
Vater Mutter Bruder Herr D.
Schwester
Exfreundin
Kumpel
Abbildung 14: Zeichnung des Netzwerkes von Herrn D.
Visuelle Analyse des Netzwerkes (Abbildung 14): Herr D. malt den zwei Jahre jüngeren Bruder neben den Vater und sich sehr eng neben die Mutter. Die Mutter ist größer als die anderen Personen dargestellt. Die Schwester steht zwischen den Geschwistern. An außerfamiliären Kontakten werden eine »Exfreundin« und ein »Kumpel« eingezeichnet. Nur wenige Beziehungen werden durch einen Pfeil markiert. Dies sind Hinweise auf die von dem Klienten betätigten geringen sozialen Kontakte. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Das Genogramm von Herrn D.
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Die von Herrn D. angefertigte Zeichnung wird hier nicht vorgestellt, sondern eine von mir angefertigte Skizze (Abbildung 15). Herr D. »hängte« in seiner Zeichnung die Angehörigen »willkürlich« an andere Personen, so dass der Leser die Familienverhältnisse ohne nähere Erklärungen nicht verstehen kann. Besonders markiert wurde in dieser Zeichnung mit einem »A« die auffällige Häufung der männlichen Verwandten mit einem erheblichen Alkoholkonsum oder einer Alkoholabhängigkeit. Angaben zur Mutter: Die Mutter hatte zehn Geschwister, hat jedoch zu diesen, obwohl die meisten in demselben Dorf wohnten, in der Kindheit von Herrn B. wenig Kontakt. Die Mutter, heute 76 Jahre alt, sei für ihn die wichtigste Person. Sie hätten sehr viel Nähe und eine »Superbeziehung«. Mutter sei die Einzige, die immer zu ihm gehalten habe. Als Kind habe sie bei ihren Eltern »nichts gedurft«, sie hätte eine sehr schwere Kindheit gehabt. Großeltern der Mutter: Ihr Vater und ihre Mutter seien im gleichen Jahr gestorben, als sie elf Jahre alt war. Nach dem Tod der Eltern lebte sie in ärmlichen Verhältnissen bei Verwandten. Später arbeitete sie als Hauswirtschafterin und in einer Fabrik. Vater: Zu diesem habe er eine nicht ganz so gute Beziehung. Vater sei früher rechthaberisch gewesen. Die Mutter habe es ihm immer recht machen wollen, sie habe ihn immer unterstützt. Er sei aufgewachsen bei seinem Opa, einem Schäfer. Seine Mutter sei früh verstorben, als er acht Jahre alt war. Er sei dann zunächst ins Heim gekommen. Der Vater sei früher LKW-Fahrer gewesen. Insbesondere früher sei der Vater sehr geizig gewesen. Sie hätten kein Telefon und kein Auto haben dürfen, auch Bus durfte nicht gefahren werden. Der Vater habe »sehr gerne Alkohol getrunken«, sei bei der Feuerwehr gewesen, habe auch tagsüber als LKW-Fahrer bereits morgens Alkohol getrunken. Er sei gelernter Bäcker. Es habe körperliche Auseinandersetzungen mit Mutter gegeben. Der Vater habe nicht erkannt, dass er suchtkrank sei. Er habe vor zwölf Jahren nach einem Führerscheinverlust entschieden, nicht mehr zu trinken, und würde dies bis heute bis auf gelegentlichen Genuss von Alkohol durchhalten. Heute sei der Vater etwas zugänglicher als früher. In Gesprächen würden sie sich gegenseitig abwerten und eine »negative Kommunikation« ritualisieren. Der Vater würde dem Bruder mehr zutrauen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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+2 A 8 15?
+1
+4 +5 +8 +12 A +13 A
+10
† †
†
+9 A
†
+6 A
†
†
+2
A
†
+1 A
M
†
H.D. A
†
5
V A
†
+3
A
†
Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
Abbildung 15: Das Genogramm von Herrn D.
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Das Genogramm von Herrn D.
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Großeltern des Vaters: Der Großvater war im Krieg, er hatte einen Splitter in der Lunge. Nach der Gefangenschaft habe er neu geheiratet. Diese Frau sei eine »Hexe« gewesen, zu der Herr D. nur wenig Kontakt gehabt hätte. Bruder: Im Gegensatz zu ihm, einem »ruhigeren Typen«, sei der Bruder eher ein »Randaletyp«. Er habe oft Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Tragisch sei gewesen, dass er unschuldig zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen hätte, weil er verdächtigt worden sei, ein Haus angezündet zu haben. Später habe sich herausgestellt, dass ganz andere Personen die Täter waren. Am Ende der Haftzeit habe er ihn erstmalig nach zehn Jahren wieder gesehen und in der Haft besucht. Der Bruder habe ebenfalls massiv Alkohol getrunken und eine Entwöhnungsbehandlung absolviert. Er lebe heute abstinent. Dieser sei immer »Papas Sohn« gewesen und seine handwerklichen Fähigkeiten seien sehr von diesem geschätzt worden. Der Bruder habe eine Partnerin (Krankenschwester), die schrecklich sei. Sie würde nur auf dem Sofa sitzen und versuchen, die Familie auseinanderzubringen. Der Bruder sei von dieser Partnerin abhängig. Schwester: Diese habe den Bruder im Gefängnis nicht besucht. Immer wieder hätte es zwischen den Geschwistern Kontaktabbrüche gegeben. Aktuell habe er mit der Schwester keinen Kontakt, weil seine Schwägerin ihr mitgeteilt habe, dass er einen Rückfall gehabt habe. Sie habe daher mit ihm nicht sprechen wollen. Die ein Jahr ältere Schwester habe nach einem Suizidversuch längere Zeit in einer Klinik verbracht. Sie sei ein »Dickkopf«, ein »Malochertyp«, sie habe zweimal geheiratet und lebe jetzt allein mit einer 15-jährigen Tochter. Seit drei Jahren habe sie den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, sie habe zurzeit Streit mit dem gemeinsamen Bruder. Insgesamt, so Herr D., hätten sich die Partner häufig zwischen die Familie gedrängt. Eine weitere wichtige Person sei eine Tante (ältere Schwester der Mutter). Diese sei die Einzige, die ihn unterstützt habe. Sie verstarb 2011. Neben dem Bruder haben drei Onkel und zwei Cousins Alkoholprobleme. Zwei Cousins seien daran verstorben. Auch der Mann der Schwester des Vaters würde trinken. In der gesamten Familie sei »klar gewesen, dass Alkoholtrinken zum Mann«-Sein gehört. Kindheit: Herr D. berichtet, dass er als Kind nicht viel durfte. Zum Beispiel habe er mit 16 Jahren noch immer direkt nach der Schule © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
nach Hause kommen müssen. Mit seinen Geschwistern käme er nicht zurecht. Mit den Eltern sei er nie im Urlaub gewesen, einmal seien sie im Zoo gewesen. Die Eltern seien sehr konservativ. Die drei Kinder hätten nicht viel machen dürfen. Die Eltern seien sehr sparsam gewesen, manchmal habe er darunter gelitten. »Ich war immer der Kleinste. Wir haben in einem kleinen Kaff gewohnt. Ich hatte wenig Kontakt zu anderen Kindern, war ein bisschen ängstlich. Weil ich immer der Kleinste war, wurde ich nicht richtig akzeptiert.« Seit der Abstinenz von Vater und Bruder hätte die Familie den Kontakt zu anderen Familienangehörigen auf das Minimum reduziert. Insgesamt zeigt sich hier das Gesamtthema »Wir reden nicht drüber«. Auch zur Mutter dürfe nicht gesagt werden, dass Vater früher viel Alkohol getrunken habe, denn sonst würde Kontaktabbruch drohen. Insgesamt würden Konflikte in der Familie nicht verbal geklärt, sondern es werde mit Eskalation oder Kontaktabbruch reagiert. Partnerschaften: »Mit Freundinnen ging es mit 21 Jahren los.« Mit der ersten Partnerin Sabine habe er eine zehnjährige Beziehung gehabt. Diese Beziehung sei auseinandergegangen, da seine Partnerin mit seinem besten Freund zusammen gekommen sei. Beide hätten in demselben Hotel gearbeitet. Auch seine spätere Exfrau habe er im Betrieb kennen gelernt, sie habe »klasse« ausgesehen, er sei schnell eine Beziehung eingegangen. Diese Frau sei schnell schwanger geworden, so dass sie auch schnell geheiratet hätten. Nach kurzer Zeit habe sich herausgestellt, dass sie sehr dominierend, rechthaberisch, stur und streng gegenüber den Kindern gewesen sei. Ihm gegenüber sei sie sehr abweisend gewesen. Er habe dies »durchgehen lassen«. Durch Zufall habe er erfahren, dass bei der Partnerin ein Gerichtsverfahren anstehe (Teilnahme bei einem Überfall). Während die Mittäter zu hohen Strafen verurteilt worden seien, habe sie selber eine mehrjährige Bewährungsstrafe erhalten. Die Partnerin habe ihm später gesagt, sie habe ihn nur geheiratet, damit sie nicht ins Gefängnis müsse. Herr D. gab an, »ein wenig das Gefühl zu haben, in der Beziehung benutzt worden zu sein«. Kinder: »Ich würde gern zu den Kindern Kontakt haben, aber meine Frau will das nicht. Mit dem Jugendamt, da habe ich keinen Bock drauf. Meine Frau beeinflusst die Kinder. Meine Tochter hat am Telefon gesagt: ›Kapierst du nicht, wir wollen nichts mehr mit dir zu tun haben!‹ Mein Sohn hat gesagt: ›Wir haben einen neuen Papa.‹« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
Das Genogramm von Herrn D.
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Herr D. gibt an, dass er wieder Kontakt zu den Kindern möchte, er jedoch auch Angst davor habe, den Kontakt aufzunehmen. Eine dritte Partnerin (alkohol- und medikamentenabhängig mit massiven Selbstverletzungen) lernte er 2007 bei einem Klinikaufenthalt kennen, er sei mit ihr ein Jahr zusammen gewesen, er sei sehr verliebt gewesen. Diese Partnerin habe jedoch sehr viele schlechte Erfahrungen mit Männern gehabt. Dies habe die Weiterführung der Partnerschaft nicht möglich gemacht. Aktuell wünsche er sich eine neue Beziehung. Anmerkungen zur familiären Funktionstüchtigkeit: Vater und Sohn werten sich gegenseitig ab. Sie ritualisieren eine negative Kommunikation. Möglicherweise wird eine Rivalität zwischen den Söhnen weitergeführt (Vater würde dem Bruder mehr zutrauen). Mutter bildete über Jahre mit dem Sohn eine Koalition gegen den Vater (möglicherweise Ehegattensubstitut). Es stellt sich hypothetisch die Frage, ob sich Beziehungskonstellationen aus der Familie der Mutter wiederholen. Für eine nähere Bewertung liegen keine ausreichenden Informationen vor. Seit der Abstinenz von Vater und Bruder hätten die Familienmitglieder den Kontakt zu anderen Familienangehörigen auf das Minimum reduziert. Insgesamt zeigt sich in der gesamten Familie ein Kommunikationsproblem: »Wir reden nicht drüber.« Konflikte werden nicht verbal geklärt, sondern es wird mit Eskalation oder Kontaktabbruch reagiert. Angaben zur Suchtanamnese: Einen ersten problematischen Alkoholkonsum gab es mit 17, 18 Jahren. »Danach war ich in der Gastronomie als Koch tätig, da wird abends mit Kollegen zusammen getrunken. Als ich bei der Bundeswehr war, wurde es dann weniger. Später, im Beruf als Koch, als ich in die Ferne ging, habe ich erst in Maßen getrunken, aber dann wurde es immer mehr. Zum Schluss täglich. Zu Glanzzeiten habe ich so 15 bis 20 halbe Liter Bier getrunken. Ich habe nur Bier getrunken, was anderes trinke ich nicht. 2004 oder 2005 war die erste Therapie. In der Ehe habe ich schon getrunken, aber nicht so viel wie nachher. Sie hat gesagt: Trink nicht so viel. Mit dem Trinken hatte es sicher auch zu tun, dass es zur Trennung kam. Nach der ersten Therapie dachte ich, ich könnte ›kontrolliert weiter trinken‹. Nach der zweiten Therapie hat mich dann meine Partnerin verlassen und ab da habe ich nur noch durchgetrunken. Als sie mich rausgeschmissen hat, habe ich sehr viel getrunken.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen
Suchtfolgeerkrankungen: »Die Leber ist angeschlagen und ich bekomme Krampfanfälle.« Krankheitsverständnis und -verarbeitung: »Alkoholiker bin ich. Ich versuche seit der ersten Therapie 2004 aufzuhören. Da habe ich es noch nicht so geglaubt. Jetzt ist es aber komplett anders. Ich steh dazu, dass ich Alkoholiker bin.« Beruf: Herr D. ist seit Juni 2010 arbeitslos. Er ist von Beruf Koch, arbeitete zuletzt in anderen Bereichen. Er bezieht Hartz IV. Er hat circa 25.000 Euro Schulden. Eine Privatinsolvenz läuft. Aufgrund der Suchterkrankung ist die berufliche Teilhabe als Koch in Frage gestellt. Freizeit: Herr D. gab als Hobbys Mountainbike fahren und Fußball (passiv) an. Aktiv sei er seit Jahren nicht mehr gewesen. Internetzugang hat er zu Hause nicht. Herr D. gibt ein nur sehr geringes Interesse an Freizeitaktivitäten an, er habe »immer nur gearbeitet« und keine anderen Interessen. Ressourcen: Er sei hilfsbereit und in Haushaltsdingen fit. Funktionelle Einschränkungen: Es bestehen erhebliche Schulden, unter anderem ausstehende Unterhaltszahlungen, die die Arbeitsmotivation reduzieren. Die Aktivitäten/Teilhabe sind im sozialen Bereich eingeschränkt. Herr B. gehört keiner Partei, keinem Verein etc. an. Er hat keinen Bekanntenkreis. Die Mobilität ist eingeschränkt. Da kein Führerschein vorhanden ist, er wurde zum zweiten Mal im Jahr 2000 nach einer Trunkenheitsfahrt entzogen, ist es schwerer, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Körperlich hat Herr B. keine Probleme, sich selbst zu versorgen. Kommentar: Offensichtlich fällt es Herrn D. schwer, problematische Entwicklungen in seinen Partnerschaften wahrzunehmen. Eigene Anteile an konflikthaften Situationen nimmt er kaum wahr. Vermutlich ist er wenig in der Lage, sich die Folgen seines eigenen Verhaltens vorausschauend klar zu machen. In der Beziehung zu anderen Menschen fällt es ihm schwer, Nähe und Distanz angemessen zu regulieren. Herr D. scheint wenig in der Lage zu sein, konflikthafte Situationen angemessen zu bewältigen. Oftmals neigt er zum Rückzug, wobei er innere Spannungszustände nicht angemessen kompensieren kann.
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Das Manual
6.4 Das Manual Das im Folgenden vorgestellte Manual bietet einen Rahmen für die Erhebung des Genogramms und der Netzwerkanalyse. Das Manual dient zunächst der Gesprächsstrukturierung und erst in zweiter Linie der Datenerhebung. Bei der Anwendung des Manuals sind für jeden Klienten, da seine Situation und seine Lebenswelt einzigartig ist, jeweils Schwerpunkte der Analyse gemeinsam abzustimmen. Einfluss auf individuelle Schwerpunktsetzungen nehmen eine mögliche spezielle Fragestellung, eine aktuelle Situation des Klienten oder das zur Verfügung stehende Zeitbudget. In der Regel sind nicht alle im Manual aufgeführten Kriterien auszufüllen. In diesem Manual werden dennoch viele Kriterien aufgelistet, um möglichst viele Lebensbereiche anzusprechen und mögliche Blickwinkel sehr weit zu öffnen, um Raum für vielfältige Lebenssituationen und Fragestellungen zu geben. Zudem soll das vorgestellte Manual in vielen psychosozialen Arbeitsbereichen einsetzbar sein. Der Einsatz des Manuals in der ersten Phase einer Beratung/ Therapie/Begleitung ist in der Regel sinnvoll, da dies eine gute Möglichkeit der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens bietet. Vor dem Beginn der Analyse ist mit dem Klienten zu besprechen, welche Daten erhoben bzw. nicht erhoben werden sollen, mit welcher Zielsetzung dies geschehen soll und was mit den Daten in der Folgezeit passiert. Möglicherweise ist er über Schweigepflicht und Datensicherung zu informieren. Der Zeitaufwand wird sehr unterschiedlich sein, dieser kann von einer Stunde bis zu mehreren Stunden reichen. In einzelnen Fällen habe ich dem Klienten Teile des Manuals oder das ganze Manual vor dem Ausfüllen zur Verfügung gestellt. Manche Klienten wollen sich auf das Gespräch vorbereiten oder bereits einzelne Angaben eintragen. Das zum Buch gehörige interaktive Manual steht unter www.v-r. de/genogrammanalyse kostenlos zum Download zur Verfügung.
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse © Jürgen Beushausen
1 Klient und familiäres Umfeld Name:
Alter:
Mutter: Alter bei Geburt des Klienten
Alter bei Geburt 1. Kind
Vater: Alter bei Geburt des Klienten
Alter bei Geburt 1. Kind
Familienform (heute, früher):
Gegenwärtige Phase im Lebenszyklus:
Klient(in) hat überwiegend mit wem zusammengelebt, von wem wurde er/sie hauptsächlich erzogen?
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Zahl der jüngeren Brüder
Zahl der jüngeren Schwestern
Zahl der älteren Brüder
Zahl der älteren Schwestern
Geschwisterposition:
Klient(in)
Mutter
Vater
Oma mütterlicherseits
Opa mütterlicherseits
Oma väterlicherseits
Opa väterlicherseits
Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Charakterisierung der Angehörigen: Mutter:
Vater:
Großeltern (M):
Großeltern (V):
Sonstige Personen (Geschwister etc.):
Mit wem »Probleme«?
Zu wem eine enge Beziehung? Wer unterstützt wen?
Koalitionen, Substitute:
Familiäre Regeln:
Hierarchie:
Zusammenhalt in der Familie:
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Anpassungsfähigkeit der Familie:
Austausch von Emotionen:
Gegenseitige Bewertungen:
Vermächtnisse/Delegationen
Loyalitäten:
Tabus, Mythen, Geheimnisse:
Wie wurden die Geschlechterrollen gelebt?
Umgang mit Konflikten:
Welche Rollen wurden eingenommen? Klient(in): Partner(in): Mutter: Vater:
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Oma (M): Opa (M): Oma (V): Opa (V): Onkel, Tante: Welche Berufe haben die nächsten Angehörigen ausgeübt? Mutter: Vater: Großeltern (M): Großeltern (V): Gesellschaftlicher Status:
Berufswunsch:
Haben die Eltern diesen Wunsch unterstützt?
Familienatmosphäre gekennzeichnet durch:
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
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Beziehungen zu Gleichaltrigen außerhalb der Schule im Kindes- und Jugendalter:
Paardynamiken (eigene aktuelle und frühere, Eltern und andere Angehörige:
2 Gesundheit (Klient und andere Personen) Gesundheitszustand:
Physiologische Bedürfnisse:
Ernährung/Lebensmittelversorgung:
Unversehrtheit des Leibes; Größe, Gewicht, Kraft; Ausdauer:
Physische Attraktivität nach den geltenden Normen:
Bezug zum eigenen Körper/Leib:
Verfassung der Mutter während der Schwangerschaft (soweit sie bekannt ist):
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Geburtsverlauf:
Auffälligkeiten in der Kindheit:
Gesundheitszustand während der Kindheit und Jugend:
Chirurgische Operationen (welche und in welchem Alter?):
Suchtanamnese:
Sexualität:
Schwierigkeiten bei der Krankheitsbewältigung:
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Alkoholprobleme, -abhängigkeit Allergien Atemwege Augen Depression Diabetes Epilepsie Essstörungen Galle, Leber Glücksspiel häufige Erkältungen Hautleiden Herz, Kreislauf Kopf, Migräne Krebs
Klient(in)
Partner(in) Mutter
Vater
Oma (M)
Opa (M)
Oma (V)
Die folgenden Personen waren mit folgenden Krankheiten und Situationen konfrontiert: Opa (V)
sonstige Angehörige
Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
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Magen, Darm Medikamentenabhängigkeit Nieren/Blase Psychosen psychosomatische Erkrankungen Rheuma Rückenleiden Schlafstörungen Schlaganfall Schwangerschaftskomplikationen Suizidversuche
Klient(in)
Partner(in) Mutter
Vater
Oma (M)
Opa (M)
Oma (V)
Die folgenden Personen waren mit folgenden Krankheiten und Situationen konfrontiert: Opa (V)
sonstige Angehörige
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
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3 Klient und Arbeitswelt Teilhabe am Arbeitsleben:
Unklare/unzureichende berufliche Leistungsfähigkeit:
Probleme am Arbeitsplatz:
Fehlender Arbeitsplatz:
4 Inklusion in weitere Umwelten Rechtlich (straf- und zivilrechtlich) strafbare Handlungen:
Wohnung:
Erholung und Freizeit, Hobbys, Interessen:
Spirituelles und religiöses Leben, politisches Leben:
Probleme bei der Sicherung und Erschließung von Leistungsansprüchen des Gesundheitswesens:
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Armut/Geldverkehr:
Mobilität:
Bildung/Bildungsbereitschaft:
Zugehörigkeit zu Subkulturen:
5 Ressourcen Psychische Ressourcen:
Relationale Ressourcen – Beziehungsfähigkeit:
Kritikfähigkeit und Ambiguitätstoleranz in Lebenskrisen und belastenden Lebenslagen:
Veröffentlichungsbereitschaft:
Soziale Ressourcen/Netzwerke:
Ökonomische Ressourcen:
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
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Sonstige Ressourcen:
6 Lebenslagenbefund Orientierungsdiagnostik:
Diagnosen (ICD, ICF):
Risikolagendiagnostik:
Auffälligkeiten über Generationen im familiären System:
Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen:
Besteht eine eingeschränkte psychische Belastbarkeit?
Bestehen fehlende soziale Vernetzungen/fehlende Angehörige?
Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe?
Eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit, unzureichende Selbstversorgung?
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Manual zur Genogrammerstellung und Netzwerkanalyse
Mobilitätsprobleme:
Kommunikationsfertigkeiten:
Eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit/Einsichtsfähigkeit:
Probleme bei der Bewältigung des Alltags:
Ungesicherte medizinische/pflegerische, therapeutische, sozialarbeiterische Versorgung:
Medizinischer Rehabilitationsbedarf:
Besteht Beratungsbedarf zu persönlichen/sozialrechtlichen Themen?
Hypothesen zur Funktion des Symptoms:
Zu lösende Probleme:
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7 Literatur
Alt, C., Lange, A. (2009). Dauer von Armut und kindliche Entwicklung. Explorative Analysen mit dem DJI-Kinderpanel. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 4, 487–498. Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping. London u. San Francisco: Jossey-Bass. Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2007). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD–2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung (2. Aufl.). Bern: Hans Huber. Bateson, G. (1990). Ökologie des Geistes (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Becker, P. (2006). Gesundheit als Bedürfnisbefriedigung. Göttingen u. a.: Hogrefe. Bengel, J., Meinders-Lücking, F., Rottmann, N. (2009). Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen – Stand der Forschung zu psychosozialen Schutzfaktoren für Gesundheit. In Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, 35 (S. 167–182). Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Beushausen, J. (2003). Der familiäre Hintergrund von Klientinnen mit Essstörungen und stoffgebundenen Süchten – Multiple Süchte. Kontext, 34 (2), 135–153. Beushausen, J. (2004). Die visuelle Analyse des Genogramms. Kontext, 35 (2), 153–164. Beushausen, J. (2010). Ressourcenorientierte stabilisierende Interventionen. Kontext, 41 (4), 287–308. Bergmann, K. E., Bergmann, R. L., Ellert, U., Dudenhausen, J. W. (2007). Perinatale Einflussfaktoren auf die spätere Gesundheit. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 50 (5–6), 670–676. Bleckwedel, J. (2008). Systemische Therapie in Aktion. Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Böhnke, P. (2009). Facetten des Verarmens. Wie Armut Wohlbefinden, Gesundheit und Teilhabe beeinträchtigt. WZB-Mitteilungen, 123, 8–11. Boszormeyi-Nagy, I., Spark, G. M. (1981). Unsichtbare Bindungen. Stuttgart: Klett. Buber, M. (1958) Ich und du. Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Schneider.
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836
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Literatur
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Aus unserem Programm
Johannes Herwig-Lempp Ressourcenorientierte Teamarbeit
Wolf Ritscher Soziale Arbeit: systemisch
Systemische Praxis der kollegialen Beratung. Ein Lern- und Übungsbuch
Unter Mitarbeit von Jürgen Armbruster, Elsbeth Lay und Gabriele Rein. 2007. 180 Seiten mit 22 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49101-0
2. durchgesehene Auflage 2009. 253 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46197-6
Neben einer ganzen Reihe von vielfältigen, praxiserprobten Methoden der kollegialen Beratung wird auch gezeigt, wie Teams die Organisation ihrer Sitzungen effektiv gestalten können – sodass Teamsitzungen sogar spannend sein und Spaß machen können. Der Band ist als Lern- und Übungsbuch konzipiert, er lädt ein zum Experimentieren und Ausprobieren. Der Autor verweist auch auf die theoretischen Hintergründe seines Modells, deren Kenntnis für die praktische Umsetzung der Übungen jedoch nicht vorausgesetzt wird.
Ein Konzept und seine Anwendung
Ausgehend von den Grundannahmen über soziale Systeme entwirft Wolf Ritscher das Panorama einer systemisch orientierten Sozialen Arbeit unter Einschluss weiterer sozialarbeitswissenschaftlicher Theorien. Eingedenk gesellschaftlicher Kontexte Sozialer Arbeit und der systemischen Theorie entwickelt er Konzepte und Methoden, nicht ohne systemische Haltungen zu betonen, die als essentiell für einen gelungenen Hilfeprozess gelten. Im Weiteren werden Fallbeispiele aus der Jugendhilfe und der Gemeindepsychiatrie vorgestellt, die zeigen, wie hilfreich systemische Perspektiven für die Praxis sein können.
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Aus unserem Programm
Walter Milowiz Teufelskreis und Lebensweg Systemisch denken im sozialen Feld Mit einem Vorwort von Johannes HerwigLempp. 2. überarbeitete Auflage 2009. 224 Seiten mit 38 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-40158-3
Systemisch betrachtet werden Probleme in sozialen Konfliktlagen von allen Beteiligten – Betreuern, Institutionen, Familienmitgliedern – fortwährend neu erzeugt und bleiben so lange erhalten, wie die, die mit dem Problem zu tun haben, sich in gleicher Weise verhalten. Verändert aber eine Person ihr Verhalten, so ist der Auflösung des Problems Tür und Tor geöffnet. Neben den theoretischen Basics veranschaulichen Fallberichte den beraterischen Alltag der Sozialen Arbeit.
Alexander Korittko / Karl Heinz Pleyer Traumatischer Stress in der Familie Systemtherapeutische Lösungswege Mit Geleitworten von Wilhelm Rotthaus und Gerald Hüther. 2. Auflage 2011. 322 Seiten mit 8 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-40207-8
Traumatisierte Familien benötigen dringend Hilfe. Neue Lösungswege eröffnet die systemische Therapie in Verbindung mit der Traumatherapie. »Das Buch erweitert die Perspektive auf familiäre Interaktionsprozesse im Hinblick auf möglicherweise erlittenen traumatischen Stress und damit auch das Handlungsspektrum für therapeutische Zugänge. Sehr empfehlenswert!« Cornelia Tsirigotis, Zeitschrift für Systemische Therapie
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401835 — ISBN E-Book: 9783647401836