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German Pages 517 [520] Year 1998
Gemeinde und Staat im Alten Europa
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 25
R. Oldenbourg Verlag München 1998
Peter Blickle (Hrsg.)
Gemeinde und Staat im Alten Europa unter Mitarbeit von
Rosi Fuhrmann, Beat Hodler, Sibylle Hunziker, Beat Kümin und Andreas Würgler sowie Renate Blickle und André Holenstein
Redaktion Andreas Würgler
R. Oldenbourg Verlag München 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Historische Zeitschrift / Beihefte] Historische Zeitschrift. Beihefte. - München : Oldenbourg Früher Schriftenreihe. - Früher angezeigt u.d.T.: Historische Zeitschrift / Beiheft Reihe Beihefte zu: Historische Zeitschrift ISSN 0342-5363
N.F., Bd. 25. Gemeinde und Staat im alten Europa. - 1997
Gemeinde und Staat im alten Europa / Peter Blickle (Hrsg.). Unter Mitarb. von Rosi Fuhrmann ... - München : Oldenbourg, 1997 (Historische Zeitschrift : Beihefte ; N.F., Bd. 25) ISBN 3-486-64424-6
© 1998 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und die Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-64424-6
Inhalt Vorwort
IX
Einführung. M i t d e n G e m e i n d e n Staat m a c h e n . Von Peter 1. 2. 3. 4.
Blickte
Urban belt, rural belt und die Verbreitung kommunaler Strukturen Legitimitäten gemeindlicher Ordnung und das Problem des Staatszwecks Modalitäten der gemeindlichen Interessenvertretung „Gemeinde und Staat" - ein Integrationsmodell
1 3 8 12 18
Teil I G e m e i n d e und Staat - e i n e e u r o p ä i s c h e Erfahrung Doléances,
Requêtes
und Ordonnances.
Kommunale Einflußnahme
auf d e n Staat in Frankreich i m 16. Jahrhundert. Von Beat Hodler
23
1. Einführung 1.1. Einleitung 1.2. Forschungslage 1.2.1. Der Staat in der Ständedebatte (23); 1.2.2. Gemeindeforschung (28); 1.2.2.1. Frankreich als Société de Corps (28); 1.2.2.2. Stadt- und Landgemeinde als Corps (29) 1.3. Fragestellung 2. Kommunale Partizipation 2.1. Doléances - Ordonnances: Der Mechanismus des Ständestaats 2.1.1. Einleitende Beispiele: Vendômois und Essonnes (32); 2.1.2. Kommunale Doléances im Baillage von Chartres (36) 2.2. Partizipationsformen außerhalb der Etats Généraux 2.2.1. Etats Provinciaux (46); 2.2.2. Coutume (48); 2.2.3. Requêtes (53) 2.3. Fazit 3. Schluß
23 23 23
32 32 32
46 60 64
A m t s b e s c h w e r d e n , L a n d t a g s g r a v a m i n a und S u p p l i k a t i o n e n in Württemberg z w i s c h e n 1 5 5 0 und 1629. Von Rosi Fuhrmann
69
1. Forum Landtag 1.1. Das Beschwerderecht der württembergischen Landschaft 1.2. Rechtsetzung, Gesetzgebung und die Freiheiten der Landschaft 1.3. Gewälte und Repräsentation
71 72 85 97
2. Landtage, Ämtergravamina und Gesetzgebung nach 1550 2.1. Ämterrepräsentation und Landtagsausschüsse 2.2. Ämterbeschwerden auf Landtagen zwischen 1551 und 1629 2.2.1. Ämterumfragen - Anlaß, Verlauf und Wirkung ( 113); 2.2.2. Das Amt als Beschwerdeführer (119); 2.2.3. Die sogenannten Gravamina von Stadt und Amt (126)
105 106 111
VI
Inhalt
3. Die Resolution der Gravamina 3.1. Die Resolution als politische Lösung 3.2. Die Resolution als rechtliche Lösung 4. Zusammenfassung
129 130 143 146
Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800. Von Andreas Würgler
149
1. Einleitung: Thema und Fragestellung 2. Die Theorie: Gesetzgebung und Gesetz im 17. und 18. Jahrhundert in der Forschung 3. Die Institutionen: Landtag und Landesherr 4. Die Praxis: Politische Kommunikation in der ständischen Gesellschaft 4.1. Landkommunikationstag: Der Landtag von 1731 als Beispiel 4.1.1. Desideria und Landtagsabschied ( 171 ); 4.1.2. Desideria und Landesordnungen (179); 4.1.3. Desideria und Resolutionen (182) 4.2. Städtische Desideria und fürstliche Landesordnungen im 17. und 18. Jahrhundert 4.3. Politische Interessenartikulation der Untertanen außerhalb der Landtage . . 4.3.1. Landesverbesserungspunkte-. Die Enquête von 1731 (192); 4.3.2. Suppliken und Landesordnungen (196) 4.4. Der Wunsch nach Ordnung: Untertanen, Landstände und Gesetzgebung . . . 5. Ergebnisse und Thesen
149
203 206
Parish und Local Government. Die englische Kirchgemeinde als politische Institution 1350-1650. Von Beat Kümin
209
1. Kanonische Pflicht und Laieninitiative im Spätmittelalter 2. Die Pfarrei als Basis der staatlichen Lokalverwaltung
213 216
153 160 168 169
183 191
Teil II Die Formbarkeit des Staates - Experimente mit Suppliken Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Von Renate Blickle 1. Die weiße Stute der Gret Replin - zum Stand der Dinge 2. Laufen gen Hof - Skizzen zur zentralisierten spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis 3. Varianten rechtlicher Verfahren und eine Präsumtion für den „obersten Richter" im Land 4. Am Hof. Landesherr und Räte - die Organisierung des Regiments 5. Kontinuitäten - Supplikationen und Summarischer Prozeß in der frühen Neuzeit
241 241 245 255 259 265
Inhalt Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung. Von Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler...
VII
267
1. Forschungsstand und Fragestellung 2. Die Quellenvielfalt am Beispiel des Adressatenspektrums englischer Gemeindepetitionen 2.1. Kirchliche Amtsträger 2.2. Weltliche Adressaten 3. Supplikationen und frühmodemer Staat - Tendenzen im Herzogtum Württemberg 3.1. Die Legitimationsgrundlage 3.2. Das Supplikationsrecht 3.3. Das Supplikationsverfahren 4. Norm und Praxis des Supplizierens in Hessen(-Kassel) 4.1. Supplizieren nach der Norm: Das Verfahren aufgrund der Landesordnungen 4.2. Supplizieren in der Praxis: Fallbeispiele 5. Thesen zum Supplikationswesen 6. Forschungsdesiderate
273 274 276 287 291 293 296 304 306 313 319 321
Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey" in Gemeinde und Staat des Ancien R é g i m e am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach). Von André Holenstein
325
1. Einleitung 2. Der Gang nach Badenweiler - Sozialprofil, Anliegen und Erfolgsaussichten supplizierender Untertanen 3. Supplizieren und Gesetzgebung 4. Thesen
267
325 330 346 356
Teil III Gemeinde - eine Herausforderung der Theorie Gemeinde und Revolution. D i e kommunale Prägung der englischen Levellers. Von Beat Kümin
361
1. Die zeitgenössische Relevanz der Reformforderungen 2. Glaubensbekenntnis und politische Haltung 3. Die Modellfunktion der weltlichen Gemeinden
364 371 385
D i e ländliche Gemeinde in der juristischen Literatur 1 3 0 0 - 1 8 0 0 . Von Sibylle Hunziker
397
1. Einleitung 1.1. Das Römische Recht 1.2. Die Entwicklung des europäischen „ius commune" 2. Die ländliche Gemeinde in der gemeinrechtlichen Korporationstheorie 2.1. Vorbemerkung zur Terminologie 2.2. Die universitas im römischen Recht
401 402 403 406 406 410
VIII
Inhalt
2.3. Landgemeinde und Korporation in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft 2.3.1. Azo: Das Volk erläßt Gesetze, die Gemeinde schützt das Recht (411); 2.3.2. Keine Gesetzgebung ohne iurisdictio (412) 2.4. Die Rezeption nördlich der Alpen 2.5. Gemeinden im 16. Jahrhundert: Potentielle Unruhestifter 2.5.1. Ausgangslage: Ist die universitas deliktfähig und strafbar? (420); 2.5.2. Gemeinden und Herrschaften bedrohen den Landfrieden (422) 2.6. Das Standardwerk: Nicolaus Losaeus' Tractatus de iure universitatum . . . . 2.6.1. Dorf und Stadt (427); 2.6.2. „Gemeinde" heißt Selbstverwaltung (429) 2.7. Frühe deutsche Monographien zum Korporationsrecht 2.7.1. Gemeinderechte als ökonomische Basis (435); 2.7.2. Besold: Gemeindeeigentum als Basis für Gemeindeautonomie (439) 2.8. Lauterbach: Je autonomer das Dorf, desto exklusiver die Mitgliedschaft . . . 2.9. Nettelbladt: Die universitas im naturrechtlichen Gewand 3. Die ländliche Gemeinde der „Dorf- und Bauernrechte" 3.1. Die Norm: Selbstverwaltung und „ein Schatten von Jurisdiktion" 3.2. Die Bauern „allzuklug machen" 3.3. Die Ausnahme von der Regel: Reichsdörfer 3.4. Riccius: Balance zwischen Statuten und allgemein gültigen Gesetzen 3.4.1. Statutargesetzgebungsrecht der Landstädte (459); 3.4.2. Retorsionsmaßnahmen (461) 4. Schluß
411
417 419
426 433
443 447 451 451 454 456 457
462
Abkürzungen
469
Register
471
Vorwort Die Beiträge dieses Bandes stellen räumlich und zeitlich begrenzte Fallstudien dar, was den Begriff Europa im Titel etwas kühn erscheinen lassen mag. In der Präzisierung auf Altes Europa freilich steckt eine Einschränkung insofern, als damit ein analoger Begriff zum Alten Reich gebildet wird und zur Anwendung kommt und so ein eher rechtlich-kultureller als ein geographischer Raum für die Zeit von rund 1400 bis 1800 bezeichnet wird. Gemeinden gehören zu den institutionellen Grundfiguren des Alten Europa und haben in allen europäischen Ländern auf den Staat Einfluß zu nehmen versucht. Insofern mag unbeschadet der exemplarischen Arbeitsweise der Titel gerechtfertigt sein. Der vorliegende Band legt die Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsprojekts vor, das in den letzten drei Jahren durchgeführt wurde. Finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung wurden (basierend auf Teilzeitverträgen) in Deutschland, Frankreich und England Archiv- und Bibliotheksbestände durchgearbeitet und die gewonnenen Ergebnisse jedes Jahr in vier mehrtägigen gemeinsamen Sitzungen diskutiert, interpretiert und zu neuen Fragen weiterentwickelt. Eine Bereicherung für die Diskussion waren als Gäste André Holenstein und Renate Blickle, die sich auch dankenswerterweise bereit gefunden haben, aus ihren laufenden Forschungen Beiträge zu diesem Band beizusteuern. Mein Dank gilt vorab dem Schweizerischen Nationalfonds für die materielle Hilfe und namens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vornehmlich den staatlichen Archiven und den Bibliotheken in Bern, Cambridge, London, Marburg, Paris, Stuttgart und Wolfenbüttel. Die frühe Zusage von Lothar Gali, unsere Forschungen über die Historische Zeitschrift der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, wirkte anregend auf unsere Arbeit, und die Zusammenarbeit mit Dr. Jürgen Müller und Dr. Eckhardt Treichel (Frankfurt am Main) sowie mit dem R. Oldenbourg Verlag, namentlich mit Herrn Christian Kreuzer M.A., war wie immer in hohem Maße kooperativ. Bern, im Januar 1997
P.B.
Einführung Mit den Gemeinden Staat machen
Von
Peter
Blickle
Um 1800 ist in Europa der moderne Staat geschaffen und wird zur Organisationsform der Gesellschaft 1 ). Seitdem ist es sinnvoll, Staat an die drei vom Völkerrecht entwickelten definitorischen Merkmale Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zu binden 2 ). Entsprechend sterben die vielen, in den europäischen Sprachen umlaufenden status, états, states und staten ab und verschmelzen in dem nun einen Begriff Staat, wie die verschiedenen traditional legitimierten Inhaber politischer Macht ihre Rechte an den als Abstraktum verstandenen Staat abgeben. Ihn kennzeichnet, vom vorrevolutionären Europa her betrachtet, das Machtmonopol, was erklären mag, weshalb gerade Historiker die Definition Max Webers so einsichtig und faszinierend finden, der von Staat nur sprechen wollte, „wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchsetzung der Ordnung in Anspruch nimmt" 3 ). Vor allem Historiker, die sich für terminologische Angemessenheit bei der Wiedergabe geschichtlicher Sachverhalte besonders einsetzten, teilten diese Auffassung. Das hatte zur Folge, daß seit Otto Brunners Land und Herrschaft4) niemand mehr vom Staat des Mittelalters unreflektiert reden konnte und schließlich die „historisch-politische Sprache" als Ganze auf ihre Veränderung hin überprüft wurde 5 ). Europäische Historiker, Juristen und Politologen stimmen heute wohl weitgehend in der Einschätzung überein, daß die Herausbildung des modernen Staates zwischen dem Hochmittelalter und der Französischen Revolution er') Vgl. Werner Conze, Staat und Souveränität I, in: Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. 6. Bd. Stuttgart 1990, 2. 2 ) Vgl. Josef Isensee, Staat, in: Staatslexikon. 5. Bd. 7. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1989, 135. 3 ) Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1972, 29 [Hervorhebung durch Max Weber] und 822. 4 ) Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 6. Aufl. Darmstadt 1970. 5 ) Das gleichermaßen große und ambitionierte lexikographische Unternehmen der deutschen Geschichtswissenschaft, die Geschichtlichen Grundbegriffe, trägt den Untertitel „Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland". Für den Einfluß von Brunners Land und Herrschaft auf das Unternehmen vgl. Conze, Staat (wie Anm. 1 ), 5.
2
Peter
Blickte
folgte 6 ) und nicht erst in der Frühneuzeit oder gar erst während des Absolutismus. Über die Jahrhunderte hinweg wächst die Staatsgewalt, die im wesentlichen von Königen und Fürsten wahrgenommen wird, und formiert sich ein Staatsvolk in Form der Untertanenschaft. Der revolutionäre Akt von 1789 bestand darin, daß der tiers état (Dritte Stand) sich in der Nation als Souverän konstituierte und damit die über Jahrhunderte bestehenden politischen Machtverhältnisse theoretisch und praktisch auf den Kopf stellte. Indem der Staat seinen monarchisch-aristokratischen Charakter verlor, wurden die bislang als Untertanen verstandenen Bauern und Bürger (bourgeois) politisch zu Staatsbürgern (citoyens) emanzipiert, die bislang zur Herrschaft privilegierten Adeligen auf den Status von Staatsbürgern heruntergestuft. Die europäische Forschung richtet bei der Untersuchung des vormodernen Staates ihr Augenmerk auf die Machtkonzentration von Herrschaft einerseits und auf die Herausbildung von Machtunterworfenheit andererseits. Der über Jahrzehnte vorherrschende Gesichtspunkt der Modernisierung förderte eine solche vorgegebene Dichotomie ebenso 7 ) wie die parallel laufenden, mit den Kategorien Sozialdisziplinierung und Prozeß der Zivilisation operierenden Forschungskonzepte 8 ). Das wird heute in Europa verschiedentlich als unangemessen empfunden. Von den sieben Forschergruppen, die sich von 1988 bis 1992 mit der Entstehung des modernen Staates befaßten, „several [...] feit that général historical works at present Iargely overestimate both the Ievel of centralization and the homogeneity of the large dynastie states in early modern Europe" 9 ). Daran läßt sich die Frage anschließen, ob man die Herausbildung des modernen Staates auch als einen Prozeß der Kommunikation oder der Dialektik zwischen Obrigkeit und Untertanen interpretieren kann. Was an Argumenten für eine solche Sicht zusammengetragen werden kann, soll im folgenden analytisch aufbereitet und zu thesenhaften Fragen gebündelt werden. Damit wird auch der Rahmen für den heuristischen Zugriff der folgenden Beiträge abgesteckt. Untertanen im vorrevolutionären Europa sind durch ihren politischen Status vis-à-vis einer Obrigkeit definiert. Obrigkeit personalisiert sich in Königen 6
) Vgl. die Einleitung von Wim Blockmans und Jean-Philippe Genet, den Herausgebern des siebenbändigen Werkes „The Origins of the Modern State in Europe", in: Richard Bonney (Hrsg.), Economic Systems and State Finance. Oxford 1995, V-VIII. 7 ) Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1. Bd.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815. München 1987, 3 3 2 - 3 4 1 . 8 ) Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1969), 3 2 9 - 3 4 7 . - Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bern 1969. - Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975. Blockmans/Genet (wie Anm. 6), VI.
Einführung
3
oder Fürsten, Untertanen sind vornehmlich Bauern und Bürger. Ihre Beziehung zur Obrigkeit ist nicht nur eine unmittelbare und individuelle, sie ist vielmehr auch dadurch geprägt, daß eine für Bauern und Bürger typische Organisationsform von Alltagshandeln dazwischengeschaltet ist, die Gemeinde. Von daher erklärt sich der Titel, mit dem die nachfolgenden Beiträge überdacht werden - Staat und Gemeinde. Im Vordergrund steht die Gemeinde, gefragt wird danach, welche Stellung sie nach dem gegenwärtigen Forschungsstand in Europa im frühmodernen Staat hat und wie sie seine Entwicklung beeinflußt. Die Frage selbst läßt sich nach drei Seiten hin entfalten. Hat die Gemeinde Anteil am Prozeß der Staatsbildung ( 1 )? Entwickelt sie Werte, welche die Zwecksetzung von staatlichem Handeln berühren (2)? Und schließlich, welche Kanäle gibt es, institutionelle oder weniger formelle, solche Werte politisch zu artikulieren und an die Regierungen durchzugeben (3) 10 )?
1. Urban belt, rural belt und die Verbreitung kommunaler Strukturen Das Europa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit wird in der Geschichtswissenschaft überwiegend als aristokratisch, monarchisch, feudal oder hierarchisch beschrieben. Zeitgenössische Gesellschaftstheorien, die im Rahmen einer als ständisch gedachten Gliederung dem Adel ein angeborenes Recht auf Herrschaft zubilligen, stützen eine solche Interpretation. (Die weltliche Herrschaft der hohen kirchlichen Würdenträger, der Bischöfe und Prälaten, ist eine Parallelbildung zur Adelsherrschaft und wird strenggenommen auch vom Adel in Form der Vögtei wahrgenommen). Grundherrschaften (seigneuries, manors) werden überwölbt von Territorien oder Provinzen und sie wiederum von Königreichen. Auf allen drei Ebenen wird die politische Macht durch Adelige ausgeübt. Diese geläufige Interpretation verlor immer dann ihre Überzeugungskraft, wenn von Bürgern und Städten geprägte Regionen wie Italien oder die Niederlande oder das von Bauern und Landschaften bestimmte Skandinavien in den Blick kamen. Daß es sich dabei gewissermaßen um Anomalien politischer Organisation in Europa handelt, hat Max Weber am Beispiel der Stadt zeigen wollen, indem er sie im Rahmen herkömmlicher traditionaler adeliger Herrschaft als illegitim bezeichnete 11 ). Wodurch unterscheiden sich derartige politische Ordnungen vom geläufigen Erscheinungsbild adeliger und geistlicher Herrschaften? Städte - um von 10 ) Vgl. die methodische Nähe zu Gert Melville, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde. Köln/Weimar/Wien 1992, 1-24, besonders 7 f. ") Weber, Wirtschaft (wie Anm. 3), 749, 776, ergänzend 134 ff.
4
Peter Blickle
ihnen zuerst zu sprechen - sind, betrachtet unter einem verfassungsgeschichtlichen Gesichtspunkt, zunächst dadurch bestimmt, daß sie die Herrschaft des einen durch das Regiment der vielen ersetzen. Was in den italienischen Stadtstaaten des Spätmittelalters Regierung a comune genannt wird, legitimiert sich durch das regimen plurium12). Die Regierung durch gewählte oder kooptierte Räte aus der Gemeinde und den Zünften führen zu lassen, gehört zum geläufigen Erscheinungsbild städtischer Selbstverwaltung im Mittelalter. Zwar sind die Oligarchisierungstendenzen in den Räten der Städte in der frühen Neuzeit unverkennbar, dennoch hat die Bürgerschaft auf ihr Recht, sich als verfaßte Gemeinde politisch zu artikulieren, nie verzichtet. Die nicht enden wollenden Revolten in den Städten des Reiches bis ins 18. Jahrhundert sind Veranstaltungen der Gemeinde: die Gemeinde formulierte die Beschwerden, die Gemeinde bildete einen Ausschuß und zwang die Räte diesem Ausschuß gegenüber zur Rechenschaft 13 ). Kenner des Rechts der Reichsstädte haben noch im 18. Jahrhundert dezidiert festgestellt, „daß die Landeshoheit und Reichsstandschaft [...] auf der ganzen Gemeinheit und Bürgerschaft hafte, und dem Magistrat von der letztern nur die eingeschränkte Administration übertragen sey" 14 ). Auch in den Städten der Niederlande konnte man ähnliches hören. Ohne ausdrückliche Zustimmung der „gezworen Gemeente" durfte in Deventer der Magistrat weder das Stadtrecht ändern oder Verträge mit Dritten schließen, noch städtisches Eigentum verkaufen oder die Steuern erhöhen 15 ). Die großen Städte in den Niederlanden, im Reich, in der Schweiz, in Nordund Mittelitalien, die sich von ihrem ursprünglichen Stadtherrn hatten weitgehend lösen können, verfügten nahezu unbeschränkt über Gesetzgebung und Verwaltung - über Autonomie und Autokephalie im Sinne Webers16) - , sorgten oft auch für den Schutz nach außen und den Frieden im Innern. Die Stadtgeschichtsforschung hat sich darauf geeinigt, diesen Raum von Rom bis Rotterdam den urban belt Europas zu nennen 17 ). Skandinavien, wiewohl städtearm, bildete gleichfalls kommunale Organisationsformen aus, deren gesellschaftliche Grundlage allerdings die Bauern stellten. Friedenssicherung und Rechtswahrung einerseits und Verwaltung als
12 ) Wolfgang Mager, Republik, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 8. Bd. Basel 1992, 858-878. 13 ) Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. München 1988,4145, 92-96. 14 ) Julius Friedrich Malblank, Abhandlungen aus dem Reichsstädtischen Staatsrechte. Erlangen 1793, 38. 15 ) Die Belege bei Maarten Praak, Verfassungsform und Verfassungsrealität in den niederländischen Städten des späten 17. und 18. Jahrhunderts, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Köln/Weimar/Wien 1994, 55-83, 65. 16 ) Weber, Wirtschaft (wie Anm. 3), 26 f. 17 ) Thomas A. Brady, Jr. u.a., The Urban Belt and the Emerging Modern State, in: Peter Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation, and Community. Oxford 1997, 217-323.
Einführung
5
organisierte Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme andererseits, waren zwei verschiedenen Institutionen zugewiesen, dem Amt und der Pfarrei. Im Amt, in Norwegen herred geheißen und in Schweden hundare, wurden Amtsversammlungen abgehalten, die einerseits Steuern bewilligten und umlegten, Allmendnutzungen und Jagd- und Fischereirechte zuteilten, andererseits die Delegierten für den schwedischen Reichstag wählten und das Gericht, das neben der Rechtspflege auch die gesamte Verwaltung übernahm. Steinar Imsen hat das mit Blick auf Norwegen „communal self-rule at the king's command" genannt 18 ). Das skandinavische Recht war weniger Königsrecht als regional konsentiertes, gelegentlich wohl um Statuten erweitertes Recht, das von Bauern geschaffen worden war und dem die Könige im 13. Jahrhundert nachträglich ihre Autorität geliehen hatten. Damit behielt das Recht einen regional-lokalen Charakter 19 ). Selbst das schwedische Reichsgesetzbuch von 1734 ist nach dem Urteil der jüngsten rechtshistorischen Kommentare „ein im wesentlichen konservatives Werk [...], das die Rechtsentwicklung Schwedens vom Mittelalter her sammelt, sichtet und in eine zeitgemäße Form gebracht hat" 20 ). Die skandinavischen Pfarreien fußen nicht, wie auf dem Kontinent, auf dem adeligen Eigenkirchenrecht, sondern waren, um eine begriffliche Abkürzung von Hans Erich Feine zu borgen, „genossenschaftliche Gemeindekirchen" 21 ). Die Gläubigen sorgten für den Bau der Kirche und den Unterhalt des Pfarrers, und daraus erklären sich die weitgehenden Rechte der Pfarrgemeinde, die ihren Höhepunkt in einem eigenen Statutarrecht im Bereich von Religion und Sitte fanden, das nicht nur die Bestrafung des Fluchens erlaubte, sondern auch die Ahndung des außerehelichen Beischlafs 22 ). Jeder Bauer war Mitglied eines Amtes und einer Pfarrei, und die Funktionen beider zusammengenommen ähnelten denen von Städten. Die Gesellschaft löste ihre Probleme weitestgehend nach selbstgesetzten Standards mittels einer funktionierenden Selbstverwaltung. Erstaunt hat schon Samuel Pufendorf festgestellt, daß in Schweden die Bauern vor Adel, Geistlichkeit und
18 ) Steinar Imsen, Norsk bondekommunalisme. 2 Bde. Trondheim 1990/94. Das Zitat 1. Bd., 205. 19 ) Birgit Sawyer/Peter Sawyer, Medieval Scandinavia. From Conversion to Reformation, circa 800-1500. Minneapolis/London 1993, XI-XVI. 20 ) Dieter Strauch, Quellen, Aufbau und Inhalt des Gesetzbuches, in: Wolfgang Wagner (Hrsg.), Das schwedische Reichsgesetzbuch von 1734. Frankfurt am Main 1986, 106. 21 ) Hans Erich Feine, Die genossenschaftliche Gemeindekirche im germanischen Recht, in: MIÖG 68 (1960), 171-196. 22 ) Vgl. Peter Aronsson, Swedish Rural Society and Political Culture: The Eighteenth- and Nineteenth-Century Experience, in: Rural History 3 (1992), 41-57 und Jan Sundin, Control, Punishment and Reconciliation, in: Anders Brändström/Jan Sundin (Hrsg.), Tradition and Transition. Studies in Microdemography and Social Change. Umeà 1981, 67-104.
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Peter
Blickle
Bürgern „beinahe den ersten Rang" einnehmen 23 ). Niemand hätte ihm widersprochen, wenn er seinem Urteil eine weitere räumliche Geltung gegeben hätte, denn die skizzierten Verhältnisse waren so auch in Norwegen, Island und Finnland. Ein breiter rural belt - um der Metaphorik der Stadthistoriker zu folgen - prägte den Norden Europas von den Hebriden bis Karelien. Die kommunalen Ausprägungen im urban belt und im rural belt kommen einander insofern nahe, als sie Organisationsstrukturen entwickelten, Gemeindeversammlungen einerseits und administrative Organe andererseits, die es erlaubten, den lokalen Alltag mittels Satzungen zu regulieren und deren Einhaltung gerichtlich und administrativ durchzusetzen. Die europäische Rechtssprache hat für solche Sachverhalte die Begriffe universitas und communitas entwickelt 24 ). Wie verbreitet waren derartige communitates in Europa? Es gab sie in Italien, Spanien und Frankreich, aber es gab sie nicht überall, nicht in gleicher Dichte und auch nicht mit den gleich weitreichenden Kompetenzen. In der Regel standen sie in einem komplementären, konkurrierenden oder konfligierenden Verhältnis zu den königlichen, adeligen und kirchlichen Grundherrschaften, die ihrerseits mittels ihrer Bannrechte und gestützt auf ihre Amtleute politische Macht ausübten. Roland Mousnier hat treffend von „corps naturels" gesprochen, natürlichen und spontanen Bildungen von Gemeinden aufgrund der Technik des Arbeitens, der Nutzung von Wald und Allmende und des Sicherheitsbedürfnisses, die sich gewissermaßen aus sich selbst legitimierten und somit ohne besonderen Auftrag „à la législation, à la police, à l'administration" befähigt gewesen seien 25 ). Dennoch war mit der Gemeindebildung oft ein voluntaristischer Akt verbunden. Michel Derlange hat diesen Sachverhalt in Rousseausche politische Rhetorik gekleidet mit der Bemerkung, jede französische Gemeinde schließe bei ihrer Konstituierung einen contrat social, und Helen Nader für Spanien gezeigt, daß die Selbstverwaltung von der Krone um teures Geld gekauft werden mußte 26 ). Europaweit wird so eine gebündelte legislative, administrative und judikative Tätigkeit im lokalen Raum erkennbar, die von Bauern und Bürgern beziehungsweise Untertanen im institutionellen Gebäude der Gemeinde wahrgenommen wurde. In dieser Konstruktion steckte auch soziale und politische Sprengkraft. Bauern und Bürger einerseits und Untertanen andererseits sind 23
) Zitiert bei Wolf gang Wagner, Zur Vorgeschichte der Kodifikation von 1734, in: ders. (Hrsg.), Reichsgesetzbuch (wie Anm. 20), 46. 24 ) Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen-age latin. Paris 1970. 25 ) Roland Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue 1598-1789. 1. Bd.: Société et Etat. Paris 1974, 3 3 5 f . , 4 2 8 f f . Das Zitat 430. 26 ) Michel Derlange, Les communautés d'habitants en Provence au dernier siècle de l'Ancien Régime. Toulouse 1987. - Helen Nader, Liberty in Absolutist Spain. The Habsburg S a l e o f T o w n s , 1516-1700. Baltimore/London 1990, 8.
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austauschbare Begriffe, geprägt von der soziologischen oder staatsrechtlichen Betrachtungsweise. Immer jedoch handelt es sich um einen exklusiven Kreis. In keinem europäischen Land zählten zu den Untertanen Knechte und Mägde, Söldner und Fahrende. Unterständische Gruppen gehörten strenggenommen nicht zu den Untertanen, der Status des Untertanen ist wie der des Bürgers und des Bauern an ein Haus und an einen Hof gebunden. Insofern haben alle jene recht, die ökonomische, soziale und politische Ungleichheiten in der Stadt und im Dorf namhaft machen, aber auch dann bleibt die Kommune ein horizontal organisiertes Bauelement der alteuropäischen societas civilis cum imperio21). In der Gemeindeversammlung auf dem Dorfplatz oder Marktplatz ist der Bauer oder der Bürger Gleicher unter Gleichen. Am königlichen und fürstlichen Hof hingegen herrscht Ungleichheit, Abstufung und Differenzierung in der Tradition der hierarchischen Gliederung einer lehnsrechtlich geprägten Adelsgesellschaft. Zwar lassen sich mit einer auf die Wahrnehmung des Kommunalen eingeschliffenen Optik in vielen Ländern Europas Gemeinsamkeiten der städtischen und ländlichen Welt erkennen, sie müssen aber empirisch durch Fallstudien 28 ) noch stärker abgesichert werden. Im vorliegenden Band kommt der heuristische Ansatz in dreifacher Weise zum Tragen. Für Frankreich 29 ), Hessen 30 ) und Württemberg 31 ) wird die Frage aufgegriffen, wie die Gemeinden institutionell in die Ständeversammlungen eingebaut sind, ob sie bei der Benennung der Delegierten, der Formulierung der Beschwerden und bei der Ratifizierung der Abschiede eine erkennbare Stimme haben. Am englischen Beispiel wird geprüft, wieviel institutionenbildende Kreativität in der Pfarrei steckt 32 ), nachdem vorgängige Studien gezeigt haben, daß die Verwaltung kirchlicher Vermögen durch Kirchpröpste (churchwardens) der Pfarrei einen Handlungsspielraum eröffnet hat, der es ihr erlaubte, Aufgaben zu übernehmen, die man lediglich in der Kompetenz der politischen Gemeinde suchen 27 ) Kritische Würdigung der Debatte in Deutschland [nach den Überlegungen von Thomas A. Brady, Jr., From the Sacral Community to the Common Man. Reflections on German Reformation Studies, in: CEH 20 (1987), 229-245] neuerdings bei Bob Scribner, Communities and the Nature of Power, in: ders. (Hrsg.), Germany. A New Social und Economic History. 1. Bd. London 1996, 291-325. 28 ) Für Deutschland, die Schweiz und Österreich liegt ein erster solcher Versuch vor in dem Sammelband Peter Blickte (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich. München 1991. 29 ) Vgl. den Beitrag von Beat Hodler, Doléances, Requêtes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, in diesem Band. 30 ) Vgl. den Beitrag von Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und ständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800, in diesem Band. 31 ) Vgl. den Beitrag von Rosi Fuhrmann, Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629, in diesem Band. 32 ) Vgl. den Beitrag von Beat Kümin, Parish und local govemment. Die englische Kirchgemeinde als politische Institution 1350-1650, in diesem Band.
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würde 33 ). Der Ansatz ist um so berechtigter, als auch Skandinavien den Pfarreien offenbar reichlich öffentlich-rechtliche Funktionen zuweist und neulich für Süddeutschland die gemeindebildende Kraft von spätmittelalterlichen Niederpfründstiftungen an den Tag gekommen ist 34 ). Wenn - und diese Fragestellung schien besonders ergiebig - ländliche und städtische Gemeinden in Europa einen gemeinsamen institutionellen, organisatorischen und öffentlich-rechtlichen Kern aufweisen sollten, dann müßte sich das in den zeitgenössischen Theorien der Rechtswissenschaft niedergeschlagen haben. Otto von Gierke hat bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts auf solche Zusammenhänge in seinem Genossenschaftsrecht aufmerksam gemacht 35 ), freilich unter einer teilweise anderen Perspektive, weil für ihn Stadtgemeinde und Landgemeinde keine analogen Bildungen darstellten. Zu fragen bleibt demnach, ob der unterstellte Zusammenhang von Dorfgemeinde und Stadtgemeinde in der Rechtswissenschaft des Spätmittelalters und der Frühneuzeit gespiegelt wird 36 ).
2. Legitimitäten gemeindlicher Ordnung und das Problem des Staatszwecks Jeder Verband bedarf zur Erhaltung seiner Existenz anerkannter Werte und eingeübter Normen. Insofern Stadtgemeinde und Landgemeinde Verbandscharakter besaßen, liegt es nahe anzunehmen, daß sie ihr gemeinsames, eben durch den Verband geprägtes Werte- und Normensystem entwickelt haben. Darüber ist bislang so gut wie nicht gearbeitet worden. Wertvorstellungen konkretisieren Bürger und Bauern vorzüglich in Satzungen im Rahmen ihrer Gemeinde. Sie können von den Gemeindeversammlungen erlassen sein, aber auch, verständlicherweise angesichts des kommunal gebundenen Mandats, von städtischen Räten, Bürgermeistern und Konsuln, sowie dörflichen Vierern oder Sechsern und Ammännern. Der Form nach ist das Satzungsrecht gewillkürt, also Willensakt derjenigen, die es machen 37 ). Material ist es nicht die Auslegung von Recht, sondern es ist Setzung von Recht. Damit kann es je geltende Wertvorstellungen besonders gut aufnehmen und in Gesetzesform positivieren. 33
) Beat A. Kümin, The Shaping of a Community. The Rise and Reformation of the English Parish c. 1400-1560. Aldershot 1996. 34 ) Rosi Fuhrmann, Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung vor der Reformation. Stuttgart/Jena/New York 1995. 35 ) Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. 3. und 4. Bd. [Nachdruck] Graz 1954. 36 ) Vgl. dazu den Beitrag von Sibylle Hunziker, Die ländliche Gemeinde in der juristischen Literatur 1300-1800, in diesem Band. 37 ) Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. Göttingen 1988 [erweiterter Neudruck der 2. Aufl. 1958].
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Die gemeindlichen Satzungen wurden mit dem Gemeinnutz38) legitimiert. Das ist nicht nur eine häufige, sondern die ausschließliche Begründung. Gemeinnutz wird, zumindest im deutschen Rechtsbereich, instrumentell als Gegenbegriff zum Herrennutz eingesetzt. Bürger und Bauern entziehen der alten herrschaftslegitimierenden Eidformel des Herren Nutzen zu mehren und seinen Schaden zu wenden ihr eigentliches Objekt, indem sie schrittweise den Herrn durch Gemeinde oder gemein ersetzen. Das drückt sich zunächst in den Statuten und Ordnungen aus, dann aber auch bald in den Amtseiden. Den „gemein nütz" zu fördern, beeidet der Bannwart von St. Alban in Basel, „der Gemeind und des Dorfs Nutz [zu] fürdern und Schaden [zu] wenden", versprechen die Vierer und Dreier der Dörfer in der Klosterherrschaft Steingaden 39 ). Noch 1381 schwören der Bürgermeister, der Rat und alle Bürger der Stadt St. Gallen „hem Cün, abt dez gotzhus ze Sant Gallen [...] sin und sins gotzhus nutz und fromen ze fürderen und sinen schaden ze wenden", eine Generation später hingegen schwört jeder Bürger „gemainer stat ze Sant Gallen nutz ze fürderenn und ir schaden ze wenden" 40 ). Bekanntermaßen werden in den Schweizer Länderorten anläßlich der jährlichen Landsgemeindeversammlung ähnliche Eide geschworen, doch auch in Dorfversammlungen in deutschen Territorien waren sie nicht unbekannt 41 ). Der Gemeinnutz ist keine bloß rhetorische Figur propagandistischen Zuschnitts, er hat vielmehr einen festen ethischen Kern insofern, als er einerseits dem Frieden dienen und andererseits die Auskömmlichkeit sichern soll. Im Stadtrecht von Ulm von 1376 steht der Eintrag, daß Gewalttätigkeiten in der Stadt „ane der gemaind gebott und gesetzt nieman wol gestillen noch geschlichten mag". Um Frieden und ein gutes nachbarliches Leben zu sichern, vereinigen sich die Handwerker und die adeligen Patrizier von Ulm in einer Gemeinde und schwören „zu den hailigen gelert aide [...], stett ze halten und ze haben ungevarlich, waz wir erdenken kunen und mugen, davon fruntschaft zucht und friede riehen und armen gemainlich bekomen mag" 42 ). Die erste nachweisbare coniuratio Italiens wird in Genua geschlossen. Mit ihr entsteht 38
) Vgl. Peter Hibst, Utilitas publica - Gemeiner Nutz - Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffs von der Antike bis zum späten Mittelalter. Frankfurt am Main u.a. 1991. 39 ) Rudolf Wackernagel u.a. (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Basel. 4.-11. Bd. Basel 1899-1910 [alle Bände mit einschlägigen Belegen zum gemeinen Nutzen], Zitat 8. Bd., 350 Nr. 441. - Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Klosterliteralien Steingaden 22 [zum Jahr 1582], 40 ) Belege in Hermann Wartmann u.a. (Hrsg.), Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen. 6 Bde. Zürich/St. Gallen 1863-1955, hier 4. Bd., 256 Nr. 1835 und 403 Nr. 2007. 41 ) Für die Schweiz als Quellenbelege etwa Martin Kothing (Hrsg.), Das Landbuch von Schwyz in amtlich beglaubigtem Text. Zürich/Frauenfeld 1850, 18, 23. - Für Deutschland Karl-Sigismund Kramer, Grundriß einer rechtlichen Volkskunde. Göttingen 1974, 20 f. [ohne Quellennachweise]. 42 ) Carl Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch der Stadt Ulm. Stuttgart 1904, 24.
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die Gemeinde und ihr repräsentatives Organ das parlamentum, als legitimierende Begründung dient die Friedenssicherung. Ähnlich verhält es sich in Dutzenden anderer ober- und mittelitalienischer Kommunen 43 ). Und wenig anders war es in Frankreich, denn „la commune est une institution de paix" 44 ). Die Landschaftsrechte Skandinaviens, um auf den rural belt zu sprechen zu kommen, sind wesentlich zur Friedenssicherung und gegen die Interessen der kriegerischen Wikingerhäuptlinge geschaffen worden. Das Rechtsbuch des norwegischen Frostathings legitimiert seine friedenssichernden Artikel mit der Klage, „welchen großen und vielfältigen Schaden die Familien [...] im Lande erlitten haben von Totschlägen und dem Verlust der besten Männer" 45 ). Es scheint, als seien Bauern verbreitet, vielleicht auch generell eidlich verpflichtet, für die Friedewahrung in ihrem Dorf einzutreten. Das ist so im Hinterland von Ulm in allen oberschwäbischen Dörfern, aber auch in Nordfrankreich und Spanien, wo zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert dörferweise eine pax rusticorum beschworen wurde 46 ). Diese kommunale Friedenssicherung hat viel dazu beigetragen, daß die Gottes- und Landfriedensbewegung des Hochmittelalters erfolgreich werden konnte. Auskömmlichkeit umschreibt die Frühneuzeit gern mit dem Wort Hausnotdurft47), jedenfalls im bayerisch-österreichischen Rechtsbereich. Der Bedarf zur Sicherstellung des Hauses und seiner Bewohner hat Vorrang vor jeder Art von Handel, und er hat auch Vorrang vor Ansprüchen der Obrigkeit an Steuern, Abgaben und Dienstleistungen. Hier drückt sich die Wertschätzung der Arbeit aus; die im Haus geleistete Arbeit muß die im Haus Lebenden standesgemäß ernähren. Das Konzept scheint sich zu bewähren, denn es hat sich für Frankreich und Schweden als anwendbar erwiesen 48 ). Im süddeutschen Raum, in dem gemeindliche Strukturen besonders kräftig entwickelt waren, hat sich gezeigt, daß an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit ein Transformationsprozeß der Agrarverfassung in Gang kam, der schließlich zur Verbesserung der bäuerlichen Besitzrechte und der persönlichen Rechtsstellung von Bauern führte. An die Stelle zeitlich befristeter Lei43
) Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung. Aalen 1967, 188. Albert Vermeesch, Essai sur les origines et la signification de la commune dans le Nord de la France (XI et Xlle siècles). Heule 1966, 175. 45 ) Rudolf Meißner, Norwegisches Recht. Das Rechtsbuch des Frostathings. Weimar 1939,1. 46 ) Philippe Contamine, La guerre au Moyen Age. Paris 1980, 436. - Eugen Wohlhaupter, Studien zur Rechtsgeschichte der Gottes- und Landfrieden in Spanien. Heidelberg 1933, 498. 47 ) Der Begriff von Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1987, 42-64. 48 ) Hugues Neveux/Eva Österberg, Norms and Values of the Peasantry in the Period of State Formation: A Comparative Interpretation, in: P. Blickle (Hrsg.), Resistance (wie Anm. 17), 155-184.
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hen trat das Erbrecht an den Gütern, und die eingeschränkte Freizügigkeit und der Einzug großer Teile der mobilen Verlassenschaft als Rechtsfolgen der Leibeigenschaft wurden gemildert 49 ). Ziel ist, abstrakt formuliert, eine Freiheit, die einen eigentumsähnlichen Verfügungsanspruch über das Gut mit einschließt. Hinter dieser Entwicklung steht ein Verteilungskampf zwischen Grundherren und Grundholden um die Aneignung der Wertsteigerung landwirtschaftlicher Produkte. Erst mit dem Aufkommen der Städte und ihrer Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen konnten nennenswerte Gewinne aus der Landwirtschaft, das heißt, aus Grund und Boden, gezogen werden. Die Lösung, die man mit der Verbesserung des Erbrechts und des persönlichen Status der Bauern fand, wurde mit einer äußerst interessanten Rechtskonstruktion gesichert, die man Agrarverfassungsvertrag nennen könnte. In Urkundenform in zwei besiegelten Fassungen, eine für den Herren und eine für die Bauernschaft ausgefertigt, galten die Vertragsbestimmungen, die zeitlich unbefristet, öfter sogar ausgestattet mit einem Ewigkeitsvermerk, gelten sollten, als rechtsverbindlich bis zum Ende des Alten Reiches. Auf diese Weise wurde Privatrecht überhaupt erst geschaffen und, indem man ihm quasi Verfassungsrang zubilligte, einer weiteren Ausgestaltung durch die Obrigkeit entzogen. Eine Scheidung von ius und lex wird hier erkennbar, über die sich das Alte Europa selbst in der Zeit der absoluten Monarchie nicht mehr hinweggesetzt hat 50 ). Der Agrarverfassungsvertrag hat eine große Ähnlichkeit mit prominenteren Verfassungsdokumenten wie dem Tübinger Vertrag von 1514, der gleichfalls die Freizügigkeit der Leibeigenen des Herzogs von Württemberg verbrieft und deswegen in der Geschichte der Menschen- und Freiheitsrechte einen geachteten Platz einnimmt. In Wahrheit ist er ein Dokument unter vielen ähnlichen. Es gibt Indizien, die es erlauben, parallellaufende Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zu vermuten 51 ). Das war Anlaß genug, auch mit einem durch diese Beobachtung geschärften Blick die Quellen für Hessen, Württemberg, Frankreich und England zu lesen. Das Zusammenleben im Haus, das gemeinsame Arbeiten, das Ordnen des dörflichen und kleinstädti-
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) Dokumentiert bei Peter Blickte, Grundherrschaft und Agrarverfassungsvertrag, in: ders., Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes. Stuttgart/New York 1989, 171-190. -Renate Blickte, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern, 1400-1800, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Stuttgart 1983, 166— 187. - André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800). Stuttgart/New York 1991, 310ff. 50 ) Perry Anderson, Lineages of the Absolutist State! London 1974 [deutsch: Die Entstehung des absolutistischen Staates. Frankfurt am Main 1979, 28-35], 51 ) Wolfgang Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu den Prozessen zwischen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16.-18. Jahrhundert). Frankfurt am Main 1986, 175 ff., 187 ff.
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sehen Alltags durch die Gemeinde gehört zu den Bauelementen im Alten Europa. Ferdinand Tönnies hat das in Umrissen schon gesehen und auch daraus seinen Begriff der „Gemeinschaft" konstruiert, den er antithetisch gegen die moderne „Gesellschaft" kehrt 52 ).
3. Modalitäten der gemeindlichen Interessenvertretung Welche Möglichkeiten bestanden für die Bauern und Bürger, ihre Interessen im größeren Verband des Staates zur Geltung zu bringen? Es gab die institutionell gesicherten Formen der politischen Repräsentation auf der Ebene der Parlamente (1), den Zugang zu den Gerichten mittels Klagen gegen die Obrigkeiten (2) und als ultima ratio den Widerstand (3). Soweit die Frage nach Artikulationsmöglichkeiten von der Forschung überhaupt aufgeworfen wurde, werden diese drei Ebenen genannt. (1) Die Prinzipien, nach denen sich die europäischen Ständeversammlungen zusammensetzten, haben Untertanen bemerkenswerte Möglichkeiten der politischen Repräsentation eingeräumt. Sie sind von der ständegeschichtlichen Forschung höchst ungenügend aufgedeckt worden. Generalisierbar ist für Europa zunächst die Feststellung, daß politische Macht zu politischer Repräsentation berechtigt. Damit hatten Adelige und Geistliche, soweit sie Grund- und Gerichtsherren waren, Zugang zu den Parlamenten, aber eben auch Kommunen, soweit sie über vergleichbare Hoheitsrechte verfügten. Strenggenommen kommt, wie Michael Mitterauer in einer vielleicht zu generalisierenden Zuspitzung für Europa festgestellt hat, nicht den Bürgern und den Bauern ein Recht auf Repräsentation zu, sondern kommunalen Korporationen 53 ), den Gemeinden. Deswegen hatten die Delegierten der Bürger und Bauern lange kein freies Mandat, wie es den Regeln des modernen Parlamentarismus entsprochen haben würde, sondern mußten Beschlußvorlagen, sollten sie Gesetzeskraft erlangen (Abschied), von ihren Gemeinden ratifizieren lassen. Steuern konnten die Landtagsboten so geschickt abwehren, wie es die Vorarlberger Gemeindevertreter gerne mit der rhetorischen Wendung taten, daß „sy solichs bei iren gemaynden nit wissen zuerheben noch zuveranntwurten". Einseitige obrigkeitliche Satzungen Hessen sich so verhindern mit dem Argument, daß sie „zu abbrach unsern pruchen und
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) Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 3. Aufl. Darmstadt 1991, I2ff„ 18ff. 53 ) Michael Mitterauer, Grundlagen politischer Repräsentation im mittelalterlichen Ständewesen, in: Karl Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation. Berlin 1977, 11-41.
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altem herkhomen raichen und dienen" könnten 54 ). Das erschwerte die parlamentarische Arbeit, mußte sie aber nicht notwendigerweise lähmen. Schweden hat bis weit ins 18. Jahrhundert zwischen dem freien und imperativen Mandat für seine Delegierten des dritten und vierten Standes geschwankt und stellt dennoch das modernste Parlament Europas im 18. Jahrhundert dar. Nirgendwo hatten soviele Menschen das aktive Wahlrecht, nirgendwo war die Periodizität der Reichstagssitzung so früh rechtlich gesichert, nirgendwo war die Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament so weitgehend 55 ). Im Verhandlungsmechanismus europäischer Parlamente wurden königliche und fürstliche Steuerforderungen mit ständischen Beschwerden - Gravamina, cahiers de doléances und pétitions - beantwortet. Instrumenteil lag hier der Hebel der repräsentierten Gemeinden und Untertanen, ihre politischen Interessen und Überzeugungen zur Geltung zu bringen, zumal in Europa offenbar die Vorstellung vorherrschte, Könige und Fürsten seien, wie Philipp II. den Cortes von Kastilien versicherte, „verpflichtet", Gravamina „gnädig anzuhören und entgegenzunehmen, sie zu beantworten und ihnen gerecht zu werden" 56 ). Der schließlich erzielte Kompromiß erhielt die Form des Abschieds und galt als Landesgesetz, er konnte aber auch als Auftrag an gemischte ständisch-fürstliche Kommissionen zur weiteren Ausarbeitung gehen und führte dann oft erst nach Jahren und Jahrzehnten zu einer gesetzlichen Positivierung in einer Landesordnung oder einem Mandat. Die folgenden Beiträge für Hessen 57 ), Württemberg 58 ) und Frankreich 59 ) belegen übereinstimmend, daß der Vergleich von Beschwerden mit Landesordnungen und Mandaten die frühneuzeitliche Gesetzgebung in einem anderen Licht erscheinen läßt. Nach neuesten, noch ganz vorläufigen Untersuchungen über eine Politik der Untertanen in europäischen Parlamenten 60 ), ging es ihnen immer darum, die steuerliche Belastung auf einem erträglichen Niveau zu halten, bestehende Besitz-, Nutzungs- und Eigentumsrechte sicherzustellen (und so den Adel und die Kirche an der Ausweitung ihrer Grundherrschaften zu hindern), Elend 54
) Die Belege bei Peter Blickte, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland. München 1973, 268 f. 55 ) Aronsson, Swedish Rural Society (wie Anm. 22), 48. - Sven Ulric Palme, Vom Absolutismus zum Parlamentarismus in Schweden, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, 394 f. 56 ) Frei übersetzt nach der Dokumentation von Gordon Griffith (Hrsg.), Representative Government in Westem Europe in Sixteenth Century. Oxford 1968, 41 [dort weitere Beispiele aus anderen europäischen Ländern]. 57 ) Würgler, Desideria (wie Anm. 30). 58 ) Fuhrmann, Landtagsgravamina (wie Anm. 31). 59 ) Hodler, Doléances (wie Anm. 29). 6°) Eine vergleichende Untersuchung für England, Schweden und deutsche Territorien von Peter Blickle/Steven Ellis/Eva Österberg, The Commons and the State: Representation, Influence and the Legislative Process, in: P. Blickle (Hrsg.), Resistance (wie Anm. 17), 115-154.
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durch eine ergänzende staatliche zu der überwiegend kommunalen Armenfürsorge zu lindern, angemessene Einkommen für Lohnarbeit zu garantieren, sowie schließlich die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichenden und preiswerten Nahrungsmitteln durch Import- und Exportregulierungen zu gewährleisten. Mit den Gravamina verfolgten die Bürger und Bauern naturgemäß ihre Interessen, sie griffen aber auch - um es kurz zu machen - Probleme auf, die Europa mit dem Begriff der Polizei umschreibt. Die Polizei mit ihren Hervorbringungen, den Polizeiordnungen und den neuen Verwaltungen, gilt als das Mittel frühmoderner Staatsbildung durch die Könige und Fürsten schlechthin 61 ). An regionalen Einzelfällen ist schon längst geklärt, daß Polizei- und Landesordnungen lediglich redaktionell überarbeitete Landtagsgravamina sein konnten 62 ), und rechtsgeschichtliche Untersuchungen zur europäischen Gesetzgebung der frühen Neuzeit bewerten den Anteil der Stände an den großen Kodifikationen jedenfalls bis ins 17. Jahrhundert sehr viel höher als früher 63 ). Die Polizeiordnung wäre danach nicht ein Instrument der Sozialdisziplinierung, als das sie bis heute verstanden wird, sondern umgekehrt ein Produkt der Anforderungen der Untertanen an den Staat, jene Bereiche administrativ und gesetzlich zu regeln, die mittels kommunaler Satzungstätigkeit nicht befriedigend geregelt werden konnten, etwa Export- und Importfragen. Eine solche Interpretation ist schon deswegen nicht abwegig, weil der entstehende moderne Staat über den Beamtenapparat gar nicht verfügte, der notwendig gewesen wäre, um die Staatsspitze über die Schäden im Land zu informieren. Verschwistert mit dem Gravamen ist die Supplikation. Der enge Zusammenhang beider Artikulationsformen ist zuerst am Beispiel Hessens im Beitrag von Andreas Würgler deutlich geworden 64 ), wo Ständebeschwerden und Untertanensuppliken eingesetzt wurden, um synergetische Effekte zu erzielen, aber auch alternativ Verwendung fanden. Daß der Supplik für das Projekt schon in der Planungsphase besondere Aufmerksamkeit unter den Modalitäten der Durchsetzung von Interessen geschenkt wurde, ist eine Anregung aufgrund von Forschungen, die am bayerischen Archivmaterial durchgeführt wurden. Dort war, möglicherweise weil die Bauern keine Landstandschaft besaßen und damit die Landtage als Plattform für ihre Interessen nicht nutzen konnten, das Supplizieren besonders verbreitet. In Bayern ist daraus die erste 61 ) Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 3. Aufl. München 1986. - Marc Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600-1800. New Häven/London 1983. 62 ) P. Blickte, Landschaften (wie Anm. 54), 189-233, 522-551. 63 ) Gerhard Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozeßrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 2. Bd., 2. Teilbd. München 1976, 3-96. 64 ) Vgl. Würgler, Desideria (wie Anm. 30).
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und wichtigste Zentralbehörde entstanden - der Hofrat 65 ). Untertanen und Behördenbildung wird unter diesem Aspekt ein neues Operationsfeld für die Verfassungs- und Institutionengeschichte. Das Supplikenwesen ist bislang nicht gänzlich unbeachtet geblieben 66 ), systematische Untersuchungen gibt es jedoch kaum, und seine Wirkungsgeschichte liegt vollends im Dunkeln. Zwar ist der Renaissanceforschung bekannt, daß in Florenz schon im 14. Jahrhundert politische Entscheidungen der Räte „largely through private petitions" geprägt wurden 67 ), Folgeuntersuchungen für andere europäische Städte hat diese Beobachtung jedoch nicht provoziert. Wohl fußt die Widerstandsforschung in Deutschland empirisch auf bäuerlichen Beschwerden, doch ist das für die Diskussion der Suppliken folgenlos geblieben. Wo immer man die Frage auf die Suppliken lenkt, zeigt sich - unbeschadet der lückenhaften und unsystematischen Archivierung - deren enorme Bedeutung. In Amsterdam pflegten im 18. Jahrhundert Tag für Tag einige Mitglieder des Rates vor den offiziellen Sitzungen die leichteren Fälle von Supplikationen zu entscheiden 68 ). Hunderte von Suppliken aus Norwegen gingen jährlich in der Kanzlei des dänischen Königs in Kopenhagen ein 69 ). Ein einzelnes Amt in der Nähe von Stockholm schickte im 17. Jahrhundert 960 Suppliken an den Hof 7 0 ). Offenbar Sturzbächen gleich, ergossen sich die Suppliken in die Ratsstuben und Kanzleien. Ihre Wirkung läßt sich bis heute kaum erahnen. Das war mit ein Grund, ihnen gewissenhaft nachzugehen und vornehmlich ihre Rückwirkung auf Gesetzgebung und Verwaltung zu prüfen. Offenbar waren sie vom 15. Jahrhundert 71 ) bis über die Französische Revolution hinaus 72 ) von großer, allerdings unterschiedlicher Bedeutung. Diese Beobachtungen lassen sich mit der bekanntermaßen hoch entwickelten Petitionskultur Englands verknüpfen, ohne die das englische Parlament nicht zu denken ist. In keinem europäischen Land läßt sich bis heute so überzeugend die politische Kraft der Bitte oder Supplik belegen wie hier, nament-
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) Vgl. den Beitrag von Renate Blickte, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in diesem Band. 66 ) Die Literatur für den deutschsprachigen Bereich ist verzeichnet im Beitrag von Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Wiirgler, Supplizierende Gemeinden, in diesem Band. 67 ) Marvin B. Becker, Florence in Transition. 1. Bd. Baltimore 1968, 81 f. 68 ) Henk van Nierop, Populär Participation in Politics in the Dutch Republic, in: P. Blickle (Hrsg.), Resistance (wie'Anm. 17), 2 7 2 - 2 9 0 . 69 ) Norske Heeredags-Domb0ger, 1578-1661. 25 Bde. Oslo 1892-1926. 70 ) P. Blickle/Ellis/Österberg, Commons (wie Anm. 60). 71 ) Vgl. den Beitrag von R. Blickle, Laufen gen Hof (wie Anm. 65). 72 ) Vgl. den Beitrag von André Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey" in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in diesem Band.
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lieh während der Revolution Cromwells73). Aber auch die ständige Ausweitung der personalen Zuständigkeit des Common law und der königlichen Gerichte ist durch das Supplizieren an die königliche Chancery im Spätmittelalter enorm befördert worden74). Eine systematische Auswertung der Suppliken könnte, wie verschiedene der folgenden Beiträge belegen können, ein stark modifiziertes Bild der politischen Geschichte des Spätmittelalters und der Frühneuzeit ergeben. (2) Untertanen konnten prinzipiell ihre Interessen über Gerichte vertreten, auch gegenüber ihren Herren. Das gehörte zu den Eigenheiten der alteuropäischen Rechtskultur. Die Untertanen der Grafen von Hanau-Lichtenberg haben durch Prozesse zunächst beim Reichskammergericht und nach dem Übergang der Herrschaft an Frankreich vor dem Parlement in Metz über 200 Jahre die Anwendung einer Huldigungsformel angefochten, die sie einer unbeschränkten Gebotsgewalt des Grafen unterworfen hätte. Finanziert wurden die Prozeßkosten durch Verkauf von Holz aus dem Gemeindeforst und der Verpachtung von Weiderechten75). Der Erfolg solcher Prozesse, die im Reich vor Reichskammergericht und Reichshofrat, in den Territorien vor Hofgerichten und Landgerichten, in Frankreich vor parlements und in England vor königlichen Gerichten auf Reichs- und Grafschaftsebene geführt wurden, läßt sich selbst für Deutschland schwer messen, wo dieser Frage besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist76). Der naheliegende Vergleich zwischen dem Reich, wo die prozessualen Möglichkeiten für Bauern durch Instanzenzüge und Appellationsmöglichkeiten gut ausgebaut waren, und der Eidgenossenschaft, wo sie weitgehend fehlten, führte bis heute über die blasse Einsicht von August Ludwig Schlözer kaum hinaus, die Schweizer Bauern „wurden sich höchstwahrscheinlich unter den Einflüssen von Wien und Wetzlar besser stehen"77). Le73
) Vgl. den Beitrag von Beat Kümin, Gemeinde und Revolution. Die kommunale Prägung der englischen Levellers, in diesem Band. 74 ) Robert C. Palmer, English Law in the Age of the Black Death, 1348-1381. Chapell Hill/ London 1993. 75 ) Saarbrücker Arbeitsgruppe, Huldigungseid und Herrschaftsstruktur im Hattgau (Elsaß), in: JbWLG 6 (1980), 117-155. 76 ) Vgl. Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806. Weingarten 1987. - Winfried Schulze, „Geben Aufruhr und Aufstand Anlaß zu neuen heilsamen Gesetzen". Beobachtungen über die Wirkungen bäuerlichen Widerstandes in der Frühen Neuzeit, in: ders. (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Stuttgart 1983, 261-285. 77 ) Zitiert bei Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, 278. Eine systematische Erörterung demnächst bei Andreas Würgler, Formen der Konfliktlösung im Vergleich. Unruhen in Schwaben und in der Schweiz 1650-1800, in: Dieter R. Bauer u.a. (Hrsg.), Grenzerfahrungen - Grenzüberschreitungen. Oberschwaben und die Schweiz im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen [im Erscheinen].
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diglich für die Tätigkeit des Pariser Parlement ist eine Rechtssprechung rekonstruiert worden, die in ihren Urteilen tendenziell Eigentumsansprüche und Freiheitsvorstellungen von Bauern begünstigte, so daß die Aufhebung der Feudalität durch die Revolution mehr oder minder als formaler Nachvollzug bereits geschaffener Tatbestände erscheint 78 ). Möglicherweise sind die Verfahren vor Gericht der falsche Ort, um den politischen Einfluß von Gemeinden zu messen. Klagen mußten auch nicht immer vor Gericht landen, sondern konnten als Beschwerden behandelt und dann in anderem institutionellen Rahmen erledigt werden 79 ), wie auch die Verweise auf Verfahren in Florenz und Amsterdam oder die Agrarverfassungsverträge gezeigt haben. (3) Wenn Suppliken und Gravamina enttäuschend ergebnislos blieben, konnten Bauern und Bürger immer noch den Widerstand praktizieren. Nichts hat das traditionelle Bild von einem aristokratisch-monarchisch beherrschten vorrevolutionären Europa stärker erschüttert und grundlegender korrigiert, als die in den letzten 20 bis 30 Jahren in allen europäischen Ländern intensiv betriebene Widerstandsforschung 80 ). Im Widerstand drückt sich ein fundamentaler Konflikt in Europa um die Definitionshoheit des Politischen zwischen Obrigkeiten und Untertanen aus, der ganz zweifellos als Präludium zur modernen Demokratie von erheblicher Bedeutung war. Seit kurzem weiß man, daß durch die Unruhen des 18. Jahrhunderts eine Öffentlichkeit des Politischen geschaffen wurde und die Forderung nach geschriebenen Verfassungen laut wurde, die schließlich die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts einlöste 81 ). Widerstand führte, folgt man den Untersuchungen zu Frankreich, Spanien, Skandinavien und dem Reich, langfristig zu einer Umformung des Machtgefüges. Die Aufstände haben dem Prozeß der staatlichen Zentralisation mehr genützt als geschadet, denn mehrheitlich richteten sie sich gegen die unmittelbare Herrschaft der Adeligen und Prälaten. Die Könige wurden zu Schiedsrichtern zwischen Untertanen und deren Grundherren und konnten so ihre Gerichtskompetenzen enorm befestigen und ausweiten 82 ). Der gemeinsame Bezugspunkt von Widerstand, Parlamentspolitik und Ge78
) Schmale, Widerstand (wie Anm. 51 ). ) Vgl. dazu die Bemerkungen zum Summarischen Prozeß in Bayern im Beitrag von R. Blickte, Laufen gen Hof (wie Anm. 65). 80 ) Zusammenfassend Yves-Marie Bercé, Révoltes et Révolutions dans l'Europe moderne (XVIe-XVIIIe siècles). Paris 1980. - Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen 14921992. München 1993. 81 ) Würgler, Unruhen (wie Anm. 77), 309-313. 82 ) Vgl. Jean Nicolas/Julio Valdeôn Baruque/Sergij Vilfan, The Monarchie State and Resistance in Spain, France and the Old Provinces of the Habsburgs (1400-1800), in: P. Blickle (Hrsg.), Resistance (wie Anm. 17), 65-114. 79
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richtsprozeß besteht darin, daß auf allen Ebenen dieselben Interessen vertreten werden, und zwar mit Hilfe derselben Institution, der Gemeinde. In der Regel wurde ohne Gemeindebeschluß keine Abgabe und keine Steuer verweigert, kein Prozeß geführt und keine Gewalt angewendet. Es handelt sich um Ausdrucksformen der Untertanen, die in unterschiedlicher Weise kombiniert werden konnten und kombiniert wurden. Den politischen Theoretikern Englands war das keine ungeläufige Vorstellung. „Subjects can either petition or rebel", auf diese Formel brachte es ein Freund von John Locke 1680 83 ). Zwischen dem Hochmittelalter und der Französischen Revolution findet in Europa eine allmähliche Reduzierung adeliger (und kirchlicher) Herrschaft statt. Das geschieht von Land zu Land mit unterschiedlicher Intensität und sicher nicht als Prozeß von durchlaufender Kontinuität. Dennoch liegt darin ein wesentlicher Zug der Entwicklung zum modernen Staat. Komplexität von Herrschaft wird abgebaut. Was an adeligen und kirchlichen Herrschaftsrechten zu verteilen ist, geht an den Staat und an die Kommunen. Der Staat zerstört in der Phase der absoluten Monarchie vielleicht weniger die Kommunen, als daß er sie mit neuen Aufgaben belädt. Damit verträgt sich auch die Erkenntnis, daß zahlreiche alltägliche Konflikte, wie man durch Reihenuntersuchungen aus Schweden, England und der Schweiz weiß 84 ), auf der Ebene der politischen oder kirchlichen Gemeinde durch kommunale Organe beigelegt wurden.
4. „Gemeinde und Staat" - ein Integrationsmodell Jeder Staat definiert sich einerseits formal über Institutionen, deswegen operiert man in Europa seit Aristoteles mit Monarchie, Aristokratie und Politie, und andererseits inhaltlich durch legitimierende Wertsetzungen, wie Präzisierungen auf Rechtsstaat oder Sozialstaat lehren. Haben die Untertanen die Institutionen und Wertsetzungen des werdenden modernen Staates beeinflußt? Richtet man den Blick zunächst auf das institutionelle Gefüge des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Staates in Europa, wird man nicht umhin können, städtische und ländliche Gemeinden zur Architektur des Staates zu rechnen, unbeschadet ihrer regional und zeitlich unterschiedlichen Bedeutung. Als
83 ) Das Zitat, aus grammatikalischen Rücksichten leicht modifiziert, gedruckt bei Mark Knights, Petitioning and the Political Theorists: John Locke, Algernon Sidney and London's „Monster" Petition of 1680, in: P & P 138 (1993), 9 4 - 1 1 1 , das Zitat 101. 84 ) Eva Österberg/Dag Lindström, Crime and Social Control in Medieval and Early Modern Swedish Towns. Uppsala 1988. - R. B. Goheen, Peasant Politics? Village Community and the Crown in Fifteenth-Century England, in: AHR 96 (1991), 4 2 - 6 2 . - Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit. Stuttgart/Jena/New York 1995.
Einführung
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Institutionen sind die Gemeinden genuine Schöpfungen der Untertanen. Ein König oder Fürst mag eine Stadt gründen, eine autonome Korporation wurde sie durch einen voluntaristischen Akt der Bürger, der sich in reinster Form als coniuratio darstellt, aber nicht darstellen muß. Auch das durch die Bürgerschaft oder ihre repräsentativen Ratsgremien verwillkürte Stadtrecht macht aus der Stadt eine moralische Person. In gleicher Weise sind auch die ländlichen Gemeinden keine Gründungen der Herren, sondern originäre Schöpfungen der Bauern. Wo eine Nachbarschaft sich Statuten gibt, ist Wille und Freiwilligkeit am Werk. Das Dorf ist keine villicatio, keine seigneurie und kein manor. Die sociabilité der europäischen Bauern 85 ) verdankt sich offenbar neuen Formen der Arbeitsorganisation, sonst wären ländliche Gemeinden nicht überwiegend zeitgleich zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert überall in Europa entstanden. Gemeinsam ist allen Kommunen das Recht, Statuten zu erlassen, das Statuierte über eine eigene, meist gewählte, jedenfalls repräsentative Verwaltung durchzusetzen und die Übertretung von Statuten selbst gerichtlich abzuurteilen. Das wußten die europäischen Juristen und haben dafür die Korporationslehre entwickelt, die von den Staatstheoretikern zu den vorwaltenden Begründungen der Monarchie mehr oder minder paßfähig gemacht wurde. Zweifellos gehören Kommunen in den Bereich des öffentlichen Rechts. Seitdem herrscht eine horizontale Teilung der Gewalten zwischen Gemeinden, Grundherrschaften und Monarchien (Fürstentümern), die durch die Französische Revolution gewissermaßen um 90 Grad in eine Vertikale von Legislative, Exekutive und Judikative gedreht wurde. Im Alten Europa sind alle drei Gewalten auf je lokaler, regionaler und nationaler Ebene vereint, wirksam werden sie nach dem Prinzip der Subsidiarität. Nach der Französischen Revolution liegen alle drei Kompetenzen beim Staat, der sie nach systematischen Gesichtspunkten zerlegt. Sojedenfalls kann man dem Umbau des institutionellen Gerüsts politischer Machtorganisation vom Alten Europa zum modernen sehen, aber die Gewaltenteilung ist keine Erfindung der Moderne. Politische Macht bedarf der Legitimität. Daß sie nicht ipso facto gegeben ist, obwohl das Abendland von Augustinus bis Bossuet den Gehorsam des Christen gegen die Obrigkeit in seine Politiktheorie eingebaut hat, ja sie im Gegenteil von Generation zu Generation neu eingeworben werden mußte, ist eine der wichtigsten Einsichten der Widerstandsforschung. Die Obrigkeit gewinnt Legitimität in dem Maße, wie sie Untertaneninteressen integrieren kann. Gravamina und Suppliken lehren, daß die Untertanen ihren Königen und Fürsten mehr Aufgaben und Verantwortung aufbürdeten, als sie wollten. Der Ruf nach guten Polizeien gegen Exporte und Importe, Bettler und Vagan85
) Jean-Pierre Gutton, La sociabilité villageoise dans l'ancienne France. Solidarités et voisinages du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1979.
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Peter Blickte
ten, Kleiderluxus und ruinöse Hochzeiten kommt aus den Städten und Dörfern und hat auch dort seine erste statutarische Regelung in den Stadtrechten und Dorfrechten gefunden. Wer Friede, Gemeinnutz und Auskömmlichkeit nicht sichern kann oder nicht fördern will, kommt unter die Räder der Delegitimierung wie der Adel und die Kirche. Die Interpretation läßt sich durchaus mit umfassenderen Deutungen der Geschichte Europas in Beziehung setzen. Schon Max Weber hat in der Stadt wegen deren typischen Hervorbringungen wie Bürokratie und Gesetz das Laboratorium für die Moderne gesehen 86 ). Seitdem gilt die Stadt als eine mögliche Keimform des modernen Staates 87 ). Die Fallstudien des vorliegenden Projekts zeigen, daß es nicht zwingend ist, mit Weber den Staat allein in der Stadt vorgeprägt zu sehen. Otto von Gierkes Ansatz, die europäische Geschichte als dialektisches Spiel von Herrschaft und Genossenschaft zu interpretieren, ist offener und vermag viele Formen voluntaristischer Assoziationen zu integrieren, neben Städten auch Dörfer und Bündnisse anderer Art, und deren politische Gestaltungskraft zu würdigen 88 ). Das Basis-Überbau-Theorem von Karl Marx als analytisches Modell läßt sich durchaus für die Beschreibung des interdependenten Zusammenhangs von Gemeinde und Staat heranziehen. Die Basis als „die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse" beziehungsweise „Eigentumsverhältnisse" 89 ) verändert sich mit der allmählichen Herausbildung und Verfestigung des Kommunalen. Die Gemeinde ist mit ihrer individuellgenossenschaftlich organisierten Form des Arbeitens ein Ausdruck der Produktionsverhältnisse, und ihre Mitglieder bilden neue Eigentumsverhältnisse aus, die durch unterschiedliche Grade der Entfeudalisierung gekennzeichnet sind. Die Korporationslehre der Juristen ist ein dem Kommunalen adäquater theoretischer Ausdruck, die sich schließlich in der Radikalisierung durch Jean Jacques Rousseaus Contrat social und dessen Rezeption glänzend gegen den favorisierten monarchisch-aristokratischen Herrschaftsverband und seine höfische Kultur durchsetzt. So gesehen gibt es einige Beobachtungen, die den Begriff dialektisch für die Beschreibung der prozessualen Entwicklung der Ausgestaltung politischer Macht zum modernen Staat nicht gänzlich absurd erscheinen lassen. Weniger strittig jedoch dürfte und sollte sein, daß es sich um einen Prozeß der Kommunikation von Untertanen und Obrigkeiten, Gemeinden und Fürsten handelt.
86
) Vgl. Weber, Wirtschaft (wie Anm. 3), 287. ) Zuletzt etwa Klaus Schreiner, Legitimität, Autonomie, Rationalisierung, in: Christian Meier (Hrsg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber. München 1994, 163-211. 88 ) Otto Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. 1868 [Neudruck Graz 1954], 89 ) Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. 13. Bd. Berlin 1981, 8f. 87
Teil I Gemeinde und Staat - eine europäische Erfahrung
Doléances, Requêtes und Ordonnances Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert* Von
Beat Hodler
1. Einführung 1.1. Einleitung D i e Frage nach der k o m m u n a l e n E i n f l u ß n a h m e auf den f r ü h n e u z e i t l i c h e n Staat ist v o m K o m m u n a l i s m u s k o n z e p t inspiriert, d a s zuerst anhand v o n Q u e l lenmaterial aus d e m o b e r d e u t s c h e n R a u m e n t w i c k e l t wurde 1 )- S i e setzt einerseits e i n e n Staat voraus, der auf dauernde K o n s e n s s u c h e a n g e w i e s e n ist und alles andere als s o u v e r ä n agiert, anderseits aber a u c h e i n e politisch organisierte, zur E i n f l u ß n a h m e auf den K ö n i g f ä h i g e G e m e i n d e 2 ) . Z u m i n d e s t für d a s 16. Jahrhundert sind b e i d e V o r a u s s e t z u n g e n erfüllt, w i e ein B l i c k auf die franz ö s i s c h e Historiographie zeigt.
1.2. Forschungslage 1.2.1.
Der Staat
in der
Ständedebatte
In j ü n g e r e r Zeit h a b e n Historiker w i e Fernand B r a u d e l 3 ) und J a m e s R u s s e l l M a j o r 4 ) aus j e unterschiedlicher Warte die Vorstellung e i n e s früh zentralisier* Für die benutzten Archivalien aus den Archives Nationales wird im folgenden die Sigle AN, für jene aus der Bibliothèque Nationale die Sigle BN verwendet. ') Vgl. dazu: Peter Blickte, Kommunalismus. Begriffsbildung in heuristischer Absicht, in: ders. (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich. München 1991, 5-38. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Jean-Marie Constant, Le Mans, verpflichtet, der mir durch seine hilfreichen Hinweise den Zugang zu dem in Kapitel 2.1.2. analysierten Archivbestand der Bibliothèque Nationale erleichterte. 2 ) Eine völlige Gleichartigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im Reich und in Frankreich wird damit nicht behauptet. Vgl. dazu: Wolfgang Schmale, Neuere Forschungen zur Verwaltungsgeschichte der Landgemeinden in Frankreich und Deutschland vor der Industrialisierung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 4 (1992), 343-363. 3 ) Fernand Braudel, L'identité de la France. Espace et Histoire. Paris 1986, 68f. Sehr instruktiv sind im übrigen die breit angelegten linguistischen Umfragen, die zur Zeit der Revolution durchgeführt werden. Die entsprechenden Dokumente lassen auch im sprachlichen Bereich eine große Vielfalt innerhalb Frankreichs erkennen. Bezeichnend dafür ist,
24
Beat Hodler
ten und durch eine übermächtige Verwaltung straff organisierten französischen Staates kritisiert. In den Forschungsdebatten um den Charakter des frühmodernen Staates ist die Frage nach der Rolle der Etats Généraux zentral. Die Geschichte der Generalstände ist äußerst wechselhaft, was eine verallgemeinernde Bewertung erschwert 5 ). Als geradezu revolutionär ist die Leistung jener Versammlungen bezeichnet worden, die in den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts Frankreich vorübergehend in eine konstitutionelle Monarchie umwandelten. Die Etats Généraux formulierten in der Ordonnance vom 28. Dezember 1355 das Prinzip der Steuergleichheit, postulierten ein Widerstandsrecht und stellten dem Thronfolger einen Rat zur Seite, nachdem der König Jean in englische Gefangenschaft gefallen war 6 ). Die Errungenschaften der Etats Généraux von 1484 werden hingegen eher im Verfahrensbereich angesiedelt. Damals wurde nämlich erstmals festgelegt, daß niemand mehr als Person oder kraft eines hohen Amtes eingeladen werden solle. Alle Teilnehmer an den Ständeversammlungen, auch jene des Klerus und Adels, waren zu wählen 7 ). Viel Beachtung haben in der Forschung die Generalstände von 1614 gefunden, die Roland Mousnier zufolge freilich nicht in erster Linie als Ort der Begegnung der korporativ verfaßten Untertanen mit ihrem Herrscher zu sehen sind. Vielmehr sei diese Versammlung als vielbeachtete Plattform eines erbitterten Verteilungskampfes innerhalb der Herrschaftselite zu beschreiben. Der unerquickliche Kampf um Privilegien und Ämter habe schließlich nicht wenig zum Ausschalten der Etats Généraux beigetragen, die seither nicht mehr zusammentraten. Die Uneinigkeit der Ständevertreter habe also letztlich dem König den Übergang zum Absolutismus erleichtert 8 ). daß Dekrete der Assemblée Nationale ins südfranzösische Patois übersetzt wurden. Vgl. dazu: Michel de Certeau/Dominique Julia/Jacques Revel (Hrsg.), Une politique de la langue. La Révolution française et les patois: L'enquête de Grégoire. Paris 1975. 4 ) James Russell Major, Représentative Government in Early Modem France. New Häven/ London 1980. 5 ) Vgl. dazu immer noch den Gesamtüberblick bei: Claude Soûle, Les Etats Généraux de France (1302-1789). Etude historique, comparative et doctrinale. Heule 1968. Soule vertritt die These, Ständeversammlungen hätten sich auf Dauer dann durchsetzen können, wenn sie die Abhängigkeit sowohl gegenüber dem Landesherrn als auch gegenüber den Repräsentierten lockern konnten. Dies sei in England der Fall gewesen. In Frankreich dagegen seien beide Abhängigkeiten bestehen geblieben, was schließlich zu einem Bedeutungsverlust der Etats Généraux beigetragen habe. 6 ) Ferdinand Lot/Robert Fawtier (Hrsg.), Histoire des Institutions Françaises au Moyen Age. 2 Bd. Paris 1958, 563-566. 7 ) Vgl. dazu die Untersuchung von Neithard Bulst, Die französischen Generalstände von 1468 und 1484. Prosopographische Untersuchungen zu den Delegierten. Sigmaringen 1992. 8 ) Roland Mousnier, L'assassinat d'Henri IV. [Paris] 1964. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Zeugnis eines prominenten Zeitgenossen, des Bischofs von Bei-
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
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Nach welchen Kriterien ist überhaupt die wechselhafte Geschichte der Etats Généraux zu beurteilen? Daß eine immerhin über mehr als 300 Jahre hinweg existierende und dann 1789 erneut aktualisierte Institution nicht ohne weiteres mit dem personalisierenden Verdikt „gescheitert" zu belegen ist, leuchtet wohl ein 9 ). Ein systematisches Kriterium der Beurteilung stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals wurden die anläßlich der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständeversammlungen eingereichten Beschwerdeschriften Artikel für Artikel mit den daraufhin erlassenen königlichen Gesetzen konfrontiert. In seinem Essai sur l'Histoire de la Formation et des Progrès du Tiers Etat verfolgte Augustin Thierry die Einflußnahme des Dritten Standes auf die königliche Gesetzgebung seit dem 14. Jahrhundert. Typisch für seine Gesamteinschätzung sind folgende Äußerungen, die aus der Analyse der Etats Généraux von 1560 stammen: Das durch den Tiers Etat vorgelegte Cahier de Remontrances habe die von Adel und Klerus verfaßten Texte in qualitativer wie quantitativer Hinsicht weit übertroffen. Der Dritte Stand habe ein bemerkenswertes Engagement für soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl erkennen lassen. Seine Forderungen zeichneten sich aus durch den Wunsch nach einer dauerhaften Ordnung, einen Instinkt für Reformen und ein vertieftes Wissen um Rechts- und Verwaltungspraxis. Die detaillierte, 354 Artikel umfassende Beschwerdeschrift des Dritten Standes sei dermaßen präzis gefaßt worden, daß sie ohne weiteres als Muster für ein Gesetz gelten konnte 10 ). Einen vergleich-
ley, der anläßlich der Etats Généraux von 1614 mehrere Reden hielt und insbesondere in einer Homélie des désordres Zweifel daran äußerte, daß der Dritte Stand überhaupt vertreten sei: , J e tourne maintenant la pointe de mon discours vers les desordres que mes yeux apperçoivent dans le tiers Estât. Le plus signalé et important de tous est que cet Ordre, tel qu'on nous l'a composé en ces Estats, ne me semble rien moins que le tiers Estât [...] Je me suis tousjours figuré par le tiers Estât la basse région de l'air, la lie et la tourbe du peuple, distinguée en marchans, artisans, bourgeois et villageois" (Jean-Pierre Camus, Homélies des Etats Généraux (1614-1615). Hrsg. von Jean Descrains. Genf 1970, 333). Für ähnliche Bewertungen vgl. etwa Marcel Marion, Dictionnaire des Institutions de la France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris [1923] 1984, 216. Vgl. auch Bluches Darstellung, derzufolge die Delegierten durch ihre zänkische Grundhaltung das Ende der Etats Généraux selber verschuldet hätten. Die Versammlung von 1614 habe sich dermaßen „insupportable" gezeigt, „que le Roi cessa de la convoquer" (François Bluche, L'Ancien Régime. Institutions et société. Paris 1993, 37). 9
) Vgl. dazu: Eberhard Schmitt, Neuere Forschungen zur Geschichte der französischen Generalstände, in: Der Staat 11 (1972), 527-549. 10 ) Augustin Thierry, Essai sur l'Histoire de la Formation et des Progrès du Tiers Etat, suivi de deux Fragments du Recueil des Monuments inédits de cette Histoire. Paris 1853, 102. Thierry engagierte sich seit der Restaurationszeit gegen aristokratische oder absolutistische Deutungen der jüngeren Vergangenheit. Ihm zufolge stellte die Französische Revolution den Kulminationspunkt jahrhundertelanger Kämpfe des Dritten Standes für bürgerliche Ordnung, Einheit und Freiheit dar. Vgl. dazu: Dietrich Gerhard, Guizot, Augustin Thierry und die Rolle des Tiers Etat in der Französischen Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung. Göttingen 1962, 57-75.
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Beat Hodler
baren A n s a t z v e r f o l g t e G e o r g e s P i c o t 1 1 ) , der e i n e e n g e Verbindung z w i s c h e n d e n anläßlich der Etats
Généraux
vorgebrachten Forderungen d e s Dritten
Standes u n d d e n i m A n s c h l u ß daran e r l a s s e n e n staatlichen G e s e t z e n für die E p o c h e z w i s c h e n 1 3 5 5 und 1 6 1 4 m i n u t i ö s b e l e g t hat. In einer 1 8 7 2 e r s c h i e n e nen U n t e r s u c h u n g konfrontierte er d i e Cahiers s c h l i e ß l i c h e r l a s s e n e n Ordonnances,
der drei Stände mit d e n
w o b e i er n a c h w e i s e n konnte, daß tat-
s ä c h l i c h e i n e e r h e b l i c h e A n z a h l v o n B e s c h w e r d e a r t i k e l n d e s Dritten Standes E i n g a n g in d i e G e s e t z g e b u n g fand. Thierry w i e a u c h Picot haben s o m i t auf d e n p r ä g e n d e n E i n f l u ß a u f m e r k s a m g e m a c h t , d e n d i e B e s c h w e r d e s c h r i f t e n d e s Dritten S t a n d e s auf d i e k ö n i g l i c h e G e s e t z g e b u n g a u s g e ü b t haben. D a s v o n einer verfaßte Cahier
de Doléances
Generalständeversammlung
stellte j e w e i l s e i n e S y n t h e s e j e n e r B e s c h w e r d e n
dar, d i e z u v o r auf d e n k o m m u n a l e n ( P a r o i s s e ) und r e g i o n a l e n ( C h â t e l l e n i e u n d Bailliage)
E b e n e n erstellt w u r d e n 1 2 ) . D a ß der Commun
- so bezeichnet
g e l e g e n t l i c h die p o l i t i s c h e Rhetorik in Frankreich j e n e n Personenkreis, den d i e d e u t s c h e S p r a c h e Gemeiner
Mann
n e n n t 1 3 ) - im Vorfeld der Etats
Géné-
") Georges Picot, Histoire des Etats Généraux considérés au point de vue de leur influence sur le Gouvernement de la France de 1355 à 1614. 4 Bde. [Paris 1872], Nachdruck Genf 1979. 12 ) Eine ganze Reihe von lokalen oder regionalen Beschwerdeschriften des Dritten Standes sind seit längerer Zeit ediert. Als Einzelbeispiele erwähnt seien: Georges Lecocq (Hrsg.), Cahiers de Doléances de le Prévôté de St.-Quentin aux Etats Généraux de Blois de 1576. Saint-Quentin 1876, 5-51; Remontrances, Plaintes et Doléances des Habitans de Beauvais pour l'Assemblée des Estats de Blois (1576), in: Mémoires de la Société Académique d'Archéologie, Sciences et Arts du Département de l'Oise 1 (1847), 264—277; Henri Jadart (Hrsg.), Les Remontrances des Habitants de Rethel et du Bailliage de Vitry-le-François aux Etats Généraux de Blois en 1588, in: Revue Historique Ardennaise 12 (1905), 237-277; Cahier de la Ville et Faulxbourgs de Paris (1614), in: Paul Guérin u.a. (Hrsg.), Histoire générale de Paris. Registre des délibérations du bureau de la ville de Paris 161(1614-1616). Paris 1927, 98-136; G. Tholin (Hrsg.), Cahiers des Doléances du Tiers Etat du Pays d'Agenais aux Etats Généraux (1588, 1614, 1649, 1789). Paris/Agen 1885; Maurice de BengyPuyvallée (Hrsg.), Extraits des Cahiers des Assemblées du Tiers Etat du Duché de Berry en 1576 et 1588, in: Mémoires de la Société des Antiquaires du Centre 46 ( 1934/35), 129-158; Célestin Port (Hrsg.), Cahier du Tiers Etat de la Sénéchaussée de Saumur aus Etats généraux de 1614, in: Revue Historique, Littéraire et Archéologique de l'Anjou (1867), 2 0 3 210. Auf offenbar bis heute unbearbeitet gebliebenes Quellenmaterial machte indessen, kürzlich Yves Soulingeas aufmerksam. Vgl.: Yves Soulingeas, Le Dauphiné aux Etats Généraux de Blois (1576). Une richesse des archives municipales de Vienne, in: Evocations (1991), 52-60. 13 ) Seit dem 13. Jahrhundert ist für „le commun" die Bedeutung von „l'ensemble des habitants d'une ville, etc, à l'exception de la noblesse", nachgewiesen (Walther von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch. 2. Bd. Basel 1946, 961). Das Altfranzösische Wörterbuch übersetzt „le commun" mit „Allgemeinheit, Gesamtheit, Volk, Gemeinde, Gefolge" (Erhard Lommatzsch [Hrsg.], Tobler-Lommatzsch. Altfranzösisches Wörterbuch. 2. Bd. Berlin 1936, 642). Das Dictionnaire de la langue française du seizième siècle umschreibt „le commun" mit „l'ensemble des hommes" (Edmond Huguet, Dictionnaire de la langue française du seizième siècle. 2. Bd. Paris 1932, 371). Das Dictionnaire françois von
Doléances,
Requêtes
und
Ordonnances
27
raux vielerorts Gelegenheit hatte, seine Wünsche und Klagen zu formulieren, ist in der Tat unbestritten und für die großen Ständeversammlungen von 1560, 1576, 1588 und 1614 14 ) belegt 15 ). Dies läßt sich anhand der ländlichen Partizipation illustrieren, die sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts besonders in Nordfrankreich ausweitete 16 ). Die Formen der Beteiligung waren sehr unterschiedlich. Teils wurde ein individuelles Beschwerderecht vorgesehen: So erhielt 1560 in Paris jedermann das Recht, Beschwerden einzureichen 17 ), und auch im Nivernais wurde im Vorfeld der Wahlen von 1560 den Bewohnern der Stadt Nevers und des Umlands die Möglichkeit gegeben, Klagen zum Rathaus zu bringen 18 ). Anderswo konnten ländliche Vertreter direkt an den Redaktionsversammlungen auf der Stufe Bailliage teilnehmen. So wurde 1614 in Tours festgelegt, das Cahier des Bailliage sei von 24 Männern zu verfassen, nämlich dem Bürgermeister samt zwei Schöffen, sieben königlichen Beamten, Repräsentanten der acht Gemeinden der Stadt sowie sechs Dorfvertretern 19 ). Eine direkte Vertretung von Dörfern an der Versammlung auf der Stufe des Bailliage ist 1576 auch für Epernay nachgewiesen 20 ). Wenn bisher darauf verzichtet wurde, kommunale Beschwerden direkt mit königlichen Ordonnances systematisch zu konfrontieren, kann dies somit nicht nur der Quellenlage angelastet werden. Wurde eine solche Radikalisierung des Picotschen Ansatzes vielleicht deshalb nicht durchgeführt, weil man den französischen Dorf- und Stadtgemeinden eine Einflußnahme auf die staatliche Gesetzgebung schlicht nicht zutraute? Sieht die Forschung in Frankreich überhaupt eine Gemeinde vor, die fähig und willens ist, sich an den staatlichen Geschäften, insbesondere an der Schaffung neuer Gesetze zu beteiligen?
Richelet, das aus dem 17. Jahrhundert stammt, enthält die Bedeutungen „Peuple, multitude" (P. Richelet, Dictionnaire françois. Genf 1680, 154). 14 ) In der Literatur wird oft zu Recht auf die große Lücke zwischen 1614 und 1789 aufmerksam gemacht. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß immerhin 1 6 4 9 1651 noch einmal Etats Généraux geplant waren, die zwar schließlich nicht durchgeführt wurden, für welche aber immerhin Beschwerdeschriften verfaßt wurden. Vgl. dazu: Roland Mousnier u. a. (Hrsg.), Problèmes de stratification sociale. Deux cahiers de la noblesse pour les États Généraux de 1649-1651. Paris 1965. 15 ) Die noch während des Bürgerkriegs im Jahr 1593 von der Ligue durchgeführten Versammmlungen bilden einen Spezialfall. Erwähnenswert ist immerhin, daß damals der Dritte Stand des Bailliage von Caux in der Normandie durch einen „Laboureur" vertreten wurde. Vgl. dazu: Auguste Bernard (Hrsg.), Procès-verbaux des Etats généraux de 1593. Paris 1842. 16 ) Zur Intensivierung der bäuerlichen Rolle in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl.: James Russell Major, Representative Institutions in Renaissance France 1421-1559. Madison 1960, 68 f. 17 ) Ebd., 57. 18 ) Ebd., 61. 19 ) Ebd., 4 9 f. 20) Ebd., 54.
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Beat Hodler
1.2.2.
Gemeindeforschung
1.2.2.1. Frankreich als Société de Corps In der Frühneuzeit stand der französische König dauernd in Verbindung mit korporativ verfaßten Gruppen. Einige Beispiele aus der Geschichte der Reformierten, die in den Quellen meist als Anhänger der Religion Prétendue Réformée bezeichnet werden, sollen dies illustrieren. In den Registern des königlichen Rats tauchen viele protestantische Suppliken auf, etwa im Februar 1566 die requestes de la part des habitons du pays de Prouuence de la religion quon dit refforme. 1573 wird eine Bittschrift der Stadt La Rochelle im Druck verbreitet, in der unter anderem die freie Ausübung der Religion, des Handels, die Exemption von kirchlichen Steuern, die Reduktion der Taille und Partizipation der Stadt an der Wahl ihres Gouverneurs verlangt wird 21 ). Die Protestanten benutzten aber auch ihre Synoden, um sich mit Nachdruck an den König zu wenden 22 ). So richtet 1654 ein Vertreter der protestantischen Synode in der südwestfranzösischen Basse Guyenne eine zwölf Seiten und 23 Artikel umfassende Bittschrift an den König 23 ). Zumindest in einer Hinsicht bildeten die französischen Protestanten keine Ausnahme. Sie stellten nur eines von vielen Corps dar, die auf den König Einfluß zu nehmen versuchten. Das frühneuzeitliche Frankreich läßt sich in der Tat, wie Roland Mousnier gezeigt hat, als Konglomerat einer Vielzahl von Korporationen beschreiben. Diese Corps, Corporations, Collèges, Compagnies oder Communautés verfolgen gleichzeitig ihr Gruppenwohl und Ziele, die für das Gemeinwohl relevant sind. Sie verfügen über einen eigenen Namen, Siegel, Wappen, einen sozialen Status und Privilegien. Dem König, der ihnen die Ausübung diverser Rechte delegiert hat 24 ), sind sie Abgaben schul21
) Der Text ist mit Randbemerkungen versehen, die Aufschluß über den Erfolg beziehungsweise Mißerfolg der einzelnen Forderungen geben (Suppilcation [sic] et articles presantes av Roy de Pologne par les habitans de la Rochelle, respondus & accordés par sa magesté ausdits habitants, & a ceux de Nymes & Montauban, pour le repos & pacification de ce Royaume, Narbonne 1573. BN, Réserve L34b - 976). Aus La Rochelle sind auch Bittschriften einzelner Gruppen erhalten: 1614 supplizieren 20 Frauen aus La Rochelle an die Königin, um die Freilassung ihrer gefangenen Ehemänner, Söhne und Brüder zu erreichen (AN, TT 384B, pièce 140). 22 ) Unter dem Titel Actes politiques ist in den Akten der nationalen Synode von 1607 ein Briefwechsel zwischen den Deputierten der Synode und dem König verzeichnet. Thema sind die Modalitäten der Wahl von ständigen Vertretern der protestantischen Gemeinschaft beim König (Dix-Huitième Synode National des Eglises Réformées de France. Tenu à la Rochelle [1607], in: Aymon [Hrsg.], Actes Ecclésiastiques et Civils de tous les Synodes. [O.O.] 1710, 343 ff.). 23 ) AN, TT 431, Aktenstück 3. Die Schrift ist am Rand mit den königlichen Antworten versehen. 24 ) Zur Rechtsvorstellung von Justice déléguée (im Gegensatz zur Justice retenue) vgl. auch: Ariette Lebigre, La Justice du Roi. La vie judiciaire dans l'ancienne France. Paris 1988.
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29
dig. Zu den Pflichten der Corps gehört es, dem König mit Rat zur Seite zu stehen, ihm Remontrances zukommen zu lassen. Sie sind repräsentiert in den Versammlungen der Stadtbürger, sie partizipieren bei der Wahl der kommunalen Behörden, sie redigieren die Cahiers de Doléances für die Etats Généraux. Die Corps sind politisch. Sie rekrutieren ihre Mitglieder selber. Diese müssen sich einer Eintrittszeremonie unterziehen, welche oft einen Eid beinhaltet. Die Corps führen Versammlungen durch. Ihre führenden Persönlichkeiten werden entweder durch Wahl bestimmt oder drängen sich - falls die Körperschaft hierarchisch aufgebaut ist - aufgrund ihres Status auf. Den Dirigeants wird ein Rat zur Seite gestellt. Ein Mitglied dieses Rats spielt dabei die Rolle des Anwalts des Gesamtinteresses der Körperschaft. Alle Mitglieder haben sich den durch die Generalversammlung verabschiedeten Statuten zu unterziehen. Diese Statuten haben für die Mitglieder Gesetzescharakter, sie werden aber durch das Herkommen ergänzt. Die Corps sind berechtigt, Verträge zu schließen, Vermögen zu besitzen, Prozesse zu führen. Sie haben eine eigene Kasse. An den König wenden sie sich, um Garantien ihrer Privilegien oder Beschlüsse des königlichen Rats zu erwirken 25 ). Im folgenden soll das Augenmerk auf die Beschreibung von zwei politisch besonders relevanten Corps gerichtet werden. Gemeint sind die Stadt- und die Landgemeinde, welche in Mousniers Typologie in derselben Kategorie erscheinen, handelt es sich doch in beiden Fällen um Communautés territoriales assimilées à des corps. 1.2.2.2. Stadt- und Landgemeinde als Corps Albert Rigaudière hat in einer Untersuchung über südfranzösische Städte im 13. und 14. Jahrhundert 26 ) die These aufgestellt, lokale Magistrate hätten dem Monarchen ihre Erfahrung eines „gouvernement municipal" sowie ihr „savoir-faire administratif weitergegeben. So habe die königliche Verwaltung die in den Städten funktionierenden Gesetzgebungsverfahren kopiert 27 )
25
) Roland Mousnier, Les Institutions de France sous la Monarchie absolue. 1. Bd. Paris 1974, 335 f. 26 ) Albert Rigaudière, Réglementation urbaine et „Législation d'Etat" dans les villes du midi français aux XHIe et XlVe siècles, in: Neithard Bulst/Jean-Philippe Genet (Hrsg.), La ville, la bourgeoisie et la genèse de l'Etat moderne (XlIe-XVIIIe siècles). Paris 1985, 35-70. 27 ) Die Police consulaire bleibt Rigaudière zufolge in den Bereichen der Stadtplanung, Versorgung, Sitten, Infrastruktur unbestritten. Was die Verteidigungspolitik angeht, beansprucht die Zentralgewalt größere Interventionsrechte; in der Praxis wird den Städten indessen auch hier ein großer Spielraum belassen. Im Steuerwesen weisen die Städte gegenüber der Zentrale einen großen Wissensvorsprung auf. Noch im 14. Jahrhundert überlassen südfranzösische Stadtverwaltungen der königlichen Administration ihre Listen der Steuerpflichtigen, welche diese nicht selber nachzuführen imstande ist.
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und deren Rechtsterminologie übernommen 28 ). Insgesamt scheint die innovative Wirkung der Städte in der Forschung kaum bestritten zu werden. Kann den Dorfgemeinden eine ähnliche Rolle zugebilligt werden? In diesem Punkt gehen die Ansichten auseinander. Daß indessen Zweifel an einer vollständigen und scharfen Trennung von Stadt und Land berechtigt sind, zeigt ein Blick auf die Siedlungsformen. So entspricht das in Südfrankreich verbreitete ummauerte, große Dorf, das Kaufleute, Handwerker und Taglöhner beherbergt, in der Tat weitgehend der landläufigen Vorstellung einer Stadt 29 ). Auch unter dem rechtsgeschichtlichen Aspekt drängt sich eine Trennung zwischen Dorf- und Stadtgemeinde nicht auf. So ist die seit dem 11./12. Jahrhundert in Nordfrankreich nachgewiesene Commune als lokaler Friedensverband 30 ) keine exklusiv städtische Errungenschaft. Petit-Dutaillis erwähnt eine Liste königlicher Vasallen aus dem 13. Jahrhundert, auf der unter dem Titel Communie nicht nur Städte wie Péronne, Amiens, Laon, Caen und Poitiers, sondern auch Gruppen von Dörfern verzeichnet sind31)Neuerdings hat auch Gérard Sivéry eindringlich für eine Revision des althergebrachten Bildes einer (im Gegensatz zur rührigen Stadtgemeinde) völlig passiven Landbevölkerung plädiert. Er weist auf prozessierende Gemeinden, auf direkte Kontakte zum König, auf die zahlreichen und geschichtswirksamen Chartes de Franchises hin 32 ). Aktive Landgemeinden sind auch für andere Epochen und andere französische Regionen beschrieben worden. René Pillorget charakterisiert für Städte wie Dörfer in der Provence des 17. Jahrhunderts die Communauté als die entscheidende Organisationsform. Die Communautés sind in der Regel als Konsulat organisiert und verfügen über ein Règlement municipal, also gewissermaßen eine Verfassung. In wichtigen Fragen
28
) Als Beispiele führt Rigaudière die Begriffe proclamare, statuere, ordinäre an. ) Vgl. dazu Jean-Pierre Gutton, La sociabilité villageoise dans l'ancienne France. Solidarités et voisinages du XVIe au XVIIIe siècle. [Paris] 1979. Gutton unterscheidet bezüglich der dörflichen Siedlungsstruktur in Frankreich drei Großregionen: Im Süden ist der oben präsentierte Typ häufig, im Westen herrscht die Streusiedlung vor, während sich die Gemeinde im Norden und Osten um einen Dorfkern herum organisiert. 30 ) Albert Vermeesch, Essai sur les origines et la signification de la commune dans le Nord de la France (Xle et Xlle siècles). Heule 1966. Laut Vermeesch besteht die Hauptfunktion der Commune in der Friedenssicherung mit Hilfe einer Miliz. Zur Commune gehören ein Gesetz und der Eid der Einwohner. Die Initiativen zur Gründung von Communes werden teils von den Stadtgemeinden selber, teils von bischöflichen Stadtherren ergriffen. So wird in Le Mans und Noyon die städtische Commune zuerst vom Bischof anerkannt. Wenn sich die Commune vom Bischof emanzipiert, kommt es oft zu Konflikten. 31 ) Ch. Petit-Dutaillis, Les Communes Françaises. Caractères et évolution des origines au XVIIIe siècle. Paris 1947. 32 ) So wurde die 1182 vom Erzbischof von Reims erlassene „Charte" des nordfranzösischen Beaumont-en-Argonne später von mehr als 500 Dörfern übernommen. Vgl. zum Problem der Chartes de franchises in Frankreich generell: La Charte de Beaumont et les franchises municipales entre Loire et Rhin. Actes du colloque organisé par l'Institut de recherche régionale de l'Université de Nancy II (22-25 septembre 1982). Nancy 1988. 29
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
31
entscheidet der Konsul nicht allein, sondern er zieht den Rat hinzu oder führt gar eine Versammlung der kommunalen Hausvorstände durch. In der Provence existieren, so resümiert Pillorget, etwa 650 „petites républiques" 33 ). Auf einer abstrakteren Ebene wird die Landgemeinde 34 ) bei Mousnier beschrieben, und zwar als Einwohnerverband, der sich mit dem Ziel des Gemeinen Nutzens selber organisiert und verwaltet 35 ). Sie unterscheidet sich insofern von andern Corps, als ihre rechtliche Existenz keine explizite königliche Bestätigung voraussetzt. Gelegentlich tritt sie auch als Paroisse in Erscheinung, was erklären mag, daß Parochianen gelegentlich als Urwähler bei der Bestellung der Ständedeputierten erscheinen, obwohl nach Mousnier zwischen Einwohnergemeinde und Kirchgemeinde rechtlich unterschieden werden muß 36 ). Die Selbstverwaltung der Communauté d'habitants läuft über Einwohnerversammlungen, deren Abhaltung im Prinzip von der Bewilligung des lokalen Seigneur oder des Richters abhängt. Die Praxis richtet sich aber nach den Coutumes37). Die Versammlung wird vom Bürgermeister einberufen. Sie ist nur dann beschlußfähig, wenn sie un peuple ausmacht, das heißt, wenn sie mindestens zehn Bewohner vereinigt 38 ). Wenn es um den Verkauf von Allmenden oder andere grundlegende Entscheidungen geht, ist die Teilnahme der Gesamtgemeinde Voraussetzung. Die Versammlungen setzen sich aus steuerpflichtigen Hausvätern und Witwen zusammen. Die Communautés verfügen über die Police rurale, sie regeln also den Schutz der Felder und Wälder. Sie organisieren die Feuerwache. Teilweise fixieren sie auch Preise und Löhne. Weiter besetzen sie Ämter, etwa jenes des Forstwarts, bestimmen 33
) René Pillorget, Le travail administratif dans les communes provençales au XVIIe siècle, in: Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire comparée de l'administration (IVe-XVIIIe siècles). München 1980, 450-466. 34 ) Kurzer Überblick über die einschlägigen Untersuchungen aus der Agrargeschichte: Victor V. Magagna, Communities of Grain. Rural Rebellion in Comparative Perspective. Ithaca 1991. Magagna konstatiert in der französischen Historiographie eine weite Verbreitung „of the concept of Community" (128). 35 ) Zum Folgenden: Mousnier, Institutions (wie Anm. 25), 428. 36 ) Zur Communauté d'habitants vgl. auch Magagna, Communities (wie Anm. 34), der eine geographische Differenzierung vornimmt: Während in Nord- und Zentralfrankreich die Einwohnergemeinschaft mit dem Dorf oder der Seigneurie korrespondiert, entspricht in Westfrankreich die Communauté weitgehend der Kirchgemeinde, wobei das Amt des Bürgermeisters häufig aus dem des Marguiller entstanden ist. In Südfrankreich schließlich existiert die Institution der Hausväterversammlungen, welche einen Conseil politique bilden (133). 37 ) Gemäß der Coutume des Haut pays d'Auvergne in Zentralfrankreich ist keine solche Bewilligung nötig. Gemäß der Coutume der Marche reicht es aus, daß der Seigneur über die Abhaltung der Einwohnerversammlung informiert wird (Mousnier, Institutions [wie Anm. 25], 428). 38 ) Diese Regelung hat offenbar römisch-rechtliche Wurzeln. Vgl. dazu die Angabe bei Losaeus, Tract, de iure Universit. 1612, 42: „Populus constituitur [...] ex decem hominibus"; siehe den Beitrag von Sibylle Hunziker, Die ländliche Gemeinde in der juristischen Literatur 1300-1800, in diesem Band.
32
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über Bau und Unterhalt der Kirche, des Schulhauses, des Gemeindehauses. Durch die Corvée bourgeoise werden gemeinsam Wege instandgehalten. Die Communauté ist schließlich zuständig für die Bezahlung der Schulmeister, Hirten und Hebammen 39 ). Aus dem kursorischen Überblick ergibt sich das Bild einer Gemeinde, die durchaus fähig ist, praktische Funktionen im lokalen Bereich wahrzunehmen. Daraus ergibt sich zunächst einmal, daß der Versuch, kommunale Cahiers de Doléances mit königlichen Ordonnances zu konfrontieren, keineswegs absurd ist. Ausgehend vom Bild einer politisch aktiven Dorf- und Stadtgemeinde läßt sich darüber hinaus fragen, über welche Kanäle, auch außerhalb der seltenen Etats Généraux, kommunale Instanzen ihre Wünsche an den König brachten.
1.3. Fragestellung In zweierlei Weise soll im folgenden versucht werden, im Anschluß an die zwei vorgestellten Forschungsstränge Gemeinde und Staat aufeinander zu beziehen. Zum einen wird von der ständestaatlichen Debatte ausgegangen und eine Radikalisierung des Thierryschen und Picotschen Ansatzes versucht, indem die königlichen Ordonnances nicht mehr mit dem gesamtfranzösischen Cahier des Dritten Standes, sondern anhand eines Fallbeispiels mit Beschwerdeschriften der kommunalen Basis konfrontiert werden (2.1.). Zum andern wird von der politischen Gemeinde ausgehend die allgemeinere Frage gestellt, wie diese auch außerhalb der Etats Généraux auf den Staat zu wirken verstand (2.2.).
2. Kommunale Partizipation 2.1. Doléances - Ordonnances : Der Mechanismus des Ständestaats 2.1.1. Einleitende Beispiele: Vendômois und Essonnes Am 31. August 1614 wurde im Namen des Dritten Standes des Vendômois, eines kleinen Herzogtums nordöstlich von Tours 40 ), eine Beschwerdeschrift
39
) Magagna, Communities (wie Anm. 34), beschreibt die französische Landgemeinde als Beispiel für die sogenannten Communities of grain. Letztere zeichnen sich aus durch eine politisch-rechtliche (kommunale Gerichtsbarkeit), eine soziale (lokale Riten, Zusammengehörigkeitsgefühl) und eine ökonomische Dimension (minimale wirtschaftliche Solidarität und Kooperation). 40 ) 1515 war die Grafschaft in den Rang einer Duché-pairie erhoben, 1598 einem unehelichen Sohn von Henri IV als Apanage übergeben worden. 1712 kehrte das Vendômois unter
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Ordonnances
33
redigiert 41 ), die 47 Artikel umfaßt und die Bereiche Klerus, Justiz, Adel, Finanzen und Polizei betrifft. Das Cahier fordert die Wahl der Pfarrer und der ständigen Vikare durch die Gemeindeversammlung (Artikel 2). Es beansprucht ein Einspracherecht der „parroissiens" für den Fall, daß ein Pfarrer sein Amt zugunsten eines andern Geistlichen niederlegt (Artikel 3) oder einen Vikar einsetzt (Artikel 5). Im Kapitel Justice wird gefordert, daß Beamte von den drei Ständen jeder Provinz zu wählen seien (Artikel 11). Das Droit de Committimus, der privilegierte Gerichtsstand der Angehörigen des königlichen Hofs, soll eingeschränkt werden, und Adlige sollen in der jeweils nächstliegenden Stadt ihren Gerichtsstand haben. Ein Bestreben nach kommunaler Kontrolle wird auch im Abschnitt Finances deutlich: Der König wird aufgefordert, eine Kommission aus Vertretern aller drei Stände zu ernennen, welche die Verwendung der Steuergelder zu überprüfen hat (Artikel 22). Steuern, welche die Gemeinden für eigene Belange erheben, sollen von Gemeindevertretern statt von königlichen Beamten verwaltet werden (Artikel 27). Die Rechtsverhältnisse sind übersichtlicher zu gestalten: Um kostspielige Prozesse unter den Einwohnern zu verhindern, ist für die Redaktion einer einheitlichen Coutume eine Versammlung der drei Stände des Vendômois einzuberufen (Artikel 30). Im Bereich der Polizei wird unter anderem vorgeschlagen, die in den Getreidemühlen gängigen Preise und Maße unter Mitwirkung der „plus notables habitants" zu kontrollieren (Artikel 41). Zusammen mit diversen Cahiers aus andern Bailliages und Sénéchaussées diente der vorliegende Text als Grundlage der Beschwerdeschrift des Gouvernement von Orléans. Aus Randnotizen ist ersichtlich, wie die Forderungen bei der Redaktion des Cahiers auf der nächsthöheren Verwaltungseinheit beurteilt wurden. Von den insgesamt 47 Artikeln wurden 13 ohne zusätzliche Bemerkungen angenommen („passé"), 12 wurden kommentarlos verworfen (,.rejeté"), und 17 mit Einschränkungen beziehungsweise Ergänzungen genehmigt. Dazu kommen zwei Beschwerden, die direkt dem königlichen Rat zugewiesen wurden, zwei ohne eindeutige Bewertung und eine mit dem Vermerk „n'en sera parlé". Im Falle der oben erwähnten, auf den ersten Blick brisanten Forderungen präsentiert sich folgendes Bild:
die direkte Herrschaft der Krone zurück (vgl. dazu: Paul Wagret [Hrsg.], Histoire de Vendôme et du Vendômois. Toulouse 1984). 41 ) Ch. Bouchet (Hrsg.), Cahier du Tiers-Etat Vendômois aux Etats-Généraux de 1614, in: Bulletin de la Société Archéologique, Scientifique et Littéraire du Vendômois 11 (1872), 80-101 u. 145-164.
34
Beat
Hodler
Tabelle 1: Redaktion des Cahier Artikel 2
Pfarrwahl durch die Gemeindemitglieder
„Rejetté"
Artikel 3
Einspracherecht der Gemeinde bei Wechsel des Pfarrers infolge Rücktritts
„Rejetté"
Artikel 5
Kommunaler Konsens bei Einsetzung eines Vikars
„Rejetté"
Artikel 11
Wahl der Justizbeamten durch 3 Stände jeder Provinz
„Passé"
Artikel 22
Kontrolle der Verwendung der Steuergelder durch Stände Vertreter
„Passé" (mit Kommentar)
Artikel 27
Verwaltung der gemeindeeigenen Steuern durch kommunale Organe
teils „Passé"
Artikel 30
Redaktion einer einheitlichen „coutume" durch Ständeversammlung des „Vendomois"
„Rejetté" (mit kurzem Kommentar)
Artikel 41
Kontrolle der in den Getreidemühlen benützten Preise und Gewichte unter Mitwirkung der „plus notables habitants"
„Rejetté"
Eine ganze Reihe jener Forderungen, die eine verstärkte Mitsprache der kommunalen Instanzen forderten, sind also schon an der ersten Hürde gescheitert. Bestätigt diese Feststellung die in der Forschung verbreitete skeptische Beurteilung, wonach generell bereits im Vorfeld der Etats Généraux die ursprünglich von der kommunalen Basis eingebrachten Anliegen aus dem Forderungskatalog des Dritten Standes verschwunden seien 42 )? Bei der Beantwortung dieser Frage ist allerdings Vorsicht angebracht. Daß die Forderungen im kirchlichen Bereich nicht berücksichtigt wurden, mag an den gerade im Vendômois seit den 1550er Jahren erbittert geführten konfessionellen Auseinandersetzungen gelegen haben: Diesen Forderungen wurde vielleicht weniger ihr kommunalistischer Gehalt als vielmehr ihr protestantischer Schwefelgeruch zum Verhängnis. Es wäre somit verfrüht, vom Schicksal der oben zitierten Forderungen auf eine vollständige Niederlage der ganzen Beschwerdeschrift des Vendômois zu schließen. Ein Blick auf die königliche Ordonnance von 1629, die unter anderem aufgrund der Beschwerden der Etats Généraux von 1614 zustandekam, läßt nämlich in mehreren Punkten Übereinstimmungen mit den Doléances des Dritten Standes des Vendômois erkennen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Artikel zur Residenzpflicht der Pfarrer 43 ), zur Abschaffung überflüssiger Ämter 44 ), zur Beschneidung des Gerichtsprivilegs für
42
) Vgl. Yves Durand. (Hrsg.), Cahiers de doléances des paroisses du bailliage du Troyes pour les Etats Généraux du 1614. Paris 1966. ) Isambert u.a. (Hrsg.), Recueil général des anciennes lois françaises, 16. Bd. Paris 1829, 227 f. (Artikel 11). 44 ) Ebd., 243 (Artikel 61). 43
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
35
Leute aus dem Umfeld des Königs 45 ), zur Kontrolle adligen Machtmißbrauchs 46 ), zur Einschränkung der Zahl der Nutznießer von Steuerexemtionen 47 ), zum Kampf gegen exzessives Spielen 48 ), Müßiggang und Bettelei 49 ). Aber enthält das Cahier des Dritten Standes des Vendômois überhaupt die Anliegen des lokalen Communi Dies festzustellen ist schwierig, präsentiert die Schrift doch nicht die Doléances einer einzelnen Gemeinde, sondern die Anliegen von 82 Paroisses50). Der Blick auf ein Cahier, das tatsächlich auf der Ebene der Einzelgemeinden verfaßt wurde, macht erhebliche Unterschiede deutlich. So umfaßt die ebenfalls für die Versammlung von 1614 erstellte Schrift der südlich von Paris gelegenen Gemeinde von Essonnes im Unterschied zum Cahier des Dritten Standes des Vendômois bloß wenige Artikel. Sie zeigt teilweise, etwa im kirchlichen Bereich, eine ähnliche Stoßrichtung: Auch die Einwohner von Essonnes beschweren sich als erstes über kirchliche Mißstände. Konkret kritisieren sie, daß ihr Pfarrer als Chorherr im nahegelegenen Corbeil residiert. Aus seiner Abwesenheit erwachsen der Gemeinde von Essonnes Nachteile. Die „pauvres gens" werden bei Heiraten und Todesfällen regelrecht erpreßt. Präziser und drängender als im Falle des Vendômois werden dagegen die Klagen über die Adligen formuliert. Kritisiert wird der Versuch des lokalen Seigneurs, einen Mühlen- und Ofenbann durchzusetzen und die zahlreichen Tavernen an der stark frequentierten Straße Paris-Lyon zu zwingen, ihr Brot nur bei seinem Bäcker zu kaufen, der keineswegs immer gute Ware liefere 51 )- Diese Stichprobe zeigt deutlich, daß es sich lohnt, möglichst von ungefilterten Quellen der gemeindlichen Basis auszugehen. Vielversprechend erscheint dabei die Betrachtung größerer Sammlungen von Beschwerden 52 ). Besonders interessant sind dabei die Beschwerdeschriften aus dem Bailliage von Chartres (1576), die von Jean-Marie Constant erschlossen worden sind 53 ). Constant hat den Bestand im Hinblick auf eine umfassende Darstellung der sozialen, wirt-
45
) Ebd., 247-250 (Artikel 72-78). ) Ebd., 282 (Artikel 209-211). 47 ) Ebd., 322-325 (Artikel 4 0 3 ^ 0 7 , 410). 48 ) Ebd., 266f. (Artikel 138-141). 49 ) Ebd., 235 (Artikel 42). 50 ) Aus der Beschwerdeschrift selber geht hervor, daß das Vendômois ein kleines Territorium ist (der Steuerbezirk umfaßt bloß 90 Gemeinden [Artikel 23]), aber als Herzogtum und eigenständige Provinz eine Sonderstellung hat (Artikel 16). Was die Steuern angeht, so gehört der Bezirk (Election) von Vendôme zur Généralité von Orléans (Artikel 23). Im Text wird nicht gesagt, ob vorgängig zu der hier dokumentierten Veranstaltung bereits in den einzelnen Gemeinden Versammlungen stattfanden. 51 ) AN, K 674, no 14. 52 ) Bereits ediert sind 66 Beschwerdeschriften aus dem Bailliage von Troyes für das Jahr 1614. Vgl.: Durand (Hrsg.), Cahiers (wie Anm. 42). 53 ) Constant scheint bis jetzt der einzige Bearbeiter geblieben zu sein. Vgl. dazu: JeanMarie Constant, Nobles et paysans en Beauce aux XVIème et XVIIème siècles. Lille 1981. 46
36
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schaftlichen und rechtlichen Verhältnisse der Landbevölkerung der Beauce ausgewertet. Angesichts seiner Fragestellung drängte es sich nicht auf, eine inhaltliche Konfrontation mit der Ordonnance von Blois vorzunehmen. Dies soll nun geschehen.
2.1.2. Kommunale Doléances im Bailliage von Chartres 50 Doléances ländlicher Gemeinden sind 1576 im Bailliage von Chartes verfaßt worden 54 ). Bei einer ersten Durchsicht fällt auf, daß sehr viele Forderungen in unterschiedlichen Beschwerdeschriften in ähnlicher Weise formuliert werden. Außerdem sind einige Cahiers im Namen mehrerer Dörfer verfaßt. Hier scheint also ein einigermaßen kohärenter Bestand vorzuliegen, dessen einzelnen Bestandteilen Repräsentativität für die Problemlage im südwestlich von Paris gelegenen Chartrain zuzubilligen ist. Im folgenden wird aus arbeitsökonomischen Gründen eine Einschränkung auf die 25 ersten Cahiers vorgenommen, die genauer nach besonders häufig vorgebrachten Anliegen zu befragen sind. Die entsprechenden Artikel werden synoptisch mit solchen der königlichen Ordonnance von Blois von 1579 konfrontiert. Im Vordergrund steht dabei die Frage, inwieweit Übereinstimmungen auszumachen sind. Es geht selbstverständlich nicht darum zu suggerieren, die königliche Gesetzgebung habe sich von gerade dieser oder jener Forderung der untersuchten Dörfer direkt inspirieren lassen. Um mit einiger Plausibilität kausale Zusammenhänge nachweisen zu können, müßte außerdem auch ein Quervergleich mit den Doléances der Geistlichkeit und des Adels auf der Ebene Bailliage vorgenommen werden können, was sich aufgrund der Quellenlage äußerst schwierig gestalten dürfte. Im Rahmen dieser Untersuchung soll lediglich versucht werden, mittels einer Gegenüberstellung kommunaler Beschwerden und staatlicher Gesetze Hinweise nach gemeinsamen Interessen von Staat und Gemeinde im Frankreich des 16. Jahrhunderts zu finden. Angesichts der unübersehbaren Vielzahl von Einzelklagen wurde bei der Systematisierung von folgenden Fragen ausgegangen: Welchen Themen werden insgesamt am meisten Einzelklagen gewidmet? Die Rangliste wird vom Bereich „Klerus, Kirche" angeführt 55 ). Weiter interessiert, welche Themen für besonders viele Gemeinden von Belang waren. Fast alle Beschwerdeschriften klagen über die Kriegsleute. Schließlich ist 5") BN, mss. fr. 26324. 55 ) Jean-Marie Constant hat untersucht, wieviel Raum einzelne Themen in den ländlichen Beschwerdeschriften aus dem Bailliage von Chartres (1576) einnehmen. Die meisten Artikel betreffen Kirche und Klerus (19,9% aller eingereichten Beschwerden), Finanz- und Justizangelegenheiten (je 15,2%), die Kriegsleute (9,9%), den Adel (8,1%) und Fragen der Wirtschaft (7,6%) (Jean-Marie Constant, Les idées politiques paysannes. Etude comparée des cahiers de doléances (1576-1789), in: Annales E.S.C. 37/2 (1982), 717-728, 719).
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
37
ein Blick auf jene Klagen zu werfen, die einen guten Einblick in kommunale Wertvorstellungen versprechen. Besonders ertragreich scheinen in dieser Hinsicht die Beschwerden zu den Themen Adel, Justiz, Ämter und Steuern zu sein 56 ). Die Darstellung entspricht der Reihenfolge, in der die einzelnen Themen in den meisten der Beschwerdeschriften und in der Ordonnance selber präsentiert werden. Die Cahiers liegen zusammengebunden vor. Für die folgenden Synopsen wurden sie aus Gründen der Platzersparnis entsprechend ihrer Reihenfolge mit Nummern versehen57).
Klerus, Kirche: Das erste Kapitel in den meisten Cahiers, aber auch in der 1579 erlassenen Ordonnance von Blois, ist dem Klerus gewidmet. Typisch ist hierin die Beschwerdeschrift des explizit katholischen Bevölkerungsteils von Illiers, der eine Art Pflichtenheft aufstellt: Der Priester hat dauernd zu residieren, er
Tabelle 2.1: Doléances
1576 und Ordonnance
1579 - Klerus, Kirche
Doléances (1576)
Ordonnance
Alle Kleriker sind zu continuelle residence zu verpflichten (4, 5, 7, 10, 11, 12, 14).
Artikel 17 und 18: Jene Pfarrer, die während der Kriege ihre Pfründe verlassen haben, sollen zurückkehren.
Visitationspflicht der Prälaten (7, 15).
Artikel 32: Erzbischöfe und Bischöfe haben in ihrer Diözese eine jährliche Visitation durchzuführen.
Blasphemes 12).
Artikel 35: Fluchen ist zu bestrafen.
sind abzustellen (1, 5, 7,
Zweckentfremdete kirchliche Institutionen (wie Krankenhäuser, in denen niemand gepflegt wird, oder Priorate, in denen nicht gebetet wird), müssen reformiert werden (4, 5, 9, 12).
56
(1579)
Artikel 65: Die Hospitäler sollen reformiert werden.
) Selbstverständlich fallen bei der folgenden Konzentration auf einige Themen diverse interessante Forderungen unter den Tisch. Dazu gehören die Forderungen nach einer genossenschaftlichen Organisation von Gewerbe und Manufaktur (La Loupe); nach einer Kontrolle der Salz-, Gold- und Silberpreise (Moutiers en Beauce); nach Kleiderordnungen (Ermenonville la Petite); nach Gesetzen gegen Wucher (Lyplanté); nach der Einrichtung von Volksschulen in jeder Gemeinde (Moutiers en Beauce). 57 ) Die Reihenfolge lautet: 1) St. Loup; 2) Fontenay sur Eure [?]; 3) La Loupe; 4) Liplanté; 5) Ermenonville la Petite; 6) Le Chêne Doré; 7) Moutiers en Beauce (u.a.); 8) St. Laurent [?] en Gastine; 9) Arpentigny (u.a.); 10) Bréval; 11 ) Nuisement; 12) Illiers (katholisch); 13) Prunay le Gillon; 14) Droué [?]; 15) Umpeau; 16) Chartrainvilliers; 17) Bleury, St. Symphorien, Levainville; 18) Ormoy; 19) Chaudon; 20) Boncé; 21) Dammarie; 22) Bouglainval; 23) Baillettre; 24) Le Boullay d'Aschères; 25) Illiers (protestantisch).
38
Beat Hodler
muß Gottes Wort verkündigen, Laster tadeln und strafen, persönlich die Sakramente spenden und Gottesdienst halten 58 ). Manche Anliegen haben offensichtlich ihre Entsprechungen in der königlichen Gesetzgebung gefunden. Hatten die Verfasser der betrachteten Doléances somit Anlaß, ihre Anliegen in der Ordonnance von 1579 wiederzuerkennen? Nur teilweise, zeigt sich doch, daß mehrere Postulate im Verlauf der Redaktionsverfahren gestrichen worden sind. Dies gilt besonders für die Forderungen nach der Besetzung kirchlicher Ämter durch Wahl (2, 5, 7, 11, 12, 20), nach Reduktion der Stolgebühren (4, 5, 7, 13) und dem Verbot der Pfründenkumulation (11, 19). Selbst wenn viele dieser Wünsche und Klagen offensichtlich keinen sofortigen Widerhall im königlichen Gesetz gefunden haben, eine langfristige Wirkung auf die katholische Reformbewegung scheint doch von diesen und ähnlich gelagerten Beschwerden aus andern Regionen Frankreichs ausgegangen zu sein 59 ).
Justiz: In bezug auf die Justiz läßt die Sprache vieler Beschwerdeschriften nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Typisch ist der Vorwurf der Geldgier der Beamten, die dazu führe, daß das Peuple förmlich aufgefressen werde 60 ): Tabelle 2.2: Doléances Doléances
1576 und Ordonnance
(1576)
Der Bailli von Chartres soll alle drei Monate seine Vogtei von Berittenen durchqueren lassen, um sich über die Beschwerden der Landbevölkerung zu orientieren, und um die Kriminalität vor Ort bekämpfen zu können (7). Das Verhalten jener Gerichtsbeamten, die sich weigern, gegen angeklagte Adlige einzuschreiten, darf nicht hingenommen werden (5, 12).
58
1579 - Justiz Ordonnance (1579) Artikel 186, 187 und 209: Fortan sind regelmäßige Inspektionsritte (Chevauchées) durchzuführen; insgesamt ist die Effizienz der Justiz zu steigern.
Artikel 192: Die Gerichtsbarkeit muß gegen Gewalt einschreiten, sonst droht Amtsenthebung der Schuldigen.
) „Que lesd prelatz cardinaulx archeuesques et euesques abbes prieurs et curez facent Residence continuelle sur leurs benefices faisans le debuoir de leurs charges comme prescher et annoncer la parolle de dieu Reprandre et corriger les vices administrer en personne les saincts sacremens et faire le seruice diuin sans y comectre vicaires ou chappelains". 59) Vgl. zur Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse nach der Reformation: Gilles Deregnaucourt/Didier Poton, La vie religieuse en France aux XVIe, XVIIe, XVIIIe siècles. Paris 1994. 60 ) Kritisiert wird etwa, daß königliche Beamte den ihnen zustehenden Lohn direkt bei den Untertanen eintreiben (7) oder daß sie für die kleinste Tätigkeit Geld verlangen (15).
Doléances, Requêtes und Tabelle 2.2 (Fortsetzung): Doléances
Ordonnances
1576 und Ordonnance
39
1579 - Justiz
Doléances (1576)
Ordonnance
Die in Prozessen angewendeten juristischen Kunstgriffe, die häufig zu Ungunsten der Armen gehen, sind abzustellen (1,4, 13, 18).
Artikel 206: Anordnung von GrandsJours zwecks Bekämpfung von Korruption.
(1579)
Es ist für die Leute eine Zumutung, bei Appellationen bis nach Chartres reisen zu müssen, um dort ihre Sache zu vertreten (7).
Artikel 273: Zumindest die Gouverneure haben zu residieren.
Deutlich zeigt sich, daß die meisten der kommunalen Doléances darauf drängen, daß die gerichtlichen und polizeilichen Aufgaben gewissenhaft wahrgenommen werden. Konkret soll dies durch eine Verstärkung der Kontrolle über die Justiz und die intensivierte Präsenz des Gerichtsapparats auch auf dem Land erreicht werden. In diesen Bereichen ergeben sich Übereinstimmungen mit der Gesetzgebung. Ämter: Zahlreiche Beschwerden richten sich gegen die Ämterkäuflichkeit, die berüchtigte Vénalité. Deutlich ist in dieser Hinsicht das Cahier von Liplanté, das verlangt, die Justiz müsse durch „bons et sauants personnaiges" ausgeübt werden, welche durch Wahl und keineswegs durch Kauf zu bestellen seien. Begründet wird dies damit, daß aufgrund des Prinzips der Käuflichkeit unerfahrene und junge Männer in die Ämter einrückten. Nach dem Erwerb ihrer Offices seien sie hauptsächlich damit beschäftigt, das Geld einzutreiben, das sie zur Rückzahlung der Kaufsumme sowie zum standesgemäßen Lebenswandel benötigten. Mehrmals kritisiert wird auch die Tendenz des Staatsapparats zur Aufblähung. Typisch ist die Forderung, die nach Ludwig XII. neu eingeführten Ämter seien abzuschaffen. Die Bilanz für die Gemeinden des Chartrain fällt sehr geteilt aus. Der Wunsch nach einer Reduktion der Ämterzahl findet in der königlichen Ordonnance seine Entsprechung. Das andere Hauptanliegen, die Abschaffung der Ämterkäuflichkeit, wird zwar in Artikel 100 behandelt, freilich in einer ziemlich nichtssagenden Formulierung. Die Vénalité des Offices war für den König eine wichtige Einnahmequelle und für vermögende Bürger ein Mittel des sozialen Aufstiegs. Sie zog entsprechend nicht nur die Kritik der weniger betuchten Untertanen, sondern auch jene der alten Noblesse de sang auf sich. Wenn die Frage auch zu äußerst erbitterten Debatten und insbesondere zur Verhärtung der Fronten anläßlich de Etats Généraux von 1614 geführt hat 61 ), so ist ihre reale Bedeutung durch die jüngere Forschung stark relativiert worden. Mousnier billigt selbst dem durch die höchst kontroverse Einführung der 6I
) Vgl. dazu: Mousnier, Assassinat (wie Anm.8), 255-259.
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Tabelle 2.3: Doléances 1576 und Ordonnance 1579 - Ämter Doléances (1576)
Ordonnance (1579)
Die Ämterkäuflichkeit ist abzuschaffen (2, 3,4, 5, 16, 19, 25.
Artikel 100: Vage Absichtserklärung des Königs gegen die Ämterkäuflichkeit. Artikel 211 : Aufhebung der seit Henri II neu eingeführten Ämter, die Communautés dürfen die lästigen Ämter selbständig abschaffen*.
Die nach Louis XII neu eingeführten Ämter sind aufzuheben (6); die Zahl der Beamten ist deutlich zu verringern (7, 20). Die Elus (Steuereintreiber) sind einer periodisch zu wiederholenden Wahl zu unterwerfen; im königlichen Rat sollen fortan Vertreter des Adels und des Dritten Standes der einzelnen Provinzen Einsitz nehmen (3).
Artikel 104: Alle drei Jahre soll dem König eine Namensliste überreicht werden, die nach Ansicht von Vertretern der drei Stände für die Übernahme von Ämtern geeignet sind.
* Vgl. außerdem Artikel 238-255: Abschaffung von diversen Ämtern und Gerichten (mit explizitem Bezug auf entsprechende Forderungen des Dritten Standes in Art. 239)
Paulette im Jahr 1604 perfektionierten System nur geringe Wirkungen auf die soziale Mobilität zu. Das Prinzip der Vénalité bedeutete keineswegs, daß hohe Ämter und das damit verbundene Sozialprestige ohne Einschränkung gekauft werden konnten. Sozialer Aufstieg war auch noch im 17. und 18. Jahrhundert eine komplexe und langwierige, sich oft über mehrere Generationen erstrekkende Angelegenheit, in der nicht nur Geld, sondern auch Freundschafts- und Klientelverhältnisse, dem König erwiesene Dienste und weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielten 62 ). Adel: Viele Beschwerdeschriften kritisieren die offenbar verbreitete Praxis, die Ausführung von gerichtlich beschlossenen Konfiskationen (Saisies) an Untertanen zu delegieren. Besonders häufig wird darüber geklagt, daß mit der Durchführung von Konfiskationen auf adligen Gütern arme Bauern betraut würden. Daraus erklärt sich die explizite Forderung, der König möge die Angelegenheit durch ein Gesetz ordnen. Im untersuchten Bestand gehört die Klage über die Commissaires zu den am häufigsten erhobenen überhaupt. Offenbar wurden bei besagten Saisies immer wieder Leute mit niederem Status vorgeschoben, die angesichts der ungleichen Machtverhältnisse unfähig waren, das geforderte Gut im Namen des Staates einzuziehen. Als Folge wurden die unglückseligen Commissaires an Stelle der adligen Schuldner haftbar gemacht. Das Problem war im ganzen 62
) Vgl. dazu: ders., La vénalité des Offices et la mobilité sociale en France au XVIIe et XVIIIe siècles, in: Klaus Malettke (Hrsg.), Ämterkäuflichkeit: Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert). Berlin 1980, 33-52.
Doléances, Requêtes und Tabelle 2.4: Doléances
1576 und Ordonnance
41
Ordonnances
1579 - Adel
Doléances ( 1576)
Ordonnance
Die Mißstände bei der Einsetzung einfacher Leute als Commissaires sind abzustellen. Mit Konfiskationen adliger Güter sollen Adlige betraut werden ( 1 , 2 , 4 , 5 , 6 , 7 , 9 , 10, 11, 12, 14, 16, 1 8 , 2 0 , 2 1 , 2 2 , 24).
Artikel 176: „Nul laboureur ne pourra estre établi commissaire és biens du seigneur duquel il est sujet".
Die Usurpation des Adelstitels durch entlaufene Söldner und Handwerker ist zu ahnden (3, 20). Die Praxis sich befehdender Adliger, Kriegsleute ins Gebiet des jeweiligen Kontrahenten zu schicken, um dort die Bauern zu drangsalieren, muß abgestellt werden (7).
Artikel 257: Wer den Adelstitel usurpiert, ist zu bestrafen.
Die Adligen hetzen Kriegsleute auf den pauure laboureur, wenn es ihnen nicht schon vorher gelingt, ihm seinen Besitz auf dem Prozeßweg zu entreißen (9). Sie zwingen die Bauern, das Getreide in Bannmühlen zu bringen (13), erzwingen Fronen (19) und mißachten das Gewohnheitsrecht (20).
(1579)
Artikel 278: Adlige, die Privatfehden führen, sind als Hochverräter und Landfriedensbrüchige zu bestrafen („comme criminels de lèze-majesté, et perturbateurs du repos public"). Artikel 283: Adlige, die ihre Ansprüche auf Fronen und Abgaben gewaltsam durchzusetzen versuchen, statt den Rechtsweg zu beschreiten, sollen ihren Titel verlieren*.
Adlige stellen selbst 100-jährige Besitzrechte der Artikel 284: Durch Zwang Bauern in Frage. Sie vertreiben Bauern, welche ihre zustandegekommener Erwerb von Allmenden durch Adlige ist null Abgaben nicht bezahlen können. Alte Possessions und nichtig. sollen durch königliche Intervention vor dem adligen Zugriff geschützt werden (6). Die Adligen sollen bei der Jagd nicht mehr über Artikel 285: Einschränkung der Felder reiten dürfen (7). adligen Jagdrechte. * „Et pour les continuelles plaintes que nous avons de plusieurs seigneurs, gentilshommes, et autres de notre royaume, qui ont travaillé et travaillent leurs sujets et habitans du plat païs où ils font résidence, par contributions de deniers ou grains, corvées ou autres semblables exactions indues, même sous la crainte des logemens de gens de guerres, et mauvais traitement qu'ils leur font et font faire par leurs gens et serviteurs: enjoignons à nos baillifs et sénéchaux tenir la main à ce qu'aucuns de nosdits sujets ne soient travaillez ni opprimez par la puissance et violence des seigneurs, gentilshommes ou autres: ausquels défendons les intimider, menacer ou excéder [...], ains se comporter envers eux modérément, poursuivre leurs droits par les voyes ordinaires de justice, sur peine d'estre déclarez ignobles, roturiers et privez à jamais des droits qu'ils pourroient prétendre sur leursdits sujets".
Bailliage von Chartres verbreitet. Hier wird eine gewisse Ambivalenz sichtbar: Eine konservative Regelung, die auf den ersten Blick ständische Ungleichheiten zu befestigen scheint, ist offenbar im Sinne der Angehörigen des Dritten Standes, welche in diesem Fall von einer Aufweichung der hergebrachten ständischen Schranken nichts Gutes zu erhoffen haben. Die Kläger brauchten sich in diesem Punkt nicht alleingelassen zu fühlen, wurde doch in
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Beat
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Artikel 176 der Ordonnance das Problem zumindest teilweise im Sinn der oben wiedergegebenen Monita behandelt. Die Angst vor Adligen, die sich weitgehend gerichtlichen Beschlüssen entzogen, geht auch aus der ebenfalls häufig vorgebrachten, aber offenbar nicht durchgesetzten Forderung hervor, die Adligen sollten in der ihrem Wohnsitz nächstgelegenen Stadt für rechtliche Schritte erreichbar sein, so daß den Gerichtsdienern der gefährliche Gang ins adlige Schloß erspart bleibe 63 ). Es geht hier um eine bessere Einbindung der Adligen, die im Cahier der Baronnie de Chêne Doré ganz offen als parasitäre Gruppe bezeichnet werden. Insgesamt vermittelt die gemachte Stichprobe den Eindruck, Gemeinde und Staat seien sich im Ziel der Kontrolle des Adels weitgehend einig gewesen, wenn auch keineswegs alle gegen den Adel gerichteten kommunalen Forderungen in der königlichen Gesetzgebung sofort ihre Entsprechung fanden 64 ). Die Gens de Guerre: In fast allen Beschwerdeschriften kommen Klagen über die Gens de Guerre vor. So läßt sich das Cahier von Ormoy als eine kurze Kriegsgeschichte aus der Perspektive der Landbevölkerung lesen: Während der Belagerung von Dreux im Jahr 1562 verloren die Bauern ihre Pferde, Kühe und Schafe. 1568 litten sie so sehr unter dem Heer, das vor Chartres lag, daß viele ihre Güter verkaufen mußten, um überhaupt noch weiterleben zu können. 1575 wurden sie systematisch geplündert und durch brutale Behandlung zur Flucht in die nächste Stadt getrieben. Weil sie deswegen keine Saat ausbringen konnten, ging ihnen nach eigenen Angaben jede Zukunftsperspektive verloren. Fast stereotyp wird berichtet, die Kriegsleute plünderten die Häuser aus und vergewaltigten die Frauen und Töchter der Bauern. Typisch sind die Formulierungen der Paroisse von Ermenonville la Petite: Die „gens de guerre", wird geklagt, „pillent voilent prennent emportent [...] ce quilz trouuent es maisons du pauure peuple". Wenn alles gestohlen sei, „[ils] violent femmes et filles". Aus derartigen Mißständen ergibt sich ein klarer Anspruch an den König: Er soll gegen die Auswüchse ein Gesetz erlassen.
63
) Die Forderung, Adlige müßten in der nächstgelegenen Stadt für Klagen erreichbar sein, begegnet häufig (2, 3, 4, 5, 7, 12). Adlige, welche gegen Prozeßgegner Gewalt anwenden, kommen auch in der zeitgenössischen Literatur vor. Vgl. etwa das Quart Livre, in dem genüßlich und in durchaus zustimmendem Grundton geschildert wird, wie die als „Chicanous" titulierten Vertreter der Anklage auf Anweisung des beklagten Schloßherrn malträtiert werden (Rabelais, Oeuvres Complètes. Hrsg. von Mireille Huchon. Paris 1994, 5 6 4 578). 64 ) Keinen unmittelbaren Niederschlag scheinen beispielsweise die Vorschläge gefunden zu haben, die auf ein Verbot adliger Nutzung von Kirchengütern (10) oder der kirchlichen Dîme (19) abzielten.
Doléances, Requêtes und Tabelle 2.5: Doléances
1576 und Ordonnance
Ordonnances
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1579 - Gens de Guerre
Doléances ( 1576)
Ordonnance ( 1579)
Die Landbevölkerung trägt einen unverhältnismäßig großen Teil der durch das Militär verursachten Kosten. Die Dörfer sind in dieser Hinsicht gegenüber den Städten benachteiligt (9, 15, 24).
Artikel 286: Die Truppenbestände sind zur Entlastung des Volks zu reduzieren. Artikel 292: Garnisonen und Verpflegungsorte sind in geschlossenen Städten, nicht auf dem platten Land einzurichten.
Es ist unmöglich, den Kriegsleuten einen andern Titel als jenen von unverschämten Dieben zu geben (14). Die Kriegsleute sollen gezwungen werden, für die auf der Durchreise verursachten Kosten de gré à gré aufzukommen (7). Die Kriegsleute bleiben oft mehrere Tage im selben Haus einquartiert. In dieser Zeit plündern sie die armen Leute aus, vergewaltigen die Frauen und zwingen die Leute, ihre Häuser zu verlassen (4, 7).
Artikel 295: Was die Kriegsleute requirieren, haben sie de gré à gré zu bezahlen. Artikel 298: Vom Durchzug der Truppen betroffene Dörfer werden für ihre Unkosten entschädigt. Die Abrechnung hat alle drei Monate vor dem lokalen Richter zu erfolgen. Die Geschädigten werden durch ihren Bürgermeister, Schöffen oder andere Abgeordneten vertreten.
Im Falle der Kriegsleute funktioniert die Justiz nicht (13). Gegen militärische Übergriffe soll ein Beschwerderecht an die lokalen Richter eingeführt werden (16).
Artikel 301: Die durchziehende Truppe darf in den ihnen zugewiesenen Dörfern nicht länger als eine Nacht logieren. Wer den Aufenthalt ausnutzt, um le pauvre peuple auszuplündern, wird mit der Todesstrafe bedroht. Artikel 303: Die Infanterie hat in geordneten Reihen zu marschieren. Unerlaubtes Entfernen von der Truppe wird mit der Todesstrafe belegt. Artikel 304: Inspektionen sollen möglichst am Standort der Compagnies erfolgen, denn große Verschiebungen der Truppen gehen zu Lasten der einfachen Leute. Artikel 302: Vor Abzug der Truppe erhalten alle Einwohner die Gelegenheit, ihre Klagen vorzubringen. Strafbare Soldaten sind sofort abzuurteilen.
Die Bauern sind vor Erpressungsversuchen der Soldaten besser zu schützen (21, 22).
Artikel 305: Wer die Zivilbevölkerung dazu bringt, sich vor Zwangseinquartierungen freizukaufen, ist hinzurichten. Eine Begnadigung ist ausdrücklich ausgeschlossen.
Die Kriegsleute, die ihr kriminelles Verhalten damit rechtfertigen, sie erhielten vom Staat keine Bezahlung, sollen fortan korrekt besoldet werden (6, 10). Der bisher verbreitete Diebstahl von Pferden (7), Vieh (17) und Karren (22) ist zu ahnden.
Artikel 207: Einführung eines effizienteren Soldsystems: Jedermann soll seinen Sold persönlich, nicht über den Umweg seiner Vorgesetzten erhalten.
Artikel 309: Den Infanteristen wird verboten, Tiere zum Tragen des Gepäcks zu beschlagnahmen. Gestohlene Karren dürfen von jedermann gewaltsam zurückgenommen werden.
Seit Ludwig XI. verfügt der französische König über ein stehendes Infanterieheer, das teils aus Franzosen, teils aus deutschen und schweizerischen Söldnern besteht. Schon im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stehen in Frank-
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reich dauernd 20000 bis 25000 Mann unter Waffen, was einem Anteil von etwa 1% der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 45 Jahren gleichkommt 65 ). In seiner Studie über die Entstehung des Versorgungssystems der französischen Armeen des 17. Jahrhunderts stellt Bernhard Kroener fest, daß in Frankreich, anders als in andern europäischen Staaten, bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die notwendigen Voraussetzungen zur Entwicklung einer Etappenversorgung gegeben waren. Zu diesen Voraussetzungen zählt er die Herausbildung „eines politisch und geographisch relativ geschlossenen Staates, dem es möglich war, militärische Operationen nur an seiner Peripherie zu führen", außerdem die Steuerhoheit des Königs und die zivile Steuerverwaltung vor Ort, der die Aufgabe der Truppenversorgung überantwortet werden konnte 66 ). Im Zeitalter der Bürgerkriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zerfiel dieser relativ günstige Rahmen vielerorts. Ein Blick auf die Beschwerden im Bailliage von Chartres zeigt, wie sehr die Zivilbevölkerung unter der Soldateska zu leiden hatte. In den Klagen über die Kriegsleute kommt eine starke Friedenssehnsucht zum Ausdruck. Einige der Verbesserungsvorschläge finden durchaus ihre Entsprechung in der Ordonnance von 1579. Sie werden im Verlauf der kommenden Jahrzehnte bei der Reorganisation des militärischen Versorgungswesens eine Rolle gespielt haben 67 ).
Steuern: Überaus häufig werden Steuererleichterungen erbeten. So klagt die Schrift der Chätellenie von Breval, nach 16 Jahren Krieg sei den Untertanen überhaupt nichts als ihre „parolle" geblieben, mit der sie sich jetzt flehend an den König richteten. Zahlreiche Beschwerden gehen über generelle Klagen zur Steuerhöhe hinaus und machen Vorschläge für eine gerechtere Verteilung der Lasten. Interessant ist die Spitze gegen Steuerexemption sowie gegen unklare Verwaltungsstrukturen, die zu Doppelbelastungen führen.
65
) Dazu: Philippe Contamine, La guerre au Moyen Age. Paris 1980, 303 f. ) Bernhard Kroener, Les Routes et les Etapes. Die Versorgung der französischen Armeen in Nordostfrankreich (1635-1661). Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Ancien Régime. Münster 1980, 170. 67 ) Dieses konnte freilich auch noch in den folgenden Jahrzehnten in Krisenzeiten immer wieder zusammenbrechen, so etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als der unkontrollierte Abmarsch von Truppen aus den ihnen zugewiesenen Quartieren dazu führte, daß einige Etappenorte in kurzen Abständen so viel Logements zu übernehmen hatten, daß die Bevölkerung schließlich die Häuser verließ, um den Ausschreitungen der Soldaten zu entgehen (ebd., 153). 66
Doléances, Requêtes und Tabelle 2.6: Doléances
1576 und Ordonnance
Ordonnances
1579 - Steuern
Doléances ( 1576)
Ordonnance
Die bisher oft durch die königlichen Beamten willkürlich vorgenommene Verteilung der Steuerlasten ist einer besseren und gerechteren Kontrolle zu unterwerfen (7).
Artikel 341 : Bei der Verteilung der Taille ist besonders auf die Armen Rücksicht zu nehmen. Exemtionen sollen genauer auf ihre Zuläßigkeit überprüft werden. Artikel 342-344: Der Kreis der exemten Hochadligen und Officiers wird eingeengt. Artikel 345: Beim Einziehen der Steuern darf nicht Gewalt angewendet werden. Artikel 347: Die Kontrolle der Verwendung der Steuern soll verschärft werden.
Für die seit dem Tod von François I. (3) beziehungsweise seit 1560 eingezogenen Steuergelder (7) sollen die Schatzmeister Rechenschaft ablegen. Veruntreute Steuergelder sind herauszugeben (5).
45
(1579)
Der Vergleich der durchgesehenen Forderungen fiskalischer Natur mit den einschlägigen Artikeln der Ordonnance von Blois vermittelt den Eindruck, zumindest in der Tendenz zur Kontrolle von Korruption sowie der Eingrenzung der Zahl der Exemten bestehe ein gemeinsames Interesse zwischen den Untertanen und dem Königtum68). Eine ganze Reihe von Forderungen scheinen indessen keinen sofortigen Niederschlag in einer Ordonnance gefunden zu haben. Dies gilt für den sehr häufig vorgebrachten Wunsch, die viel zu hohe Taille möge auf den zur Zeit von Ludwig XII. erreichten Stand reduziert werden 69 ). Ohne direkte Entsprechung im königlichen Gesetz scheinen auch diverse Vorschläge geblieben zu sein, die mit der Einführung einer Luxussteuer auf Seidentücher den Dritten Stand entlasten wollten 70 ), die Einführung der Taille réelle verlangten71), eine klarere Abgrenzung der Steuerbezirke72) oder die Abschaffung der verhaßten Salzsteuer forderten73). Die Etats Généraux stellten eine wichtige, aber doch seltene Gelegenheit der kommunalen Einflußnahme auf die Gesetzgebung dar. Im folgenden Kapi68
) Daß indessen die Frage der gerechten Verteilung und des Eintreibens der Steuern immer wieder Anlaß zu Konflikten zwischen Gemeinden und Vertretern der Staatsgewalt gab, ist aus der neueren Revoltenforschung bekannt. Zu den ländlichen Steuerrevolten im 16. und 17. Jahrhundert vgl. auch Magagna, Communities (wie Anm. 34), welcher der Bewegung der Croquants eine politische Dimension attestiert: „The rebels were demanding nothing less than the right of local communities to exercise ultimate and final authority over the kinds of taxes that would be paid to the royal fisc" (ebd., 139). 69 ) 1, 2, 4, 5, 7. La Loupe verlangt gar eine Rückkehr unter die fiskalischen Verhältnisse, wie sie unter Ludwig XI. existierten. 70 ) 4, 5. 71
72
) 3 , 16.
) Bréval (10): Unklarheiten in der Abgrenzung der Steuerbezirke führen dazu, daß manche Gemeinden von mehreren Seiten besteuert werden. 14.
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tel geht es dagegen um weichere, dafür aber alltäglichere Formen der kommunalen Mitbestimmung. Sie können über drei Ebenen des Zugangs erschlossen werden: Die Generalstände stellten nicht die einzige institutionelle Ebene dar, auf der die Anliegen der korporativ verfaßten Untertanen formuliert werden konnten. Neben ihnen existierten die Etats Provinciaux (2.2.1.). Ordonnances sind nicht die einzige Form der Rechtspositivierung im frühneuzeitlichen Frankreich; daneben stehen die Coutumes und deren Redaktion unter kommunaler Beteiligung (2.2.2.). Doléances waren nicht die einzige Möglichkeit, politische Vorstellungen auszudrücken; neben sie tritt die Supplik oder Requête (2.2.3.).
2.2. Partizipationsformen außerhalb der Etats Généraux
2.2.1. Etats Provinciaux Russell Major hat die Bedeutung der Etats Provinciaux für die französische Verfassungsgeschichte immer wieder hervorgehoben 74 ). Gewiß erlebten die französischen Provinzialstände höchst unterschiedliche Schicksale. Während einige schon nach Ende des Hundertjährigen Kriegs an Bedeutung verloren, hielten sich andere bis weit über das für die Etats Généraux fatale Jahr 1614 hinaus 75 ). Zu ihnen gehörten jene des Languedoc 76 ), die bis ans Ende des Anden Régime Bestand hatten. Tocqueville hat sie in einem überaus vorteilhaften Licht dargestellt 77 ). Jährlich durchgeführte Ständeversammlungen, also Periodizität, weitgehende Autonomie in Ausführung und Bezahlung öffentlicher Arbeiten, das Recht, einen Teil der königlichen Steuern und sämtliche für provinzielle Belange bewilligte Steuern selbständig zu erheben - diese Fakto-
74
) Vgl. dazu: Major, Representative Institutions (wie Anm. 16). Majors Thesen haben seit den 60er Jahren rege Debatten ausgelöst. Vgl. dazu: Bernard Guenée, Espace et État dans la France du Bas Moyen Age, in: Annales ESC 23/2 (1968), 7 4 4 - 7 5 8 . 75 ) Orzechowski zufolge arbeiteten die Etats Provinciaux weitgehend unabhängig von den Etats Généraux und waren über die Suspendierung letzterer nach 1614 kaum betroffen: „C'est cela seulement qui explique le manque d'opposition de la part des états provinciaux et particuliers contre la mise en sommeil des États généraux et c'est pourquoi ces premiers, en demeurant sur place, menaient une activité très fertile, quelques-uns jusqu'à la Révolution de 1789" (Kazimierz Orzechowski, Les systèmes des assemblées d'états: origines, évolution, typologie, in: PER 6/2 (1986), 105-111, 110). 76 ) Die Etats Provinciaux des Languedoc haben unter dem Absolutismus eine wichtige Rolle gespielt. Vgl. dazu: William Beik, Etat et société en France au XVIIe siècle. La taille en Languedoc et la question de la redistribution sociale, in: Annales ESC 39 (1984), 1 2 7 0 1298. 77 ) Das Folgende gemäß dem Anhang „Des Pays d'Etats, et en particulier du Languedoc" in: Alexis de Tocqueville, L'Ancien Régime et la Révolution. Paris 1952, 2 5 3 - 2 6 1 .
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
47
ren macht Tocqueville für die relative Prosperität des Languedoc verantwortlich. Die unterste Verwaltungseinheit der Provinz wurde durch die ländlichen und städtischen Communautés gebildet. Die übergeordneten Einheiten, die Diocèses, waren wiederum in drei Sénéchaussées zusammengefaßt 78 ). Für die Beziehungen zwischen Communauté, Diocèse, Sénéchaussée und Province galt das Prinzip der Subsidiarität und Solidarität: Standen in einer Communauté öffentliche Arbeiten an, welche ihre finanziellen Möglichkeiten überstiegen, konnte sie auf Hilfe der übergeordneten Instanzen rechnen 79 ). In den Etats Provinciaux des Languedoc dominierten die Vertreter des Dritten Standes, die gleich viel Abgeordnete stellten wie Klerus und Adel zusammen 80 ). Tocquevilles Bilanz 81 ) lautet: Hätten überall in Frankreich Provinzialstände nach dem Muster des Languedoc bestanden, wäre ein Weg in die Moderae ohne revolutionäre Erschütterungen durchaus denkbar gewesen. Es gibt genügend Hinweise dafür, daß zumindest bis ins 16. Jahrhundert die Etats Provinciaux auch für den Commun eine interessante Plattform darstellten. Im Comminges nimmt zwischen 1548 und 1572 sowie ab 1594 ein „syndic des villages" gleichberechtigt mit den Vertretern der Städte an den Ständeversammlungen teil. Im Périgord bemüht sich die ländliche Bevölkerung um Repräsentation in den Provinzialständen. Bereits in der Versammlung, die am 13. Juni 1583 in Sarlat abgehalten wurde, hatten die Vertreter kleiner Landstädte ein Cahier präsentiert, das ein Plädoyer für die Landbevölkerung darstellt und in der Forderung nach einem Syndic gipfelte, der ausdrücklich für die Belange des platten Landes zuständig sein sollte. Als am Ende der Religionskriege 1594 die ländliche Revolte der Croquants ausbrach, wurde diese mit weiteren Forderungen ergänzt und schließlich 1595 auch im Rahmen von Etats Provinciaux vorgebracht. Bei dieser Ständeversammlung war die Landbevölkerung durch Vertreter von 25 Communautés repräsentiert 82 ). Die Langlebigkeit und Widerstandskraft mancher Etats Provinciaux ist 7
8) Ebd., 257. ) Als Beleg dafür, daß diese Verhältnisse im Bereich des Straßenbaus zur Modernisierung beitrugen, zitiert Tocqueville den Reisenden Arthur Young mit der lakonischen Bemerkung: „Languedoc, pays d'états; bonnes routes, faites sans corvées" (ebd., 256). 80 ) Vgl. dazu für das Spätmittelalter: Henri Gilles, Les Etats de Languedoc au XVe siècle. Toulouse 1965. 81 ) Vgl. Tocqueville, Ancien Régime (wie Anm. 77), 261. 82 ) Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist, daß die Aufständischen gleichzeitig einen Vertreter namens La Saigne direkt an den Hof schickten, um die ländlichen Beschwerden vorzubringen. La Saigne wurde von Heinrich IV. empfangen und erreichte auch Zusagen, die vom König allerdings später wieder in Frage gestellt wurden. Zur Geschichte der Croquants und zur Verschränkung unterschiedlicher Kampfmittel durch diese Bewegung vgl. auch: Yves-Marie Bercé, La naissance dramatique de l'absolutisme. 1598-1661. Paris 1992, 31 f. 79
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nicht zu unterschätzen. Kommunale Partizipation 83 ) konnte prinzipiell auch in einem andern Gehäuse als jenem der spärlich und nach 1614 überhaupt nicht mehr durchgeführten Etats Généraux stattfinden.
2.2.2. Coutume Das Ancien Régime kannte unterschiedliche Typen von Gesetzgebung. Als Hauptkategorien gelten die königlichen Gesetze einerseits und die auf königlichen Befehl aufgezeichneten und vom König homologierten Coutumes84) anderseits. Die königliche Gesetzgebung gewann im Verlauf der Frühneuzeit auf Kosten des alten Gewohnheitsrechts zunehmend an Bedeutung. Ein führendes Nachschlagewerk definiert die Ordonnances als vom König promulgierte Gesetze, die Gültigkeit für das ganze Reich beanspruchten und in der Regel eine Vielzahl von Bereichen berührten 85 ). Dabei herrschten zwei unterschiedliche Vorstellungen über das Zustandekommen von Ordonnances, die sich beide auf die römische Gesetzeslehre abstützten. Die eine wurde bereits Ende des 13. Jahrhunderts von Beaumanoir formuliert und besagte, der König dürfe Ordonnances unter drei Bedingungen aufstellen: Das Gesetz mußte dem Gemeinen Nutzen dienen, durch breit angelegte Konsultationen („par très grand conseil") abgestützt sein, und es durfte dem göttlichen Recht nicht widersprechen 86 ). Eine später entwickelte und von königlichen Juristen favorisierte Maxime billigte dagegen nur dem Parlement eine einschränkende Kompetenz zu. Auffällig ist, daß der Status der aufgrund von Etats Généraux zustandegekommenen Ordonnances oft unklar ist. Dies gilt vor allem für die sogenannte 83
) Ein gutes Beispiel liefern die Provinzialstände der Dauphiné. Vgl. etwa: Extrait de requeste presentee a sa Majeste par le tiers Estât de Dauphiné contenant leur plainctes sur les grandes charges supportées par eux (1575), in: Jean Loutchitzky (Hrsg.), Documents inédits pour servir à l'Histoire de la Réforme et de la Ligue, Kiew 1875. 84 ) Barbara Dölemeyer, Teil Frankreich in der Bibliographie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozeßrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 2. Bd., Teil 2. München 1976, 187. 85 ) Marion, Dictionnaire (wie Anm. 8), 409. Der Begriff wurde in der Praxis freilich nicht sehr scharf gefaßt: So wird die große Ordonnance de Blois (1579) vom König als „édict" bezeichnet (Isambert u. a. [Hrsg.],Recueil [wie Anm. 43], 14. Bd., 381). Marion äußert sich zu den in den Quellen häufig auftauchenden Kategorien Ordonnance, Edit, Déclaration und Lettre Patente wie folgt: Anders als die Ordonnances, die zumindest bis 1629 Regelungen zu einer Vielzahl von Problemen enthielten, war das Edit ein Gesetz, das eine ganz bestimmte Materie betraf (Marion, Dictionnaire (wie Anm. 8), 197). Die Déclaration modifiziert oder interpretiert bereits erlassene Ordonnances oder Edits (ebd., 165). Die Bezeichnung Lettre Patente verweist in erster Linie auf formale Differenzen von den Lettres Closes oder Lettres Cachet. Es handelt sich um nichtversiegelte königliche Schreiben. Sie traten1 erst nach der Registrierung durch das Parlement in Kraft (ebd., 331). 86 ) M.-B. Bruguière u.a. (Hrsg.), Introduction à l'histoire des institutions françaises des origines à 1792. Toulouse 1983, 82.
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
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Märzordonnanz von 1357 87 ) und die Ordonnance Cabochienne88) von 1413, die vor dem Hintergrund bürgerkriegsähnlicher Zustände entstanden und bald darauf mit Hinweis auf ihren Ursprung und ihre angeblich revolutionären Gehalte teilweise oder ganz widerrufen wurden. Es wäre allerdings verfehlt, aus diesen und ähnlichen89) Fällen zu schließen, die Ordonnances seien von geringer oder keiner Bedeutung gewesen. Picot hat darauf hingewiesen, daß gerade solche Gesetze, die sofort nach ihrer Redaktion mit Füßen getreten wurden, oft langfristig eine erstaunliche Wirkung gezeitigt hätten90). Immerhin ist unübersehbar, daß selbst die großen Reformordonnanzen des 16. Jahrhunderts einen eher prekären Status aufweisen. Dieser Sachverhalt muß auch manchen Zeitgenossen bewußt gewesen sein. 1566 wurde an einer 87
) Im Artikel 11 der Märzordonnanz hatte der spätere König Karl V. unter anderem den Rücktritt einer Reihe von Räten zugestehen müssen, die von den Ständevertretern als „unwürdig" angeprangert worden waren (Isambert u.a. [Hrsg.], Recueil [wie Anm.43], 4. Bd., 822). Die damit konzedierte Kontrolle der Regierung durch die Etats Généraux wurde bereits 1359 wieder abgestellt. Seinen Widerruf begründet Karl damit, daß er von der Ständeversammlung mit den dringend benötigten Steuern erpreßt und damit gezwungen worden sei, vorübergehend einen gravierenden Rechtsverstoß zuzulassen, der nun mit der Neueinsetzung der Entlassenen getilgt werde (Secousse [Hrsg.], Ordonnances des Roys de France de la Troisième Race. 3. Bd. Paris 1732, 345-349). 88 ) In den Jahren 1412 und 1413, während dem Machtkampf zwischen Bourguignons und Armagnacs, wurden in Paris Etats Généraux durchgeführt, deren Beschwerden zuerst folgenlos blieben, dann aber von der Universität neu redigiert und schließlich vom König als Ordonnance akzeptiert wurden. Das Gesetz war in erster Linie auf eine effizientere Verwaltung hin orientiert und sah entsprechend die Entlassung zahlreicher „nutzloser" Beamter vor. Von einer grundsätzlichen Infragestellung der ständischen Ordnung ist hingegen nicht viel zu merken. So werden die „droiz des seigneurs" explizit geschützt (Alfred Coville [Hrsg.], L'ordonnance cabochienne (26-27 mai 1413). Paris 1891, 163). Ausgenommen vom freien Jagdrecht werden ausdrücklich „gens laboureurs ou de mestier ou de petit estât, qui se y pourraient occuper en délaissant leurs labouraiges et mestiers; car nostre intencion n'est mie que gens de tel estât puissent chacier comme les gens nobles ou autres gens d'estat" (ebd., 166). Zum Namen des Gesetzeswerks (als Caboche wurde die Partei der Abdecker und Metzger bezeichnet) vgl. Picot, Histoire (wie Anm.l 1), 1. Bd., 269). 89
) Unsicher erscheint auch der Status jener Ordonnance von 1629, die in der Folge als Code Michau bekannt wurde. Sie geht zu einem großen Teil auf die Beschwerden der Etats Généraux von 1614 zurück (ebd., 4. Bd., 183-196), umfaßt 461 Artikel und berührt so unterschiedliche Themen wie kirchliche Angelegenheiten, das Armenwesen, die Privilegien der Universitäten, die Organisation der Justiz, das Strafrecht (Isambert u. a. [Hrsg.], Recueil [wie Anm.43], 16. Bd., 223-342). Die langwierigen Verhandlungen über die Vérification scheinen zu keinem Abschluß gekommen zu sein. Bei Isambert (ebd., 342 ff.) sind die Änderungsvorschläge des Parlement wiedergegeben. Nach zweimonatigen Arbeiten war man offenbar erst bei Artikel 13 angelangt. Der Herausgeber bemerkt dazu: „On ne trouve plus depuis de traces de la délibération du parlement sur l'ordonnance de 1629" (ebd., 344). Vgl. dazu: Marion, Dictionnaire (wie Anm. 8), 409: „l'opposition des Parlements empêcha les dispositions souvent fort utiles de cette ordonnance d'être appliquées". 90 ),J1 y a entre les voeux des Etats et le rôle du prince un lien plus étroit: le texte même des cahiers a été sous les yeux de ceux qui ont rédigé les ordonnances de Charles V et de Louis XII. Henri IV, en voulant satisfaire la France et rétablir l'ordre, a eu pour but constant l'application scrupuleuse des ordonnances de l'Hospital et de l'ordonnance de Blois, violées et dédaignées le jour même de leur promulgation" (Picot, Histoire [wie Anm. 11 ], 4. Bd., 296).
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Sitzung des königlichen Rats lang über die Gültigkeit der bereits erlassenen „loix et ordonnances" diskutiert 91 )- In Artikel 207 der Ordonnance de Blois sind ebenfalls deutliche Klagen über den bisherigen Umgang mit den königlichen Gesetzen zu lesen. Einige seien nach ihrer Inkraftsetzung zurückgenommen, andere trotz ihrer offiziellen Gültigkeit nicht beachtet worden. Schließlich hätten bei der Publikation manche Gerichtshöfe Änderungen in ihren Registern eingefügt, ohne die Untertanen davon zu unterrichten. Angesichts der entstandenen Verwirrung verspricht der König, von einer bereits eingesetzten Kommission die alten Gesetze sichten und die als nützlich erachteten in einem Band neu präsentieren zu lassen 92 ). Beschränkte sich die Partizipation der Untertanen auf Gesetze, deren Anwendung in der Praxis eher unsicher war? Im folgenden soll nun das Augenmerk auf die Coutume und deren Redaktion im 16. Jahrhundert gerichtet werden. John Gilissen charakterisiert die Coutume als die im Spätmittelalter herausragende Rechtsquelle 93 ). Die Coutume enthält Rechtsgebräuche, die durch längere Praxis obligatorischen Charakter angenommen haben 94 ). Die Coutume gilt in der Regel für alle Einwohner eines bestimmten, unterschiedlich großen Territoriums 95 ), das Détroit genannt wird. Zur Rechtsfindung werden verschiedene Mittel eingesetzt, deren bekanntestes die Anhörung einer wenigstens zehn Personen umfassenden Turbe darstellt 96 ). Schon seit dem 13. Jahrhundert werden viele, ursprünglich mündlich tradierte Coutumes schriftlich niedergelegt, allerdings vorerst meist durch Private. Die offizielle Redaktion ist zuerst in Südfrankreich anzutreffen. So beginnen in Toulouse die Konsuln bereits 1275, nachdem Fälschungen privater Fassungen bekanntgeworden sind, mit einer amtlichen Redaktion für das Stadtarchiv 97 ). Die große Epoche der Redaktion von lokalen und regionalen Gewohnheitsrechten bricht aber erst mit der Ordonnance von Montil-lez-Tours von 1454 an, in dessen letztem Artikel die Redaktion aller „coustumes, usages et styles de tous les pays de 91
) BN, Mss fr. 18156, Conseil d'Etat 1566, Sitzung vom 24. Januar. ) Jsambert u.a. (Hrsg.), Recueil (wie Anm.43), 14/1. Bd., 430. 93 ) John Gilissen, La Coutume. Brepols 1982. 94 ) „Ensemble d'usages d'ordre juridique, qui ont acquis force obligatoire dans un groupe socio-politique donné, par la répétition d'actes publics et paisibles pendant un laps de temps relativement long" (ebd., 20). Im alten normannischen Coutumier wird folgende Umschreibung gegeben: „Coustume est ce qui a esté gardé d'ancienneté loué des Princes & gardé du peuple" (zitiert nach: Le grand coustumier du pays et duché de Normendie, in: Charles A. Bourdot de Richebourg (Hrsg.), Nouveau coutumier général, ou corps des coutumes générales et particulières de France. O.O. 1 7 2 4 , 4 . Bd., 7.) 95 ) Im 15. Jahrhundert gibt es in Südfrankreich noch 360 allgemeine und lokale Coutumes (Bruguière, Introduction [wie Anm. 86], 78). 96 ) Die Bedeutung der Enquête par turbe ist freilich in neuerer Zeit relativiert worden. Vgl. dazu: Jean-François Poudret, Réflexions sur la preuve de la coutume devant les juridictions royales françaises aux XHIe et XlVe siècles, notamment le rôle de l'enquête par turbe, in: Revue d'histoire du droit 65/1 (1987), 7 1 - 8 6 . 97 ) Bruguière, Introduction (wie Anm. 86), 81. 92
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Ordonnances
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notre royaulme" angeordnet wird. Die Existenz von offiziell beglaubigten, schriftlich fixierten Coutumes soll den Umweg über langwierige Nachprüfung der von den Rechtsparteien ins Spiel gebrachten lokalen Gewohnheitsrechte überflüssig machen 98 ). Das Ziel ist also eine Beschleunigung der Rechtsverfahren. Gewiß mag mehr oder weniger bewußt beim nun einsetzenden Verschriftlichungsprozeß der königliche Wunsch nach Vereinheitlichung des Rechts eine Rolle gespielt haben. Tatsächlich wirkten die Redaktionsarbeiten in diese Richtung, wenn auch mit begrenztem Erfolg, waren doch am Ende des Ancien Régime noch 65 Coutumes générales und ungefähr 300 Coutumes locales in Kraft"). Ein Blick auf den Ablauf der Redaktionsverfahren zeigt jedenfalls, daß es sich um alles andere als eine obrigkeitlich geprägte Veranstaltung handelte 100 ). Das 1454 vorgesehene Verfahren hatte zwei Schwächen: Zum einen überließ es die Vorarbeiten den lokalen Juristen, sah also keine direkte Partizipation der Betroffenen vor. Zum anderen sollten strittige Punkte vor das Parlement und den Grand Conseil des Königs gebracht werden. Besonders die letztgenannte Regelung verlangsamte das Prozedere so sehr, daß noch Ende des 15. Jahrhunderts erst sehr wenige Coutumes in Kraft gesetzt waren. Karl VIII. versuchte daraufhin, mit einer Reihe von Regelungen Abhilfe zu schaffen, deren wichtigste die Ordonnance von Amboise von 1498 darstellte. Die entscheidende Neuerung war die Einführung von königlichen Kommissären mit weitgehenden Befugnissen. Die Commissaires erhielten die Aufgabe, vor Ort Ständeversammlungen durchzuführen, mit dem Konsens der Stände Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und danach die Coutume in geltendes Recht zu überführen. Mit dieser Dezentralisierung der Entscheidkompetenz gelang eine bemerkenswerte Beschleunigung der Redaktion. Mitte des 16. Jahrhunderts waren die meisten französischen Coutumes redigiert. Ab etwa 1555 kam es zu einer neuen Welle von Redaktionen. Diesmal ging es darum, durch Réformations die bereits veralteten Coutumes an neue Verhältnisse anzupassen. Danach blieben die meisten Coutumes bis zum Code civil von 1804 in Kraft 101 )- Die geschilderten Verfahren führten zu einer Annäherung von Coutume und königlicher Loi. Beide sind formal gesehen vom König erlassen. Wenn auch die königlichen Commissaires sich nicht sehr interventionistisch verhielten, beanspruchte der König doch ein Recht, als schlecht erachtete Regelungen umzustoßen und durch andere zu ersetzen. Die Partizipation
98
) René Filhol, La rédaction des coutumes en France aux XVe et XVIe siècles, in: John Gilissen (Hrsg.), La rédaction des coutumes dans le passé et dans le présent. Colloque organisé les 16 et 17 mai 1960. Brüssel 1962, 63-85, 64 ff. " ) Ebd., 77. I0 °) Zum Folgenden: Jean Yver, Le président Thibault Baillet et la rédaction des coutumes (1496-1514), in: RHDFE 64/1 (1986), 19-42. I01 ) Filhol, Rédaction (wie Anm. 98), 66.
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der drei Stände bei der Redaktion der Coutume bietet kein brauchbares Unterscheidungsmerkmal zur Ordonnance, da ja manche - freilich nicht alle - Ordonnances aufgrund von ständischen Beschwerden erlassen wurden. Den Hauptunterschied sieht Filhol darin, daß die Coutume meist das Privatrecht, etwa Erbrecht102), betrifft, während in königlichen Gesetzen das öffentliche Recht, die „Police générale du royaume", geregelt wird103). Ein Blick auf das Protokoll der Redaktion der Coutumes des Vermandois (1556) 104 ) bestätigt die Einschätzung, daß Coutumes eher mit Fragen des Ehe- oder Erbrechts als solchen der politischen Rechte kommunaler Verbände befaßt waren. Bemerkenswert ist, wie breit man das Redaktionsverfahren abstützte. In einer Präsenzliste der in Reims durchgeführten Versammlung der drei Stände des Vermandois nehmen die Namen der Vertreter des „tiers estât" immerhin 20 Folioseiten ein 105 ). Repräsentiert werden dabei nicht nur die größeren Stadtgemeinden 106 ), sondern auch Hunderte von Dörfern, wobei meistens gleich mehrere durch ein und denselben Procureur vertreten werden. Möglicherweise stellen solche Redaktionsversammlungen eine bisher zu wenig gewürdigte, wichtige Form der Einflußnahme auf den Staat dar.
102) Yg] , j a z u etwa den Prozeß von 1566 vor dem Parlement von Paris über die Auslegung der 1514 redigierten Coutume von La Rochelle. Das Ressort war klein (vier mal sieben Meilen). Es ging im Streit um Artikel 43, der Vergabungen (Don mutuel) zwischen Ehegatten betraf. Unklar war insbesondere, ob eine Klausel, die den Don mutuel zwischen Ehegatten auf den Fall der Kinderlosigkeit einschränkte, erst nach der offiziellen Redaktion in die Coutume hineingeschmuggelt worden war. Zwischen 1514 und 1565 hatte die Gerichtspraxis sehr uneinheitliche Antworten auf das Problem gegeben. 1562 gelang es mehreren Geschwistern, einen Don mutuel zwischen ihren Eltern verbieten zu lassen, worauf im Namen der Stadtregierung, weiterer Interessierter sowie von 300-400 Einwohnern der Stadt an das Parlement von Paris appelliert wurde. Das abschlägige Urteil lautete, der kritisierte Artikel müsse mitsamt der umstrittenenen, einschränkenden Klausel beibehalten werden. (René Filhol, Procès en Parlement de Paris sur la coutume de la Rochelle (20 mai 1566), in: Etudes offertes à Jean Macqueron. Aix-en-Provence 1970, 313-318). 103
) Filhol, rédaction (wie Anm. 98), 72. Gewiß finden sich Gegenbeispiele. So befaßt sich 1669 eine Fassung der Coutume des Pays de Lalleu durchaus mit hochpolitischen Fragen, behauptet sie doch ein kommunales Recht, „Statuts & Ordonnances & Edits politiques [...] Pour le plus grand bien & utilité dudit Pays" erlassen oder ändern zu dürfen, ob nun der hochverehrte „Sieur prevost" anwesend sei oder nicht (Zitiert nach: Bourdot de Richebourg [Hrsg.], Coutumier [wie Anm. 94], 1. Bd. Paris 1724, 378). 104 ) AN, X/la/9288 (Parlement Civil Registres, Coutumes du Vermandois). Die Kapitel lauten: , justice et droictz appertenans aux hauts justiciers", „de personnes nobles", „des droictz appartenant a gens mariez", „de douaires", „de don mutuel", „de donations entre vifz", „des testaments", „de successions". 105 ) Ebd., Beginn bei fol. 514. 106 ) Beispiele: Die „manans et habitans de la ville de Laon", die „manans et habitans de la ville de Reims", die „manans habitans et Communauté de la ville de Chaalons", die „maire Jurez manans et habitans de la ville de Noyon", oder die „mayeurs eschevins manans et habitans de la ville de Sainct quentin" (ebd., fol. 52 lr).
Doléances, Requêtes und
2.2.3.
Ordonnances
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Requêtes
Auch in Zeiten ohne Ständeversammlungen ist der Staat des Ancien Régime mit Bittbriefen überhäuft worden, sie mögen nun Requêtes, Remontrances, Supplications, Plaintes oder einfach Articles107) heißen. Artikel 89 der Ordonnance von Blois berechtigt die Untertanen ausdrücklich dazu, anläßlich königlicher Audienzen ihre Suppliken zu übergeben 108 ). Die Überzeugung, ein König habe den Wünschen und Anliegen seiner Untertanen zugänglich zu sein, ist immer wieder 109 ) laut und zuweilen pathetisch formuliert worden. In seiner Darstellung des Lebens von Heinrich III. berichtet André Favyn im Jahr 1612, zumindest bis zur Zeit der Ligue habe sich dieser gute König zwei- oder dreimal wöchentlich nach dem Dîner an einem Tisch bereitgehalten, um die „plaintes & doleances" der Untertanen persönlich in Empfang zu nehmen, zu prüfen und zu beantworten 110 ). Ludwig XIV. versichert in seinen Mémoires, bei seinem Amtsantritt allen seinen Untertanen die Möglichkeit gegeben zu haben, sich mündlich oder mit Bittschriften jederzeit an ihn zu wenden 111 ). Voltaire hat das bestätigt und das Verfahren selbst beschrieben: Jedermann durfte Bittschriften einreichen. Nach einer ersten Bearbeitung durch die Maîtres des Requêtes wurden sie zu den Bureaux des Ministres weitergeleitet und, falls dies als sinnvoll erachtet wurde, im königlichen Rat geprüft. Häufig wurden die Verfasser eingeladen, ihre Vorschläge in Anwesenheit des Königs mit den Ministern zu besprechen 112 ). Noch im Jahr 1718 lobt eine Histoire du Conseil du Roy König Karl VIII. dafür, daß er sein Königreich während mehrerer Jahre bereist habe, um persönlich „sur toute sorte de plainte & de requêtes" zu ant-
107) Quellenkundliche Angaben zu Suppliques, Pétitions und verwandten Kategorien finden sich im Teil „Lettres Missives, etc.", in: Histoire littéraire de la France. 36. Bd. Paris 1927, 545 ff. 108 ) „[Nous] déclarons nostre vouloir et intention estre ès jours, où nos affaires le pourront permettre, donner audience ouverte et publique à ceux de nosdits sujets qui se voudront présenter pour nous faire leurs plaintes et doléances, afin d'y pourvoir et de leur faire administrer justice" (Isambert u.a. [Hrsg.], Recueil [wie Anm.43], 14/1. Bd., 403). 109 ) In der Mitte des 15. Jahrhunderts charakterisiert Jean Juvénal des Ursins den guten Herrscher dadurch, daß er keine Mühe scheue, die Klagen seiner Untertanen anhöre und sich keinesfalls vor der direkten Kontaktnahme mit den Untertanen und den Ständevertretern drücke. Vgl. dazu: Peter S. Lewis (Hrsg.), Ecrits politiques de Jean Juvénal des Ursins. 1. Bd. Paris 1978. Programmatisch sind darin Titel wie „Audite illos, et quod iustum est iudicate" oder „Quare obdormis, Domine?". no ) André Favyn, Histoire de Navarre, Contenant l'Origine, les Vies & Conquestes de ses Roys, depuis leur commencement iusques a present. Paris 1612, 952: „Auparauant les menées de la Ligue, deux fois par sepmaine, & trois bien souuent, il se tenoit après disner à sa table, receuoit les plaintes & doleances de ses subiects, auec les placets de ses Officiers qui luy demandoient recompense. A quoy ayant vacqué tant qu'il y auoit de suppliants, il emportoit toutes leurs requestes & placets en son Cabinet, les lisoit & respondoit luy mesme la plus part de sa main, interrogeoit particulièrement les parties de leurs nécessitez". m ) Jean Longnon (Hrsg.), Mémoires de Louis XIV. Paris 1927, 24f. I12 ) Vgl. dazu: Voltaire, Le siècle de Louis XIV (1751). 2. Bd. Paris 1966, 5.
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Worten. Als vorbildlich wird auch die Praxis dieses spätmittelalterlichen Königs hingestellt, wöchentlich zweimal den Sitzungen des Rats beizuwohnen, um, wie es heißt, die „plaintes & doléances d'un chacun" zu hören 113 ). Gewiß ist eine Einschätzung des Wahrheitsgehalts solcher und ähnlicher, teils apologetischer Aussagen schwierig 114 ). Als Beleg dafür, daß der Staat daran gemessen wurde, ob und wie weit er auf die Requêtes einzugehen bereit war, mögen die polemischen Auseinandersetzungen um die Fronde gelten. In ihrem Umfeld tauchen zahlreiche satirische Requêtes, viele in Versform auf. In einer Sammlung von gedruckten Mazarinades finden sich neben einer parodistischen „Requeste", die der verhaßte Kardinal dem Unterweltgott Pluton geschickt haben soll, eine demütige „Supplication de Mazarin aux Parisiens". Fiktive, in Versform abgefaßte und gedruckte Bittschriften sind auch aus dem 18. Jahrhundert überliefert. 1776 kämpft die Zunft der Prostituierten gegen eine vorgesehene Finanzreform, und 1787 melden sich mit hohler Stimme aus den Friedhöfen des Brabant die „Trépassés" zu Wort. Es ist anzunehmen, daß die massenweise Verwendung des Topos einen realen Hintergrund hat. Im folgenden sollen Bittschriften als Möglichkeit der Gemeinden betrachtet werden, ihre Anliegen an den Staat zu bringen. Dazu werden zwei größere geschlossene Archivbestände aus dem 16. Jahrhundert ausgewertet. Beim ersten Bestand handelt es sich um ein Korpus von 59 Supplikationen, die in den Jahren zwischen 1534 und 1538, also in einer Zeit ohne Etats Généraux, an den Kanzler oder den König gerichtet wurden 115 ). Die Texte, die nach Herkunftsort alphabetisch geordnet sind, decken praktisch das ganze Königreich ab, wobei allerdings die größeren Städte besonders stark vertreten sind 116 ). Bernard Chevalier hat das Jahrhundert 1450 bis 1550 als Epoche bezeichnet, die sich durch eine weitgehende Übereinstimmung zwischen König und Städten auszeichne. Typisch für jene Zeit sei eine „non-intervention" seitens der Könige 117 ). Die Städte ihrerseits hätten sich allenfalls beim Regierungsm
) Me Guillard, Histoire du Conseil du Roy. Paris 1718, 6. ) Unbestritten ist immerhin, daß durch Intendanten im 17. Jahrhundert Umfragen unter der Bevölkerung durchgeführt wurden. Vgl. für das Burgund: Pierre de St. Jacob (Hrsg.), Documents relatifs à la communauté villageoise en Bourgogne du milieu du XVIIe siècle à la Révolution. Paris 1962. " 5 ) AN, J 968, lettres diverses adressées au Chancelier de France, Ant. du Bourg. n6 ) Mehr als zwei Dokumente stammen aus den Städten Toulouse (6), Bordeaux (4), Lyon (4), Rouen (3), Orléans (3). 117 ) Eine Ausnahme sei allenfalls die in dieser Hinsicht aktivere Regierung von Louis XI. In der Tat finden sich etliche Belege für eine entsprechende Kommunikation: Unter dem Titel Placets à Louis XI. sind in der Bibliothèque Nationale (Ms.fr.20495) diverse kommunale Bittschriften zu finden (freundlicher Hinweis von Herrn Professor Robert Descimon, Paris): Die Paroisse von Nogent bittet den König um die Erlaubnis, Steuern in eigener Regie zu erheben. Die „consulz manans et habitans" eines Städtchens im Rouergue wollen den König als alleinigen Stadtherrn behalten. Deshalb wehren sie sich gegen den Verkauf eines Teils der Herrschaftsrechte und sind bereit, den Rückkauf finanziell mitzutragen. Die „parroissiens manans et habitans de saint andrieu de clery" schließlich verlangen, die Privilen4
Doléances,
Requêtes
und
Ordonnances
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antritt neuer Monarchen ihre Privilegien bestätigen lassen, danach sich jedoch kaum noch an ihren König gewendet 118 ). Vor diesem Hintergrund ist der Befund bemerkenswert, daß der Staat mit einer ganzen Reihe von kommunal verfaßten Verbänden im Kontakt stand. Die meisten dieser zwischen 1534 und 1538 eingereichten Suppliken sind im Namen von Einwohnerschaften oder deren Repräsentanten verfaßt. Läßt man einmal jene Dokumente weg, die nur von „eschevins" (Nevers, Orléans, Villefranche), „consuls" (Mirepoix), „capitoulz" (Toulouse) oder „conseillers" (Lyon) verantwortet werden, bleibt immer noch eine Anzahl von Suppliken übrig, die explizit für die „manans" und „habitants" 119 ), zuweilen auch für den „popullaire" 120 ) oder die „communaulte" 121 ) der betreffenden Lokalität sprechen. Auf die Modalitäten der Kommunikation zwischen Staat und kommunalen Instanzen wirft ein Brief des Bailli von Lisieux ein interessantes Schlaglicht. Der Vogt berichtet darin dem französischen Kanzler, er habe die „bourgeois, manans et habitans" der Stadt zusammengerufen, um ihnen Kenntnis eines königlichen Schreibens zu geben. Die Versammelten hätten den Inhalt diskutiert und eine Antwort gegeben, die der besagte Bailli nun wieder an den Kanzler übermittle. Was hatten staatliche und kommunale Stellen zu verhandeln? Häufig ging es um sehr konkrete Anliegen fiskalischer Art. In manchen Suppliken verdeckt dabei die untertänige Rhetorik nur notdürftig eine alles andere als demütige Position. So weigern sich die Schöffen von Nevers, einem königlichem Befehl gemäß die Kosten für 100 Infanteristen zu übernehmen 122 ). Ein Hauptunterschied zu den Doléances liegt sicher im häufig sehr partikularen Charakter der Suppliken. Ein Blick auf die Ordonnance von Villers-Cotterêts von 1539 zeigt jedenfalls, daß kaum direkte Bezüge zwischen den gien des lokalen Weilers (Bourc) seien auf die ganze Kirchgemeinde auszudehnen. Begründet wird dies damit, daß die Einwohner des besagten Bourc dermaßen zur Kirchgemeinde gehörten, daß eine Trennung keinen Sinn mache: ,,lad[ite] paroisse et led[it] bourc tousiours ont este une mesme chose et ung corps". 118) Vgl. Bernard Chevalier, L'Etat et les bonnes villes en France au temps de leur accord parfait ( 1 4 5 0 - 1 5 5 0 ) , in: Bulst/Genet (Hrsg.), Ville (wie Anm. 26), 7 1 - 8 5 . Eine Geschichte der Beziehungen zwischen Städten und den Königen Ludwig XII. oder Franz I. zu schreiben, wäre nach seiner Meinung mangels entsprechender Quellen sehr schwierig. n9 ) Antibes: „les manans et habitans de la ville dantibes"; Berre: „[les] habitans de Berre"; Desize: „les pauures habitans de la ville de desize [an anderer Stelle: voz pouuvres manans et habitans de vostre ville de desize]"; Harfleur: „les manans et habitans de la ville de Harfleur"; Limoges: „les pauures subgectz les consuls manans et habitans de votre ville de Limoges"; Lisieux: Der Bailli spricht für die „bourgeois manans et habitans"; Millau: „les consulz manans et habitans de la ville de milhau en rouergue"; Rennes: „les consulz manans habitans de Rennes". I2
°) Arles: „[le] menu [an anderer Stelle: le commung] popullaire de vostre ville et cite darles". 121 ) Entrevaux: J a pauvre communaulte des habitans du desole lieu dentrevaulx". 122 ) Dies wäre ihnen „insupportable et du tout impossible". Weiter heißt es, der Kanzler sei durch Gott dazu eingesetzt, die Supplikationen der armen Untertanen anzuhören und damit als Vermittler zwischen dem König und dessen Untertanen zu walten.
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durchgesehenen Suppliken und diesem königlichen Gesetz festzustellen sind 123 ). Und trotzdem sind viele dieser Suppliken von politischem Interesse, lassen sich jedenfalls nicht als rein partikulare Erscheinungen abtun: Wenn die Städte Lyon und Troyes auf königliche Geldforderungen mit der Gegenforderung reagieren, gewisse Gruppen innerstädtischer Exemter müßten auch ihren Beitrag leisten; wenn Millau sich für ein näher gelegenes Gericht einsetzt; wenn Toulouse für die kommunale Autonomie in der Bestellung von Ämtern kämpft, oder wenn der „menu popullaire" von Arles den König seiner Unterstützung für eine kürzlich im Interesse des Gemeinwohls durchgeführte und bereits wieder von einer adligen Reaktion bedrohte Justizreform versichert 124 ), so sind dies immer Anliegen, die zumindest potentiell über den aktuellen Anlaß hinaus auf generelle Fragen des politischen Lebens zielen. Der zweite Bestand 125 ) stammt aus den Jahren von 1564 bis 1566, in denen der junge Karl IX. zusammen mit seiner Mutter eine über zweijährige Reise durch das ganze Königreich unternahm, um die Beschwerden der Untertanen an Ort und Stelle zu erfahren und eine dringend nötige Integration des durch den religiösen Zwist zerrissenen Landes zu fördern 126 ). Zu jener Zeit ging aber nicht nur der König zu den Gemeinden. Das umgekehrte Phänomen war ebenso verbreitet. Aus einem auf den 6. Dezember 1566 datierten Erlaß geht hervor, daß diverse kommunale Körperschaften immer wieder Delegierte zum König schickten, um ihm ihre Anliegen direkt vorzubringen. Der Erlaß stellt keineswegs diese Praxis an sich in Frage. Er beschränkt sich auf die Forderung, die betroffenen „communautez de villes, bourgs, bourgades parr[oisses] et villaiges" sollten sich, um die Reisekosten zu verringern, auf jeweils einen einzigen Repräsentanten einigen, dem eine notarielle Beglaubigung darüber mitzugeben sei, in wessen Namen er seine „Requestes ou articles" präsen-
123) Vgl ( j a z u di e Ordonnance sur le fait de la justice (Isambert u.a. [Hrsg.], Recueil [wie Anm.43], 12/2. Bd., 600-640), welche insgesamt 192 Artikel umfaßt. Die Präambel kündigt die Zielrichtung an: Es geht um das „bien de nostre justice, abréviation des procès, et soulagement de nos sujets". Laut Lebigre, Justice (wie Anm. 24), 93, kam der entscheidende Anstoß zur Ordonnanz von Villers-Cotterêts nicht von Seiten der Untertanen, sondern vom Kanzler Guillaume Poyet. 124 ) „Supplient vos treshumbles et obeyssants subjects et menu popullaire de vostre ville et cite darles Comme ainsi soit que par le temps jadis [...] y eust [...] mauuaise justice [...] dont vous sire estant advertis [...] pour reformer [...] tendant au proffict et commodité de vostre chose publique [...] En sorte que de present [ . . . ] un grand repos par autant que la justice que avons de present nest favorisable a personne [...] faveur ne regne plus sont aulcuns seigneurs [...] preferissant leur particulier au bien commung se sont efforcez et sefforcent journellement de faire retourner lad justice au premier estât qui seroit totallement la Ruyne et destruction de vostre peuple". Zur Justizreform in der Provence vgl. auch: Isambert u.a. (Hrsg.), Recueil (wie Anm.43), 12/2. Bd., 416-425. 125 ) BN, Ms. fr. 18156, Conseil d'Etat 1566, fol. 147-201. 126) Vgl. dazu: Jean Boutier/Alain Dewerpe/Daniel Nordman (Hrsg.), Un tour de France royal. Le voyage de Charles IX (1564-1566). Paris 1984.
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Doléances, Requêtes und Ordonnances
tiere 127 ). Die erhaltenen Protokolle des königlichen Rats des Jahrs 1566 zeugen von der quantitativen Bedeutung solcher Requêtes. Der Conseil d'Etat tagte im Verlauf des Jahres 1566 in Moulins, im südöstlich von Paris gelegenen St. Maur des Fossez, in Paris, schließlich in Gaillon (zwischen Rouen und Evreux). In manchen Sitzungen (besonders im Januar) nahmen Diskussionen über den Status der neugeschaffenen Ordonnance von Moulins im besonderen und der königlichen Gesetzgebung im allgemeinen den wichtigsten Raum ein. In der Regel befaßte sich der Rat jedoch mit Requêtes, die von außen an ihn herangetragen wurden. Die Verhandlungen endeten oft mit einer eindringlichen Empfehlung an den König, in der Form „Sur la requête présentée par X, le Conseil a été d'avis que le Roi doit [...]". Nicht immer geht aus dem Protokoll freilich die Stellungsnahme des Rates hervor. Dies gilt besonders für jene Fälle, in denen nur vermerkt wird, bei welchen Instanzen vor einem Entscheid weitere Informationen einzuholen seien. Manche der behandelten Gesuche stammen von Individuen aus den privilegierten Ständen. Daneben fällt aber ein hoher Anteil von Bittschriften auf, die von Korporationen oder deren Vertretern eingereicht werden. Tabelle 3: Sitzungen des königlichen Rats im Jahr 1566 Zahl der Sitzungen
Zahl der behandelten Geschäfte
davon korporative Bittschriften
Januar
4
13
5
Februar
5
47
14
März
5
75
15
(April fehlt)
-
Mai
3
Juni Juli
-
-
31
12
6
59
11
7
68
13
August
1
2
1
September
3
48
14
Oktober
2
17
2
November
4
17
3
Dezember
13
67
10
Selbstverständlich kann nicht jede korporative Bittschrift kommunal genannt werden. Diese Bezeichnung läßt sich beispielsweise nicht auf die von Zünften verfaßten Suppliken anwenden. Dasselbe gilt in der Regel für jene Requêtes, die für Religionsgemeinschaften (etwa die Protestanten einer Stadt) sprechen. Schließlich sind wohl auch noch jene recht häufigen Texte zu streil27
) BN, Ms.fr. 16221, Conseil privé 1566, fol. 215v-216v.
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chen, welche sich als Ausdruck des Konsenses von Provinzialständen ausweisen 128 ). Aber selbst danach bleiben erstaunlich viele Suppliken übrig, die im Namen einer (meist städtischen) Gemeinde sprechen. Belegt werden soll dies mit folgender chronologischen Zusammenstellung der kommunalen Bitten, die im Protokoll der Sitzungen des königlichen Rats des ersten Quartals von 1566 verzeichnet sind. Tabelle 4: Januar-März 1566 - 24 kommunale Suppliken vor dem königlichen Rat: Bittsteller
Form
Anliegen
Antwort des Conseil
habitans de sully et pithiviers
requeste
Bitte um Steuererleichterung
positiv
capitolz et habitans de thoulouse
articles
?
?
consulz de Pierrelatte
requeste
Einstellung eines Beamten für die Kontrolle des Salzspeichers
positiv
majeur preuost et escheuins d'amyens
remonstrances (vier Artikel)
Rückforderung von dem König geleisteten Zahlungen
teilweise positiv
deputez de la ville de Thoulouse
remonstrances
Gegen Ernennungen durch die Königinmutter gerichteter Anspruch auf autonome Besetzung von Ämtern im Pays de Lauraguais
Beide Parteien sollen Belege für ihre Ansprüche beibringen
habitans de St disier
requeste
Verlängerung der Exemtion von der Taille
negativ
habitans de beaugency
requeste
Zeitlich begrenzte Steuerexemtion
positiv
habitans du vicomte et pays de soulle
requeste
Exemtion vom Beitrag an eine vom „pays de guyenne" beschlossene Abgabe
positiv
habitans de moulins
cinq requestes
Steuererleichterung; Verwendung erhobener Steuern für kommunale Zwecke
teils positiv
deputez des escheuins et habitans de Rouen
ont este oylz (Anhörung)
Vertretung des städtischen Standpunktes zur Vergabe der städtischen Steuerpacht
7
l28
) In einer „requeste" legt der „sindic des trois estatz de Languedoc" Rekurs ein gegen königliche „lettres patentes"; ein adliger Wortführer verlangt im Namen von „toutes les prouuinces de ce royaume" die Einberufung aller Provinzialstände zwecks Verhandlungen über die Abschaffung einer Steuer; die „deleguez du pays de bourgongne" verlangen Steuererleichterungen für ihr Land; die „gens des trois estatz du pays de languedoc" legen ein „cayer des remonstrances" vor, dessen 43 Artikel einzeln beantwortet werden; die „gens des trois estatz de prouuence" legen „articles" vor.
59
Doléances, Requêtes und Ordonnances Bittsteller
Form
Anliegen
Antwort des Conseil
maire soubmaire
articles
?
?
requeste
Exemtion von der Pflicht,
positiv
gens du conseil et habitans de bayonne habitans des villes et villaiges de
Soldaten zu unterhalten
la haulte et basse corbiere 112 Einwohner
requeste
von Tours habitans de la
negativ
schatzung demande
ville de tours habitans de
Neue, gerechtere SteuerErleichterung bei einer Mili-
negativ
tärsteuer requeste
sainct pol
Streichung von Geldbußen,
positiv
die unterdessen in Frondienste umgewandelt sind
depute de la ville
six articles
de Thoulouse
Streit zwischen der Stadt
Verweis auf einen
und dem „pays de langue-
früheren Entscheid
d o c " betreffend Steuerverteilung advocatz des ha-
(ont este oyz)
Streit darüber, ob auf Land-
D i e Angelegenheit
bitans de Lion et
gütern von Städtern die Taille
soll vom „president
du plat pays de
lastet
de B i r a g o " ge-
Lionnois
schlichtet werden
maire escheuins
remonstran-
et habitans de
c e s et reque-
bourges
stes
sindic du pays de
(ont este oyz)
?
?
Abschaffung eines lokalen
Das Gericht wird
bretaigne et le
königlichen Gerichts (siège
beibehalten, aber die
depute de Nantes
présidial)
Anzahl der Gerichtsbeamten wird reduziert
maires pairs et
requeste
habitans de
Erlaubnis, in Flandern Wolle
negativ
zu kaufen
beauuais habitans de
requeste
Limoges habitans de R i o m
Verwendung von Steuern für
positiv
kommunale B e l a n g e requeste
Exemption von der „Taille"
Exemtion von
für sechs Jahre
der „Taille" für ein Jahr
habitans de M o n -
requeste
dito
dito
requeste
?
7
lucon deputez des conseillers escheuins et habitans de Rouen
60
Beat Hodler
In der vorliegenden Stichprobe ist die Steuerfrage zweifellos das Hauptanliegen. Dieser Befund kann aber nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. So mögen sich je nach politischem Hintergrund Suppliken zu ganz anderen, gerade drängenden Themen kurzfristig gehäuft haben. Bei einem Blick auf Suppliken des Jahrs 1587 fallt etwa der mehrmals erhobene Wunsch nach Erlaubnis zur Befestigung der eigenen Siedlung auf 129 ). Festhalten läßt sich jedenfalls, daß im vorliegenden Fall die kommunalen Verbände vor dem königlichen Rat mit ihren Anliegen präsent waren. Die Diskussion ihrer Requêtes, Remonstrances, Demandes und Articles muß sogar wesentlich mehr Raum eingenommen haben, als mit obiger Darstellung zum Ausdruck gebracht werden konnte. Während nämlich Individualsuppliken meistens ein einziges, relativ rasch zu beurteilendes Anliegen vertreten, enthalten zahlreiche kommunale Suppliken mehrere, oft mehrere Dutzend Artikel, die einzeln zu beantworten waren.
2.3. Fazit In den oben (2.1.) betrachteten 25 Doléances ländlicher Gemeinden werden eine ganze Reihe von politischen Zielen formuliert. Gefordert wird ein gewissenhafter, präsenter und kompetenter Klerus, eine effiziente und gerechte Justiz, die Abschaffung nutzloser Ämter, eine stärkere Integration des Adels in die allgemeine Verwaltung und Rechtspflege, der Schutz vor Kriegsleuten und Steuergerechtigkeit. Darüber hinaus wird auch ein Weg zur Verwirklichung dieser Ziele angegeben. Im kirchlichen Bereich fordert ein Großteil der betrachteten Doléances die Pfarrwahl und die Residenzpflicht der Kleriker. Unter dem Titel „Justice" wird der Wunsch nach einem Beschwerderecht der Bevölkerung geäußert. Die Käuflichkeit der Ämter soll durch Wahl ersetzt werden. Adlige sollen die Coutume respektieren, sich den königlichen Gerichten unterwerfen. Die Kriegsleute sind zu disziplinieren. Ein vorgeschlagener Weg ist die Einführung eines Milizsystems 130 ). Die Steuerverwaltung schließlich soll über ihren Umgang mit den Steuergeldern Rechenschaft ablegen. I29 ) Im Mai 1587 wird im königlichen Rat folgende Bitte behandelt: „Des habitans du village de saincte Laine pour leur permectre de faire clore Ied village de murailles fossez pour la seurete de leurs personnes" (BN, Mss. fr. 21480, fol. 69v). Vgl. auch folgendes ähnlich gelagertes Beispiel vom September 1587: „Les habitans du villaige de Pauler [...] ayant aussi esgard a la grande pauureté an laquelle Ilz sont reduictz par les rançonneries, volleryes [...] dune infinité de vagabondz pillartz, et aultres se disant gens de guerre, a locasion de quoy le dict villaige est quasi du tout inhabité Voulloir suiuant laduis du gouuerneur de la prouince permettre ausd habitans se pouuoir faire clorre a leurs despens" (ebd., fol.l92v). I3 °) Besonders deutlich in der Beschwerdeschrift von Bleury: „soit elleu par chacune parroisse de son Royaulme quelque nombre de gens notables et expers aux armes", die von „lesd parroissiens" unterhalten werden.
Doléances, Requêtes und Ordonnances
61
Gewiß gehen nicht alle Cahiers gleich weit. Eine visionäre Ausrichtung weist etwa jenes von La Loupe auf, das Periodizität 131 ) und Demokratisierung 132 ) der Etats Généraux, die Vertretung der Provinzen im königlichen Rat durch je zwei Notabein 133 ), die periodische Wahl der Steuereinzieher und der „Prévôts des maréchaux" fordert. Die hier analysierten Beschwerden aus dem Jahr 1576 weisen manche Übereinstimmungen mit Doléances aus früheren wie späteren Jahrhunderten auf. So wurden immer wieder fast gleichlautende Klagen gegen die adlige Praxis vorgebracht, bei der Jagd durch die besäten Felder zu reiten. An dem sich aus solchen Beobachtungen ergebenden Bild einer völlig statischen Situation, an der auch die alle paar Jahrzehnte neu erhobenen Klagen der Untertanen wenig ändern, ist folgende Korrektur anzubringen. Doléances verfolgten die Absicht, Ordonnances in die Wege zu leiten. Doléances verfolgten aber auch das Ziel, die Einhaltung und Durchsetzung bereits erlassener Ordonnances zu erzwingen 134 ). Es ist klar, daß die Möglichkeit, kommunale Beschwerden mit bereits bestehenden Gesetzen zu stützen, die Position des Dritten Standes stärkte. Angesichts dieser Tatsache ließe sich die Leistung der kommunalen Doléances in zweierlei Hinsicht würdigen: Die anläßlich der Etats Généraux vorgebrachten Beschwerden wirkten als Vorschläge zur gesetzlichen Regelung aktueller Probleme, und sie fungierten auch als Gedächtnis, oder - um es etwas lyrisch zu sagen - Gewissen des Staates, indem sie ihn immer wieder auf bereits konzedierte Ordonnances verpflichtete. Die im Anschluß an Picot und Thierry betrachtete Beziehung zwischen Etats Généraux, Ordonnances und Doléances erweist sich somit als ertragreich, um das Verhältnis zwischen Gemeinden und Staat zu ermitteln. Namentlich die Frage nach den Einflußmöglichkeiten der Untertanen auf die Gesetzgebung hat sich schließlich im Verlauf der Untersuchung als besonders ergiebig erwiesen, freilich unter einer Erweiterung der herkömmlichen Perspektive der Ständeforschung. Denn in deutlich höherem Maße als die Ordonnances wurden die Coutumes redaktionell von Kommunen verantwortet und die entsprechenden Rechtsreformationen unter deren Beiziehung redigiert. Geltendes Recht wurde in Frankreich nicht zuletzt auch durch den Strom der Requêtes beeinflußt. Naturgemäß herrschen in den Requêtes lokale Interessen vor. Können sie daher als partikularistisch abgetan werden? In der Tat wird besonders häufig der Wunsch vorgebracht, von einer Steuer ausgenommen zu werden. Dennoch konnten in ihnen
131
) „Que les estats soyent tenus de six ans en six ans". ) „Que chascun y soit ouy librement en ses plainctes et doleances". 133 ) „Que le conseil du roy soit compose a laduenir de deux hommes notables de chascune prouince [...] lun de noblesse et lautre de tiers estas". 134 ) Die erste Forderung im Cahier von La Loupe (1576) lautet: „Que les ordonnances du roy [...] en la ville dorleans en lan mil cinq cents soixante [...] soyent tenus de point en point". 132
62
Beat Hodler
Forderungen enthalten sein, wie sie in den oben behandelten Doléances sichtbar werden. So bitten im Jahr 1566 die „manans et habitans" von Rennes erfolgreich darum, das dortige Parlement möge fortan permanent tagen 135 ), und im gleichen Jahr fordern die Einwohner von Loches, der Vertreter der Wegepolizei solle in ihrer Stadt residieren 136 ). Am 22. Februar 1566 beschließt der königliche Rat aufgrund einer von Einwohnern von Fontenay le Comte eingereichten Supplik 137 ), die dortigen Magistrate hätten innerhalb von sechs Wochen Rechenschaft über ihre Regierungstätigkeit vor dem königlichen Rat abzulegen. Außerdem solle der Magistrat neu gewählt werden, und zwar unter Berücksichtigung einer vorgeschlagenen Klausel gegen Nepotismus 138 ). Die Stadträte müßten im übrigen in der Stadt residieren. Besonders instruktiv ist indessen ein Blick auf jene Requêtes, in denen die Höhe der von einer Stadt aufzubringenden Steuern ausgehandelt wird. Darin beschränken sich die kommunalen Instanzen keineswegs auf den Versuch, die fiskalische Gesamtlast möglichst tief zu halten, sondern sie stellen sich auch gegen die Exemption einzelner Stadtbewohner. Eine nach Verhandlungen erhobene Steuerforderung der königlichen Verwaltung an die Stadt Abbeville hält fest, alle Einwohner ohne Ausnahme seien zu verpflichten, sich an der Steuer zu beteiligen 139 ). Im Jahr 1597 argumentiert eine Requête aus Sens, die Bevölkerungszahl sei wegen einer Epidemie um einen Viertel zurückgegangen, und überdies leide die Stadt unter den Folgen des Hagels. Die Weinernte in den umliegenden Rebbergen sei schlecht ausgefallen. Die Bittschrift verlangt nicht nur eine Reduktion der Steuern, sondern eine bessere Verteilung. Der König möge doch die zahlreichen und begüterten Kleriker dazu veranlassen, einen Teil der Last mitzutragen 140 ). In dieselbe Richtung zielt eine Supplik von Bürgermeister, 135 ) Argumentiert wurde mit dem „bien et utilité publicq du pays et duché de bretaigne" (BN, Ms. fr. 16221, Conseil privé, 4 février 1566, fol. 3v-4r). 136 ) „Requeste des habitans de Loches A ce quil fut ordonne que le lieutenant du- preuost des mareschaulx [...] resideroit a loches" (mai 1566), (BN, Conseil d'Etat, Ms. fr. 18156, mai 1566, fol. 163v. 137 ) „Requeste pntee par aulcuns habitans de la ville de fontenay le Conte" (BN, Conseil privé, Ms. fr. 16221, 22 février 1566, fol. 18r-19v). 138 ) „Oster de la maison commune de lad ville tous les enffans freres, beaufreres, et gendres qui y sont entrez depuis vingt ans et [...] en mectre daulcuns qui soient daultres familles ou a tout le moins accroistre le nombre qui nest que de trente un" (ebd.). 139 ) „Et seront contrainctz aud payement tous lesd habitans sans nul excepter" (Ms fr. 16224, Conseil privé, Janvier-Mars 1578, 31 janvier 1578, fol. 21r). 140 ) „Les manans et ha[bita]ns de la ville de Sens: Sur la Req[ues]te presentee par les Manans et habitans de la ville de Sens [...] ace quattendu que lad ville auoit Este cottisee en lannee demiere de la somme de trois mil Escus Enquoy elle auoit Esté surchargée plus quen lannee precedente de la somme de quinze cens Escus Encores que depuis soit diminuée et despeuplee de plus dun quart desd habitans mortz de la Contagion et apauurie par le traffic de leur vin qui est [...] a loccasion de la grele qui a vasté tout le vignoble des enuirons II plaise au Roy leur quicter et remectre lesd trois mil Escus Du Moings les moderer a cinq cens cinquante Escus Et ordonner que les ecclesiastiques qui sont une grande partye des habitants de lad ville y seront comprins a Raison de leurs biens patrimoniaulx A ESTE
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
63
Schöffen und Einwohner von Amboise, welche auf die große Anzahl von in der Stadt ansäßigen exemten Officiers aufmerksam macht 141 )- Mit der Forderung nach Steuergerechtigkeit ist ein zentraler Wunsch des Dritten Standes angesprochen 142 ), der auch im Rahmen von lokalen Ständeversammlungen 143 ) und selbst in einzelnen Coutumes zum Ausdruck kam 144 ). Daß sich selbst im fiskalischen Bereich kommunale Errungenschaften nicht ohne weiteres auf einen engen territorialen Rahmen eingrenzen ließen, zeigt der Fall der Dauphiné, wo im 16. Jahrhundert ein langwieriger Konflikt um die Taille réelle schwelte 145 ). Innerhalb der Dauphiné war die Frage nach der ORDONNE quen payant par les supplians La moictye de lad somme de Trois mil Escus alaq[ue]lle Ilz ont este taxez en lannee demiere pour leur part a la subuention des villes closes Ilz demeureront quictes et deschargez de lautre moictye" (BN, Conseil du Roi, Ms. fr. 18160, janvier 1597, fol. 4r). 141 ) „Maire escheuins manans et habitans d'Amboise: Sur la Requeste presentee par les Maire Escheuin Manans et habitans de la ville damboyse Tendant a ce quil plaise au Roy attendu la pauurete et le grand nombre de ses officiers Residens en lad ville Quy sont exemptz de toutes contributions Les exempter et descharger du paiemen de la somme de Neuf cens Escus A laquelle Ilz ont Este taxez en lannee derniere Pour leur part de la subuention des villes closes A ESTE ordonne qu en payant par les supplians La moictye de lad somme de neuf cens Escus En laquelle Ilz ont Este taxes en lannee derniere pour leur part de lad subuention Ilz demeureront quictes et deschargez de lautre moictye" (ebd., fol. 7r-v). 142) Ygl. dazu auch Wolfgang Schmales Überlegungen, der in anderem Zusammenhang die Kritik an Steuerprivilegien unter dem Ancien Régime als „typisch bäuerlich" charakterisiert hat ( Wolfgang Schmale, Zur politischen Vorstellungswelt der französischen Bauern am Vorabend der Revolution, in: Winfried Schulze [Hrsg.], Aufklärung, Politisierung und Revolution. Pfaffenweiler 1991, 107-145, 128). 143 ) 1608 wurde in Trévoux eine „assemblee generalle du pais de Dombes" durchgeführt, nachdem ein Streit zwischen dem Dritten Stand und den zwei privilegierten Ständen ausgebrochen war. Der Hauptvorwurf des „thiers estât" lautete, zu seinem großen Schaden beanspruchten immer mehr Leute, von den Steuern exemt zu sein (AN, E 2787. Conseil du Roi. Requêtes et placet adressés aux princes de Dombes [...] et à l'Intendant, Procès verbal de lassemblee generalle du pais de Dombes faicte a Trevolz le VIII Novembre 1608). Vgl. auch einen Vorstoß der Provinzialstände des Languedoc, in dem auf die Taille réelle Bezug genommen wird: „Déclaration sur la remontrance des états de Languedoc, portant que toutes personnes privilégiées, ecclésiastiques ou autres, contribueront aux tailles pour leurs biens roturiers en Languedoc" (Isambert u.a. [Hrsg.], Recueil [wie Anm. 43], 12/2. Bd., 407). 144 ) So wurden in der zweiten Hälfe des 17. Jahrhunderts im Pays de Lalleu prinzipiell Steuerexemptionen abgelehnt. In besagtem Gebiet würde nämlich, heißt es in einer Fassung der lokalen Coutume aus dem Jahr 1669, die Assiette ohne Rücksicht auf eine allfallige Zugehörigkeit zum adligen oder geistlichen Stand verhängt (Bourdot de Richebourg [Hrsg.], Coutumier [wie Anm. 94], 1. Bd. Paris 1724, 378). 145 ) Erhellend in dieser Hinsicht ist eine Schrift aus dem Jahr 1601, die zwar die adlige Position vertritt, aber auch ausführlich die Argumente des Dritten Standes widergibt. Dieser behaupte, die Dauphiné kenne die Taille réelle, nicht die Taille personnelle. Adlige seien also nicht automatisch aufgrund ihres persönlichen Status von der Taille ausgenommen. Der Dritte Stand weise insbesondere auf die Rechtslage in gewissen Gebieten (etwa im Briançonnais) innerhalb der Dauphiné hin, wo unbestrittenermaßen das Prinzip der Taille réelle herrsche (Defense de la noblesse de Davphiné: Contre les demandes dv tiers estât de la mesme province, contenves en devx requestes, des 23 Juillet 1595 & 14. May 1597 et la response a la répliqué, composée par Maistre Julian Dufos Tholosain. Paris MDCI).
64
Beat Hodler
Steuerpflicht unterschiedlich geregelt. In den Bergregionen wurde auf Liegenschaften eine Taille réelle erhoben, im tiefer gelegenen Gebiet eine Taille personnelle. Von ihr waren Adel und Klerus befreit, so daß bei massiertem Güterkauf seitens der Herrenstände die steuerliche Belastung des Commun entsprechend anstieg. Das Beispiel der für den Commun günstigeren Lösung in den Bergregionen lieferte ein wichtiges Argument im Kampf gegen die in den tiefer gelegenen Gebieten vorherrschende Taille personnelle. Nach einem fast hundert Jahre lang dauernden Kampf, der vor den Provinzialständen, aber auch vor königlichen Gerichten ausgetragen wurde, setzten sich die Interessen des Commun wenigstens teilweise durch 146 ). An der Peripherie gelegene kommunale Verbände und die von einzelnen Gemeinschaften erkämpften lokalen Errungenschaften haben in diesem Fall eine Dynamik von überregionaler Bedeutung entfaltet. Insgesamt scheinen die partikularistischen Partizipationsformen einen Grundsockel der Einflußmöglichkeiten auch in den Zeiten ohne Generalstände darzustellen. Ländliche wie städtische Communautés benutzten eine ganze Reihe von Kanälen, um sich Gehör zu verschaffen. Sicher wäre es ertragreich, die formalen Wege der Doléances und Requêtes mit konkretem Handeln wie Steuerverweigerungen und Aufständen in Verbindung zu setzen. Generell ist jedenfalls davon auszugehen, daß durchaus mehrere Wege gleichzeitig benutzt werden konnten 147 ).
3. Schluß Ausgegangen wurde von zwei Traditionen in der französischen Historiographie, nämlich von der Ständediskussion und von der Gemeindeforschung. Der Vergleich kommunaler Beschwerdeschriften des Jahres 1576 mit der entsprechenden königlichen Ordonnance von Blois erlaubte es, zumindest stichprobenweise zu belegen, daß nicht sämtliche Forderungen der Basis im Verlauf der diversen Redaktionsverfahren spurlos verschwanden, daß zumindest in gewissen Bereichen die Bauern der Beauce im Text der Gesetzgebung von 1579 Übereinstimmungen mit den von ihnen erhobenen Forderungen finden konnten. Ausgehend vom heute in der Forschung zunehmend anerkannten Bild einer Société des Corps wurde anschließend gefragt, welche Einflußmöglichkeiten einer politisch aktiven Gemeinde auch außerhalb der Etats Géné146
) Major, Representative Government (wie Anm. 4), 80. ) Daniel Hickey hat in seiner Rekonstruktion des Kampfes der Dörfer der Dauphiné um Steuergerechtigkeit gezeigt, wie Revolten, Doléances der Provinzialstände und Prozesse auf komplexe Weise zusammengewirkt haben: Daniel Hickey, Le Dauphiné devant la monarchie absolue: Le procès des tailles et la perte des libertés provinciales 1540-1640. Grenoble 1993. 147
Doléances, Requêtes und Ordonnances
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raux offenstanden. Offenbar existierte eine ganze Reihe solcher Kanäle politischer Partizipation. Aus dem Gesagten ergibt sich zweierlei: Die in der Ordonnance von Blois formulierten Interessen des Staates waren in erheblichem Maß kompatibel mit jenen der betrachteten ländlichen Gemeinden, und: Ländliche und städtische Communautés nutzten eine ganze Reihe von Einflußmöglichkeiten auf die staatlichen Geschäfte. Angesichts landläufiger Vorstellungen eines frühneuzeitlichen Frankreich, welches sich geradlinig und unaufhaltsam auf dem Weg zu Zentralismus und Absolutismus fortbewegt, mag dieser Befund etwas überraschen. Immerhin befindet er sich im Einklang mit Äußerungen in der zeitgenössischen Theorie. So weist Loys de Mayerne Turquet in seiner Monarchie Aristodemocratique den Paroisses eine zentrale Rolle zu, sollen doch in den Gemeinden durch Generalversammlungen aller Hausväter („chefs de famille") jene Wahlmänner bestimmt werden, die danach indirekt, das heißt, vermittelt über weitere Versammlungen auf den Stufen der Châtellenie und des Siège présidial, die Abgeordneten der Etats Généraux bestimmen 148 ). Diesen wiederum steht es zu, über „l'entier establissement des Edicts & Loix generales" zu befinden 149 ). Ein noch gewichtigerer Zeuge ist indessen der bekannteste Theoretiker des Absolutismus und der ungeteilten Souveränität des Königs, bei dem die hier geschilderten Verhältnisse durchaus eine Abbildung und positive Würdigung finden: Jean Bodin 150 ) äußert sich zustimmend zur Partizipation korporativer Verbände am Staat 151 ). Das 7. Kapitel des 3. Buchs der Six livres de la République ist den „Corps & Colleges, Estats, & Communautés" gewidmet. Corps & Collèges sind entweder zu Zwecken der Religion oder der Police eingerichtet, wobei die Police so unterschiedliche Bereiche wie die Rechtsprechung, die Ämterbesetzung, die Organisation der Warenflüsse sowie die Produktion umfaßt. Bodin billigt den Corps und Collèges das Recht zu, im Rahmen ihrer vom Souverän erlassenen oder bestätigten Statuten selbständig Regelungen zu erlassen, die er Ordonnances nennt. Solange sie damit nicht den Gesetzen widersprechen, müssen die Corps auch das Recht haben, diese Ordonnances durchzusetzen. Wie ist mit unbotsamen Corps umzugehen? Die Geschichte der rebellischen Stadt Gent, die sich nach einer allzu harten Behandlung durch Louis, den letzten Graf von Flandern, schließlich endgültig von ihrem Herr148) Vgl. Loys de Mayerne Turquet, La Monarchie Aristodemocratique, ou le gouvernement composé et meslé des trois formes de legitimes Republiques. Paris 1611, 341 ff. 149
) Ebd., 48. 150) Vgl. dazu auch die Darstellung der differenzierten Beurteilung ständischer Partizipation durch Bodin bei: Ulrich Scheuner, Stände und innerstaatliche Kräfte in der Theorie Bodins, in: Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973, 379-397. 151 ) Die folgenden Zitate nach: Jean Bodin, Les six livres de la République. [Paris 1583], Aalen 1961.
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Beat Hodler
scher losriß, führt Bodin zur pragmatischen Warnung davor, widerspenstige Untertanen in die Verzweiflung zu treiben. Auf einer prinzipielleren Ebene wird danach die Frage neu formuliert: Kann eine Republik ohne Corps & Collèges auskommen? Bodin tendiert zu einer negativen Antwort. Die fraglichen Korpora seien Zusammenschlüsse aus Freundschaft. Wer daran zweifle, daß sie in der Republik notwendig seien, zeichne ein überaus trostloses Bild eines Gemeinwesens. Die Monarchie habe keine bessere Stütze als die „estats du peuple, corps & Colleges" 152 ). Ob nun Steuern zu erheben oder Truppen zu rekrutieren sind, immer ist man auf Korporationen angewiesen. Insbesondere anläßlich der Etats Généraux können dabei alle Fragen von allgemeinem Interesse vorgebracht werden. Bodin wendet sich aber auch gegen die Gegner der „estats particuliers de Bretagne, Normandie, Bourgongne, & Languedoc, Dauphiné, Prouence" 153 ). All jenen, die diese Provinzen in Pays d'elections umwandeln wollen, hält er entgegen, es treffe zwar zu, daß in den Provinzialständen Mißbräuche 154 ) grassierten, aber nichtsdestoweniger gelinge es den Etats Provinciaux immer wieder, Steuererleichterungen zu erreichen. Insgesamt sei die Verwaltung in den Pays d'Etats viel effizienter als in den Pays d'Election. Je mehr königliche Beamte eingesetzt werden, desto mehr werde gestohlen; außerdem fänden die Klagen der Bevölkerung der Pays d'Election ein viel geringeres Echo als jene der Untertanen aus den Pays d'Etats. Anläßlich der Ständeversammlungen werde der König mit konzise formulierten Forderungen konfrontiert, die es ihm verböten, die vorgebrachten Doléances als unwesentliche Anliegen einzelner abzutun. Bodin nimmt deutlich Stellung gegen jene, die der Ansicht sind, alle Corps & Collèges müßten abgeschafft werden. Ohne abzustreiten, daß Körperschaften einen potentiellen Unruheherd darstellten, weist er darauf hin, daß jene Verschwörungen den größten Schaden anstifteten, die völlig heimlich angezettelt würden. Es gebe jedenfalls nichts besseres zur Erhaltung der „Estats populaires" und zur Bekämpfung der Tyrannie als die Anerkennung und Förderung der Corps. Deren hohe Wertschätzung hat er selber als Vertreter des Dritten Standes bei den Etats Généraux von Blois unter Beweis gestellt. In einem Disput mit dem Erzbischof von Lyon hatte er sich nämlich gegen eine von Adligen und Klerikern beschlossene Ernennung von 36 Gutachtern gewandt, die an der Beurteilung der ständischen Beschwerdeschriften hätten teilnehmen sollen. Abgestützt hatte er dabei seine Argumentation auf eine Regel, derzufolge „les deux [estats] ne pouuoyent rien arrester au preiudice du tiers" 155 ).
152) Ebd., 500. 153 ) Ebd., 501. 154 ) Dazu gehören laut Bodin ein aufgeblähtes Pensionenwesen im Languedoc und Korruption in der Bretagne. 155 ) Ebd., 485.
Doléances, Requêtes und
Ordonnances
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Es gibt Hinweise darauf, daß auch nach 1614 manche der hier für das 16. Jahrhundert untersuchten Partizipationsformen überlebten und 1789 dazu beitrugen, daß innerhalb kurzer Zeit eine ganze Reihe von totgeglaubten politischen Formen neu aktualisiert wurden. Die Bedeutung der Gemeinden wurde vom jungen Staat sofort anerkannt, gehört zu seinen ersten Maßnahmen doch das Dekret der Nationalversammlung vom 14. Dezember 1789 über die Konstitution der Municipalités156).
I56
) Jacques Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l'Empire. Paris 1951, 103 ff.
Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629 Von
Rosi Fuhrmann
Das besondere Merkmal Altwürttembergs sei, so schrieb der Altmeister der württembergischen Landtagsgeschichte Walter Grube schon in den fünfziger Jahren, daß man hier den „Dualismus der staatlichen Zentrale auf einem tieferen Stockwerk des Staatsgebäudes in ganz ähnlicher Form" wiederfinde, nämlich bei den Ämtern 1 ). Zusammen mit den Städten bildeten die Ämter die württembergische Landschaft2). Als dualistisch strukturiert können diejenigen Ämter gelten, die als Stadt und Amt in Erscheinung traten, und zwar wegen der Stellung der Stadt im Amt (als Gesamtverband) beziehungsweise gegenüber dem Amt (als einer aus Dorfgemeinden, genauer gesagt aus Niedergerichten, zusammengesetzten Korporation). Landstandschaft besaßen sie als Stadt und Amt, und da sie die anderen der Landschaft zugehörigen Korporationen an Zahl und mehr noch an militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung weit übertrafen, ist, wer sich mit Altwürttemberg befaßt, immer auch, wenn nicht an erster Stelle, auf diese zweite Ebene politischer Entscheidungsfindung verwiesen. Nicht von ungefähr hat sich also die Landesgeschichte mit der Rolle der Ämter im Bereich von Landespolitik und Gesetzgebung hier breiter auseinandergesetzt als andernorts und sie scheint mit ihren als gesichert geltenden Erkenntnissen eine Lanze dafür brechen zu können, daß das Dualismusmodell auch für diese Ebene Gültigkeit besitzt. Den württembergischen Dorfgemeinden soll eine „unmittelbare Anteilnahme am korporativen Staat" nach 1515 nur noch im Rahmen von Stadt und Amt möglich gewesen sein 3 ), weil ihnen - auf der Grundlage des Tübinger Vertrags (1514) und der kurz darauf erlassenen Verordnung über die Abhal') Walter Grube, Dorfgemeinde und Amtsversammlung in Altwürttemberg, in: ZWLG 13 (1954), 194-219, 197 ff. 2 ) Literatur und Quellen gebrauchen den Ausdruck uneindeutig. Hier soll von der württembergischen gemeinen Landschaft als dem korporativen Zusammenschluß aller (Städte und) Ämter die Rede sein. Die Prälaturen respektive die Klosterämter sind erst für die Zeit nach 1551 beziehungsweise 1554 einzuschließen (vgl. Anm. 15). Wo die korporative Vertretung der Landschaft (Ausschüsse) gemeint ist, wird dies, wenn nötig, hervorgehoben. 3 ) Grube, Amtsversammlung (wie Anm. 1), 198.
70
Rosi
Fuhrmann
tung der Landtage (1515) 4 )-von den Städten das Recht abgestrickt wurde, eigene Vertreter zum Landtag zu schicken. Zudem sollen die Städte erfolgreich die „Zurückdrängung oder gar völlige Abschaffung der im 15. Jahrhundert hier und da nachweisbaren Vollversammlungen" betrieben haben, weswegen die Dorfgemeinden trotz ihrer „vergleichsweise günstigen Stellung gegenüber der Herrschaft" in ihrer „ganz überwiegenden Mehrheit ohne jeden unmittelbaren Einfluß bei der Landschaft" 5 ) geblieben seien. Seit 1515 fehle „überall jede kleinste Notiz vom Vorhandensein von Amtsversammlungen in Landschaftsangelegenheiten" 6 ). Erst im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges werde „der Einfluss der Amtsorte in landschaftlichen Dingen und somit auch bei der Wahl der Abgeordneten [...] nachweisbar" 7 ). Von da an vollziehe sich über die Amtsversammlungen „der Zusammenschluß der Amtsorte zum wirklichen Selbsthilfekörper und Kommunalverband" 8 ). Deutlich wird, daß die hier zitierte ältere Forschung den politischen Einfluß von Kommunen ohne Stadtrecht daran gemessen haben wollte, ob im Amt Vollversammlungen durchgeführt wurden und die Dörfer ein passives und aktives Wahlrecht für Landtagsabgeordnete besaßen. Welchen Sinn es macht, Institutionen des modernen Staatsrechts in Quellen des 16. Jahrhunderts zu suchen, wurde nicht hinreichend geprüft. So ließ Grube die ihm durchaus bekannte Tatsache, daß die Amtsstädte „in ihren .Landtagsgravamina' gegenüber Landschaft und Herrschaft auch alle Amtsdörfer einzeln und ausführlich zu Wort kommen ließen", nicht als Argument dafür gelten, daß die städtischen Magistrate im Ausbau ihrer Vorrangstellung vielleicht doch nicht so erfolgreich waren, wie es ihm scheinen wollte 9 ). Offensichtlich reichte das Wissen darum, daß die Amtsdörfer über die Landtagsgravamina durchaus zu Wort kamen, in Grubes Tagen nicht hin, um die Frage nach der Repräsentation der Dorfgemeinden und Amtskorporationen auf den Landtagen auch einmal an anderen als den Kriterien demokratisch gewählter Parlamente aufzuhängen 10 ). Aber kann man wirklich auch heute noch davon ausgehen, daß die „Mitsprache der Bauern" in Landesangelegenheiten „mit der Niederschlagung des sogenannten , Armen Konrad' untergegangen" sei und dieser Zustand sich „erst 4
) Näheres in Kap. 1. ) Grube, Amtsversammlung (wie Anm. 1), 201, 197. 6 ) Fritz Benzing, Die Vertretung von „Stadt und Amt" im altwürttembergischen Landtag. Diss. jur. Masch. Tübingen 1924, 96. 7 ) Ebd., 81. 8 ) Walter Grube (Hrsg.), Vogteien, Ämter, Landkreise in Baden-Württemberg. Stuttgart 1975, 21 ff., 22. 9 ) Grube, Amtsversammlung (wie Anm. 1), 201; mit Verweis auf zahlreiche Beispiele im Nürtinger Kreisarchiv, ohne Nennung eines Zeitraums. 10 ) Siehe hierzu Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Berlin 1974; vgl. aber auch Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1977. 5
Amtsbeschwerden,
Landtagsgravamina
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wieder nach dem Dreißigjährigen Krieg, als sich die Gewichte in den Ämtern zugunsten der Dörfer langsam verschoben", geändert habe")? Müßte man nicht fragen, wie und mit welcher Wirkung denn die Dorfgemeinden Altwürttembergs ehedem zu Wort kamen? Konnten sie ihre Anliegen nur mit oder auch ohne Vermittlung der Städte oder der Landschaft bei der Regierung vorbringen? Ging es ihnen nur um verbriefte lokale Rechte oder auch darum, auf umfassendere politische Vorgänge wie die Konstituierung, Sicherung oder Änderung von Recht und Ordnung im Lande Einfluß zu nehmen? Dies sind die Fragen, auf die im folgenden näher einzugehen sein wird. Vieles wird dabei zur Sprache zu bringen sein, was der Landesgeschichte zwar keineswegs neu ist, aber nach all den Jahren eine erneute und wenn möglich breitere und intensivere Betrachtung wohl verdient haben mag.
1. Forum Landtag Mittelalterliche und frühneuzeitliche Landtage hatten repräsentativen Charakter in einem durchaus umfassenden Sinn. Sie waren Foren, die nicht nur die gegebene politische Situation abbildeten, sondern darüber hinaus dazu dienen konnten, Ansprüchen, die rechtlich unzureichend abgeklärt waren, symbolisch Ausdruck und damit eine gewisse Realität zu verleihen. Landtag halten unterschied sich von Hofhalten dadurch, daß der Landesherr an die Gesamtheit der Geladenen eine Bitte heranzutragen gedachte, über deren Erfüllung es zu Verhandlungen unbestimmten Ausgangs kommen konnte. Im schlechtesten Falle bereitete ein Landesherr, indem er zum Landtag lud, nicht sich selbst, sondern den Geladenen eine politische Bühne. Mit der Notwendigkeit, Rat und Hilfe in die Tat umzusetzen, eröffnete sich denselben außerdem die Möglichkeit zu legitimen korporativen Zusammenschlüssen 12 ). Grundsätzlich wäre zu überlegen, ob und mit welcher Wirkung ein Landesherr Personen von Stand - es seien Abgeordnete von Korporationen oder Kommunen, Amtsträger oder einzelne Schirmverwandte oder Gerichtsleute - das Erscheinen auf einem Landtag oder zumindest das Vorsprechen am Hof zum Zeitpunkt eines Landtags untersagen konnte 13 ).
") So Dieter Mertens, Württemberg, in: Meinrad Schaab/Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte. 2. Bd. Stuttgart 1995, 1 163, 90, im Rückgriff vor allem auf Grube (wie Anm. 1 und 8) und Benzing (wie Anm. 6). n ) Statt vieler Peter Blickte, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland. München 1979, 36 f., 38 ff. I3 ) Vgl. den Beitrag von Renate Blickte, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in diesem Band.
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In der schon erwähnten Verordnung wegen der Abhaltung der Landtage von 1515 14 ) (im folgenden kurz Landtagsverordnung genannt) hatte der Herzog der württembergischen Landschaft - und nur dieser 15 ) - zugesagt, auf alle Landtage, die er künftig halten werde, sämtliche ihr angehörenden Städte und Ämter einzuladen. Zudem sollte man auf diesen Landtagen nichts anderes beratschlagen, verhandeln und vornehmen, als was „lanndt vnnd leuten zu lob, eer, nutz vnnd wolfart" diene. Da die Abgeordneten der Städte und Ämter Vollmachten mitbringen sollten, mußte diesen der Zweck des Landtags und meist auch das konkrete Hilfsersuchen des Landesherrn zusammen mit der Einladung eröffnet werden 16 ). Das heißt, zur Notwendigkeit, Maßgaben für die bevorstehenden Verhandlungen zu beschließen, trat die Gelegenheit, Gegenforderungen in Form von Beschwerden zusammenzustellen.
1.1. Das Beschwerderecht der württembergischen Landschaft Das Recht, landesherrliche Bitten und Ansuchen um Rat und Hilfe als Anlaß zu nehmen, um ihrerseits Beschwerden vorzubringen und Mißstände zu benennen, hatten die württembergischen Korporationen schon wahrgenommen, bevor sich - auf der Grundlage von Privilegien und Verträgen - eine gemeine Landschaft hatte konstituieren können 17 ). Ein Landtag setzte für einen solchen Interessensausgleich einen besonderen Rahmen, doch wurden in Württemberg wie andernorts durchaus auch andere Plattformen und Anlässe genutzt 18 ). Der Vorteil, den ein Landtag bot, wird 14
) Anton Ludwig Reyscher (Hrsg.), Vollständige, historische und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Geseze. I.-XIX. Bd. Tübingen 1828 ff., II. Bd., Nr. 23, 56; zur Vorgeschichte Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457-1957. Von den Landständen zum demokratischen Parlament. Stuttgart 1957, 89 f. 15 ) Der Prozeß der Integration der Prälaturen und Klosterämter in die württembergische Landschaft ist unzureichend untersucht (siehe auch Anm. 2, im folgenden und Kap. 2.): Hartmut Lehmann, Die württembergischen Landstände im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, 183-207, 185 f.; Dieter Stievermann, Landesherrschaft und Klosterwesen im spätmittelalterlichen Württemberg. Sigmaringen 1989, 241 ff.; Grube, Landtag (wie Anm. 14), auf den hier wie andernorts verwiesen wird, bietet viel Material, aber keine rechts- und verfassungshistorische Analyse. 16 ) So schon Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 12ff., 111 ff. 17 ) Vgl. Anm. 2. Grube, Landtag (wie Anm. 14), 26 ff. - Eckdaten sind der Münsinger Vertrag (1482), der Herzogbrief (1495), der Tübinger Vertrag samt Nebenabschied (1514) und die schon erwähnte Landtagsverordnung (1515): Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), I, Nr. 7; II, Nrr. 12, 18, 19, 23; zum politischen Kontext Mertens, Württemberg (wie Anm. 11), v.a. 58 ff. 18 ) Die Literatur zum bewaffneten und unbewaffneten bäuerlichen Widerstand als Mittel der Politik ist weitläufig. Einen Zugang bietet Peter Bierbrauer, Kommentierte Auswahlbibliographie, in: Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg. 3. Aufl. München 1995, 352^407. Zum Mittel der Huldigungsverweigerung: André
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deutlicher, wenn man die Ladung dazu nicht als absolut zwingendes herrschaftliches Gebot ansieht 19 ) und die Dinge statt dessen im Licht des älteren und weitaus ritueller gehandhabten Verfahrens von Bitte und Gegenbitte betrachtet 20 ). Wenn der württembergische Landesherr von seinen Städten und Ämtern Rat und Hilfe erbat, dann waren diese zwar - wie jeder Gebetene - im Zugzwang, aber dennoch in einer vergleichsweise günstigen Position. Grundsätzlich dürfte der Adel - und zumal der regierende - es vorgezogen haben, wenn schon, dann seinesgleichen zu bitten. Die Landschaft um Rat und Hilfe anzugehen, war etwas anderes als eigenmächtig Schätzungen auf einzelne Güter, Leute oder Ortschaften zu legen, die der württembergischen Kammer zugehörten. So konnte und mußte nur gebeten werden, wer einen bestimmten Rechtsstatus besaß und von daher als Stand gelten konnte. Mehr als einmal wurde die württembergische Landschaft von ihrem Landesherrn anläßlich von Verhandlungen, in denen sie die Einführung neuer Ordnungen oder den Eintritt in die finanzielle oder politische Haftung für militärische Maßnahmen verweigerte, darauf hingewiesen, daß es ihr zur Ehre gereiche, überhaupt um Rat gefragt worden zu sein 21 ). So zutreffend dies war, so irrig war die Auffassung, die Herrschaft könne der Landschaft die besagte Ehre entziehen, weil ihr deren Rat mißfiel, und gleichwohl die erbetene oder schon erhaltene Hilfe in Anspruch nehmen. Wer so argumentierte, verleugnete die lehns- und ständerechtliche Relevanz des Begriffs Ehre22). Daß sich die württembergische Landschaft überhaupt in der exklusiven Lage sah, solche Standes-Ehre in Anspruch zu nehmen, erklärt sich zunächst daraus, daß die Grafen seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert eine - wenn man so sagen kann - Verbürgerlichung ihrer Herrschaft betrieben hatten, um sich von den adeligen und geistlichen Herren unabhängig zu machen, die ihren Hegemonialbestrebungen entgegenarbeiteten. Lehen, Vogteien und Prälaturen, Positionen bei Hof und im Rat sowie akademische Würden gingen hier früher und häufiger als andernorts an eine Reihe bürgerlich-bäuerlicher Familien. Zusammen bestimmten diese Titel und Nutzungen den Umfang, in dem Rat und Hilfe gefordert und gewährt werden konnte, das heißt, sie definierten den Stand der sogenannten Ehrbarkeit. Der Ehrbarkeit Württembergs gehörten nichtadlige Familien(-vorstände) an, die sich - ähnlich dem Patriziat der Reichsstädte - durch Privilegien auszeichneten, die sie zum Teil ihrem Besitz,
Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (8001800). Stuttgart/New York 1991. 19 ) So Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 14, 33 ff. Zur Landtagspflicht vgl. Kap. 1.3. 20 ) Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France. Ithaca/London 1992; außerdem Holenstein, Huldigung (wie Anm. 18), 153 ff. 21 ) Und zwar von Christoph wie von Ludwig: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 207, 245f. 22 ) Siehe Anm. 28.
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zum Teil ihrer Zugehörigkeit zu lokal oder personal definierten Korporationen verdankten 23 ). Hieraus erklärt sich, daß die beschriebene Umschichtung in der frühen Zeit politisch vor allem den alteingesessenen Geschlechtern der besser privilegierten Städte - also der, wenn man so will,,besseren' Ehrbarkeit 24 ) zugute kam, während später immer mehr die reichen Familien beziehungsweise die steuerkräftigeren Städte oder Ämter gefragt waren. Generell läßt sich jedoch eine allgemeine Aufwertung des bürgerlich-bäuerlichen Elements beobachten, von der auf lange Sicht alle der Landschaft zugehörigen Untertanen profitierten 25 ). Die zum Landtag geladenen Städte und Ämter konnten einzeln und gemeinsam das Recht in Anspruch nehmen, die Gewährung außerordentlicher Hilfe von offenkundiger und nicht mutwillig herbeigeführter Not abhängig zu machen. Umfang, Dauer und Form der Hilfe waren Gegenstand von Vereinbarungen, bei denen die Zumutbarkeit ebenso ins Gewicht fiel wie die Bereitschaft der Herrschaft, angemessene Gegenleistungen zu erbringen 26 ). Als grundlegend galt, daß die Beschwerden der Städte und Ämter angehört und ihre Abstellung zumindest zugesagt wurde. Abreden, deren Zweck es war, die Einlösung solcher Zusagen sicherzustellen, gingen schon einen Schritt weiter 27 ). Daß die Verhandlungsposition der Städte und Ämter um so günstiger war, je geschlossener dieselben auftraten, braucht nicht betont zu werden. Der Erwähnung wert scheint hingegen die Tatsache, daß sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts württembergische Niedergerichte und Dorfgemeinden in immer grö-
23
) Siehe Hansmartin Decker-Hauff, Die Entstehung der altwürttembergischen Ehrbarkeit 1250-1534. Erlangen 1946; eine umfassendere verfassungsrechtliche Untersuchung und Zuordnung bleibt zu leisten. Insbesondere sollte berücksichtigt werden, daß die vom Reich zu Lehen gehenden oder von anderer Hand erworbenen Städte und Herrschaften ihre Privilegien nicht von Württemberg herleiteten: Friedrich Wintterlin, Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg. Teil 1. Stuttgart 1902, 1, Anm. 1; unmittelbar dazu Mertens, Württemberg (wie Anm. 11), 39. 24 ) Wie beim Adel und den Prälaten, so war auch hier der Stand (honor) der Ehrbarkeit zum guten Teil über das Haus (Gebäude und Geschlecht) und den Ort (Bezirk mit Bannrecht, Territorium) definiert: je privilegierter die Stadt, das Dorf oder das Tal, desto besser die ansässige Ehrbarkeit. Vgl. Anm. 28. 25 ) Besonders betont bei Francis L. Carsten, Princes and Parliaments in Germany from the Fifteenth to the Eighteenth Century. Oxford 1959, v.a. 2, 4f.; siehe ferner Mertens, Württemberg (wie Anm. 11), 37ff., 45, 69, 87ff.; Grube, Landtag (wie Anm. 14), 19ff.; Klaus Graf, Geschichtsschreibung und Landesdiskurs im Umkreis Graf Eberhards im Bart von Württemberg (1459-1496), in: BlldtLG 129 (1993), 165-193, v.a. 181 ff., 189f.; siehe dazu Kap. 3. 26 ) Siehe die Formulierung in der Landtagsverordnung: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 23, 56; vgl. den Landtagsabschied von 1583: ebd. II, Nr. 41, 175; siehe aber auch Ulrichs Teillandtage: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 94, 176, 188. 27 ) Schon der Tübinger Entscheid vom 8. Nov. 1478 regelte die Bestellung eines „regiments" und die Verpfändung der Überschüsse aus den herrschaftlichen Wein- und Korngülten an die Landschaft zur Tilgung der Geldhilfen, die sie Graf Ulrich gewährte hatte: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 34.
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ßerer Zahl in ehedem herrschaftliche Kirchenrechte (honor) eingestiftet hatten, indem sie die Kosten für die Errichtung, Erweiterung, Renovierung, Ausstattung und Erhaltung (onus) alter und neuer Kirchen übernahmen 28 ). Erwähnenswert nicht allein, weil sich die Dorfgemeinden von daher als stärker und selbständiger erweisen als allgemein angenommen, sondern auch, weil ein Vergleich der kirchlichen und der weltlichen Entwicklung strukturelle Ähnlichkeiten zutage fördert, die vielleicht auch den Zeitgenossen zu denken gaben. Seit der Niederlage Graf Ulrichs gegen die Pfalz 1462 hatten sich die württembergischen Städte und Ämter fortdauernd genötigt gesehen, eigene finanzielle Mittel (onus) für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Titel und Privilegien (honor) des Hauses Württemberg beizubringen. Im Gegenzug mußte ihnen immer wieder Einfluß auf die Handhabung herrschaftlicher Ressourcen, man könnte auch sagen auf das Land und - in engem Zusammenhang damit auch auf das politische Regiment der zugehörigen Leute zugestanden werden. Wäre das kanonische (Stiftungs-)Recht (ius patronatus) zur Anwendung gekommen, das die Zuweisung von Rechten im Bereich von regimen et iurisdictio im Zuge der Errichtung von Pfarrkirchen beziehungsweise der Nachdotierung ihrer Fonds regelte 29 ), dann hätten die der württembergischen Landschaft zugestandenen Kompetenzen nicht allein als wohlerworben erachtet werden können 30 ), sondern auch als hinlängliche Legitimation, um diejenigen, die ihr Hab und Gut zu Land und Herrschaft gesetzt hatten, als Anwälte, Pfleger oder Vögte des Landes neben die Herrschaft treten zu lassen 31 )Dafür, daß die Landschaft die Dinge so sah, spricht die Art, in der die Städte und Ämter die ihnen mit der Ladung zum Landtag und der Bitte um konkrete 28
) Die enge Verbindung zwischen dem Recht zu raten und der Pflicht zu helfen kommt klar im - an das Lehnsrecht angelehnte - kirchlichen Patronatsrecht zu Ausdruck, das dem Stifter „honor, onus et utilitas" zuweist: Peter Landau, Ius patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln/ Wien 1975, 128 ff.; Rosi Fuhrmann, Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation. Stuttgart/Jena/New York 1995, v.a. 9 4 ff., 141 ff. 29 ) Siehe Anm. 28. 30 ) S o vertrat die Landschaft auf dem Landtag 1523 die Auffassung, wer Landsteuer zahle, habe sein Leib und Gut billig gefreit und ledig gemacht. Sein Erbe sei daher schon frei und müsse von Kindern und Verwandten ohne Abzug abgezogen werden können: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStASt) L6, 573. - Zu wohlerworbenen Rechten vgl. den Beitrag von Sibylle Hunziker, Die ländliche Gemeinde in der juristischen Literatur, in diesem Band. 31 ) Daß Württemberg militärisch anstatt mit adligem Aufgebot oder stehendem Heer vor allem mit Bürgermilizen operierte, kommt hinzu: Peter H. Wilson, War, State and Society in Württemberg, 1677-1793. Cambridge 1995; Bernd Wunder, Grundrechte und Freiheit in den württembergischen Verfassungskämpfen 1815-1819, in: Günther Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution 1848. Göttingen 1981, 4 3 5 - 4 5 9 , 4 4 0 f.
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Hilfeleistung gebotene Gelegenheit wahrnahmen, ihrem Landesherrn zu raten. Oft genug wurden Ratschläge erteilt, die nicht erbeten waren, oder Vorhaltungen oder Vorstellungen in die Verhandlungen eingeflochten, die man der Herrschaft unter anderen Umständen nicht ohne weiteres nahebringen konnte 32 ). Im äußersten Fall konnten Landtage, wenn nicht formal, so doch de facto, zum Forum offener Anklagen der ganzen Landschaft gegen den Landesherrn werden. Dabei ging es nicht mehr allein um die Verweigerung oder Verkürzung von Rat und Hilfe, sondern um die Aufkündigung des Konsenses zur landesherrlichen Politik 33 ). Der württembergische Landtag von 1498 glich einem Tribunal. Dem außer Landes gegangenen Herzog wurden Vertragsbruch und schlechte Regierung vorgeworfen. An seine Stelle trat ein ständisches Regiment, einige seiner Räte wurden zum Tode verurteilt 34 ). Auch der Tübinger Landtag von 1514 begann mit einer Anklage gegen den Herzog und drei seiner Räte auf der Grundlage der vom Stuttgarter Städtetag zusammengestellten Beschwerden. Der berühmte Tübinger Vertrag wurde von fürstlichen und kaiserlichen Räten im Namen von Kaiser und Reich im Rahmen einer Tagsatzung ausgefertigt, die zum Zwecke des „gütlichen Austrags" zwischen Herzog Ulrich und der Landschaft stattfand 35 ). Er war also, worauf schon Grube hingewiesen hat, kein Landtagsabschied im eigentlichen Sinne, sondern eine „Vergleichsurkunde", für deren Ausfertigung und Einhaltung nicht Herzog Ulrich, sondern der Kaiser als Lehensherr des Herzogtums Württemberg und die Reichsfürsten als ständische Schiedsinstanz verantwortlich zeichneten 36 ). Diese Beschränkung der herzoglichen Gewalt unterstreicht der sogenannte Nebenabschied, demzufolge beide Parteien durch kaiserliche und fürstliche Räte wegen „Spenn vnd gebrechen" und „etlicher anderer artikel mer [...] verainigt vnd verglichen" wurden 37 ). Auf die Begriffe vergleichen und Vergleichung wird im folgenden noch näher einzugehen sein. Wesentlich ist zunächst, daß der Vergleich von 1514 der
32
) Beispiele solcher Konfrontationen: Grube, Landtag (wie Anm. 14) 12, 28, 58 ff., 74 ff., 257 ff. 33 ) Statt auf einem Landtag ging man mit Herzog Ulrich 1515 auf einer Rats Versammlung zu Urach in Anwesenheit von adligen und bürgerlichen Räten ins Gericht: ebd., 90f. 34 ) Näheres bei Grube, Landtag (wie Anm. 14), 58 ff.; 1. und 2. Regimentsordnung bei Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 14, v.a. 19; Nr. 16, 21 ff. 35 ) Ebd. II, Nr. 18,40. Der Vertrag galt grundsätzlich auch für die schirmverwandten Prälaturen, viele Regelungen betreffen aber bloß die „Landschaft". Zum Landtagsverlauf: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 82 ff.; vgl. auch Anm. 2 und 15. 36 ) Den Vertragscharakter bestreitet m. E. zu Unrecht Franz Quarthai, Landstände und Fürstenverträge süddeutscher Territorien im Spätmittelalter, in: Walter Ziegler (Hrsg.), Der Bayerische Landtag vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Probleme und Desiderate historischer Forschung. München 1995, 35-57, 39; Bestätigung des „Vertrags" durch Ulrich: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 20; kaiserliche Bestätigung: ebd. II, in Nr. 23. Siehe dazu Kap. 1.2., Anm. 100. 37 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 19, 46.
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Landschaft insgesamt das Recht zusprach, jedem Landesherrn, der die Bestätigung der jetzt getroffenen Vereinbarungen verweigerte, die Huldigung und damit Treue und Gehorsam zu verweigern 38 ). Dies galt nicht allein der städtischen oder gar nur der ,besseren' Ehrbarkeit, sondern allen Städten und Ämtern und mit diesen allen Amtsorten und Untertanen, die auf der Grundlage des Vergleichs im Spätjahr 1514 Herzog Ulrich (und in der Folge jedem neuen Landesherrn) huldigten 39 ). Was der Ehrbarkeit überlassen blieb, war die Vertretung der gemeinen Landschaft als Korporation; das heißt, sie sollte - im Grunde so, wie es das kirchliche Recht für den Patron oder Vogt (advocatus) einer Kirche mit Pfarrei vorsah - berechtigt sein, im Namen der gemeinen Landschaft vermittelnd einzugreifen. Mit anderen Worten, es fiel ihr eine lnterzessionsgewalt zu. Dabei ist nun allerdings zweierlei zu beachten: Erstens lastete auf diesem Recht (honor) grundsätzlich die Pflicht (onus), die Freiheiten, die allen zugehörigen Korporationen und Personen garantierten worden waren, gegenüber dem Landesherrn zu verteidigen und ihren Schutz wenn nötig auch bei Kaiser und Reich einzuklagen 40 ). Zweitens war diese Interzessionsgewalt und das ihr zugrunde liegende, 1514 verbriefte gesamtkörperschaftliche Klage- und Beschwerderecht zu unterscheiden von den durch ältere Verträge, Privilegien oder Gewohnheiten begründeten Klage- und Beschwerderechten einzelner unter oder hinter Württemberg sitzender Herrschaften, Korporationen oder Personen. Zu kurz gegriffen wäre es daher, die 1515 auf Betreiben der .besseren' Ehrbarkeit erlassene Landtagsverordnung, die das Recht auf Beschwerde mit der Abhaltung von Landtagen verknüpfte 41 ), so auszulegen, als hätten Städte, Ämter, Dörfer, Korporationen, Hintersassen und Gerichtsverwandte von da an ihr - durch Herkommen je unterschiedlich begründetes - Recht, sich gegen Übergriffe der Herrschaft auf ihre Rechte und Freiheiten zu wehren, nur noch auf Landtagen oder nur auf Antrag der gemeinen Landschaft oder gar der Städte Tübingen und Stuttgart wahrnehmen können 42 ). Die für die Ehrbarkeit günstige politische Entwicklung im Sommer 1514 war durch einen Aufstand in den Ämtern geschaffen worden, eine Tatsache, die der Tübinger Vertrag ausdrücklich würdigte. Daß derselbe darauf
38
) Ebd. II, Nr. 19, 44: Neue Landesherren mußten vor der Huldigung der Landschaft auf die Vereinbarungen des Vertrags Brief und Siegel geben, andernfalls man nicht schuldig sein sollte, sie „ynzulassen oder Inen gehorsam zulaisten". Siehe dazu Anm. 188. 39 ) Auf die Folgen der Vertragshaftung verweist: Stievermann, Landesherrschaft (wie Anm. 15), 248. Vgl. Kap. 2.1. 40 ) Vgl. Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht. 16,1. Bd.: Von der Landeshoheit im Weltlichen. Frankfurt/Leipzig 1772, 313 f., außerdem Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 450. 41 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 87ff., 175ff.; Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 23, 56. 42 ) Nur diese konnten der Landtagsverordnung zufolge die Einberufung erbitten: ebd. Siehe auch Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 448 f., 457 f.
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zielte, künftige Konflikte rechtlich zu lösen, lag in der Natur der Sache. Indem er den Aufstand einzelner Ämter und Gemeinden als legitimes Mittel des Widerstandes gegen die Herrschaft ausschloß, schwächte er zwar implizit auch deren hergebrachtes Recht zur Schließung partikularer Verträge oder Vergleichungen zugunsten der Interzessionsgewalt der (Vertreter der) gemeinen Landschaft, aufgehoben war dieses Recht damit jedoch keineswegs. Patronale Interzessionsgewalt, das sei ausdrücklich betont, läßt sich nicht gleichsetzen mit dem Repräsentationsauftrag moderner Demokratien mit geordneten Rechtszügen im Bereich von Verfassung und Verwaltung. Vielmehr war sie in derselben Weise wie die hoheitliche Gewalt, auf die sie sich bezog und berief, über Stand und Ehre definiert, weswegen es auch zu ihrer Ausübung eines gewissen Standes bedurfte. Die Angehörigen der württembergischen Ehrbarkeit besaßen persönlich Stand und Ehre, die württembergischen Städte und Ämter besaßen als Korporationen Landstandschaft und Freiheiten, an denen jeder Eingesessene seinem Stand gemäß teilhatte, aber erst beide zusammen bildeten die Landschaft. Diese mußte, wie jede Korporation, um nach außen handlungsfähig zu sein, eine gewisse Zwangsgewalt nach innen ausüben können, weil sich anders die Verbindlichkeit ihrer Vereinbarungen entweder nicht garantieren ließ oder ihre Repräsentanten Gefahr liefen, in eine unzumutbare persönliche Haftung zu geraten. Von daher versteht es sich von selbst, daß die der gemeinen Landschaft 1514 zugestandene Interzessionsgewalt nicht allein gegen Übergriffe des Landesherrn gerichtet werden konnte, sondern gegen jeden, der die Freiheiten, die Einheit oder den Fortbestand der Landschaft zu gefährden schien, mithin auch gegen deren eigene Mitglieder 43 ). Andererseits ist zu betonen, daß das patronale Element der Interzessionsgewalt im Fall von Korporationen, soweit die eigenen Mitglieder betroffen waren, unter gewöhnlichen Umständen nicht voll zum Zuge kommen konnte 44 ). 1514 hatte die württembergische Landschaft als Gesamtkorporation gewissermaßen ihre Firmung erhalten. Die Frage, wie weit die Interessen der Städte, Ämter, Gerichte und Gemeinden im Einzelfall hinter den ihren zurückzustehen hatten, kann zu diesem Zeitpunkt kaum ein für allemal entschieden gewesen sein, noch war die Auseinandersetzung darum beendet, wem auf dem Landtag das Klage- und Beschwerderecht, das heißt, die Definitionsgewalt darüber zustehe, was der Landschaft oder ,dem Land' nützlich oder schädlich 43
) Beispielhaft für die Entwicklung ist die Bestimmung über die Schuldverschreibungen des Landtagsabschieds von 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 117 f. Diejenigen, die die Herrschaft ohne Wissen und Willen der gemeinen Landschaft von einzelnen Städten, Ämtern, Gemeinden oder Prälaten erlangten, galten künftig für hinfällig. Die Landschaft konnte damit den Landesherrn wie ihre Mitglieder binden. 44 ) Vgl. Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 219 ff. Der Machtgewinn, den die b e s sere' Ehrbarkeit im Sommer 1514 errang, war nicht von Dauer. Zu diesen Vorgängen und zur späteren Entwicklung siehe Grube, Landtag (wie Anm. 14), 87ff., 175 ff.
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sei. Auf dem Tübinger Landtag waren Zielsetzungen formuliert, nicht aber politische Realitäten festgeschrieben worden. Das erwies sich schon 1525, und auch danach verebbte der Beschwerdefluß aus den einzelnen Ämtern, Gerichten (Unterämtern) und Gemeinden nicht 45 ). Zu wenig gesehen wird, daß sich diese Gemeinwesen im Besitz eines Potentials befanden, auf das sich die gemeine Landschaft berufen mußte, um ihre Interzessionsgewalt zu einem politischen Instrument auszubauen. Der Beschwerdedruck ihrer Klientel war der Hebel, den sie benötigte, um ihre eigene Stellung zu festigen, die nicht zuletzt davon abhing, ob es ihr gelang, herrschaftliche Übergriffe auf die Privilegien und Rechte ihrer Mitglieder präventiv, das heißt, durch eine Kontrolle legislativer, judikativer und exekutiver Verfahren und Maßnahmen abzuwenden. Wie im Fall von Korporationen üblich 46 ), so gelangte auch hier die Handhabung dieses Hebels an Ausschüsse. Zu Recht hat die Ständeforschung darauf hingewiesen, daß die Bildung von Ausschüssen dazu führen konnte, daß die Landschaft auf eine Hand voll Personen reduziert, das heißt, als Korporation so verselbständigt wurde, daß von einer wirklichen Repräsentation aller Stände oder gar der gesamten Untertanenschaft kaum mehr die Rede sein konnte 47 ). Das eigentliche Problem liegt aber eindeutig in der Rechtspraxis, nicht in der Repräsentationsform als solcher 48 ). Für die württembergischen Landschaftsausschüsse wird man jener Einschätzung denn auch nur bedingt folgen können 49 ). Grundsätzlich sind zwei Entwicklungsperioden zu unterscheiden. Die erste 45
) Die im Armen Konrad eingebrachten Beschwerden von Ämtern und Gemeinden wurden einzeln verglichen. Teilweise abgedruckt bei: Günther Franz (Hrsg.): Der deutsche Bauernkrieg. Aktenband. 2. Aufl. Darmstadt 1968, Nr. 15, 77 ff.; zu den Gravamina von 1525: Claudia Ulbrich, Oberschwaben und Württemberg, in: Buszello/Blickle/Endres (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg (wie Anm. 18), 97-133. 46 ) Die 1558 geänderte Hafnerordnung erlaubte den einzelnen Stadtzünften, jeweils einen Ausschuß zum jährlichen Gerichtstag des Handwerks zu schicken, damit nicht mehr alle Hafner persönlich anreisen mußten: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 65, 307; siehe auch die Kupferschmiedeordnung von 1554: ebd., Nr. 55, 278. 47 ) Siehe dazu Ulrich Lange, Landtag und Ausschuß. Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen im Zeitalter der Entstehung des frühmodernen Staates. Die weifischen Territorien als Beispiel (1500-1629). Hildesheim 1986. 48 ) Auf jeder politischen Repräsentationsebene kamen Ausschüsse vor. In der Markgrafschaft Baden berief man nicht Landtage ein, sondern die „Ausschüsse" der Städte und Ämter: Johannes Gut, Die Landschaft auf den Landtagen der markgräflich badischen Gebiete. Berlin 1970, 67, 110ff„ 126ff.; das Städtchen Hoheneck wählte für den Landtag 1552 den Bürgermeister und einen Richter zu seinem „Ausschuß": HStAST A34 Bül4, Nr. 2; 1628 unterzeichnete „des gemein Stuttgarter ampts gemachter Ausschuß der Schultheißen" die Amtsgravamina: ebd., Bü37, Nr. 3; 1653 beschlossen die Schultheißen von Tenzlingen, Grötzingen, Wolfschlugen, Unterensingen und Tailfingen „als im Ausschuß" zusammen mit dem Gericht Nürtingen den Gewalt für den angesetzten großen Ausschußtag: Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 50f. Dazu Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 317ff. 49 ) Vgl. Grube, Landtag (wie Anm. 14), 123ff., 198ff„ 213ff.; Carsten, Princes (wie Anm. 25), 13ff., 24ff.; Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 190f.; aber auch Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 436, 448f., 450; außerdem unten Kap. 2.1.
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fällt in die Zeit der österreichischen Regierung (1520-1534) und besitzt eine besondere Problematik, weil die Habsburger - im Bestreben, die Regulierung des Schuldenwesens des Hauses Württemberg aus den Ressourcen des Landes zu finanzieren - der Landschaft die Verwaltung des gesamten Kammergutes übertrugen. Zuständig wurden zwei Ausschüsse, in denen die alteingesessene .bessere' Ehrbarkeit bestimmend war, die auch den Landtag von 1514 beherrscht hatte 50 ). Indem diese Ausschüsse anstelle des Landesherrn und der Landschreiberei für alle nicht auf spezifisch landesherrliche Hoheitsrechte zielende Klagen und Beschwerden aus den Ämtern und Gemeinden zuständig wurden, hörten sie auf, als Interzessionsgewalt zugunsten der beschwerdeführenden Personen und Korportionen funktionsfähig oder auch nur glaubwürdig zu sein51)- Klagen blieben denn auch nicht aus 52 ). Anders sahen die Dinge aus, als das Ausschußwesen nach der Regierungsübernahme Herzog Christophs (Ende 1550-1568) wieder aufgegriffen wurde. Ab 1551 waren jeweils vom Landtag eingesetzte Ausschüsse beratend und vorbereitend tätig. Im Landtagsabschied von 1554 wurden sie zur ständigen Einrichtung erklärt. Der kleine Ausschuß erlangte das Recht, auch außerhalb von Landtagen beratend zusammenzutreten, und konnte, sofern „sachen vorhanden weren, oder fürfielen, so zu vnser, oder vnserer gemainer Lanndtschafft Eern, nutzen vnd wolfart, dienstlich vnnd fürstendig weren", jeder Zeit beim Landesherrn vorstellig werden 53 ). Genaugenommen war damit die Landtagsverordnung von 1515, soweit sie implizierte, daß Beschwerden von Seiten der gemeinen Landschaft nur anläßlich von Landtagen vorgetragen werden könnten, aufgehoben. Darüber hinaus konnte auf dieser Bestimmung ein Petitionsrecht begründet werden, das heißt, ein Initiativrecht, das sich nicht auf die bloße Interzession zum Zwecke der Zurückweisung schon erfolgter oder unmittelbar drohender Übergriffe beschränkte, sondern in den Bereich der Gesetzesinitiative hineinreichte 54 ). 50
) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 119ff., 129f. - In diesen Ausschüssen saßen keine Prälaten. Mit anderen Worten, sie waren in die der Sanierung des Landes dienende Kammerund Schuldenverwaltung nicht einbezogen worden, was sich wiederum daraus erklären läßt, daß sie auf dem Landtag 1521 lediglich eine kleine Hilfssteuer aus ihren eigenen Einkünften bewilligten, nicht aber die steuerliche Belastung der (Vermögen der Einwohner der) Klosterämter. 51 ) Ebd., 119 ff. 1521 wies die österreichische Regierung eine Supplikation der Gemeinden Fellbach und Untertürkheim an die Landschaft mit der Begründung zurück, diese verwalte das Kammergut: HStAST A335w Bül. «) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 122ff., 130f., 134, 137ff. 53 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 117. 54 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 213 f.; zur historischen Entwicklung des politischen Petitionsrechts: Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat, abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre. Hamburg 1965,41 ff., 46ff.; Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte moderner Verfassungen in rechtsvergleichender Darstellung. Berlin 1908, 7 ff., v.a. 14 ff., 28, 30, 32.
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Man konnte und kann der Auffassung sein, daß dieses Recht als Privileg des kleinen Ausschusses zu verstehen sei. Dafür spricht, daß dieser nur einmal, nämlich 1554, vom Landtagsplenum gewählt wurde, sich danach aber selbst ergänzte und zudem Stuttgart und Tübingen zu seinen ständigen Mitgliedern zählte. Dagegen spricht, daß für Angelegenheiten, die dies erforderten, die Einberufung des großen Ausschusses, andernfalls aber der „gemainen Lanndtschafft", also des Landtags, vorgesehen war. Tatsächlich verweigerten beide Ausschüsse vielfach Entscheidungen, für die sie sich nicht ermächtigt sahen 55 ), konnten sich aber mit ihren Forderungen nach Einberufung des Landtags beim Landesherm oft über lange Zeiträume hinweg nicht durchsetzen 56 ). Trotz dieser Widerstände entwickelten sich die Ausschüsse nach 1554 zu einer ordentlichen politischen Vertretung des Landes. Entscheidend dafür dürfte nicht zuletzt gewesen sein, daß die Landschaft ihre Gestalt mittlerweile verändert hatte. Schon mit den Landtagsabschieden der Jahre 1551 und 1552 waren auf gemeinsamen Antrag aller Stände die Prälaturen zur „gemainen Lanndtschafft" gezogen worden, so daß erstmals auch die Klösterämter zusammen mit den landesherrlichen Ämtern ein Korpus bildeten 57 ). Ohne jedes weitere Wort war damit die Möglichkeit eröffnet worden, die Regelungen, die seit 1514 für die eigentliche', das heißt, nur die württembergischen (weltlichen) Ämter umfassende, Landschaft getroffenen worden waren, auf die Herrschaftsgebiete und Untertanen der dem Haus Württemberg schirmverwandten Klöster auszudehnen. Unter anderem hieß dies, daß die Beschwerden der Klosterämter fortan unter das Interzessionsrecht einer Korporation fielen, auf deren Versammlungen die Stimme der Prälaten, die ehedem für ihre Herrschaftsgebiete bis dahin unmittelbar und persönlich zuständig gewesen waren, nur noch eine Stimme neben anderen war. Ihre patronale Interzessionsgewalt war also, um die vorstehende These fortzuführen, einer korporativen gewichen 58 ). Für die Herrschaft sollte diese neue Landschaft dadurch annehmbar und handhabbar bleiben, daß die qualitativ wie quantitativ erweiterten Kompetenzen der Landschaft nominell dem kleinen Ausschuß zugewiesen wurden, in dem die Prälaten zwei von acht Sitzen hielten. Im selben Zuge war unterstellt, daß das Petitionsrecht - anders als die älteren Beschwerderechte der Städte, Ämter und Gemeinden - nicht als Privileg gelte, das von den zur gemeinen Landschaft gehörenden Personen und Korporationen auch einzeln oder unmittelbar in Anspruch genommen werden konnte 59 ). 55
) Siehe Kap. 2.1., Anm. 186. ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 216ff.; Carsten, Princes (wie Anm. 25), 36f.; Kap. 2.1. ) 1551, noch expliziter 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 33, 92; Nr. 36, 117; auf die Bedeutung der fehlenden Konkurrenz der Stände in Württemberg weist u.a. Carsten, Princes (wie Anm. 25), 25, hin. Zu den Prälaturen siehe oben Anm. 15 und Kap. 1.3. 58 ) Vgl. Kap. 2.1. 59 ) Dazu Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 190f.; zum Begriff „Vermittlungsrepräsen56
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Die Gefahr, welche in dieser Regelung lag, scheint der Landschaft erst aufgrund schlechter Erfahrungen klar geworden zu sein, die sie nach 1554 mit der landesherrlichen Ausschußpolitik machte. Als 1565 erstmals wieder ein Landtag einberufen wurde, bemühte sie sich mit Nachdruck und nicht ohne Erfolg darum, ihr politisches Mandat zu verbreitern und ihr 1554 errungenes Petitionsrecht ausdrücklich auf dem Beschwerderecht aller zum Land gehörenden Ämter abzustützen: „Vnnd was bei vns JederZeit der groß oder klein ausschutz vnserer Landtschafft, dieser und anderer der Landtschafft obligen vnd sachen halben anbringen würt", so lautete die entsprechende Zusage des Herzogs im Landtagsabschied, „darinnen wellen wier sie JederZeit, wie auch bisher beschehen, gnediglich hören, abwendung vnd einsehens, der gebür, vnd Billicheit nach thun, damit vnser Landtschafft Ämbter, fleckhen, vnnd vnderthonen, vor vnbillichen beschwerungen verhuet, vnd gnedig geschützt vnnd geschirmpt werden" 60 ). Demnach wurde, was in der Forschung, so weit ich sehe, nicht hinreichend gewürdigt wird, nicht allein der große Ausschuß in das Petitionsrecht einbezogen, sondern auch ausdrücklich betont, daß dasselbe seine eigentliche Ursache im Recht von Land und Leuten habe 61 ). Die Mediatisierung der politischen Willensbildung durch die Ehrbarkeit, die in den Ausschüssen fraglos eine führende Rolle spielte, war damit zumindest erschwert. Vom modernen Verfassungsrecht aus betrachtet, für welches das Petitionsrecht die freie, also gerade nicht auf Klage beruhende Gesetzesinitiative garantiert 62 ), mag diese ausdrückliche Rückbindung der politischen Kompetenzen der Ausschüsse an das Beschwerderecht der „Ämbter, fleckhen, vnnd vnderthonen", das sich vor allem gegen konkrete Rechtsverletzungen der Herrschaft richtete, als ein Schritt in die falsche Richtung zu werten sein. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Rückbindung rückt aber ins Licht, wenn man die Entwicklung der zeitgenössischen Repräsentationslehre berücksichtigt, die tendenziell dahin ging, die Repräsentanten (Personen wie Ausschüsse) von Korporationen nicht als Organe derselben zu betrachten, sondern als Inhaber eines eigenständigen Amtes oder eines Titels, dessen Erwerb eigenem Recht beziehungsweise dem Auftrag oder Privileg einer höheren Obrigkeit oder Gewalt verdankt wurde (Vermittlungsrepräsentation) 63 ). Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß Herzog Christoph die Mitglieder des kleinen Ausschusses gerne als „vertraute geheyme ret" sehen wollte und enttäuscht, ja empört war, als er feststellte, daß diese doch mehr die Freiheiten tation": Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 286ff., v.a. Abschn.VIII; außerdem unten Kap. 2.1. 60 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 132. 61 ) Ähnlich, aber erst für die spätere Zeit: Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 452 f. 62 ) Vgl. ebd., 442ff.; außerdem Sengelmann, Zugang (wie Anm. 54), 49. 63 ) Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 301 ff., 316ff., 328ff.
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der Landschaft als die Interessen des Herzogs zu vertreten gedachten; oder daß er der Landschaft energisch den Versuch verwies, sich anläßlich von Konflikten um neue Ordnungen als Vermittlerin aus eigenem Recht zwischen ihn und die Ämter zu stellen 64 ). Als unverzichtbar für das politische Überleben der Landschaft erwies sich der Rückgriff auf das hergebrachte Recht der Ämter, Gerichte und Gemeinden im Verlauf der Konflikte mit Herzog Friedrich (1593-1608), der nichts unversucht ließ, die Landesfreiheiten zu verkürzen. Die Probleme begannen schon 1594 und kulminierten, als der Herzog 1605 versuchte, die Entgegennahme von Landtagsgravamina zu verweigern. In Erwartung kommender Konflikte, wies der Landschaftsadvokat die Abgeordneten an, daheim dafür zu sorgen, daß künftig die Vollmachten für Landtage so ausgestellt würden, daß die Erledigung der Gravamina als Bedingung für die Rechtskraft der zu treffenden Vereinbarungen zum Ausdruck komme 65 ). Nach Friedrichs Tod sieht man die Landschaft zielstrebig darum bemüht, ihre wiederhergestellten Rechte weiterreichend abzusichern. Die Verhandlungen auf dem Landtag von 1608 deuten darauf hin, daß man erkannt hatte, daß sich der repräsentative Auftrag der Landschaft und ihrer Ausschüsse - jedenfalls solange er auf ein Interzessionsrecht zurückging - nur behaupten ließ, wenn das Recht der Gemeinden und Korporationen, ihre partikularen Beschwerden vor den Landtag zu bringen, gewährleistet werden konnte. In den Abschied wurde die Resolution einer ganzen Reihe von Landesgravamina aufgenommen, die sich explizit auf Beschwerden aus Städten und Ämtern stützten 66 ). Der letzte Punkt des Abschieds schließlich nahm Bezug darauf, daß auf diesem wie auf dem letzten Landtag „von Unserer Clöster Underthonen, auch Stätten, vnnd Aemptern, vil sonderbahre vnd special-Grauamina [...] vbergeben vnnd verlößen worden" seien, die allein deswegen noch der Erledigung harrten, weil ihre Zahl so groß und ihre Natur derart sei, daß eine Entscheidung ohne vorherigen genaueren
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) Zu den Vorgängen: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 216, 217. ) Ebd., 264; Grund genug zu Ämterversammlungen, sollte man meinen. Dennoch führt Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 450, die seit circa 1629 quellenmäßig belegbare Institutionalisierung solcher Versammlungen (mit Benzing und Grube) auf die Initiative des Herzog zurück. 66 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 52, 300 ff. Unter anderem versprach der Herzog, er wolle künftig jeden Ort „bey dem alten herkhommen, Legerbuechem, vnnd Briefflichen habenden Cräfftigen Priuilegien" und die Amtleute hierin „nichts souchen oder begeren laßen" (304); wegen der Gravamina über den Zoll, die Fron und das „Verhauptrechten" wollte er sich „mit der Landtschafft kleinem Ußschutz (welchen sie, die Verordnete von der Landtschafft bey dißem wehrenden Landtag, hierzu gnugsamb legitimiert) also vergleichen", daß künftig nicht mehr „wider habende Priuilegia, Legerbüecher, vnnd Altes Herkhommen, vnnd selbs gethon versprechen, vnnd Zusagen" verstoßen werde (302f.); die Weberordnung, gegen die zahlreiche Beschwerden eingegangen waren, wurde kassiert und „einer ganzen Landtschafft, vnnd einem ieden Amptt Insonderheit anheimbisch" gestellt, die Dinge vorOrt den Gegebenheiten nach zu regeln (301). 65
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Bericht nicht getroffen werden könne. Um zumindest den dringenden Sachen umgehend gerecht zu werden, sollte noch vor Beendigung des Landtags eine Kommission aus Räten, Mitgliedern des Ausschusses und dem Landschaftsadvokaten gebildet werden, die „ein Statt, oder Ampt, nach dem Andern [...] Unnd Allwegen die Jenige ort, deren Grauamina zum beschwerlichsten, Unnd da periculum in mora Am Ersten fürbetagen solten", um die Sache gütlich beizulegen - also zu vergleichen 67 ). Dieser Erfolg war nicht von Dauer. 1618 weigerte sich die Regierung, die vom Ausschuß eingereichten Partikularbeschwerden (oder Spezialgravamina) auf dem Landtag zu verhandeln 68 ), scheiterte aber mit dem Versuch, dieselben definitiv von Landtagsverhandlungen auszuschließen. 1629 gelang es der Landschaft schließlich, erneut eine Formulierung in den Landtagsabschied zu bringen, welche die Rechtmäßigkeit des hergebrachten Verfahrens ausdrücklich präzedierte und sie letztendlich auch sichern konnte 69 ). Die Liste der vierundzwandzig „conditiones", an die sie ihre Geldbewilligungen geknüpft hatte, schloß mit den Worten: „Veber solches alles haben Wir die bey dieser gewehrten Landttaghandlung in großer anzahl von gehorsamer Landtschafft für sich vnd innahmen Stätt vndt Aembter eingebrachte General vnd Particular Ciagen vndt gravamina alle vndt jede in vnser gegenwart mit fleiß durchgehen, examiniren vnd erwegen laßen, auch Vnß darauff bey einem vnd anderm absonderlich in schrifften [...] in gnaden resolvirt" 70 ). Zusammenfassend wird man sagen können, daß die württembergische Landschaft in der reichspolitisch äußerst kritischen Periode zwischen dem Interim und dem Dreißigjährigen Krieg eine verhältnismäßig weitsichtige und, wie es scheint, auch rechtstheoretisch informierte Politik betrieb. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leisteten zweifellos die gelehrten Mitglieder des kleinen Ausschusses und der Landschaftsadvokat 71 ).
Ebd., 305. ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 282 ff.; Albert Eugen Adam (Bearb.), Württembergische Landtagsakten II, 1.-3. Bd. Stuttgart 1910-1919, 3. Bd., 567ff. Eine ganze Reihe von Beschwerden des Landtags von 1618 wurden über eine General Verordnung „resol viert", also nicht auf den Landtag mit der Landschaft „verglichen": Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 204. Siehe auch Kap. 1.1. und 2.3. 69 ) Zum Kontext des Landtags: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 296 ff. Siehe Kap. 1.2. 70 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 56, 338f.; außerdem wurden 1629 die geheimen Räte auf die Landschaft verpflichtet: ebd., 334. Zum Gewicht der Sprachregelungen: Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 303 ff. 71 ) Auf den Erfolg des württembergischen Mittelwegs zwischen Tradition und Rezeption verweist Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht (1460-1618). Stuttgart 1989, v.a. 146 ff. 68
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1.2. Rechtsetzung, Gesetzgebung und die Freiheiten der Landschaft Die oben erwähnte Formel von der Vergleichung72) - die für die rechtswirksame und rechtstiftende vertragliche Abklärung von Interessen steht und im Tübinger Vertrag dazu diente, Landschaft und Herrschaft Württemberg gleichermaßen an die von Kaiser und Reich garantierten Vereinbarungen zu binden - findet sich auch in den späteren württembergischen Landtagsabschieden wieder - und zwar nicht etwa allein in den Einleitungen, wo man dies für formelhaft halten könnte 73 ), sondern insbesondere auch an den Stellen, wo die Gravamina der Landschaft behandelt beziehungsweise konkrete Rechtsvereinbarungen getroffen oder besondere Ordnungen erlassen wurden 74 ). Welches Gewicht der sprachlichen Formulierung eines Landtagsabschieds zugeschrieben wurde, belegt der Ausgang des Herrenberger Landtags von 1552. Die Landschaft monierte, daß es im Text des Abschieds hieß, sie habe den ausnahmsweisen Unterhaltszuschuß für die Soldtruppen „undertenig und gehorsamlich bewilligt". Statt dessen sollte dort stehen, daß sie diesen „dismals uß kainer schuldigen gerechtsami, sonder uns zu underteniger erzaigung bewilligt" habe. Man konnte sich nicht einigen. Die schriftliche Niederlegung und offizielle Ausfertigung der Verhandlungsergebnisse scheiterte, und der Landtag endete ohne Abschied 75 ). Damit war der Vergleich zwar für beide 72
) Auf die verfassungsrechtliche Relevanz des Vergleichs (und die Äquivalenz des eindeutigen Herkommens) gerade für Württemberg hat schon der ehemalige Landschaftsadvokat Moser hingewiesen: ders., Landeshoheit (wie Anm. 40), 305 ff. Nach Gerhard Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozessrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 2,2. Bd. München, 1976, 11 ff., konnten die Stände ein votum decisivum nur in Bereichen geltend machen, wo ein Anspruch auf Vergleichung bestand. Trotz seines Verweises auf Moser (Landeshoheit [wie Anm. 40], 275, wo es ums Landrecht geht) rechnet er ausgerechnet Württemberg nicht zu den Territorien, für die dies zugetroffen haben soll. Statt dessen findet man dieses in der zweiten Kategorie, bei der die Beteiligung der Stände auf „Rat, Bewilligung, Zustimmung und Einverständnis" beschränkt war. - Die Vergleichungsformel findet sich auch in Abschieden und Ordnungen der Reichstage: Karl Härter, Entwicklung und Funktionen der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: Ius commune 20 (1993), 61-141, 88; zur Funktion verglichenen Rechts auch Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 458. 73 ) Immel, Typologie (wie Anm. 72), 11. 74 ) Einleitend heißt es 1551: „Das vf sollichs vnnd nach allerlay gepflegter vnderred vnd hanndlungen, wir vnns mit Inen Preisten ouch Lanndschaft gnedigklich, vnd sie sich mit vns vnderthenigklich verglichen, beschloßen, auch verabschidet haben" (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], II, Nr. 33, 91 f.) und 1565: „Das wir vns gnedig, vnd sie vnsre gehorsame Prelaten vnd Lanndtschafft mit vns vndertheniglichen volgender Puncten, vnd das denselben gegeneinander gnedig vnd vnderthenig in dem werck nachgesetzt, vnd gelebt solle werden, mit vnd crafft dis Abschidts, zu allen theilen, für vns, vnsere Erben, vnd nachkommen einhelliglich bewilligt, verglichen, versprochen vnd verabschidet,": ebd., Nr. 37, 122. Zu den einzelnen Vergleichungen s. unten; vgl. außerdem Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 292ff. 75 ) Zusammenhänge und Zitat: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 208. Siehe aber auch die
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Parteien bindend, die Herrschaft konnte ihn aber nicht als Präjudiz für weitergehende Ansprüche heranziehen. Im folgenden soll nun erörtert werden, was es mit diesen sowohl auf als auch außerhalb von Landtagen geschlossenen oder ausgefertigten Vergleichen auf sich hatte. Auf dem zweiten von Herzog Christoph im Jahr 1551 einberufenen Landtag klagte die Landschaft erfolgreich gegen die rigorose Wildererordnung, die ohne ihre Zustimmung von dessen Vater eingeführt worden war 76 ). Die neue, der Abstellung der „leichtfertigkait vnd vngehorsame" des Wilderns dienende „Ordnung vnd straff wurde mit dem „vnderthenigen, ainhelligen Ratt, gutem Wissen vnd Willen" der Prälaten und der Abgeordneten der Landschaft „verglichen vnnd verabschidet" 77 ). Schon Grube berichtet - wenn auch ohne verfassungsrechtliche Einlassungen - von diesem „Vergleich zwischen Herzog und Landtag" 78 ). Die Strafbestimmungen, die er enthielt, wurden auf dem Landtag 1554 aufgrund eines Antrags des Herzogs verschärft, den dieser mit den Klagen seiner Amtleute über vielfältige und schwere Übertretungen begründet hatte. Auch diese Änderung wurde durch Herrschaft und Landschaft gemeinsam „verabschidet vnnd beschlossen" 79 ). 1565 kam es erneut zu Änderungen, wieder rechtfertigte der Landtagsabschied das Abweichen vom bestehenden Recht. Die Regelungen, die 1554 „mit vnser Landtschafft [...] auf versuchen" verabschiedet worden seien, hätten sich in der Praxis nicht bewährt 80 ). Alle geänderten Punkte wurden „mit vnser Lanndtschaft verabschidet", wegen der übrigen blieb es bei der „anno 15 vier vnd fünfftzig gemachten Vergleichung" 81 )Was sich am Fall der württembergischen Wildererordnung gut belegen läßt, ist einerseits die Gefahr, die den hergebrachten kommunalen oder korporativen Bann- und Gerichtsrechten drohte, wenn die Herrschaft Gebots- und Strafgewalt zusammengespannte, um den Widerstand gegen ihre eigenen Übergriffe und Rechtsbeugungen als Ungehorsam oder Aufruhr zu brandmar-
Protestation der Gemeinde Metzingen wegen der Lagerbucherneuerung am Ende dieses Kapitels. 76 ) Vgl. die Forstordnung 1540: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nr. 4; zur Kriminalisierung des Wilderns vgl. die Reichsgesetzgebung und die darauf gestützten Verbote des Tragens von Schußwaffen - untermauert durch die Behauptung, es seien Attentate auf den Landesherrn geplant: ebd., XII, Nrr. 35 (1517), 45 (1534), 46 (1535), 50 (1543), 52 (1551), 53 (1551) ff.; ferner Grube, Landtag (wie Anm. 14), 204, und Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 440f. 77 ) Landtagsabschied April 1551: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 33, 96 f. 78 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 200. 79 ) Landtagsabschied 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 119. 80 ) Zur Haltung in der Frage notwendiger Rechtsbesserung siehe die Verhandlungen zum Erbrecht im folgenden. 81 ) Alle Zitate aus dem Abschied 1565: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 134, Hervorhebung von mir.
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ken 82 ). Andererseits offenbart die Entwicklung auch den Legitimationsdruck, unter dem die Herrschaft stand, wenn sie sich in diesem Tun durch neue Ordnungen absichern wollte. Gut zum Ausdruck kommt dies in dem am 10. August 1565 im Anschluß an den Landtagsabschied erlassenen Gesetz, betreffend die Bestrafung des Wilddiebstahls83). Der Landesherr ließ darin „sollichen Abschid, Vergleichung, vnd Satzung" in allen Ämtern verkünden, damit sich kein Untertan mit Unwissenheit entschuldigen könne. Die Gerichte sollten, „wo solliche vngehorsame Buben, vnd vbertretter, vor euch rechtlich fürgestelt werden [...] sollicher vergleichung, auch dieser Ordnung vnd Satzung, gemeß" erkennen und urteilen - eine Anweisung, die - wie aus den näheren Bestimmungen herauszulesen ist - nicht allein an die städtischen (Malefiz-) Gerichte, sondern auch an die Niedergerichte in den Ämtern gerichtet war. Der Befehl zur Publikation der neuen Ordnung nahm also ausdrücklich auf die Vergleichung Bezug, durch die sich auf dem Landtag alle Städte und Ämter selbst verwillkürt hatten. Und wenn dies gerade auch im Hinblick auf die Judikative geschah, dann doch wohl deswegen, weil nur über eine derartige Verwillkürung die allgemeine Verbindlichkeit der fraglichen „Ordnung vnd Satzung" begründet und die (Forderung nach ihrer praktischen) Durchsetzung legitimiert werden konnte. Indem der Herzog das Gesetz so legitimierte, bekannte er, daß sich weder aus einem an die eigenen Amtleute oder die eigenen Hintersassen gerichteten herrschaftlichen Gebot ein für die ganze Landschaft geltendes Recht machen ließ, noch die Gerichte in den Städten und Ämtern ohne weiteres auf bloß landesherrlich gebotene Ordungen verpflichtet werden konnten 84 ). Außerdem spricht die ausdrückliche Berufung auf den Landtagsbeschluß bei der Publikation dafür, daß die ländliche Gesellschaft, zumindest aber die in den Gerichten vertretene bäuerliche Ehrbarkeit, den Landtag als Repräsentationsorgan des Landes anerkannte, auch wenn sie keine selbstgewählten Vertreter entsandte 85 ). Als Symptom für die - offensichtlich beiden Seiten bewußte - verfassungsrechtliche Relevanz der Auseinandersetzung um Strafen wegen Bannbruchs im Bereich der Forsthoheit mag es anzusehen sein, daß die Vergleichung über die Wildererordnung wörtlich in den Landtagsabschied einging, während an-
82 ) Sehr deutlich in der Forstordnung von 1540: ebd., XVI, Nr. 7; aber auch in der Kastenordnung von 1536: ebd., XII, Nr. 22. Vgl. Anm. 76. 83 ) Ebd., IV, Nr. 64, Zitate 168; ob dies der Originaltitel ist, wäre zu prüfen. 84 ) Vgl. dazu Dietmar Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrens/Christoph Link (Hrsg.). Zum römischen Gesetzesbegriff. Göttingen 1987, 123-146, 123 ff., 135 ff., vor allem auch die Formulierungen im bayerischen Landgebot von 1442, zit. ebd. 137; außerdem Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 303, 308, 314. 85 ) Vgl. dazu Kap. 2.2.
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dere bloß erwähnt wurden 86 ). Für den Landtag 1565 war die Wildererfrage ein herausragender, aber keineswegs der einzige vergleichungswürdige Gegenstand. Verfassungsrechtlich relevant war auch die Vergleichung über die unabänderliche Beibehaltung der lutherischen Religion „sambt der darüber aufgerichten, vnd angestelten Kirchenordnung" 87 ). Außerdem wurden Vergleiche in einer Reihe anderer Belange entweder angekündigt oder in Aussicht gestellt, nämlich mit dem großen Ausschuß wegen der in Arbeit befindlichen Bauordnung 88 ), mit Landschaft und Prälaten wegen der Umlage der Ablösehilfe 89 ), mit Landschaft und Prälaten wegen der Aussetzung der Ablösehilfe im Fall anderer außerordentlicher Leistungen wie Kriegshilfe, Fräuleinsteuer und so weiter 90 ), und mit der Landschaft und anderen Herrschaften wegen der Abgabefreiheit auf Erbschaften, die außer Landes gingen 91 )- Der Antrag der Landschaft, Absprachen wegen der Vereinheitlichung von Maß und Gewicht zwischen Württemberg und den umliegenden Reichsstädten und adligen Herrschaften einzugehen, kam hingegen nicht durch 92 ). Zunächst ist zu bemerken, daß die verglichenen oder zu vergleichenden Belange nur zum Teil das Steuer- und Schuldenwesen, also den Bereich betrafen, in dem das Bewilligungsrecht der Landstände allgemein als unbestritten gilt. Mit der Bauordnung, die unter Mitwirkung des großen Ausschusses erarbeitet wurde und dessen Zustimmung benötigte, um Rechtskraft zu erlangen, war
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) Wie Anra. 76f.; während die Buße die Verletzung des Bannrechts (Nutzung) sühnte, galt die Strafe dem Vergehen gegen die Banngewalt (Obrigkeit). 87 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 125; die Große Kirchenordnung vom 4.11.1559 (ebd. VIII, Nr. 48), in der keine Mitwirkung der Stände erwähnt ist, wurde nicht geändert. Die 1567 neu ergangene Kastenordnung ist bei Reyscher, weil unauffindbar, nicht abdruckt: ebd., XII, Nr. 83, Anm. 135. Carsten, Princes (wie Anm. 25), 36, spricht - ohne Beleg - davon, daß die Ausschüsse von der Regierung vor der Publikation der Kirchenordnung von 1559 konsultiert worden seien. 88 ) Sobald alles erkundigt, bedacht und beratschlagt wäre, wollte sich der Landesherr „von obrikeit wegen mit dem grossen Ausschuß vergleichen, vnnd alsdann solches in vnserm Fürstenthumb publiciren vnd ausgeen lassen": Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 133; siehe dazu unten bei Anm. 193 ff. 89 ) Ebd., 123: „Ist dahin verglichen vnd allerseits bewilligt vnd eingegangen. Das dise vngleicheit [zwischen den Beiträgen der Landschaft und der Prälaten] lenger nit weren soll, dann bis [...]". 90 ) Ebd., 128: „Bei disem allem ist auch verner verglichen vnd verabschidet [...]". 91 ) „Ob auch anndere anreinende Herschafften vnd obrikeitten an vnser Fürstenthumbs sich weitters mit dem aus vnd ein erben, mit vns vnd vnser Lantschafft, bestendiglich vergleichen wolten, wollen wir vns gleichfals vnsern vnderthonen zu gnaden, auch gnedig verhalten": ebd, II, Nr. 37, 129. - Vgl. dazu die Regelungen wegen der Einhaltung württembergischer Forst- und Waldordnungen durch Untertanen anderer Herrschaften in der 1. Landesordnung (1495): ebd., XII, Nr. 4, 9. 92 ) Ebd., II, Nr. 37, 131. Die Vereinheitlichung von Maß und Gewicht im Lande selbst war Thema das Landtags von 1554 gewesen und durch die 1557 erlassene Maßordnung erfolgt: ebd., XII, Nr. 63; siehe auch Grube, Landtag (wie Anm. 14), 214.
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jedenfalls das Satzungs- oder Gesetzgebungsrecht berührt 93 ). Die Abzugsfreiheit von Erbschaften betraf zwar vordergründig die landesherrlichen Einkünfte und somit das Finanzwesen. Wichtiger war jedoch, daß diese Frage im Kontext der Freiheiten der Landschaft gegenüber der Grundherrschaft und der Landesherrschaft diskutiert wurde. Denn hier war die Verfügungsfreiheit jedes einzelnen Bürgers über sein Lehen oder Eigen sowie über die auf diesem (oder sonst in Handwerk, Handel oder Amt und damit gewissermaßen unter landesherrlichem Schutz) erworbenen Überschüsse (Zugewinn) betroffen und damit das Steuerbewilligungsrecht jedes einzelnen Hausvaters. Die Tatsache, daß der kleine Ausschuß den „freien Abzug" auch für „Ausländer", das heißt, für im Ausland sitzende Erben württembergischer Bürger, verlangte, hatte den empörten Herzog schon 1555 zu der Aussage veranlaßt, derselbe sei anscheinend nur dazu eingerichtet, „die lantschaft Semper frey zu machen, es beleihe der her geleich, wa er wolle" 94 ). Semperfrei waren die höhere Geistlichkeit und der besser privilegierte Adel, zum Teil wohl auch das Patriziat der Reichsstädte, also diejenigen Stände, die ihre Güter, Privilegien oder Ämter nicht aus der Hand einer ihrerseits nachgeordneten Gewalt hatten nehmen müssen 95 ). Sie waren nach kirchlichem und weltlichem Recht privilegiert und konnten daher weder der aus geistlichem Recht hergeleiteten Disziplinargewalt eines Bischofs oder Konsistoriums noch der Obrigkeit eines Landesherrn unterworfen werden; mit anderen Worten, sie konnten sich ihre weltlichen und geistlichen Schirmherren (Obrigkeiten) selber suchen und waren daher nur verglichene Abgaben schuldig. So aber wollte der Herzog von Württemberg das der Landschaft 1514 gewährte Recht auf freien Zug nicht verstanden wissen. Die Frage des Hinauserbens war mit dem Erbrecht Gegenstand des Landrechts. Das Landrecht, das von der Forschung gerne als Beleg dafür herangezogen wird, daß die württembergische Landschaft kein votum decisivum besessen habe 96 ), war auf dem Landtag von 1554 nicht wirksam beschlossen worden, weil - so der Landtagsabschied - das Gutachten der Juristenfakultät bei der Regierung so spät eingegangen sei, daß man sich nicht hinreichend habe beraten können 97 ). Damit war, vielleicht absichtsvoll, nicht allein eine abschließende Vergleichung mit der Landschaft auf dem Landtag umgangen, 93
) Vgl. dazu Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 84), 124ff.; Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 280 ff., 309 f. Zum großen Ausschuß Kap. 2.1. 94 ) Zitat nach Grube, Landtag (wie Anm. 14), 217. 95 ) Nach Erich Bayer (Hrsg.), Wörterbuch zur Geschichte. 3. Aufl. Stuttgart 1974,471, leitet sich semperfrei ab von sendbar frei, d.h. der Sendgerichtsbarkeit des Bischofs nicht unterworfen. Als semperfrei galten Personen adligen Standes, ursprünglich der gesamte Adel (5. Heerschild), dann nur noch die reichsunmittelbaren Fürsten. Siehe auch Anm. 333. 96 ) Immel, Typologie (wie Anm. 72), 15; so neuerdings auch noch Mertens, Württemberg (wie Anm. 11), 115; siehe dazu unten Anm. 101. 97 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 118.
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sondern auch deren Niederlegung im Landtagsabschied vermieden worden. Als das Landrecht 1567 mit den 1565 in Angriff genommenen Änderungen erneut in Druck ging, wurde einleitend auf seine Entstehungsgeschichte Bezug genommen. Der Landesherr habe 1554 als „Landtsfürst vnd ordentlich Oberkeit" die notwendige Erarbeitung eines allgemeinen Landrechts seinen Räten, der Landschaft und den Prälaten aufgetragen 98 ). Diese hätten sich - auf der Grundlage der eingesammelten Gewohnheiten und Freiheiten und nach Zuziehung einiger gelehrter Juristen - über die drei ersten Abschnitte „einer Meinung verglichen". Wegen des vierten Teils hingegen, der das Erbrecht behandle, habe man sich auf die von den gelehrten Räten und Juristen erarbeitete Vorlage gestützt, die „in Buchstaben begriffen, gemeiner versamleten Prelaten vnd Landtschafft fürgelegt" und nach deren einhelliger „Approbation" vom Landesherrn angenommen worden sei"). Einerseits ist die Mitwirkung der Stände bei der Beratung und Entscheidung hier relativ breit dargestellt, andererseits wird der Versuch erkennbar, das Verfahren der Vergleichung von der Ebene der Gesetzgebung auf die des Gesetzesentwurfs zurückzunehmen. Der Landesherr konnte so als Vertragspartei zurücktreten und sich statt dessen als diejenige Gewalt ausgeben, der die Bestätigung des Vergleichs und damit die eigentliche Rechtsetzung vorbehalten war. Er hätte damit über dem Vergleich gestanden. Dieser Interpretation entgegen stand allerdings, daß für das Landrecht 1555 die Bestätigung des Kaisers eingeholt wurde, so daß der Herzog doch wieder als Partei eines Vergleichs auf der Grundlage des Tübinger Vertrags erschien 100 ). Wenn man den Landtagsabschieden und der Präambel glauben darf, so war die inhaltliche, also die eigentlich gesetzgebende Arbeit durch Räte und Ausschüsse gemeinsam geleistet worden - unter Inanspruchnahme gelehrt-juristischer Beratung, zugleich aber auch auf der Basis des Herkommens der Städte und Ämter. Von daher galt das neugeschöpfte Recht als legitimiert. Von den Juristen allein war lediglich das Erbrecht entworfen worden. Da diese zwar das Fachwissen, aber keinen legislatorischen Auftrag besaßen, mußte der Entwurf der Landschaft zur Approbation vorgelegt werden. Erst danach konnte der Landesherr das Landrecht durch Gebot in Kraft setzen. Die vielfach be98
) Als Ursache werden „Mängel und Unrichtigkeiten" angegeben, „von wegen mancherley Unserer Stett vnd Flecken widerwertigen, berümpten, vnd den meherertheil vnbillichen Satzungen, Gebreuchen vnd herkommen": ebd., IV, Nr. 66, 172ff. (abgedruckt ist das 2. Landrecht, zu den Abweichungen siehe die Fußnoten). Vgl. dazu Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 311, zum Veranlassungs- und Entwurfsrecht. ") Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), IV, Nr. 66, 172 ff. I0 °) Ebd., XII, Nr. 60; siehe dazu auch Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 293, 295, 296. - Nach Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. 2 Bde. Köln 1987, 1254f., konnte ein Vergleich, da er kein (Gerichts-)Urteil war, nicht gegen den Willen der Parteien vollzogen werden - außer der König (Kaiser) hätte ihn als Schiedsrichter geschlossen; vgl. dazu auch ebd., 1270 ff.
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klagte Zurückhaltung der Landschaft bei der Erarbeitung des Landrechts dürfte demnach eine vorsichtigere Beurteilung verdienen 101 ), und dies um so mehr, als gerade im Bereich des Erbrechts unter den Juristen selbst große Uneinigkeit herrschte und ein schon 1529 vom Reichstag erlassenes Gesetz zur Erbnachfolge der Enkel drohte, entsprechende Fälle (wobei vor allem an Klagen von Bürgern der zahlreichen umliegenden Reichstädte zu denken ist) an die Reichsgerichte zu ziehen, sofern ein Territorium keine eigene Gesetzgebung vorzuweisen hatte 102 ). Weil das vereinheitlichte, in Teilen stark romanisierte Erbrecht der Juristen zu zahlreichen Beschwerden aus allen Teilen des Landes führte, verlangten die Ausschüsse schon 1557 eine Überarbeitung des Landrechts. Prozesse, so hieß es, blieben zum Schaden der Leute auf unbestimmte Zeit anhängig, weil die Gerichte nicht zu entscheiden wüßten. Die nun folgenden Auseinandersetzungen zeigen, daß über die Verbindlichkeit des durch Vergleichung gesetzten Rechts unterschiedliche Auffassungen bestanden. Der Landesherr wollte eine Neubearbeitung auf einem Landtag vermeiden und versuchte alle weiteren Anbringen in dieser Sache mit der Erklärung abzuwiegeln, die Landschaft habe das Landrecht schließlich 1554 selbst bewilligt. Diese hielt ihm entgegen, daß das Erbrecht zwar vorgelesen worden sei, aber viel zu schnell, als daß ein jeder es habe verstehen oder wirklich bedenken können. Die Präsumtion, daß sie einmal verglichenes Recht unangetastet lassen müsse, wies sie zurück. Die fraglichen Ordnungen seien zwar gut gemeint, es gebe jedoch Klagen und Unrichtigkeiten und selbst die Gelehrten, die doch lange genug darüber gesessen hätten, hätten nun „Mißverstand" damit 103 ). Mit anderen Worten, (Recht und) Ordnungen standen für die Landschaft immer dann zu Verbesserung und neuer Vergleichung an, wenn sie sich als schlecht erwiesen hatten. Als das Erbrecht auf dem Landtag 1565 endlich zur Revision gelangte, einigte man sich darauf, daß wegen der unklaren Punkte dieses Mal nicht allein die Juristen der Tübinger Fakultät, sondern mit diesen die Räte und der große Ausschuß 104 ) ein „sammentlich bedencken" haben sollten. Dem Landesherrn sollte es dann obliegen, das Landrecht „mit einuerleibter erclerung" neu druk101 ) Siehe Anm. 96 ; die vielzitierte Darstellung von Rolf-Dieter Hess, Familien- und Erbrecht im Württembergischen Landrecht von 1555 unter besonderer Berücksichtigung des älteren württembergischen Rechts. Stuttgart 1968, 14 ff., wirkt sehr verkürzt. Nach Frey, Hofgericht (wie Anm. 71), 146, resultiert der Schluß, das Landrecht sei ein Werk der Juristen und des Herzogs, aus der zu oberflächlichen Betrachtung der Verhandlungen. 102 ) Vgl. Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 84), 130ff., der vermutet, daß die speziellere Problematik des Erbrechts der Enkel überhaupt „erst durch Meinungsverschiedenheiten in der gelehrten Literatur provoziert worden" sei (130). 103 ) HStAST L6 1268 (Auszug aus L5); der Bestand enthält eine Sammlung von Abschriften aus Akten über das Landrecht, darunter Aufstellungen von Beschwerden aus dem Amt Stuttgart. Zur Entstehungsgeschichte siehe auch Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 275 ff. 104 ) Siehe Kap. 2.1.
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ken zu lassen 105 ). Das hieß und sollte heißen, daß nicht das ganze Landrecht neu beschlossen, sondern nur ein Teil davon „erklärt" und dann dem unveränderten Gesamtwerk wiederum „einverleibt" werden sollte. Dem Vorgang war damit der für den laufenden verfassungsrechtlichen Diskurs relevante konstitutive Charakter abgesprochen worden 1 0 6 ). Konsequenterweise vermied, soweit das Landrecht betroffen war, auch dieser Landtagsabschied das Wort Vergleichung. Mit dieser für Legitimität durch Konsens stehenden Formel wartete vielmehr auch diesmal erst die - der Bekanntmachung dienende und damit für die Verfassungswirklichkeit vielleicht aussagekräftigere - Publikationsordnung auf. Die Erklärung des Erbrechts, heißt es dort, sei „mit zuuor darüber stattlichem gehabten Rath" der Räte, der Juristenfakultät und des großen Ausschusses erfolgt und zwar auf der Basis des allgemeinen Landrechts, über das sich der Herzog mit „gehorsamen Prelaten vnd Landtschafft" bald nach seinem Regierungsantritt „verglichen" habe 1 0 7 ). Deutlich wird, wie subtil hier versucht wurde, verfassungsrechtlichen Boden gut zu machen, aber auch, wie nötig die Regierung es hatte, derart zu lavieren. In der Folgezeit erlebten die Vergleichungsformel und das legislative Verfahren, für das sie stand, gewisse abträgliche Verkürzungen und Pervertierungen. Auf dem Landtag 1583 bestand die Landschaft zwar darauf, über ihre Gravamina zu verhandeln, bevor sie sich auf Geldforderungen Herzog Ludwigs (1579-1593) einließ, der Abschied aber brachte die Vergleichungsformel lediglich zu Beginn der Aufzählung der gefaßten Beschlüsse 108 ). In keinem einzigen Fall wurde sie im Zusammenhang mit einem derselben wiederholt 1 0 9 ). 1588 setzte sich Ludwig ausgerechnet in der Frage der Bestrafung des Wilderns über das Recht auf Vergleichung hinweg, um eigenmächtig eine neue Wildererordnung zu erlassen 110 ). Herzog Friedrich, den Rechten der Landschaft ohnehin abgeneigt und offensichtlich froh, den leidigen Präzedenzfall los zu sein, erklärte die Ordnung Ludwigs für rechtens, die 1588 vom 105 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 129f; vgl. Grube, Landtag (wie Anm. 14), 217, 230 ff. 106 ) Zum rechtstheoretischen Hintergrund derartiger Erklärungen (declarationes), insbesondere zur Unterscheidung zwischen konstitutiver und deklaratorischer Funktion von Jurisdiktiongewalt und damit auch zwischen administratio und iurisdictio: Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 295 ff. 107 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), IV, Nr. 65, 168f.; vgl. Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 312f„ 314f. . 108 ) Demnach hatte der Herzog die folgenden Punkte „mit gedachten vnnsern Prälaten vnnd getrewen Landtschafft, gnediglich, vnnd sie sich herwider mit vnns vnderthäniglich, allerseitz zu gebürendem bestenndigen Vertrawen endtlichen vereinbar« vnnd verglichen": ebd., II, Nr. 41, 172. 109 ) Siehe etwa die Anordnung, die „Municipal Statuten, Satzungen vnnd beuelchen" besser zu beachten: ebd., 182. '10) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), IV, Nr. 79. Da die Einberufung eines Landtags abgelehnt wurde, verweigerte der kleine Ausschuß jeden Rat zu dieser Ordnung: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 245ff., 231; siehe Anm. 39; außerdem Anm. 306.
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kleinen Ausschuß dagegen eingebrachte „Protestation" hingegen sowohl für unrechtmäßig als auch für nichtig 1 "). Das Verfahren der Protestation kann als ein der Vergleichung komplementäres Rechtsmittel verstanden werden. Einerseits Instrument friedlicher Konfliktlösung, konnte es andererseits die Einleitung folgenschwerer Maßnahmen ankündigen - die Verweigerung von Rat, Hilfe und Gehorsam, womöglich die Klage beim Kaiser und im äußersten Fall die Aufsagung grundlegenden Konsenses 112 ). Indem er die Protestation gegen die Wildererordnung zurückwies, versuchte der Herzog, der Landschaft den Weg zu entsprechenden rechtlichen Schritten auch für die Zukunft abzuschneiden. Das Recht, über dessen Verweigerung sie sich beschwerte, besaß sie ihm zufolge überhaupt nicht, und in diesem Sinne agierte er auch auf den späteren Landtagen. Im Landtagsabschied von 1599 findet sich zwar die Vergleichungsformel wieder, aber mit einem schon recht verdächtigen Zusatz" 3 ), und als der Herzog 1607 den Tübinger Vertrag „erläuterte", erfüllte sie die Funktion einer Scheinlegitimation: Die Punkte, von denen es heißt, sie seien mit der Landschaft „verglichen", dokumentierten deren angeblichen Verzicht auf ihr älteres, besseres Recht. Ausgedient hatte der Begriff also noch nicht, vielmehr wurde er gezielt gegen die Landschaft eingesetzt" 4 ). Wie weit man damit gekommen wäre, läßt sich nicht sagen, da Friedrich 1608 plötzlich verstarb und sein Sohn Johann Friedrich (1608-1628) mit den Landesfreiheiten auch die früher gebräuchliche Vergleichsformel wieder herstellte" 5 ). In der Konfirmation des Tübinger Vertrags, die sich die Landschaft von ihm ausstellen ließ, ist sogar die von Ulrich 1515 erlassene Landtagsverordnung als „Disposition vnnd Vergleichung" bezeichnet 116 ). Dessen ungeachtet versuchte man auf Seiten der Herrschaft weiterhin, ob'") Adam, Landtagakten (wie Anm. 68), 1. Bd., Nr. 149, 3lOf. Unrechtmäßig, weil die Landschaft kein votum decisivum besitze und daher das landesherrliche Recht, Statuten, Satzungen und Ordnungen zu geben, nicht beschränken könne; nichtig, weil die Gerichte seit 1588 aufgrund der Ordnung Urteil und Recht gesprochen hätten. Vgl. Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 84), 133 ff., über die Ausführungen des Marburger Juristen Vigelius (gedruckt 1579) über ungewisses Recht und unbilligen Gerichtsentscheid. 112 ) Vgl. Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 312f. 113 ) „Nachdem vns aber [Prälaten und Landschaft] etliche vnderschiedliche beschwerungs Puncten ybergeben, vnd gehorsamlich gebetten, denselben vß Fürstlicher milte vnd gnaden, Abzuehelfen, als haben Wier solche mit Inen gnedig, vnd sie hinwiderumb mit vns vnderthenig, Abgehandelt vnd verglichen": Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 47, 268. Die von mir hervorgehobene Wendung findet sich in früheren Abschieden so nicht. 114 ) Ebd., II, Nr. 49. Die Erläuterung beschnitt wichtige politische Rechte der Landschaft und ließ Textstellen fallen, die auf solche hinwiesen (vgl. den Tübinger Vertrag, ebd., Nr. 19, 47, 49, 50). Zu den Vorgängen vor und während des Landtags: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 266 ff. 115 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 51 u. Nr. 52, 297, 302 f., in der Einleitung, aber auch für drei einzelne Vereinbarungen. 116 ) Ebd., II, Nr. 5 1 , 2 9 5 .
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rigkeitliche Strafgewalt mit herrschaftlichem Gebot zu verbinden, um das hergebrachte Recht der Städte und Ämter und mit diesem das Konsensrecht der gemeinen Landschaft für landesweit verbindliche Ordnungen auszuhöhlen. Je mehr sich die Debatte zuspitzte, desto klarer erkennbar wurde, daß Vergleichung und Protestation als Verfahren zur Aushandlung von Recht und Rechtsnormen nicht allein auf der Ebene des Landes rechtliche und politische Relevanz besaßen, sondern auch im Bereich der Ämter und Gemeinden. Waren dort die Landtagsabschiede der Ort der schriftlichen Niederlegung des Vergleichs, so waren es hier die nach württembergischem Sprachgebrauch als Lagerbücher bezeichneten Urbare, die neben Güterbucheintragungen auch die örtlichen Rechtsgewohnheiten verzeichneten. Der Landtag von 1629 befaßte sich unter anderem mit den Auseinandersetzungen um die Erhöhung der Frevel und die Handhabung der Frevelgerichtsbarkeit 117 ). Die Landschaft legte unmißverständlich dar, daß in bürgerlichen Sachen das hergebrachte Recht gelte, und zwar auch was die Frevel betreffe 118 ). Die Regierung hingegen vertrat in einem am 22. Mai 1629 erlassenen Generalreskript die Meinung, die alten Strafmaße seien viel zu niedrig, um eine abschreckende Wirkung zu besitzen. Es seien außerdem „soliche vnd dergleichen Straffen in denn Lagerbüchern nicht per modum Constractus bestimpt, vnd gleichsam verglichen, sonder jeder Christlichen Obrigkaiten in allweg obgelegen, vnd gebüren will, die Straffen je nach beschaffenheit der Sachen zuerhöhen vnd zuringern" 119 ). Zum einen wurden hier Bußen (bürgerliche Sachen) und Strafen (Malefiz) vermengt, zum anderen wurde schon am Beispiel der Wildererfrage gezeigt, daß sehr wohl auch Strafen zur Vergleichung kommen konnten 120 ). Vor allem aber widersprachen sowohl die Lagerbücher selbst als auch die hergebrachte Rechtspraxis Württembergs der theoretisch-gelehrten Argumentation der Regierung. Veranschaulichen läßt sich dies am Fall einer Gemeindesupplikation, die 1708 beim Oberrat einging 121 ). Darin klagten die Gemeinden Beutelsbach und Schnait, die Forstbehörde habe 1701 anläßlich der Erneuerung ihres Lagerbuches einen von ihnen zwischen 1620 und 1631 erworbenen Wald an sich 117 ) Der Landtag begann am 24.2., wurde aber am 15.5. abgebrochen, weil man die Schuldenfrage nicht regeln konnte, und erst am 4.12. wieder aufgenommen: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 298 ff. 118 ) HStAST L6 1275, Nr. 2. 119 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), V, Nr. 103; siehe auch Kap. 3.1. I2 °) Siehe Anm. 76f.; außerdem Kap. 3.1.; die Tendenz ist zurückzuführen bis auf die 1. Landesordnung (1495): Wegen der Mißwirtschaft in den Wäldern sollten mit Rat, Wissen und Willen der Forstmeister Ordnungen wegen des Brenn- und Bauholzes gemacht werden. Übertretungen sollten gebüßt, Schäden ersetzt, schwere Fälle aber durch den Landesherrn nach Ermessen bestraft werden: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 4, 9. Vgl. auch die Landtagsverhandlungen 1599: Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), Bd. 2, 42ff., und HStAST L6 1275; außerdem Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 282. I21 ) Ebd., A206 BÜ4522. Zum Supplikationswesen siehe Anm. 301.
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gezogen. Obgleich sie dagegen Einspruch erhoben hätten, sei ihnen der Wald kürzlich verboten worden. Aus der Supplikation und dem Bericht des Forstmeisters ergibt sich, daß die Vertreter der Gemeinden, nachdem man die alten Steine bei der Begehung nicht gleich gefunden und ihr Besitzrecht daher als unbewiesen abgetan hatte, gegen die „Publikation" des Lagerbuches „protestierte". Die Bestätigung über diese Protestation war der Beschwerde beigelegt. Der Forstamtsbericht gab zwar zu, daß die zunächst vermißten Steine inzwischen gefunden worden und auch die Besitzrechte der Gemeinde im älteren Forstlagerbuch durch Kaufquittung und Rechnungsbücher belegt seien, dennoch kam der Forstmeister zum Schluß, es liege beim Herzog zu entscheiden, ob den Gemeinden ihr Recht weiterhin einzuräumen sei - eine für die württembergischen Forstbehörden durchaus gängige Haltung. Die Kanzlei erteilte den Bescheid, die neuen Steine (auf Kosten der Gemeinden) zu entfernen - sofern damit nichts zum Nachteil der Herrschaft „prätendiert" werde. Der Forstmeister ergriff die Gelegenheit, seiner negativen Haltung noch einmal deutlich Ausdruck zu verleihen: Die Gemeinden hätten nachweislich ihre Deputierten bei der Versteinung gehabt. Das Forstamt habe sich in dubio immer mit den Gemeinden „gütlich verglichen". Auch in diesem Fall seien die Steine aufgrund der „allerseithigen Genehmhaltung" gesetzt worden. Bei der Publikation des Lagerbuches 1706 hätten die Gemeinden erst bei der „Subskription" erklärt, daß alte Steine gefunden worden seien, dann aber förmlich protestiert und die für die Publikation benötigte Unterschrift verweigert. Das hier beschriebene Verfahren der Lagerbucherneuerung reicht bis weit ins 16. Jahrhundert zurück. Schon die Forstordnung vom Januar 1552 hatte aufgrund von Beschwerden der vorausgegangenen Landtage den Forstbeamten geboten, keine Versteinungen ohne Befehl der Rentkammerräte vorzunehmen. Im Fall von Bezirken, die an Wälder im Besitz von Städten, Dörfern oder anderen Obrigkeiten grenzten, durfte die Versteinung nicht ohne „gemeinen Vndergang" und vor allem nicht ohne Wissen und Willen dieser Anrainer oder ihrer bevollmächtigten Anwälte geschehen 122 ). Nicht erst Ende, sondern auch schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren die Lagerbucherneuerung und die damit einhergehende Verschärfung der Frevel Gegenstand zahlreicher partikularer Beschwerden und Supplikationen sowie Thema von Landtagsverhandlungen 123 ). Die Akten zur Lagerbucherneuerung im Uracher A m t legen Zeugnis dafür ab, daß man sich in den Ämtern und Dörfern schon damals über die weitreichende Bedeutung des Verfahrens der Vergleichung im Klaren war. Den Kammerräten, die am 5. Oktober 1618 die Erneuerung des Lagerbuches für Metzingen abschließen wollten, wurde bei dem dazu anberaumten Ortstermin von der Gemeinde eine mehrere Artikel umfassende Protestation überge-
l22)
Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), X V I , Nr. 7, 34. Siehe den Landtagsabschied von 1608: ebd., II, Nr. 52, 304.
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ben 124 ). Schon im ersten (die Landesherrschaft als solche betreffenden) Klagepunkt äußerte die Gemeinde ihre Bedenken sehr deutlich: „Erstlich würdt vermeldt, das vnßerm Gnedigen fürsten vnd herrn Alle Vnderthonen vnd Innwohnerr zu Metzingen vogtbar, raißbar, steurbar, Bottmeßig vnnd dienstbar seyen, raisen mit dem Ambt Vrach, helffen auch demselbigen gemeiner Landts- vnd Ambtsbeschwerden tragen. Vnd dieweil die ermelte wort ein weit außsehen [haben], die zwischen zweyen so vngleichen Partheyen, Benandtlich Einem Landtsfürsten vnnd seinen vnderthonen, mit der Zeit zu des fleckhen Metzingen großem Nachtheil vnd schaden geditten vnd angezogen werden möchten, Also könden sie sich änderst nicht dahin verstehen, dann soferr nichts, das dem Tübingischen vertrag vnd Landtags Abschiden zuwider, dardurch gesucht vnd fürgenomen würdt." Ferner heißt es unter den Punkten vier und fünf, welche beklagten, daß die ausnahmsweise und aus Entgegenkommen geleisteten Fronen nunmehr als ordentliche Dienstpflichten ins Lagerbuch eingegangen seien, die Gemeinde wisse dies wegen der großen Beschwernis „nicht zu consentirn" 125 ). Die „Vergleiche", die zwischen dieser und der Herrschaft wegen der Frondienste für Kellerei und Forstamt geschlossen wurden, belegen, daß die Erneuerung letztendlich nur mit der Zustimmung der Gemeinde rechtmäßig von statten gehen konnte 126 ). In der Metzinger Protestation wurden am ganz konkreten Fall - und damit auch für juristisch nicht gebildete Bauern leicht nachvollziehbar - die Freiheiten des Landes und das Lagerbuchrecht, das die Freiheiten der Gemeinde verzeichnete, in unmittelbaren Bezug zueinander gesetzt. An Brisanz und landespolitischer Aktualität gewann der Fall zudem vor dem Hintergrund der auf dem Landtag im Sommer desselben Jahres zwischen der Landschaft und der Regierung geführten Auseinandersetzungen um die Landtagsfähigkeit der Beschwerden aus Ämtern, Städten, Gerichten und Dörfern (Spezialgravamina) 127 ). Vergleichung, so könnte man sagen, war das zentrale Schlagwort, unter dem schon lange vor den Umbrüchen des Dreißigjährigen Krieges auf Landes- wie auf Ämterebene darum gerungen wurde, wie im Land Recht zu setzen und durchzusetzen sei. Je mehr aber das Ordnungswesen mit Hilfe von Vergleichen, die auf Landtagen geschlossen worden waren, in die Autonomiebereiche der Städte, Ämter, Gerichte und Gemeinden vordrang, desto wichtiger wurde das Problem von Repräsentation und Konsens und desto mehr >24) HStAST A206 BU5010. 125 ) Beide Zitate ebd., Interpunktion der besseren Lesbarkeit halber leicht verändert. Das Argument im Gutachten der Kammerräte (ebd., datiert 20.11.1618), daß diese Formulierung für alle Lagerbucherneuerung einheitlich gebraucht werde, ging an der Sache vorbei. 126 ) Ebd., beide unter dem Titel „Verzaichnus vnnd verglich" ohne Jahr und Unterschrift. Vgl. auch die Bemühungen Metzingens anfang des 18. Jahrhunderts, die durch unsauber tradiertes Lagerbuchrecht legitimierte Verhauptrechtung sämtlicher Einwohner rückgängig zu machen: HStAST A206 BU5057. >27) Siehe Kap. 1.1.
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mußte diesen Korporationen daran gelegen sein, mit der Beauftragung von Anwälten und Vertretern vorsichtiger umzugehen.
1.3. GewäUe und Repräsentation Als Gewälte bezeichnete man in Württemberg Vollmachten, unter anderem auch jene Vollmachten, durch welche die Städte und Ämter ihre Landtagsabgeordneten zu Verhandlungen ermächtigten 128 ). Die Funktion dieser Gewälte ging über die eines modernen politischen Mandats insofern hinaus, als sie zugleich als Verwillkürungen galten, das heißt, als Zeugnis einer promissorischen Haftung, auf welche sich die Aussteller bereits einließen, wenn sie auf die Einladung zum Landtag mit der Entsendung eines bevollmächtigten Abgeordneten reagierten 129 ). Gewälte standen demnach für legitime Repräsentation und präsumtiven Konsens. Erst wenn die Gewälte aller ihr zugehörigen Stände vorlagen, konnte die gemeine Landschaft, die als Korporation ihrerseits eine Gesamthaftung trug, in Verhandlungen mit dem Landesherrn eintreten 130 ). Hieraus, wie aus dem Interesse der Herrschaft, mit ihrem Recht auf Rat und Hilfe auch ihre landesherrliche Obrigkeit zu bewahren, erklärt sich die sogenannte Landtagspflicht. Als entschuldigt galten nur Stände, die ihren Gewalt förmlich übertrugen. Eine solche Übertragung mußte jedoch wohl begründet sein und konnte nur zu Händen eines anderen Landstandes oder des Landtags selbst erfolgen 131 ). Ebenso wie die Stände selbst konnten sich deren Repräsentanten vertreten lassen. Wer wegen Krankheit oder häuslicher Geschäfte dauernd oder vorübergehend nicht in der Lage war, sein Mandat wahrzunehmen, konnte ein anderes Mitglied entweder des Landtags oder seiner eigenen Korporation bevollmächtigen 132 ). Demnach gab es neben der ordentlichen zwei außerordentliche Formen der Bevollmächtigung von Ständevertretern, wobei das ordentliche Verfahren, wie so häufig in vorstaatlichen Gesellschaften, weniger Einblicke bietet als die l2S ) Dazu, anhand von Quellen vor allem für die ganz frühe und die spätere Zeit: Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 111 ff. Die vielzitierte Arbeit ist in der rechtstheoretisehen Bewertung in manchem überholt und in den Fakten nicht immer zuverlässig. 129) Ygi Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 187 f. ,3 °) Siehe etwa die Gewälte von Calw, Cannstatt, Göppingen, Hoheneck, Stuttgart und Marbach für 1620: HStAST A 3 4 Bü37, Nr. 5. Zu sichern waren die Umlagen, aber auch die Vorfinanzierung der zugesagten Hilfsgelder stützte sich auf die Haftungszusagen aller Ämter. Vgl. Werner Buchholz, Der moderne Steuerstaat. Bedingungen seiner Entstehung und Entwicklung in Mittelalter und Neuzeit, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 19 (1990), 5 - 1 5 , 8f.; siehe auch Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 122f. 131 ) Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 124ff. - Während Prälaten, soweit ich sehe, ihr Mandat nie an eine Stadt übertrugen, wählten Städte und Ämter nicht selten einen Prälaten als Mandatsträger. 132 ) Sogenannte Substitutionsgewälte, dazu ebd., 126ff.
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Ausnahmen. Angesichts der für diese Untersuchung zentralen Frage, wer auf den württembergischen Landtagen wen wie und mit welchem Recht repräsentierte, lohnt es sich, zunächst auf diese Ausnahmen etwas näher einzugehen, um dann die Normalfälle dagegenzuhalten. Zunächst ist anzumerken, daß in Württemberg spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert regulär überhaupt nur Korporationen, also Klöster respektive Städte und Ämter, nicht aber der Adel auf den Landtagen vertreten waren 133 ). Seit der Landtagsverordnung von 1515 wurden die Städte und Ämter jeweils durch zwei mit Gewalt versehene Abgeordnete vertreten, von denen einer dem Gericht, der andere dem Rat der Amtsstadt angehören mußte 134 ). Für die (schirmverwandten) Klöster dagegen erschien in der Regel der Prälat - zum einen für seine Person, zum anderen im Namen von Kloster und Konvent, aber jedenfalls ohne Gewalt 135 ). Die hinter dem Kloster sitzenden Ämter und Kommunen besaßen, mit Ausnahme des Maulbronner Amtes 1 3 6 ), keine Landstandschaft. Das heißt, sie wurden weder zu Landtagsverhandlungen geladen, noch konnten sie von der Landschaft oder der (Landes-)Herrschaft für deren Ergebnisse in unmittelbare Haftung genommen werden. Anders gesagt, die Klosterämter waren, weil mediat, im Gegensatz zu den weltlichen Ämtern über einen Landtag weder politisch (Rat) noch finanziell (Hilfe) greifbar. Auf diese Weise waren sie nicht präsent und damit auch nicht repräsentiert 137 ). Die im Spätmittelalter entwickelte Repräsentationslehre unterschied zwei Arten korporativer Repräsentation. Im einen Fall traten die Vorstände (Vor133
) Carsten, Princes (wie Anm. 25), 3ff. ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 23; vgl. Kap. 1.1. ) Er repräsentierte das Kloster als Prälatur (dignitas, potestas, auctoritas) und als geistliche Korporation respektive Institution (Konvent, Kirche, Güter). Dazu Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 116ff., 248ff., 286ff. - Nach dem Interim (Befehl vom 30.6.1552: Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], VIII, Nr. 40) bildete sich, da man die Konvente erneut aussterben ließ und die Verwaltung und Herrschaft (potestas) über die Güter und Ämter der Klöster säkularisierte, eine Titularlandstandschaft heraus, die nur noch an der geistlichen Amtsgewalt (dignitas) festgemacht war und von den Herzögen, die das Ausbildungsmonopol (auctoritas) für ihre Theologen besaßen, gerne als landesherrlicher Amtsauftrag interpretiert wurde. Tatsächlich jedoch besaßen die Prälaten mehr als bloße „Ehrenrechte und Ehrenfunktionen". So aber Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 185 f., Anm. 4ff. Vgl. Kap. 1.1. 136 ) Nachdem das Amt 1504 von Württemberg samt der Schirmherrschaft über das Kloster erobert worden war, hatte die Landschaft darauf bestanden, daß es ihr inkorporiert, das heißt in die Umlage der Sonder- und Landsteuern einbezogen wurde. Demzufolge erschienen (neben dem Prälaten) zwei Amtsdelegierte auf dem Landtag. Hierzu sowie zu Murrhardt (Landstand qua Stadtrecht, getrennt vom Klosteramt); Klosterreichenbach (bloß weltlicher Landstand, weil das Kloster nie Prälatur war) siehe Grube, Landtag (wie Anm. 14), 404f., 75. 137 ) Als Ausnahme könnte der Kriegsfall gelten, für den die Klosterämter Mannschaft stellen mußten. So waren auf den wegen der Fridinger Fehde 1480 einberufenen Uracher Landtag nicht allein die württemberigschen Städte und Gemeinden, sondern auch die Hintersassen der Klöster geladen worden: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 39f. 134 I,s
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mundschafts- oder Vorstandsrepräsentation), im anderen dagegen Mitgliederausschüsse (Identitätsrepräsentation) als Repräsentanten einer Korporation auf 138 ). Die Vorstandsrepräsentation klebte im Grunde an den einer Person zugeeigneten Ämtern und Titeln und konnte daher als persönliches Standesrecht aufgefaßt werden. Dies barg, wann immer Amt oder Titel auf Lebenszeit erworben waren oder gar als erblich galten, die Gefahr, daß die Repräsentanten ihre persönlichen Interessen über ihre Amtspflichten und damit über den Nutzen der Korporation stellten 139 ). Trotz der Oligarchisierung der württembergischen Gerichte und Ratsgremien und unangesehen der Ziele, welche die Ehrbarkeit 1514/15 verfolgt haben mag, kann die Repräsentation von Stadt und Amt im Landtag durch die Abgeordneten der städtischen Magistrate nicht als Vorstandspräsentation gelten 140 ). Diese Abgeordneten besaßen keine persönliche Gebotsgewalt gegenüber den von ihnen vertretenen engeren Korporationen (Gericht, Rat, Gemeinde der Vollbürger); sie konnten nicht für sich allein, sondern nur im Namen ihrer Korporation verhandeln. Den Magistraten selbst stand eine Herrschaftsgewalt, die derjenigen vergleichbar wäre, die ein Prälat (oder Adliger) gegenüber den Hintersassen seines Klosters (oder seiner Herrschaft) ausüben konnte, weder in der Stadt und noch weniger gegenüber dem Amt zu. Die Standesunterschiede zwischen der Ehrbarkeit und den Prälaten mochten sich im Fall der besser privilegierten Städte verwischen, festgehalten werden muß jedoch, daß niemand eine Stadt oder ein Amt auf einem württembergischen Landtag rechtmäßig repräsentieren konnte, ohne im Besitz eines entsprechenden Gewalts zu sein. Der in den Gewalten zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen Repräsentation und Konsens läßt sich am Fall der außerordentlichen Bevollmächtigung weiter verdeutlichen. Für Klöster (und Stifte) erschienen, wenn ihre Prälaten (oder Pröbste) verhindert waren, der Prior oder sonst ein gewöhnlicher Konventuale auf dem Landtag und in jedem Fall brachten sie, anders als der Prälat selbst, einen Gewalt mit 141 )- Worauf es hier ankommt, ist, daß diese Gewälte zum Teil mit ausdrücklicher Zustimmung des Konvents oder Kapitels ausgefertigt worden waren 142 ). Daß heißt, der verhinderte Prälat übertrug das ihm persönlich zustehende Mandat, der Konvent (oder das Kapitel) hingegen die Gewalt der Korporation, über die der Konventuale als bloßer
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) Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 191 ff., 286ff., 2 9 8 f f . ) Ebd., 248 ff., 274. °) Vgl. ebd., 202 ff., v.a. 209. 141 ) Schon 1498 hatte das Kloster Adelberg wegen Krankheit des Prälaten einen Konventualen geschickt: HStAST A 3 4 Bü 1 a; 1552 kam für die Äbte von St. Georgen und Lorch jeweils der Prior, für die Pröbste von Herbrechtingen und Denkendorf ein Konventuale: ebd., B ü l 4 . 142 ) Lorcher und Herbrechtinger Gewaltübertragung von 1552: ebd. 139 I4
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Mitbruder ja nicht von amtswegen verfügte 143 ). Erst der Ausnahmefall läßt also erkennen, daß hinter einem Prälaten an sich eine Korporation mit eigenem Recht stand, von der man im Normalfall wenig hörte, weil sie stillschweigend durch diesen mitvertreten wurde. Gleiches gilt für die Fälle, in denen Städte und Ämter, die den Landtag nicht selbst beschickten konnten, ihren Gewalt zu Händen der Vertreter eines anderen Standes ausfertigten. Nur daß bei der Beauftragung außenstehender Personen, die mit dem Recht der Korporation nicht vertraut, noch diesem verpflichtet waren, noch deutlicher die Notwendigkeit hervortrat, die Bevollmächtigten hinreichend zu instruieren und vor allem auch umfassend zu legitimieren. Anders gesagt, die Repräsentation mußte, wo sie sich nicht auf den im Herkommen begründeten rechtlich-politischen Kontext stützen konnte, aus diesem heraustreten und sich den Regeln anwaltschaftlicher Bevollmächtigung anpassen, bei der es darauf ankam, ausdrücklich zu sagen, um wessen Rechte es tatsächlich ging 144 ). Bis ins 17. Jahrhundert hinein schweigen sich die Quellen über die näheren Umstände der Wahl der Abgeordneten und der Formulierung der Gewälte fast ganz aus 145 ). Man bleibt daher mit der Frage, was genau die Repräsentation als legitim und den Konsens als erteilt erscheinen ließ, auf die Interpretation der Gewälte selbst angewiesen. Folgt man der älteren Literatur, dann belegen auch die Gewälte, daß die Repräsentationsrechte der Stadtgemeinden, Ämter und Dörfer gänzlich der Landtagsverordnung von 1515 zu Opfer fielen146). Seither ist jedoch die Forschung zum Thema Repräsentation weit fortgeschritten, so daß es sinnvoll erscheint, auch die Gewälte neu zu befragen 147 ). Bearbeitet wurden die Landtagsgewälte aus den Jahren 1552, 1583 und 143
) Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 301 ff. 144) Vgl. Hofgerichtsordnung von 1557: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), IV, Nr. 60. Aufschlußreich ist die Regelung für den Fall, daß der Anwalt eines Appellanten ohne Gewalt erschien. Mit dem Verfahren sollte (im guten Glauben, der Gewalt werde nachgereicht), trotzdem begonnen werden, sofern derselbe „ein Eemann [...] oder ein angeborner freünd, oder sonst eins erbarn, dapffern wesens vnnd lebens" und so zur Vertretung legitimiert war: ebd., 122. '«) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 405ff. 146 ) Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 113ff. Danach hörte von 1514 an „die Mitwirkung der ganzen Gemeinde bei den Ausstellungen der Gewälte a u f (115). Dementgegen findet sich, daß 1552 Richter und Geschworene zu Wildberg als Abgeordneten einen aus dem Gericht und einen aus der „gemain" abfertigten; Rosenfeld nahm - entgegen den Gepflogenheiten der Landschaft, wie ausdrücklich gesagt wird - seinen zweiten Abgeordneten aus der Gemeinde, weil man keinen Rat habe. Zwingend war dies nicht, denn Bietigheim, Böblingen, Wildbad, Asperg und Zavelstein schickten zwei vom Gericht; Dornhan stellte seinen Gewalt sogar durch Bürgermeister, Richter und ganze Gemeinde aus: HStAST A34 Bül3b, Nr. 2; zur Beteiligung der Gemeinden und Dörfer im 15. Jahrhundert: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 37ff.; 60f. 147 ) Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), Literatur leider nur über die Fußnoten erschließbar.
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1620 148 ). Die Auswertung galt dem Normalfall, daß heißt, den Gewalten derjenigen Landstände, die als Stadt und Amt in Erscheinung traten und für die demnach das von Grube angezogene Dualismusmodell in Anschlag zu bringen wäre, das von der Beherrschung des Amtes durch die Stadt ausgeht 149 ). Auf den Herrenberger Landtag von 1552 waren 40 solcher Landstände geladen 150 ). Prüft man ihre Gewälte auf Hinweise dafür, wen ihre Bevollmächtigten repräsentierten 151 ), dann zeigt sich, daß zehn dieser Gewälte ausdrücklich auch im Namen des Amtes ausgestellt wurden (25%) und in vier derselben das Amt außerdem als ausstellend erscheint (10%) 152 ). Man mag Formulierungen wie „von vnsers vnd gemeinen Amts wegen" 153 ) für Leerformeln halten, anhand einzelner Fälle läßt sich jedoch ein genaueres Bild gewinnen. Die für Stadt und Amt Hornberg auf den Landtagen 1551 und 1552 eingereichten Gravamina und Freiheiten zeigen, daß das Amt mit seinen vier Freigerichten der Stadt an bürgerlichen Rechten keineswegs nachstand. Eher war das Städtchen Hornberg, wenn es um die Erhaltung der hergebrachten Freiheiten seines Amtes, das heißt, der ehemaligen Herrschaft Hornberg, ging, auf die Unterstützung der Gerichte angewiesen. Im Amt lag außerdem das Städtchen Schiltach, das ehedem eigene Abgeordnete auf die Landtage geschickt hatte und latent mit Hornberg konkurrierte 154 ). Angesichts des politischen Eigengewichts des Amtes darf die Formulierung, man wolle auf dem Landtag die anstehenden Probleme „auff das nutzlichst neben annderen gemeinen Ämptern der Landtschafft" beratschlagen helfen, durchaus wörtlich aufgefaßt werden, und tatsächlich waren es nicht allein die Städte, von denen der Landesherr 1552 Rat und Hilfe dringend nötig hatte 155 ). Von den für die weltlichen Stände für den Landtag 1583 eingereichten Ge148 ) HStAST A34 Bül3b, Nr. 2; Bül8a, Nr. 6; Bü37, Nr. 5. Die Auswahl erfolgte als Stichprobe in dem durch die Auswertung der Landtagsbeschwerden grob gesetzten zeitlichen Rahmen. Die Gewälte der anderen Landtage finden sich alle ebd., in den landtagsweise sortierten Büscheln. 149 ) Siehe oben, die Einleitung. I5 °) Näheres zum Landtag und seiner Vorgeschichte: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 197ff., 205 ff. 151 ) HStAST A34 B ü l 4 , Nr. 2; insgesamt 47 Gewälte von weltlichen Ständen, davon sechs von Städten ohne Amt und einer von einem Amt ohne Stadt; außerdem vier Gewaltübertragungen von Prälaten. 152 ) Blaubeuren, Herrenberg, Leonberg, Nürtingen, Stuttgart, Zavelstein; sowie Hornberg, Neuenbürg, Rosenfeld, Sulz. Der Lauffener Gewalt war im Namen „Stadt vnd dorffs laufen" ausgestellt. Die Stadtfestung lag rechts des Flusses, das Dorf - mit den jedenfalls älteren Rechten - links. Außerdem gehörten Ilsfeld und Horkheim ins Amt: Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Hrsg. v. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. 2 Bde. Stuttgart 1972-1988, Karte VI,10: Einteilung Württembergs in Ämter um 1525. 153 ) So der Zavelsteiner Gewalt 1552; zum „Ämtlein" siehe im folgenden. 154 ) Dazu Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 26ff. 155 ) Zu den Hornberger Gravamina siehe Kap. 2.2.1. und 2.2.2.
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wälten rührten 38 von Städten mit eigenen Ämtern her 156 ). Zwölf derselben beauftragten die Abgeordneten, im Namen von Stadt und Amt zu handeln (32%), darunter nannten zwei das Amt ausdrücklich auch als ausstellend (5%). Die Verhältnisse im Amt Calw werfen ein Licht auf die keineswegs so eindeutige Machtverteilung zwischen den Amtsstädten und den ins Amt gehörenden, zum Teil mit weitreichenden Rechten ausgestatteten Dörfern oder Städtchen. Zavelstein, von dem es heißt, daß es in die Vögtei auf der Burg und unter das Hochgericht in der Stadt Calw gehörte, findet man in den Quellen immer als „Ämtlein" bezeichnet. Es besaß jedoch Stadtrecht, eine Burg und ein Niedergericht, in das neun der achtzehn zur Calwer Vögtei gehörigen Weiler und Dörfer gerichtspflichtig waren, während Calw selbst Niedergerichtsbarkeit nur über seine eigenen Bürger besaß 157 ). Das „Ämtlein", das mehr als ein Drittel des Calwer Amtes ausmachte, besaß eigene Landstandschaft. 1583 stellten Bürgermeister und Gericht zu Zavelstein ihren Gewalt, nicht anders als sie dies schon 1498 getan hatten 158 ), auch im Namen des Amtes aus. Auf dem Landtag wurden das Städtchen und die seinem Gericht zugehörigen Dörfer durch einen „Amtsbürgermeister" vertreten. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts machte sich der Trend bemerkbar, die kleinen Landstände von ihrer Landtagspflicht zu entbinden 159 ). So erging an die drei kurz vorher aus der Verpfändung gelösten Städtchen Gartach, Niederhofen und Stetten unter Heuchelberg die Anweisung, den Landtag 1583 gemeinsam zu beschicken, allerdings ohne Erfolg. Auch Sindelfingen schickte auf diesen Landtag eigene Abgeordnete, obgleich es die seit 1551 erstrebte Abtrennung vom Böblinger Amt erst 1605 durchsetzte 160 ). Die Stadt Böblingen konnte daher in ihrem Gewalt die Tatsache, daß ihre Abgeordneten auch für und durch das ganze Amt ermächtigt seien, kaum genug betonen. Auch dieser Fall zeigt, daß die Amtsstädte auch schon im 16. Jahrhundert gute Gründe haben konnten, auf die politische Lage in ihrem Amt zu achten. 156 ) Näheres zum Landtag: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 240ff.; HStAST A 3 4 B ü l 8 a , Nr. 6; insgesamt 53 Gewälte weltlicher Landstände, darunter drei Ämter ohne Stadt und zwölf Städte ohne Amt. 157 ) Die beiden anderen Niedergerichte der Vogtei waren Speßhardt mit vier und Neuweiler mit fünf Gerichtsorten: Historischer Atlas (wie Anm. 152). 158 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 61. 159 ) Der Landtag 1605 empfahl die Übertragung aufgrund von Klagen dieser Stände selbst wegen der Kosten; 1618 wurden 19 Stände zur Übertragung aufgefordert, acht schickten dennoch eigene Abgeordnete: ebd., 282; außerdem Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 125. 160 ) Sindelfingen erkaufte (mit Verweis auf Anm. 28 könnte man auch sagen, es erstiftete) die Landstandschaft - gegen den Protest Böblingens - vom Herzog für 2 200 fl. und die Übernahme der halben Vogtsbesoldung: HStAST A 2 0 6 BÜ4580. Der Konflikt zwischen den Städten war aufgrund einer Klage ausgebrochen, welche die Amtsorte, die „nit z w o ampt stett" haben wollten, wegen der Umlage des Amtsschadens eingereicht hatten: Hermann Weisert, Sindelfingen im Wandel der Zeit. Römersiedlung, Chorherrschaft, Weberstädtchen, Industriezentrum. Sindelfingen 1988, 67 f.
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Für den Landtag von 1620 liegen 43 Gewälte vor, die von Städten mit eigenem Amt ausgestellt wurden 1 6 1 ). In 36 (84%) derselben ist ausdrücklich auf das Amt verwiesen oder wenigstens die im Ausschreiben gebrauchte Formulierung wiederholt, wonach die Delegierten von Stadt und Amts wegen abgefertigt werden sollten. 14 davon (33%) begnügten sich mit dieser Formel nicht, sondern wurden ausführlicher. Die Uracher Abgeordneten waren ihrem Gewalt nach gehalten, so zu verhandeln, daß „Statt vnd Ambt Urach habenden sonderbaren Privilegien vnd gerichtigkheiten nichts zuwider" beschlossen werde. Die Schorndorfer waren nicht allein mit „der Stadt vnd des amtes vollkommen gewalt" ausgestattet, vielmehr heißt es, ihre Wahl habe „so wol von gemainer Statt all auch des ampts wegen" stattgefunden. Tuttlingen hatte seine Abgeordneten zwar aus dem „Mittel" (Gericht und Rat), aber „Innamen gantzen Amptts" gewählt und ermächtigte sie „für vnns vnnd alle in solch Amptt gehörige Fleckhen" auf dem Landtag zu verhandeln. Auch die Nagolder Delegierten waren von Stadt und Amts wegen gewählt und abgeordnet, ähnlich lauteten die Gewälte für Brackenheim und Leonberg. In Rosenfeld war der Gewalt von Bürgermeister und Gericht „samt allen Amtsvögten desselbigen Amtes" erteilt worden. Der Nürtinger Gewalt war sogar sowohl im Namen der Stadt als auch des Amtes gesiegelt 1 6 2 ). Der Baiinger Gewalt nannte als Aussteller neben den städtischen Organen sämtliche Dorfschultheißen und Vögte in Stadt und Amt. Besigheim schließlich benannte als Aussteller seines Gewalts ausdrücklich auch Schultheiß, Gericht und Rat der Flecken Walheim, Hessigheim und Löchgau, Bottwar die Amtsdörfer Hof, Lembach und Kleinaspach 1 6 3 ). Im Gewalt für Liebenzell bekannten Bürgermeister, Gericht und Rat, „auch Schuldthaißen vnd ganntze Gemeinden in Statt vnd Ambt", man habe sie zwar angewiesen, ihre Stimme zu übertragen, sie schickten aber „mit wohlbedachtem sinn vnnd Gemüt" eigene Abgeordnete 1 6 4 ). Bürgermeister, Gericht und Rat „zu Altensteig in der Statt zuesambt aller Schultheisen vnd Gemeinden darzuegehöriger Ambtflecken" hatten ihren Gewalt an Herrenberg übertragen. Dieser deutliche Trend zur Hervorhebung der Repräsentation der Ämter erklärt sich auch, aber wohl kaum alleine aus den Ereignissen des Landtags von
161 ) HStAST A 3 4 Bü37, Nr. 5; von 63 weltlichen Landständen waren jetzt 15 Städte ohne Amt und vier Ämter ohne Stadt. Das neugegründete Freudenstadt, das mit einer Handvoll neu erworbener Dörfern der Landschaft gerade erst inkorporiert worden war, übertrug seinen Gewalt an Stuttgart. 162 ) Z u m Amtssiegel: Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 112. Vgl. auch den Blaubeurer und den Dornstetter Gewalt. 163 ) Kleinaspach war ein altes Gericht, dem acht der zwölf im Amt liegenden Weiler ohne eigenes Gericht angehörten: Historischer Atlas (wie Anm. 152). 154 ) Die Anweisung war an 13 Stände ergangen. Sindelfingen schickte eigene Abgeordnete, in neun der Übertragungen weisen die Aussteller daraufhin, daß sie ihr Mandal aus „eigener Ursache" (so Möckmühl) übertrügen. Neidlingen, erst 1618 inkorporiert, stellte seine Gewaltübertragung im Namen der „ganzen Gemeinde daselbst und zu Ochsenwang" aus.
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1618, auf dem einerseits der Vizekanzler der Landschaft unterstellte, sie handle, indem sie eine einheitliche Besteuerung verhindere, nur im Interesse der Städte und der vermögenden Untertanen, während sich andererseits die Regierung weigerte, die von der Landschaft eingebrachten Spezialgravamina zu verhandeln, die vor allem Beschwerden einzelner Städte, Ämter und Dörfer enthielten 165 ). Die Abgeordneten erhielten daraufhin vom Landschaftsadvokaten Anweisungen wegen der Formulierung künftiger Gewälte, mit dem Erfolg, daß 1620 die meisten sowohl die Erledigung der Gravamina verlangten 166 ), als auch die Repräsentation des Amtes hervorhoben. Dies, sowie die Tatsache, daß die Stände überhaupt dazu neigten, in ihren Gewälten die im Landtagsausschreiben gebrauchten Wendungen zu übernehmen oder sich auf Anweisungen vorangegangener Landtage zu beziehen 167 ), sollte nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten. Da die Konditionierung der Gewälte eines der Grundrechte der Stände war, fiel die Formulierung durchaus ins Gewicht 168 ). Die vorstehenden Zitate weisen eine so große Ausdrucksvielfalt auf, daß von einer bloßen Übernahme einer Formel kaum die Rede sein kann. Manche Städte hatten, wie gezeigt wurde, aufgrund hergebrachter Gewohnheiten oder aktueller Ereignisse, ihre Gemeinde oder ihr Amt schon viel früher einbezogen. Schließlich spricht auch die Entwicklung des Beschwerderechts dafür, daß über den ganzen Zeitraum von 1551 bis 1629 die politische Notwendigkeit wuchs, den Ämtern, Gerichten und Gemeinden eine eigene Stimme zu geben oder - wenn man es eng sehen will - zumindest offiziell zuzugestehen. Damit ist noch einmal auf die oben schon angesprochene Entwicklung im Bereich der Gewaltübertragungen zurückzukommen. Der Quellenbefund spricht dafür, daß man in den der anwaltschaftlichen Bevollmächtigung näher stehenden Gewälten für außerordentliche Repräsentanten zum einen die Beteiligung des Amtes öfter und deutlicher herausstrich als in den Gewälten für die eigenen, ordentlichen Abgeordneten und zum anderen auch ausdrücklich auf die wichtigsten Gravamina von Stadt und Amt Bezug nahm. Stadt und Amt Dornstetten etwa, die ihren Gewalt 1620 an Nagold abtraten, taten dies nicht, ohne dessen Abgeordneten genaue Weisungen mitzugeben: Etliche Gewerbeordnungen sollten bewilligt, bei der Übernahme von Landeslasten ihre „vnvermögenlichkeit" berücksichtigt und die Klage vorgebracht werden, daß ihnen das Waldgeding und andere Rechte geschmälert würden. Zudem war diesem Gewalt im Namen der Amtsschultheißen neben dem Siegel der Stadt "65) Siehe Kap. 1.1. und 1.2. 166 ) 2 4 der 63 (38%) für den Landtag 1620 ausgestellten Gewälte der weltlichen Stände erklärten die Erledigung der Gravamina zur Verhandlungsbedingung, 13 (21%) von diesen wollten neben den Landesbeschwerden auch die Beschwerden von Stadt und Amt erledigt haben. Vgl. Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 119 f., der nahelegt, daß den Gewälten erst später Gravamina einverleibt wurden. 167 ) Zur Form der württembergischen Landtagsausschreiben: ebd., 13ff. 168 ) Etwa 1605: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 264.
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auch das des Vogts aufgedrückt worden. Je öfter derlei geschah, desto eher konnte das 1515 verordnete' Stillschweigen über die Rechte der Ämter aufgegeben werden. Damit wäre nicht zuletzt auch auf die durch die Stände(-Vertreter) vor, auf und zwischen den Landtagen ausgestellten Gewälte für die Ausschüsse und Ausschußtage hinzuweisen 169 ). Denn was für die Gewaltübertragung an einen anderen Stand gesagt wurde, gilt hier analog. Den Ausschüssen fiel die Aufgabe zu, mit den Räten die auf dem Landtag nicht erledigten Gravamina zu vergleichen beziehungsweise schon verglichene Maßnahmen in Ordnungen umsetzen zu helfen. Wenn die Ergebnisse nicht eine Flut neuer Beschwerden auslösen sollte, mußte man bemüht sein, sich über den Gewalt des Konsenses der direkt Betroffenen zu versichern.
2. Landtage, Ämtergravamina und Gesetzgebung nach 1550 Während der Regierung der Herzöge Christoph und Ludwig wurden in Württemberg lediglich in den Jahren 1551, 1552, 1553/54, 1565, 1566 und 1583 Landtage gehalten 170 ). Seit der Einrichtung der Landschaftsausschüsse 1554 gingen Landesherren und Regierungen dazu über, sich vornehmlich mit diesen anstatt mit dem Landtag zu beraten und zu vergleichen 171 ). Die Landstände selbst waren diesem Verfahren durchaus zugeneigt, solange sie erwarten konnten, daß ihre Interessen auf den Ausschußtagen angemessen vertreten wurden 1 7 2 ). Die Ausstellung von Ausschußgewälten war eine rechtsformal korrekte Lösung, die jedoch in der Praxis nicht immer zufriedenstellende Ergebnisse zeitigte. Welche Rolle den Ausschüssen als dauerhaft eingesetzten Repräsentationsorganen der seit 1551 zu einem Korpus vereinigten weltlichen und geistlichen Ämter verfassungsrechtlich wie politisch zukam, scheint nicht hinreichend untersucht 173 ). Als wichtigste Grundfreiheit der württembergischen Ämter galt seit jeher der freie Zug, ein Recht, das die Untertanen der
l69 ) Zu den Ausschußgewälten: Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 124f.; zu den Ausschüssen siehe oben bei Anm. 49 und Kap. 2.1. Ausschußtage schlössen mit Abschieden, die Gesetzeskraft besaßen: ebd., 237. Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), druckt keinen ab. Siehe aber den Abschied des Sommerausschusses von 1553 mit den Vereinbarungen zum Passauer Vertrag HStAST A36, Lade A Bül ; und eine „Vergleichung" von 1567 über die seit 1565 verhandelten Gravamina (u.a. Landrecht, Landesordnung, Metzgerordnung, Stadtschreiberordnung, Maß und Gewicht): ebd., Lade B Bü4. no ) 1550-1568 und 1579-1593; die Vormundschaftsregierung Ludwigs berief den Landtag nie ein: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 237 f. m ) Ebd., 2 1 3 f f , 216ff., 238f.; vgl. Kap. 1.2. I72 ) Zu den Ausschußtagen seit 1551 siehe HStAST A36, Lade A und B; zu 1593-1620: Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), ausführliches Inhaltsverzeichnis im 3. Bd.; vgl. Anm. 169. m ) Vgl. Anm. 49.
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Klöster erst 1551 erlangten 174 ). Mit dem Landtagsabschied von 1554 wurden dieselben erstmals direkt in die Umlage der vom Landtag zur Tilgung der landesherrlichen Schulden genehmigten Kredite (Ablösungshilfe) einbezogen 175 ). Während andere Ämter, die der Landschaft auf diese Weise inkorporiert wurden, das Recht erwarben, eigene Vertreter auf die Landtage zu entsenden, erschienen für die Klosterämter jedoch auch weiterhin die Prälaten. Gilt also zumindest für diese, was man im allgemeinen den württembergischen Ämtern insgesamt nachsagt, nämlich daß sie um Hilfe angegangen wurden, aber nicht die Ehre hatten, um Rat gefragt zu werden 176 )?
2.1. Ämterrepräsentation und Landtagsausschüsse Herrschaft und Landschaft, Landtag und Ausschüsse, Städte, Ämter, Gerichte, Gemeinden und so weiter waren Teile eines Rechts- und Repräsentationssystems. Aufgrund des freien Zuges konnten württembergische Bürger mitsamt ihrem fahrenden Gut das System verlassen. Zum Eintritt in dasselbe bedurfte der einzelne einer Niederlassungserlaubnis. Städte, Ämter und Gerichte mußten, bevor man sie dem System mitsamt ihren Einwohnern inkorporieren konnte, erobert oder erkauft werden 177 ). Die endgültige Einverleibung der lediglich unter württembergischem Schirm stehenden Klosterherrschaften ins Kammergut war durch die Niederlage der protestantischen Fürsten 1547 blokkiert worden, aber auch 1551 war eine Inkorporation in die Landschaft im Sinne einer Aufnahme der Ämter als württembergische Landstände, angesichts der politischen Lage wohl kaum durchzusetzen. Darüber hinaus könnten aber auch andere Gründe für die Unterlassung dieser Aufnahme in Anschlag gebracht werden: Keine der Klosterherrschaften besaß eine Stadt. Damit fehlte die städtische Ehrbarkeit, welche die Vertretung des Amtes auf den Landtagen gemäß der Landtagsverordung hätte übernehmen können. Zwar hätte man einen Ausschuß der Dorfgerichte schicken können, denselben fehlte aber die Hochgerichtsbarkeit, das heißt, die Ehrbarkeit unter den Klosteruntertanen war wie die Klosterämter selbst minderprivilegiert. Hätte man sie trotzdem zum Landtag zugelassen, so hätte dies weitreichende verfassungsrechtli174 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 199ff; Erläuterung des Tübinger Vertrags 1551: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 32; abgesichert durch Landtagsabschied: ebd., Nr. 33, 94f. ,75 ) Ebd., II, Nr. 36, 114f., 117, 118; bis dahin wurden die Prälaturen veranlagt, nicht aber die Ämter. Rechtstechnisch ein wesentlicher Unterschied, auch wenn sich die Prälaten de facto bei diesen schadlos gehalten hatten. 176 ) Siehe Kap. 1.1. 177 ) Siehe oben Anm. 23; zum kirchlichen Inkorporationsrecht siehe Peter Landau, Inkorporation, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE). 16. Bd. Berlin/New York 1987, 163166.
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che Folgen gehabt und zudem den Anteil der bäuerlichen Vertreter im Landtag auf fast ein Viertel erhöht, also das politische Gleichgewicht nicht unbedeutend verschoben. Wegen des Fehlens der Hochgerichtsbarkeit wären zwei andere Formen der Repräsentation durchaus denkbar gewesen, nämlich die Vertretung durch die landesherrlichen Amtleute oder durch die Amtsstädte, deren Malefizgerichtsbarkeit sie unterstanden 178 ). Mit der ersten Version könnte der Herzog geliebäugelt haben 179 ). Schon 1550 lud er die Amtleute wieder auf die Landtage 180 ), und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten im Vorbereitungsausschuß des Oktober-Landtags 1552 ebensoviele Amtleute gesessen wie Städte Vertreter 181 ). Die Stände wußten dies zu verhindern, kamen aber mit ihrem Antrag, Amtleute generell von den Landtagen auszuschließen, nicht durch 182 ). Die zweite Version wäre den Amtsstädten sicherlich recht gewesen, aber wohl kaum den Prälaten, noch weniger dem Landesherrn und auf keinen Fall den Habsburgern. Je mehr Vorsprung der Herzog in der Konkurrenz um die Repräsentation der Klosterämter dadurch gewann, daß er deren Herrschaft und Verwaltung von den Prälaturen auf landesherrliche Amtleute und den Kirchenrat verlagerte, desto mehr mußten die Stände bemüht sein herauszustreichen, daß ihre Interzessionsgewalt dieselben einschloß. Mithin führte der Weg zu deren landschaftlicher Repräsentation über das den beiden Ausschüssen zustehende Beschwerde- und Petitionsrecht. Hinweise darauf, daß das Ausschußwesen genutzt wurde, um die Unterrepräsentation der weltlichen und geistlichen Amtsuntertanen auszugleichen, wurden bisher nicht weiter verfolgt 183 ). Insbeson-
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) Das Amt Maulbronn, das der Landschaft 1504 inkorporiert worden war, besaß Landstandschaft und Malefiz. Das Gericht saß in Knittlingen. Grube, Landtag (wie Anm. 14), 75, 404f.; HStASt A 202 BU3629. 179 ) Von 1535 bis 1548 waren die Einkünfte aus den Klosterämtem dem herzoglichen Kammergut zugeflossen. Die Verwaltung hatte landesherrlichen Amtleuten, der Landschreiberei und den Räten oblegen: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 177 ff., 182 f. 18 °) Sie waren von 1520-1535 auf Antrag der Landschaft ausgeschlossen gewesen: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 25; vgl. auch Benzing, Stadt und Amt (wie Anm. 6), 75 ff. m ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 210. 182 ) Ebd., 199; der Versuch, diese auf den Tübinger Vertrag vereidigen zu lassen, scheiterte: ebd., 203. Siehe hierzu Carsten, Princes (wie Anm. 25), 26f., wo angedeutet ist, daß der Herzog 1551 versucht haben könnte, seine Vögte in die Position landsässigen Adels (respektive der Prälaten) zu schieben, indem er für sie Landstandschaft qua Amt und Lehen respektive Eigen einforderte. Aufschlußreich ist auch, daß der kleine Ausschuß zu einer kurz vor Ende des Landtags 1565 angesetzten Beratung mit den Räten wegen des Erbrechts (Landrecht) einige Amtleute hinzuzog, um die Lage in den Ämtern besser dokumentieren zu können: HStAST L6 1281 (Auszug aus den Tomi Actorum Provincialium). I8 -') Die Hinweise bei Grube, Landtag (wie Anm. 14), 238, lassen sich, da er Sammelanmerkungen verwendet, nicht in die Quellen verfolgen; nach Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 186, wirkten die Klosterämter im 17. Jahrhundert bei der Bestellung der Prälaten mit und trugen ihre Anliegen den Abgeordneten benachbarter Städte und Ämter auf. Leider
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dere scheint die politische, aber auch die verfassungsrechtliche Funktion des großen Ausschusses, dessen wichtigste Funktion neben der Bewilligung von Hilfsgeldern die Mitwirkung an der Ausarbeitung und „Vergleichung" landesweiter Ordnungen und der Kodifizierung des Rechts war, unterschätzt zu werden 184 ). Beide Ausschüsse waren an einen von Landtag zu Landtag erneuerten „Staat" mit zum Teil recht konkreten Anweisungen gebunden 185 ). Ihr Auftrag war zudem durch besondere Gewälte abgesichert186). Der große Ausschuß, der stets den kleinen einschloß 187 ), nahm im Auftrag des Landtags ein Beratungs- und Konsensrecht vor allem im Bereich der Gesetzgebung wahr, dessen Reichweite in der Regel von diesem im voraus festgelegt wurde188). In seinen Auftrag konnten daher die Abschiede vorangegangener Landtage ebenso wie die Gewälte der Städte und Ämter explizit einfließen. Je deutlicher die Landtagsgewälte heraustrichen, daß ihre Inhaber auch die Ämter und Gemeinden repräsentieren sollten, desto klarer waren auch die Ausschüsse an deren Konsens gebunden - und dies um so offenkundiger dort, wo sie beanspruchten, die auf dem Landtag nicht mehr verhandelten Spezialgravamina zu regulieren, die von den Betroffenen genausogut in Form einer Supplikation persönlich oder
fehlen die Belege. - Die Akten im HStAST zum Ausschußwesen wurden im Frühjahr 1996 neu verzeichnet. Eine Einsichtnahme war für diese Arbeit nicht mehr möglich. 184 ) Nur am Rande erwähnt wird der große Ausschuß bei Ludwig Timotheus Spittler, Entwurf einer Geschichte des engeren landschaftlichen Ausschusses. Göttingen 1796 [Nachdruck in: Gesammelte Werke. Hrsg. v. K. Wächter. 13. Bd. Stuttgart/Tübingen 1837, 16156], 185 ) Der erste erging für beide Ausschüsse 1554: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 213; nicht gedruckt bei Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), dessen Überlieferung erst 1608 beginnt: ebd., II, Nr. 53. ,86 ) Die Abgeordneten Neuenbürgs wurden 1552 ermächtigt, einen „Ausschuß helfen zu machen, einen oder mehr Aftergewählte an ihre Statt zu setzen oder zu widerrufen", um den Gewalt wieder an sich zu ziehen: HStAST A34 B ü l 4 , Nr. 2. 1620 ermächtigten die meisten Gewälte die Abgeordneten zur Übertragung an die Ausschüsse: ebd., Bü37, Nr. 5; vgl. dazu Kap. 1.3. - 1597 verweigerte der große Ausschuß einen vorbehaltlosen Beschluß wegen der Afterlehnschaft mit der Begründung, nur die sechs Zusätze besäßen hierzu einen Gewalt: Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), 1. Bd. 480ff.; 1608 erteilte der Landtag dem kleinen Ausschuß für die Vergleichung etlicher Gravamina ausdrücklich Gewalt: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 52, 303. ,87 ) Ebd., II, Nr. 36, 116f.; dem kleinen Ausschuß gehörten zwei Prälaten und sechs Vertreter der Städte und Ämter an, für den großen Ausschuß wurden die Zahlen jeweils verdoppelt. Siehe auch Lehmann, Landstände (wie Anm. 15), 190ff.; Grube, Landtag (wie Anm. 14), 197ff., 213ff. I88 ) Landtagsabschiede 1551, 1554, 1565: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nrr. 33, 36, 37; bemerkenswert ist, daß selbst die auf der Halsgerichtsordnung des Reiches beruhende Malefizordnung dem Landtagsabschied von 1565 gemäß mit dem großen Ausschuß überarbeitet und verglichen wurde: ebd., Nr. 37, 133 f. Aber auch die Verhandlungen über den Erbvertrag von 1593 führte ein durch Vertreter aus acht „Ortsstädten" (gemeint sind die befestigten Grenzstädte) verstärkter Ausschuß: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 238, 249; vgl. dazu oben Anm. 38.
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durch einen Anwalt bei der Kanzlei eingebracht werden konnten 189 ). All dies zeigt, daß eigentlich nicht die Rede davon sein kann, daß die Untertanen durch die Ausschüsse nicht repräsentiert worden seien. Im übrigen hat schon Grube darauf hingewiesen, daß vor allem der große Ausschuß nach Bedarf erweitert werden und auf diese Weise auch „qualifizierte Personen aus den Amtsdörfern" in seine Entscheidungsfindung einbeziehen konnte 190 ). Möglicherweise geht diese Regelung auf den Landtagsabschied von 1551 zurück, in den auf Anregung der Stände wegen der Besetzung des beratenden Ausschusses die Bestimmung aufgenommen worden war, daß „ein Jeder Prälat vnnd Ambt, so nit in disenn aussschus verordnet, durch sich selbs vnnd seine gesanndten, vf solchem versamblungs vnnd aussschus tag erscheinen, vnd seiner beschwerden halber bericht thon mag, Doch dieselbigen gesanndten in obberürten außschuß nitt gelassen werdenn" sollten 191 ). Tatsächlich saßen in diesem erweiterten Ausschuß, der unter anderem das Landrecht zu beraten hatte, bereits acht Prälaten und vierundzwanzig Vertreter der Städte und Ämter 192 ). Daß in der zitierten Klausel neben den Prälaten von Ämtern und nicht etwa von Städten die Rede ist, wird man kaum für einen Zufall halten dürfen. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß es hier um das Recht - und damit implizit auch um das Beschwerderecht - der Ämter, vornehmlich der Klosterämter ging. Unterstützt wird diese Interpretation durch die Überlieferung zur Entstehung der württembergischen Bauordnung, deren Entwurf zusammen mit den Bedenken der Landschaft 1565 dem Landtag vorgelegt wurde. Dieser übertrug die weitere Bearbeitung dem großen Ausschuß, dem diesmal der Adelberger Abt angehörte 193 ). Auf dem Rand der von ihm verwendeten Kopie der Bauordnung finden sich die Bedenken der Adelberger Gerichtsverwandten notiert, mit denen die Ordnung einem Notizblatt zufolge am 11. November 1566 durchgegangen worden war 194 ). Die Zuziehung vom Ausschuß ad hoc berufener Zusätze wurde erstens mit der Notwendigkeit begründet, Fachleute zu hören, zweitens wollte man mit 189 ) Supplikationen und Gravamen konnten parallel laufen. Bereits suppliziert hatten die vier Amtleute des Blaubeurer Amtes, die sich 1552 wegen ihrer Holzforderungen beschwerten (HStAST A34 Bül3b, Nr. 1), ebenso das Gericht Eningen wegen der Frondienste: ebd., Nr. 5, Beilage zum 2. Vogtbericht. Dazu Kap. 3. 190 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 238. 191 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 33, 96. 192 ) Ebd., 95 f. Die Prälaten mußten persönlich erscheinen; von den Städten sollte „ein geschickter verstendiger Man hierzu" gewählt werden. Abgeordnete für den Ausschuß mußten demnach nicht dem Magistrat, ja nicht einmal dem Stadtbürgertum angehören. Vgl. Grube, Landtag (wie Anm. 14), 238. 193 ) Darin saßen Vaihingen, Markgröningen, Urach, Schorndorf, Nürtingen, Tübingen, Herrenberg, Kirchheim unter Teck, Stuttgart, die Prälaten zu Maulbronn und Adelberg und der Propst zu Denkendorf. 194 ) HStAST L6 1301 (enthält Abschriften des Archivars Adam aus den, zum großen Teil verbrannten, Landschaftsakten zur Bauordnung).
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der rechtzeitigen Anhörung der Betroffenen späteren Klagen und Beschwerden zuvorkommen 195 ). Insbesondere das zweite Argument verweist auf das der frühneuzeitlichen Gesetzgebung anhaftende Legitimationsproblem und damit auf die Frage von Repräsentation und Konsens, bei der es je länger desto mehr nicht allein auf kommunale oder zünftische Korporationen ankam, sondern auch auf rechtlich nicht verfaßte Personengesamtheiten und Individuen. Gegebenenfalls ließ sich also über den großen Ausschuß das in der Repräsentationslehre vielfach angezogene Prinzip „Quod omnes tangit" in Anspruch nehmen 196 ), das auf den Landtagen nur bedingt umsetzbar war. Für die württembergischen Ämter bedeutete die Einrichtung erweiterter Ausschüsse, daß die Privilegien der Klosterherrschaften und die Landtagsverordnung von 1515, die lediglich den Prälaten und den städtischen Magistraten eine eigene Stimme einzuräumen schienen, übergangen werden konnten, ohne daß diejenigen der dort festgeschriebenen Rechte, auf die sich die vereinigte gemeine Landschaft nach wie vor stützen wollte, zur Disposition gestellt werden mußten. Uber die Beteiligung von Gemeinden, Zünften, Bauernschaften oder sonstiger Korporationen oder Personen(-gesamtheiten) an der Ausschußarbeit ließ sich das Gesetzgebungs- und Ordnungswesen näher an jene älteren, mit hoher Verbindlichkeit ausgestattenen Vereinbarungen heranrücken, welche zwischen Herrschaften und Landschaften (oder einzelnen Ämtern und Gemeinden) respektive zwischen Herrschaften und Lehnsleuten oder Gerichtsuntertanen seit jeher getroffen worden waren 197 ). Welche Gefahren dies barg, wird noch zu erörtern sein 198 ). In jedem Fall hatten Versammlungen zur Vorbereitung von Verhandlungen und Beschlüssen auf der Ebene der Ämter in Württemberg Tradition 199 ), auch wenn Amtsversammlungen, die dazu dienten, Landtagsabgeordnete zu instruieren und mit diesen während des Landtags zu kommunizieren, der Forschung zufolge erst im 17. Jahrhundert aufkamen. Der Übergang zu einer solchen Repräsentation war fließend und setzte jedenfalls früher ein, als bislang vermutet. Der Gewinn, den die Überwindung des älte195 ) Ausdrücklich für die Regulierung der Fleischversorgung, implizit für die Bauordnung im Landtagsabschied 1565: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 131, 133. 196 ) Yves M.-J. Congar, Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten. 2 Bde. 1. Bd. Darmstadt 1980, 115-182, v.a. 120 ff. zur Unterscheidung zwischen dem, was den einzelnen, und dem, was die Gesamtheit betrifft. Vgl. dazu Hofmann, Repräsentation (wie Anm. 10), 2 0 0 f „ aber auch 210. 197 ) A m deutlichsten in den Forstordnungen: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nrr. 4 und 7. 198 ) Kap. 3. ' " ) „Amtsausschüsse" oder „Deputationstage" gab es auch im 16. Jahrhundert: Grube, Amtsversammlung (wie Anm. 1), 200, mit Belegen aus den Ämtern Leonberg und Urach. Vgl. Kap. 2.2.
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ren, vom Lehns- und Korporationsrecht her bestimmten Verfahrens brachte, lag darin, daß Vergleiche mit der Herrschaft, wenn sie auf der rechtlichen Grundlage der Landesfreiheiten geschlossen wurden, einem geordneten Verfahren folgten und damit eine Verrechtlichung der Beziehungen auf einer Ebene garantierten, die herrschaftlichen Übergriffen schwerer zugänglich war 200 ). Diese Entwicklung scheint durch das Ringen um die politische Vertretung und die Steuerkraft der Klosterämter forciert worden zu sein, zugute kam sie jedoch allen Ämtern und Gemeinden, insbesondere aber den württembergischen Hintersassen und Eigenleuten, die ähnlich wie die Klosteruntertanen die Ehre, ihrer Herrschaft in Dingen zu raten, die ,über ihren Horizont' gingen, nicht ohne weiteres in Anspruch nehmen konnten. Im 17. Jahrhundert löste sich die Repräsentation des politischen Willens in Württemberg etwas, aber keineswegs vollständig vom altständischen honor, wobei sicherlich eine Rolle spielte, daß durch die Wirren und Nöte des Dreißigjährigen Krieges überall im Lande Hilfe rar und guter Rat teuer geworden war.
2.2. Ämterbeschwerden auf Landtagen zwischen 1551 und 1629 Auf dem ersten Landtag Herzog Christophs im Januar 1551, der im Zeichen des Interims und der habsburgischen Ansprüche auf Württemberg stand, konnte die Landschaft weder die Bestätigung des Tübinger Vertrages noch eine Diskussion der von ihr vorgetragenen Gravamina erreichen 201 ). Auf Antrag der Stände wurde jedoch ein Ausschuß aus vier Prälaten und zwölf Abgeordneten der Landschaft zur Vorbereitung eines Anschlußlandtags eingesetzt. Spätestens für diesen im April gehaltenen Landtag reichten die Städte und Ämter eigene Gravamina ein, aus denen der Vörbereitungsausschuß gemeine Beschwerden zusammenstellte 202 ), die mit den Anbringen des Landtags, denen es vor allem um die grundsätzliche Restituierung und Absicherung der Landesfreiheiten ging, den Verhandlungen zugrunde gelegt wurden. Ein Teil dieser Eingaben fand durch die Bestätigung und Erläuterung des Tübinger
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) Quarthai. Landstände (wie Anm. 36), 38 ff., beurteilt die Wirkung des Tübinger Vertrags wohl zu skeptisch. Siehe Kap. 3. *201) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 197 ff. Nachdem Ulrich im November gestorben war, nahm Christoph, um habsburgischen Ansprüchen zuvorzukommen, die Erbhuldigung noch im alten Jahr, ohne Erläuterung oder Bestätigung des Tübinger Vertrags ab - gegen den Protest etlicher Stände, die nur gegen die ausdrückliche Zusicherung eines Landtags nachgaben. 202 ) Das Landschaftsarchiv erlitt im Krieg große Verluste. Gravamina für 1551 scheinen nur vereinzelt erhalten zu sein: HSt AST A34 Bü 11, Nr. 4; für Stadt und Amt Homberg ebd., Bül3b, Nr. 3; dazu siehe unten.
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Vertrages eine Lösung 203 ), andere konnten im Landtagsabschied verglichen werden, etliche hingegen wurden negativ beschieden oder vertagt 204 ). Die Beratung und Verhandlung der überwiegend unerledigt gebliebenen Gravamina wies der Landtag wiederum an einen Ausschuß (acht Prälaten und vierundzwanzig Vertreter der Landschaft). Dem Landesherrn sollte der Ausschuß dazu dienen, die Gelder zur Wiederherstellung seiner Kreditwürdigkeit beizubringen; dem Landtag selber war vor allem dessen legislatorischer Auftrag wichtig, bei dem es um die Maßnahmen gegen die Wilderer, die Regulierung der Klagen über das Forst- und Jagdwesen und den Entwurf eines Landrechts ging. Erst nachdem der Landtag vom Januar 1552 die Erarbeitung des Landrechts erneut beschlossen hatte, schritt man in althergebrachter Weise zur Realisierung des Unternehmens 205 ): Alle Städte, Ämter und Flecken sollten dem Ausschuß innerhalb vier Wochen eine Aufzeichung ihrer Rechte und Freiheiten einreichen 206 ). Der Landtag ergriff die Gelegenheit, um zwei weitere Aufstellungen anzufordern, nämlich eine über die Gelder, mit denen sich Städte, Ämter und Flecken für Herzog Ulrich - vor allem seit 1534 - hatten verschreiben müssen, und eine andere über die Lasten und Schäden, die sie wegen der jüngsten Kriegshandlungen erlitten hatten. Das heißt, er machte vom Kommunikationsrecht des Ausschusses Gebrauch, um Beweise und Argumente zu sammeln. Denn die durch die Herrschaft bereits stark in Anspruch genommenen finanziellen Ressourcen der Städte, Ämter und Gemeinden galten als Ausgangslage für die Verhandlungen auf dem kommenden Landtag, bei dem es darauf ankommen würde, sowohl die Kreditsumme zu drücken als auch entsprechende Gegenforderungen zu stellen - Gegenforderungen, die es ermöglichen würden, die landesherrliche Innen- und Außenpolitik gewissen Reglementierungen zu unterwerfen 207 ). Dies schien um so notwendiger, nachdem der Landtag mit zwei seiner wichtigsten Initiativen zur Absicherung seiner Klientel - nämlich der Vereidigung der Amtleute auf den Tübinger Vertrag und dessen Verlesung vor allen Gemeinden in Stadt und Amt - gescheitert war 208 ). Über die nun eingeleitete Ämterumfrage ließ sich insofern Boden gut machen, als diese drei direkte Verbindungslinien von den Freiheiten, Rechten
203
) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 32; v.a. sollte jede Stadt ein Exemplar erhalten. 204 ) Ebd., Nr. 33; Grube, Landtag (wie Anm. 14), 197ff. 205 ) Bereits der Landtag 1522 hatte beschlossen, daß „zu des gemeinen Landrechtens desto stattlicherer berathschlagung jede Statt vnd amt Ihre recht, gebrauch und alte gewohnheiten in schrifften verfaßt zur landschafft einschickhen" sollten: HStAST A34 BÜ1281. 206 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 201 ff. Der Landtag endete am 12. Januar, die Einsendung der Aufstellungen sollte bis zum 7. Februar erfolgen: ebd., 203 f. 207 ) Da alle Landtage des Jahres 1552 ohne Abschied blieben, finden sich entsprechende Regelungen erst im Abschied von 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 117f. Vgl. dazu Grube, Landtag (wie Anm. 14), 212f. 208 ) Ebd., 203. Immerhin sollte, wer dies begehrte, den Vertrag einsehen können.
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und Pflichten der Untertanen in Städten und Ämtern zu den Freiheiten des Landes und den Pflichten der Landesherrschaft zog, nämlich von den Rechten und Freiheiten von Personen und Korporationen (Erbe, Eigen, Vertragsfreiheit, Gerichtsbarkeit) zum Landrecht; von der Pflicht der Landstände zu Rat und Hilfe zum Recht, alle partikularen Verschreibungen und Verpfändungen zurückzuweisen 2 0 9 ); von der Pflicht, im Verteidigungsfalle Mannschaft und Gespanne zu stellen, zum Recht, den Landesherrn vom Kriegführen abzuhalten und ihm, wo dies unvermeidbar war, seinen eigenen Beitrag unverkürzt abzuverlangen 210 ). Diese Bezüge aber lassen sich in die Beschwerden der Städte und Ämter hinein verfolgen.
2.2.1. Ämterumfragen - Anlaß, Verlauf und Wirkung Mit den Aufstellungen ihrer Freiheiten, Schuldverschreibungen und Kriegskosten reichten die Städte und Ämter im Frühling 1552 - wie kaum anders zu erwarten - dem Ausschuß erneut auch ihre sonst noch anstehenden Beschwerden ein 211 )- Bezeichnend für die Art der Kommunikation zwischen den Ausschüssen und der Regierung in dieser frühen Zeit ist, daß diese Informationen und Unterlagen nicht beim Ausschuß verblieben, sondern an den Landesherrn weitergegeben wurden. Dieser ließ sie durch seine Vögte prüfen und das Ergebnis durch seine Räte begutachten 212 ). Auf die erste Erhebung des Landtags folgte also eine zweite der Vögte - diesmal aber im Namen des Landesherm, der feststellen wollte, wer näher am Recht war, er oder die Ämter und Kommunen beziehungsweise die gemeine Landschaft, die auf dem nächsten Landtag im Namen derselben materielle, rechtliche und politische Forderungen formulieren würde. Mithin waren die Korporationen zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit genötigt, sich über ihre Rechte und Pflichten Gedanken zu machen und sich damit auseinanderzusetzen, welche Möglichkeiten bestanden, diese zu bewahren, welche Gefahren, sie zu verlieren. Daß die Lage in den Ämtern durchaus in Beziehung gesetzt wurde zur Arbeit des Landtags und sei209
) Vgl. Anm. 43 und 243. °) Zur Auseinandersetzung um diese Fragen siehe Grube, Landtag (wie Anm. 14), 205 ff.; seine Kritik an der Zurückhaltung des Herrenberger Landtags im Hinblick auf (GM-)Hilfe, vor allem aber von Rat zu militärischen Unternehmungen greift angesichts der weitreichenden Folgen solchen Engagements zu kurz. So erklärte Habsburg die Landschaft nach der verlorenen Schlacht bei Nördlingen 1634 ihrer Freiheiten für verlustig, weil sie militärisch involviert war: ebd., 313. Zur Haftung vgl. Anm. 39. 2 " ) Den Tuttlinger Beschwerden zufolge war auch dazu eine Aufforderung ergangen: HStAST A34 Bül3b, Nr. 4. 2I2 ) HStAST A34 Bül3b, Nr. 7 und 8 (Befehle vom 23.3. und 15.5.1552). - Die Anfeindungen Herzog Friedrichs führten dazu, daß auf Seiten der Landschaft nicht allein die Verhandlungen der Vorbereitungsausschüsse zunehmend geheim gehalten, sondern auch die Gravamina dosiert, gezielt und mit Sorgfalt eingesetzt wurden. Vgl. Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), 2. Bd., v.a. zu den Landtagen 1599 und 1605. 21
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ner Ausschüsse, zeigt sich unter anderem daran, daß in den Beschwerden auf die neue Forstordnung Bezug genommen wurde. Diese war - anscheinend ohne vorherige Vergleichung oder Beratung mit der Landschaft - sozusagen im letzten Moment, nämlich einen Tag vor Beginn des Landtags im Januar, erlassen worden und erwies sich als ziemlich halbherzige Reaktion auf die Klagen der Gemeinden und die Anbringen der Landtage des Jahres 1551; denn sie minderte die von Ulrich 1540 verfügten herrschaftlichen Eingriffe in die Waldrechte der Gemeinden zwar etwas ab, stellte aber die alten Rechtsverhältnisse keineswegs wieder her 213 ). Im 16. Jahrhundert war eine Erhebung, wie sie den Vögten im Frühjahr 1552 aufgetragen wurde, keine behördeninterne Angelegenheit. Gerade die dörflichen Gemeinden konnten zum Beweis ihrer Rechte und Freiheiten vielfach nicht auf Urkunden, sondern nur auf Zeugenaussagen zurückgreifen. Altes Herkommen aber ließ sich nicht durch die Anhörung der amtierenden Schultheißen oder Gerichtspersonen beweisen, gefragt waren vielmehr vor allem die älteren Einwohner. Die Unwägbarkeiten, denen sich die Landesherrschaft mit derlei Umfragen aussetzte, lassen sich gut am Fall des Amtes Urach zeigen. Der Uracher Vogt hatte sich seiner Aufgabe in einer offensichtlich durchaus herkömmlichen Weise angenommen 214 ). Den Uracher Magistrat befragte er, da er am Ort saß, persönlich. Die Nachforschungen wegen der Freiheiten und Beschwerden der Flecken im Amt hingegen delegierte er an Schultheiß und Gericht derjenigen Amtsorte, die jeweils für eines der Uracher Unterämter zuständig waren. Mit anderen Worten, er wandte sich an Organe, die weitgehend der lokalen Selbstverwaltung dienten 215 ). Mit einer Abschrift der in vierzehn Punkten zusammengestellten Amtsbeschwerden erging an sie die Aufforderung abzuklären, wie man in ihrem Amt die angegebenen Rechte, Freiheiten und Klagen zu beweisen gedenke. Den Rücklauf legte er seinem Bericht bei und glaubte, sich von daher in seinen Ausführungen, was das Amt betraf, kurz halten zu können 216 ). Ausdrücklich unterstützte er jedoch die in den Amtsgravamina von sämtlichen Amtsflecken an den Landesherrn gerichtete Bitte, wegen der zahlreichen Forstbeschwerden „der grossen vnnd hohen nottdurfft nach, auch wie vf dem gehaltnen Landttag Abgeredt vnd beschlossen worden" sei 217 ), einen Augenschein vornehmen zu lassen 218 ). Weder der Bericht noch
213) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nr. 7, v.a. 5,42ff., 55, 56f.. 69ff.; im Frühsommer, als die Vogtumfragen stattfanden, war sie jedenfalls publiziert. Vgl. den Vogtbericht zu den Gravamina des Amtes Blaubeuren: HStAST A34 Bül3b, Nr. 1. 214 ) Ebd., Nr. 5, die Archivalien sind nicht durchnummeriert; zum Folgenden siehe die beiden Vogtberichte und ihre Beilagen. 215 ) Dazu Peter Blickte, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch. München 1981, 30 ff. 216 ) Ebd., Vogtbericht vom April. Rücklauf von Böhringen, Dettingen, Eningen, Metzingen, Pfullingen, Willmandingen und dem „Kirchspiel" samt Münsingen. 2n ) Ebd., „Beschwerdt In Statt vnnd Ambt Urach", ganz am Ende. - Die Zusage ist im
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das Vorgehen fanden den Beifall des Herzogs. Der Vogt zog sich vielmehr eine schwere Rüge zu und wurde aufgefordert, nunmehr zu allen Punkten die Forstbeamten und unabhängige Zeugen zu verhören, einen ordentlichen - gemeint war, einen auf die Interessen des Landesherrn eingehenden - Kommentar beizufügen und nicht zuletzt eine Erklärung darüber abzugeben, wieso es im Laufe seiner Umfrage zu einer erneuten Einreichung von Gravamina aus den Unterämtern gekommen sei. Tatsächlich hatte der Amtmann, so wie er die Sache angegangen war, weit mehr dem Interesse des Amtes gedient als dem des Landesherrn 219 ). Die angefragten Amtsorte hatten sich wegen der Beschwerden und Freiheiten auch bei den ihnen zugehörigen Flecken erkundigt. Während etliche lediglich den korrigierten Umlauf zurückschickten, hatten andere sich veranlaßt gesehen, neue und detaillierte Aufstellungen der Beschwerden ihrer Gemeinden abzufassen 220 ). Die elf Flecken des „Kirchspiels" legten zur Beweisung ihrer Freiheiten einen Auszug aus einem mit Herzog Ulrich geschlossenen Vertrag vor, in dem unter anderem auf die Zusage eines „gemeinen Articells im abschid zu Tuwingen" Bezug genommen wurde 221 ). In einigen Unterämtern hatte man also nachgeholt, was den einzelnen Flecken durch die Zusammenstellung gemeiner Amtsbeschwerden vorenthalten worden war, nämlich eine ausführliche Darstellung ihrer eigenen Position. Aufschlußreich für die Entwicklungsgeschichte von Ämterumfragen, die im Zusammenhang mit der Arbeit des Landtags unternommen wurden, ist eine Passage im zweiten Bericht des Uracher Vogts. Aus einer Zeugenaussage geht nämlich hervor, daß die Mitwirkung der Amtsflecken bei der Vergleichung von landesherrlichem respektive landesweit gültigem Recht nicht allein vor, sondern auch nach dem Tübinger Vertrag durchaus noch gebräuchlich war 222 ). Ludwig Duppelin von Münsingen sagte im Hinblick auf die Forstbeschwerden aus, „als er das Schultheissen ampt vnd den vorst dasselbstenn vor Landtagsabschied von 1551 nicht aufgeführt: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 33, 96. In der neuen Forstordnung fehlte sie: ebd., XVI, Nr. 7. 218 ) Zum Augenschein als gerichtliches, der Urkunde gleichgestelltes Beweismittel: U. Kornblum, Art. „Beweis", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1 9 7 1 , 4 0 1 - 4 0 8 , 4 0 6 . 219 ) Weitaus kritischer die Kommentare der Räte zu den Uracher Beschwerden vom Juli 1552: HStAST A34 Bül3b, Nr. 5. 22ü ) So das „Kirchspiel", Münsingen und Eningen. Pfullingen hatte für den Bericht die „Kundschaft" derer von Unterhausen, Oberhausen. Hönau und Holzelfingen eingeholt: ebd. 221 ) Ebd., Gravamina mit Aufschrift „Die Flecken Inn dem Kirchspil", außerdem der Vertragsauszug; wahrscheinlich handelte es sich um einen im Spätjahr 1514 geschlossenen Vergleich. Vgl. Franz, Quellen (wie Anm. 45), Nr. 15i. - Auf solche Verträge mit der Herrschaft im Anschluß an den Armen Konrad beriefen sich noch bis ins 18. Jahrhundert auch andere Gemeinden: Häfnerhaslach: HStAST A351 Bü50; Eibensbach ebd., A353 Bü75 und A34 Bül8b; zu Hornberg und Tuttlingen siehe unten. 222 ) Siehe dazu oben, einleitend, und Kap. 1.2.
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33 Jarn versehen 223 ), were er In dem Armen Conradt vor vnd nach gemeinlich uf alle Landtäg geritten, damalen Jeder fleckhen alle seine beschwerden Im gantzen land antzaigen vnnd fürbringenn sollen. Deß wer beschehen, hetten sich aber zwischen denen vf der alb vnd volgends an andern orten, da wein wachs vnd anders so vngleiche fäl zutragen, das man nit gemeine vorstordnnung im gantzen land machen megen. Derwegen were das durch gemeine Landtschafft bewilligt, das Iren drey dartzu verordnet, die vf der alb herumber Reitten, vnd aller fleckhen beschwerden anheren sollten, welche dann zugar beschwert vnd die vorstmeister oder knecht zu vast ob den weiden gehalltenn, den sollten sie nach Irem gutbedunckhen ringern. Wa man dann nit darob gehallten, solten sie es nochmalen verschaffen vnd binden" 224 ). Man mag daraus ersehen, daß das Vorgehen des Vogtes zu Urach in einer Tradition stand, derzufolge den Ämtern mehr Mitbestimmung zustand, als man am Hof und möglicherweise auch in Stuttgart oder Tübingen wahrhaben wollte. Im Amt Urach war diese Tradition auch in der Mitte des 16. Jahrhunderts noch lebendig, stieß aber zunehmend auf den Widerstand der Herrschaft. Zu einer ähnlichen Vorgehensweise wie der Uracher Vogt sah sich der Landtag im Jahr 1565 veranlaßt 225 ). Seit 1554 hatten die Ausschüsse Gravamina gesammelt, gesichtet, dem Herzog vorgetragen, auf Ausschußtagen 226 ) diskutiert und mehrfach vergeblich versucht, wegen schwerwiegender Sachen die Einberufung eines Landtags zu erlangen. Jetzt, da man über die vom Ausschuß in vierzehn Punkten zusammengestellten Landtagsbeschwerden verhandeln wollte 227 ), bestritt der Herzog deren Relevanz und Verbindlichkeit. Von Klagen über das Landrecht wollte er nichts gehört haben, andere Beschwerden seien durch Verordnungen behoben oder, als diesen zuwiderlaufend, für hinfällig zu erachten; wieder andere hielt er nicht für allgemein. Grundsätzlich wünschte er genauere Informationen, mit anderen Worten, es wurden Beweise verlangt 228 ). Der Ausschuß stellte also auf der Grundlage der Landtagsbeschwerden einen Fragebogen zusammen, den er allen Amtleuten
223
) Dem Kontext nach ist gemeint, daß er das Amt „für" 33 Jahre versehen habe. ) HStAST A34 Bül3b, Nr. 5, im zweiten Vogtbericht vom 20. August. - Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nr. 1, vermutete, die 1514 zugesagte Forstordnung sei noch vor 1519 erschienen, hatte aber kein Exemplar finden können. Nach Rudolf Kieß, Die Rolle der Forsten im Aufbau des württembergischen Territoriums bis ins 16. Jahrhundert. Stuttgart 1958, 12f., existiert sie nicht. Zwischen 1526 und 1540 seien lediglich etliche Waldordnungen erlassen worden. 225 ) Zum Verlauf siehe Grube, Landtag (wie Anm. 14), 228 ff. 226 ) Siehe Anm. 169. 227 ) HStAST A34 Bül6c, Nr. 18: zwei leicht voneinander abweichende Exemplare, beide unterzeichnet von „Prelaten, Ambtleuth vnnd Gesanndten v.f.g. Landtschafft", gefolgt von den Unterschriften der Mitglieder des (Vorbereitungs-)Ausschusses, dem - nebenbei bemerkt - für St. Georgen ein Konventuale angehörte. 22 ») Ebd. 224
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zustellen ließ mit der Aufforderung, schnellstens zu berichten, wie es hinsichtlich der angesprochenen Beschwerden in ihrem Amt stehe. Zunächst wird wiederum erkennbar, daß die Zuständigkeiten von Herrschaft und Landschaft auf der Ebene von Verwaltung und Gerichtsbarkeit keiner strikten Trennung unterlagen. Amtmann und Gericht oder Schultheiß und Gericht erscheinen, wenn es um die Handhabung von Recht und Gerichtsbarkeit ging, als Einheit. Insofern der kleine Ausschuß als Repräsentant der gemeinen Landschaft dieser Einheit gegenüber als weisungsberechtigt gelten konnte, war es ihm auch möglich, die Amtleute in Anspruch zu nehmen - auch wenn keiner derselben der Landschaft einen Eid geleistet oder auf den Tübinger Vertrag geschworen hatte. Bereits anfang Juni war absehbar, daß man bei dieser Vorgehensweise nicht mehr alle Punkte vor dem Landtag selbst würde verhandeln können. Der Landtag wollte jedoch lieber eine Verweisung an die Ausschüsse in Kauf nehmen als sich in Sachen, die für die Rechte der Stände grundlegend waren, unter Zeitdruck setzen zu lassen 229 ). Von den Rückläufen aus den Ämtern ist soweit ersichtlich - nur der Bericht des Amtmanns des Herrenaiber Klosteramtes Merklingen erhalten 230 ). Er bestätigt, was sich aufgrund der Fragen des verschickten Kataloges schon vermuten läßt, nämlich daß bei dieser Umfrage nicht allein die Schultheißen oder Richter zu Wort kamen, sondern auch einzelne Betroffene: Die Merklinger Metzger etwa klagten wegen der Fleischschatzung, breit geschildert wurde der Fall eines Bürgers von Haugstetten, den der Forstmeister zu unrecht getürmt hatte 231 ). Erst 1582, fast vier Jahre nach seinem Regierungsantritt gab Herzog Ludwig dem hartnäckigen Drängen der Ausschüsse nach, um seinen ersten Landtag einzuberufen 232 ). Neu war, daß das Ausschreiben mit „Rat" des kleinen Ausschusses verfaßt worden war und daß es eine ausdrückliche Aufforderung an die Städte und Ämter enthielt, ihre Beschwerden bis spätestens drei Wo-
229 ) Siehe die Antwort des Herzogs vom 28. Mai und die Reaktion der Landschaft hierauf: ebd., Nr. 20. Wegen des Landrechts wurde zuletzt doch noch eine Umfrage in den Ämtern beschlossen: HStAST L6 1281 (Auszug aus den Tomi Actorum Provincialium). 23°) HStAST A34 Bül6e, Nr. 4. 23 ') Ebd., unter Punkt 3 und 6; sieben Fälle aus Haugstetten und Gächingen sind aufgeführt unter Punkt 7. Zur Beschränkung des Rechts auf Verhaftung, das an sich nur dem Vogt zustand, vgl. die Regimentsordnungen von 1498 und den Tübinger Vertrag: Reyscher, Sammlung (wieAnm. 14), II,Nrr. 14, 16, 18, 19; und die Forstordnung vom 2.1.1552: ebd., XVI, Nr. 7, 51 f. 232 ) Einberufen im Dezember 1582 auf den 16.2.1583; der Abschied datiert vom 17.3.: ebd., II, Nr. 41. Anstatt bei seinem Regierungstritt Landtag zu halten, hatte Ludwig die Stände zu Sylvester 1578 zu einem Festbankett geladen: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 239; daß Städte und Ämter für den (testamentarisch für Ludwigs 24. Geburtstag am 1.1.1579 vorausbestimmten) Regierungswechsel Gravamina vorbereitet hatten, läßt sich daraus schließen, daß Stadt und Ämt Schorndorf 1583 die Erledigung ihrer Gravamina von 1579 anmahnten: HStAST A34 Bül8b.
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chen vor Eröffnung des Landtags einzureichen, damit dieser sie sichten könne 233 ). Wie sich gezeigt haben dürfte, bestand die zweite Neuerung nicht darin, daß systematisch Ämterbeschwerden erhoben wurden, um daraus Landtagsbeschwerden zusammenzustellen, sondern vielmehr in der Regulierung und Anerkennung des dabei angewendeten Verfahrens, das eine praktische wie eine rechtliche Komponente hatte. Zum einen konnte man sich bei guter Vorbereitung kurzfristige Umfragen bei laufendem Landtag ersparen, zum anderen erlangte durch die ausdrückliche Setzung einer hinreichenden Frist zwischen der Einladung, der Einreichung der Beschwerden und der Abhaltung des Landtags das Kommunikationsrecht der Landschaft und das in dieses eingeschlossene Recht der Ämter, Gemeinden und Untertanen, eigene Beschwerden auf die Landtage zu bringen, eine klarere Legitimation. Da Herzog Ludwig bis zu seinem Tode keinen Landtag mehr einberief, konnte aus diesem Präzedenzfall allerdings zunächst keine verfassungsrechtlich wirksame Gewohnheit erwachsen 234 ). Herzog Friedrich, der überhaupt nicht geneigt war, die Beschwerden der Ämter in die politische Waagschale fallen zu sehen, ging sogar soweit, den Ausschüssen zu unterstellen, daß sie dieselben erfunden oder den Untertanen in den Mund gelegt hätten, wogegen sich der Landtag mit dem Hinweis verwahrte, die Gravamina seien von den Betroffenen stets unterschrieben 235 ). Schon zeichnete sich also ab, daß die Gültigkeit des Beschwerde- wie des Kommunikationsrechts letztendlich davon abhängen würde, ob die Landschaft ihre Klientel tatsächlich hinter sich brachte, das heißt, nachweislich repräsentierte. Herzog Johann Friedrich hatte zwar die von seinem Vater zuletzt stark beschnittenen Rechte der gemeinen Landschaft restituiert, bald findet man aber auch seine Regierung auf Konfrontationskurs 236 ). Was ein breiter Widerstand aus den Ämtern des ganzen Landes politisch bedeuten konnte, wurde auf dem Landtag 162 1 237 ) klar. Denn die Landschaft, die aus den jüngsten Auseinandersetzungen um die Spezialgravamina und ihr Kommunika233
) So Grube, Landtag (wie Anm. 14), 240. ) Später war auf Beschluß der Regierung und der Ausschüsse noch einmal eine allgemeine Ämterumfrage zur Feststellung der „dubia und bedenken" gegen die „landsordnung und rechten" durchgeführt worden, an die sich aber keine Verhandlungen anschlössen: Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), 1. Bd., Nr. 99, 227. - Noch 1686 mußte der große Ausschuß darauf bestehen, daß bei künftigen Landtagen eine Frist für die Einreichung der Gravamina gesetzt werde, damit man dieselben in die Verhandlungen einbeziehen und wie es dem Recht der Landschaft entspreche - abstellen könne: HStAST L6 BU1275, Nrr. 23, 24. 235 ) Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), 1. Bd., Nr. 154, 327. 236 ) Siehe Kap. 1.1. und Kap. 1.3. 237 ) Grube, Landtag (wie Anm. 14), 286 ff., berichtet über diesen und die übrigen Landtage bis 1629 fast auschließlich unter der Fragestellung der Landesverteidigung. Auch Carsten, Princes (wie Anm. 25), hält sich hier knapp. Über die Entwicklung des Beschwerderechts in dieser Zeit ist daher wenig bekannt. 234
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tionsrecht gelernt hatte, nutzte den Beschwerdedruck, der sich in den Ämtern wegen des neulich erlassenen Münzmandats aufgestaut hatte, um die Regierung zur Kassierung dieses Mandats zu zwingen 2 3 8 ). Die im Spätsommer in sämtlichen weltlichen Ämtern und geistlichen Verwaltungen veranstaltete Umfrage belegt, daß nicht allein die Untertanen das Mandat ablehnten, sondern auch die Amtleute damit nichts zu tun haben wollten 2 3 9 ). Sicherlich brachten der Krieg, die Zeitläufe und vor allem der 1629 am Tage liegende vollständige Bankrott des Landes eine besondere Dynamik in die Dinge. Dennoch gilt, daß das auf dem großen Landtag desselben Jahres durch Abschied abgesicherte Recht, Spezialgravamina auf Landtagen zu verhandeln und zu vergleichen, nicht neu war, sondern in altem Herkommen gründete 2 4 0 ).
2.2.2. Das Amt als
Beschwerdeführer
Von den im Frühjahr 1552 eingereichten Gravamina sind die der weltlichen Ämter Blaubeuren, Göppingen, Hornberg, Tuttlingen und Urach erhalten 241 )Bei Tuttlingen, dessen Hoch- und Blutgerichtsbarkeit nicht weiter reichte wie der Stadtbezirk, konnte von einem Amt im Sinne eines auf Landrecht und Landesdefension begründeten Bezirks an sich nicht die Rede sein 2 4 2 ). Dessen ungeachtet reichten „Statt vnd Ampt Tuttlingen" beim Ausschuß Beschwerden ein 2 4 3 ). Das „Ampt" war darin durch eine Aufstellung der erlittenen Kriegsschäden vertreten; außerdem klagten diejenigen „Amtsflecken", die der fürstenbergischen Vogtei unterlagen, daß diese höhere Frevel ansetze, als die württembergische Landesordnung vorsehe, und sie trotz der Gerichtsprivilegien Württembergs vor das fürstenbergische Landgericht gefordert wür-
238
) Vgl. dazu Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 303, 307; siehe HStAST A34 BU38b. ) Die Amtsschultheißen des Amtes Böblingen etwa weigerten sich, den geistlichen Verwaltern Amtshilfe bei der Eintreibung der Gülten zu gewähren, die mit Hilfe des Mandats, das die Münzverschlechterung zugunsten der Herrschaft ausgleichen sollte, deutlich erhöht worden waren: ebd. 24 °) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 56, 338f.; vgl. Kap. 1.1. 241 ) HStAST A34 Bül3b, Nrr. 1-5. Bei allen handelt es sich um relativ ausgesetzte Grenzämter. Siehe Historischer Atlas (wie Anm. 152). 242 ) Die Vogteirechte für zwei Dörfer lagen, nach Aussage der Aufstellung in den Gravamina, bei Nellenburg respektive Hohenberg (beide habsburgisch), für die sieben anderen bei Fürstenberg: HStAST A34 Bü 13b, Nr. 4. Der württembergische Amtsbezirk war daher durch die Kellerei gegeben. 243 ) Ebd. Die Stadt Tuttlingen selbst, seit 1420 württembergisch und ohne besondere Freiheiten, berief sich auf den Landtagsbeschluß und forderte im ersten Punkt ihrer Gravamina die Einhaltung des Tübinger Vertrags, im zweiten „wie villeicht ain gemain Landtschafft auch beschwere" die Aufhebung des Schloßgeldes, im dritten die herkömmliche Lieferung der Materialen zur Erhaltung ihrer Stadtmauern. Aus der Aufstellung ihrer Schadlosbriefe geht hervor, daß sie für den Herzog mit der unerhörten Summe von 51 828 Gulden verschrieben war. Vgl. Anm. 43. 239
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den 244 ). Obwohl in den hier vorliegenden Quellen einzelne Dorfgemeinden oder Lehnsbauern nicht zu Wort kommen, wird man doch vermuten dürfen, daß auch die Beschwerden der zur Tuttlinger Kellerei gehörigen, lediglich durch Grund- beziehungsweise Niedergerichts- und die zugehörigen Vogteirechte an Württemberg gebundenen Höfe und Dörfer grundsätzlich als , landtagsfähig' galten.Weitaus deutlicher als hier wird das Beschwerderecht der Ämter, Gemeinden und Untertanen im Fall der vier anderen, Württemberg ganz zugehörigen Ämter. Das (weltliche) Amt Blaubeuren war - genau wie das oben schon erwähnte Amt Urach - in Unterämter eingeteilt. Sie gingen auf die vier den Amtsflecken Asch, Suppingen, Berghülen und Gerhausen zugehörenden Gerichte zurück. Diese vier Gerichtsdörfer brachten „sampt den zugehörigen Weyllern" Gravamina ein, die unter dem Titel „Gemainer Flecken Blawbeurer Ampts-Beschwerung Artickell" zusammengestellt waren 245 ). In fünf Hauptartikel unterteilt, enthält diese Aufstellung erstens Klagen wegen des „vorstmeisters Amptung", zweitens „Beschwerdt Artickell das Zimmer: vnnd Bawholtzes belanngenndt", drittens „Beschwerdt des Äckers halber" 246 ), viertens „an der gemain Anligent Beschwerden", die sich vor allem gegen die Stadt richteten, und fünftens und „beschlußlich" die besonderen Beschwerden der beiden Müller an der Blau. Auf wen diese Zusammenstellung zurückgeht, wird nicht klar ersichtlich. Die Beschwerden der Stadt und die des Amtes sind von ein und derselben Hand aufgezeichnet und tragen keine Unterschrift. Aufgrund entsprechender Formulierungen könnte angenommen werden, daß die Niederschrift durch den Stadtschreiber anhand des Protokolls einer mündlichen Anhörung, vielleicht vor dem Stadtgericht, erfolgte 247 ). Zwar läßt sich nicht ausschließen, daß derselbe auch die - sogleich zu besprechende - Gliederung der Beschwerden vornahm, aus diesen selbst wird aber hinreichend deutlich, daß die Blaubeurer Gerichte ein ziemlich klares Bild von den für ihr Recht auf Beschwerde relevanten korporativen Strukturen besaßen. Die Beschwerden waren ausdrücklich als gemeine Amtsbeschwerden ausgewiesen. Sie berührten verschiedene Bereiche und vor allem verschiedene rechtliche - und damit auch repräsentative - Ebenen, auf die etwas näher einzugehen ist: Das „Gemain Ampt" brachte Beschwerden gegen den Entzug von Nutzungen im Herren- und Klosterwald vor. Diese Klagen richteten sich, auch 244
) Die „Amptsflecken" hatten ihren Registern zufolge zusammen 455 Gulden an Kriegsschäden zu verrechnen. 2 « ) HStAST A 3 4 B ü l 3 b , Nr. 1, die Amtsbeschwerden. 246 ) Gemeint ist die Eichelmast der Schweine. 247 ) Die Flecken „klagen" oder „zaigen an". Es „Begert nun gemain Ampt Blawbeuren mit vndertheniger bitt", die vier Flecken „Sehen [...] für nutz vnd gu(o)t an"; „beclagen sich Auch die Miller zü Gerhusen vnd die An der Blaw (:Jeres vermainens vsser vnuermydenlicher notturfft:)" usw.
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w e n n sie z u n ä c h s t s e i n e B e a m t e n und Räte z u treffen s c h i e n e n , g e g e n d e n H e r z o g . A u f dieser E b e n e klagten als A m t und mit d e m A m t alle vier Gerichte g e m e i n s a m 2 4 8 ) , ferner e i n z e l n e Gerichte, Gerichtsdörfer und W e i l e r 2 4 9 ) , s o dann d i e A m t l e u t e der vier G e r i c h t e 2 5 0 ) , d i e „ s e c h s vnnderthannen
vnd
A m p t z s a n g e h ö r i g e n zu S u n d e r b ü c h " 2 5 1 ) und d i e M ü l l e r zu G e r h a u s e n und an der B l a u . Z u m anderen klagte das A m t „ g e m e i n l i c h e r w y s " g e g e n d i e persönl i c h e A m t s f ü h r u n g d e s Forstmeisters. D i e s e A m t s b e s c h w e r d e w u r d e durch G r a v a m i n a aller vier Gerichtsdörfer i n s g e s a m t , s o w i e durch die B e s c h w e r d e d e s G e r i c h t s d o r f e s A s c h i m b e s o n d e r e n ergänzt. Drittens w u r d e n vier „an der g e m a i n anligendt B e s c h w e r d e n " vorgebracht, sie s i c h z u m e i n e n g e g e n d i e Stadt, z u m anderen g e g e n landesherrliche O r d n u n g e n richteten. D i e Stadt, s o heißt es, w o l l e das A m t an e i n e n Vergleich b i n d e n , d e s s e n G r u n d l a g e hinfällig g e w o r d e n s e i 2 5 2 ) . Ferner habe sie s i c h mit H i l f e d e s früheren V o g t e s „hinderrucks v n n d o n e züuor verhörung Jer deren I m a m p t " ein S a l z m o n o p o l erschlic h e n . A u c h d i e neuerlich durch Mandat e r l a s s e n e n
Handelsbeschränkun-
g e n 2 5 3 ) , d i e o f f i z i e l l g e g e n d e n Fürkauf und W u c h e r gerichtet waren, vor all e m aber d e n landesherrlichen U m g e l d e i n n a h m e n z u g u t e k a m e n und bei der
248
) „Begert nun Gemain Ampt Blawbeuren mit vnderthäniger bitt", daß man die vier Gerichte bei einem Vertrag belasse, der neuerdings bedrohte Rechte auf die Eichelmast garantiere und außer für die Wälder der Gemeinden auch für die Wälder von Sonderpersonen gültig sei; ebd. Gemeint war wohl der Wald des Klosters, in dem ein Teil der Untertanen des Blaubeurer Amtes Nutzungsrechte hatte. 249 ) Einzeln klagten die Gerichte Berghülen, Gerhausen und Asch, wobei (wohl wegen abweichender Rechte) die Weiler Beiningen (Gerhausen) und Weiler (Asch) besonders aufgeführt sind. Das Gericht Wippingen, ehedem zum Blaubeurer Amt gehörig, ist nicht erwähnt. Vgl. Historischer Atlas (wie Anm. 152). 250 ) Gemeint sind die Schultheißen der Gerichtsdörfer, denen das von der Herrschaft zu stellende Brennholz verweigert wurde. Vgl. den Nebenabschied des Tübinger Vertrags: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 19, 48. 25 ' ) Sonderbuch lag im Klosteramt. Die sechs Höfe standen unter württembergischer Vogtei, gehörten also unter die Malefizgerichtsbarkeit der Stadt und von daher ins Amt. Vgl. Historischer Atlas (wie Anm. 152), dazu das Beiwort von Elmar Blessing. 252 ) Die Dörfer des Klosters Blaubeuren waren bis zum Interim (1548) dem weltlichen Amt einverleibt (d.h. dessen Amtsschaden unterworfen) gewesen. Auf dieser Grundlage hatte die Stadt einen Vergleich mit dem Amt wegen dessen Beitrag zum Mauerbau erlangt. Seitdem die Klosterämter wieder separiert waren, weigerten sie sich zu zahlen, so daß den verbliebenen Orten ein zu großer Anteil zufiel. Vgl. auch die Beschwerden der Stadt. 253 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 48; es wurde in großem Bogen gerechtfertigt: „Derhalben [...] wir vns in krafft, vnsers von Gott empfangnen Ampts, vnd von Oberkeit wegen, schuldig erkennen" dem Fürkauf und Wucher „zu weren, Auch vnsern armen Vnderthonen, in jren obligenden hungersnötten, die hand zubieten, sie vordisen eigennützigen Geitzwürmen zu beschirmen, Auch, als die vns von Gott vndergeben, in jren beschwerden vnd obligen gnädiglich vnd vätterlich zubedenken". Auf Zuwiderhandeln stand die Konfiskation der Ware und eine Strafe. - Wie man dieses „angestrengt moralische Herrschaftsdenken" (Willoweit, Gesetzgebung [wie Anm. 84], 143) zu beurteilen hat, ist tatsächlich schwer zu sagen. Zugänge bietet die Arbeit des Theologen James W. Jones, Contemporary Psychoanalysis and Religion. Transference and Transcendence. New Häven/ London 1991.
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abseitigen Lage des Blaubeurer Amtes auf ein Marktmonopol der Amtsstadt hinausliefen, wurden als unzumutbar abgelehnt 254 ). Schließlich wandten sich etliche „flecken gemeldts Blawbeurer Ampts, sonnderlich Asch, Auch anderer mer" gegen die verschärfte Bestimmungen zum Schutz des Wildes, indem sie eine Ausnahmeregelung zu erlangen suchten 255 ). Diese Klage unterstützte das Amt ebenso wie die Klage der Müller an der Blau wegen der ihren Bestandsbriefen zuwiderlaufenden Erhöhung des Zinses. Zusammenfassend kann man sagen, daß das Blaubeurer Amt als Gesamtkörperschaft auftrat, die die vier Gerichte (samt den ihnen zugehörigen Untertanen) repräsentierte - und zugleich durch diese repräsentiert wurde. Indem diese Korporation vor dem Landtag im Namen ihrer Mitglieder auf Rechtsschutz klagte, nahm sie in gleicher Weise wie die Landschaft ein Interzessionsrecht wahr - und zwar nicht im Auftrag der Herrschaft, die diesen Rechtsschutz ja gewähren sollte, also die verklagte Partei war, sondern kraft ihrer korporativ-ständischen Funktionen und Rechte 256 ). Geschützt wissen wollte man vor allem das hergebrachte, durch Verträge begründete und garantierte Recht. Den von der „herschafft In wirttennperg" mit den vier Gerichten geschlossenen Vertrag, der die Eichelmast in den Wäldern der Gemeinde-, Privat- und Herrenwäldern anders regelte, als die Forstordnung dies vorsah, hätten die Blaubeurer Untertanen nach altem Recht ohne weiteres in ihre Amtsfreiheiten einreihen können. Neuerdings sollten solche Verträge jedoch als einseitig widerrufbare Ausnahmeregelungen gelten. Das Recht auf Bauholz, das an allen vogtbaren Gütern klebte, war als Leistung ausgewiesen, die jede (Vogtei- oder Landes-)Herrschaft den Inhabern dieser Güter schuldete 257 ). Indem sie dies betonten, unterstrichen die Gravamina die Tatsache, daß das Recht des Amtes (respektive der Herrschaft oder Vogtei Blaubeuren) gutes altes Recht war, das der Willkür (der jeweiligen Inhaber) dieser Herrschaft nicht unterworfen war. Neuerdings sollte jedoch eine unverglichene allgemeine Forstordnung genügen, um dieses Recht zu beugen. Die Argumentation der vier beschwerdeführenden Gerichte zeigt, daß sie das „ge254
) Näheres ergibt sich aus dem Bericht des Vogts und dem Gutachten der Räte: HStAST A 3 4 B ü l 3 b , Nr. 1. 255 ) Sie boten an, das aus den fürstenbergischen Wäldern in ihre Äcker laufende Wild in den württembergischen Forst zu treiben. 256 ) Auf den engen Bezug zwischen den Amtsgravamina und den Beschlüssen des letzten Landtags verweist das Gutachten der Räte, demzufolge es wegen der Wildschweine bei der „vergleichung, so v.f.g. mit gemainer Landtschafft gemacht", bleiben solle. Im Landtagsabschied von 1551 war eine solche angekündigt, wegen des Scheuchens aber auch der örtliche Brauch zugelassen worden: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 33, 96, 98. 257 ) Alten Lager- und Salbüchern zufolge stand denen von Berghülen für ihre Hubgüter, denen von Gerhausen, Beiningen und Weiler für ihre Vogtgüter Bauholz zu, und zwar die eine Hälfte aus den Wäldern des Klosters Blaubeuren, die andere „vß der herschafft Wälden": HStAST A34 Bü 13b, Nr. 1, Art. 2. Verpflichtet zur Holzgabe waren also das Kloster selbst (als Grundherr) und dessen Vogt, also Württemberg (als Schirmherr).
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main Ampt" nicht als einen württembergischen Verwaltungsbezirk ansahen, sondern als vertraglich konstituierte Korporation oder Einung, deren Recht nur aufgrund konsentierter Vergleichung geändert werden konnte 2 5 8 ). Sie zeigt auch, daß die stetige Ausweitung der Strafgewalt des Forstmeisters und seiner Knechte, die geeignet war, die Rechte des Vogtes und damit auch der Vogtei auszuhöhlen, den Bauern des Blaubeurer Amtes keineswegs entgangen war. Gestützt auf die ersten drei Artikel der Amtsbeschwerden sahen es vielmehr „mergedachte vnnderthonnen der vier flecken für nutz und gut" an, daß man den Forstmeister, der „in sein Amptsgeschefften des vorsts, gegen Armen vnderthonnen, mit allerhandt sachen, gar strenng, grob, vnnd hert sein, vnd sie mit etwas freffenntlichen vngeschickten worten vnd wercken" in einer Weise behandle, daß fast niemand etwas mit ihm „verhandlen noch auß Richten" könne, zur Rechenschaft ziehe, und ihm nicht allein ein derartiges Verhalten untersage, sondern auch gebiete, künftig zu gewissen Amtshandlungen den Vogt beizuziehen 2 5 9 ). Darauf, daß die hergebrachten Rechte einer Herrschaft auch deren jeweiligen Inhaber banden, berief man sich in unmißverständlicher Weise in Stadt und Amt Homberg 2 6 0 ). Die Gravamina beginnen mit der Bitte der „Armen vnnderthonen Inn Stat vnnd gantzem Ampt hornperg sampt vnnd sunders", sie bei ihren Freiheiten zu lassen. Es folgen - unter dem ausdrücklichen Hinweis, daß dieselben nicht von Württemberg herrührten - die Freiheiten der Stadt und dann die des Städtchens Schiltach und der vier Freigerichte Gutach, Kirnbach, Reichenbach und „vff dem waldt". Die Freiheiten des Amtes nahmen, da sie auch dessen Beschwerden gleich mit aufführten, den meisten Raum ein. Dabei klang es, wenn dort von „vnns im A m p t " oder vom „ganntzenn gemai258
) Vgl. dazu Carsten, Princes (wie Anm.. 25), 5 f.; kritisch gegenüber dem vom Herrschaftsvertrag her entwickelten Dualismusmodell: Quarthai, Landstände (wie Anm. 36), 36 ff. Gerade im Bereich realer Interessengegensätze und rechtlicher Vergleichungen wird man aber den Gegensatz der Interessen kaum wegleugnen können. Das Problem bleibt damit weiterhin eines der Interpretation institutioneller Entwicklungen. Zu der von Quarthai angesprochenen Problematik siehe Berger/Luckmann, Konstruktion (wie Anm. 10), v.a.70, außerdem 21 ff., 68 f., 98ff. 259 ) Vgl. die Landesordnung und die (der neuen Forstordnung einverleibte) Wildererordnung, welche die Verhaftung und Türmung ausdrücklich dem Vogt vorbehielten: Rexscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 49; und XVI, Nr. 7, 51 f.; zur neu eingeführten Überwachung der Forstbeamten in ihren Amtsgeschäften durch die Waldvögte, Amtleute, Schultheißen und Gerichte: ebd., XVI, Nr. 7, 39, 46, 48, 56. - Zur zunehmend breiteren Anwendung der Türmung vgl. Adalbert Erler, Art. „Schuldhaft", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 4. Bd. Berlin 1990, 1512-1514. 26 °) HStAST A34 Bül3b, Nr. 3, datiert auf Freitag, den 6. März 1551. Dieses Datum ist technisch korrekt (Grotefend). Die Einleitung nimmt Bezug auf die Aufforderung des Landtags, die Freiheiten und Beschwerden einzureichen, die aber wohl erst im Januar 1552 erging: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 197 ff.) Dafür, daß die 1551 verfaßten Beschwerden 1552 ein zweites Mal eingereicht wurden, spricht, daß der Herzog in seinem Bescheid vom 16. August auf einige - durch Landtagsentscheid inzwischen überholte Punkte - mit ärgerlicher Ungeduld Bezug nahm.
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nen Ampt" die Rede ist, so als seien die beiden Städtchen ebenso inbegriffen wie die in die Gerichte gehörenden Weiler und Höfe. Erst ganz am Schluß des Heftes findet man auch die Beschwerden Hornbergs und Schiltachs, was den Eindruck, daß das politische Gewicht von Stadt und Amt Hornberg als Landstand nicht bei der Stadt, sondern bei den Freigerichten lag, noch verstärkt 261 )Hinzu kommt, daß es in den gemeinen Beschwerden des Hornberger Amtes vor allem um eindeutig landesrechtlich relevante, das heißt, um klassische Landtagsbelange ging wie den freien Zug, den freien Abzug beim Hinausheiraten, das Erbrecht, die Landsteuer, das Schloßgeld und nicht zuletzt das Recht auf Bewaffnung. Noch deutlicher als im Fall Blaubeuren wird hier, daß sich das Amt nicht als landesherrlicher Verwaltungsbezirk sah, sondern als eigenständige Korporation, die den Herzog in die Pflicht zu nehmen gedachte, wenn es um den Schutz ihrer eigenen Freiheiten und der Freiheiten des Landes ging. So ließ man ihn wissen, daß man der Aufforderung des Landtags nachgekommen sei in „der zuuersicht", daß „ainem jeden Ampt seins beschwerlichen anligenns halb mit ganntz gnedigem beschaid zuwiderfarnn vnnd begegnen (wie vnns dann auch nit zweiuelt vnns von e.f.g. widerfarn) werde". Kritisch wurde dieser Anspruch, wo es um Beschwerden gegen neue Beschränkungen bei den Erblehen, der Waldnutzung, der Kreditbelastung von Höfen und dergleichen ging, die - wie für Blaubeuren schon herausgestellt wurde beim Landesherrn den Schutz alter Rechte einklagten, dabei aber zugleich als Klage gegen die Grundherrschaft und die Ausuferung der mit dieser verbundenen Banngewalt erschienen. Diese Art von Klagen war es, welche spätere Regierungen gerne als „Privatbeschwerden" oder „Spezialgravamina" abgetan hätten, weil Vergleichungen in diesem Bereich die Herrschaft daran hinderten, ihre Ressourcen auf Kosten der Untertanen, Gemeinden und Ämter und damit letztendlich der Landschaft auszuweiten. Die Strategie an sich war keineswegs neu. Sie zielte vielmehr wie eh und je darauf, das Recht der Gerichts- und Vögteiuntertanen auf Selbstschutz im Bereich von Hab und Gut wie von Leib und Leben dadurch auszuhöhlen, daß man immer weiter in den Bereich der öffentlichen Ordnung sowie der freiwilligen, der zivilen und der Strafgerichtsbarkeit hineinregierte und so das Selbsthilferecht im Fall tätlicher Angriffe aller Art beschnitt. Die besondere Klage des Gerichts „vff dem Waldt" etwa, das vor allem aus Einzelhöfen bestand, betraf die vagierenden Bettler und Soldaten. Wegen des in die Landesordnung aufgenommenen Verbots, Gewehre mit sich zu tragen, hatten die Bauern Mühe, dieser Plage selbst Herr zu werden. Weiter griff die Beschwerde des ganzen Hornberger Amts gegen die zunehmende Ausweitung dieses Verbots aus, wenn sie darauf hinwies, daß es die Schießübungen behindere und damit der Ausbildung der Mann-
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') Unterschrieben waren diese Gravamina mit den Worten „vnnderthenigen gehorsamenn Armen": ebd.
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schaft für den Verteidigungsfall schade. Wie an der Wildererordnung gezeigt wurde, schützte das Verbot in vorderster Linie die Forstbeamten, die im Namen der Herrschaft fortwährend in die Bann- und Nutzungsrechte der Ämter und Gemeinden eingriffen, Widerstand durch Bußen zu brechen und deren Bezahlung durch die Türmung der Gebüßten zu erzwingen suchten 262 ). Der Angriff auf Nutzungsrechte mit Hilfe der Ausweitung der Schirm- und Vogteigewalt beschränkte sich nicht auf Forst und Wald. In Stadt und Amt Göppingen wurde vor allem über Mißstände im Bereich der Heiligenpflegen geklagt 263 ). Die Pfründ- und Stiftungsgüter, um die es hier ging, waren eine von den Gemeinden in der Zeit vor der Reformation zum Teil zielstrebig aufgebaute Ressource zur Erhaltung von Kirchen, Pfarrhäusern und Seelsorgern, von Ortsarmen und Kranken, von Schulen und Stipendien und zum Teil durchaus profanen gemeindlichen Einrichtungen 264 ). Auch der neue Herzog erließ, gestützt auf die lutherische Theologie und das reformierte Kirchenregiment einerseits und seine hergebrachten Patronats- und (Kirchen-)Vogteirechte andererseits, Ordnungen, die in die stiftungsrechtlich geschützte Autonomie der kommunalen Heiligenpflegschaften und die Stiftsverwaltungen eingriffen 265 ). Dabei ging nicht allein altes Rechtswissen unter, das den Zusammenhang von Dienstpflichten und Nutzungsrechten hätte beweisen können, die Gemeinden verloren auch den direkten Zugriff auf diese Ressourcen - und zwar ohne daß ihnen im Gegenzug das Recht zugefallen wäre, die Güter der Heiligen und Kirchen zur Aufbringung der Sondersteuern heranzuziehen 266 ). Von daher wird ersichtlich, daß Landtagsbeschwerden, wenn sie dem politischen Interesse des ganzen Landes dienen sollten, von regionalen Besonderheiten abstrahieren mußten, um Forderungen auf der Ebene der Hoheitsrechte zu stellen. In diesem Sinne mußten sie Landesbeschwerden sein, zu deren dau262
) Zur Wildererordnung siehe Kap. 1.2.; zu entsprechenden Klagen gegen die Forstbeamten Kap. 2.1. Vgl. auch Anm. 76. 263 ) HStAST A 3 4 Bül3b, Nr. 2. (Die Beschwerden sind nicht im Wortlaut überliefert, sondern müssen über den Vogtbericht und das Gutachten der Räte rekonstruiert werden. Die von allen 14 Gerichten gemeldeten Kriegsschäden wurden, weil sie zu spät eingegangen seien, bei der Umlage nicht berücksichtigt. Eigene Beschwerden hatten die vier „Amptsflecken" Boll, Gruibingen, Kleineislingen und Reichenbach vorgebracht.) Vgl. dazu die Verordnung vom 15.4.1551 zur Rechnungslegung: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 41. 264) w i e Anm. 28.; zu den Problemen mit der Durchsetzung der Kastenordnung siehe die Ausschreiben vom 20.2.1547 (ebd., Nr. 31), 25.5.1550 (ebd., Nr. 35). Noch 1645 wollte man zu Schorndorf die wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs verhängten Bußen für die Kirche, die Schule und das Rathaus verwenden: HStAST A206 BÜ4421. 265 ) Wie die Forstordnung, so war auch die neue Kastenordnung einen Tag vor der Eröffnung des Landtags erlassen worden: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 50, abgedruckt mit der von 1615: ebd., Nr. 191. 266 ) Siehe die Vogtberichte und Gutachten zu den Beschwerden der Stadt und der Gemeinden Boll und Gruibingen. HStAST A34 Bül3b, Nr. 2.; vgl. auch die Klage der Stadt Blaubeuren wegen des Entzugs der Obrigkeit über das Dorf Pappelau: ebd., Nr. 1.
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erhafter Behebung Landesfreiheiten formuliert und garantiert werden mußten. So wenig wie diese Freiheiten allein der gemeinen Landschaft (im Sinne einer als juristische Person verstandenen Korporation) oder allein den Städten zustanden, so wenig gingen die zugrundeliegenden Beschwerden allein auf die Initiative der Ausschüsse oder der Magistrate zurück. Und so traf, was für die Landesbeschwerden gesagt wurde, grundsätzlich auch für die gemeinsamen Beschwerden von Stadt und Amt respektive für die gemeinen Amtsbeschwerden zu.
2.2.3. Die sogenannten Gravamina von „Stadt und Amt" Was den allgemeinen Anspruch auf Rechtsschutz betraf, so zogen die Städte mit den Ämtern vielfach an einem Strang 267 ). In Gegensatz gerieten die beiden Korporationen dadurch, daß ihre Freiheiten einander zunehmend entgegenliefen. Denn die Privilegierung der Städte, die als Delegierung schirmherrlicher Kompetenzen im Grunde dem besseren Schutz und Auskommen des Amtes hätte dienen müssen, verkehrte sich um so mehr zu dessen Schaden, je mehr sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten änderten und der Landesherr seine Verpflichtungen gegenüber der Stadt - etwa beim Mauerbau - von sich abzuwälzen suchte 268 ). Letztendlich waren also auch in diesem Bereich Klagen auf Rechtsschutz vielfach Klagen gegen den Landesherrn, der die fraglichen Privilegien ausgestellt oder ohne hinreichende Anhörung des Amtes durch seine Behörden getroffene oder bestätigte Entscheide, Verträge oder Vergleiche bestätigt hatte. Daß die Gravamina dies vielfach nicht scharf auf den Punkt brachten, hat mehr mit dem Stil dieses Rechtsmittels zu tun als mit den Einsichten der Beschwerdeführer in die Hintergründe und Wirkungen des landesherrlichen Privilegien- und Ordnungswesens, wie der Fall Blaubeuren hinlänglich belegt. Die Ausgangsfrage, nämlich die Frage nach der Repräsentation des Amtes durch die Stadt, erneut aufgreifend, sollen die an den Beschwerden von 1552 im Detail erarbeiteten Ergebnisse mit der Überlieferung zu den Landtagen von 1565 und 1583 verglichen werden 269 ) - und zwar unter drei Aspekten: a) In welchen Belangen wird geklagt? b) Wessen Klagen gehen in die Gravamina ein? c) Wer bringt die Klagen vor den Landtag? a) Der für 1565 vorliegende Rücklauf der Umfrage im Merklinger Klosteramt bestätigt, daß die Beschwerden der Gemeinden über die Beschränkung ihrer Forstnutzungen hinaus auf das Problem der Gerichtsbarkeit, der Bannrechte und des Personenschutzes wiesen. Dasselbe läßt sich für die Gravamina 267 ) Deutlich vor allem bei Blaubeuren, Göppingen und Hornberg: ebd., Nrr.l, 2, 3. 268) Vgl. die Klagen von Tuttlingen: ebd., Nr. 4. 2 «>) Siehe Kap. 2.2.1. und 2.2.2.
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des Landtags von 1583 feststellen, und zwar nicht allein anhand der für Württemberg notorischen Forstbeschwerden, sondern auch am Beispiel der Klagen wegen der Fronen. Diese standen in engem Zusammenhang mit der Lagerbucherneuerung, betrafen also die oben ausführlich diskutierte Problematik verglichenen und unverglichenen Rechts auf der Ebene der Ämter 270 ). b) In der - bei laufendem Landtag unternommenen - Umfrage von 1565 kam nicht allein der Amtsflecken Merklingen zu Wort, vielmehr konnten auch die in das Klosteramt gehörenden Gemeinden Gechingen, Simmozheim, Haugstett und Hausen ihre Beschwerden benennen 271 ). In den - vor Beginn des Landtags - 1583 erhobenen Gravamina, die ähnliche Strukturen aufweisen wie die von 15 5 2 272 ), klagten nicht allein die Städte, sondern auch die Ämter und Dörfer. Auch hier konnten Ämterklagen für das Amt insgesamt gelten oder durch einzelne Amtsflecken, Gerichte und Gemeinden eingebracht worden sein 273 ). Gegen die Forstmeister zum Beispiel gingen Klagen von den Ämtern Neuenstadt und Brackenheim und vom Klosteramt Adelberg ein, die Gravamina des Schorndorfer, des Nürtinger und des Grötzinger Amtes dagegen führten auch Beschwerden einzelner Amtsflecken auf 274 ). Gemeinsame Fronbeschwerden hatten die Ämter Herrenberg, Brackenheim, Bietigheim, Sachsenheim und die Klosterämter Merklingen (Herrenalb) und Adelberg vorzubringen. Im Fall der Ämter Waiblingen, Herrenberg, Urach und Böblingen gingen die Amtsgravamina von den „Amtpsflecken" aus, im Amt Leonberg, Nürtingen und Neuffen waren darüber hinaus auch Beschwerden einzelner Gerichte aufgenommen worden 275 ). c) Wie sich aus dem Vorstehenden schon ergibt, sprach keinesweg immer die Stadt für das Amt 276 ) oder gar über dieses hinweg 277 ), noch waren, wo die 27
°) Kap. 1.2.; auf die Erneuerung der Lagerbücher bezogen sich etwa Brackenheim, Böblingen, Herrenberg und Bietigheim: HStAST L5 11. Bd., fol. 29. 27 ' ) Siehe oben; HStASt A 3 4 B ü l 6 e , Nr. 4. 272 ) Die Gravamina für 1583, die hier nur stichprobenartig ausgewertet wurden, stehen als Folioband in der Handschriftenabteilung der Landesbibliothek in Stuttgart. Hier wird Bezug genommen auf die Zusammenstellung in den Tomi Actorum Provincialium: HStAST L5 11. Bd. 273 ) Traditionsgemäß waren in den Gravamina der „Ämtlein" Zavelstein und Sachsenheim sowie im Amt Maulbronn auch Beschwerden einzelner Dörfer aufgenommen: ebd., fol. 2 9 f . Vgl. Kap. 1.3. 274 ) HStAST L5 11. Bd., fol. 24; Grötzingen gehörte ins Nürtinger Amt, scheint aber eine gewisse Selbständigkeit genossen zu haben. 275 ) Ebd., fol. 25. 276) Vgl. zu 1552 oben; für 1583 lag ein gemeinsames Beschwerdeheft vor von Stadt und Amt Balingen, Böblingen, Kirchheim unter Teck, Rosenfeld und Winnenden. Darin kamen jedoch auch die Ämter zu Wort: ebd., A 3 4 B ü l 8 b ; außerdem L5 11. Bd., fol. 3 0 f f . 277 ) Der Magistrat von Balingen etwa sprach sich dafür aus, in den Dörfern wieder Amtsschultheißen einzusetzen. Es gebe zuviele Geschäfte, die Wege seien zu weit und die Kosten zu hoch. Man berief sich auf den mit dem Amt 1514 geschlossenen Vertrag: ebd., fol. 32.
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Gravamina des Amtes als gemeine Amtsbeschwerden verfaßt worden waren 278 ), die Dörfer, Weiler, Höfe und Untertanen grundsätzlich daran gehindert, ihren eigenen Klagen Nachdruck zu verleihen 279 ). Überbringer waren zwar die Abgeordneten von Stadt und Amt, doch ließ sich nachweisen, daß deren Gewälte sie je länger desto ausdrücklicher als Repräsentanten nicht allein der Stadt, sondern auch des Amtes auswiesen 280 ). Was somit erkennbar wird, ist ein Repräsentationsgefüge - ein Gefiige, das immer dann breit aufgegliedert wurde, wenn zur Wahrung (gemeinsamer) politischer Ansprüche auf rechtliche Beweise (einzelner Stände) zurückgegriffen werden mußte. Wo dies geschah, wird der für die frühe Neuzeit typische, enge Zusammenhang zwischen der politischen Beschwerde und der Klage mit der Güte oder mit dem Recht offenkundig - und damit auch der Zusammenhang zwischen der Interzessionsgewalt einer durch Herrschaftsvertrag oder Privileg (oder Amt und Benefizium) abgesicherten Korporation (oder Person) und ihrer genossenschaftlich (oder durch Grund-, Leib-, Amts- oder Hausherrschaft) definierten Klientel 281 ). Erkennbar wird damit auch, daß durch das dem (außer-)gerichtlichen Klageverfahren angehörige Element konkreter Beweisführung das vor den Landtag gebrachte Gravamen sehr nahe an die vor die (Kanzlei-)Räte getragene Supplikation herangerückt werden konnte - jedoch mit drei schon früher hervorgehobenen wesentlichen Unterschieden 282 ): Zum einen bot das Forum Landtag, sofern der Landesherr auf diesem unter dem euphemistischen Begriff Proposition Bitten oder Hilfsersuchen vortrug, die legitime Möglichkeit, eine Gegenbitte respektive eine Erfüllungsbedingung zu formulieren. Zum anderen konnte, wer vor dem Landtag klagte, öffentlich und rechtmäßig andere Stände oder die ganzen Landschaft um Interzession anrufen. Damit aber lag zum dritten der Entscheid nicht allein bei den landesherrlichen Räten oder gar beim Landesherrn selbst, sondern es wurde der Vergleichscharakter der Entscheidung unterstrichen - ein Aspekt, der im Fall von Klagen, die gegen den Landesherrn oder seine Behörden bei der Kanzlei eingereicht wurden, je länger desto mehr geleugnet wurde 283 ). Es ist daher noch einmal zu betonen, daß die Ämter und Gemeinden, indem sie eigene Gravamina einreichten, die in ih-
27S
) Getrennte Amtsbeschwerden reichten die Ämter Göppingen, Heidenheim, Herrenberg, Hornberg, Leonberg, Neuenstadt, Neuffen, Nürtingen, Schorndorf, Stuttgart, Tübingen, Urach, Waiblingen und Wildberg ein: ebd., fol. 30ff.; und HStAST A 34, BU18b. 279 ) Um dies für die Gravamina von 1583 vorzuführen, müßten genauere Auswertungen vorgenommen werden. Es darf aber wohl angenommen werden, daß nicht anders als 1552 zumindest ein Teil der Gravamina der Gerichte und Unterämter auch die Klagen einzelner Dörfer und Weiler berücksichtigte. 28°) Kap. 1.3. 28') Vgl. Anm. 144. 282) Kap. 1.1.und 1.2., siehe auch Anm. 301 und Kap. 3.2. 2 « ) Siehe Anm. 301 und Kap. 3.
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rem Namen in den Gewalt von Stadt und Amt aufgenommene präsumtive Zusage, dem Landesherrn Rat und Hilfe zu gewähren, konditionierten. Insofern stimmen die hier erarbeiteten Ergebnisse mit dem überein, was weiter oben zu den Gewälten zwischen 1552 und 1620 festgestellt wurde. Ämter und ihre Flecken hatten also offenkundig an der Landstandschaft von Stadt und Amt mit Rechten und Pflichten teil, so daß von einem Städtelandtag im Fall Württembergs auch vor dem Dreißigjährigen Krieg nicht die Rede sein kann.
3. Die Resolution der Gravamina Was von Seiten der Obrigkeit als „Resolution" bezeichnet wurde, reichte in vielen Fällen an eine definitive Abstellung der Beschwerden nicht heran. Da es der Landschaft - wie oben schon angesprochen 284 ) - nicht alleine um die Klärung einzelner Konflikte, sondern um die Kontrolle der tiefer liegenden Ursachen und damit um Prävention auf breiter Ebene ging, ist dieser Befund nicht so schlecht, wie er auf den ersten Blick erscheint. Der Weg in die landespolitische Verantwortung führte auch, aber nicht immer über die Setzung von Recht. Häufig kam es mehr auf die verbindliche Formulierung und Absicherung von Verfahren an, das heißt, auf die ordentliche Umsetzung verglichener und von daher als legitim ausgewiesener Maßnahmen im Rahmen und auf der Grundlage schon bestehenden Rechts. Der Erfolg der Politik der Landschaft wird demnach auch, aber nicht allein an deren unmittelbarer Mitwirkung bei der Rechtsetzung zu messen sein 285 ). Auf der anderen Seite gewinnt man den Eindruck, daß die württembergische Regierung das Wort Resolution gezielt unspezifisch für alle möglichen Reaktionen auf alle möglichen Beschwerden verwendete, um verfassungsrechtlich relevantere Ausdrücke wie Vergleichung zu vermeiden. Schon die Wortbedeutung von resolvere konnte nahelegen, daß die eigentliche Lösung des Konflikts und damit die Entscheidungsfindung oder das Urteil im Hinblick auf das bessere Recht und die ratsamere Vorgehensweise bei der Herrschaft liege 286 ). Auch die Herzöge von Württemberg ließen gerne unter den Tisch fallen, daß nicht allein Entscheide, Ordnungen und Gesetze, sondern auch Ausschreiben, Mandate, Dekrete oder Reskripte der Umsetzung dessen dienten, was aufgrund von Tradition, Gewohnheit oder Vergleichung bereits als Recht galt, um als Hoheitsakt oder gar als Gnadenerweis auszulegen, was im Grunde lediglich eine - den Vogteiuntertanen, dem kaiserlichen Lehensherrn 284
) Kap. 1.1. ) Dazu Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 84), 125 f. ) Ebd., 126; Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 303 ff.; zur Entwicklung der Gesamtproblematik: Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm. 100), 1251 ff.; außerdem die Diskussion wegen des Generalreskripts vom Mai 1629 (Kap. 1.1. und im folgenden). 285 286
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und nicht zuletzt Gott geschuldete, aber vielfach vernachlässigte und von daher regelmäßig eingeklagte - Pflicht war.
3.1. Die Resolution als politische Lösung Die Resolutionen, zu denen man auf und nach württembergischen Land- und Ausschußtagen gelangte, legen Zeugnis dafür ab, was für die Stände einerseits und den Landesherrn andererseits politisch machbar war. Sie zeigen aber auch, was in den Gremien der Landschaft und in den Ämtern denkbar und was durchsetzbar war. So war die Form, die eine Resolution annahm, zwar durch die zugrundeliegende Beschwerde beeinflußt, zu betonen ist aber, daß Gravamina, weil sie eben nicht allein (Beschwerde-)Fälle darstellten, sondern auch ein politisches Aktionsfeld eröffneten, die Resolution von vornherein in einen bestimmten Durchsetzungskontext drängten 287 ). Im folgenden soll daher versucht werden, die Resolutionen schwerpunktmäßig fünf Rubriken zuzuordnen, um so das jeweilige Aktionsfeld und damit das für die Landschaft Machbare und Denkbare näher umschreiben zu können. 1. Zusagen und Zugeständnisse der Landesherren, die deren schirmherrliche Pflichten und damit ihre eigene Person und ihren Status betrafen. Resolutionen, welche die präsumtive plena potestas der Landesherren beschränkten 288 ), wurden von diesen so vage und unverbindlich wie möglich gehalten 289 ). Die Gravamina in diesem Bereich zielten mehr oder weniger ausdrücklich darauf, daß die Landesherren ihre eigenen sowie die Interessen ihres Hauses und ihrer Hof- und Amtleute ihrem Schirmauftrag (oder -vertrag) unter- oder zumindest nachordneten. Herzog Ulrich mußte 1514 versprechen, dem Lande nachteilige Privilegierungen bestimmter Personen(gruppen) zu unterlassen oder zurückzunehmen, die gerichtliche Verantwortung der Angehörigen des Hofes zu garantieren und für die Niedersetzung ordentlicher Gerichte und die Einrichtung höherer Instanzen, für die Bestellung von fähigen, württembergischem Recht verbundenen Beamten und für den Schutz der Unversehrtheit der Person (das heißt Leib und Leben, Hab und Gut, Haus und 2«7) Siehe Kap. 2.2.3. und 3.2. 288 ) Siehe dazu Gaines Post, Plena Potestas and Consent in the Medieaval Assemblies, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten. 2 Bde. 1. Bd. Darmstadt 1980, 115-182, 38ff., 51 ff. 289 ) Herzog Ludwig wollte sich den Forderungen des Landtags 1583 mit dem Argument entziehen, Disputationen seien „zwischen so vertrawten und so genahe verbundnen personen der obrigkeit vnd undertonen nicht wol anstendig". Die Stände sollten seinen Forderungen vielmehr mit „getrewem willigem, teutschem und würtembergischen gemüet, welches auch in historiis beüembt" entgegenkommen. Zit. nach Grube, Landtag (wie Anm. 14), 241.
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Hof) zu sorgen 290 ). Bei der Konkretisierung dieser Selbstverpflichtungen, die durch die Formulierung definitiver Ordnungen und Vereinbarungen zu erfolgen hatte, ging es nicht allein um die großen politischen Freiheiten, sondern auch darum zu verhindern, daß der Landesherr seine Unkosten auf die Untertanen abwälzte und so den Aspekt ihrer Hoheitsrechte leugnete, mit dem er am leichtesten in die Pflicht genommen werden konnte 291 ). Zu den Maßnahmen, die die libera potestas des württembergischen Herzogs seit 1514 einschränkten, wären daher außer den bekannten Landesfreiheiten 292 ) und den zu deren Sicherung erlassenen Ordnungen 293 ) auch jene in den Tübinger Vertrag aufgenommenen Bestimmungen zu zählen, die man auf den ersten Blick nicht unter diesem, sondern unter einem der drei folgenden Punkte zählen möchte. Gemeint ist etwa die Beholzung der Amtleute aus den Herrenwäldern, die Unterwerfung übermäßiger Zehrungsrechungen unter das in der ersten Landesordnung (1495) garantierte Supplikationsrecht 294 ), die Regulierung der Frondienste, die allgemeine Ablösung der Fasnachtshennen 295 ), die Bezahlung der Offiziere und des Proviants für die von der Landschaft im Kriegsfall zu stellenden Mannschaften 296 ). Tatsächlich präjudizierten diese Zusagen einen Anspruch, der entscheidend war für die spätere Auseinandersetzung um die Form 290
) Tübinger Vertrag und Nebenabschied: Reyscher, S a m m l u n g (wie A n m . 14), II, Nrr. 18, 19. ) Da Stadtmauern, Galgen, Gerichtsstätten nicht anders als Kirchen (vgl. A n m . 28) für k o m m u n a l e Privilegien und Freiheiten standen, sahen sich die Korporationen vielfach gezwungen, dieselben auch ohne die schuldige Hilfe der Herrschaft zu unterhalten. Explizite landesweite Regelungen hierzu wurden, soweit ich sehe, nicht erlangt. Vgl. die Klagen der Städte Tuttlingen (Anm. 243) und Murrhardt ( H S t A S T A 2 0 6 Bü 3904) und der G e m e i n d e Knittlingen wegen des Hochgerichts Maulbronn (ebd. BÜ3629); außerdem die Klagen der Ämter und der Landschaft auf dem Landtag 1552 gegen das von Ulrich eingeführte Schloßgeld (Kap. 2.2.2). 291
292 ) Zu den württembergischen Grundrechten aus verfassungsrechtlicher Sicht: Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 4 3 9 f f . 293 ) A m 10.4.1515 wurde eine neue, mit „güt ansehen vnd rat gemainer vnser L a n d t s c h a f f t " beschlossene Landesordnung erlassen (Reyscher, S a m m l u n g [wie A n m . 14], XII, Nr. 6, 17); am 23.4.1515 die Landtagsverordnung (siehe A n m . 17); am 9.1.1516 eine Ordnung samt Ausschreiben - über die Musterung und den Auszug der Mannschaften (Miliz) (ebd., XII, Nr. 5); eine Forstordnung wurde in Angriff g e n o m m e n : (siehe A n m . 224); die H o f g e richtsordnung vom 28.1.1514 wurde dahingehend ergänzt, daß das Gericht auch mit „Retten, der Ianndtschafft" besetzt werden sollte: ebd., II, Nr. 19, 48, und IV, Nr. 54 (zu Klagen aus den Ämtern über den zunehmenden Einflusses der Juristen: Frey, Hofgericht (wie Anm. 71), 23 ff., 33 f.); zur Erweiterung der Landesfreiheiten seit 1551, vor allem zur Einbeziehung der Klosterämter vgl. Kap. 1.1. und 1.2.; außerdem Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 280 ff. 294
) Wie A n m . 301. ) Das sogenannte Rauchhuhn war in Württemberg keine Leibeigenen-, sondern eine Gerichtsabgabe: Dietmar Wehrenberg, Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Allmendrechten und Gemeinfronverpflichtungen vornehmlich in Oberdeutschland. Stuttgart 1969, 34. 296 ) Alle B e s t i m m u n g e n im Nebenabschied: Reyscher, S a m m l u n g (wie A n m . 14), II, Nr. 19; vgl. A n m . 210. 295
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der Erledigung partikularer Gravamina 297 ). Er wurde daher nicht allein zusammen mit dem Vertrag bei jedem Herrschaftswechsel erneut bestätigt und legitimiert 298 ), sondern - was mindestens so wichtig war - auch durch die Einbringung von Ämterbeschwerden auf Land- und Ausschußtagen beständig neu gestellt und durchgesetzt 299 ). 2. Zusagen und Regelungen, welche die Aufsicht über die eigenen Beamten betrafen. Die Aufsichts- und Weisungsgewalt gegenüber ihren Räten und Amtleuten galt im allgemeinen als Domäne der Herrschaft als Dienstherr 300 ). Wo wie in Württemberg das landesherrliche Regiment an Verträge oder Vergleiche mit der Landschaft gebunden war, geriet diese jedoch auch in diesem Bereich regelmäßig unter Zugzwang. Resolutionen erfolgten hier vielfach als Ausschreiben, Befehle und Reskripte, die auf Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlungen zielten und sich ebenso an einzelne Amtleute in diesem oder jenem Amt wie an sämtliche Amtleute im ganzen Land wenden konnten (Generalausschreiben, Generalreskript). Die Landschaft versuchte vor allem auf die letztgenannten, landesweit ausgehenden Anordnungen Einfluß zu nehmen, die die Tendenz hatten, sich zu Ordnungen zu verdichten und zu verfestigen 301 ). Typisch für solche Ordnungen war, daß sie dazu neigten, über die Instruktion der Beamten in die Rechte der Untertanen einzugreifen, indem sie die Amtleute oder Räte bei ihrem dem Landesherrn geleisteten Treueeid darauf verpflichteten, trotz ihres Wissens um das gute Recht der Untertanen dem (Priv a t i n t e r e s s e des Herzogs und des Hauses Württemberg den Vorzug zu geben 302 ). Eine Vergleichung herrschaftlich-dienstherrlicher Ordnungen oder Anordnungen war vor allem dort erschwert, wo durch Regalien oder Privilegien geschützte Herrschafts- oder Hoheitsrechte berührt waren, die tatsächlich oder vorgeblich ungeteilt waren oder neuerdings als unteilbar galten 303 ). 297
) Vgl. Kap. 1.1., 1.2., siehe Kap. 3.2. ) Zu Beschränkungen und Erweiterungen in den „Erläuterungen" siehe Anm. 114, 180, 182. 2 *>) Vgl. Anm. 66. 30 °) Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 303 ff., 308, 3 1 4 f f . 301 ) Anweisungen wegen des Supplizierens ergingen zuerst an die Amtleute in der 1. Landesordnung (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], XII, Nr. 4); deren Berichte und Unterschriften waren seit 1498 gefordert (2. Regimentsordnung: ebd. II, Nr. 16), Strafandrohungen gegen die Untertanen wegen „unwahren" Supplizierens folgten in der 3. Landesordnung (1521: ebd., XII, Nr. 10); erste konkrete Strafandrohungen gegen die Amtleute (Erstattung der Kosten der Supplikanten bei unnötiger Verzögerung) brachte die 3. Kanzleiordnung (1569: ebd., Nr. 86). Zur Entwicklung der Supplikationsordnung siehe die Ausführungen zu Württemberg im Beitrag von Rosi Fuhrmann/Beat KüminlAndreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in diesem Band. 298
302
) Z.B. die Rechungsinstruktion für die Amt- und Forstleute vom 28.2.1551: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nrr. 5 u. 7; oder die zusammen mit der Kanzleiordnung erlassene Rentkammerordnung: ebd., XII, Nr. 52, 253 f.; vgl. auch Anm. 208 und Kap. 3.2. 303 ) Siehe unter Punkt 3.; vgl. Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 299f.; über die söge-
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L e i c h t e r d u r c h z u s e t z e n war sie, w e n n der zu o r d n e n d e B e r e i c h bereits als verg l e i c h u n g s p f l i c h t i g a u s g e w i e s e n w a r 3 0 4 ) oder sich mit e i n e m s o a u s g e w i e s e nen B e r e i c h ü b e r s c h n i t t 3 0 5 ) o d e r w e n n d i e rechtliche oder p o l i t i s c h e L a g e ung e w i ß o d e r s o heikel war, daß der K o n s e n s der g e m e i n e n L a n d s c h a f t oder zum i n d e s t der A u s s c h ü s s e - unter U m s t ä n d e n auch nachträglich - g e s u c h t w e r den m u ß t e 3 0 6 ) . N i c h t allein 1514, auch später, vor a l l e m n a c h 1 5 5 0 , b e w i r k t e der B e s c h w e r d e d r u c k aus den Ä m t e r n R e s o l u t i o n e n , die auf die Erlassung, Erneuerung oder Revidierung solcher Ordnungen oder Befehle hinausliefen307). U n d o b g l e i c h in Württemberg K a n z l e i o r d n u n g e n grundsätzlich nicht mit der L a n d s c h a f t v e r g l i c h e n wurden, war d o c h im T ü b i n g e r Vertrag z u g e s a g t w o r den, d i e Kanzlei zu ordnen, a l s o Räte niederzusetzen, die s i c h der K l a g e n v o n Untertanen g e g e n Gerichte, A m t l e u t e , Korporationen (als m e d i a t e o d e r k o n kurrierende G e w a l t e n ) und nicht zuletzt g e g e n d e n H e r z o g selbst a n n e h m e n s o l l t e n 3 0 8 ) . D a Ulrich d e m erst g a n z a m E n d e seiner z w e i t e n R e g i e r u n g s z e i t n a c h k a m , war „Inn v n n d ausserhalb d i e s e s Fürstentumbs das g e s c h r e y eruolgt, E s s e i e b y dieser Cantzly, w e n i g , oder gar khein aussrichtung", s o daß sich H e r z o g Christoph veranlaßt sah, sofort nach s e i n e m Regierungsantritt d i e A u f g a b e n b e r e i c h e der Räte u m f a s s e n d zu r e g e l n 3 0 9 ) . D a a u c h weiterhin „alnannten Reservatrechte geben die Kanzleiordungen Aufschluß; hierzu vgl. die Regalientheorien (auch die Unterteilung in regalia maiora und regalia minora bei Bodin): W. Wegener, Art. Regalien, in: Handwörterbuch zu deutschen Rechtsgeschichte. 4. Bd. Berlin 1990, 4 1 2 - A l i , 475; siehe auch J. H. Burns, The Idea of Absolutism, in: John Miller (Hrsg.), Absolutism in Seventeenth Century Europe, London/Basingstoke 1991, 2 1 ^ 2 , 25 f., und den Beitrag von Sibylle Hunziker, Die ländliche Gemeinde (wie Anm. 30), in diesem Band. 304 ) Zur Wildererordnung z.B. siehe Kap. 1.2. und Anm. 76 und 259; vgl. Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 305 ff. 105 ) Zur Supplikationsordnung z.B. siehe Anm. 301. 306 ) Siehe die erste, nicht in Kraft getretene Forstordnung (Anm. 224); in der Forstordnung von 1552 heißt es, sie sei mit Rat erlassen worden, aber nicht mit wessen Rat (siehe Anm. 213); ebenso wenig war die aufgrund der Klagen des Landtags von 1565 am 15.11.1567 erlassene Forstordnung explizit verglichen (integriert in den Fußnoten derjenigen von 1614: Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], XVI, Nr. 63). Die Forstordnung von 1614 inserierte nach Art kompilierten Rechts sämtliche verglichenen Wilderermandate wörtlich, nicht aber das unverglichene von 1588, das jedoch in einem kurzen Nachsatz ebenfalls für gültig erklärt wurde: ebd., Nr. 63, 283 ff., 294; sie berücksichtigte eine ganze Reihe von Landtags- und Ämtergravamina; vorausgegangen war ihr ein allgemeines Ausschreiben (26.1.1566), das den Forstmeistern und Waldvögten befahl, die Ursachen für die genannten Beschweren abzustellen: ebd., XVI, Nr. 13. Zum Forst vgl. Kieß, Forsten (wie Anm. 224), 11 ff., 105 ff., 121 ff. - Die Zehnt- (ebd., XVI, Nr. 12) und die Umgeldordnung (ebd., XVII, Nr. 35) wurden 1565 bei laufendem Landtag erlassen. Trotz der Berufung auf das kaiserliche Umgeldprivileg von 1555 (ebd., Nr. 31), hatte der Herzog Mühe gehabt, der Landschaft den Vergleich hierüber abzuringen. Siehe auch unter Punkt 3. 307 ) Zu den Klagen gegen die Waldordnungen Herzog Ulrichs: Kieß, Forsten (wie Anm. 224), 12; weiteres unter Punkt 3 und 4. 308 ) Siehe Anm. 301 und 309 f . ; außerdem Walter Bernhardt, Die Zentralbehörden des Herzogtums Württemberg und ihre Barnten 1520-1629. 2 Bde. Stuttgart 1972, 11 ff. 309 ) Zur ungedruckten Kanzleiordnung vom 4.3.1549: Wintterlin, Behördenorganisiation (wie Anm. 23), 25, 28; Zitat aus der vom 11.11.1550: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14),
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Rosi
Fuhrmann
lerlai m e n g e l l v n n d O n o r d n u n g b e f u n d e n " wurden, w u r d e d i e s e O r d n u n g s c h o n 1 5 5 3 geändert und erweitert
31
° ) . B e t r o f f e n w a r e n vor a l l e m das Visita-
tions- und das S u p p l i k a t i o n s w e s e n , e i n e Plattform also, auf der sich d i e Obrigkeit mit ihren K o m m u n e n u n d Untertanen fortwährend und unmittelbar ause i n a n d e r z u s e t z e n hatte 3 1 1 ). 3. Regelungen,
die der Abgrenzung
über der Banngewalt
von Korporationen
der Banngewalt und Personen
der Herrschaft
gegen-
dienten.
D e r B e r e i c h v o n B a n n r e c h t und B a n n g e w a l t , w e l c h e r als der k l a s s i s c h e B e reich d e s O r d n u n g s w e s e n s g e l t e n kann, ist mit den vier anderen B e r e i c h e n an s i c h untrennbar verknüpft. U m das hergebrachte R e c h t der d e m Land Württemberg integrierten Herrschaften, Ä m t e r und Korporationen g e w i c h t e n zu k ö n n e n , scheint e s j e d o c h a n g e m e s s e n , ihn - s o w e i t das m ö g l i c h ist - isoliert zu b e t r a c h t e n 3 1 2 ) . D i e Einführung e i n e s l a n d e s w e i t g ü l t i g e n R e c h t s - und Ordn u n g s w e s e n s l a g z u m guten Teil im Interesse der L a n d s c h a f t s e l b s t 3 1 3 ) . H a n del u n d W a n d e l sollten durch a l l g e m e i n e M ü n z - , M a ß - , G e w i c h t s - , A b z u g s - , Erb-, Bürger, A r m e n - und P r o z e ß r e c h t s r e g e l u n g e n erleichtert 3 1 4 ), das G e f ü h l v o n Einheit, G l e i c h h e i t und G e r e c h t i g k e i t durch e i n h e i t l i c h e Preise, Taxen, B u ß e n und Strafen gefördert w e r d e n 3 1 5 ) . M i t anderen Worten, trennende und XII, Nr. 37, hier 174. Der Begriff Ausrichtung bezeichnete in Württemberg die Streiterledigung vor Gerichten, vor allem vor Austrägalgerichten (die Fälle austrugen zwischen Parteien, deren eine an ein Gericht gebunden war, für das die andere eine Exemtion besaß) und Schiedskommissionen. 31 °) 26.5.1553: ebd., Nr. 52, hier 242. Unter anderem hatten sich Probleme wegen der Kompetenzen und der Reservatrechte ergeben. Zudem waren durch die Entscheide der Kanzlei „newe Spenn [...] erweckt" worden. 31 ' ) Zum Tragen kam dabei die schrittweise Einverleibung der Klosterämter. Zusammen mit der Kanzleiordnung ergingen die neue Visitationsordnung (ebd., VIII, Nr. 43) und ein Generalbefehl wegen der Abhaltung der Ruggerichte in den Klosterämtern (ebd., XII, Nr. 53); vgl. Anm. 15, 135, 182. Siehe auch unter Punkt 3. 312) v g l . dazu Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 84), 125f.; Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 437ff.; und John Miller, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Absolutism in Seventeenth-Century. London/Basingstoke 1991, 1-20; Härter, Policeygesetzgebung (wie Anm. 72), 63 ff. 313 ) Siehe den Tübinger Vertrag ebenso wie die Gravamina und Anbringen und die Abschiede der Landtage seit 1550: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 79ff., 91, 197 ff.; Carsten, Princes (wie Anm. 25), 11 f., 24ff.; eine Aufstellung der erlangten Regelungen bringt Moser, Landeshoheit (wie Anm. 40), 280 ff. 314 ) Der Landtag von 1565 etwa beschloß die „Erläuterung" (dazu Anm. 106) der Landesordnung, weil sie Widersprüchlichkeiten enthielt, die zu Mißverständnissen geführt hatten (erlassen 1567: Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], XII, Nr. 214 (dort als Abweichung zur 7. Landesordung von 1621 in den Fußnoten); im neuen Landrecht von 1567 wurde das Erbrecht „erläutert", damit der „Gemein Mann, dessen ein verstand haben vnd sich darein richten mög" (vgl. Kap. 1.2); eine erneute Belehrung über das Erbrecht folgte gesondert am 5.8.1567: ebd., IV, Nr. 67. Vgl. dazu die Klagen des Amtes Hornberg (Kap. 2.2.2.). Siehe auch Anm. 318 . 315 ) Vgl. lmmel, Typologie (wie Anm. 73), 27; siehe die Klage der Tuttlinger Amtsdörfer wegen der ungleichen Höhe der großen Frevel (Anm. 244). Die vom Reichsrecht übernommene Malefizordnung mußte aufgrund von Klagen wegen „ungleichen" Gebrauchs auf
Amtsbeschwerden,
Landtagsgravamina
und Supplikationen
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hinderlich g e w o r d e n e alte Bannrechtsverhältnisse sollten a u f g e g e b e n w e r d e n - und z w a r v o n Seiten der Herrschaft w i e v o n seiten der b e t r o f f e n e n älteren U n t e r t a n e n v e r b ä n d e 3 1 6 ) . D e r e n R e c h t g i n g z w a r nicht unter, sondern b l i e b über d i e A u s s t e l l u n g v o n G e w ä l t e n , d i e E i n r e i c h u n g v o n G r a v a m i n a und d i e Verhandlungen zu deren R e s o l u t i o n präsent, p r o b l e m a t i s c h war aber, daß sich auf d i e s e W e i s e das O r d n u n g s w e s e n auf L a n d e s e b e n e z u n e h m e n d verdichtete. E s s a m m e l t e sich mit anderen Worten i m m e r mehr G e b o t s g e w a l t bei der Landesherrschaft an, w ä h r e n d e s auf der anderen S e i t e s o schien, als k ö n n e deren M i ß b r a u c h nur n o c h durch d i e L a n d s c h a f t i n s g e s a m t im R a h m e n von Landtagen und auf der G r u n d l a g e v o n L a n d e s b e s c h w e r d e n gesteuert w e r d e n 3 1 7 ) . D a ß d e m nicht s o war, z e i g t s i c h daran, daß für O r d n u n g e n dort, w o man mit w e i t r e i c h e n d e r korporativer oder hausväterlicher A u t o n o m i e zu rechnen hatte, ein breiter K o n s e n s g e s u c h t w e r d e n m u ß t e 3 1 8 ) . W i e d i e B e s c h w e r d e n aus den Ä m t e r n z e i g e n , w u r d e d i e A u s w e i t u n g l a n d e s w e i t e r G e b o t s g e w a l t auf K o s t e n lokaler B a n n g e w a l t
keineswegs
unwidersprochen
hingenommen319).
Der
Stein d e s A n s t o ß e s k a m j e d o c h a m e h e s t e n dann ins R o l l e n , w e n n d i e H e r z ö g e
dem Landtag 1554 nochmals „erläutert" werden: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 133 f. Zugleich wurde die auf Vorschlag der Landschaft 1554 erlassene Anordnung, bei Unklarheit Rat bei der Tübinger Juristenfakultät einzuholen, bestätigt. Zum Widerspruch der Forderung nach gleicher und verhältnismäßiger oder angemessener Strafe siehe im folgenden. 316 ) Zu den weit zurückreichenden Wurzeln der Problematik siehe Rolf Sprandel, Über das Problem neuen Rechts im frühen Mittelalter, in: ZRG KA 48 (1962), 117-137. - Für die zahlreichen Konflikte siehe die Klagen (Supplikationen) bei der Kanzlei, etwa um das Recht Nürtingens zur Bürgerannahme (HStAST A206 Bü 4189); das der Gemeinde Kusterdingen eigene Frevelrecht (ebd. Bü4811); die Abführung der Fluchbußen nach Stuttgart anstatt in die Armenkästen zu Urach (ebd. BÜ4980); die Handhabung der Maulbronner Heirats- und Einkindschaften (ebd. BÜ3608); das Wegrecht und den Zoll zu Beutelsbach (ebd. BÜ4436). 317 ) Vgl. Kap. 1.2. und 2.2.1.ff. 3,s ) Zur Rolle des großen Ausschusses siehe Kap. 2.1., v.a. Anm. 188 und 193f.; vgl. außerdem den Landtagsabschied 1554 (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], II, Nr. 36), u.a. die Erläuterung des Mandats gegen den Fürkauf (vgl. die Gravamina des Amtes Blaubeuren: Anm. 253); die Erneuerung der Maßordnung (nötig wegen der Eingliederung der Klosterämter; 1557 mit dem Ausschuß „entschlossen" und „verabschidet": ebd., XII, Nr. 63, 298); die Fleisch- und Metzgerordnung (erlassen April 1554: ebd., XII, Nr. 55 [doppelt vergebene Nr.]), die wegen zahlreicher Klagen 1565 einem erweiterten Ausschuß zur Erläuterung aufgetragen wurde (ebd., Nr. 37, 131; vgl. die Beschwerdeliste für die Umfrage in den Ämtern: Kap. 2.2.1.) 3I9 ) Direkt im Landtagsabschied von 1565 wurden - wegen der sich häufenden Klagen über ungerechtfertigte Anordnung der Forstmeister - generelle Termine für das Schlagen und Führen des Holzes festgesetzt: ebd., II, Nr. 37, 130ff. Vgl. Anm. 316 und im folgenden. Von den einseitig erlassenen Mandaten Herzog Friedrichs wurden das Generalreskript, das Leibeigenen einen Abzug auferlegte (1598, schon 1599 „erläutert": ebd., XVI, Nrr. 129 u. 130); die Bestimmungen über die Herbstschreiber (Herbstordnung 1607, 1608 „abgestellt": ebd., XVI, Nrr. 56 u. 59); die verschärfte Beaufsichtigung der Privat- und Gemeindewälder (Generalreskript 1605, 1608 kassiert: ebd., Nrr. 54 u. 58); zu den Gravamina des Landtags 1608 vgl. Adam, Landtagsakten (wie Anm. 68), 3. Bd.
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versuchten, die durch landschaftlichen Konsens erworbene und legitimierte landesherrliche Gebotsgewalt so zu handhaben als handle es sich dabei um dinglich nutzbare Banngewalt; das heißt, wenn sie versuchten, ihre Einkünfte zu verbessern, indem sie ihre Amtleute ermutigten, die Ordnungen unnötig streng auszulegen, die Bußen und Frevel zu erhöhen oder Leibes- und Freiheitsstrafen in überhöhte Geldbußen umzuwandeln 320 ). Als Beispiel für diese und die unter Punkt 1 und 2 angesprochene Problematik kann die Geschichte des Generalreskripts vom 22. Mai 1629 herangezogen werden 321 ), das die Regierung als „Resolution" der auf den Februar-Landtag gebrachten Beschwerde über das Mandat wegen der Erhöhung der Frevel ausgab 322 ). Bei dieser Beschwerde ging es um zwei Mandate - zum einen um das Münzmandat von 1618, das das Pfund Heller mit dem Gulden gleichgesetzt und so den Nennwert der Frevel erhöht hatte 323 ), und zum anderen um ein in die siebte Landesordnung aufgenommenes Mandat, das bestimmte Frevel grundsätzlich auf drei Gulden setzte und damit den Amtleuten (und Gerichten) den üblichen Ermessensspielraum nahm 324 ). In den Verhandlungen bekannte die Landschaft, daß sie auf früheren Landtagen zwar selbst wegen der täglich zunehmenden „Laster" eine schärfere Strafpraxis gefordert habe 325 ), doch sei damit keineswegs eine Verschärfung der in bürgerlichen Sachen zu verhängenden „poena legales" intendiert gewesen 326 ). Eine solche Erhöhung verstoße gegen das Lagerbuchrecht und das alte Herkommen 327 ). Auch seien, obgleich etliche Orte wegen der Frevel „besondere alte gebrauch vnnd herkom-
32
°) Vgl. Anm. 259. ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), V, Nr. 103. Die Verhandlungen finden sich in HStAST L5 (Tomi Actorum Provincialium, 31. Bd., zum Landtag 1629), fol. 93, 153, 252, 259, 280, 286, 320; siehe auch die Zusammenstellung in ebd. L6 1275, Nr. 2. 322 ) Zum Landtag siehe Anm. 117. 323 ) Bußen von einem Schilling erhöhten sich auf drei Kreutzer. Siehe Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 204; vgl. HStAST A 3 4 Bü38b und A 2 3 7 a B ü 5 2 1 - 5 4 1 über die Beschwerden, die Umfragen in den Ämtern und die Aufhebung. 324 ) Näheres im folgenden. 325 ) Zur Flut der unter Mitwirkung der Landschaft erlassenen Verordnungen gegen Laster und Müßiggang: Heinz Schmucker, Das Polizeiwesen im Herzogtum Württemberg nach seiner geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Diss. jur. masch. München 1958, 117 ff., 137 ff., 145 ff. Siehe dazu im folgenden. 326 ) Siehe aber die vermischten Tatbestände der Landesordnungen: 1552: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), XII, Nr. 48 [doppelte Nr.], 195ff.; 1621: ebd., XII, Nr. 214, Begründung und Zuständigkeit (bereits mit angedeutetem Territorialprinzip) 718 f., Register 720ff.; dazu Anm. 329. 327 ) Vgl. Anm. 331. Schon Eberhard im Bart hatte der Landschaft gegen eine einprozentige Vermögenssteuer die Zusage machen wollen, daß Frevel nur noch aufgrund von Gerichtsurteilen verhängt werden sollten: Grube, Landtag (wie Anm. 14), 41. Für das Amt Urach lassen sich Klagen wegen der Frevel vom Armen Konrad bis zu den Landtagen des 17. Jahrhunderts verfolgen: Franz, Quellen (wie Anm. 41), Nr. 15c-s; Landtagsgravamina 1552: HStAST A 3 4 B ü l 3 b , Nr. 5, v.a. die Klagen der Kirchspielorte; Beschwerden über den übereifrigen Vogt [nach 1629]: ebd., L6 1275. 321
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und Supplikationen
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men" besäßen, trotz vielfältiger Einsprüche und Protestationen bei der Renovierung älterer Lagerbücher die neuen Beträge anstelle der alten eingerückt worden. Die erste „Resolution" der (Vormundschafts-)Regierung sagte eine Erkundigung zu, aufgrund deren man sich dann vollends über diesen Punkt „resoluieren" wolle, und zwar so, daß die Landschaft sich „füglich" nicht weiter zu beschweren habe. Im Verlauf der weiteren Landtagsverhandlungen teilte die Regierung mit, daß sie es für „ratsamer" halte, bei der Gleichsetzung der beiden Münzeinheiten zu bleiben, sagte aber zu, daß wegen der Ansetzung der „Strafen" an die Amtleute und Rentkammer die Anweisung ergehen solle, daß der Betrag je nach Beschaffenheit des „Verbrechens" gemindert werden könne. Die Landschaft erklärte dagegen, daß sie die Aufhebung der Münzäquivalenz für „ratsamer" halte, zumal das Münzreskript von 1618 längst aufgehoben worden und außerdem „von denn Stätt vnnd Ämbtern, solche erhöhung niemahlen einhelliglich angenommen, sondern darwider viehlfälltig supplicirt" worden sei 328 ). Den zweiten Vorschlag nahm sie an, wies aber ausdrücklich daraufhin, daß die Revision der Landesordnung von 1621, der man das Mandat wegen der Frevelerhöhung einverleibt hatte, „ohne Vörwissen vnd vnnderthönig bewilligen gesambter Landtschafft wider die Landtes=Compactaten fürgenommen" worden sei, worüber sich die Landschaft keineswegs „unbillich zu beschweren" habe 329 ). Daraufhin sagte die Regierung zu, ein „Außschreiben ergehen zuelassen, Vnnd dem werckh allso zuehelffen, daß die LandtsCompactaten vnnd Lägerbüecher dabey sollen in acht genommen vnnd nach beschaffenhait deß delicti verfahren" würde. Diese „resolution" wurde von der Landschaft untertänig „acceptirt, vnnd vmb befürderung deß Außschreibens gehorsam gebetten". Was folgte, war jedoch das oben zitierte, an die Amtleute gerichtete Generalreskript, in dem die Regierung ihre Verhandlungszusage mit der Begründung zurücknahm, daß sie nunmehr die Aktenlage genauer studiert und festgestellt habe, daß die Frevelerhöhung unverzichtbar sei. Es zeige sich nämlich, daß die Verbrechen und Laster überhand nähmen, die Strafen aber zu niedrig seien, um abschreckend zu wirken. Im übrigen war man zu der Auffassung gekommen, daß Lagerbuchrecht kein verglichenes Recht sei und daher nach Maßgabe der Herrschaft abgeändert werden könne. Der Landtagsabschied vom Dezember zeigt, daß die Regierung diese Auffas-
328
) Siehe oben bei Anm. 238 und 323. ) Die 7. Landesordnung von 1621 (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], XII, Nr. 214, 726) brachte die Vorrede Herzog Christophs aus der 6. Landesordnung (1567), wonach die Landesordnung auf „vnderthäniges gut ansehen, auch gehorsamer Bitt" der Landschaft erneuert und ergänzt worden sei und zwar „mit sonderm gehabtem stattlichem Rath Vnserer Rath, auch Ihr Vnserer Prälaten vnd Landtschafft Grossem Außschutz erwegen". Diese Vorrede wurde also zitiert, obgleich die neue Ordnung nicht mit der Landschaft verglichen worden war. 329
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sung gegenüber der Landschaft, die zu diesem Zeitpunkt politisch und finanziell am längeren Hebel saß, nicht durchsetzen konnte 330 ). Die Crux lag offensichtlich in der Subsummierung aller Bußen, Frevel, Brüche und Poengelder unter dem Begriff Strafe, durch welche die Unterschiede zwischen Malefiz-, Frevel- und Sittengerichtsbarkeit verwischt werden konnte, um in der Folge zu leugnen, daß Städte, Ämter, Niedergerichte, Pfarreigemeinden, Dorfgemeinden und Zünfte an dieser Gerichtsbarkeit aufgrund ihres Herkommens in vielfältiger, wenn auch durchaus unterschiedlicher Weise teilhatten 331 )- Daß Sittengerichtsbarkeit und Polizeigewalt außer an die Reichsgesetzgebung 332 ) auch an die Ruggerichtsbarkeit und die Sendoder Bußgerichtsbarkeit 333 ) anknüpften, belegt die 1547 ergangene, erste württembergische Visitationsordnung, durch welche die „Evangelische Leer, Christenliche Zucht, vnnd gute pollizey [...] fürgenommen, gehallten vnnd Inn das werk gericht werdenn" sollte 334 ). Daß die Herzöge weder die eine noch andere ohne die Mitwirkung der Ehrbarkeit durchsetzen konnten, ergibt sich unter anderem aus der Instruktion, die schon 1546 für diejenigen erlassen worden war, die „wegen der Visitation in alle Aemter umbherreyten" würden 335 ). Darin heißt es: „Und dieweil [...] auch obangezaigte Visitation one ain Christliche dapfer ober und Erbarkeit nicht mag in das Werck gericht und gehandhapt werden, so sollen die geordneten im abschid in craft jrer Credentz mit Gericht und Rath ernstlich reden und handien, die lands, Casten und Kirchenordung vnder hand zu nemen" und sich anhand derselben zuerst selbst prüfen, sie dann aber gegenüber den Untertanen anwenden, um „Gottes ehre Frid Recht und gemainen nutz zu fürdern, wöllichs sie dann billich für sich selbst woll bedencken und zu hertz fassen sollen, wann es gleich von hochgedachtem unserm gnädigen Fürsten und hern nicht beuohlen were". Man könnte sagen, daß damit das (im Grunde bis heute nicht gelöste) Problem mittelalterlicher Bußgerichtsbarkeit, nämlich die Vermengung von Bes33
°) Siehe dazu Kap. 1.2. am Ende. ) Vgl. dazu Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm. 100), 1191 f.; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. Neudruck Göttingen 1988, 39ff.; Wehrenberg, Gemeinfronverpflichtungen (wie Anm. 295), 164f.; H. Krause, Art. „Gewohnheitsrecht", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1971, 1675-1684, v.a. 1680. 332 ) Dazu Härter, Policeygesetzgebung (wie Anm. 72), 62 ff. 333 ) Zur Zuständigkeit der Vogt- und Ruggerichte: Wintterlin, Behördenorganisation (wie Anm. 23), 9; vgl. dazu die Zuständigkeiten der alten Sendgerichte: Herbert Lepper, Reichsstadt und Kirche. Die Auseinandersetzungen um die Verfassung des Aachener Sendgerichts im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, in: ZRG KA 97 (1980), 371-392; siehe Anm. 311. Zur Geschichte des Send: D. Lambrecht, De kerkelije wroegingsprocedure in de Frankische tijd. Genes en eerste ontwikkeling, in: TRG 49 (1981), 47-100; zu den Visitationsordnungen: Schmucker, Polizeiwesen (wie Anm. 325), 18ff.; vgl. Anm. 95. 334 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), VIII, Nr.31, Zitat 70. 335 ) Ebd. Nr. 30; zur öffentlichen Kirchenbuße für Ehebrecher: ebd., VIII, Nr. 53; siehe auch Anm. 311. 331
Amtsbeschwerden,
Landtagsgravamina
und Supplikationen
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serungs- und Vergeltungsstrafen, eine Neuauflage erlebte 3 - 16 ). Mit zunehmender Konsolidierung der Reformation des Landes konnten die Herzöge ihre Prärogative im Hinblick auf die Setzung und Durchsetzung von gutem Recht und rechter Ordnung außer auf kaiserliche Privilegien und wohlerworbene Herrschaftsrechte auch auf göttlichen Auftrag und kirchliches Recht stützen 3 3 7 ). Im Zuge der Aufhebung des Interims, der Neuordnung des Kirchenwesens und der Vereinbarung des Augsburger Religionsfriedens war die Beschränkung der partikularen Bannrechte im Bereich der Kirchenhoheit legitimiert und teilweise besiegelt worden 3 3 8 ). Um den Folgen zu steuern, strebte die Landschaft nach 1555 nach einer prinzipiellen Abklärung der Reichweite des landesherrlichen Kirchenregiments der Herzöge 3 3 9 ). Der Anschluß der Klosterherrschaften, deren dörfliche Gemeinden zwar keine Landstandschaft besaßen, dafür aber dem alten (kirchlichen) Korporationsrecht und seinen Institutionen eng verbunden waren, dürfte ihr dabei zugute gekommen sein. Sie brachten nämlich nicht allein eine beträchtliche Zahl steuerfähiger Hausväter zur Landschaft, sondern stärkten auch das auf altes Recht begründete korporative Konfliktpotential gerade dort, wo die Landesherrschaft mit ihren gelehrten Juristen Boden zu gewinnen suchte 340 ). 4. Regelungen, die eine Abgrenzung der Nutzungsrechte zwischen der Herrschaft und der Landschaft beziehungsweise den Städten, Klöstern, Ämtern und Gemeinden bezweckten. Da es hier um dingliche Rechte, also um Ressourcen, wenn nicht sogar um bloße Subsistenz ging, waren konkrete Vereinbarungen und Entscheidungen gefordert. Allgemeiner Natur konnten diese jedoch nur dann sein, wenn sich der Landesherr als Inhaber des Kammergutes gegenüber der Landschaft insgesamt zu verantworten hatte (General- oder Landesgravamina), also nicht einfach als beklagte Partei auf eine Vielzahl von Klagen einzelner Untertanen und Korporationen (Partikular- oder Privatbeschwerden) durch partikulare
336
) Siehe Anm. 333. ) Siehe Anm. 288; außerdem Jesus Vallejo, Power Hierarchies in Medieval Juridical Thought, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten, 2 Bde. l . B d . Darmstadt 1980, 1-29; v.a. 5f., 10ff.. 16, 19f.; zur Anwendung kanonischen Rechts im Reichskammergericht wie in den protestantischen Territorien: Jörn Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment. Studien zur Rechtsdogmatik des Kirchenpatronatsrechts im 15. und 16. Jahrhundert. KölnAVien 1987, 127ff., 172ff„ 225ff., 254 ff., 202 ff., v.a. 227, 234, 244 f. 338 ) Siehe etwa das Landtagsgravamen (1552) der Stadt Blaubeuren im Namen ihres Spitals wegen des Entzugs der Visitation im Spitaldorf Pappelau und das Gutachten der Räte hierzu: HStAST A34 Bül3b, Nr. 1. Kirchenordnungen ergingen 1536, 1553, 1559 (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], VIII, Nr. 23, 42, 48), Kastenordnungen 1536, 1552 und 1567 (ebd., XII, Nr. 22, 50, 83), Eheordnungen 1534, 1553 (ebd., IV, Nr. 44, 55), vg. 339 ) Siehe Anm. 87. 34 °) Vgl. Bums, Idea (wie Anm. 303), 28 ff. 337
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Resolutionen antworten konnte, die auch dort, wo sie Kommunen und Ämter betrafen, zunehmend anstatt als Vergleich als Entscheid gedeutet wurden 341 ). Allgemein gültige Resolutionen ließen sich in diesem durch partikulare Nutzungsrechte bestimmten Bereich nur durch die Formulierung von Landesoder Grundfreiheiten und die Erlassung entsprechender Ordnungen erlangen. Über die Amtsschadensordnung, die Landtagsverordnung, die Aufhebung von Landschaden und Landsteuer und das damit verknüpfte Steuerbewilligungsrecht, den Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Konfiskation, den freien Zug und Abzug oder die Kontrolle des Straf- und Frevel- und des Kriegswesens wurden die herrschaftlich-landesherrlichen Abgabe-, (Mit-)Nutzungsund Abschöpfungsrechte 342 ) landesweit - und das hieß allen Untertanen und Schirmverwandten gegenüber - beschränkt oder aufgehoben 343 ). Durch die Regulierung der Verfahren ordentlicher Streiterledigung zwischen Untertanen, Korporationen und Amtspersonen wurde eine Vorteilnahme der Herrschaft durch parteiische Justiz unterbunden oder zumindest behindert 344 ). Das war kein geringer Erfolg, auch wenn der Schutz des Eigentums der Untertanen nirgends ausdrücklich formuliert wurde 345 ). Allerdings gewann durch die enge Verknüpfung des Nutzens von Korporationen und Personen mit dem gemeinen Nutzen des Landes, als dessen Repräsentant die Landschaft in Gestalt des Landtags und seiner Ausschüsse auftrat, der Bereich dinglicher Rechte eine besondere politische Relevanz. Indem der Landtag die Kredithilfen bewilligte, bestimmte er die Höhe der abschöpfbaren Überschüsse (Sondersteueraufkommen), während die Umlage, welche den Städten, Ämtern und Gemeinden ihren Anteil zuwies, regelmäßig nach dem Landtag erfolgte 346 ). Aus politischen wie aus kredittechnischen Gründen mußte die Landschaft versuchen, die Überschußerträge des Landes so hoch wie möglich zu halten, wozu auch gehörte, daß sie die Ausweitung herrschaftlicher Nutzungsrechte im Interesse des ganzen Landes so weit wie möglich unterband 347 ). Allerdings wurden unter Berufung auf den gemeinen Nutzen nicht nur Regelungen gefordert und begünstigt, die den Landesherrn be-
341
) Siehe Anm. 286 und Kap. 3.2. ) Zum Recht auf Abschöpfung siehe die Diskussion um die Voraussetzungen und Folgen des Erwerbs sowie der Inkorporation von Kirchen mit und ohne Pfarrei: Sieglerschmidt, Kirchenregiment (wie Anm. 338), 55 ff., sowie Anm. 28, 50, 136, 177, 179, 252. 343 ) Die Amts- und Landschadensordnung von 1482 (Reyscher, Sammlung [wie Anm. 14], XII, Nr. 1) vermengte landes- und grundherrliche Pflichten und Rechte. Zum Landschaden siehe den Tübinger Vertrag: ebd., II, Nr. 18,41; zu Abzug und Steuer den Landtagsabschied 1551: ebd., Nr. 33, 94; außerdem Anm. 17, 27, 43, 114, 232. 344 ) Siehe Anm. 301 und Kap. 3.2. 345 ) Wunder, Grundrechte (wie Anm. 31), 441 ff. 346 ) Siehe den Landtagsabschied von 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 115; vgl. auch Anm. 130, 263. 347 ) Siehe Anm. 43, 66, 306. 342
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schränkten, sondern auch solche, die in die Lebensführung und die Wirtschaft der Korporationen und der Untertanen eingriffen 348 ). Als Beispiel sei das Mandat gegen die Neuanlage von Weingärten angeführt, das 1554 von der Landschaft beantragt und in Form eines Generalreskripts mit dem kleinen Ausschuß verglichen worden war 349 ). Es sollte die Grundversorgung mit Getreide, Viehfutter und Brennholz sichern. Seine Durchsetzung stieß jedoch auf Probleme, wofür sich auf dem Landtag 1565 die Landschaft und der Landesherr gegenseitig die Schuld zuschoben 350 ). Der Herzog hielt der Landschaft vor, daß sie das Mandat selbst angeregt und gut geheißen habe. Die Landschaft hingegen wollte das Problem nicht in der Anordnung selbst sehen, sondern monierte aufgrund zahlreicher Klagen aus den Ämtern die Art, in der die Vögte deren Durchsetzung zu erzwingen suchten. Das Gebot werde meist aus Unwissenheit gebrochen. Die Frevel seien wegen der großen Armut der Untertanen an deren wirtschaftlichen Verhältnissen auszurichten, also fallweise zu mindern. Der arme Mann werde bei solchem Entgegenkommen die ihm auferlegten Lasten des Landes (nämlich die neue Schuldenumlage) um so freudiger tragen. Der Herzog wollte von einer Beschränkung seiner Strafgewalt nichts wissen. Das Mandat sei Teil eines Landtagsabschieds, außerdem müßten Gebote gehalten werden, sonst seien sie nutzlos. Den verdeckten Hinweis auf eine mögliche - durch den freien Zug und Abzug grundsätzlich legitimierte - Steuerverweigerung der Untertanen 351 ), überging er. Die Landschaft verlangte nun, daß die Amtleute die Untertanen frühzeitig warnen, das heißt, einschreiten sollten, bevor es zur Völlendung des Tatbestandes komme, und drängte auf eine Amnestie, die unter erneuter „Einschärfung" des Mandats selbst auch gewährt wurde 352 ). Auch wenn die Landschaft so tat, als ginge es nur um die Höhe der Frevel, so deutet sich doch schon an, daß auch das von ihr zum Wohle des gemeinen Nutzens geförderte Verordnungswesen selbst Ursache von Ämterbeschwerden war 353 ). Wo sie die Formel des gemeinen Nutzens dazu brauchten, das Steueraufkommen des Landes zu mehren, sieht man die Landtage und die Ausschüsse am ehesten in Gefahr, weniger den Bedürfnissen der Untertanen in Stadt und Amt als einem von diesen abgehobenen politischen Kalkül der Gesamtkorpo348
) Siehe Anm. 325 und 310; außerdem die Landesordnungen; zum Fürkaufmandat siehe Anm. 252. 349 ) Landtagsabschied 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 120; Mandat: ebd., XII, Nr. 56. 35 °) HStAST A34 B ü l 6 c , Nrr. 18, 20, 22. 351 ) Siehe Anm. 30. 352 ) Landtagsabschied: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37, 128; und das Mandat vom 2.8.7.1565: ebd., XII, Nr. 77. 353 ) Siehe z.B. die Taxordnung von 1622: ebd., XII, Nrr. 220, 222, 225; oder das Gutachten des Oberrates aufgrund von vier Supplikationen aus dem Amt Urach samt Vogtbericht: HStAST A237a BU520.
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ration oder gar den wirtschaftlichen Interessen der wohlhabenden Ehrbarkeit zu dienen, der als Hauptkreditgeberin des Landes daran lag, dessen Konkurs zu verhindern. 5. Maßnahmen zur Setzung und Durchsetzung neuen Rechts. Neues Recht sollte dem Willen der Landschaft nach Landesrecht, das hieß mit ihr als dem Repräsentationsorgan aller Landstände verglichenes Recht sein. Dieses Recht zeichnete sich dadurch aus, daß es die Gebotsgewalt des Landesherrn vereinheitlichte, zugleich aber rechtlich und verfahrensmäßig beschränkte. In der schon 1514 gestellten Forderung nach einem allgemeinen Landrecht kommt dieser Anspruch der Landschaft zum Ausdruck, wobei in diesem Kontext der Aspekt der Privilegierung der ,besseren' städtischen Ehrbarkeit eine besondere Rolle spielte 354 ). Zu unterscheiden sind die den politischen Anspruch sichernden Grundrechte und das von diesen aus entwickelte Recht. Rechtskräftig und rechtswirksam wurden beide durch Landtagsabschiede und Ausschußtagsabschiede, das Landrecht, die Landes- und andere Ordnungen, Generalreskripte und Mandate wurden außerdem mit Hinweis auf diese Abschiede publiziert 355 ). Die Tatsache, daß das Landrecht sowie bestimmte Grundrechte eine kaiserliche Bestätigung erlangten, weist daraufhin, daß Landschaft und Landesherr gleichermaßen dem Recht von Kaiser und Reich unterworfen waren 356 ). Im Bereich des lediglich die inneren Belange des Landes betreffenden Ordnungswesens konnte die Landschaft über eine landesweite Gesetzgebung ein wachsendes politisches Aktionsfeld schaffen, auf dem sie den Tendenzen der Herrschaft, die Gemengelage hergebrachter Rechtskreise zu ihrem Vorteil auszunutzen, entgegentreten konnte 357 ). Das Landesordnungswesen stärkte die Gebotsgewalt des Landesherrn, band sie aber zugleich an das Recht und den Konsens des Landes, wobei die Landschaft als Maßstab das Recht der am besten privilegierten Korporationen und Untertanen anlegte, aber nicht ohne ihren tatsächlich besser privilegierten Mitgliedern einen Vorrang bei der Repräsentation des Landes einzuräumen. Mit der Förderung dieses Ordnungswesens begab man sich, wie oben gezeigt, auf nicht ungefährlichen Boden. Denn die Herzöge suchten im Gegenzug über die Wahrnehmung einer umfassenden Strafgewalt in allen Lebensbereichen und über alle Korporationen und Personen Gebot und Recht unter ihre Prärogative zu bringen, wobei ihnen ihre Stellung als christliche, nur Gott verantwortliche Landesväter sehr entgegenkam. Landschaft wie Herrschaft strebten also nach einem erweiterten Einfluß auf
354
) Vgl. Kap. 1.2., Anm. 9 6 f f . ) Kap. 1.2., A n m . 169 und 83. 356 ) Z u m Verhältnis von (General-)Privilegien und Gesetzgebung: Ebel, (wie A n m . 331), 4 0 f . , mit neuerer Literatur. 357 ) Siehe unter Punkt 3. 355
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das Land, das seinerseits diesen Bestrebungen ein nicht unbeträchtliches und politisch durchaus nicht unkluges Beharrungsvermögen entgegensetzte. Mit der Schaffung landesweit gültigen Rechts wurden nicht allein dem partikularen Recht Abstriche zugemutet, es verschob sich auch die Auseinandersetzung um das Recht von der konkreten, für den Alltag relevanten Ebene, auf die abstrakte Ebene, auf der sich mit Herrschaftstheorien religöser, theologischer und philosophischer Provenienz Politik machen ließ. Gemeiner Nutzen, Gleichheit, Wohl und Ansehen des Landes, die gottgewollte Ordnung und so weiter waren Versatzstücke einer Legitimierung und Beweisführung, welche die Landtagsabgeordneten einem Gewissenskonflikt aufliefern mußte, dem die meisten aufgrund ihrer Bildung, ihres eigenen sozialen Umfeldes und ihrer Alltagswirklichkeit wohl kaum gewachsen waren. So war der Forstmeister Sigmundt Wanner zu Blaubeuren zweifellos ein jähzorniger, grober und wohl auch ungerechter Mensch. Der Vorwurf, er handele „wider die New vorstordnunng", wenn er diejenigen, die Bauholz von ihm verlangten, anwies, an die Kanzlei zu supplizieren, wurde ihm allerdings zu Unrecht gemacht. Denn die Forstordnung verlangte genau das 3 5 8 ). Der Zorn, der dieser Ordnung galt, traf ihn, weil er auf wenig vermittelnde Weise einem Recht und mit diesem einem Rechtssystem zum Durchbruch verhalf, das die Ämter und Gemeinden nicht allein als Bedrohung ihrer Auskömmlichkeit verstehen konnten, sondern auch als Gefahr für ihr Selbstverständnis und ihr Weltbild 3 5 9 ).
3.2. Die Resolution als rechtliche Lösung Den Bestrebungen der Landschaft, das Beschwerderecht politisch zu nutzen, versuchten die württembergischen Herzöge dadurch zu begegnen, daß sie vor allem die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als Spezialgravamina bezeichneten Ämter-, Gemeinde- und Individualbeschwerden auf die Supplikationsschiene umlenkten 3 6 0 ). Ohne die Vorteile bestreiten zu wollen, die im 16. Jahrhundert ein geregeltes Supplikationswesen für die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Herrschaft und Untertanen besaß, ist doch noch einmal darauf hinzuweisen, daß dieses der Ausbildung eines allgemeinen politischen 358
) Revscher, Sammlung (wie Anm. 14), XVI, Nr. 7, 43. ) Siehe Berger/Luckmann, Konstruktion (wie Anm. 10), 7 0 f. Da „Wissen, das die institutionseigenen Verhaltensvorschriften mit Inhalt versorgt" [ . . . ] „als Wissen gesellschaftlich objektiviert ist, das heißt, da es das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit darstellt, muß jede radikale Abweichung von der institutionalen Ordnung als Ausscheren aus der Wirklichkeit erscheinen. Man kann derartige Abweichungen als moralische Verworfenheit, Geisteskrankheit oder bloße Ignoranz ansehen" - oder eben als Rechtsbruch. Zum Gebrauch des Wortes wahr im Zusammenhang mit Zeugenaussagen siehe den Bericht des Göppinger Vogtes 1552: HStAST A 3 4 B ü l 3 b , Nr. 2. 36 °) Dazu Kap. 2.1., Anm. 189. 359
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Petitionsrechts abträglich sein konnte 361 ). Die Landschaft begab sich auf dünnes Eis, wenn sie sich darauf einließ, Ämterumfragen vorzunehmen, nicht um Landtagsgravamina zusammenzustellen, sondern um deren Berechtigung zu beweisen, weil eine solche Anwaltschaft weniger als politisches, sondern vielmehr als gerichtliches Mandat erschien. Das war immer noch mehr als die Stände - und insbesondere die Städte und Ämter - anderer Territorien in Anspruch nehmen konnten. Die entscheidende Frage ist aber, ob sich dieses Mandat außerhalb des Landtags umsetzen ließ 362 ). Der Landtag 1565, auf dem man die Landschaft auf dem Höhepunkt der Ausbildung ihres Beschwerde- und Petitionsrechts findet, bezeugt zugleich, daß auch die Landesherrschaft in die von ihr zur Konsolidierung ihrer Position eingeschlagene Richtung vorangeschritten war. Der Herzog verweigerte, wie oben schon ausgeführt, die Vergleichung über die vom Ausschuß in vierzehn Punkten zusammengestellten Landtagsbeschwerden, weil ihm die Klagen einerseits zu unbestimmt, andererseits nicht allgemein genug waren. Beides war ein Argument dafür, Maßnahmen allgemeiner Natur zu vermeiden, um statt dessen über Einzelfälle „in specie" zu entscheiden 363 ). Insbesondere Fälle, die dem Bereich der Reservatsachen angehörten oder solche berührten, wollte man von Regierungsseite aus Landtagsverhandlungen tunlichst heraushalten. Wenn Beschwerden außerhalb von Land- und Ausschußtagen und damit ohne Beteiligung landschaftlicher Vertreter verhandelt wurden, bestand jedoch die Gefahr, daß die Resolution vor allem durch die Berichte der Vögte und die Gutachten der für das Kammergut zuständigen Räte beeinflußt wurde 364 ) und die Bestimmungen des Tübinger Vertrages oder der Landtagsabschied nicht hinreichend zum Tragen kamen 365 ). Da die Herzöge das consilium ihrer Räte zum einen nach ihrem Belieben abändern und daher nicht als Urteil (Vergleich), sondern lediglich als Entscheid gebieten wollten, war das Recht, um das die Beschwerde konkret kämpfte, ebenso gefährdet wie das Recht der Korporationen und der Landschaft, Rechtsänderungen zu konsentieren 366 ). Wo man 1565 über Landtagsgravamina „in specie" unterrichtet werden wollte, empfahl man potentiellen Klägern 1583 zum Teil schon explizit den
361) Wie Anra. 301; außerdem Kap. 1.1., bei Anm. 59 ff. 362 ) Zum Landtag als Forum siehe Kap. 1.1., Anm. 34f.; vgl. Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm. 100), 1277 f. 363 ) HStAST A34 Bül6c, Nrr. 18, 20, 22; ebd., L6 1281; Landtagsabschied: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 37. 3M) Siehe Kap. 2.2.2. und 2.2.3.; vgl. die Kanzleiordung von 1553: ebd., XII, Nr. 52. 365) vgl. die Klage Metzingens (Anm. 126). 366 ) HStAST A34 Bül3b, Nr. 3 (Bescheid an den Vogt); ebd., Nr. 4 (Tuttlingen, Randbemerkungen der Räte mit Kommentar des Landesherrn); ebd., Nr. 5 (Bescheid an den Vogt); außerdem Anm. 221; Kap. 2.2.3.
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Supplikationsweg oder verwies sie sogar darauf 367 ). Herzog Ludwig versuchte sogar in die ureigensten Angelegenheiten der Landschaft einzugreifen, indem er diejenigen, die sich durch die Umlage der alten und neuen Kredite zur Finanzierung des Schuldenwesens 368 ) beschwert fühlten, zur Supplikation an die Kanzlei ermunterte. Falls Amtmann und das Gericht zu keinem gütlichen Vergleich kämen, wollte er selbst „befundenen dingen, vnnd verstanndener billicheit nach, solches einsehens" tun 369 ). Er gedachte also nicht nach Recht und alter Observanz zu urteilen, sondern nach seinem landesväterlichen Ermessen - ein Angebot, das für manche überschuldete Gemeinde die letzte Hoffnung sein konnte. Daß er zugunsten einer zahlungsunfähigen Kommune oder Einzelperson auf auch nur einen Gulden der ihm zugesagten Kredite verzichten würde, war kaum zu erwarten. Sein „Einsehen" würde also nicht zu seinen, sondern zu Lasten anderer Kommunen im Amt oder anderer Stände im Land gehen. Die Gegensupplikation war damit schon abzusehen. Mit diesem Versuch, die minderprivilegierten Kommunen und Untertanen unter dem Vorwand, für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zu sorgen, unter seine landesväterliche Patronage zu ziehen, machte Ludwig nicht nur ein Interzessionsrecht gegen die korporative Zwanggewalt der Landschaft geltend, sondern beanspruchte auch, in den an ihn herangetragenen Fällen das Urteil zu sprechen. Was sich damit abzeichnete, war die für das Supplikationswesen kennzeichnende Tendenz der Landesherren, aufgrund einer angemaßten plena potestas Ausnahmen vom geltenden Recht zu machen, ohne für die Folgen in Haftung zu treten 370 ). Die Landschaft mußte sich von daher gezwungen sehen, sich nicht allein ihrer Klientel besser anzunehmen, sondern auch dafür zu sorgen, daß derartige Klagen nicht auf dem Supplikationsweg oder gar durch den Herzog persönlich entschieden wurden. Der Landtagsabschied von 1608 bekannte sich indirekt zu der oben gestellten Frage nach der Reichweite des einer Interzessionsgewalt erteilten gerichtlichen Mandats 371 ). Niedergelegt wurde dort, daß zur gütlichen Beilegung (das heißt Vergleichung) der zahlreichen von „Clöster Underthonen, auch Stätten, vnnd Aemptern" eingegangenen „special-Grauamina" eine Kommission aus landesherrlichen Räte, Prälaten und Ausschußmitgliedern gebildet werden solle. Niedergesetzt wurde also ein besonderes Austrägalgericht 372 ), dem anders als der Kanzlei außer landesherrli367
) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 41, 179, 180; siehe auch die Erörterung und Resolution etlicher partikularer Beschwerden in: HStAST A34 Bül 8b. Vgl. Anm. 189. 368 ) Zum Umlagemodus siehe den Landtagsabschied von 1554: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 36, 114f., 117, 118. 369 ) Ebd., II, Nr. 41, 174 f. 37 °) Wie Anm. 301; Burns, Idea (wie Anm. 303), 25. 371 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 14), II, Nr. 52, 305; siehe oben bei Anm. 66ff. 372) Vgl. Anm. 309; zur Gesamtproblematik: Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm. 100), 1259ff.; zum Funktion des Rates als urteilende, den Herrscher bindende Instanz: ebd., 1271 ff.
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chen Räten auch Mitglieder der Landschaft angehörten, insbesondere auch deren juristisch geschulter Advokat, nicht aber der Herzog selbst 373 ). Damit war garantiert, daß die Resolutionen erstens urteilsförmig ergingen und zweitens nicht einseitig im Interesse der Herrschaft erfolgten. Der Landtagsabschied von 1629 vereidigte die geheimen Räte auf die Landschaft und stellte damit zumindest formalrechtlich sicher, daß auch Resolutionen in Reservatsachen im Namen der Landschaft und damit ihm Rahmen des durch diese garantierten Rechts ergingen.
4. Zusammenfassung 1. Aufgrund des ihnen gewährten freien Zuges und Abzugs konnten alle württembergischen Untertanen über ihre Person und ihr Vermögen frei verfügen, das heißt, es konnte ihnen ein individuelles Steuerbewilligungsrecht zugeschrieben werden. Diesem entsprach das Recht auf Gegenbitte, das auf Landtagen als delegiertes, das heißt hier korporativ wahrgenommenes, Recht auf Vortrag ihrer Beschwerungen erscheint. Dieses Recht übten die Städte also lediglich im Namen der Bürger in Stadt und Amt aus. 2. Die Landschaft konnte aus ihrem korporativen Auftrag ein Interzessionsrecht herleiten, das es ihr erlaubte, die rechtlichen Interessen ihrer Mitglieder (Personen und Korporationen) auf Landtagen einzuklagen beziehungsweise in ihrem Namen ein Konsensrecht für Vergleiche und Verträge (Rechtsänderungen) wahrzunehmen. 3. Das der gemeinen Landschaft unter Herzog Christoph gewährte Petitionsrecht stützte sich also zum einen auf das Recht der durch sie selbst (Gesamtkorporation) respektive durch die ihr zugehörigen Städte, Ämter, Gerichte, Gemeinden und Prälaten (Stände) repräsentierten Untertanen auf Gegenbitte (Beschwerde), zum anderen auf die den Untertanen und Korporationen zustehenden dinglichen und nicht-dingliche Rechte. 4. Die Herzöge von Württemberg konnten die mit Hilfe der Landschaft erlangte Vereinheitlichung des Landrechts und des Landesordnungswesens nicht nutzen, um die auf diese Weise suspendierte partikulare Banngewalt an sich zu ziehen, solange es der Landschaft gelang, dieselbe in dem von ihr wahrgenommenen Beschwerde-, Klage- und Konsensrecht der Ämter und Untertanen fortleben zu lassen. 5. Die Landschaft hinderte die Herzöge, sich als selbsturteilende oberste Richter in eigener Sache darzustellen, indem sie ihre Interzessionsgewalt vor allem in politisch brisanten Situation nutzte, um - gestützt auf die württember-
373
) Siehe Anm. 301; zur Besetzung des Hofgerichts Anm. 293.
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gischen Privilegien, das Reichsrecht, den Tübinger Vertrag - maßgeblich Einfluß auf die verschiedenen Verfahren außergerichtlicher Rechtsprechung zu nehmen. Auf diese Verfahren hatten nicht allein die Städte, sondern auch die Ämter, Gerichte und Gemeinden und alle entsprechend privilegierten oder begüterten Personen Anspruch.
Desideria und Landesordnungen Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800 Von
Andreas
Würgler
1. Einleitung: Thema und Fragestellung Der kommunale Einfluß auf die staatliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel kann auf zwei Wegen ermittelt werden. Einerseits sollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der hessischen Städte am Fürstenstaat des Landgrafen zu eruieren versucht werden über den Vergleich der ritterschaftlichen und städtischen „Desideria" (auch „Gravamina" oder seltener „Petita" genannt) mit den Landtagsabschieden und Landesordnungen 1 )- Dabei geht es primär um die Frage, ob der Untertanenschaft die Durchsetzung bestimmter Ansprüche und Vorstellungen gelingen konnte oder nicht. Andererseits soll anhand der kommunalen Suppliken untersucht werden, wie weit den hessischen Dorfgemeinden, die am Landtag nicht selber teilnehmen konnten, Wege zur politischen Einflußnahme überhaupt offenstanden. Die Spur dieser kollektiven Bittschriften, verfaßt von Dorf- oder Stadtgemeinden, Zünften, Amtsuntertanen und anderen größeren Gruppen, wird ebenfalls bis in die Landesordnungen verfolgt. Während die Hessen-Kasselischen Suppliken des 17. und 18. Jahrhunderts noch kaum untersucht sind 2 ), ist der Einfluß der Landstände auf die fürstliche Verordnungs- und „Gesetz"gebungstätigkeit in der hessischen Landesgeschichte oft betont worden. Hier erkennt man die „verschüttete demokratische Tradition der deutschen Geschichte" 3 ). Sie liegt laut Eckhart G. Franz in den „Traditionslinien, die von den friedenwahrenden Einungen von Städten und ') Die meisten Landes-Ordnungen sind gedruckt in: Sammlung fürstlich hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben. 1.-8. Teil. Kassel 1767-1816. 1. Teil: 1337-1627 (1767); 2: 1 6 2 7 - 1 6 7 0 (1770), bearb. v. Christoph Ludwig Kleinschmid. 3: 1 6 7 1 - 1 7 2 9 (1777); 4: 1730-1751 (1782); 5: 1 7 5 1 - 1 7 6 0 (1784); 6: 1 7 6 0 - 1 7 8 5 (o.J.); 7: 1 7 8 5 - 1 8 0 0 (1802), bearb. v. Christian Gerhard Apell. 8: 1801-1806 (1816), bearb. v. Karl Eggena\ künftig zit. als „LO 1-8". Zur Methode: Peter Blickte, Landschaften im Alten Reich. München 1973, 189-233, 5 2 2 - 5 5 1 . 2 ) Außer von Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen. Teil 1 und 2, in: HessJbLG 28 (1978), 110-190, 29 (1979), 6 3 - 9 7 . Vgl. Fuhrmann/KüminAVürgler, Supplizierende Gemeinden, in diesem Band. 3 ) Mitteilungen aus den Hessischen Staatsarchiven Nr. 5, Dez. 1977, 2.
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Rittern des Mittelalters über die kämpferischen Liberalen in den konstitutionellen ,landständischen Vertretungen' des Vormärz bis zu den demokratisch gewählten Abgeordneten der Hessischen Volkskammer von 1919 und des Hessischen Landtags von heute führen" 4 ). Auf diesem Traditionsbewußtsein gründet auch das vom Hessischen Landtag 1979 gebilligte Forschungsvorhaben „Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen" 5 ). Dieses Bewußtsein kann sich unter anderem auf ein Gutachten der fürstlichen Regierung zu Kassel aus dem Jahr 1797 berufen, welches festhält, daß „aus denen Landtagsabschieden [...] das nötige der auf Veranlassung der Landstände im Druck erschienenen Sammlung der Landesordnungen Auszugsweise eingeschaltet worden" 6 ). Schon im Vormärz versuchte die politisierte Ständegeschichte etwa des Marburger Staatswissenschaftlers Karl Friedrich Vollgraff oder des liberalen Publizisten Burckhard Wilhelm Pfeiffer auf der Basis der damals zugänglichen Quellen die in ihrer Existenz bedrohten kurhessischen Landstände historisch herzuleiten und zu legitimieren, indem sie die Wirksamkeit der Landstände durch einen Vergleich von Desideria, Landtagsabschieden und Landes-Ordnungen darzulegen trachteten7). So oft diese Methode seither vorgeschlagen wurde, auf der breiten Basis der archivalischen Überlieferung durchgeführt wurde sie nicht 8 ). Dank der jetzt von Günter Hollenberg vorgelegten und ausführlich kommentierten Edition der Landtagsabschiede 16491798 ist der Ansatz für diesen Zeitraum eher realisierbar geworden 9 ). 4
) Eckhart G. Franz, Vorbemerkung, in: Landstände und Landtage in Hessen. Von der Einung des Mittelalters zur demokratischen Volksvertretung. Ausstellung der Hessischen Staatsarchive zum Hessentag 1983 in Lauterbach. Darmstadt 1983, [3], 5 ) Günter Hollenberg/Berthold Jäger (Bearb.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649-1798. Marburg 1989, [VII], XV. Die hier edierten Landtagsabschiede werden unter der Abkürzung „LTA" (+ Jahr) zit., die Einleitung und kommentierenden Anmerkungen Hollenbergs als „Hollenberg, Einleitung". 6 ) Hessisches Staatsarchiv Marburg [= StAM] (Bestand) 63 (= Landtagskommissare) Nr. 1336 Anlage (= Anl.) 185, fol. 170 (Extract Geheimen Rats Protokcolli vom 14.X1.1797). Alle weiteren, hier zitierten Archivalien stammen aus dem Marburger Archiv. Sie werden mit Bestandesziffer und Nr. zitiert. Vgl. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XIV. 7 ) [Karl Friedrich Vollgraff], Was bedürfen, was wünschen und was erwarten demnach Kurhessens Bewohner von ihrem erhabenen Fürstenhause und dem auf den 16. October 1830 einberufenen engeren Landtage in Beziehung auf Verfassung und Verwaltung? Erste Abtheilung: Was waren und was wirkten die althessischen Landstände bis 1816? Frankfurt am Main [1830], 25f. [Dass. auch u.d.T.: Eine Stimme aus dem Jahre 1830 über das Kurhessische Verfassungswerk. O.O.o.J.]; zur Biographie: Allgemeine Deutsche Biographie. 40. Bd. Leipzig 1896, 248f.; Burckhard Wilhelm Pfeiffer, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen. Kassel 1834, 96, 173-182, 198-204; zur Biographie: Allgemeine Deutsche Biographie. 25. Bd. Leipzig 1887, 633f. 8 ) Neuhaus, Supplikationen 2 (wie Anm. 2), 73; Charles W. Ingrao, The Hessian Mercenary State. Ideas, Institutions, and Reform under Frederick II, 1760-1785. Cambridge u.a. 1988, 38; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XVI. 9 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5). Diese Edition war auch der Grund für die Konzentration auf Hessen-Kassel 1650-1800. Jetzt erschien auch: Günter Hollenberg (Hrsg.), Hessische Landtagsabschiede 1526-1603. Marburg 1994, 3; die Edition der Landtagsab-
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Die hessischen Landstände überschritten den Zenit ihres Einflusses hinsichtlich Regierungsbeteiligung und Gesetzgebungskompetenz an der Wende zum 16. Jahrhundert10). Die ständischen Versuche der Mitregierung in den 1620er Jahren waren nur ein spätes und kurzlebiges Wiederanknüpfen an eine spätmittelalterliche Praxis, die seit Philipp dem Großmütigen (1521-1567) von den Fürsten erfolgreich unterbunden worden war")- Doch paradoxerweise führte der Machtverlust der Stände im 16. Jahrhundert aufgrund ihrer Unentbehrlichkeit als Steuerzahler zu ihrer Institutionalisierung 12 ). Die heftigen und verworrenen Auseinandersetzungen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges endeten mit einem weitgehenden Triumph der Landgrafen 13 ), der „the Estates' Decline in the Seventeenth and Eighteenth Centuries" besiegelte 14 ). „Die Landstände haben", so der Landeshistoriker Hans Philippi, „ungeachtet mancher Ansätze nach 1648 keinen Einfluß auf die Regierungshandhabung gewonnen" 15 ). Eine gewisse ständische Renaissance im 18. Jahrhundert wird gemeinhin an der Rolle der Landstände als Kreditbürgen für die Hanauische Sukzession 1736 16 ), als Garanten der Assekurationsakte 1754' 7 ) und an der 1764 verabreschiede 1604—1648 ist geplant. Z u d e m liegen, nach anderen Kriterien ediert, vor: Hans Glagau (Hrsg.), Hessische Landtagsakten, 1. Bd.: 1508-1521. Marburg 1901 (mehr nicht erschienen). Die Neuinventarisierung der Landes- und Polizeiordnungen Hessen-Kassels durch das Polizei-Projekt von Prof. Michael Stolleis am Max-Planck-Institut f ü r Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main ist noch nicht in Angriff g e n o m m e n worden (freundliche Mitteilung von Dr. Karl Härter, Gießen 28.IX.1995). I0 ) Francis L. Carsten, Princes and Parliaments in G e r m a n y f r o m the Fifteenth to the Eighteenth Century. Oxford 1959, 172; Karl Demandt, Die hessischen Landstände im Zeitalter des Frühabsolutismus, in: HessJbLG 15 (1965), 3 8 - 1 0 8 , 4 0 , 4 4 - ^ t 6 ; Franz, Vorbemerkung (wie Anm. 4), [3]; Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie A n m . 9), 10f. ")Hans Siebeck, Die landständische Verfassung Hessens im sechzehnten Jahrhundert. Kassel 1914, 1 - 1 0 , 176-182; Kurt Dülfer, Fürst und Verwaltung. G r u n d z ü g e der hessischen Verwaltungsgeschichte im 16.-19. Jahrhundert, in: HessJbLG 3 (1953), 150-223, 152. 12 ) Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie A n m . 9), 11. 13 ) LTA 1655; Karl Demandt, Die Hessischen Landstände nach dem 30jährigen Krieg, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, 162-182. 14 ) So Carsten, Princes (wie Anm. 10), 172, vgl. 165 f., 188f.; Wolf von Both/Hans Vogel, Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel. München/Berlin 1964, 38, 39; Demandt, Landstände (wie A n m . 10), 4 0 f . Vgl. C. W. Ledderhose, Von der landschaftlichen Verfassung der Hessen-Casselischen Lande, in: ders., Kleine Schriften. 1. Bd. Marburg 1 7 8 7 , 4 7 f. 15 ) Hans Philippi, Der Oberrheinische Kreis, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/GeorgChristoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. 1. Bd. Stuttgart 1983, 643. Ähnliche Urteile bei: Peter K. Taylor, Indentured to Liberty. Peasant Life and the Hessian Military State, 1688-1815. Ithaca/London 1994, 3 4 f . , 4 0 f . ; Christine Aumüller/Stefan Brakensiek, Hessische Räte und Pikardische Magistrate im 18. Jahrhundert. Zwei sozialgeschichtliche Studien im Vergleich, in: Francia 22/2 (1995), 1 - 1 5 , 10. 16 ) Der Erbfall der Grafschaft an Hessen war nicht unumstritten und mit größeren finanziellen A u f w e n d u n g e n verbunden, die die Landschaft zu tragen bereit war. 17 ) Darin werden die konfessionellen Rechte der reformierten und lutherischen Untertanen
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deten Periodizität der L a n d t a g e a b g e l e s e n 1 8 ) . D i e s e in der F o r s c h u n g nicht unb e s t r i t t e n e 1 9 ) W i e d e r b e l e b u n g basierte vor a l l e m unter W i l h e l m VIII. ( 1 7 3 0 1 7 6 0 ) und Friedrich II. ( 1 7 6 0 - 1 7 8 5 ) auf der e n g e n K o o p e r a t i o n der Landstände mit d e m Fürsten 2 0 ). A u s der P e r s p e k t i v e der hier v e r f o l g t e n F r a g e s t e l l u n g fällt b e s o n d e r s auf, daß d i e Literatur d e n A n t e i l der Städte an d i e s e m w e c h s e l n d e n E i n f l u ß der L a n d s t ä n d e auf d i e h e s s e n - k a s s e l i s c h e Politik für alle Z e i t e n g e r i n g verans c h l a g t 2 1 ) . S o behauptete der b e d e u t e n d e h e s s i s c h e Landeshistoriker Karl E. D e m a n d t , daß d i e Städte nur B e s c h w e r d e n zu g e r i n g f ü g i g e n G e g e n s t ä n d e n formuliert hätten: „ D o c h selbst d i e s e g e r i n g e n A n l i e g e n sind n i e z u g u n s t e n der Städte erledigt w o r d e n " 2 2 ) . D i e S c h w ä c h e der Städte in der Frühneuzeit dient a u c h zur Erklärung der S c h w ä c h e d e s B ü r g e r t u m s und der relativen Stärke d e s A d e l s in K u r h e s s e n i m 19. Jahrhundert 2 3 ). H e s s e n gehörte sicherlich nicht z u m „urban belt" d e s R e i c h e s . D i e M e h r zahl der h e s s i s c h e n Städte waren v i e l m e h r v o n k l e i n s t ä d t i s c h e m Charakter und v o r w i e g e n d v o n A c k e r b ü r g e r n b e w o h n t . D a s Urteil e i n e s Preußen in landgräflichen D i e n s t e n a m E n d e d e s 18. Jahrhunderts, e s h a n d e l e s i c h eher u m mit M a u e r n u m g e b e n e D ö r f e r d e n n u m e i g e n t l i c h e Städte 2 4 ), ist aber v o n einach der Konversion des Erbprinzen Friedrich zum Katholizismus festgeschrieben. Garantiemächte: Preußen, England, Schweden, Dänemark, Niederlande und das Corpus Evangelicorum. LTA 1754 Anl. A. 18 ) Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 145, 188f.; Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 41; Franz, Vorbemerkung (wie Anm. 4), [16]; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXXV. 19 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIIf., relativiert die Periodizität der Landtage, die vom Wohlwollen des Landgrafen abhängig war und dessen Regierungszeit nicht überlebte. Jörg Meidenbauer, Aufklärung und Öffentlichkeit. Studien zu den Anfängen der Vereins- und Meinungsbildung in Hessen-Kassel 1770-1806. Darmstadt/Marburg 1991, 30, weist auf den Bedeutungsverlust des landständischen Steuerbewilligungsrechtes hin angesichts der mit Subsidien vom Soldatenhandel gefüllten Staatskassen. So auch Taylor, Military State (wie Anm. 15), 40f., 48. 20 ) Besonders deutlich Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 12, 38, 207, 212. Vgl. Winfried Speitkamp, Restauration als Transformation. Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1813-1830. Darmstadt/Marburg 1986, 9f.; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXXV f.; Walter Demel, Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus. München 1993, 7, 67. Wilhelm VIII. war 1730-1751 Statthalter für seinen Bruder König Friedrich I. in Schweden und 1751-1760 Landgraf. 21 ) Carsten, Princes (wie Anm. 10), 176, 179, 181 f., 189f.; Kersten Krüger, Finanzstaat Hessen 1500-1567, Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat. Marburg 1980, 61; Günter Hollenberg, Die hessen-kasselischen Landstände im 18. Jahrhundert, in: HessJbLG 38 (1988), 1-22, 6f.; Speitkamp, Restauration (wie Anm. 20), 8. 22 ) Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 58; vgl. ebd. 82 f. 23 ) Gregory W. Pedlow, The Survival of the Hessian Nobility 1770-1870. Princeton 1988, 11. Pedlow nennt ferner die geringe Industrialisierung. 24 ) Christian Ernst Bopp, zit. bei Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 56. Ein Beleg für den Topos bei einem englischen Reisenden (Fynes Moryson) des späten 16. Jahrhunderts zit. bei John C. Theibault, German Villages in Crisis. Rural Life in Hesse-Kassel and the Thirty Year's War, 1580-1720. Atlantic Highlands (NJ), 1995,9. Vgl. Klaus Greve/Kersten
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nem an Großstädten orientierten Bild der Stadt geprägt. Nicht zu vergessen ist nämlich, daß bis um 1800 im Reich die Kleinstädte dominierten, also mit Stadtrecht 25 ) versehene Orte mit bloß 200 bis 2000 Einwohnern. Hier lebten ca. 14% der Bevölkerung, wogegen nur je rund 3% Mittel- und Großstädte mit 2000 bis 10000 bzw. über 10000 bewohnten. Schätzungen für Hessen gehen davon aus, daß aufgrund der großen Zahl an Mittel- und vor allem Kleinstädten der Anteil der Stadtbewohner um 1600 mit rund 33% höher lag als insgesamt im Reich mit 25-30% oder in Sachsen (30%) bzw. Württemberg (26%). Nach dem Bevölkerungsrückgang im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg ging der Anteil der Stadtbevölkerung in Hessen bis um 1800 zurück auf rund 27%, während er sich für das Reich insgesamt bei 25 bis 30% hielt. Zudem war der Übergang zwischen Dorf und Kleinstadt seit dem Mittelalter recht fließend26). Gerade weil die hessische Städtelandschaft so typisch ist für das alte Reich, erscheint die Untersuchung ihres politischen Gewichts auch jenseits der Steuerfrage als sinnvoll. Die landesgeschichtliche Einschätzung zur politischen Rolle der Städte im Rahmen der Landstände gilt es bezüglich ihrer Mitwirkung an der Gesetzgebung in drei Schritten zu prüfen. In der Theorie der Gesetzgebung (2.), anhand der institutionellen Rahmenbedingungen der Landtage in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (3.) und im Bereich der politischen Praxis vor allem an, aber auch zwischen den Landtagen (4.).
2. Die Theorie: Gesetzgebung und Gesetz im 17. und 18. Jahrhundert in der Forschung „Im Zeitalter der absoluten Monarchie", lautet der Forschungsstand der Rechtsgeschichte, waren „die Gesetzgebung zu einer ausschließlichen Funktion des Herrschers" 27 ) und die Gesetze zur „Ausgeburt des Herrscherwillens" geworden 28 ). Das absolute Gesetzgebungsrecht des Fürsten hatte als erster Krüger, Steuerstaat und Sozialstruktur - Finanzsoziologische Auswertung der hessischen Katastervorbeschreibungen für Waldkappel 1744 und Herleshausen 1748, in: GG 8 (1982), 295-332. 25 ) Auch die landgräfliche Verwaltung trennte Dorf und Stadt mit dem Kriterium des Stadtrechtes; Theibault, German Villages (wie Anm. 24), 16 f. 26 ) Diese Angaben nach Holger Th. Graf.\ Kleinstädte in Hessen, 1500-1800. Ein Überblick über ihre Entwicklung, in: MOHessGV NF 76 (1991), 13-34; Heinz Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit. München 1993, 8 f.; Theibault, German Villages (wie Anm. 24), 17. Die Kleinheit der Städte betont auch Wolf-Heino Struck, Die Entwicklung der Städte, in: Erich Keyser (Hrsg.), Hessisches Städtebuch. Stuttgart 1957, 31^t8, 31. 27 ) H. Krause, Art. „Gesetzgebung", in: Handwörterbuch der Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1971, Sp. 1617. 28 ) Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. München 1990, 183. Anders: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen
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Jean Bodin 1576 mit großer Wirkung über Frankreich hinaus als Teilgewalt der superioritas territorialis definiert: „Et par ainsi nous conclurons que la première marque du prince souverain, c'est la puissance de donner loy à tous en général, et à chacun en particulier: mais ce n'est pas assez, car il faut adjouster, sans le consentement de plus grand, ny de pareil, ny de moindre que soy Vielfältige Bindungen und Mächte hinderten jedoch die meisten deutschen Fürsten daran, im Bodinschen Sinne souveräne Gesetzgeber zu sein. Zwar war ihr Gesetzgebungsrecht auch im Reich theoretisch nicht bestritten 30 ), doch vergaßen die Staatstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts nicht, gewisse Einschränkungen zu erwähnen, die nicht nur die Existenz des Reichs betrafen. In seinem „Teutschen Fürsten-Staat", der Generationen von Studenten als Handbuch der deutschen Politik und Generationen von Verwaltungsbeamten als Leitfaden für die Praxis diente, nannte Veit Ludwig von Seckendorff als Einschränkungen auf territorialer Ebene, „daß die Lands-Fürstliche Hoheit über die Unterthanen nicht gantz Herrisch und Eigenwillig/ sondern durch etliche Vorbehalte eingeschrenckt sey/ deren allhie vier erzehlet werden/ als die Autonomia in Religions-Sachen/ die unweigerliche Administration der Justitz/ und die Freyheit von Schätzungen/ wenn sie nicht im Reich oder von der Landschafft selbst gewilliget/ oder sonst rechtmässig und herkömmlich sind: Wie auch die Haltung der Vertrage und Land-Abschiede" 31 )- Diese „Verträge und Land-Abschiede" gerieten, so das Urteil von Johann Jacob Moser, im 18. Jahrhundert zum „delicatefn] Punct, worüber am meisten und am heftigsten gestritten wird [...:] Ob eines Reichs-Standes Landes-Hoheit durch Landes-Vertrage eingeschränket werden könne?" Dabei vertrat Johann Jacob Moser klar die Auffassung: „Kein Teutscher Landes-Herr hat einen ohnumschrânckten Gewalt" 32 ). Diese ständefreundliche Position vom notwendigen Rechts in Deutschland. l . B d . : Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800. München 1988, 131. 29 ) Jean Bodin 1576 livre 1, chap 10, zit. bei Heinz Mohnhaupt, Die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung. Argumente und Argumentationsweise in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Michael Stolleis u.a. (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag. München 1991, 249-264, 252. Vgl. ders., Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: lus commune 4 (1972), 188-239, 190, 200f. 30 ) Mohnhaupt, Mitwirkung (wie Anm. 29), 258. Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten Stat. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1665. 2 Bde. Hrsg. von L. Fertig. Glashütten im Taunus 1976, Teil II, 8. Kapitel, 210 hält fest, „daß die Macht und Befugnis solcher Ordnungen auffzurichten/ allein einem Landes-Herrn und Regenten zukomme". 31 ) Seckendorff, Fürsten Stat (wie Anm. 30), II 4, 78 (= Inhalt S. 5). Zur Rezeption Seckendorffs vgl. Stolleis, Geschichte (wie Anm. 28), 352, 358. Auch der Französische König war durch die Plicht zum „enregistrement" der Gesetze beim Parlement gebunden, Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 230. 32 ) Alle Zitate bei Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammen-
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ständischen Konsens für neue Gesetze versuchte am Ende des Jahrhunderts Johann Stephan Pütter mit vier Argumenten zu generalisieren. Er führte alte Privilegien, den Vergleich mit anderen Territorien, die Natur der Sache und die „Teutsche Verfassung" an. Diese neue Position widerspricht in gewisser Weise der allgemein konstatierten Praxis, wonach die ständische Mitwirkung durch den obrigkeitlichen Verordnungsschwall kalt ausgeschaltet worden sei 33 ). Da die Beschränkungen der Landeshoheit vom Grad der Beachtung des Herkommens und von der Stärke der Landstände abhängig waren, differierte der jeweilige Anteil von Fürst und Ständen an der Gesetzgebung in den Territorien so stark, daß 1769 selbst der alte Moser als bester Kenner der Verfassungen im 18. Jahrhundert sich vor Verallgemeinerungen hütete. „Die Landes-Verträge und das Herkommen derer Teutschen einzelnen Lande seynd hierinn so verschiden, daß sich keine allgemeine Regien daraus ziehen lassen" 34 ). Zudem bestand eine Differenz zwischen Theorie und Praxis auch insofern, als Landesherren oft die Stände in schwierigen Fragen freiwillig konsultierten. „Wie hiernechst ferner", äußerte sich Seckendorff, „der Landes-Herr viel vornehme Regierungs-Geschaffte/ wo nicht aus Schuldigkeit/ doch nutzlich und rühmlich mit seinen Land-Ständen communicire" 35 ). Zu den verschiedenen Graden der Mitwirkung konstatierte der „Zedier" 1737: „Es machen aber die Reichs-Stände entweder die Gesetze vor sich gantz allein, oder mit Zuzühung derer Land-Stände. Dabey aber doch dieses in Acht zu nehmen, daß sie an Theils Orten durch ihre Stimmen nur einen Rath, an andern aber auch den Ausschlag geben" 36 ). Hier findet sich ein zeitgenössisches Bewußtsein für das, was die moderne Rechtsgeschichte offene „Typologie der Gesetzgebung" nennt. Gerhard Immel destilliert aus der Fülle der historischen Fälle sechs Typen der Gesetzgebung heraus. Gesetze können zustande kommen durch die Stände allein (Typ 6), den Herrscher allein (Typ 5) oder ein Zusammenwirken von Ständen und Herrscher, das vier verschiedene Formen annehmen kann. Die Skala reicht von der unverbindlichen ständischen Anregung (Typ 4) über das Recht zu gutachtlichem Rat (votum consultativum) (Typ 3) oder notwendiger ständischer Approbation (votum decisivum) zu neuen Gesetzen (Typ 2) bis zu gleichberechtigt zwischen Ständen und Fürst
künften. [...] Frankfurt/Leipzig 1769 (ND Hildesheim/New York 1977), 1146. Zu diesem Streit vgl. schon die ebd., 313-321, zitierte Literatur von 1679 bis 1755. 33 ) Mohnhaupt, Mitwirkung (wie Anm. 29), 259, 263. 34 ) Moser, Reichs-Stände Landen (wie Anm. 32), 312. So auch die aktuelle Rechtsgeschichte: Gerhard Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und des Prozeßrechts, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 2,2. München 1976, 4; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 192f., 198. 35 ) Seckendorff, Fürsten Stat (wie Anm. 31), II 4, 78. 36 ) Art. „Lands-Ordnung", in: [Zedier], Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste [...]. 16. Bd. Leipzig/Halle 1737, Sp. 557.
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ausgehandelten Verträgen und Vergleichen, den sogenannten Landtagsabschieden (Typ l) 37 ). Die Forschung ist sich einig, das die Tendenz der historischen Entwicklung von der ständischen Mitwirkung (Typen 1 bis 4) zum reinen Herrscherbefehl (Typ 5) verlief 38 ). Gesetze als Produkte der Gesetzgebung sind die Ergebnisse der „Rechtsdarstellung und Rechtsetzung durch eine übergeordnete Autorität"39). In Parallelität zur Geschichte der Gesetzgebung verläuft auch die Entwicklung der „Grundformen des Gesetzes" (Wilhelm Ebel) von am Konsens der Rechtsgenossen orientierten (Weistum und Satzung) zu immer ausschließlicher nur auf dem Gebot des Herrschers gründenden Formen40). „Das Zeitalter des Rechtsgebots beginnt mit Polizeiordnungen und Landesordnungen, die beide Hauptformen der Gesetzgebung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bleiben"41)- „Das Rechtsgebot", fährt Ebel fort, „besagt und bewirkt also, daß das Verkündete, mag es sich Verordnung, Mandat, Edikt, Gesetz nennen, für alle Untertanen verbindliches Recht sein soll. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie an seinem Zustandekommen Anteil gehabt haben oder nicht, ob es als Recht setzt, was allgemein als Recht empfunden wird oder was nur dem (Landes-)Herrn als solches erscheint. Hier ist die Quelle des Gesetzes nicht die 37
) Immel, Typologie (wie Anm. 34), 9-24. Typ 6 ist der seltenste, historisch auf die nördlichen Niederlande beschränkt. Typ 5 herrscht im Zeitalter des Absolutismus, nachdem die Typen 1 - 4 zurückgedrängt worden sind. Vgl. Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. 9. Aufl., hrsg. v. Herbert Grundmann, 11. Bd.) München 1974, 72, 74, 79-81; Mohnhaupt, Mitwirkung (wie Anm. 29), 258. 38 ) Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. 2. Aufl. Göttingen 1958, 25 f., 69; Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 5. Aufl. Wien 1965 (ND Darmstadt 1970), 427; Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 2. Aufl. München 1980, 80; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 191; Mohnhaupt, Mitwirkung (wie Anm. 29), 257. Vgl. zum unterschiedlichen Mitwirkungsgrad Peter Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland. München 1973, 547-551. Zur methodischen Kritik an Immeis Typogie vgl. Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung. Zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebietes, in: ZRG GA 98 (1981), 157-235, 216— 226. 39 ) Immel, Typologie (wie Anm. 34), 3. So auch Schulze, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 165; Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: ZHF 10 (1983), 385-420, 390. 40 ) Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 11, 21-25; Maier, Verwaltungslehre (wie Anm. 38), 79-81; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 207f.; Immel, Typologie (wie Anm. 34), 10f.; P.Blickle, Landschaften (wie Anm. 38), 43 f., 547 f., 550. In Ergänzung zu Ebel zählt die neuere Forschung neben Weistum, Satzung und Rechtsgebot auch das Privileg zu den Grundformen des Gesetzes; Diestelkamp, Geschichte des Gesetzes (wie Anm. 39), 396-401 mit Verweisen. 41 ) Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 60. Vgl. Maier, Verwaltungslehre (wie Anm. 38), 4, 84; Oestreich, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 37), 72f.; Marc Raeff, The Well-Ordered Police State: Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600-1800. New Häven/London 1983, 55.
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ewige Ordnung der Dinge, auch nicht die Selbstbindung der Rechtsgenossen, sondern der Wille der Obrigkeit" 42 ). Ebels Grundformen des Gesetzes sind ein hilfreicher Versuch, die Vielfalt der im 17. und 18. Jahrhundert für obrigkeitliche Ordnungsbestrebungen verwendeten Termini zu ordnen. Sie erklären, warum rechts- und allgemeinhistorische Kenner der Materie aus Rechtsgeschichte und Allgemeingeschichte übereinstimmend zum Resultaet kommen: „Für den deutschen Bereich läßt sich nur mit Ungewißheit über Begriff und Abgrenzung von Termini wie Landrecht, Ordnung, Constitutio, Edict, Mandat usw. konstatieren" 43 ). Allerdings ist nicht zu übersehen, daß diese Erklärung nur die Entstehung der Gesetze trifft, nicht aber ihre Wirkung. Über diese ist zwar auffallend wenig bekannt 44 ), sie wird aber neuerdings skeptischer beurteilt 45 ). Das Problem beginnt damit, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein keine Regeln zur Publikation von Gesetzen bestanden. Folglich ist oft unklar, welche Erlasse landesweit öffentlich verkündet wurden. Die Rechtsgeschichte tendiert dazu, die Publikation nicht zu den Geltungsvoraussetzungen eines Gesetzes zu zählen 46 ). Denn offensichtlich hatten die zahlreichen Verhaltensanweisungen an die Rechtsanwender, weil sie als Ausfluß des Herrscherwillens galten, Gesetzeskraft, auch ohne daß sie allgemein bekannt gemacht worden wären 47 ). Die schon von Zeitgenossen beklagte schiere Menge der Landes- und Polizeiordnungen ist auch ein Forschungsproblem. Bisher gibt es nämlich noch für kein einziges Territorium eine vollständige Liste der ergangenen Erlasse, geschweige denn von ihrem jeweiligen Publikationsmodus, ihrer Geltungsdauer oder ihrem Wirkungsgrad 48 ).
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) Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 26. Vgl. ebd., 60, 62. ) Immel, Typologie (wie Anm. 34), 4. Vgl. Maier, Verwaltungslehre (wie Anm. 38), 8 7 91; Raeff, Police State (wie Anm. 41), 9; Stolleis, Geschichte (wie Anm. 28), 131; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 203, 206, 2 1 6 f.; Mohnhaupt, Mitwirkung (wie Anm. 29), 259 f. Dazu Schulze, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 2 0 7 - 2 1 6 . 45 ) Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 65; Schulze, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 1 8 3 190. 46 ) Diestelkamp, Geschichte des Gesetzes (wie Anm. 39), 4 1 0 - 4 1 2 , 4 2 0 mit Verweisen; Krause, Gesetzgebung (wie Anm. 27), Sp. 1615. Anderer Ansicht waren allerdings einige Juristen des 18. Jahrhunderts, so etwa K. A. Frhr. von Martini (1788); „Der hinreichend kundgemachte Wille eines Regenten, nach welchem die Untertanen ihre Handlungen einrichten sollen, ist ein Gesetz in der engeren Bedeutung" und ähnlich W. X. A. von Kreittmayr (1758), beide zit. bei Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 202 Anm. 81 und 217. 47 ) Dietmar Willoweit, zit. bei: Diestelkamp, Geschichte des Gesetzes (wie Anm. 39), 412; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 216. 48 ) Raeff, Police State (wie Anm. 41) 8 (zit. Mylius), 47. Vgl. Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 60, 62; Stolleis, Geschichte (wie Anm. 28), 360f.; Diestelkamp, Geschichte des Gesetzes (wie Anm. 39), 386 f. 43
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Die allgemeingeschichtlichen Befunde trafen auch für Hessen-Kassel zu. Wo „der Kampf um die Gesetzgebungsgewalt" nicht zur völligen Ausschaltung der Stände führte, „wurde doch ihre Mitwirkung als mehr oder weniger entbehrlich behandelt. Sie wurden zwar meist angehört oder gaben auch den Anstoß zum Erlaß von Gesetzen, die Fürsten aber waren alle der Meinung, wie sie in einer Resolution der hessischen Landgrafen von 1652 anläßlich der Arbeiten zu einem Landrecht dahin ausgedrückt wird: ,Die von der Ritterschaft darzu zu ziehen, ist nicht eben necessitatis, sondern steht zu J.F. Gnaden Belieben, ob und wieweit sie hieraus consilii causa zu communiciren veranlaßt werden mögen' " 4 9 ). Die fürstliche Bürokratie brachte 1650 klar zum Ausdruck, warum sie alle Mitwirkungsformen möglichst eindämmen wollte. „Weil aber leges zu sanciren undt constitutiones, auch Ordtnungen zu machen, dem Landtsfürsten iure superioritatis allein zustehet undt der Landtständte consensus eben nicht darbey requiriret wirdt, auch ein undt andermahl wahrgenommen worden ist, da dergleichen Dinge vorgehen undt darzue die Ständte gezogen werdten, daß von ihnen daraus sobaldt ein Recht gemacht undt solche actus zu Präjuditz des Landtsfürsten ahngezogen werdten wollen" 50 ). Der zwischen Landesherr und Ritterschaft 1655 geschlossene Vergleich, der die Grundlage der Hessen-Kasselischen Landtage bis zu deren Ende bildete, regelte diesen Punkt folgendermaßen: „Die Landcommunicationstäge aber anreichend ist abgeredt, daß, wan Sachen vorfallen, worbey der gesampten Stände Vernehmung oder Bewilligung erfordert wirdt, dem Herkommen nach solche Landtcommunicationstäge außgeschriebenn und beobachtet werden sollen, inmaßen dan Ihre F.G. sich nicht zuwieder sein laßen wollen, in Landt und Leut betreffenden Sachen, wan es die Nottdurft erfordert, mit Ihren Landtständen zu communiciren und sie zu Raht zu ziehen" 51 ). Noch am Ende des 18. Jahrhunderts kam der Hessen-Kasselische Regierungsrat C.W. Ledderhose zu einem ähnlichen Ergebnis: „Der Landesherr ist daher, z. B. bey Verfassung eines Landrechts, und einzelner Landesordnungen, an die Einwilligung der Stände nicht gebunden. Daß es jedoch den Ständen ungewehrt seye, neben anderen zum Besten des Landes abzweckenden Einrichtungen, auch neue Landesordnungen, durch ihre Anträge zu veranlassen, bedarf kaum einer Bemerkung; wie es denn auch die Erfahrung bestätigt, daß sich unsere Fürsten, in Sachen welche die allgemeine Wohlfahrt des Vaterlandes betreffen, nicht haben zwider seyn lassen, das Gutachten der Stände zu vernehmen und sich ihres Beyraths zu bedienen" 52 ). 49
) Ebel, Gesetzgebung (wie Anm. 38), 69; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (wie Anm. 29), 198 f. 50 ) Zit. bei Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 6 Anm. 1. 51 )LTA 1655 § 1. 52 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 63 f.
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Landesordnungen
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D i e L a n d e s g e s c h i c h t e ist sich z w a r w e i t g e h e n d 5 3 ) darin e i n i g , daß d i e L a n d s t ä n d e über k e i n e e i g e n t l i c h e , verbriefte G e s e t z g e b u n g s k o m p e t e n z verf ü g t e n 5 4 ) , aber darüber, w i e w e i t der Landtag l e g i s l a t o r i s c h e Aktivitäten d e s L a n d g r a f e n initiieren und mitgestalten konnte, g e h e n die M e i n u n g e n auseinander 5 5 ). In H e s s e n - K a s s e l g a b e s k e i n e g e n e r e l l e „ L a n d e s o r d n u n g " 5 6 ) , in w e l c h e r die S u m m e der G e s e t z e , und kein kodifiziertes „Landrecht" 5 7 ), in w e l c h e r d i e S u m m e der R e c h t s b e s t ä n d e vereinigt w o r d e n wären. M a n m u ß a l s o auf e i n e Fülle v o n M a n d a t e n und O r d n u n g e n zu T e i l b e r e i c h e n zurückgreifen, deren praktische W i r k u n g z u d e m nicht e i n f a c h zu b e s t i m m e n ist 5 8 ). D i e auf private und landständische Initiative und landesherrliche D u l d u n g und Förderung entstandene Sammlung gen und Ausschreiben
fürstlich
hessischer
Landes-Ordnun-
( K a s s e l 1 7 6 7 - 1 8 1 6 ) enthält S t ü c k e v o n 1 3 3 7 bis 1806.
Ihr k a m aber k e i n e G e s e t z e s k r a f t z u 5 9 ) . D i e Ordnungen, Edikte, Reskripte, Ausschreiben, Geheimratsprotokollauszüge, Avertissements, Regulative, Re53
) Als einziger behauptet Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 203: „Die bei allen Gegenständen der Gesetzgebung von allgemeinerem Landes-Interessse herkömmliche Zuziehung der Landstände ist nothwendig und deren Zustimmung erforderlich bei allgemeinen Landordnungen (Sammlungen der Landrechte oder Gesetzbüchern)". 54 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 63 (Bsp. von 1652); Vollgraff, Landtag (wie Anm. 7), 24; Adolf Lichtner, Landesherr und Stände in Hessen-Kassel 1797-1821, Göttingen 1913, 1 f.; Demandt, Die Hessischen Landstände (wie Anm. 13), 174; Hans Philippi, Landgraf Karl von Hessen-Kassel. Ein deutscher Fürst der Barockzeit. Marburg 1976, 630; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIV; ders.. Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 26; Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 95. 55 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 63 f. (Bsp. von 1786); Vollgraff, Landtag (wie Anm. 7), 24 f. (faktische Gesetzesinitiative), 40; Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 96, 104-111 (17. Jahrhundert), 175-181 (18. Jahrhundert), 203 (allgemein); Both/Vogel, Wilhelm VIII. (wie Anm. 14), 38 und 212 Anm. 69 (Bsp. 1732, 1735, 1746, 1755); Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 38f., 42, 212 (Bsp. 1760-1785); Demel, Reformstaat (wie Anm. 20), 7. 56 ) Im späten 16. und späten 17. Jahrhundert sowie in den 1730er Jahren (StAM [Bestand] 5 [Geheimer Rat] Nr. 14686, fol. 341-343', Punkt 2) projektierte Landes-Ordnungen kamen wohl v.a. aufgrund der Landesteilung (ab 1567) nie zustande, vgl. LO 2, 100-102; Philippi, Landgraf Karl (wie Anm. 54), 630; Raeff, Police State (wie Anm. 41), 269 f. 57 ) Philippi, Landgraf Karl (wie Anm. 54), 630 f. 58 ) In seiner Dissertation äußerte sich Karl Ehrhardt, Die innenpolitische Organisation des Hessen-Kasselischen Staates während der Regierungszeit König Friedrichs I. von Schweden und Landgraf Wilhelms VIII. (1730-1760). Diss. phil. Marburg/Lahn 1954 (masch.), I, 25 wie folgt zum Problem, „wie weit ein Erlass oder eine Verordnung auch tatsächlich in der Praxis verwirklicht worden ist. Da ja, wie wir im 2. Kapitel nachgewiesen zu haben glauben, in dieser Zeit der Geh. Rat für Hessen die allein ausschlaggebende Zentralinstitution war, haben wir uns in den oben aufgezeigten Zweifelsfällen entschlossen!,] die wesentlichen Erlasse etc. als in der Praxis durchgeführt hinzunehmen. Diese Erlasse sind ja im allgemeinen von den Geh. Ministern selber erarbeitet worden und es ist nicht einzusehen, warum sie diese, von ihnen selber für gut befundene Ordnungen, dann in der Praxis nicht durchgeführt haben sollten." 59 ) Zum fraglichen Gesetzescharakter von Rechtssammlungen und Lehrbüchern vgl. Diestelkamp, Geschichte des Gesetzes (wie Anm. 39), 413—419.
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glemente usw. wurden tendenziell nach dem Kriterium der Aktualität ausgewählt. Dabei interessierten einerseits vor allem die „annoch in Observantz seyenden Landes-Ordnungen", andererseits die aus damaligem Blickwinkel historisch interessanten 60 ). Vorläufig ist diese Sammlung von Verordnungen die vollständigste und am besten erschlossenste, die zugänglich ist. Daß die Auswahl von Kriterien der Zeit um 1800, die überdies nicht vollständig genannt werden, abhängig ist, stellt zwar ein quellenkritisches Problem dar. Aber unter dem Blickwinkel der Frage nach den Mitwirkungschancen der Landstände und Untertanen an der staatlichen Gesetzgebung ist das Auswahlkriterium der aktuellen Gültigkeit einer Verordnung nicht das schlechteste: Den in die Sammlung aufgenommenen Gesetzen kann in der Regel eine gewisse Wichtigkeit unterstellt werden.
3. Die Institutionen: Landtag und Landesherr Zwar hatten Ritterschaft und Städte schon bei der - übrigens wenig erforschten 61 ) - Entstehung der Landgrafschaft Hessen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Rolle gespielt, der erste Landtag aber fand 1387 statt 62 ). Er bestand bis 1498 und wieder seit 1527 aus zwei Kurien 63 ). In der ersten saßen gemeinsam die Prälaten 64 ) und Ritter, in der zweiten die Landschaft, die trotz ihres Namens nur aus Städten bestand. Die Ämter und damit die Bauern waren im 17. und 18. Jahrhundert in keiner Weise wirklich auf dem Landtag vertreten 65 ). Ob die Städte zu Recht oder zu Unrecht bei Gelegenheit im Namen der 60 ) Vgl. den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Christoph Ludwig Kleinschmid, LO 1 (1767), fol. 2f. Das Zitat stammt aus dem Druckprivileg Landgraf Friedrichs; ebd. 61 ) Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 7-10. 62 ) Carsten, Princes (wie Anm. 10), 149; Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 44f.; ders., Die Hessischen Landstände (wie Anm. 13), 164; Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 10f„ 16. 63 ) Auch wenn in der Literatur z.T. von 3 Kurien die Rede ist, so Theodor von Heppe, Kommunalverfassung in Kurhessen [1826]. Hrsg. v. Winfried Speitkamp. Darmstadt/Marburg 1987,49f.; Lichtner, Stände (wie Anm. 54), 2; Carsten, Princes (wie Anm. 10), 184; BothJ Vogel, Wilhelm VIII. (wie Anm. 14), 36. M ) Von 1498-1527 als eigene Kurie: Seit 1586 der Landkomtur der Deutschordensballei zu Hessen in Marburg; in Rechtsnachfolge ehemaliger Klöster 1583: drei Obervorsteher der adeligen Stifte Wetter und Kaufungen sowie der Obervorsteher der vier Samthospitäler; seit 1557 ein bis zwei Vertreter der Universität Marburg (meist Juristen); Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 16 f. 65 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 11; Heppe, Kommunalverfassung (wie Anm. 63), 51; Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 43; Both/Vogel, Wilhelm VIII. (wie Anm. 14), 38; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIX. Erst auf dem Landtag 1815/16 wurden die Dörfer als „Bauernstand" zugelassen, Winfried Speitkamp, Zur Kommunalverfassung in Kurhessen. Eine Einführung, in: Heppe, Kommunalverfassung (wie Anm. 63), 1 28, 25. Eine gewisse bäuerliche Mitwirkung soll im 16. Jahrhundert bestanden haben;
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Bauern sprachen, ist in der Landesgeschichte umstritten 66 ). Erschienen bis 1666 jeweils alle Ritter (bzw. ein Vertreter jeder Familie 67 )) und zwei Deputierte der 40 landständigen Städte 68 ) an den sogenannten „großen Landtagen", wurden seit 1672 nur noch sogenannte „engere Landtage" (1754/55 und ab 1772 „ganz enge Landtage") durchgeführt, an welche Ritterschaft und Städte ihre jeweiligen, in fünf Wahlkreisen, „Strombezirke" genannt, bestellten zwei bis drei Vertreter schickten. Wahlmechanismen und Wählerverhalten bei den ritterschaftlichen und städtischen Stromskonferenzen sind noch unerforscht 69 ). Die Landstandschaft der Ritter wurde erst im 18. Jahrhundert genau geregelt. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Aufnahme waren die adelige Geburt, Landsässigkeit und Lehensnexus zum Landgrafen gewesen. Maßgeblich für die Aufnahme waren das Herkommen und die Praxis unter Landgraf Philipp. Ebenso gelangten die Städte durch die Praxis zu ihrer Landstandschaft. Entscheidend war, ob sie unter Philipp zu Landtagen geladen worden waren. Voraussetzung war zudem Besitz eines Stadtrechts und volle oder geteilte Stadtherrschaft des Landgrafen. Die von den Städten konsentierten Vereinbarungen waren auch für die zu den Städten gehörigen Amtsuntertanen verbindlich - genauso wie die von den Rittern konsentierten für die adeligen Hintersassen. Die rund 50% unter direkter Verwaltung, Grund- und Gerichtsherrschaft des Landgrafen stehenden Untertanen hingegen waren auf dem Landtag nicht durch Vertreter aus ihrer Mitte präsent, sondern nur durch ihren Herrn den Landgrafen vertreten 70 ). Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 132 f. (1536, 1551); Herbert Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen: Untersuchung zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Marburg 1983, 130f. ( 1 5 4 3 - 1 5 5 5 ) . 66 ) Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 43. Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 38, schreibt, der Landtag „virtually represented the needs of a general population" (ähnlich 156), was Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 22 f., ders., Einleitung (wie Anm. 5), X X X V I , und ders., Rezension Ingrao, in: HessJbLG (39) 1989, 436, als „falsch" ablehnt. Wie Ingrao hingegen auch Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 132 f., 191 f., 201 mit Zitaten von 1536, 1551 und 1743/44. Die Frage offen läßt Neuhaus, Supplikationen 2 (wie Anm. 2), 73 f. 67 ) Die genaue Zahl zu bestimmen fällt nicht leicht, da sich selbst die fürstliche Kanzlei nicht darüber im klaren war, welchen Adeligen die Landstandschaft zustand; es dürfte sich um ca. 150 Ritter gehandelt haben, von denen aber zwischen 1649 und 1798 nie mehr als 5 2 (1653) auf dem Landtag erschienen; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXVII, 303 Anm. 2 (1740), 325 Anm. 3 (1751), 333 Anm. 3 (1754), 6 2 6 (Tabelle l.a). 68 ) Nach 1736 noch 39. Die höchste Zahl erschien 1653 (64 Deputierte); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 6 3 0 (Tabelle 1 .c). 69 ) Hollenberg, Landstände (wie Anm. 21), 4. Vgl. Hinweise bei Demandt, Landstände (wie Anm. 10), 7 4 - 8 3 . Die Einteilung des Landes nach „Strömen" scheint militärischen Ursprungs; Dülfer, Verwaltung (wie Anm. 11), 184 f.; Philippi, Oberrheinischer Kreis (wie Anm. 15), 643. 70 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXVIIf., ders.. Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 11 f., 1 5 - 2 3 , 4 3 .
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Einberufen wurde der Landtag vom Landgrafen nach Belieben 71 )• In der fürstlichen Proposition, die anläßlich der feierlichen Eröffnung des Landtages vom Landtagskommissar vorgelesen wurde, präzisierte der Landesherr die im Konvokationsschreiben genannten Verhandlungsgegenstände. Die Stände hatten Gelegenheit, ihre Desideria einzureichen 72 ). Das Mandat der Deputierten war weder frei noch völlig imperativ: Zwar waren die Deputierten moralisch an ihre schriftlichen Vollmachten und zum Teil ausführlichen Instruktionen (die leider selten überliefert sind) gebunden, doch konnten sie für ein etwaiges Abweichen von der Instruktion weder finanziell noch gerichtlich belangt werden. Ja die fürstliche Landtagskommission wies bei der Prüfung der Vollmachten zu Beginn jedes Landtags zu eng gefaßte Vollmachten mit festgelegten Voten zu einzelnen Punkten regelmäßig ab. Bei Steuerfragen wurden die in den Instruktionen als Grenzwerte festgehaltenen Beträge oft überschritten und auch Steuern ohne entsprechende Instruktion bewilligt, ohne daß ein „Hintersichbringen", eine Ratifikation, nötig gewesen wäre 73 ). Jedoch verwendeten die Stände oft das nicht ausreichende Mandat als taktisches Argument in den Landtagsverhandlungen 74 ). Die erste Kurie der Prälaten und Ritter hielt eine bevorzugte Stellung. So war seit 1459 in der Person des fränkischen Reichsritters Freiherr von Riedesel zu Eisenbach immer ein Vertreter der Ritterschaft Erbmarschall und somit Landtagspräsident, über den alle Korrespondenz und, während der Sitzungen, alle mündliche Kommunikation mit dem Fürsten bzw. dem ihn vertretenden Landtagskommissar lief 75 ). Der Erbmarschall verwahrte die Urkunden und Akten; er stellte auch einen Konsulenten, da die Landstände keine Kanzlei, kein Archiv, keine Kasse und auch keinen Syndikus einrichten durften 76 ). Ge71
) Partielle Selbstversammlungsrechte genossen die Landstände nur in Fragen, die die Religionsausübung gemäß Assekuranzakte 1754 betrafen (LTA 1754 § 4; Pfeiffer, Verfassung [wieAnm. 7], 182, 184f.); die Ritter durften sich nur in ritterschaftlichen Privat-, nicht aber in Landesangelegenheiten selbst versammeln (LTA 1655). Zur 1764 festgelegten Periodizität siehe oben. 72 ) Wollte der Landgraf unangekündigte Punkte verhandeln, riskierte er die Weigerung der Landstände (Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], 335 Anm. 9); das Beschwerderecht der Stände wird im LTA 1764 § 11 schriftlich garantiert. 73 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXXI; bei den lange dauernden Landtagen des 18. Jahrhunderts scheint es allerdings gewisse Rückfragen gegeben zu haben, Hollenberg, Landstände (wie Anm. 21), 5. 74 ) LTA 1677 § 5 (vgl. Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], 135 Anm. 19); LTA 1692 § 1; LTA 1700 § 2; LTA 1722 § 2 (Ritter); LTA 1772 § 8 (Stände; vgl. Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], 473 Anm. 38); LTA 1774 § 2 (Prälaten und Ritter); LTA 1786 § 7 (Stände). So auch das 6. allgemeine Desiderium 1779 (StAM 17e 1332, Anl. 133) und das 4. Desiderium der Landschaft 1786 (StAM 63 Nr. 1314, Anl. 272). 75 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), § 12; Lichtner, Stände (wie Anm. 54), 3 f.; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XLIIf. 76 ) Günter Hollenberg (Bearb.), Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg. Bestand 73: Hessische Landstände 1509-1866. Marburg 1984, IXf. Vergeblich forderten die Landstände 1704 (LTA § 3), 1731 (LTA § 6), 1764 ( 14717, fol. 52, Desiderium Generale
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legentliche gemeinsame Beratungen der beiden Kurien, die normalerweise getrennt verhandelten, fanden immer im Raum der ersten Kurie statt. Innerhalb der ersten Kurie 77 ) galt bei Abstimmungen das Mehrheitsprinzip, allerdings nicht nach Köpfen, sondern nach vertretenen Wahlkreisen und Korporationen. Kam es zum Patt zwischen erster und zweiter Kurie, konnte der Landgraf bzw. sein Landtagskommissar mit jeder Kurie separate Landtagsabschiede vereinbaren 78 ). Zu einem offenen Konflikt zwischen Prälaten und Rittern innerhalb der ersten Kurie scheint es nur selten (1651, 1798) gekommen zu sein 79 ); auch sind spezielle Gravamina der Prälaten nicht bekannt 80 ). Die Zahl der pro Dekade 81 ) gehaltenen Landtage sagt noch nicht zwingend etwas aus über die Stärke der landständischen Position. Tabelle 1: Zahl der Landtage pro Dekade in Hessen-Kassel 1650-1800 1650-1660: 8
1701-1710:1
1661-1670:2
1711-1720:2
1761-1770:3
1671-1680:4
1721-1730:2
1771-1780:3
1681-1690: 2
1731-1740:3
1781-1790:1
1691-1700:2
1741-1750:2
1791-1800:1
1751-1760:5
So fällt der Höhepunkt von acht Landtagen 1650-1660 zusammen mit der Festschreibung eines massiven Bedeutungsverlustes der Stände, während die aus landständischer Sicht erfolgreichen Landtage - vor allem 1731, auch 1754, 1764 - in Zeiten mit durchschnittlicher Tagungshäufigkeit fallen. Die fünf Landtage von 1756-1763 dienten in erster Linie der Geldbeschaffung für das im Siebenjährigen Krieg mehrfach von fremden Truppen besetzte Land. Bis 1757 hatten die Landtage jeweils nur ein bis drei Wochen gedauert, außer 1724 und 1731 vier Wochen. Ab 1757 jedoch dauerten sie zwei bis sechs Monate, diejenigen von 1764 und 1771/72 rund zehn Monate. Hauptzweck der Landtage war die Behandlung der Desiderien und die stän-
29) und 1772/73 (StAM [Bestand] 17 [= Landgräflich Hessische Regierung Kassel] b [Hoheitsrepositur] Fach 8 Nr. 3) eine landständische Kasse, 1772/73 einen Syndicus (ebd.) und 1798 die Einrichtung eines Landtagsarchives; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XLVIIf. 77 ) Das Abstimmungsverfahren der zweiten Kurie ist aus den Akten nicht ersichtlich; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XLIV. 78 ) So zum Beispiel 1653 (Städte), 1655 (Ritter). Abschiedslose Landtage gab es 1650, 1651, 1657. 79 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XLIV, 583 Anm. 31. Vgl. StAM 17b Fach 8 Nr. 10(1798). 80 ) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 90. 81 ) N a c h Hollenberg, Landstände (wie Anm. 21), 16f. (nur Landtage, ohne Deputiertentage).
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dische Antwort auf die fürstliche Proposition, die sich meist um Steuern drehte 82 ). Außer in Steuerfragen war der Landgraf gehalten, die Landstände „in Land und Leute betreffenden Sachen, wenn es die Notdurft erfordert, [...] zu kommunizieren und sie zu Rate zu ziehen" 83 ); zudem war er verpflichtet, die Beschwerden beider Stände (Gravamina/Desideria generalia), eines einzelnen Standes (communia) oder einzelner Deputierter der Ritterschaft oder Städte (specialia) zur Kenntnis zu nehmen 84 ). Der ständischen Mitwirkung grundsätzlich entzogen war die Verwaltung des Kammergutes und der Regalien. In den Bereichen Militärwesen, Außenpolitik (auch Reichssachen) und Kirchenpolitik wehrten die Landgrafen nach 1655 jede „Einmischung" der Landstände ab 85 ). Landtagsabschiede heißen die die Ergebnisse der Landtage „rechtsförmlich zusammenfassenden Verträge" 86 ), um deren Wortlaut hart gerungen wurde, wie die überlieferten „Notamina" zeigen 87 ). In der Regel stammte der Entwurf vom Landtagskommissar, wurde von den Ständen diskutiert, ergänzt und abgeändert 88 ), darauf vom Fürsten/Landtagskommissar nochmals durchgesehen und korrigiert und schließlich verabschiedet. Mitunter scheint es zu dramatischen Schlußspurts und überraschenden Wendungen kurz vor Redaktionsschluß gekommen zu sein. Der Landtagsabschied 1764 hingegen geht als ganzer auf einen landständischen Entwurf zurück 89 ). Die Landtagsabschiede referieren grob und selektiv (nicht alles, was am Landtag entschieden oder verhandelt wurde, gelangte in den Abschied) die im 82
) Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 90,97. ) LTA 1655 § 1. 84 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIV, XLI. So werden die Termini im vorliegenden Text vereinheitlicht, obwohl sie in den Akten nicht durchgängig eingehalten sind; oft lauten die entsprechenden Bezeichnungen auch: Desideria communia (beide Kurien), specialia (eine Kurie) und specialissima (einzelne Ritter oder Städte). Vgl. Ledderhose, Verfassung (wie Anm. 14), 90. 85 ) Militär: 1653, 1762, 1792 (Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], XXIV f.); Außenpolitik: 1658 (Demandt, Die Hessischen Landstände (wie Anm. 13), 171), 1786 LTA § 8: Dem Fürsten mißfielen Bemerkungen besonders, „welche die Stände in Ansehung der mit auswärtigen Mächten geschloßenen Subsidien-Tractaten, folglich über solche Gegenstände geäußert hätten, welche als landesherrliche Hoheitsrechte zu ihrer Beurtheilung nicht gehörten, auch in gänzlicher Ermangelung der ihnen abgehenden nötigen Kenntniß der bey Schließung solcher Tractaten fürwaltenden Umständen und Beweggründen von ihnen gründlich nicht beurtheilt werden könnten"; Kirchenpolitik: 1754 (Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], 344 Anm. 13). Zur Judenpolitik als „Hoheitssache" siehe unten S. 186-188. 86 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XVI. 87 ) Vgl. zum LTA 1731 StAM (Bestand) 17 (= Landgräflich Hessische Regierung Kassel) II (= Herrschaftliche Repositur 1708-1821) Nr. 1299, fol. 430-431. 88 ) Beispielsweise stammen einzelne Passagen der Landtagsabschiede 1673 § 1, 2, ad 2, 1692 § 1 und 1774 § 1 von den Landständen (Hollenberg, Einleitung [wie Anm. 5], 120— 122 Anm. 8 - 1 0 und 12-13; 169-171 Anm. 10 und 14-16; 493 Anm. 11). 89 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XLV. 83
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Konvokationsschreiben genannten Verhandlungsgegenstände, den Hauptinhalt der fürstlichen Proposition, den Gang der Verhandlungen zu den einzelnen Punkten, auch manchmal die eingereichten Gravamina/Desideria und eventuell die dazu ergangenen fürstlichen Resolutionen. Den Landtagsabschieden kam als vertraglichen Regelungen zwischen Ständen und Landesherr eine besondere verfassungsrechtliche Dignität zu 90 ), auch wenn ihr Öffentlichkeitsgrad unklar bleibt. Denn die Landtagsabschiede waren im Prinzip nur den Teilnehmern des jeweiligen Landtages bekannt. Es stand im Belieben des Landesherrn, Landtagsabschiede oder Teile daraus den Beamten zur Information und Beachtung mitzuteilen oder zur allgemeinen Kenntnisnahme (als Verordnung oder „Gesetz") zu publizieren. Die von den Ständen 1774 und 1797 geäußerte Bitte um Publikation aller Landtagsabschiede wurde nicht erfüllt 91 ). Wird das Gewicht der Städte an den Landtagen von der landesgeschichtlichen Forschung als gering veranschlagt, so sei diese Politik der Städte, nach der Ansicht Günter Hollenbergs, zudem allein von Bürgermeister und Rat, also der Oligarchie, bestimmt worden 92 ). Dieser generellen Einordnung widersprechen etliche an den Landtagen eingegebene städtische Desideria, die mit „Bürgermeister, Rat und ganze gemeine Burgerschaft" unterzeichnet sind 93 ). Der Aussagegehalt dieser Formel, die auch bei Vollmachten für Landtagsdeputierte anzutreffen ist 94 ), müßte im konkreten Einzelfall geprüft werden; laut Hollenberg hat sich die Landesgeschichte darum bisher nicht gekümmert 95 ). Allgemein skizziert die Schrift des Kasseler Regierungsreferendars Theodor von Heppe zur Kommunalverfassung in Hessen aus dem Jahr 1826 viel90
) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XVI. ) StAM 17b Fach 8 Nr. 10 (1797); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XIHf., XLVI; ders., Landstände (wie Anm. 21), 5; ders., Landstände und Militär in Hessen-Kassel, in: HessJbLG 34 (1984), 101-127, 105. Die Landes-Ordnungen brachten nur Ausschnitte aus einzelnen wenigen Landtagsabschieden. Für die unerlaubte Bekanntmachung eines Landtagsabschiedes wurde 1755 ein Schreiber bestraft (StAM 17 II Nr. 2359). Allerdings scheint oft der Inhalt der Landtagsabschiede durchgesickert zu sein. Davon scheint die Regierung in Kassel jedenfalls auszugehen, beginnt sie doch ein Ausschreiben vom 27.XII.1731 an die Amtmänner mit den Worten: „Euch wird wohl nicht unbekandt seyn, was gestalten auf dem neulich alhier gehaltenen Land-Tag [...]", in: LO 4, 83. Der Landtagsabschied von 1731, der auszugsweise vom Landesfürst 1731 publiziert worden war, erschien nochmals gedruckt in: LO 4 (1782), 6 6 - 7 2 , sowie in: Hessische Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst (Frankfurt am Main) 2. Bd., 8. St. 1787, 6 9 7 - 7 1 8 . 91
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) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIV, X X X V I ; ders., Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), 22. ) Bspe. für 1700 in: StAM 5 Nr. 14671 (8 von 17 Städten); für 1731: StAM 17 II Nr. 1299 (5 von 24); für 1764: StAM (Bestand) 73 (= Hessische Landstände 1 5 0 9 - 1 8 6 6 ) Nr. 117, 4. Bd. Nr. 122 (2 Städte). 94 ) StAM 17 II Nr. 1299, No. 2 ad 22, fol. 140 (Frankenberg vom 17.IX.1731), 146 f. (Melsungen 6.X.1731); StAM 73 Nr. 140, 2. Bd., Nr. 8 (Frankenberg I .VIII. 1785). 95 ) Freundliche Mitteilung vom 26.V. 1994. 93
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fältige Wahlprozedere für Ratsherren: Kooptation meist mit landesherrlicher Bestätigung 96 ); Wahl durch Stadtrat mit Vorschlagsrecht oder Vertretungsrecht der Zünfte (Eschwege). Der Bürgermeister wird in der Regel vom Stadtrat gewählt 97 ), oder vom Stadtrat, Unterrat (Vierer) und Zünften (Hofgeismar), oder von der Bürgerschaft (Karlshafen, Sachsenhagen) 98 ). In vielen Städten existierten bürgerliche Ausschüsse, die teils in den Rat gelangten, teils nur für bestimmte Aufgaben zuständig waren wie zum Beispiel die Rechnungskontrolle 99 ). Funktion und Bedeutung solcher seit dem Mittelalter bekannten Ausschüsse sind für das 17. und 18. Jahrhundert wenig untersucht. Wo neuere Studien vorliegen, wird die wichtige und lange unterschätzte Rolle dieser Ausschüsse betont; selbst vom Rat kooptierte Vertreter aus der Gemeinde traten nicht selten als Sprachrohr der Bürgerschaft auf 100 ). In der Stadt Kirchhain zum Beispiel versammelten sich jährlich die Bürgerschaft bzw. die Zünfte zur Bürgermeisterwahl, welche im Bericht des Schultheißen an den Fürsten vom 10. Dezember 1728 wie folgt beschrieben wurde: „Ew. Hochfürstl. Durchlaucht geruhen gnädigst sich hiermit unterthänigst fürstellen zu laßen, was gestalten Zünfte u. gemeinde, bey ablauf und ende dieses Jahrs, wegen der Bürgermeisterwahl nicht nur ihre Zusammenkünfte gehalten, sondern auch Ihro darüber gemachte abschlüße unß behörend verschloßen eingeliefert; Nachdeme wier nun bey eröffnung dererselben befunden, daß die mereste vota auff nachstehende alß den Ratsschöpff Conrad George Wolffen und Friederich Metzler beyde Lutherischer Religion auff welcher Seiten jetzo die reyhe ist, gefallen. Alß haben Ewl. Hochfürstl. Durchlaucht unterthänigst prasentiren und gehorsam bitten wollen, von beyden Subjectis ein[es] auffs künfftige 1729te Jahr zum Bürgermeister gnädigst zu confirmiren". Landgraf Karl beschied am 18. Dezember, daß „wir dann vor dasmahl den letzten Friedrich Metzler in gnaden gewehlt" 101 ). Die zwei dabei mit Stimmenmehrheit 96
) Vgl. Keyser (Hrsg.), Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 225 (Helmarshausen), 2 4 0 ([Hessisch-]Lichtenau), 247 f. (Hofgeismar), 313 (Liebenau), 365 (Rauschenberg), 4 4 0 (Wetter), 4 7 3 (Ziegenhain). Für Hersfeld: Jörg Wittel, Hersfeld 1525 bis 1756: Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte einer mittleren Territorialstadt. Marburg 1994, 311. 97 ) Siehe Wittel, Hersfeld (wie Anm. 96), 320 f. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 315 Anm. 6, erwähnt hingegen, daß der Landgraf 1742 die Amtszeit der Bürgermeister wegen Wohlverhaltens der Städte am Landtag pauschal um ein Jahr verlängert hat. 98 ) Heppe, Kommunalverfassung (wie Anm. 63), lOOf. Allerdings ist bei Heppe nicht ganz klar, welche seiner Angaben sich auch auf die Zeit vor 1803/06 bzw. 1821 beziehen. Karlshagen und Sachsenhagen waren, weil späte Gründungen, ohne Landstandschaft. " ) Nach Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 240 ([Hessisch-JLichtenau), 3 4 4 (Neukirchen), 365 (Rauschenberg). 100) Vgl. Eva-Maria Dickhaut, Homberg an der Ohm. Untersuchungen zu Verfassung, Verwaltung, Finanzen und Demographie einer hessischen Territorialstadt ( 1 6 4 8 - 1 8 0 6 ) . Marburg 1993, 3 2 - 3 7 (Ausschüsse); Witzel, Hersfeld (wie Anm. 96), 311 f. (Kooptation), 395, 397 (Ausschüsse), 498 (Zünfte und Stadtviertel). 101 ) StAM 5 Nr. 1846, fol. 7 - 1 0 ' , Von den acht Ratsschöffen sind vier lutherisch und vier reformiert. Der Gewählte war 74, der Nichtgewählte 52 Jahre alt.
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„ z u m B ü r g e r m e i s t e r eligirte Subjecta" w u r d e n d e m landesherrlichen G e h e i m e n Rat v o n Schultheiß, Unterbürgermeister und Vierern der Stadt schriftlich, mit A n g a b e n zu Alter, K o n f e s s i o n und o f t a u c h A n z a h l der S t i m m e n präsentiert. D e r Landgraf b z w . der G e h e i m e Rat z o g b i s w e i l e n E r k u n d i g u n g e n über die V o r g e s c h l a g e n e n ein und bestätigte in der R e g e l e i n e n als B ü r g e r m e i s t e r für ein Jahr. G e w ö h n l i c h löste in Kirchhain alle z w e i Jahre ein reformierter B ü r g e r m e i s t e r d e n lutherischen ab und u m g e k e h r t 1 0 2 ) . K a m e n U n r e g e l m ä ß i g keiten vor, d i e v o n Bürgern beanstandet wurden, l i e ß der Landesherr d i e Sache untersuchen103). A u s G e m ü n d e n an der Wohra, das 8 7 0 E i n w o h n e r , d a v o n 184 „ e r w a c h s e n e Männer", z ä h l t e 1 0 4 ) , berichtete d i e „gantze Bürgerschaft" selbst v o n ihrer Wahl, bei der 1 7 4 0 auf den erstplazierten R a t s s c h ö f f e n 5 2 und auf d e n z w e i t plazierten 4 5 „vota" der „ g e m e i n e n Bürgerschaft" e n t f i e l e n 1 0 5 ) . In H o m b e r g / E f z e w ä h l t e n d i e „ G i l d e n und Z ü n f f t e , w i e a u c h g e m e i n e Bürgerschaft" in ä h n l i c h e m Prozedere die B ü r g e r m e i s t e r 1 0 6 ) , in M e l s u n g e n tat d i e s bis in die 1 7 7 0 e r Jahre ein A u s s c h u ß der G e m e i n d e 1 0 7 ) . Vergleichbar dürften auch d i e Verfahren in zahlreichen w e i t e r e n h e s s e n - k a s s e l i s c h e n K l e i n - und Mittelstädten a u s g e b i l d e t g e w e s e n s e i n 1 0 8 ) . 102 ) Das Wahlprozedere nach StAM 5 Nr. 1845 (Wahl der Bürgermeister und Ratsverwandten zu Kirchhain 1720-1740), fol. la (der Landgraf erkundigt sich bei der Regierung in Marburg, welcher der beiden Präsentierten tüchtiger sei, 1720), fol. 28' (Ablösung der Konfessionen, 1738); Reformierte waren seit 1627 zu städtischen Ämtern zugelassen, Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 293; StAM 5 Nr. 1846 (Wahl der Bürgermeister, Ratsschöffen u. Vierer zu Kirchhain 1724-1741), fol. 16-19 (Bürgermeister für 1732), fol. 48-49, 52 (Bürgermeister für 1741 mit Gutachten der Regierung zu Marburg). 103 ) StAM 5 Nr. 1846, fol. 26-28 (1732). 104 ) Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 188 (Zahlen von 1731). 105 ) StAM 5 Nr. 1846, fol. 45-^7, 50-52 (Bürgermeister für 1741 mit Zahl der Vota und Gutachten der Regierung zu Marburg über die Präsentierten). Ob und wieviele Vota auf weitere Personen entfielen, bleibt unklar. Die beiden Spitzenkandidaten vereinigten demnach mindestens eine Stimmenzahl auf sich, die halb so groß war, wie die Zahl der erwachsenen Männer, von denen möglicherweise nicht alle stimmberechtigt waren. ,06 ) StAM 5 Nr. 1842, fol. 2 - 3 (Bürgermeister 1722), 5 - 7 (Bürgermeister für 1723, mit Zahl der Vota). Die Voten weisen folgende Verteilungen auf; 10:1 für 1723 (fol. 6), 11:1 für 1727 (fol. 12). 5:2:1:1:1:1:1 für 1748 (fol. 18). Die für eine Stadt mit 2000 bis 2500 Einwohnern kleinen Stimmenzahlen lassen zwei Deutungen zu: Kooptation durch den Rat (dann wäre aber die Nennung von Gilden, Zünften und Bürgerschaft irreführend) oder Stimmen der Gilden und Zünfte (wie dies für Kirchhain belegt ist, vgl. StAM 5 Nr. 1845, fol. 25 f. zu 1732). Vgl. Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 254 f. 107) v g l . Ludwig Armbrust, Geschichte der Stadt Melsungen bis zur Gegenwart. Kassel 1905, 152-155. 108 ) Soweit dies aufgrund der knappen Angaben zu beurteilen ist: Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), 110 (Eschwege), 120 f. (Frankenberg), 201 (Grebenstein), 213 (Gudensberg), 236 ([Bad] Hersfeld), 326 (Marburg), 408 (Spangenberg), 432 (Waldkappel), 434 (Wanfried). Zu Marburg vgl. Gerald L. Soliday, Städtische Führungsschichten in Marburg, 1560-1800, in: Erhart Dettmering/Rudolf Genz (Hrsg), Marburger Geschichte: Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen. Marburg 1980, 345-352, 348-350. Vgl. Wittel, Hersfeld (wie Anm. 96), 311 (Alsfeld, Marburg, Witzenhausen).
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Die amtierenden Bürgermeister wiederum vertraten ihre Städte an den Landtagen bzw. an den Stromskonferenzen, wo sie aus ihrer Mitte den landschaftlichen Stromsdeputierten bestimmten 109 ). Die Rückbindung der Bürgermeister bzw. Landtagsdeputierten an die Wahl der Zünfte, der Bürgerschaft oder bürgerlicher Ausschüsse zeigt, daß die Oligarchiethese nicht unbesehen auf alle Städte angewendet werden darf, sondern daß gerade im Hinblick auf den Landtag Wahl- und Konsentierungsverfahren über die engen Ratskreise hinaus in Übung waren. Auch für Hessen-Kassel trifft Karl Siegfried Baders Beobachtung zu, daß selbst „unter der Decke territorialstaatlicher [...] Regiersucht" in der Zeit des Absolutismus, „gemeindliches Leben in zahlreichen Kleinformen" weiter lebt 110 ). Funktionen kamen dem Landtag verschiedene zu. Seine wichtigste war bestimmt die Geldbeschaffung via Steuern. Zudem ging es um die Einbindung der Stände in (legislatorische) Entscheidungen, die zu einem großen Teil durch die Vertreter dieser Stände vor Ort in die Praxis umgesetzt werden mußten, sollten sie denn wirksam werden 111 ). Ferner dienten die Landtage der Landesherrschaft zur Beschaffung von Informationen. Um die Stimmung im Lande auszuloten, wurden nicht nur die Beamten zu ständigen Berichten über die Sorgen und Nöte der Untertanen angewiesen, sondern auch von den Ständen „Vorschläge zum gemeinen Besten" erbeten 112 ). Aus solchen Vorschlägen der Stände konnten durchaus innovative Lösungen für anstehende Probleme resultieren, wie im folgenden skizziert wird.
4. Die Praxis: Politische Kommunikation in der ständischen Gesellschaft Die politische Praxis der Stände und Untertanen innerhalb des beschriebenen institutionellen Rahmens der Landtage und des Supplikenwesens soll nun auf Möglichkeiten ständischer und vor allem kommunaler Einflußnahme auf die landesfürstliche Gesetzgebung untersucht werden. Die politischen Kommunikationsformen der Ständeversammlung geraten am exemplarischen Fall des >) Die Desideria in: StAM 17 II Nr. 1299, fol. 2 2 4 - 2 4 8 , 2 6 1 - 2 9 3 ; StAM 5 Nr. 14686, fol. 6 - 1 7 6 .
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wartet werden solle. Drei Desideria, die Anregungen zur Gestaltung von Handel und Gewerbe in Absprache mit den Nachbarn Hessen-Darmstadt und Kurköln enthielten, wurden vom Gutachten „als nützliche Sache" bezeichnet und positiv aufgenommen 162 ). Am Landkommunikationstag von 1731 kommt beispielhaft zum Vorschein, wie vielfältig die Formen der Zusammenarbeit zwischen Fürst und Ständen sich gestalteten. Dabei spielten die Städte auch nach 1650 eine weit wichtigere und selbständigere Rolle, als ihnen Karl E. Demandt und der Großteil der Landesgeschichte zugestehen wollten. Ihre als General-, Commun- und Specialdesideria eingebrachten Anliegen entfalteten dabei eine beachtliche Wirkung auf allen Ebenen - Landtagsabschied, Landesordnungen, Resolutionen - der fürstlichen Verordnungs- und Gesetzgebungstätigkeit. Wieweit nun die am 1731 er Landtag gewonnenen Einsichten hinsichtlich erfolgreicher städtischer Aktivitäten innerhalb des Untersuchungszeitraumes verallgemeinerungsfähig sind, soll im folgenden Kapitel geprüft werden.
4.2. Städtische Desideria und fürstliche Landesordnungen im 17. und 18. Jahrhundert Eine ganze Serie von Landtagen fand nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges statt (1650-1658) 163 ), weil die Landesherrschaft Geld zur Tilgung der Kriegsschulden brauchte. Die Landtage waren geprägt vom Konflikt der Ritterschaft mit dem Fürsten. Die Ritter versuchten, ihre im Kriege recht starke Position (sie erzwangen 1627 den Rücktritt des Landgrafen Moritz) wiederzuerlangen und auszubauen. Denn sie war seit 1640 von der Landgräfin Amalie Elisabeth (Witwe des Landgrafen Wilhelm V., regierte 1637-1650) völlig untergraben worden. Die Ritter errangen im Vergleich von 1655 (oft als Landtagsabschied bezeichnet) einen Teilerfolg insofern, als die Landtage wiederhergestellt wurden, ihre Forderungen im Bereich der Justiz und der Gerichte erfüllt wurden, ihre weitgehende Steuerfreiheit bewahrt blieb, Zusammenkünfte in ritterschaftlichen Privatangelegenheiten erlaubt waren. Sie erlitten eine Teilniederlage insofern, als Zusammenkünfte in Landesangelegenheiten fortan der fürstlichen Bewilligung bedurften, ihre Hintersassen (d.h. ritter-
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) StAM 5 Nr. 14686, fol. 93-95' (Desideria), 97-98 (Parero und Resolutionen vom 15.X.1731), Zitat fol. 98. - Weitere Beispiele: Kirchhain, ebd., fol. 103-108 (Desideria) und StAM 5 Nr. 394, fol. 3 - 6 (Parero und Resolutionen vom 15.X.1731); Dorfgemeinde Sandershausen, ebd., 170-173 (Desideria) und 174-174' (Resolutionen vom I9.X.1731); Kassel, StAM 17 II Nr. 1299, fol. 320-323 (Desideria), 317-319 (Resolutionen). Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 136-45; Christoph von Rommel, Geschichte von Hessen. 9. Bd. Kassel 1857, 173-75; Carsten, Princes (wie Anm. 10), 179-82.
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schaftliche Untertanen) der landesherrlichen Militärdienst- und Militärsteuerpflicht unterstellt wurden. Die Städte spielten in diesem Konflikt eine untergeordnete und ambivalente Rolle. Einerseits leisteten sie einem Angebot der Ritterschaft zur engeren Kooperation keine Folge, ja „verrieten" gar der Landgräfin die „heimlichen" Versammlungen der Adeligen, was zu einem massiven Eingreifen der Landesherrschaft, ja zur Gefangensetzung des spiritus rector der Adelsopposition, Otto von der Mahlsburg, führte. Andererseits formulierten sie gemeinsam mit den Rittern Gravamina an den Landgrafen Wilhelm VI. (seit 1650). Eine Erklärung für dieses Verhalten liefert die unüberbrückbare Differenz zwischen Städten und Rittern in Steuerfragen. Die Städte forderten ebenso beharrlich die Einbeziehung der Ritter in die militärischen Kontributionen, wie im Gegenzug die Ritterschaft jede Militärsteuer mit Verweis auf ihre Heeresfolge verweigerte. Da die Städte letztlich einlenkten, endete dieser Konflikt 1655 mit einem Vergleich zwischen Landgraf und Rittern - ohne Beteiligung der Städte - , der zu einer Art „Landesgrundgesetz" 164 ) für die Landtage wurde und für den hessischen Adel zugleich das Ende vom Traum der Reichsritterschaft bedeutete. Die danach erteilten fürstlichen Resolutionen auf die seit 1650 eingegebenen Gravamina kamen denn auch den Rittern weiter entgegen als den Städten. Die spezifisch städtischen Forderungen (Besteuerung der Ritter, Beschränkung der Juden) wurden abgelehnt oder (städtische Braugerechtigkeiten bewahren) bloß unverbindlich entgegengenommen 165 ). Eine weitere städtische Forderung intonierte ein Dauerthema des 17. und 18. Jahrhunderts: die Rektifikation des Steuerstockes (d.h. neue Taxierung der Steuerkraft der einzelnen zur Erzielung größerer Steuergerechtigkeit) 166 ). Diese Themen blieben bis zum Ende des Ancien Régime aktuell. An den Landtagen nach dem Dreißigjährigen Krieg ging es im weiteren darum, die durcheinander geratenen Verhältnisse wieder zu stabilisieren. Die Stände beantragten daher unter anderem die Erneuerung der „Policey- und Tax-Ordnung". An den Landtagen von 1650, 1651, 1653, 1656, 1657 und 1658 wurde darüber verhandelt. Der Landtagsabschied 1653, der nur zwischen dem Fürsten und den Städten geschlossen wurde, hielt fest: „Weichergestalt und wie [...] mit gutem Bestandt zur Renovation ein und anderer guten 164) pf e iff e r, Verfassung (wie Anm. 7), 136; Demandt, 165
Landstände (wie Anm. 10), 53.
) StAM 5 Nr. 14808, (Gravamina der Städte 30.IX.1650); vgl. Rommel, Hessen (wie Anm. 163), 9. Bd., 177-188. StAM Nr. 14658, fol. 2 7 - 3 0 (Gravamina der sämbtlichen Stätte [1653]) und fol. 3 2 - 3 8 (Fürstl. Resolutionen). 166 ) LTA 1653 § 4 (nur mit Städten); StAM 5 Nr. 14658, fol. 2 4 (Underthenig Memorial 24.VI.1655); LTA 1656 § 5. Zur Steuerrektifikation und -gerechtigkeit vgl. Annegret WenzHaubfleisch, „ . . . damit des Landes-Bürden hinfüro mit gleichen Schultern getragen werden." Ziele und Durchführung der Rektifikation des landesherrlichen Steuerstocks in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert, in: HessJbLG 39 (1989), 151-204.
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Landtordnungen unverweilet zu gelangen, werden Ihre Fürstliche Gnaden fernere reiflich überlegen, zu solchem Ende auch, was sowohl die Ritterschafft alß Städte uff Erfordern schon vor guter Zeit vor Bedencken eingegeben, nochmaln durchlauffen laßen, und darauff nach Befindung es disfals derogestalt einzurichten unvergeßen sein, damit dabey nicht allein festgehalten, sondern auch hierunter der Zweck, soviel müglich, erreicht werden möge" 167 ). Der Landgraf hatte schon 1650 und 1651 von den Landständen Gutachten zu den Entwürfen der erneuerten Ordnungen angefordert und auch erhalten; erneut bat er 1657 um den Rat der Landstände 168 ). Diese explizite Einbeziehung der Stände in die Ausarbeitung von Landesordnungen in Form von Gutachten wurde nach den 1650er Jahren unüblich 169 ). Das Schicksal der Gravamina und Desideria auf den Landtagen und in den Landtagsabschieden konnte sehr verschieden sein. Sind für den Landtag 1715 gar keine Gravamina überliefert 170 ), so wird für den Landtag 1785/86 hingegen eher die Masse der überlieferten Desideria zum Problem 171 ). Blieben etwa am Landtag 1700 die städtischen Gravamina oder 1754, 1786 und 1798 eine große Zahl der Desideria ohne Antwort des Landesherrn 172 ), so wurde der Landtag 1731 einzig und allein zur Behandlung der Desideria einberufen. Doch bereits am folgenden Landtag 1734 nahm der Statthalter die Desideria nur „ad referendum" für den in Stockholm weilenden Landgrafen und schwedischen König an 173 ), und oft wurden die Wünsche der Landstände erst nach Beendigung des Landtages beantwortet, bespielsweise 1653, 1658, 1666, 1677, 1700, 1744, 1754, 1774 174 ); dies veranlaßte die Stände 1672, 1717, 167
) LTA 1653 [§ 5], ) Entwurf LTA 1650 [§ 4]; Fürstliche Proposition 1651 [§ 5]: „Undt nachdem [...] die hochnotwendige Policey- undt Taxordnung wegen allerhandt darbey sowohl alß sonsten eingefallener Schwerigkeiten undt Behindterungen bißnoch [nicht] völlig zu Werck gerichtet werden können, [...] so wirdt zu deßen mehrerer Beförderung nicht wenig dienen, wan Praelaten, Ritter- und Landtschafft uff ferners pflegende Communication [...] ihre Gedancken eröfnen [...]". Ferner: LTA 1656 [§ 6]; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 76 Anm. 2 (1657). Vgl. ebd., 82 Anm. 11 (1658). Zur Tradition der gutachterlichen Tätigkeit der Stände im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 105f. und St AM 17 II Nr. 1363. ,69 ) Einzelne Fälle von fürstlichen Anfragen um die ständische Meinung zu Projekten geschahen meist deswegen, weil sie, wie zum Beispiel die neu einzuführende Institution der Landräte, von den Ständen über Steuern finanziert werden sollten oder weil sie ständische Rechte betrafen, LTA 1774 Eingang und § 1; Fritz Volze, Der Landkommunikationstag vom 10. Februar 1774, in: Schwälmer Jahrbuch 1975,41-52,44-46. Vgl. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), XXIV. 17 °) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 219 Anm. 6. m ) StAM 73 Nr. 252, Bde 3-5, enthalten ausschließlich Desideria; StAM 73 Nr. 253 und Nr. 140, Bde 2-6, und StAM 63 Nr. 1313-1316 enthalten u.a. Desideria. 172 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 188 Anm. 10 (1700), 338 Anm. 16 (1754), 546 Anm. 38 (1786), 623 Anm. 142 (1798). 173 ) Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 283 Anm. 7, 288 Anm. 26. 174 ) StAM 5 Nr. 14658, Fürstliche Resolutionen von 1655/56 auf landständische Grava168
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1722, 1724, 1734 und 1754/55 dazu, die Behandlung schon vor längerer Zeit eingegebener Gravamina anzumahnen 175 ). Die Wirkung der Gravamina und Desideria war vielfältig. Sie konnte kurzoder mittelfristig, in erwünschter oder unerwünschter Weise, in Form des Landtagsabschiedes oder von fürstlichen Verordnungen und Resolutionen eintreten. Kurzfristig oder gar sofort wirksam wurden einige Desideria des Landtages 1731 176 ). Mittelfristige Wirkungen zu einem langfristig aktuellen Thema stellten die Desideria zur Judenpolitik dar. Die Forderung nach „Einschränkung der Juden" wurde zuerst vor allem von den Städten erhoben. Als sich 1650 Ritter und Städte zerstritten, strichen die Ritter aus dem gemeinsamen Gravaminakatalog unter anderem den Artikel, der beklagte, daß „die Juden allen Städten und dem Lande [...] große Ergernuß geben", bevor sie den reduzierten Katalog als ritterschaftliche Gravamina dem Landgrafen übergaben 177 ). 1653 verlangten die Städte, die Juden von der „abtragung gemeiner Stadt pflicht und onerum nicht eximiren zu lassen, sondern auch mit der Zeith gar außer lands zu schaffen" 178 ). Doch „das die Juden gar auß dem Lande vertrieben undt under den Christen nicht geduldet werden solten[,] ist gött- und weltlichen rechten zu wieder, bevorab, da Sie die Göttliche Verheisung der Bekehrung haben", befand die „Fürstliche Resolution uff der Stätte Generalgravamina" Landgraf Wilhelms VI. 179 ). Die weltlichen Rechte bestanden vornehmlich im Ius recipiendi Judaeos, das außer dem Landesherrn auch einigen Adeligen zustand. Seit 1682 erscheint die Forderung nach Beschränkung der Juden in den von Land- und Ritterschaft gemeinsam eingereichten Gravamina 180 ). Die Erneuerung der Judenordnung 1739 wurde von ständischen (Städte und Ritter) Desideria zum Landtag von 1731 in die Wege geleitet. Während ein regierungsintern vorbereiteter Entwurf nicht zum Tragen kam 181 ), wurden die ständischen Vorschläge 1731 zum Befehl erhoben des Inhalts, daß bis zur Ausarbeitung der neuen Judenordnung „vorerst in hiesiger Residentz und anmina von 1653, fol. 3 2 - 3 8 ; LTA 1658 § 3; LTA 1672 § 1 (zu 1666); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 148 A 1 6 (1677), 188 Anm. 10 (1700), 338 A 1 6 (1744 und 1754), 498 Anm. 23 (1774). 175 ) LTA 1672 § 1 und [ad § 1]; LTA 1717 § 3 und Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 231 Anm. 6; LTA 1722 § 3; LTA 1724 § 6 (2); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 271 Anm. 32 (zu 1734); StAM 17 II Nr. 1302 (zu 1754). >7) Vgl. oben S. 171-183. 177 ) Rommel, Hessen (wie Anm. 163), 9.Bd., 188; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 5 (Zitat, 1649), 12 Anm. 16. Zu füheren Forderungen betreffend die Juden vgl. Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), l l O f . (1640/1643). 17 8) StAM, StAM 5 Nr. 14658, fol. 30' (Gravamina der sämbtlichen Stätte [1653], § 12). >79) Ebd., Resolutionen [1655/1656], fol. 3 7 - 3 7 ' , Ad 12. 18 °) StAM 73 Nr. 68, fol. 99 (Landesbeschwerungen Punkt 12 (1682); vgl. LTA 1731 § 12. I81 ) Vgl. StAM 17 II Nr. 1299, fol. 4 8 7 - 4 9 0 ' (Projekt eines „Edicts wegen der Juden" vom 7.II. 1732); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 270 Anm. 29.
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deren Haubtstädten denen Juden in denen fürnehmbsten Straßen ein hauß zu erkauffen oder zu miethen nicht erlaubt, auch vors andere keinem deren in Städten vergönnet werde, über zwey Domestiquen zu halten, sodann vors dritte, daß keiner unter 25 Jahren heurathen dörffe, und viertens nur dem ältesten Sohn, nicht aber denen Döchtern, Schutzbrieffe ertheilet werden sollen" 182 ). Zur Verschärfung der Maßnahmen erging 1735 ein Edikt, das sich wieder auf den Landtagsabschied von 1731 berief, genauso wie auch die endlich 1739 erschienene erneuerte Judenordnung 183 ). Und auch 1764 lautete ein Desiderium generale: Beschränkung der Juden vor allem auf dem Lande 184 ). In den Krisenjahren nach den Mißernten von 1770/71 verschärften sich die Forderungen „die Juden und deren Wucher betreffend" 185 ). Der aufgeklärte Landgraf konstatierte, daß „Ihro Hochfürstliche Durchlaucht unter anderen Ursachen der so sehr heruntergekommenen Nahrung des Landmanns auch diese bemerckt, daß nur allzuviel Juden sich auf dem platten Lande aufhielten und dadurch Gelegenheit erlangten, die Unterthanen durch mancherley Wucher und unerlaubte Ränke um das Ihrige zu bringen, und dahero gnädigst resolvirt hätten, keinem, welcher künftig um dero landesherrlichen Schutz ansuchen würde, solchen auf herrschaftliche Dörfer, wann auch der Vater des supplicirenden Juden darinnen gewohnet und ein eigenes haus hinterlaßen, sondern in die nächstgelegene und mit keinem gültigen Privilegio dawieder versehene Städte zu ertheilen, zugleich aber, um ein Ganzes daraus zu machen, in Ansehung der adelichen Dörfer eben daßelbe, jedoch dergestalt festsetzen zu laßen, daß denenjenigen von dero getreuen Ritterschaft, welchen das ius recipiendi Judaeos zustehe, dieses dadurch im mindesten nicht beeinträchtiget, sondern nur die von ihnen aufzunehmenden Juden in die nächste Städte und nicht mehr, wie bisher, in die Dörfer recipirt werden, gleichwohl im übrigen denselben alle zeither von diesen Juden gefallene Utilia nach wie vor einzig und allein verbleiben sollten" 186 ). Die Prälaten und Ritter jedoch äußerten vor allem rechtliche, aber auch praktische Bedenken gegen diese Umsiedlungspläne, mit denen die Landesherrschaft auf die Klagen gegen die Juden (über-)reagierte. Sie fürchteten endlose Prozesse und eine Austrocknung der
l82 )LTA 1731 § 12, auch in: LO 4, 68. Vgl. ebd., 58 (Regierungsausschreiben, daß die Juden so keinen Landesherrlichen Schutz haben, das Land räumen sollen, 20.VIII. 1731). I8i ) Edikt wegen der Juden vom 27.V. 1735 ( L 0 4, 288); Juden-Ordnung vom I2.VIII.1739 (LO 4, 586-99). 184 ) StAM 5 Nr. 14717, fol. 42' (Desiderium generale 10). Vgl. Hollenberg. Einleitung (wie Anm. 5), 433 Anm. 19. 185 ) StAM 63 Nr. 1327 (Index der Desideria 1772, Desideria communia 1 der Landschaft). Vgl. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 496 Anm. 18: Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 93-95. 186 ) LTA 1774, Eingang. In Kassel sollte eine Judengasse eingerichtet werden.
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ländlichen Infrastruktur 187 ). Am Landtag kam es zu keiner Einigung, doch der Landgraf behielt sich vor, die skizzierten Verordnungen durchzuführen. Am folgenden Landtag 1779 beschwerten sich die Stände gemeinsam über die negativen Auswirkungen der Umsiedlungspolitik 188 ), was der Landgraf mit dem Hinweis quittierte, daß „das gesammte judenschaftliche Wesen von des Landgraffen Hochfürstlichen Durchlaucht alleinigen landesfürstlichen Hoheit abhänget, es auch hierbey lediglich sein unabänderliches Verbleiben behalten müße" 189 ). Der neue Landgraf Wilhelm IX. verfügte auf weitere Klagen der Stände 1786 die Aufhebung der Verordnung, die die Juden vom Land in die Städte gezwungen hatte 190 ). Nur eine langfristige Perspektive kann die Kontinuität gewisser landständischer Anliegen überhaupt erfassen. 1767 entstand auf Anregung des Landtags und unter Mitwirkung ständischer Deputierter die Feuerversicherung in Form der sehr erfolgreichen Brandversicherungskasse. Eine derartige „Brandkasse" hatten die Stände schon 1731 propagiert 191 ). Dagegen gehörte die Forderung nach einer Landständischen Kasse zu denjenigen, die von den Landständen zwar immer wieder erhoben, aber trotzdem nicht verwirklicht wurden. Vergeblich legten sie an den Landtagen 1704, 1731 und 1764 die Vorteile einer solchen Einrichtung dar. Eine Landkasse würde es ermöglichen, „daß der bey Abhörung der Steurrechnung sich etwa befindende Überschuß daringeleget, mithin zu des Landes allgemeinen Nutzen angewendet werden möge" 192 ). Während der Landesfürst 1704 den Vorschlag lediglich „in weiteres gnädigstes Bedencken" nehmen wollte 193 ), ließ er sich 1731 darauf ein, „nähere Vorschläge zu Einrichtung und Administration dieser Cassae" abzuwarten, die aber nicht zustande gekommen zu sein scheinen 194 ), denn am Landtag 1764 wiederholte sich der Vorgang 195 ). Eine ähnlich lange Geschichte betrifft das erste Desiderium speciale der Stadt Waldkappel von 1731 zum Ius Metrocomiae (Näher- oder Rückkauf• 87 ) LTA 1774 § 2 . 188 ) StAM 17e 1332, Anl. 133 (Allgemeines Desiderium 6, 19.1.1779). 189 ) LTA 1779 § 11. Vgl. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 520 Anm. 44; Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 94. •90) StAM 17e 1314 Anl. 283 (Allgemeines Desiderium 31, 1786); LTA 1786 § 11 (b); Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 205. >91) StAM 5 Nr. 14686, fol. 337 (Vorschläge zum gemeinen Besten [1731], Punkt 12). - Die „Ordnung, die Einrichtung der Brand-Casse betreffend" vom 27.IV. 1767 in: LO 6, 4 2 2 432. Vgl. Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 187; Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 64; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 433 Anm. 19 u. 509 f. Anm. 11. Zu deren Erfolg LTA 1798 § 3. Dagegen stellt Taylor, Military State (wie Anm. 15), 42, die Brandkasse als ein weiteres Instrument der Bürokratie zur Abschöpfung bäuerlicher Erträge dar. 192) LTA 1731 § 6 . 193) LTA 1704 § 3. 194) LTA 1731 § 6 und Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 268 Anm. 18. •95) StAM 5 Nr. 14717, fol. 52 (Allgemeines Desiderium 29, 1764). Vgl. StAM 17b Fach 8 Nr. 3 (1764).
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recht), das über viele Umwege und Neuanläufe 1767 zu einer landesweit geltenden Verordnung führte 196 ). Wie zweischneidig der Erfolg eingebrachter Beschwerden sein konnte, wird am Beispiel des Straßen- und Wegebaus deutlich. Die 1722 von den Landständen präsentierte Klage über die schlechten Straßenverhältnisse hatte eine neue Wegebausteuer zur Folge. Immerhin konnten die Städte beim Landgrafen die Beitragspflicht der Ritterschaft gegen deren hartnäckigen, bis 1731 dauernden Widerstand durchsetzen 197 ). Diese Lösung scheint sich dann bewährt zu haben, wurde doch die Besteuerung der Ritter bei den Abhörungen der Wegebaurechnungen seit 1754 nicht mehr zum Problem 198 ). Erst 1798 versuchten die Prälaten und Ritter nochmals erfolglos, ihre Akzise- und Steuerfreiheit auf den Wegebau auszudehnen 199 ). Aktuelle Themen der Aufklärung wurden in Hessen-Kassel nicht nur von der reformfreudigen Bürokratie, die vom Landgraf-Philosophen Friedrich II. (1760-1785) zur regelmäßigen Lektüre der Reformpublizistik angehalten wurde 200 ), zur Diskussion an den Landtag gebracht, sondern auch von den Ständen. So mahnten sie 1731, 1755 und 1764 die Förderung der Schulen 201 ) an, 1731 und 1764 die Ansiedlung von Fabriken, ferner die Schonung der Holzbestände, die Reduktion kirchlicher Feiertage, die Sammlung der geltenden Landesordnungen (1764), die Publikation der Entscheidungsgründe von Gerichtsurteilen (1785/86) und die Veröffentlichung der Landtagsabschiede (1773/74 und 1797) 202 ). Als spezifisch bäuerlich erscheinende Klagen, so etwa solche über Wildund Jagdschäden, gelangten oft (1650, 1653, 1658, 1700, 1764) 203 ) an den 196
) Der Fall wird aus einer aoderen Perspektive aufgerollt bei Fuhrmann/Kümin/Würgler, Supplizierende Gemeinden, in diesem Band S. 316f. 197 ) LTA 1722 § 2; LTA 1724 § 6 (5); LTA 1731 § 18 (12); vgl. L 0 4, 63 (Regierungs-Ausschreiben v. 2.X.1731), 118f. (7.IV. 1732); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 238f. Anm. 6, 8 und 9. 198 ) LTA 1754 § 1; LTA 1764 § 5; LTA 1772§4;LTA 1779§4;LTA 1786 §§ 3 , 7 u n d 9 ( g ) ; Rechnungsabschied 1798; LTA 1798 § 2. '") Lichtner, Stände (wie Anm. 54), 41. 20 °) Beispiele bei Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 45. 201 )LTA 1731 § 19(b) (Städte); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 344f. Anm. 15 (1754); StAM 5 Nr. 14717, fol. 39, Desiderium generale 2 (1764). 202 ) 1731: StAM 5 Nr. 14686, fol. 332 (Vorschläge zum gemeinen Besten, Punkt 4); 1764: StAM 73 Nr. 117,4. Bd., Nr. 160; StAM 5 Nr. 14717 (Desideria); Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 48, 63, 66; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 433 Anm. 19; 1770er: Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 103 (Feiertage); 1785/86: StAM 17e 1313 Anl. 54 (allgemeines Desiderium 6 vom 28.XI.1785); LO 7, 18 (Extrakt Geheimratsprotokoll vom 23.XII.1785, ablehnender Bescheid); 1797: StAM 17b Fach 8 Nr. 10. 203 ) StAM 5 Nr. 14658 (Gravamina sämbtlicher Stätte 11 [1653]); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 82 Anm. 11 (1658); StAM 5 Nr. 14671, fol. 189 (1700); StAM 17b Fach 8 Nr. 4; Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 68 (1764). Wildschadensklagen des 16. Jahrhunderts verzeichnet Hollenberg, Hessische Landtagsabschiede (wie Anm. 9), Register. Vgl. zu 1583 Neuhaus, Supplikationen 2 (wie Anm. 2), 77f., 94.
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Landtag, aber offenbar nur einmal in den Landtagsabschied - 1731 204 ). 1650 wurden sie von der Ritterschaft eingebracht, weil diese ihre Hintersassen vor Übergriffen der fürstlichen Jagd schützen wollte, und von den Städten, weil der Wildschaden dem Landmann so verderblich sei 205 ). 1798 hingegen klagten die Ritterschaft und die Stadt Homberg, daß die landesfürstlichen Förster bei der „Vorjagd" so gründlich ans Werk gingen, daß ihnen nichts mehr zu jagen übrig bliebe 206 ). Jagd- und Wildschäden waren demnach nicht nur ein bäuerliches Thema, sondern auch ein Konfliktpunkt zwischen Rittern (zum Teil auch Städten) und Landesherrn. In gewissem Sinne spiegeln die Präambeln der fürstlichen Ausschreiben und Verordnungen im Umfeld der Landtage den Grad des Erfolgs landständischer Politik. Oft geben die Ordnungen und Edikte zu erkennen, daß sie auf Anregung oder Anmahnung der Stände erneuert oder erlassen wurden. Diese Beobachtung trifft nicht nur für den folgenreichen Landtag von 1731 zu. Besonders auf dem Landtag von 1764 vorgebrachte Desiderien implizierten zahlreiche Erlasse. Dazu gehört das Sammelpaket von sechs Verordnungen als Antwort auf die Desideria zu den Problemen Hegezeit, Jagdfolge, Zehntordnung, Bierbrauen, Bergordnung, nächtliches Schießen 207 ) ebenso wie die zahlreichen Ausschreiben und Edikte zu den Bereichen Steuerrektifikation, städtische Jurisdiktion über Garnisonssoldaten, Wegebau, Grenzziehungen, nächtliches Schießen, Verbesserung der Justiz, Brandkasse und Tranksteuer 208 ). Weitere Verordnungen waren, ohne den Landtag zu erwähnen, sachlich ganz eindeutig Reaktionen auf Desideria 209 ). Solche Zusammenhänge bestanden aber auch für andere Landtage. 1682 klagten die Stände über die Kosten und den Aushebungsmodus der Miliz. Der Landgraf versprach vorerst die Einhaltung geltender Verordnungen, und regelte wenig später die Sache neu 210 ). Mindestens fünf Verordnungen erklärten sich ausdrücklich als 204
) LTA 1731 § 8. 205) Rommel, Hessen (wie Anm. 163), 9. Bd., 182, 187. 206 ) LTA 1798 § 18(p) und 19(h). Ähnlich schon das 42. allgemeine Desiderium 1786 (StAM 17e 1313 Index; vgl. StAM 63 Nr. 1315 Anl. 399, 405, 431 und 63 Nr. 1316 Anl. 586). 207 ) LO 6 , 4 0 0 - 4 0 2 (1 O.III. 1767). 208 ) L O 6 , 153f. (19.IX.1764), 167 (30.X.1764), 172 (8.1.1765), 396 (7.II. 1767), 403-413 Cl V.III. 1767), 422-432 (27.IV. 1767), 464 (3.XII. 1767). Vgl. StAM 17b Fach 8 Nr. 4, „Acta, betr. die höchsten Orts der Regierung zugefertigte Landständische Desideria und darauf ertheilte gnädigste Resolutionen de 1764-1766 und die hiernach begriffene Landesordnungen, als: 1) zu Verbesserung des Justiz-Wesens de 1767, 2) Über Hege- und Jagdzeit, Jagdfolge, Zehendordnung, Bierbrauen, Verbott des Schiesens 1767, 3) Über Abhaltung der Grenzzüge 1767, 4) Über Vormundschaften und milde Stiftungen 1767, 5) Über Concurs Prozesse 1767". 209 ) Beispielsweise die Verordnungen zu den Materien Preise und Taxen (17.XII. 1764, LO 6, 169f.), Lizent (15.11.1766, ebd., 351 f.), Konkursprozesse und Vormundschaften (1767, StAM 17b Fach 8 Nr. 4). 210) StAM 73 Nr. 68, fol. 96-98 (Gravamina); LO 3, 118f. (die geltende Ordnung vom
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Antwort auf die Desideria, die am Landtag 1772 vorgebracht worden waren 211 ), und mindestens eine nennt den Landtag von 1774 als Anlaß 212 ).
4.3. Politische Interessenartikulation der Untertanen außerhalb der Landtage Von 1650 bis 1800 gab es 48 Kalenderjahre, in deren Verlauf in Hessen-Kassel ein Landtag stattfand und 103 Kalenderjahre, in denen keiner stattfand 213 ). Welche Mittel und Wege der politischen Einflußnahme standen den Städten in den doppelt so langen Zeiten ohne Landtag - und ohne ständige Ausschüsse offen? Welche politischen Artikulationsmöglichkeiten hatten die an den Landtagen ohnehin nicht mit eigenen Deputierten vertretenen bäuerlichen und handwerklichen Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen? Für beide Fragen bieten sich die Suppliken und Beschwerden als Quellen für eine mögliche Antwort an. Suppliken oder Bittschriften waren in der Regel von einzelnen oder mehreren Betroffenen spontan formulierte Beschwerden, Wünsche und Gesuche an den Landesherrn bzw. die ihn vertretenden Behörden. Eine Art Sonderform von Suppliken und Beschwerden sind die obrigkeitlich angeordneten „Landesverbesserungspunkte" von 1731. Sie waren gewissermaßen Untertanenbeschwerden „auf Bestellung", wie sie auch anläßlich der sogenannten politischen Visitationen in Hessen von 1514 bis 1820 entstehen konnten 214 ).
9.XI.1679); LO 3, 300f. (die neue Ordnung von 1685). Vgl. Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 148 Anm. 16, 189Anm. 12, I 9 2 A n m . 17.-Erfolglos verlangten die Stände 1688 (LTA § 2) die Abschaffung der Tagegelder für Milizoffiziere. 21 ' ) 1) Regierungs-Ausschreiben den Treseney-Zehnten betr. vom 30.111. und 8.VII.1772 (LO 6,641 und 651 f.); 2) Verordnung betr. die Juden vom 7.IV. 1772 (LO 6, 643 f.); 3) Verordnung zum Kleiderpracht vom 1 .V. 1772 und deren Erläuterung vom 4.V. 1773 (LO 6,647 und 692); 4) Regierungs-Ausschreiben, die Bindung der Früchte in Widden betr. vom 29.VII.1772 (LO 6, 655); 5) Cameral-Ausschreiben betr. die Tafel-, Accis- und Licentfreiheit vom 24.XI.1772 (LO 6, 668). 212 ) Verordnung betr. Subhastationen (Versteigerungen) vom 18.111.1774 (LO 6, 759-761). Vgl. Pfeiffer, Verfassung (wie Anm. 7), 176-180. 213 ) Die Zahlen nach der Liste bei Hollenberg, Landstände (wie Anm. 21), 16 f. 214 ) Untersucht sind Visitationen des 16. Jahrhunderts: Friedrich Küch, Eine Visitation der Obergrafschaft Katzenelnbogen im Jahre 1514, in: ArchHessG NF. 9 (1914), 145-234; Kersten Krüger, Politische Ämtervisitationen unter Landgraf Wilhelm IV. [1567-1592], in: HessJbLG 27 (1977), 1-36, dort 21-28 auch die erste Ämtervisitations-Ordnung von 1577/ 78. Quellen zu den Visitationen 1567-1671: Armin Sieburg (Bearb.), Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg. Bestand 17: Landgräflich hessische Regierung zu Kassel, I: Alte Kasseler Räte (1518-1708). Marburg 1989,237-245. Zu den Visitationen 1666-1820, wobei zwischen 1666 und 1746 keine großen stattfanden: ebd., II: Herrschaftliche Repositur 1708-1821. Marburg 1976, 27-31, und StAM Repertorium zu Bestand 5, 2. Bd., Teil III: Landesvisitationen (1666-1820).
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4.3.1. Landesverbesserungspunkte:
Die Enquête von 1731
Am 24. August 1731 schrieb der gerade aus Schweden angereiste König und Landgraf Friedrich I. an „alle und jede Beamte" sowie „Magistrate und Obrigkeiten in denen Städten", sie sollten innerhalb von vier Wochen Vorschläge unterbreiten, „wie denen Städten, Aemtern und Communen, zu des Vatterlandes allgemeinem Besten, und eines jeden fleißigen Unterthanen Aufnahm und Nahrung aufzuhelffen sey". „Als befehlen Euch gnädigst," hieß es weiter, „nach vorgängiger gemeinsamen Délibération und gründlicher Untersuchung, auch Vernehmung derer in Euerm Amts-Becirck wohnenden, dazu tüchtig erachtender Unterthanen, Gilden und Zünften, nach der Lage und Euch am besten bekandten Local-Umstanden jeden Orts in allem dem, was zu mehrerm Aufnehmen und Flor des Publici und derer Unterthanen Besten in Policey, Commerden, Fabriquen, Oeconomie und dergleichen, nützlichen Sachen zu etabliren und zu vermehren Ihr dienlich und practicabel findet, Euren gegründeten Bericht und ohnmasgebige Furschlage punctatim [...] zu Unserer Regierung fordersamst einsendet" 215 ). Eine systematische Auswertung der von den Beamten und Städten eingereichten sogenannten „Landesverbesserungspunkte" scheint nicht erfolgt zu sein; diese Enquête blieb eine bloße protostatistische Informationsbeschaffung 216 ). Lediglich eine Zusammenfassung mehrerer Eingaben durch die Regierung zu Marburg erreicht eine gewisse Verallgemeinerungsfähigkeit. In dieser Zusammenfassung werden mehrere Probleme angesprochen, die auch gleichzeitig als Desideria der Landstände auf dem Landtag zur Sprache kamen. Im einzelnen handelt es sich dabei wieder um die Bitte, „daß zum soulagement der Unterthanen der auffsatz von contribution und Vorschuß cessiren möchte", und um die Bitte zur Klärung der rechtlichen Stellung der Landsiedelgüter 217 ). An einigen städtischen und ländlichen Beispielen soll dargestellt werden, wie diese Enquête konkret vor sich ging. Bürgermeister und Rat der Stadt Kassel hatten das königliche Schreiben vom 24. August „hiesigen Gilden und Zünfften umb zu ihrer Auffnahme ohnmaßgebige Vorschläge zu thun, sofort communiciret, welche dann nach und nach ihren beträngt[en] Zustand schrifftlich vorgestellt und umb remedur allerunterthänigst" gebeten hätten; Bürgermeister und Rat schickten aber die 23 eingereichten Klageschriften der Gilden und Zünfte nicht wie vorgeschrieben an die Regierung, sondern direkt 215
) LO 4, 59. ) Bekannt sind nur eine „Spécification" der Städte und Ämter, die diese Verbesserungsvorschläge eingesandt bzw. nicht eingesandt hatten (StAM 5 Nr. 14686, fol. 309-316'), sowie verstreute einzelne Berichte (in StAM 17e und 17 II Nr. 1288). 217 ) StAM 5 Nr. 14686, fol. 341-343'. Diese Punkte entsprechen dem LTA § 3 und 14. Weitere Punkte: Einrichtung eines Landrechts, strittige Jurisdiktionskompetenzen und Klagen über das Prozeßverfahren.
216
Desiderio
und
Landesordnungen
193
an den in Kassel versammelten Landtag 218 ). Obwohl Kassels Vorgehen später von der Regierung mißbilligt wurde, erfolgten am 20. Oktober königliche Resolutionen auf diese „Gravamina So Zünffte und Gülden alhier in Cassell alß man von solchen, Mann vor Mann vernommen, vorgestellet" 219 ). Auch in den Städten Allendorf und Wetter wurden Gilden und Zünfte, in Wetter zudem noch „darzu tüchtig erachtender Unterthanen" beigezogen 220 ). In den Ämtern dürfte sich diese Umfragen etwa so abgespielt haben, wie im Schreiben aus Obergeis geschildert. „Königl. undt Hochfürstl. Regierung berichte [ich, Amtsverweser Bilstein; A. W.] hiermit unterthänig und gehorsambst, daß ich die gerichtsschöpffen, Vorstehere, und andere ältesten auß Jeder Dorffschafft hiesiges Ambts zu mire kommen laßen und darüber vernommen auch überlegt, waß zu derer unterthanen besten, Auffnahm, undt nützlichen sachen zu etabliren seye und verbeßert werden könne" 221 )- Aus der Stadt Treysa, zu der auch das Amt Schönstein gehörte, erreichten die Regierung in Kassel „allergnädigst erforderte unmaasgebliche Fürschläge, wie hießiger Stadt- undt dem Amt Schönstein in Policey Commerden, Fabricquen Oeconomie und andern sachen zu helffen stünde, mit zuziehung Bürgermstr. und Raths, in gleichem derer Gilden und Zünfften, wie auch greben undt Vorsteher, in denen dörffern, vor practicabel gefunden" 222 ). Für die Stadt Neukirchen erlaubt die Quellenlage den Vergleich der Landesverbesserungspunkte mit den Desideria. Für diese Stadt existieren sowohl 15 Landesverbesserungspunkte, die von Bürgermeister und Rat, als auch 23 Verbesserungsvorschläge, die vom Amtsschultheißen verfaßt wurden. Die Stadt Neukirchen hatte am Landtag 1731 keine eigenen Desideria specialia eingereicht, wohl aber stammten vier Punkte auf der Liste der Desideria communia der Schwalmstromstädte ausdrücklich von Neukirchen, ein weiterer wurde von Neukirchen mitgetragen. Das bedeutet, daß die Städte des Schwalmstroms bereit waren, die Neukirchener Desideria in den gemeinsamen Katalog aufzunehmen. Zudem unterstützte Neukirchen auch die Desideria communia der Landschaft sowie die Desideria generalia der Stände. Vier Landesverbesserungspunkte von Bürgermeister und Rat zu Neukirchen fanden sich explizit (drei weitere implizit) in den 15 Desideria communia der Städte des Schwalmstroms 223 ), drei fanden sich implizit in den sechs Landschaftlichen Desideria communia und nochmals sechs 224 ) in den 218
) StAM 17e Kassel Nr. 581 (Brief von Bürgermeister und Rat zu Kassel an den Geheimen Rat, 28.11.1732). 219 ) StAM 17 II Nr. 1299, fol. 324. 220 ) StAM 17e Allendorf Nr. 61 (6.X.1731); StAM 17e Wetter Nr. 58 (29.IX.1731). 221 ) StAM 17e Obergeis Nr. 9 (18.IX.1731). 222 ) StAM 17e Treysa Nr. 28 (21.IX. 1731). 223 ) Drei dieser 15 Desideria sind gemeinsame aller Schwalmstädte, 12 stammen je von einzelnen Städte (vier von Neukirchen). 224 ) Naturgemäß wird die Zuordnung je höher man steigt, desto allgemeiner.
194
Andreas Würgler
17 Desideria generalia. Eine tabellarische Gegenüberstellung ergibt folgendes Bild: Tabelle 2: Neukirchen: Landesverbesserungspunkte und Desideria 173 1 2 2 5 ) Landesverbesserungspunkte von Bürgermeister und Rat 1. Kontribution (Steuer)
von Untertanen und Amtsschultheiß
Desideria communia der Schwalmstädte
communia der Landschaft
X
generalia der Landstände X
2. Wildschaden
X
3. Hude (Weide)
X
4. Freier Handel (mit Vieh)
(x)
(x)
5. Freier Handel (mit Tuch)
(X)
(x)
X
6. Hausierverbot 7. Zehntfrüchte
X
8. Branntweinprivileg
X
9. Klaftermaß
X
10. Mast
X
11. Eichenstämme
X
12.-14. Bierbrauen und Dorfschencken
X
15. Grenzziehungen, Lagerbücher
X
X
X X
Bei den mit ( ) bezeichneten Punkten ist der Zusammenhang nur partieller Art
Die Tabelle geht von den Landesverbesserungspunkten aus, die Bürgermeister und Rat formuliert haben. Sie versucht darzustellen, erstens inwieweit diese Landesverbesserungspunkte der Gemeindevertreter mit denjenigen des Amtsschultheißen als Vertreter der Obrigkeit übereinstimmen. Zweitens inwieweit die Neukirchener Anliegen verallgemeinerungsfähig sind auf den Stufen Schwalmstrom, Landschaft und Landstände. Die Landesverbesserungspunkte der Gemeindeorgane decken sich nur zu
225
) StAM 17e Neukirchen Nr. 24 (Landesverbesserungspunkte von Bürgermeister und Rat sowie von Untertanen und Amtsschultheiß 1731); StAM 17 II Nr. 1299, fol. 241-243 (Desideria der Schwalmstädte); fol. 186-193' (Desideria der Landstände); StAM 5 Nr. 14686, fol. 203-205 (Desideria der Landschaft).
Desideria und
Landesordnungen
195
rund einem Viertel mit denjenigen des Amtsschultheißen. Die genaue Analyse zeigt allerdings, daß die Vorschläge des Schultheißen zweierlei Ursprungs sein können. Zum einen diente er nur als Briefträger für Forderungen der Untertanen, seien dies „sämtliche Amtsunterthanen" (Hude) oder gewisse Dörfer (ebenfalls Hude), seien dies bestimmte Gruppen, wie etwa die Leineweber (Kontribution), die Krämer (für freien Tuchhandel), die Zeugmacher (gegen freien Tuchhandel), die Färber (für ein Färbermonopol). Die übrigen Forderungen scheinen aus der Erfahrung und aus der Feder des Amtsschultheißen, der für Stadt und Amt Neukirchen 226 ) zuständig war, zu stammen. Auffallend dabei ist die große Zahl an Vorschlägen, die sich um Kredite, Konkurse und Schulden (Punkte 5-9, 15) drehten 227 ). Sie zielten durchaus auf eine sozialere und transparentere Regelung des Geldverkehrs, gehörten aber wohl nicht zu den dringlichsten Wünschen der Untertanen 228 ). Von den 15 Landesverbesserungspunkten der Stadt Neukirchen wurden nur zwei nicht in Form von Desideria am Landtag 1731 thematisiert (6 und 15). Dagegen fanden fünf bzw. sieben Vorschläge (3, 7, 10, 11, 12/13/14) Unterstützung im Kreis der Schwalmstädte, drei weitere wurden von der gesamten Landschaft vertreten und vier bis sechs fanden sich wieder in den allgemeinen Landesbeschwerden aller Stände. Die von Bürgermeister und Rat der Stadt Neukirchen - wohl mit „Vernehmung der tüchtigen Unterthanen, Gilden und Zünften" 2 2 9 ) - formulierten Vorschläge treffen demnach größtenteils allgemeine Landesprobleme. Oder umgekehrt: die Wünsche der Neukirchener Bürger waren weitgehend identisch mit den von der Landschaft und den Ständen insgesamt am Landtag vertretenen Desideria 230 ).
226
) StAM 17 II Nr. 17, fol. 7 (Verzeichnis der Städte und Ämter in [...] Hessen [...] und der Namen der Beamten und Justitiarien [1730er Jahre]). 227 ) Möglicherweise hängt das damit zusammen, daß Schulden- und Hypothekensachen zum hauptsächlichen Arbeitsbereich des Amtsschultheißen gehörten. Mit solchen Fällen sind die überlieferten Amtsprotokolle, die Währschafts- und Hypothekenbücher, angefüllt; vgl. Kurt Dülfer (Bearb.), Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Abt. Protokolle II-III, Amtsbücher, 1. Bd. Marburg 1958, Einleitung. 22S ) Außer es hätte eine Absprache zwischen Bürgermeister und Amtsschultheiß stattgefunden. Weitere Vorschläge des Schultheißen betreffen das Gewerbe und die Juden. 229 ) Gemäß Anleitung des Königlichen Ausschreibens, LO 4, 59. 230 ) Die Quellen erlauben das vergleichende Verfahren nicht für alle Städte. Wie weit der Fall Neukirchen repräsentativ ist, muß offen bleiben; das Beispiel der Stadt Kirchhain zeigt, daß der Grad der Übereinstimmung der Spezialdesideria mit den landschaftlichen oder gar landständischen auch kleiner sein kann: Von den 25 Desideria specialia wurden sieben auf höherer Ebene aufgenommen; mindestens acht weitere waren allerdings auf Kirchhainer Verhältnisse beschränkt und daher nicht verallgemeinerbar, StAM 5 Nr. 14686, fol. 103-108 und StAM 5 Nr. 395. Für die Stadt Frankenberg beträgt das Verhältnis fünf aus elf, StAM 5 Nr. 14686, fol. 93-95'; für die Stadt Wetter vier aus 13, wobei mindestens vier spezifisch auf Wetter bezogen waren, fol. 134-138.
196
Andreas
4.3.2. Suppliken und
Wiirgler
Landesordnungen
Die These von Helmut Neuhaus, daß sich eine große Zahl von individuellen „Suppliken" 231 ) zu landständischen Gravamina verdichten könnten 232 ), verbindet die Themen Landtag und Suppliken233) zumindest für den städtischen Bereich. Obgleich nur ganz sporadisch direkt an den Landtag bzw. die Landstände suppliziert wurde, wie die ab und zu in den Landtagsakten aufzufindenden Suppliken von Dörfern zeigen 2 3 4 ), scheinen die Landstände den sich in Suppliken äußernden Problemdruck öfter wahrgenommen und an den Landtag getragen zu haben. So beginnt ein allgemeines Desiderium der Stände auf dem Landtag 1786 mit den Worten: „Aus allen Gegenden unsers Vaterlandes laufen bittere Klagen über die Härte des [...] Auswanderungs-Edicts vom 1 lten März 1774 ein" 235 ). Die Landstände thematisierten gegenüber dem Landesherrn einen Mißstand mit dem Hinweis, „Stände müßen, da es ihre Bestimmung mit sich bringt, die Gesinnungen derselben [d.i. der Untertanen, A. W.] auszudrücken, aufrichtig bekennen [.. .]" 236 ). Von gewissen Problemen waren Stadt und Land gleichermaßen betroffen, folglich klagte die Landschaft im Jahr 1700, daß „Stätte und Dorffschafftenn durch den Wildt Fraß in all zu großen Schaden gesetzet" werden 237 ). Die Klagen über die Kontributionen beherrschten nicht nur die Landtage des 18. Jahrhunderts, sondern auch die Suppliken 238 ). Trotz der mit Verweis auf Stadtrecht machbaren Trennung von Stadt und Dorf ergab sich aus der Tatsache, daß in Hessen kleine Ackerbürgerstädte do231
) Der Quellenterminus „Supplik" löst in Hessen-Kassel im späten 17. Jahrhundert den älteren Terminus „Supplikation" ab. Der Wandel scheint mehr ein Ausdruck der französisierenden Sprachmode, als ein Beleg für den Wesenswandel der Bittschrift zu sein. Vgl. die beiden Termini in den Registern der LO 1-6. Zum Einfluß des Französischen Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart [...]. 4. Theil. 2., verm. u. verb. Aufl. Leipzig 1802, Sp. 506. 232 ) Neuhaus, Supplikationen 2 (wie Anm. 2), 83. Vgl. auch Micheal Cramer-Fürtig, Landesherr und Stände im Fürstentum Pfalz-Neuburg. München 1995, 213. 233 ) Ausführlicher zum Supplikenwesen der Abschnitt zu Hessen in Fuhrmann/Kümin/ Würgler, Supplizierende Gemeinden, in diesem Band. 234 ) Hollenberg, Landstände (wie Anm. 21), 5; ders., Einleitung (wie Anm. 5), 36 Anm. 16 (1653); StAM 5 Nr. 14686, fol. 169-173, Gemeinde Sandershausen an König anläßl. des Landtages 1731. Einen eigenen Supplikenausschuß des Landtages, wie in Bayern oder Niederösterreich, gab es in Hessen nicht; Neuhaus, Supplikationen 2 (wie Anm. 2), 71-73. 2 « ) StAM 63 Nr. 1315 Anl. 418, Allgemeines Desiderium 44 vom 23.111.1786. 236 ) StAM 5 Nr. 63 1316 Anl. 533 (Pro Memoria von Prälaten, Ritter- und Landschaft vom 11.IV. 1786). 237 ) StAM 5 Nr. 14671, fol. 189. Das anschließende Gravamen hingegen macht die Differenz zwischen Stadt und Land deutlich: „2. So geschiehet denen Stätten durch die sich auff die Dorffschafftenn setzende Handtwercks leüthe und Pfuscher großer Eintrag." 238 ) Zu den Landtagen siehe das oben S. 176-178 beschriebene Beispiel 1731. Zu den Suppliken zum Beispiel StAM 17e Oldendorf Nr. 6 (Supplikenprotokoll der Stadt Oldendorf 1728) und StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a (Supplikenprotokoll des General-Direktoriums 1786); WitzeI, Hersfeld (wie Anm. 96), 393 (17. Jahrhundert).
Desideria und
197
Landesordnungen
ruinierten, d i e s i c h v o n der d e m o g r a p h i s c h e n G r ö ß e her k a u m und v o n der ö k o n o m i s c h e n Struktur her nur w e n i g v o n den D ö r f e r n u n t e r s c h i e d e n 2 3 9 ) , e i n e beträchtliche S c h n i t t m e n g e städtischer und dörflicher P r o b l e m e . D a h e r überrascht nicht wirklich, daß d i e Städte an den L a n d t a g e n A n l i e g e n vertraten, d i e a u c h i m Interesse der D ö r f e r waren, und daß d i e Städte für d i e K l a g e n und Bitten d e s L a n d e s e i n f e i n e s Ohr hatten. S i c h e r l i c h ist d i e A b s c h a f f u n g der Landräte bzw. ihrer städtischen P e n dants, der C o m m i s s a r i i L o c i , ein B e i s p i e l für d i e N e u h a u s - T h e s e . D i e Landräte w a r e n 1 7 7 4 n a c h p r e u ß i s c h e m Vorbild als Instrument zur D u r c h f ü h r u n g v o n (aufklärerischen) R e f o r m e n und als „the r e g i m e ' s e y e s and e a r s " 2 4 0 ) v o m Landgraf
mit Unterstützung
der Ritterschaft und
mit E i n w i l l i g u n g
der
S t ä d t e 2 4 1 ) g e s c h a f f e n w o r d e n . D i e j e z w e i Landräte für j e d e n der f ü n f S t r o m bezirke mußten, w e i l der Landgraf Landräte aus der städtischen Bürgerschaft für „unthunlich" hielt, aus der h e s s i s c h e n Ritterschaft s t a m m e n . D a d i e adelig e n Landräte aber g e m e i n s a m v o n den Ständen finanziert wurden, durften s i e d e m Landesherrn j e w e i l s e i n e n Z w e i e r v o r s c h l a g präsentieren, aus d e m der Fürst e i n e n Landrat b e s t i m m t e 2 4 2 ) . A u f g r u n d v o n B e s c h w e r d e n u n d S u p p l i k e n der Städte über die C o m m i s s a rii L o c i 2 4 3 ) und der D ö r f e r über d i e L a n d r ä t e 2 4 4 ) übte die L a n d s c h a f t bereits
239) v g l /(ersten Krüger, Entstehung und Ausbau des hessischen Steuerstaates vom 16. bis zum 18. Jahrhundert - Akten der Finanzverwaltung als frühneuzeitlicher Gesellschaftsspiegel, in: HessJbLG 32 (1982), 103-125, v.a. 115-125: Die Stadt Waldkappel (758 Einwohner) diente in den 1730er Jahren als Modell und Testfall für die Entwicklung von Kriterien zur Besteuerung von Handel und Gewerbe; sie kann insofern eine gewisse Repräsentativität beanspruchen. Ihre Bewohner ernähren sich hauptsächlich vom Bekleidungs- (52%), Nahrungsmittel- (17%) und Baugewerbe (13%). Doch trieben 59% Landwirtschaft im Nebenerwerb. Im Dorf Herleshausen (663 Einwohner) herrschte eine ähnlich differenzierte Struktur, nur daß die Anteile von Haupt- und Nebenerwerb umgekehrt waren. Selbst im Dorf leben nur 38% ausschließlich von der Landwirtschaft, 27% vom Bekleidungsgewerbe (Leineweber) und 10% von anderen Gewerben oder vom Taglohn. Nebenerwerbstätigkeiten waren auf dem Dorf seltener (ein gutes Drittel gegenüber drei Viertel in Waldkappel). Krüger betont als Resultat die „unterschiedliche, in sich stark differenzierte Erwerbsstruktur der beiden Orte, die schlecht zu der Vorstellung arbeitsteiliger Trennung von Stadt und Land paßt" (120). Vgl. allg.: Graf, Kleinstädte in Hessen (wie Anm. 26); Keyser, Hessisches Städtebuch (wie Anm. 26), passim. 24
°) Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 96. Vgl. Stefan Brakensiek, Lokalbehörden und örtliche Amtsträger im Spätabsolutismus. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1750-1806, in: ders. (Hrsg.), Kultur und Staat in der Provinz: Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte. Bielefeld 1992, 129-164, 139-144. 241 ) Vgl. die bei Volze, Landkommunikationstag (wie Anm. 169), 41-52, abgedruckte Instruktion der Städte des Schwalmstroms für ihren Landtagsdeputierten betr. die Landräte vom 2.XII.1773. 242 ) Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 95-97; Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 491 f. Anm. 9 und 10, 510 Anm. 14; LTA 1774, Eingang und § 1. 243 ) LO 6, 838 (Felsberg 1775); StAM 5 Nr. 143 Hersfeld (1776); StAM 5 Nr. 5155 (1779); StAM 5 Nr. 6176(1780-1781); 17e Hersfeld Nr. 150(1782-1783); 63 Nr. 1316 Anl. 471
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Andreas
Würgler
am Landtag 1779 Kritik und beantragte die „Wiederaufhebung der LandrathsFunktionen" 245 ). Weil der Fürst und die Ritterschaft an der Institution der Landräte festhielten, brachte die Landschaft am folgenden Landtag 1786 erneut scharfe, aber sachliche Kritik vor. Die Landschaft hielt „diese in mancherlei Betracht mißlungene Anstalt" der Landräte für verfassungswidrig, weil sie entgegen der Bestimmung des Landtagsabschieds 1764 246 ) zu neuen Steuern geführt hatte. Sie hielt die Landräte zudem für überflüßig, weil diese ihren Zweck, die „Verbesserung des Nahrungsstandes und des Ackerbaus", nicht erfüllten. Die Ursache des Scheiterns erblickte die Landschaft im sachlich und räumlich zu umfangreich gestalteten Aufgabenbereich der Landräte. Auch zweifelten sie am Erfolg der ökonomischen Theorie in der bäuerlichen Praxis. „So hat doch die Erfahrung längst gelehret, daß der Landmann durch theoretischen Unterricht wenig oder gar nicht zu beßern seye, er behält auch weder geld noch zeit zu oeconomischen Versuchen übrig. Bios das Beyspiel von erfahrenen und wohlhabenden Oeconomen kann bey den das meiste ausrichten" 247 ). Die Kritik an der Ineffizienz der Landräte, am „geringen Nutzen, der diese Einrichtung etwa mit sich führet" 248 ), kam aus der Bevölkerung und aus der Landschaft und war keineswegs, wie die Darstellung in der Deutschen Verwaltungsgeschichte nahelegen will, nur das Produkt der reifen Einsicht des Geheimen Rates 249 ). Vielmehr folgte der Fürst auf dem Landtag 1798 dem wiederholt vorgetragenen Argument der Landschaft, „daß der Nutzen, welchen das Amt der Landraethe gewaehret, nicht durchgängig mit dem großen Kostenaufwand, welchen das Land deshalb tragen muß, im Verhaeltniß stehe", und hob die Landratsstellen gegen den Widerstand der Prälaten und Ritter auf 250 ). (Desiderium speciale 22: Hersfeld 1786); StAM 5 Nr. 14747 (Desiderium speciale 21: Sämtliche Städte 30.111.1786). 244 ) LO 6, 1050f. (Bestellung der Gerichtsschöffen in Oberaula 1782); StAM 5 Nr. 359 (die Gemeinde Oberaula beschwerte sich gegen die Bestimmung ihres Bürgermeisters durch den Landrat gegen das Herkommen, 1787-1789). Weitere Fälle StAM 17e Lohra Nr. 18 (1776); StAM 5 Nr. 5145 (Obernkirchen 1793). Vgl. die Aufforderung der Rentkammer an die Landräte, das Dienstwesen nur zu überwachen, nicht aber abzuändern, damit keine weiteren Beschwerden entstehen, in: LO 6, 794 (23.1.1775); Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 207 Anm. 66. Das Gegenbeispiel für ein gutes Einvernehmen bietet die Supplik von „Commissarius Loci, Bürgermeister und Rat zu Obernkirchen" in Strafsachen, StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, 3.III.1786, Nr. 74/111. 245
) StAM 63 Nr. 1332, Anl. 275 (Pro Memoria der Landschaft vom 26.111.1779) und Anl. 320 (Pro Memoria der Landschaft vom 13.IV. 1779). 246 ) LTA 1764 § 9. 247 ) StAM 63 Nr. 1314, Anl. 272 (Landschaftliches Desiderium 4 vom 25.11.1786). Für die Commissarii Loci vgl. 5 Nr. 14747 (Landschaftliches Desiderium, Sämtliche Städte betreffend, 2 und 21 vom 6.1. und 30.111.1786). 248 ) StAM 63 Nr. 1314, Anl. 272 (Landschaftliches Desiderium 4 vom 25.11.1786). 249 ) Philippi, Oberrheinischer Kreis (wie Anm. 15), 647. 25 °) LTA 1798 § 19 b. Dasselbe geschah mit den Commissarii Loci, StAM 5 Nr. 14747 (Resolution vom 4.IV. 1786) und LTA 1786 § 11 c.
Desideria und
Landesordnungen
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Eine deutliche Kehrtwende vollzog der Landtag auf Druck von unten in Sachen Hufen-Edikt. Schon 1731 und erneut 1764 hatte der Landtag, insbesondere die Ritterschaft, gefordert, die Zerreißung und Zertheilung der Güter zu unterbinden. Die Landesherrschaft hatte das Anliegen zwar aufgenommen, sich aber damit begnügt, alte, seit dem 16. Jahrhundert 251 ) mehrfach erneuerte und modifizierte Ordnungen wieder in Erinnerung zu rufen 252 ). Erst im Gefolge der Agrar- und Hungerkrise der frühen 1770er Jahre verbot das neue Hufen-Edikt von 1773 die in Hessen weithin übliche Realteilung auch von eigentlich geschlossenen, d.h. unteilbaren Gütern in Stücke, die kleiner sind als eine Hufe (= 30 Acker = 7,5 Hektar). Die Begünstigung des Anerbenrechts sollte die Ertragsfähigkeit der Güter erhalten und, als Nebeneffekt, die ausbezahlten Söhne der Subsidienpolitik als potentielle Rekruten zuführen. Um diesen Zweck zu erreichen, bevorzugten die Abfindungskonditionen den Hoferben 253 ) auf Kosten der weichenden Geschwister so sehr, daß in der Bevölkerung der Eindruck entstand, „daß nach dem Edict von 1773 die nachgebohrne Kinder fast erblos von ihrem vaterlichen Guth abziehen müssen" 254 ). Der Widerstand der Untertanen gegen die zentralstaatlichen Eingriffe in lokale Erbsitten äußerte sich in der großen Zahl von individuellen Dispensationsgesuchen, mit denen die Aufhebung des Hufen-Edikts für den je konkreten Einzelfall angestrebt wurde 255 ). Diese Gesuche verunsicherten zudem die Beamten und Landräte, die besorgte Berichte und Nachfragen an die Regierung richteten 256 ). Diese sah sich deshalb bereits nach zwei Jahren gezwungen, das Hufen-Edikt „zu allem Ueberfluß hiermit [...] zu erläutern" 257 und eine „authen-
251
) LO 4, 1068-1070 (Hufen-Edict 1750). Es berief sich auf Edikte der Jahre 1545, 1546, 1555, 1564, 1584, 1681, 1700. Vgl. Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 117; Barbara Vits, Die Wirtschafts- und Sozialstruktur ländlicher Siedlungen in Nordhessen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Marburg 1993, 65 f.; Taylor, Military State (wie Anm. 15), 70-74. 252 ) LTA 1731 § 14, 18(20). Daraufhin wurdeinderKontraktenordnung vom9.I.1732, Art. 5 (LO 4, 85) den Beamten eingeschärft, keine Güterteilungen zu konfirmieren. Die GrebenOrdnung vom 6.XI.1739 (LO 4, 608-643, Art. 39, 632) enthielt einen Auszug des Hufenedikts. - StAM 5 Nr. 14717, fol. 46 (Desiderium generale 19b, 1764); LO 6 , 4 0 3 ^ 1 3 (Verordnung zur Verbesserung des Justitzwesens vom 17.III.1767, § 37 und 38). Die fürstliche Resolution und Verordnung ging dahin, die Kontraktenordnung von 1732 und die Hufenordnung von 1750 aufzufrischen. 253 ) Bei der Erbfolge ging der Ältere dem Jüngeren, der Bruder der Schwester vor, HufenEdict 1773, § 12; Erläutertes Hufen-Edict 1775, § 8. Zu den Intentionen des Edikts vgl. Vits, Siedlungen (wie Anm. 251), 67 f. Die militärischen Aspekte betont Taylor, Military State (wie Anm. 15), 89-96. 254 ) „Verordnung wegen Vertheilung der Hufen- und geschlossenen Güter [...]" v. 21.IV. 1786 (LO 7, 58). Vgl. Vits, Siedlungen (wie Anm. 251), 68. 255 ) Solche Suppliken in StAM 5 Nr. 3235 (1773-1796), StAM 5 Nr. 13283 (1774-1784), StAM 5 Nr. 13284 (1785-1790), StAM 17 II Nr. 2405-2408 (Ingrao, Mercenary State [wie Anm. 8], 119 Anm. 112); Vits, Siedlungen (wie Anm. 251), 77 Anm. 5. 256 ) StAM 5 Nr. 13283, fol. 15 - 1 8 ( 1 7 7 4 ) . 257 ) StAM 5 Nr. 13283, fol. 6' (Erläuterung des Hufen-Edikts 1773 vom XI. 1775).
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Würgler
tische Interpretation" zu geben 258 ). Doch die Dispensationsgesuche und Klagen rissen nicht ab. Schließlich kulminierte die Unzufriedenheit mit dem neuen und mit dem erläuterten Hufen-Edikt in der Kritik, die die Stände parallel zu den in den Suppliken der Untertanen formulierten Klagen auf dem Landtag von 1778/79 vortrugen. Zwar akzeptierten die Stände die dem Edikt zugrunde liegende Absicht des Landesherrn, die „Belebung des Nahrungsstandes" und die „Beförderung der Agricultur" 259 ). „Da es bei allen und jeden heilsamsten Absichten", formulierten sie aber in den „Desideria ulteriora", „immer darauf ankörnt, ob sie auch durch die Erfahrung bestättiget werden: so würden gegenwärtig versammelte Stände und Deputirte von Prälaten Ritter und Landschaft [...], ihre gegen den durchlauchtigsten Landesherrn so wohl als das gantze Vatterland tragende Pflichten ganz verkennen[,] wenn sie einen Augenblick länger verziehen wollten, aus ihrer eigenen zuverlässigen Erfahrung die pflichtschuldigste Anzeige zu thun[,] daß auch jene gnädigste Erläuterung [des Hufen-Edikts, A. W.] von dem fürgesetzen heilsamsten Endzweck noch weit entfernet seye." Denn, so analysierten die Stände den Problemzusammenhang, „noch immer fallen die Güter in ihrem wahren Werth, viele, sehr viele, werden dadurch vom Heyrathen abgehalten, und viele, da sie von ihren Eltern wenig oder nichts zu erwarten haben, verlassen ihr Vatterland, sie suchen in andern Welt Theilen ein beßeres Loos." Um dieser „Entbevölkerung" entgegenzuwirken, beendeten die Stände „dieses hochwichtige Landes Anliegen mit der treu submissesten Bitte, daß zum gemeinsamen Landes Besten das gantze Hufen Edict wiederum gnädigst aufgehoben, somit alles wieder in den Stand, worin es vor demselben [...] gewesen ist, gesetzt werden möge" 260 ). Nochmals gingen sieben Jahre ins Land, bevor der Landgraf auf Druck der „sehr vielen und mannigfaltigen Klagen", wie es in der neuen Verordnung hieß 261 ), aus der Bevölkerung und auf das wiederholte Bitten der Landstände 1786 die schärfsten Bestimmungen lockerte und die Erbregelungen wieder flexibler gestaltete 262 ). 258
) StAM 17 II Nr. 2405, fol. 162 (Extract General Directorial Protocolli Kassel 17.XI. 1775). Eine weitere Erläuterung folgte am 12.111.1782, LO 6, 1053. 259) Hufen-Edikt 1773, § 13 und 14. 260 ) StAM 63 Nr. 1332, Anl. 133 (Desideria ulteriora 5, 19.1.1779). Eine weitere Vorstellung zur Aufhebung des Hufen-Edikts erfolgte am [11].IV. 1779 (ebd., Anl. 310). Zur Untersuchungskommission in Sachen Hufen Edikt vgl. Taylor, Military State (wie Anm. 15), 90-98. 261 ) LO 7, 58 („Verordnung wegen Vertheilung der Hufen- und geschlossenen Guter [...]" v. 21.IV.1786). Sechs Bände mit Akten zur Hufen-Ordnung von 1786 sind (wohl im 19. Jahrhundert) vernichtet worden (StAM, Repertorium zum Bestand 17b, Fach 56). 262 ) lngrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 119-121, 134, 141, 149f., 203; LTA 1786 § 9(q), und Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 5 5 0 Anm. 60. Die Teilungsrestriktionen wurden erst 1828 gänzlich aufgehoben, Vits, Siedlungen (wie Anm. 251), 69. Dispensationsgesuche kamen trotzdem noch häufig vor, vgl. StAM 5 Nr. 13285 ( 1 7 9 0 - 1 7 9 9 ) , StAM
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Landesordnungen
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Die Folgen des Hufen-Edikts wurden auch zum Gegenstand gelehrter Diskussionen in der „Casselischen Gesellschaft des Ackerbaus und der Künste", die 1778 die Preisfrage stellte: „In wie weit ist es rathsam, durch die Landpolizei die Veräuserung und Vertheilung der Bauergüter Schranken zu setzen?" Während die Preisfrage kurz vor dem Landtag 1778/79 gestellt wurde, auf welchem dem Hufen-Edikt erstmals heftige Kritik widerfuhr, erschien die Antwort auf die Frage 1786 in einer Zeitschrift der praktischen Aufklärung, wohl kurz nach der Beseitigung des inkriminierten Edikts 263 ). Auch im Falle des Auswanderungsedikts, das von den Untertanen oft einfach ignoriert wurde, wie die vielen „illegalen" Emigranten und vor militärischer Aushebung Geflohenen zeigen, wirkte der Landtag als Verstärker des Protests und erreichte damit Verbesserungen der Situation 264 ). Eine ganze Reihe von Ordnungen wiesen sich ausdrücklich als Reaktionen auf Suppliken, Beschwerden, Klagen und Vorstellungen von Untertanen aus 265 ), ohne daß der Landtag dazwischengeschaltet worden wäre. So berief sich 1712 das „Edict wider das Nacht-Hüten" auf „verschiedene Klagden [...] von Unsern Unterthanen" 266 ). Die Erneuerung der Kanzleiordnung wurde 1713 vorgenommen, „nachdem offters viele Klagden undt Beschwerden wegen langsahmen fortgangs der Justiz [...] vor Unß gelanget" 267 ). „Auf die von einigen Städten und dem Lande beschehene allerunterthänigste Vorstellung" wurde 1737 der Lizent auf Tee, Kaffee, Chocolade, Porzellan und Schnupftabak in allen Städten auf das tiefe Kasseler Niveau heruntergesetzt 268 ). Beschwerden und Klagen der Untertanen veranlaßten die Neuregelung der Einquartierungen 1725, die neue Tuchhandelsordnung 1732, die Gesindeordnung 1736 und die Regelung des Lumpensammelns 1739 269 ). „Auf die vielfältig
5 Nr. 13286 (1799-1801) und StAM 17 II Nr. 2409 (1787-1789), Nr. 2410 (1793-1795), Nr. 2411 (1795-1800). 263 ) Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 120. Vgl. Hessische Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst (Frankfurt am Main) 2. Bd., 7. St. 1786, 432-462, (Versuch einer Antwort auf die Frage der „Casselischen Gesellschaft des Ackerbaus und der Künste" 1778). 264 ) StAM 63 Nr. 1315 Anl. 418 (Desiderium generale 44 1786); LO 7, 149 (Verordnung vom 9.II.1787). Vgl. zur Thematik Taylor, Military State (wie Anm. 15), 4 4 f „ 83f., 192f. Vgl. allgemein Inge Auerbach, Auswanderung aus Kurhessen: nach Osten oder nach Westen? Marburg 1993, 34-44. 265 ) Das trifft natürlich auch auf die zahlreichen Verordnungen zu, die das Supplizieren regeln und die von 1539 (erste Supplikenordnung) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erlassen wurden (vgl. Fuhrmann/Kümin/Würgler, Supplizierende Gemeinden, 306-314, in diesem Band). Diese sind aber hier nicht gemeint. Vgl. LO 1-6. 266 ) LO 3, 687 f. (8.III.1712). 267 ) LO 3, 709 (9.V. 1713). 268 ) LO 4, 450 f. (Cameral-Ausschreiben vom 5.IV.1737). Die Forderung des Landtages 1731 nach Aufhebung des Lizent hatte der Landgraf verworfen und ein Substitutionsversuch durch eine Personal-Taxe scheiterte 1725/26, vgl. oben S. 176. 269 ) LO 3,969 (21 .VIII. 1725); LO 4, 175 (25.VIII. 1732), 410 f. (8.IX. 1736), 568 (CameralAusschreiben die Lumpensammler betreffend vom 22.IV. 1739).
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eingegangene Vorstellungen derer Unterthanen um Dispensation von dem auf das Laub und Heyde gesetzte Pflanz-Aufsatz-Gelde" beschloß die Kriegs- und Domänenkammer 1765, „daß die Unterthanen vor der Hand von diesem Pflantz-Aufsatz befreyet" sein sollen 270 ). Weil „wegen Aufnahme [...] zu Burgern und Meistern [...] von ein- und anderen Unserer unterm Gewehr stehenden Soldaten und eingebohrnen Landes-Unterthanen unterthähnist supplicando eingegangen" worden war, erließ Landgraf Friedrich II. 1765 eine neue „Verordnung", die den Bitten der Soldaten entgegenkam 271 ). 1774 veranlaßte „das vielfältige suppliciren Unserer getreuen Unterthanen um Holz" die Kriegs- und Domänenkammer zu einem „Cameral-Ausschreiben". Darin wies sie die Beamten an, den Untertanen soviel Holz zuzugestehen, wie diese benötigten und der Forst ertragen könne 272 ). Angeblich „zum Besten des Landes, und auf Anrufen des vernunftigsten Theils Unserer getreuen Unterthanen" erließ der Landgraf 1773 die „Erneuerte und geschärfte Verordnung gegen das Caffeetrinken" mit weitreichenden Zoll- und Steuerbestimmungen für Handel und Gewerbe 273 ). Klagende Gilden hatten mitunter durchschlagenden Erfolg. 1733 erreichten „sämtliche Meister der Seyler-Zunfft Unseres Nieder- und theils Ober-Fürstenthums" mit ihren Eingaben ein „Edict gegen die Storer der Seyler-Zunfft" 274 ). Ähnliches gelang auch - um nur eine kleine Auswahl zu bieten - der Siebmacherzunft 1711, der Kasseler Drechslerzunft 1718, der niederhessischen Landgilde der Bader 1723, den Wolle verarbeitenden Handwerkern 1723, den Buchbindern 1724 und 1729 275 ). „Wir haben vor einiger Zeit", verkündete Landgraf Friedrich II. 1774, „auf unterthäniges Nachsuchen der hiesigen Schuhmacher-Gilde gnädigst gut gefunden, die anhero nach Cassell zum Verkauf gebrachte fremde Schuhmacher-Arbeit mit fünfzig pro Cent impostiren zu lassen. [...] Diese nur dahier eingeführte Impostirung [wollen wir nun] auf das ganze Land extendiren" 276 ). Gerade die letzten Beispiele zeigen die Zweischneidigkeit der Supplik in der Politik. Fiktive Größen (der vernünftigste Teil der Untertanen) oder kleine Interessengruppen (Zünfte oder Gilden) können der fürstlichen Bürokratie als 270
) LO 6, 228 f. (Cameral-Ausschreiben vom 6.IV.1765). ) LO 6, 283 f. (27.IX. 1765). Weiteres Beispiel: Beschwerden der Untertanen gegen übermäßige Strafen führten zur Neuformulierung eines Paragraphen der Justizordnung vom 17.111.1767; LO 6 , 4 1 2 f . 272 ) LO 6, 772 (4.VIII.1774). 273 ) LO 6, 677-679 (11 .III. 1773). Die Erfolglosigkeit dieser Verordnung wurde in einigen der zahlreichen Wiederholungen expressis verbis eingestanden; vgl. LO 6, 761 f. (5.IV.1774), 827 (6.VI.1775), 851 (21.XII. 1775), 997 (21.11.1780). 274 ) LO 4, 215 f. (1.IX. 1733). - So auch die Strumpfweber, LO 4, 561 f. (14.11.1739). 275 ) LO 3, 668 (16.111.1711), 807 (14.XII.1718), 907 (1.VI.1723) und 918f. (9.IX.1723), 908 (8.VI. 1723), 959 (11 .XII. 1724), 1035 (14.III. 1729). 276 ) LO 6, 787 (11.XI. 1774). Diese 50%-Importsteuer wurde aber bereits am 20.VII. 1775 wieder abgeschafft. 271
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willkommener Anlaß dienen, eigene polizeiliche oder fiskalische Absichten mit der Legitimation zu schmücken, Bedürfnisse aus der Bevölkerung zu erfüllen. Diese Untertanensuppliken vertraten aber als einzelne keineswegs „Landesanliegen", sondern prononcierte Partikularinteressen. Eine höhere legitimatorische Qualität konnten Suppliken nur erreichen, wenn sie massenhaft das gleiche Ziel formulierten. Suppliken waren demnach eine Möglichkeit, Unzufriedenheit zu äußern und gewisse Verbesserungen zu erreichen. Dem Vorhandensein dieser Möglichkeit kam auch eine Ventilfunktion zu. Inhaltlich betreffen nämlich die Suppliken hauptsächlich die Problembereiche Dienste, Abgaben, Steuern, Beamtenwillkür, Holz/Wald- und Weidenutzung, Rechte und Gerechtigkeiten (meist von Gemeinden oder Korporationen). Dies sind die überregional anzutreffenden klassischen Ursachen von Bauernrevolten 2 7 7 ), die es bekanntlich in der Landgrafschaft Hessen nach 1525 so gut wie nicht mehr gegeben hat. Möglicherweise fungierten die Suppliken in Hessen-Kassel als Revoltenersatz 2 7 8 ).
4.4. Der Wunsch nach Ordnung: Untertanen, Landstände und Gesetzgebung Die legislatorische Funktion der Hessen-Kasselischen Landstände ist durch das Resultat der vergleichenden Analyse ständischer Desideria und fürstlicher Landesordnungen klar erwiesen. Der Spielraum der ständischen Mitwirkungschancen läßt sich mit der Gesetzgebungstypologie Immeis im einzelnen bestimmen. Die Landtagsabschiede sind vertragliche Einigungen zwischen Landständen und Landesherr (Typ 1). Die unerläßliche ständische Approbation, das votum decisivum (Typ 2), gab es in Hessen-Kassel nur in Steuerfragen, die nicht zur Gesetzgebung i.e.S. gezählt werden. Das votum consultativum oder der gutachtliche Rat der Stände (Typ 3), ist im Landtagsabschied von 1655 festgeschrieben; gutachterliche Tätigkeit der Stände bei der Gesetz277) Vgl. die Übersicht bei Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 13001800. München 1988, 8 0 - 8 2 . Für hessische Kleinterritorien Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Kleinterritorien 1 6 4 8 1806. Weingarten 1987, 274 f. 278
) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 65), 148; Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 44, 210; Taylor, Military State (wie Anm. 15), 192; Theibault, German Villages (wie Anm. 24), 143; Robert von Friedeburg, „Reiche", „geringe Leute" und „Beambte". Landesherrschaft, dörfliche Factionen und gemeindliche Partizipation 1648-1806. Zugleich eine Antwort auf Peter Blickle, in: ZHF 23 (1996), 2 1 9 - 2 6 5 , 224, 259 f. Die schon ältere These wurde v.a. auf das frühe 16. Jahrhundert bezogen, vgl. Küch, Visitation (wie Anm. 214), 145 ff., 171 (zu 1514); Friedrich Küch, Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg. 1. Bd. Marburg 1918, 3 0 - 3 2 ( 1 5 1 4 , 1525); Wolf-Heino Struck, Der Bauernkrieg am Mittelrhein und in Hessen. Darstellung und Quellen. Wiesbaden 1975, 7 6 - 7 8 .
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gebung kam nach den 1650er Jahren kaum noch vor. Sehr häufig jedoch war die ständische Anregung zu Gesetzen anzutreffen (Typ 4); sie erstreckte sich über den ganzen Zeitraum und über zahlreiche Materien. Formal gesehen sind jedoch alle Verordnungen als reine Herrscherbefehle konzipiert (Typ 5); selbst die Landtagsabschiede richten sich sprachlich nach diesem Muster, obwohl sie wie eine Urkunde von allen Teilnehmern des Landtags unterzeichnet und gesiegelt wurden. Der reine Ständebeschluß als Grundlage eines Gesetzes (Typ 6) ist in Hessen-Kassel von 1650 bis 1800 nicht nachweisbar. Auch wenn den Ständen keine normativ festgelegte Gesetzgebungskompetenz zukam, so ist doch das Ausmaß der zu Landesordnungen gewordenen ständischen Desideria erstaunlich groß. Außerhalb des Landtags kommen die Landesverbesserungspunkte in die Nähe einer gutachtlichen Tätigkeit (Typ 3). Die Suppliken haben, ähnlich wie die Desideria, die Entstehung, Erneuerung und Ergänzung einer beträchtlichen Anzahl von Landesordnungen angeregt (vgl. Typ 4). Der verbreitete Wunsch nach Ordnung manifestiert sich in den zahlreichen kollektiven Suppliken und Desiderien, die die Schaffung, Bekanntmachung und Einhaltung von Verordnungen, Edikten und Ausschreiben forderten. Während die Städte, Dorfgemeinden, Zünfte und verschiedene Gruppen mittels Suppliken 2 7 9 ) um die Bestätigung, Wiedererteilung und Beachtung ihrer Privilegien 2 8 0 ), um Verbleib beim alten Herkommen 2 8 1 ) oder um Schutz alter Freiheiten und Gerechtigkeiten baten 2 8 2 ), waren die Desideria der Landstände stärker auf die Landesordnungen gerichtet. In dieser Hinsicht typisch war der 279) Der größere Teil besonders der individuellen, aber auch der kollektiven Suppliken betraf aber wohl Erlaß- und Dispensationsgesuche sowie Bitten um Unterstützung oder Privilegierung. m >) StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 1786 Bd. 2a, 1 O.III. Nr. 96/134 (Bürgermeister und Rat zu Sachsenhagen um Bestätigung der Stadtprivilegien), 16.V. Nr. 72/287 (Metzgerzunft Oldendorf um Bewahrung ihres Zunftbriefes); ebd., passim (Schützen-Compagnie oder Bürgerschaft der Städte Homberg, Trendelburg, Marburg, Hersfeld, Grebenstein, Ziegenhain, Kassel, Liebenau, Helmarshausen, Wolfhagen, Zierenberg, Niedenstein und der Gemeinde Oberelsungen betr. Privileg zum Scheibenschießen); StAM (Bestand) 17 (= Landgräflich Hessische Regierung Kassel) I (= alte Kasseler Räte 1518-1708) Nr. 482 (Gesuch der Stadt Rodenberg um Bestätigung der Privilegien 1615-1732); StAM 17e Hersfeld Nr. 99 (Krämer um Erneuerung des Zunftbriefes 1691); StAM 17IINr.561 (Bürgerund Rat zu Witzenhausen um Bestätigung ihrer Privilegien 1729-1748); StAM 17 II Nr. 2804 (Bestätigung der Privilegien des Fleckens Uchte 1752-1786); StAM 5 Nr. 16378 (Sachsenhagen 1753-1786), Nr. 2548 (Schenklengsfeld 1747), Nr. 12990 (Spangenberg 1769). 281 ) StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 1786 Bd. 2a, 26.V. Nr. 40/307 (Flecken Ucht um Erhaltung der hergebrachten Gewohnheit betr. Lieferung der Raubvögelköpfe); StAM 17e Hauneck Nr. 21 (Gemeiden Holzheim und Stärklos um Verbleib bei altem Herkommen 1690). 282 ) StAM 5 Nr. 362 (Gesuch der Gemeinde Oberbeisheim um Schutz bei Holz- und Hudegerechtigkeit 1708/09); StAM 5 Nr. 345 (Supplik sämtlicher Greben des Amts Wetter um Schutz der hergebrachten Freiheiten gegen Eingriffe der Beamten 1771); StAM 5 Nr. 360 (Supplik der Stadt Rinteln um Erhaltung ihrer alten Gerechtigkeiten 1786); StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 1786 Bd. 2a, 31.1. Nr. 182/41 (Zünfte zu Rinteln um Wiederherstellung ihrer bürgerlichen Freiheiten).
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Landesordnungen
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Landtag von 1682. Nachdem die ständische Forderung nach Aufhebung der Montierungskosten für den Ausschuß (Landmiliz) vom Landgrafen Karl abgelehnt worden war, baten Prälaten, Ritter und Landschaft, „daß die wegen der montirung ausgangene Fürstlich Verordnung möge communicirt und darüber gehalten werden". Wegen der oft mißbräuchlich hohen Verpflegungskosten der Miliz wünschten die Stände, „daß disfalls ein gewisses verordnet oder wann schon solches geschehen, selbiges communicirt werden möge." Auch bezüglich der Servicegelder drangen die Stände auf die Einhaltung der geltenden Ordnung. In Sachen Malzakzise schrieben die Landstände in ihren Gravamina: „Nachdem hierbey angeführet worden, daß [...] disfalß eine fürstlich Verordnung vorhanden, so wirdt umb deren communication gebetten". Desgleichen erbaten die Landstände die „communication" der Verordnung zur Kontributionserhebung und die Einhaltung der Judenordnung, zu der die Regierung verlauten ließ: „Unserer ohnlängst ausgelaßene Judenordnung soll allerdings stricte nachgelebet undt wo dieselbe noch nicht publiciret worden, auff beschehene unterthänigste erinnerung auf so baldt ahn solchen orthen publiciret undt darüber genaw gehalten werden" 283 ). Weil sich Desideria und Landesordnungen wechselseitig aufeinander beziehen, kann sich ein vermeintlich ständisches Anliegen als eine in Vergessenheit geratene Landesordnung entpuppen. Die Landstände forderten 1764 die Abschaffung der privaten Holzbacköfen in den Dörfern und die Anlegung von Gemeindebacköfen mit dem Argument, dadurch Holz zu sparen. Diese Idee war aber keineswegs neu 284 ). Sie wurde in adeligen Gerichten seit 1565 und von der Landesherrschaft spätestens seit 1593 durchzusetzen versucht. Obwohl die häufig - so 1629, 1659, 1728 und 1739 - wiederholten Verordnungen bald auch das Argument der Sicherheit vor Feuersbrünsten anführten, blieb ihr Erfolg offenbar beschränkt. Den Landständen war sie jedenfalls 1764 nicht bekannt 285 ). Ständische und landesherrliche Interessen scheinen hier identisch gewesen zu sein. Es verband sie im besonderen Fall der Backöfen der Wunsch nach Sicherheit und Sparsamkeit, im allgemeinen der Wunsch nach Ordnung. Die nicht normativ garantierte, aber praktisch vorhandene legislatorische Funktion der Landstände bedurfte der Kooperationsbereitschaft des Landesherrn. Diese resultierte - außer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts - in erster Linie aus dem staatlichen Finanzbedarf, der auf ständische Steuerbewilli283
) St AM 73 Nr. 68, fol. 96-102' (Copia Gravaminum von Praelaten, Ritter- und Landschafft bey gehaltenem Land-Communicationstag übergeben sub dato Cassell den 24. January [1682]), fol. 96' (4/1. Montierung), 97 (4/3. Verpflegung), 97' (5/2. Servicegelder), 98' (10. Malzakzise), 99 (11. Kontributionserhebung, 12. Judenordnung). 284 ) Diesen Eindruck vermittelt jedoch Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 8), 68. Das Desiderium 31 von 1764 in: StAM 5 Nr. 14717, fol. 53. 28 5) Vgl. Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 65), 68, 109, 111 (zu 1565 bis 1659); Hollenberg, Einleitung (wie Anm. 5), 271 Anm. 34 (1728/1731); LO 4, 614 (Grebenordnung 1739, Art. 10). Die Verordnung wurde erneuert am 5.V.1764 (LO 6, 144f.).
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gung angewiesen blieb. Seitens der Untertanen und Stände äußerte sich die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Landesherrn in der Übernahme von Landeskosten sowie im Verzicht auf systemsprengende Forderungen und rebellische Aktionen. Das Supplikenwesen und die Landkommunikationstage waren, abgesehen von den fast täglichen Begegnungen der Untertanen mit der fürstlichen Verwaltung oder den Gerichten, die hauptsächlichen Kanäle, über die sich die politische Kommunikation zwischen Gemeinden, Landständen und Staat abspielte. Die auf dem gemeinsamen Wunsch nach Ordnung beruhende kooperative Atmosphäre der Landtage mag eine Erklärung dafür sein, warum es in Hessen-Kassel nicht zur der für das 18. Jahrhundert beinahe typischen ernsthaften Konfrontation zwischen Landständen und Landesherr gekommen ist.
5. Ergebnisse und Thesen 1. Gesetzgebung in der Frühneuzeit war auch in Hessen-Kassel zwar normativ ein fürstliches Monopol, nicht aber praktisch. Von 1650-1800 hatten die Landstände in Hessen-Kassel erheblichen Anteil an der staatlichen Ordnungsund Gesetzgebungstätigkeit. 2. Die politische Aktivität der hessen-kasselischen Landstände kann nicht allein der dominanten ersten Kurie der adeligen Prälaten und Ritter zugeschrieben werden; vielmehr zeigt die Detailanalyse, daß auch die aus den Städten bestehende zweite Kurie, die Landschaft, aktiv an den legislatorischen Aktivitäten der Landstände partizipierte. 3. Innerhalb der Städte bestimmte nicht nur die Ratsoligarchie den politischen Kurs. Verschiedene Formen der Partizipation von Zünften, Bürgerausschüssen oder gar der ganzen Gemeinde belegen, daß die städtischen Positionen über Bürgermeister und Rat hinaus breiter in der Bürgerschaft verankert waren. 4. Die breitere Abstützung der von Städten in Suppliken und Gravamina vertretenen Positionen durch Konsentierungsverfahren in ihren Ämtern ist ein Argument für die These, daß an den Landtagen das platte Land zumindest partiell von den Städten vertreten wurde 286 ). 5. Staatliche Gesetzgebung war in der Praxis zu einem erheblichen Teil bloße Reaktion. Die fürstliche Bürokratie reagierte aber nicht nur eigeninitiativ auf selbst erkannte Problemlagen, sondern auch gezwungenermaßen auf Desideria und Suppliken der Landstände und Untertanen. Dieser reagierende Zug landesherrlicher Ordnungs- und Gesetzgebungstätigkeit wird durch die
286) Ygi die Diskussion der Literatur oben S. 160-168.
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staats- und verwaltungstheoretische Fixierung auf den Fürsten als alleinigem Gesetzgeber verdeckt. 6. Der reagierende Charakter der staatlichen Ordnungs- und Gesetzgebungstätigkeit mag auch ein Grund sein für die bekannte Tatsache, daß Verordnungen in oft kurzen Abständen wiederholt, verschärft, ergänzt oder modifiziert werden mußten: Diese hektische Verordnungspraxis braucht aber nicht nur ein Indiz für die massiven Vollzugsprobleme der Verordnungen zu sein; sie kann auch als Zeichen für eine flexibel auf schnell wechselnde Problemund Stimmungslagen der Untertanen eingehende Politik gedeutet werden. 7. Desideria und Suppliken wirkten - neben dem Gerichtsweg - in dem vom Prinzip Kooperation statt Konfrontation geprägten Hessen-Kassel als Revoltenprävention. 8. Die Schaffung und Bekanntmachung landesherrlicher Verordnungen galt den Untertanen und Landständen als bestes Heilmittel gegen allerlei Gebrechen. Das in Suppliken und Desideria von den Untertanen und Landständen geäußerte Hauptbedürfnis läßt sich auf den Punkt bringen als „Wunsch nach Ordnung".
Parish und Local Government Die englische Kirchgemeinde als politische Institution 1350-1650 Von
Beat Kümin „Whereas complaint was this day made [...] that severall of the late churchwardens and overseers of the poore have refused or neglected to collect the severall rates upon severall persons within [their parish], it is therefore ordered that the said generali and respective officers shall forthwith collect and accompt for the severall sommes of money assessed [...] and if any shall refuse or neglect soe to doe, that they and every of the said officers soe refusing to be sent for by warrant from the two next Justices of the Peace" 1 )Dieser Urteilsspruch, den die Kirchenpfleger von St Mary's, Cambridge, im Sommer 1645 gegen ihre säumigen Amts Vorgänger erwirkten und sorgfältig in ihre Rechnungsbücher übertrugen, wird in der Universitätsstadt keine hohen Wellen geworfen haben. Mitte des 17. Jahrhunderts waren die von Pfarreibeamten erhobenen obligatorischen Abgaben längst etabliert und die Grafschaftsgerichte routinemäßig mit der Überwachung der administrativen Abläufe beschäftigt. Die hohen geistlichen Herren der Synode von Exeter allerdings, die im Jahre 1287 die älteste überlieferte Definition der Aufgaben der Kirchenpfleger formulierten, wären aus dem Staunen wohl kaum herausgekommen: Armensteuem und -aufseher, sowie Einmischung königlicher Friedensrichter in Angelegenheiten der Pfarrei? Hatten ihre Statuten damals nicht die exklusiv kirchliche Verwendung aller von den Pfarrgenossen erhobenen Mittel und die Kontrollfunktion des Klerus über Laienaktivitäten betont 2 )? Wie war es zu dieser „Verweltlichung" und „Verstaatlichung" der Kirchgemeinde gekommen? Zur Beantwortung solcher Fragen muß die Entwicklung der englischen Lokalverwaltung zwischen Spätmittelalter und Bürgerkrieg näher verfolgt werden. Das Verhältnis zwischen Gemeinde und Staat, dies sei aus kontinentaler Perspektive vorausgeschickt, präsentierte sich anders als etwa im Reich. Jenseits des Kanals gab es eine seit dem hohen Mittelalter ungewohnt starke Zen') Cambridgeshire County Record Office, P30/4/2: Audit Book of the Parish of Great St Mary's, Cambridge, 15. Juli 1645. 2 ) Statutes of the Synod of Exeter, c. 12: Frederick Powicke/Christopher Cheney (Hrsg.), Councils and Synods with Other Documents Relating to the English Church. Part 2. Oxford 1964, 1008.
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tralmacht und ein für das ganze Territorium gültiges common law. Königliche Beamte wie der Sheriff und die Justices of the Peace (Friedensrichter) vertraten die Krone in den Grafschaften, und das Dorf entwickelte sich trotz starken kommunalen Bindungen nie zu einer korporativen Gemeinde im mitteleuropäischen Sinn 3 ). Auf dem Land existierte vielmehr ein komplexes Geflecht von Instanzen und sich überlappenden territorialen Einheiten, die sich judikative und administrative Kompetenzen untereinander aufteilten. Die königlichen Beamten kümmerten sich primär um hochgerichtliche, friedenssichernde und steuerliche Belange, während grundherrschaftliche oder genossenschaftliche Organe für die Erfüllung lokaler Aufgaben verantwortlich waren 4 ). Von zentraler Bedeutung für die ländliche Lokalverwaltung war der zum Teil mehrere Siedlungen umfassende manor court, der neben grundherrschaftlichen Kompetenzen oft gleichzeitig eine delegierte königliche Gerichtsbarkeit (court leet) ausübte. Vor einem Vertreter der Dorfobrigkeit wurden dort Rügepflichten, der Erlaß von Dorfsatzungen und Wahlen zunächst von allen Gerichtsgenossen und später von einem aus der bäuerlichen Oberschicht besetzten Schöffenkolleg wahrgenommen 5 ). Gelegentlich kam es aber vor, daß die Gerichtsgenossen einzelne herrschaftliche Rechte käuflich erwarben oder auf Dorfversammlungen Abmachungen in eigener Regie trafen 6 ). Mit dem im Spätmittelalter einsetzenden Niedergang der manor courts dürfte sich diese Tendenz verstärkt haben: In den Ländereien des Bischofs von Worcester etwa läßt sich ein klarer Autoritätsverlust des herrschaftlichen Gerichts beobachten, aber „some compensation was provided by an increase in the number of bylaws [...] often resulting from the tenants themselves seeking to control the agricultural activities of the villagers. [...]. This amounts to a change in the character of the courts, with the , village meeting' aspect of the courts' work becoming more prominent" 7 ). Auf höherer Ebene konnten die Interessen der Dorfbewohner zudem durch die aus wohlhabenderen Bauern bestehenden Geschworenen in den königlichen Grafschaftsgerichten vertreten werden 8 ), während seit 1430 alle freeholders mit Land im Wert von mindestens 40 Schillingen zur Wahl von Parlamentsabgeordneten zugelassen waren 9 ). 3
) Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte. München/Berlin 1913, 261. ) Clifford Davies, Die bäuerliche Gemeinde in England 1400-1800, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Stuttgart 1983, 4 1 - 5 9 . 5 ) John Beckerman, Customary Law in English Manorial Courts. Ph.D. Thesis London 1972,99. Einblicke in ein Fallbeispiel aus Lancashire vermittelt: Francis Bailey (Hrsg.), A Selection from the Prescot Court Leet 1447-1600. Preston 1937, passim. 6 ) Warren Ault, Village Assemblies in Medieval England, in: Album Helen Cam. Louvin 1960, 13-35. 7 ) Christopher Dyer, Lords and Peasants in a Changing Society. Cambridge 1980, 269. 8 ) Robert Goheen, Peasant Politics? Village Communities and the Crown in Fifteenth-Century England, in: AHR 96 (1991), 4 2 - 6 2 . 9 ) Statutes of the Realm. London 1817-19, 8 Henry VI, c. 7 [alle unten zitierten Parlamentsakte ebd.]. 4
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Unter den Städten dominierten zahlenmäßig kleine Marktflecken mit nur geringer Selbstverwaltung. Der König konnte aber ausgewählten Gemeinden eine Verfassung mit eigener Rechtspersönlichkeit j u r i s t i s c h e r Autonomie und Besitzfähigkeit verleihen. Das Spätmittelalter ist als „the classic age" solcher Inkorporationen bezeichnet worden 1 0 ), und die dadurch kreierten boroughs können durchaus mit mitteleuropäischen Vorbildern verglichen werden. Sie besaßen zwar keine außenpolitische Eigenständigkeit, durften jedoch ähnlich wie deutsche Reichsstädte Vertreter in eine nationale Ständeversammlung entsenden 1 1 )• Die einzige Stadt und Land gleichermaßen abdeckende Gemeindeform aber war die Pfarrei, deren Entwicklung nun ins Zentrum der Diskussion zu rücken ist. Die deutschsprachige Verfassungsgeschichte hat sich interessanterweise schon früh mit dem Thema auseinandergesetzt. So wurde etwa festgehalten, daß sich im Spätmittelalter um die Kirche „ein neues soziales Leben" gruppierte 1 2 ), dessen Charakter sich deutlich von grundherrschaftlichen Institutionen unterschied: „Unleugbar repräsentierte das parish meeting [...] einen sehr demokratischen Typus der Lokal Verwaltung. Unter dem Vorsitze des Pfarrers erscheint sie als eine Versammlung zur Beratung der parochial affairs mit gleichem Anteile jedes einzelnen an der Beratungs- und Beschlußfassung"' 3 ). Spezielles Interesse fand die im einleitenden Zitat illustrierte Integration der Kirchspiele in das System des sogenannten seif government, worunter die Delegation von Staatsaufgaben an unbezahlte Amtsträger aus den jeweiligen Lokalitäten zu verstehen ist. Die Zeit der Tudordynastie (1485-1603) erschien dabei als entscheidender Wendepunkt, als mit dem „unwritten law of local autonomy" gebrochen und via Gesetzgebung aus der Pfarrei „ein Instrument der Herrschaft von oben" gemacht wurde 1 4 ). Trotzdem galt die englische Praxis, gerade im Vergleich zu preußischen oder französischen Gepflogenheiten, als attraktives Modell einer weniger zentralistischen Lokalverwaltung, die auf der „freiwilligen" Beteiligung lokaler Eliten am politischen Leben beruhte 1 5 ). Um die Jahrhundertwende entbrannte deshalb unter deutschen Verfassungsrechtlern eine vom jeweiligen politischen Standpunkt beeinflußte Debatte über die Frage, ob die im 19. Jahrhundert erfolgten Modernisierungsbestrebungen einem aus urenglischen Traditionen entwickelten „blossoming of the pure 10
) Martin Weinbaum, The Incorporation of Boroughs. Manchester 1937, Kapitel 4. ) Susan Reynolds, An Introduction to the History of English Medieval Towns. Oxford 1977, 113 ff., 177 ff. 12 ) Hatschek, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 3), 262. 13 ) Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Leipzig 1901, 35. 14 ) Zitate aus ders./Francis Hirst, The History of Local Government in England. London 2 1970 [Originalausgabe: London 1903], 35, und Davies, Bäuerliche Gemeinde (wie Anm. 4), 55. 15 ) Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder des Selfgovernment. Berlin 2 1863. 11
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flower of Liberal Democracy" entsprachen (wie es der österreichische Rechtshistoriker Josef Redlich formulierte), oder im Gegenteil ob durch das Aufkommen von Parteieneinfluß und hauptamtlichen Lokalbeamten dem Geist der Geschichte widersprochen wurde (so die Meinung des die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts idealisierenden Rudolf Gneist) 16 ). Mittlerweile ist der potentiell mißverständliche Begriff des self government durch das neutralere local government verdrängt worden 1 7 ), und die Entwicklung der Beziehungen zwischen Gemeinde und Staat erscheint in etwas differenzierterem Licht. Für Richard Smith war das dörfliche Leben seit jeher sowohl durch äußere wie innere Faktoren geprägt, so daß in der Frühneuzeit zwar von einer neuen Intensität der staatlichen Einflußnahme gesprochen werden kann, nicht aber von einer „major transformation in structure such as is implied by the ,incorporatist' perspective, whereby local communities are seen to have been absorbed into a wider political entity" 18 ). Auch noch im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, so der Befund von Joan Kent, wurde das staatliche und politische Leben nicht nur von Anordnungen der Zentrale, sondern ganz entscheidend von der Kooperation und Initiative der Pfarreien geprägt 19 ). Was die Reformation betrifft, ist in ähnlicher Weise auf territoriale und institutionelle Kontinuitäten zwischen 1350 und 1800 hingewiesen worden, so daß die dadurch bewirkte Epochenwende - trotz aller theologischen und zeremoniellen Änderungen - nicht überbetont werden dürfe 2 0 ). Im folgenden soll die „Politisierung" der Pfarrei zwischen 1350 und 1650 in groben Zügen skizziert werden. Darunter zu verstehen ist die Kombination einer ganzen Reihe ineinander verzahnter Prozesse, insbesondere die Bildung eigener kommunaler Institutionen, die Wahl von Vertretern, die Erhebung von Abgaben, die allmähliche Ergänzung religiöser durch weltliche Aktivitäten, die Übernahme von Lokalverwaltungsaufgaben, die Setzung von Prioritäten, die Austragung von Konflikten sowie die Gestaltung der Beziehungen zu staatlicher und kirchlicher Obrigkeit. Als Ausgangsthese soll formuliert werden, daß die konkrete Ausformung des politischen Lebens innerhalb der Pfarrei zu jedem Zeitpunkt als Funktion zweier, zwischen j e zwei Polen schwan-
16 ) Die Debatte diskutiert Bryan Keith-Lucas in seiner Einführung zu Redlich/Hirst, History of Local Government (wie Anm. 14). 17 ) Die klassische Untersuchung bleibt Sidney Webb/Beatrice Webb, English Local Government. 1. Bd.: The Parish and the County. London 1963 [Neudruck der Originalausgabe von 1906]. 18 ) Richard Smith, „Modernization" and the Corporate Village Community in England. Some Sceptical Reflections, in: Alan Baker/Derek Gregory (Hrsg.), Explorations in Historical Geography. Cambridge 1984, 177. 19 ) Joan Kent, The Centre and the Localities. State Formation and Parish Government in England c.1640-1740, in: HJ 38 (1995), 363. 20 ) David Palliser, Introduction. The Parish in Perspective, in: Susan Wright (Hrsg.), Parish, Church and People. London 1988, 23-25.
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kender, Hauptvariablen definiert werden kann: Erstens, der Mischung zwischen Anstößen „von oben", also den von König, Parlament oder Amtskirche ausgehenden Impulsen, und der Eigeninitiative der Gemeinde (zur Abstekkung des kommunalen Wirkungsbereichs). Zweitens, der Kombination zwischen „demokratischer" und oligarchischer Entscheidungsfindung (zur praktischen Ausführung der übernommenen Pflichten). Zur schärferen Erfassung der einschneidenden Tudor-Reformen soll die Untersuchung in zwei chronologische Teile gegliedert werden: nach einer kurzen Schilderung der Ausgangslage und der Entwicklung bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts in Abschnitt (1.) wird das Hauptaugenmerk auf die Phase zwischen Reformation und Bürgerkrieg (2.) zu richten sein.
1. Kanonische Pflicht und Laieninitiative im Spätmittelalter Das religiöse und soziale Leben der vorreformatorischen Pfarrei ist in jüngster Zeit intensiv untersucht worden 21 ), so daß hier lediglich an die wichtigsten Ergebnisse zu erinnern ist. Die flächendeckende Aufteilung des Landes in Kirchspiele war anfangs des 13. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen, und um etwa 1350 hatte sich ein vom Benefizium getrenntes Fabrikgut unter Verwaltung von Laienkirchenpflegern ausgebildet 22 ). Die Verfestigung von kommunalen Institutionen wird normalerweise auf kanonische Anforderungen zurückgeführt, die im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts sowohl einen Teil der Baupflicht (Kirchenschiff und Turm) als auch die Beschaffung der wichtigsten Gottesdienstutensilien an die Pfarrgenossen übertrugen 23 ). Die Schaffung permanenter Laienämter und Gemeindekassen mag allerdings weniger durch diese bloß periodisch anfallenden Pflichten provoziert worden sein, sondern durch die der Pfarrei in immer größerer Zahl zufließenden Vermögenswerte sowie die Tendenz der Gemeinden, ihre Aktivitäten über den kanonisch fixierten Bereich hinaus zu erweitern. Die Verwaltung religiöser Stiftungen drängte churchwardens in die Rolle von Liegenschaftsmaklern, die sich um den Unterhalt von Ländereien und deren bestmöglichen Ertrag zu kümmern hatten 24 ). 21
) Ebd.; Eamon Duffy, The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England 1 4 0 0 1580. N e w Haven 1992; Beat Kümin, The Shaping of a Community. The Rise and Reformation of the English Parish c . 1 4 0 0 - 1 5 6 0 . Aldershot 1996. 22 ) John Blair, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Minsters and Parish Churches. Oxford 1988, 1-19; Charles Drew, Early Parochial Organisation in England. London 1954. 23 ) Emma Mason, The Role of the English Parishioner 1100-1500, in: JEcclH 27 (1976), 23. 24 ) Die Mietrödel der Kirchenpfleger von All Saints Bristol bieten einen Einblick in den großen administrativen Aufwand (Bristol Record Office [=BRO], P/AS/ChW/2: Rent Rolls of the Parish of All Saints). Zum Stiftungswesen allgemein: Clive Burgess/Beat Kümin, Penitential Bequests and Parish Regimes in Late Medieval England, in: JEcclH 4 4 (1993), 610-630.
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Die Pfarrei hatte zwar keine eigene Rechtspersönlichkeit, dennoch erwarb sie sich auf informelle Weise praktisch alle diesbezüglichen Kompetenzen: mittels enfeoffment (einer Art Treuhandschaft) Besitzfähigkeit 25 ), über die gerichtlichen Aktivitäten ihrer Vertreter Rechtsfähigkeit 26 ), und in einzelnen Fällen gar den Besitz eines Siegels 27 ). Parallel dazu wurde die kirchliche Infrastruktur vermehrt für weltliche Zwecke eingesetzt: einerseits zur Erfüllung gelegentlich anfallender Staatsaufgaben, so etwa dem Einzug der Pfarreisteuer von 1371, andererseits aber auch - aus eigenem Antrieb - für den Unterhalt von Straßen und Brücken, die Organisation kultureller Anlässe, die Beteiligung an der Stadtverwaltung oder für die Armenfürsorge 28 ). Die Kirchgenossen von Boxford in Suffolk etwa brachten im Jahre 1535 ein äußerst lukratives Theaterstück auf die Bühne 29 ), während sich All Saints, Bristol, gar in der lokalen Wirtschaftsförderung engagierte: Zur finanziellen Absicherung einer ihr anvertrauten Seelenmesse offerierte die Gemeinde einer Reihe von Bierbrauern Darlehen, um sie zur Ansiedlung ihres Geschäftes auf Pfarreigelände zu bewegen 30 ). „Politische" Schulung im engeren Sinne boten die periodischen Gemeindeversammlungen, die Durchführung von Wahlen und die Erhebung von Abgaben. Die Haushaltsvorstände jeder Pfarrei trafen sich zumindest einmal jährlich zur Abwicklung der laufenden Geschäfte: In St Botolph Aldersgate, London, bestimmte ein seit 1485 regelmäßig wiederholtes kommunales Dekret, daß „such personys beyng a parysshon and an householder" sich zur Rechnungsprüfung einzufinden hätten. Zuwiderhandelnden drohten Bußen, die auch tatsächlich verhängt wurden 31 )- Bei dieser Gelegenheit konnten Beschlüsse über Grundstücksvergaben, Armenfürsorge und manch anderen 25
) Für die mit dem enfeoffment to use verbundenen Möglichkeiten vgl. etwa Frederic William Maitland, The Unincorporate Body, in: Herbert Fisher (Hrsg.), The Collected Papers of F. W. Maitland. Cambridge 1911, Vol. 3, 271-284. 26 ) Wichtig war hier eine im Spätmittelalter entstandene und von Pfarreien rege benutzte informellere Gerichtsbarkeit, die sogenannte equity jurisdiction. Sie umfaßte ein weites Spektrum von Fällen, die aufgrund des „Gewissens" des Kanzlers entschieden wurden, d.h. auf eine von den vielen technischen Zwängen des common law unbeeinträchtigte Art: Alan Harding, The Law Courts of Medieval England. London 1973, lOOff. Siehe etwa den vorreformatorisehen Prozeß „Churchwardens of Stanwell v. Feoffees" um den Besitz von Ländereien in Middlesex: London, Public Record Office [=PRO], C 1/28/146: Early Chancery Proceedings. 27 ) Etwa in St Stephen, Bristol. 28 ) Mark Ormrod, An experiment in Taxation. The English Parish Subsidy of 1371, in: Spec 63 (1988), 58-82; Kiimin, Shaping of a Community (wie Anm. 21), Kap. 2.3; Margery Mcintosh, Local Responses to the Poor in Late Medieval and Tudor England, in: Continuity and Change 3 (1988), 220. 29 ) Suffolk Record Office, Bury St Edmunds [= SufRO], FB77/E2/2: Churchwardens' Accounts [=CWA] of Boxford, 1535. 30 ) BRO, P/AS/C/1: Halleway Chantry Accounts, 1530ff. 31 ) London, Guildhall Library [=GL], MS 1454: CWA of St Botolph Aldersgate, 1485-86; Bußen 1486-87.
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Sachbereich gefaßt und in die Rechnungsbücher eingetragen werden 32 ). Außerdem wurde am selben Tag oft auch die Neuwahl von Kirchenpflegern vorgenommen, wobei die Quellen den Eindruck einer breiten Beteiligung vermitteln: All Saints, Bristol, wo ebenfalls Teilnahmspflicht bestand, spricht von der „most voice of the whole parish", im ländlichen Yatton findet sich die Formulierung „custodes tunc electes" 33 ). Nicht zu übersehen ist jedoch der seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wachsende Einfluß von besonders gewichtigen Gemeindemitgliedern, den „most substantial, discreet and ancient parishioners", sowie die Ausformung von Ausschüssen zur Übernahme gewisser exekutiver Funktionen. Die Gemeindeversammlung erscheint immerhin noch als übergeordnete Instanz, die die Ausschußmitglieder wählt und ihre Arbeit überwacht 34 ). Wenn Beschlüsse zu fassen waren, wurde Einstimmigkeit zwar angestrebt, doch verlief das politische Leben nicht immer harmonisch. Auf dem Spiel standen große Summen und gegensätzliche Interessen, dazu gab die Amtsführung der Kirchenpfleger gelegentlich zu gerichtlichen Klagen Anlaß 35 ). Das innerkommunale Konfliktpotential war beträchtlich: Faits accomplis der Eliten wurden von der Basis an Gemeindeversammlungen angefochten 36 ), während einzelne Pfarrgenossen sich gegen ihrer Meinung nach unberechtigte finanzielle Belastungen wehrten. Zu einem wichtigen Präzedenzfall entwickelte sich ein im Jahre 1370 vor der höchsten königlichen Instanz geführter Prozeß um das Recht der Kirchenpfleger, säumige Abgabenpflichtige in eigener Regie zu pfänden. Das Urteil untermauerte die Kompetenz der Pfarrei, zur Bestreitung ihrer kanonischen Aufgaben bindende church rates zu erheben 37 ). Dieses Privileg, das sonst nur dem Parlament zustand, „needed no -magisterial allowance and had never been limited or restricted by any statute", was es der Gemeinde ermöglichte, die dadurch finanzierbaren Zwecke großzügig zu interpretieren 38 ). Da32
) Zum Beispiel ebd., 1512-13 (Mietvertrag für ein Haus in Temple Bar); Charles Drew (Hrsg.), Lambeth Churchwardens' Accounts 1504-1645 and Vestry Book. London 1941, 24-25 (Einrichtung eines Armenhauses). Die Gemeindeversammlung hatte ein „undefined right to make by-laws on matters of parish concern": Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 39. 33 ) BRO, P/AS/ChW/1: Church Book of All Saints, 1488; Somerset Record Office, Taunton [=SomRO], D/P/yat/4/1 /1 —3: CWA of Yatton, 1451-52. 34 ) Siehe etwa die von gewählten Pfarreivertretern im Namen der ganzen Gemeinde erlassenen Vorschriften in St Andrew Hubbard, London: GL, MS 1279/2: CWA of St Andrew Hubbard, 1526-27 (Wahl) und 1545-46 (Dekrete). 35 ) Beispiele in: Katherine Wood-Legh (Hrsg.), Kentish Visitations of Archbishop Warham and His Deputies 1511-12. Maidstone 1984, passim. 36 ) Zum Beispiel die Anschaffung eines teuren Silber-Kruzifixes in Tavistock (Devon): Isaac Leadam (Hrsg.), Select Cases in the Court of Requests 1497-1569. London 1898,28 (1519). 37 ) Edwin Cannan, The History of Local Rates in England. London 1912, 15 f. 38 ) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 115; die an die Erhebung von Abgaben für kirchliche Zwecke gewohnten Pfarrgenossen „[soon started] to interfere with many things":
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mit läßt sich sicher festhalten, daß die Wurzeln der „Politisierung" der Pfarrei weit ins Mittelalter zurückreichen. Wichtige Impulse kamen von der kanonischen Gesetzgebung und gelegentlichen staatlichen Ansprüchen, von zentraler Bedeutung war aber kommunale Eigeninitiative. Die Investitionsfreudigkeit der lokalen Bevölkerung und der quasi-korporative Status erlaubten es der Pfarrei, immer größere Ressourcen zu verwalten und damit ein breiteres Aufgabenspektrum zu finanzieren. Zur Bewältigung der anfallenden Aufgaben stützte sich die Gemeinde auf periodische Versammlungen, gewählte und rechenschaftspflichtige Amtsträger, sowie die Einrichtung von exekutiven Instanzen. Zur Zeit Heinrichs VIII. war die englische Bevölkerung daher nicht nur durch lokale Eliten im Parlament vertreten, sondern auch in einem flächendeckenden Netzwerk von etwa 9000 lokalen Einheiten politisch organisiert.
2. Die Pfarrei als Basis der staatlichen Lokalverwaltung Die traditionelle politische Führungsschicht von Adel und Gentry sah den Bedeutungszuwachs der Pfarrei mit gemischten Gefühlen: Immer mehr Land kam unter kommunale Kontrolle, und Kirchenpfleger von bescheidener Herkunft rückten in lokale Machtpositionen. Der zeitgenössische Kommentator Sir Thomas Smith vermerkte verächtlich, daß solch verantwortungsvolle Aufgaben in früherer Zeit nicht „such lowe and base persons" anvertraut worden seien 39 ). Ab Mitte des 16. Jahrhunderts allerdings änderten sich die Rahmenbedingungen: Die Gesetzgebung der Tudors machte die Pfarrei zur offiziellen Lokalverwaltungseinheit unter Aufsicht der Friedensrichter, und damit wurden die lokalen kirchlichen Institutionen vom Staat instrumentalisiert 40 ). Der Prozeß begann 1533 mit einem Gesetz zur Schädlingsbekämpfung 41 ), setzte sich 1555 im Bereich des Straßenunterhalts fort 42 ), und erfaßte gegen Ende der Regierungszeit von Maria I. auch Militärangelegenheiten 43 ). Auf all die-
Frederic William Maitland, The Survival of Archaic Communities, in: Fisher (Hrsg.), Collected Papers (wie Anm. 25), 364. 39 ) Mary Dewar (Hrsg.), De República Anglorum by Sir Thomas Smith. Cambridge 1982, 77. 40 ) Dies der Forschungskonsens: Edmund Hobhouse (Hrsg.), Churchwardens' Accounts of Croscombe, Pilton, Yatton, Tintinhull, Morebath and St Michael, Bath. London 1890, xv; John West, Village Records. Plymouth 1982, 66. 41 ) 24 Henry VIII, c. 10: die Pfarreien wurden u.a. zur Beschaffung von Vogelnetzen angehalten. 42 ) 2 & 3 Philip and Mary, c. 8: Kirchenpfleger und Dorfpolizisten haben die Wahl von surveyors zu organisieren; Pfarrgenossen werden je nach Vermögenssituation zu Frondiensten herangezogen. 43 ) 4 & 5 Philip and Mary, c. 2 (Beschaffung und Aufbewahrung von bestimmten Waffen).
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sen Gebieten wurden später weitere Anweisungen erlassen, mit Abstand am wichtigsten aber waren die neuen Pflichten im Armenwesen. Im Jahre 1536 plante das Parlament die Einführung von freiwilligen Kollekten, doch der entsprechende Gesetzesentwurf verjährte44). Den nächsten Anlauf zur Bewältigung der immer größeren Probleme unternahm eine von der Krone durchgeführte Visitation im Jahre 1547, die von allen Gemeinden die Aufstellung eines Armenkastens verlangte und offenbar einen gewissen Effekt erzielte. So findet sich in den Rechnungsbüchern von Long Melford (Suffolk) 1548 ein Verweis auf ein Einkommen von über 7 Schilling aus der „por mans box" sowie ein außergewöhnlich frühes und detailliertes „poor account" 1554—1556, während Boxford in derselben Grafschaft ab 1547 jährlich beinahe £ 2 (rund ein Viertel des Gemeindebudgets) in den Armenhaushalt abzweigte45). Städte wie Norwich oder York erhoben in den 1550er Jahren aus eigener Initiative die ersten Zwangsabgaben, und ein wichtiger Schritt in Richtung nationale Armensteuer wurde 1552 vollzogen, als das Parlament zwar weiterhin auf freiwillige Beiträge baute, einmal zugesicherte Summen jedoch schriftlich festhalten ließ. Seit 1563 wurde säumigen Gemeindemitgliedern sogar mit Inhaftierung durch die Friedensrichter gedroht46). Letztere erhielten weitergehende Kompetenzen in einem Statut von 1572, das sie zur Registrierung aller Bedürftigen und zur Besteuerung der lokalen Bevölkerung ermächtigte. Die endgültige Fassung der elisabethanischen Armengesetzgebung verteilte die Verantwortlichkeiten aber anders: Kirchenpfleger und periodisch zu wählende overseers hatten sich um alle administrativen Funktionen zu kümmern, während den Friedensrichtern bloß eine allgemeine Aufsichtspflicht zukam. Konkret waren die Pfarreibeamten ab 1598 verpflichtet, alle arbeitsfähigen Armen zu beschäftigen, bedürftigen Jugendlichen passende Lehrstellen zu finden und jeden Pfarrgenossen entsprechend seines Landbesitzes zu den Umlagen beizuziehen47). Um 1600 waren damit neue Pfarreiämter geschaffen worden, die direkt den Friedensrichtern unterstanden und einen gesetzlich umschriebenen Aufgabenkreis besaßen. Die Kirchenpfleger blieben zwar den Pfarrgenossen verantwortlich, dennoch wird generell von einer drastischen Einschränkung der 27 Henry VIII, c. 25. Die Entwicklung der Armengesetzgebung beschreiben Paul Stack, Poverty and Policy in Tudor and Stuart England. London 1988, 113-131, Drew, Churchwardens' Accounts of Lambeth (wie Anm. 32), xl-xlv, Geojfrey Elton, The Parliament of England 1559-81. Cambridge 1986, 268-271, und Mclntosh, Locai Responses (wie Anm. 28). 43 ) SufRO, FL/509/1/15: Black Book of Long Melford, sub anno\ Boxford CWA (wie Anm. 29), 1547 ff. Aus nationaler Sicht präsentiert sich die Reaktion der Pfarreien allerdings noch sehr uneinheitlich und improvisiert: Slack, Poverty and Policy (wie Anm. 44), 124. « ) 5 & 6 Edward VI, c. 2 (1552), und 5 Elizabeth I, c. 3. 47 ) 14 Elizabeth I, c. 5 (1572), und 39 Elizabeth I, c. 3 (1598).
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spätmittelalterlichen Gemeindeautonomie gesprochen 48 ). Die geistlichen Gerichte mischten sich immer stärker in finanzielle Belange ein, während eine Reihe von neuen Grafschaftsumlagen (etwa zum Unterhalt von Gefängnissen) von den Friedensrichtern eingefordert wurde 49 ). Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts erhielten die Pfarreien nicht mehr bloß Instruktionen von Bischöfen, Archidiakonen und Offizialen, sondern auch „a continuous stream of orders" vom königlichen Rat, von weltlichen Gerichtsinstanzen und ad hoc-Kommissionen 50 ). Die Präsenz der Regierung war nicht zu übersehen: Der Gottesdienstbesuch wurde zur expliziten Untertanenpflicht erklärt, und in der Kirche hatten die Heiligenbilder den königlichen Insignien Platz zu machen 51 ). Soweit die Anstöße von oben, die nun allerdings in beinahe 9000 Gemeinden in die Praxis umzusetzen waren. Dieser Prozeß kann aufgrund der Fülle des Quellenmaterials hier nicht in allen Einzelheiten beschrieben werden, doch soll eine Reihe von Fallstudien die Entwicklung der zwei oben skizzierten Hauptvariablen verdeutlichen. Um der Komplexität der verschiedenen Gemeindetypen Rechnung zu tragen, werden im folgenden im Hinblick auf institutionelle, regionale und sozio-ökonomische Rahmenbedingungen sehr unterschiedliche Beispiele näher beleuchtet; neben Sprengein aus der relativ autonomen und wirtschaftlich besonders entwickelten Hauptstadt auch Pfarreien aus kleineren Marktflecken und in ländlicher Umgebung 5 2 ). 48
) Kent, State Formation (wie Anm. 19), 377-381. Die Armenabrechnungen waren laut den Gesetzestexten von 1572 und 1598 den Friedensrichtern vorzulegen, die die overseers gelegentlich auch gleich selbst ernannten. „In the process, the ecclesiastical unit of the parish had been completely fused with the administrative hierarchy of the civil state": Christopher Hill, Society and Puritanism in Pre-Revolutionary England. London 1964 [die Verweise folgen der Taschenbuchausgabe: Harmondsworth 1986], 261 f. 49 ) Für die vermehrte Einflußnahme von Diözesangerichten siehe Drew, Lambeth Churchwardens' Accounts (wie Anm. 32), liii; Friedensrichter erhielten die Kompetenz zur Abgabenerhebung erstmals 1530 für den Brückenunterhalt (22 Henry VIII, c. 5): Bryan KeithLucas, The English Local Government Franchise. Oxford 1952, 91. Beiträge an Grafschaftsumlagen finden sich in praktisch allen Churchwardens' Accounts, etwa 1609 in Ely (Cambridgeshire): Reginald Holmes (Hrsg.), Saint Mary's Parish Church Churchwardens' Accounts. Ely 1965, 105. 50 ) James Farmiloe/Rosita Nixseaman (Hrsg.), Elizabethan Churchwardens' Accounts. Streatley 1953, xxix. 51 ) Seit dem Act of Uniformity von 1559 (1 Elizabeth I, c. 2) wurde Absenz vom Sonntagsgottesdienst mit einer Buße von ls. bestraft; John Charles Cox/Alfred Harvey, English Church Furniture. London 1907, 351-356. 52 ) So insbesondere der über 1000 Seelen umfassende, außerhalb der Stadtmauern lokalisierte, aber dennoch zur city gehörende Sprengel St Botolph Aldersgate, eine von über 100 Londoner Pfarrkirchen [CWA (wie Anm. 31), sowie GL, MS 1453/1 + 2: Vestry Minutes], die Cambridger Stadt- und Universitätskirche Great St Mary's [Audit Books (wie Anm. 1), bis 1635 ediert in John Foster (Hrsg.), Churchwardens' Accounts of St Mary the Great. Cambridge 1905], sowie die ländlichen, in grundherrschaftlichen Bezügen stehenden Gemeinden von Yatton [Somerset; CWA (wie Anm. 33)], Boxford [CWA (wie Anm. 29); bis 1562 ediert in Peter Northeast (Hrsg.), Boxford Churchwardens' Accounts. Woodbridge 1982] und Long Melford [Black Book (wie Anm. 45); beide in Suffolk]. Zum methodi-
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Wenn wir uns zunächst d e m Verhältnis zwischen Delegation und Eigeninitiative zuwenden, so ist einmal festzuhalten, daß die Gesetzgebung bloß die groben R a h m e n b e d i n g u n g e n festlegte. Bis ins 19. Jahrhundert gab es f ü r die Pfarreiverwaltung keine detaillierten staatlichen Richtlinien. Lokale Belange wurden weiterhin nicht von hauptamtlichen königlichen Vertretern geregelt, sondern unbezahlten und unausgebildeten Bevollmächtigten aus den Gemeinden überlassen 5 3 ). Es kann daher nicht erstaunen, daß sich eine große regionale und lokale administrative Vielfalt entwickelte, die der „Politisierung" der Pfarrei neue Anstöße verlieh. Der Eigeninitiative wurde v o m Parlament gewissermaßen selbst der Segen erteilt, verlangte doch ein Statut von 1601 von den Kirchenpflegern und Armenaufsehern zumindest monatliche Sitzungen „to consider of s o m e good course to be taken and of some meet order to be set down"54). Wie aber wirkten sich die obrigkeitlichen Impulse konkret aus? Die neuen Amtsträger lassen sich fast überall in den Quellen nachweisen: Great St M a ry's, Cambridge, ernannte 1577 j e zwei Armenkassenverwalter und Straßenaufseher sowie „for the destruction of vermine the same persones that last wer elected [...] and for sessing thos that wer landed & had tithes in the parishe according to a Statut mad in that behalf anno Regine Elizabethe 8° [...] vj persons" 5 5 ). Boxfords Rechnungsbücher vermerken nicht nur die Wahl von j e zwei churchwardens und Visitationsgeschworenen, sondern auch von vier Armenaufsehern und zwei surveyors for the highways, während St Mary, Ely, poor collectors, surveyors und vermin overseers beschäftigte 5 6 ). Die Erfüllung der v o m Gesetzgeber zugewiesenen Pflichten läßt sich auch i m m e r wieder beobachten. Die seit 1538 von der Krone verlangten Tauf-, Eheund Begräbnisrödel etwa scheinen in B o x f o r d noch im selben Jahr angelegt worden zu sein. Im R a h m e n der v o m Parlament f ü r April 1547 bewilligten direkten Kontributionen bezahlte dieselbe Pfarrei 10s. „for the subsede of the chyrche mony", und Botolph Aldersgate bewilligte 2s. „for makinge the Subsydye b o o k e s " im Jahre 1590/91 5 7 ). N a c h d e m ein Statut von 1576 die Einrich-
scheri Problem des sampling von Pfarreien siehe Kümin, Shaping of a Community (wie Anm. 21), Kap. 3.1. «) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 148. 54 ) 43 Elizabeth I, c. 2, sec. 2. 55 ) Audit Book (wie Anm. 1), 1577; Bezug genommen wird hier auf den „Act for the Preservation of Grain" von 1566 (8 Elizabeth I, c. 15): „in everie Parishe [...] syx persons [...] shall yerely [...] taxe and assesse every Propriatour Farmour and other person having the Possession of Lande or Tythes within their severall Parishes [...] and the soomes so taxed [to be used to pay a reward to] everie person that shall bring to them any heades of old Crowes". 56 ) Siehe etwa Boxford CWA (wie Anm. 29), 1613; Holmes, Churchwardens' Accounts Ely (wie Anm. 49), 2, 175. 57 ) Boxford CWA (wie Anm. 29), 1538 („for kepeng off the Regestyr") und 1547 (die 2.
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tung von Strafanstalten für Landstreicher und Arbeitsverweigerer verlangt hatte, erhielt der Yattoner Dorfpolizist Thomas Knight ein paar Jahre später eine Aufwandsentschädigung „for removinge a Roge to the housse of correction" 58 ). In London vermerkten die Kirchenpfleger von St Botolph unmittelbar nach der Verabschiedung des Armengesetzes von 1598, daß „charges for nursing of Children and such lyke to be no more charged in the Churchwardens accompts, but in the accompt of the surveyors according to the new Statute" 59 ). Belege für die Erhebung der poor rate finden sich etwa in Long Melford oder Great St Mary, Cambridge, wo von den Pfarrgenossen zusätzlich auch eine kommunale church rate zu entrichten war 60 ). Kosten für den Waffenunterhalt wurden in Yatton und Botolph Aldersgate übernommen 61 ), während im Sinne der Armengesetzgebung massenhaft Lehrlingsverträge zwischen Pfarreivertretern und Handwerksmeistern geschlossen wurden. Je ein Beispiel aus Stadt und Land mag hier genügen: Der Tuchhändler John Jarrold verpflichtete sich 1645 gegenüber den Kirchenpflegern und Armenaufsehern von Boxford für ein Entgelt von £ 20 den Sohn der Witwe Ann Mansfield bis zu dessen Mündigkeit zu betreuen, während ein Jahr später der Londoner Bürger Jasper Waies gegen Bezahlung von £ 10 versprach, Edward Smith für acht Jahre als Weber-Lehrling auszubilden, ohne der Pfarrei von St Botolph „further trouble or charge" zu verursachen 62 ). Kontakte mit den Friedensrichtern als der nächsthöheren Instanz der Lokalverwaltung waren unvermeidlich. Unter den Pfarreibeständen von Long Melford befinden sich eine Reihe von konkreten Aufträgen an die Dorfpolizisten, die je nach Bedarf aufgefordert wurden, Landstreicher zu ihrem Ursprungsort zurückzubegleiten oder Gelder für Kriegsversehrte und Gefangene einzuziehen 63 ). Auch die Kirchenpfleger hatten oft auf Geheiß der Friedensrichter zu handeln. In Yatton unterstützten sie im Jahre 1585/86 einen blinden Mann Tranche des subsidy von 1545 wurde im April 1547 fällig: Frederick Dietz, English Government Finance 1485-1558. Illinois 1921, 225); Botolph CWA (wie Anm. 31), 1590-91. 58) CWA (wie Anm. 33), 1588-89 (Iis.). 59 ) Botolph CWA (wie Anm. 31), 1597-98. 60 ) SufRO, FL 509/5/1: Loose Accounts Long Melford, no. 56 (1602-03); Great St Mary, Cambridge, Audit Book (wie Anm. 1), 1646 (Beschluß einer Revision der Armenunterstützung); periodische Neuveranlagung der traditionellen Easter rate durch eine gewählte Kommission: ebd., 1620, 1625, 1632 [etc.]. 61 ) CWA Yatton (wie Anm. 33), 1585-86: 2 Schilling 8 Pence für die Reparatur von Schwertern und Dolchen; Vestry Minutes Botolph (wie Anm. 52), 12. Juni 1602: Erstellung eines Verzeichnisses der von der Pfarrei aufbewahrten Waffen. 62 ) SufRO, FB77/G1/1: Boxford Apprenticeship Bonds, no. 1; GL, MS 1506: Apprenticeship Indentures St Botolph Aldersgate, no. 5. Generell machten die Pfarreien beträchtliche Anstrengungen, dieser Verpflichtung Genüge zu tun, auch wenn sich die Suche nach geeigneten Meistern schwierig gestaltete: Slack, Poverty and Policy (wie Anm. 44), 128. 63 ) Ein Beispiel ist der von Long Melford aufzubringende Betrag von sechs Pence „towards the releving of the poore presoners in Bury gaole": Loose Accounts Long Melford (wie Anm. 60), no. 77.
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„who had a licence under the hande and seales of my lord Paulet and other Justices" mit einem bescheidenen Geldbetrag 64 ). Die offizielle Gesetzgebung verpuffte also sicherlich nicht ohne Wirkung, und dennoch wurde die Lokalverwaltung nicht nur von oben gesteuert. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang, daß lokalem Gewohnheitsrecht höhere Dignität zukam als landesweiten Richtlinien. Bezüglich der Kirchenpflegerwahl etwa schützten die Gerichte althergebrachte Praktiken, auch wenn sie den von offizieller Seite beschlossenen Anweisungen widersprachen 65 ). Die Armenfürsorge ihrerseits wurde vielerorts nicht mit obligatorischen Umlagen finanziert, sondern mit dem Ertrag aus den Überresten mittelalterlicher Stiftungen oder neuerer wohltätiger Gaben. Das erste nachreformatorische Jahrhundert gilt zwar nicht mehr als beispiellose Boomphase der private charity6(>), dennoch zeugen die kommunalen Quellen von eindrücklichen lokalen Initiativen. Die Protokolle des Pfarreiausschusses von Botolph Aldersgate beginnen mit einer langen Liste der „Names of the Benefactors to the Poore of this Parisshe". An erster Stelle fungiert Anne Pagington, die der Gemeinde über £ 9 pro Jahr vermacht hatte, woraus wöchentliche Zahlungen an fünf Pensionäre, eine jährliche Predigt und die Ausbildungskosten von zwölf Schülern zu bestreiten waren. Insgesamt beinhaltet die im frühen 17. Jahrhundert verfaßte Aufstellung 24 Stiftungen, deren Erlöse von den Kirchenpflegern und Armenaufsehern so zu verteilen waren „as they in their discreacons [Gutdünken] shall thinke fitt"67). Friedensrichter oder andere obrigkeitliche Instanzen konnten hier allenfalls eingreifen, wenn Gelder verschwendet oder veruntreut wurden. Auch auf dem Land profitierten viele Gemeinden von der Großzügigkeit ihrer Einwohner. In Boxford entpuppten sich die Doggetts als besondere Wohltäter. John Doggett, ein Tuchmacher aus der Nachbarpfarrei Groton, bedachte die Pfarrei 1619 mit einer jährlichen Spende von £ 1 für die Armenkasse (die von einem Verwandten, dem Gentleman John Brand, an jedem 1. November zu verteilen war) und zusätzlich mit einem einmaligen Beitrag von £ 4 an die Dorfschule. Zwei Jahre später registrieren die Rechnungsbücher tatsächlich eine erste von John Brand geleistete Zahlung 68 ). Damit setzte sich eine Familientradition fort, finden sich doch seit ungefähr 1616 unter den Einnahmen M
) CWA (wie Anm. 33), 1585-86 (6d.). ) Edmund Gibson (Hrsg.), Codex iuris ecclesiastici Anglicani. Oxford 2 1761 [Neudruck, 1969], 215 f. 66 ) Die von Wilbur Jordan, Philanthropy in England 1480-1660. London 1959, errechneten Trends halten einer inflationsbereinigten Analyse nicht stand: William Bittle/R. Todd Lane, Inflation and Philanthropy in England, in: EconHR, 2nd Series 29 (1976), 203-210. 67 ) Vestry Minutes (wie Anm. 52), unnummerierte Anfangsseiten; das Zitat aus der mit £ 5 dotierten Stiftung von Roger Tayllor (1616). 6S ) SufRO, IC 500/2/51: Register of Wills Proved in the Archdeaconry of Sudbury, fos 321 r -325 v ; Boxford CWA (wie Anm. 29), 1621. 65
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der Kirchenpfleger auch Verweise auf eine Stiftung von William Doggett. Letzterer hatte bis 1609 ein sich in Pfarreibesitz befindliches Grundstück namens Thurten bewohnt und Boxford kurz nach diesem Zeitpunkt „to the sole & proper use of the poore" Ländereien im Wert von £50 im benachbarten Edwardstone vererbt. Seine Testamentsvollstrecker ernannten 1616 (die bereits erwähnten) John Brand und John Doggett zu Treuhändern, die ihre Vollmachten zwanzig Jahre später an eine Gruppe von zehn Pfarrgenossen weitergaben 69 ). Ein Blick in die Rechnungsbücher der 1640er Jahre bestätigt, daß die Kirchenpfleger £ 2 Jahresmiete aus Edwardstone „of Samuel Nutton that was Mr Doggetts gyft" erhielten, während Williams früherer Wohnsitz Thurten nun vom Tuchhändler und Pfarreiland-Treuhänder Edward Nutton belegt war 70 ). Dieses Beispiel mag sowohl die nicht inkorporierten Gemeinden offenstehenden Wege zum Erwerb von Landbesitz als auch die enge Verflechtung kommunaler Eliten illustrieren. Auch Boxford konnte dank der Spendierfreudigkeit der wohlhabenderen Pfarrgenossen bis in die Restaurationszeit ohne Armensteuer auskommen. Das Beispiel der sozialen Wohlfahrt verdeutlicht, wie auch im Kernbereich der englischen Lokalverwaltung die staatliche Gesetzgebung lokalen Initiativen oft bloß hinterherhinkte. So erfolgte zwischen 1465 und 1530 „most experimentation with the support of the poor" im Rahmen der Pfarrei 71 )- Gezielte Armenunterstützung war ja keineswegs eine Erfindung des Protestantismus, sondern bereits im Spätmittelalter - vor allem in den Städten - die Reaktion auf ein offensichtliches soziales Bedürfnis. Kirchenpfleger verwalteten in ihrer Eigenschaft als Treuhänder von Jahrzeiten und Armenhäusern beträchtliche Summen schon lange vor der Reformation, wie auch die ersten Zwangssteuern von städtischen und nicht staatlichen Instanzen erhoben wurden 72 ). Was die Straßenaufseher betrifft, so lassen sie sich in St Mary, ehester, bereits vier Jahre vor dem entsprechenden Statut nachweisen 73 ). Im Erziehungsbereich wird die Vorreiterrolle lokaler Initiativen besonders deutlich. Seit dem ausgehenden Mittelalter nahm die Anzahl der von Laien gegründeten grammar schools beständig zu, und auch hier war die Pfarrei an vorderster Front aktiv. Im ganzen Land verpflichteten über 200 Seelenmessenstiftungen die Pfründeninhaber zu gewissen Lehrtätigkeiten, womit auch ländliche Gegen-
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) SufRO, FB77/L1/1: Boxford Town Lands, no. 1. ) Boxford CWA (wie Anm. 29), 1 6 4 4 ^ 7 . 71 ) Mcintosh, Local Responses to the Poor (wie Anm. 28), 220. 72 ) Slack, Poverty and Policy (wie Anm. 44), Introduction, 123; in Long Melford wurden die Kirchenpfleger 1495 in die Verwaltung der Stiftung von John Hill einbezogen: Black Book (wie Anm. 45), f. 20 v ; für ein vorreformatorisches Armenhaus siehe Anm. 32. 73 ) Nicholas Alldridge, Loyalty and Identity in Chester Parishes 1540-1640, in: Wright (Hrsg.), Parish, Church and People (wie Anm. 20), 104 (ab 1551). 70
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den Zugang zu einer elementaren Grundausbildung erhielten 74 ). Dazu kamen eigentliche Pfarreischulen: Der Tuchhändler Richard Collyer stellte Horsham in Sussex 1532 die Mittel für die Ausbildung von 60 Schülern zur Verfügung und benannte den Pfarrer, die Kirchenpfleger und besondere Schulwarte als Aufsichtspersonen. Auch in Long Melford existierte eine parish school für zwölf Knaben, die aus den Erträgen der Hills Charity von 1495 finanziert wurde. Von gezielten staatlichen Maßnahmen zur Förderung des Schulwesens kann dagegen erst ab der Regierungszeit von Maria I. (1553-1558) gesprochen werden 75 ). Im späten 16. Jahrhundert wurden zudem vielerorts ohne offiziellen Impuls Pfarreibibliotheken eingerichtet 76 ). Bei genauerem Hinsehen läßt sich gelegentlich beobachten, wie Gesetzesvorgaben durch die lokale Praxis verändert wurden. Mehrere Statuten der Tudorparlamente wiesen bestimmte Pflichten direkt den neuen Amtsträgern unter Aufsicht der Friedensrichter zu, in der Praxis jedoch gelang es Gemeinden oder ihren Ausschüssen oft, die entsprechenden Wahl- und Kontrollrechte an sich zu ziehen. Der legislative Trend scheint dieser Entwicklung Rechnung getragen zu haben: Im Gegensatz zur elisabethanischen Armengesetzgebung, die die Hauptverantwortlichkeit an die Aufseher übertragen hatte, sprechen die betreffenden Texte an der Wende zum 18. Jahrhundert von den Kompetenzen der Pfarreiausschüsse 77 ). Daneben trifft man in den Quellen auf zahllose Versuche, eine Ausnahmeregelung für den eigenen „Sonderfall" zu erreichen. Als Mittel stand dabei die Petition an höhere exekutive Instanzen im Vordergrund. Während der ersten Reformationsjahre etwa investierten die Kirchenpfleger von Long Melford 5 Schillinge in eine „byll of complaynte & other charges [...] for the pore peple & hyghe wayes & churche goodes", um die königlichen Kommissäre von der Beschlagnahmung von Kirchengütern abzuhalten. Zusätzlich unterstützten sie vier der gewichtigsten Gemeindemitglieder mit £ 1 „to go to my Lord Protector & other of the Kynges councell". Damit wurde der amtliche Dienstweg elegant übersprungen und direkt an den Staatsrat appelliert 78 ). Hundert Jahre später scheint Botolph Aldersgate für 74
) Die (vorsichtige) Schätzung in Katherine Wood-Legh, Perpetual Chantries in Britain. Cambridge 1965, 268 ff. 75 ) Zur Entwicklung des englischen Schulwesens siehe Nicholas Orme, Education and Society in Medieval and Renaissance England. London 1989, vor allem Kapitel 1. Die genannten Beispiele in A. N. Willson, A History of Collyer's School. London 1965, 195 f., und Wendy Goult, A Survey of Suffolk Parish History. West Suffolk. Ipswich 1990, „Long Melford". 76 ) Die 1595 eröffnete Bibliothek von St James, Bury St Edmunds, mag das früheste Beispiel sein: John Craig, Reformation, Politics and Polemics in East Anglian Market Towns. Ph. D. Thesis Cambridge 1992, 106. 77 ) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 111, 116; Redlich/Hirst, Local Government (wie Anm. 14), 26f.; Keith-Lucas, Franchise (wie Anm. 49), 12 (etwa 3 & 4 William & Mary, c. 11). 78 ) Black Book (wie Anm. 45), 1547^8; die Bemühungen zur Erhaltung der Dorfschule
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solche Zwecke einen eigenen Pfarreianwalt beschäftigt zu haben: Am 16. Juli 1649 beschloß der Ausschuß nämlich, „that the Peticion concerning the parish lands [...] shalbe prosecuted by Mr Herne, the parish solicitor" 79 ). Zwischen Lobbying und Widerstand kann nicht immer scharf unterschieden werden. Zumindest passive Verzögerungstaktik ist hinter dem Verhalten der Kirchenpfleger von St Austin, London, zu vermuten, die sich ohne Bestätigung durch das allerhöchste kirchliche Gericht weigerten, einem 1632 erlassenen bischöflichen Befehl zur Umgestaltung des Chorraumes nachzukommen, „or else we dare not, for the vestry hath ordered it" 80 ). Bereits in der Reformationszeit war es zu einer „stampede to prevent theft by the crown" gekommen: zahllose Pfarreien verkauften ihre Meßutensilien und Priestergewänder, bevor sie durch die Krone beschlagnahmt werden konnten 81 ). In Boxford kamen Gold und Silberwaren im Wert von ungefähr £ 47 unter den Hammer, und die Pfarrgenossen von St Nicholas, Guildford, beteuerten anläßlich einer Visitation mit deutlich schlechtem Gewissen, daß sie den Kirchenschmuck wirklich nur aus Unkenntnis der königlichen Absichten verkauft hätten. Falls sie den Erlös zurückerstatten müßten, wäre dies „to ther utter undoynge" 82 ). Die Armensteuer erwies sich als besonders konfliktträchtig 83 ). Ein Fallbeispiel mag die hartnäckige Verteidigung lokaler Interessen illustrieren. Ab Mitte der 1630er Jahre lancierten die Pfarrgenossen von Great St Mary, Cambridge, eine Kampagne gegen ihre angeblich viel zu hohe Belastung. Am 22. Februar 1635 beschlossen sie, einen vom lokalen justice of the peace - völlig gesetzeskonform - verlangten Beitrag von monatlich über 22 Schillingen an finanziell schwächere Nachbarpfarreien zu verweigern. Trotzig wurde angefügt, daß man alle eventuellen Gerichtskosten aus der Pfarreikasse bestreiten würde 84 ). Ein Jahr später richteten Kirchenpfleger, Armenaufseher und Pfarrgenossen eine Petition an die für ihre Grafschaft zuständigen königlichen Richter, Sir John Bramston und Sir George Crooke. Geklagt wurde darin über die „unequall rates" in der Stadt, die hohen Kosten für den Unterhalt von Hunderten gemeindeeigener Armer und die Uneinsichtigkeit der Friedensrichter, „without any information in what case the state of our parish now standeth" schildern: David Dymond/Clive Paine (Hrsg.), The Spoil of Melford Church. Ipswich 1989, 41 f. 79 ) Vestry Minutes (wie Anm. 52), 1649. 80 ) Carl Stephenson/Frederick Marcham (Hrsg.), Sources of English Constitutional History. London 1938, 470. 81 ) Duffy, Stripping of the Altars (wie Anm. 21), 51; in einem von Ronald Hutton untersuchten Sample verkauften 69 von 90 Pfarreien Kirchenschmuck nach 1547: The Local Impact of the Tudor Reformations, in: Christopher Haigh (Hrsg.), The English Reformation Revised. Cambridge 1987, 126. 82 ) Boxford CWA (wie Anm. 29), 1547-48; R. Roberts (Hrsg.), Further Inventories, in: Surrey Archaeological Collections 24 (1911), 35 (zur Regierungszeit Edwards VI.). 83 ) Slack, Poverty and Policy (wie Anm. 44), 127. 84 ) Foster (Hrsg.), Churchwardens' Accounts (wie Anm. 52), 475.
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von ihnen jeden Monat hohe Summen zu verlangen. Die Pfarrei habe von den justices eine sofortige Neuverteilung der Steuerlasten verlangt, sei aber auf den nächsten Gerichtstag vertröstet worden. Deshalb erbitte sie die Einsetzung einer Kommission von je drei oder vier Vertretern der Stadt und der Universität „to amend the said rates according to equitie". In ihrer Antwort beauftragten die Richter tatsächlich vier Mitglieder der Universität (unter anderem Vizekanzler Dr. Smith, Master von Magdalene College, und Dr. Ward, Master von Sydney Sussex) sowie drei Stadtbürger (darunter Alderman Wickstead) „to take this petition into their considracion and to [...] amend the said Rates as they shall see cause" 85 ). Das Ergebnis scheint nicht befriedigt zu haben, denn im Januar 1640 findet sich ein Beschluß, daß man zwar zu Beiträgen an die Nachbargemeinde von St Andrew bereit sei, jegliche Unterstützung an die aus eigenem Verschulden in Not geratenen Pfarreien von St Giles und St Trinity aber verweigern wolle 86 ). Fünf Jahre später folgt der eingangs zitierte gerichtliche Befehl zur sofortigen Einziehung aller ausstehenden Steuern 87 ), doch damit war der Konflikt noch nicht beendet. Am nächsten Gerichtstermin, den Quarter Sessions vom September 1645, beklagten sich die ärmeren Stadtpfarreien, daß „some of the abler parishes of this town viz. the parish of St Maryes the great [still] refuse to pay the same Rates in contempt of the said orders", und nun platzte den Friedensrichtern der Kragen: Falls die Kirchenpfleger ihre ausstehenden Beträge nicht innerhalb kürzester Zeit ablieferten, hätten sie mit der Pfändung ihres persönlichen Vermögens zu rechnen 88 ). Die Drohung wurde verwirklicht, was die Pfarrei mit der Bestellung eines rechtlichen Gutachtens beantwortete. Darin kam der Experte, Robert Bernard von Huntingdon, zum Schluß, daß das Vorgehen der Friedensrichter nicht gesetzeskonform gewesen sei. Wenn schon, hätten die Einwohner und nicht die Kirchenpfleger gepfändet werden müssen, weshalb eine „action of trespas" angezeigt sei 89 ). Ob die Pfarrei diesem Rat Folge leistete, läßt sich aus den Quellen nicht erkennen; immerhin wiederholte sie im März 1646 ihre Bereitschaft, die kommunalen Amtsträger in all ihren Rechtshändeln schadlos zu halten 90 ). Zur selben Zeit zeigten sich aber auch erste Brüche in der Widerstandsbereitschaft. Die Suche nach willigen Kandidaten für die Übernahme des Kirchenpflegeramtes gestaltete sich immer schwieriger, und vorsichtshal85
) Petition und Bescheid kopiert im Audit Book 1 6 3 5 - 9 9 (wie Anm. 1), sub anno 1644 [sie]. Für die Universitätsangehörigen siehe: John Venn, Alumni Cantabrigienses. Part 1. Cambridge 1927, sub nomine. 86 ) Audit Book 1 6 3 5 - 9 9 (wie Anm. 1), 38. 87 ) Siehe Anm. 1. 88 ) Audit Book 1 6 3 5 - 9 9 (wie Anm. 1), 1645. 89 ) Ebd. Bernard sah sich nicht in der Lage, den Fall selbst zu übernehmen, offerierte aber „if your clients like it, that some other councell and I may conferr at London about it. It is matters of consequence". *>) Audit Book 1 6 3 5 - 9 9 (wie Anm. 1), 1646.
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ber wurde eine Aktualisierung der Abgabenlisten sowie der Einzug ausstehender Pfarreiguthaben beschlossen 91 ). Im Januar 1649 nahm die Gemeinde einen letzten Anlauf zur Revision der städtischen Finanzpolitik, und zwei Monate später vermerkt das Rechnungsbuch „that ther shalbe a two monthes rate made and collected throughout the said parish for and towarde the payment of the two poor parishes of St Andrews & St Giles according to one order of sessiones lately made" 92 ). Danach scheint für einige Zeit Ruhe einzukehren. Die Pfarrei hatte sich also den Anordnungen der Friedensrichter nicht einfach gefügt, sondern eine von Stadtbewohnern selbst vorgenommene Revision der Steuerbelastung und (zumindest was St Trinity betrifft) eine Reduktion der eigenen Belastung erreicht. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die englischen Kirchgemeinden Eigeninitiativen im Bereich des Statutarrechts entwickelten. Besonders häufig sind kommunale Gebührenregelungen für Dienstleistungen wie Beerdigungen, Glockenläuten oder die Vermietung von Pfarrgut sowie der Erlaß spezifischer Pflichtenhefte für den Küster, den Pfarrassistenten oder andere kommunale Amtsträger 93 ). Die Armenfürsorge liefert weitere Beispiele. Boxfords Räte etwa beschlossen, daß niemand eine potentiell bedürftige Person beherbergen dürfe „without the consent of sixe of the chief inhabitantes", und eine ähnliche Regelung findet sich in Botolph Aldersgate 94 ). In London kam es auch vor, daß der Pfarreiausschuß Gewerbe- und Gasthauslizenzen erteilte, oder in Streitfällen Vermittlerdienste anbot 95 ). Es kann daher nicht überraschen, daß die englische Lokalverwaltung von Gemeinde zu Gemeinde höchst unterschiedlich strukturiert war. Die staatliche Gesetzgebung legte (interpretationsbedürftige) Richtlinien fest, ließ den Pfarreien aber weiten Spielraum zur Regelung ortsspezifischer Anliegen. St Olave, Southwark, zum Beispiel, kümmerte sich neben den der Kirchgemeinde offiziell zugewiesenen Pflichten auch um stattlichen Landbesitz, um
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) 1646 bezahlten die drei erstplatzierten Kandidaten eine Buße von je 40 Schilling, um sich ihren Amtspflichten entziehen zu können; die erwähnten Beschlüsse ebd., 27. und 3 I.März 1646. 92 ) Ebd., 12. März 1649. 93 ) Den besten Eindruck liefert der 1636 vom Londoner Bischof von allen Pfarreien der Hauptstadt verlangte Überblick über kommunale Verwaltung und Gebühren: London, Lambeth Palace Library, Carte Miscellanee, vol. vii, passim. Botolph Aldersgate vermerkte etwa unter dem Abschnitt „The Clerke Dueties": „hee shall make noe bargaine with any person without the consent of the churchwardens touching any matters of the Church": ebd., no. 55. 94 ) CWA Boxford (wie Anm. 29), 28. März 1608 und (unter Androhung einer Buße von 40s. zuhanden der Armenkasse) erneut am 18. April 1625; Pfarrgenossen, die der Gemeinde zur Last fallende schwangere Frauen beherbergen, sind zu bestrafen „as the parish by law shall decide": Botolph CWA (wie Anm. 31), 1596-97. 95 ) Ian Archer, The Pursuit of Stability. Social Relations in Elizabethan London. Cambridge 1991, 63 (Bsp. St Margaret Lothbury) und 80 (Schiedsgericht).
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die Regelung der Nutzungsrechte auf der Allmende, eine Schule, Stiftungen, Geldverleih und (mittels Kohlevorrat und Aquädukten) um die lokale Wasserund Energieversorgung 96 ). In den Quellen der Fallstudien finden sich daher die unübersichtlichsten Kompetenzverteilungen und -Überschneidungen zwischen den einzelnen Chargen. Ab dem späten 16. Jahrhundert wurden oft separate Armen- und Straßenunterhaltsbücher geführt, was die Kirchenpfleger aber nicht daran hinderte, in diesen Bereichen auch selbst tätig zu werden 97 ). 1606 etwa vermerkte der Ausschuß von St Botolph, daß der Straßenabschnitt vor dem Pfarrsaal auf Kosten der churchwardens und nicht etwa von highway surveyors zu reparieren sei, während die Kirchenpfleger von Yatton noch Jahrzehnte nach der ersten gesetzlichen Erwähnung von Armenaufsehern selbst (wenn auch in einem separaten Dokument) Rechenschaft über „mony due to the poor" ablegten 98 ). Dazu kannten viele Gemeinden Beamte, die in keinem staatlichen Reglement auftauchen. Bereits Shakespeare berichtet von der Existenz von beadles, die den Kirchenpflegern bei der Erfüllung verschiedenster Pflichten zur Hand gingen, und ab Mitte des 17. Jahrhunderts häufen sich Hinweise auf als Sekretäre des Pfarreiausschusses wirkende vestry clerks"). Gelegentlich tauchen auch orts- und wirtschaftsspezifische Chargen auf, wie etwa in Boxford, wo seit ungefähr 1610 jedes Jahr overseers for cloth ernannt wurden 100 ). Generell darf der Einfluß des jeweiligen Umfeldes nicht unterschätzt werden, ergaben sich doch vielerorts Überschneidungen oder Aufgabenteilungen mit anderen Lokalverwaltungseinheiten. In ländlichen Pfarreien war eine enge Zusammenarbeit zwischen churchwardens und Dorfpolizisten praktisch unvermeidlich, um so mehr als letztere trotz ihres grundherrschaftlichen Ursprungs immer mehr unter den Einfluß der Kirchgemeinden gerieten 101 ). In Great St Mary, Cambridge, dagegen herrschte ein delikates Nebeneinander von Stadt und Universität. Wie bereits gesehen, kam es zur Einsetzung paritätischer Kommissionen, und auch die ungewöhnlich komplexe Kirchenpflegerwahl reflektierte die Zusammensetzung der Gemeinde. Am 28. März 1597, um nur ein Beispiel zu nennen, ernannten die Amtsinhaber je einen Vertreter 96
) Ebd., 86; Southwark Archives: St Olave Vestry Minutes, fos 4, 26, 66 und passim. ) Siehe etwa die Mischung von Kirche, Straßenbau und Armenwesen in den Long Melford CWA (wie Anm. 45), 1554-58. Die ersten separaten Annenabrechnungen erscheinen in den 1580er Jahren (Long Melford Loose Accounts [wie Anm. 60], no. 48), aber auch danach waren die Kompetenzen nicht scharf getrennt: ebd., no. 17 (1596: Armenausgaben in CWA). 98 ) Vestry Minutes Botolph (wie Anm. 52), 1606; Yatton CWA (wie Anm. 33), 1597. 99 ) WebbAVebb, Parish (wie Anm. 17), 125 f. I0 °) Zum Beispiel CWA (wie Anm. 29), 1614. Die lokale Tuchindustrie erreichte ihre Blüte im 17. Jahrhundert: Goult, Suffolk Parish History (wie Anm. 75), sub parochia. 101 ) Siehe etwa die Zahlungen an den constable in Yatton CWA (wie Anm. 33), 1583-84, oder Long Melford Loose Accounts (wie Anm. 60), no. 27 (1607). Zum Pfarreieinfluß auf ihre Wahl Joan Kent, The English Village Constable 1580-1642. Oxford 1986, 57-71. 97
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beider Parteien, die wiederum je drei Pfarrgenossen in einen gemischten Ausschuß kooptierten, worauf diese acht Elektoren die neuen churchwardens bestimmten 102 ). Gelegentlich entluden sich die latenten Spannungen aber in offenem Konflikt: Ende der 1630er Jahre erweiterte der Vizekanzler in eigener Kompetenz die den Masters of Arts zustehenden Sitzplätze, was die Bürger offensichtlich in Rage brachte. Jedenfalls beauftragten sie die Kirchenpfleger „by a generali assent & consent of all & every parishioner" die alten Zustände mit allen Mitteln wiederherzustellen 103 ). Trotz der immer wieder aufflackernden Rivalität zwischen town and gown benutzt die Universität die Pfarrkirche aber noch heute für all ihre religiösen Anlässe, und auch eine separate „Dockters galerie" hat sich erhalten 104 ). In London existierte seit dem Mittelalter sowohl ein äußerst dichtes Pfarreinetz, wie auch eine (kaum je denselben Grenzen folgende) Einteilung in weltliche wards, die ihrerseits in noch kleinere precincts zerfielen. Im 17. Jahrhundert war es gang und gäbe, daß die Pfarreiausschüsse sich in die Wahlen der Stadträte einmischten, und einige scheinen die precinct meetings der freien Stadtbürger völlig vereinnahmt zu haben 105 ). Die Kirchenpfleger von All Hallows the Great machten 1636 keinen Hehl daraus, daß die „Commonwealth officers for [...] parish and ward" von ihrer Exekutive ernannt würden, und dasselbe galt - wenigstens in bezug auf die Räte - für St Benet Gracechurch 106 ). In St Botolph Aldersgate wurden zumindest Straßenwischer und Polizisten gelegentlich vom Pfarrausschuß gewählt 107 ). Eine totale Kontrolle war in diesem Fall kaum zu erreichen, da sich der Aldersgate ward über nicht weniger als fünf Kirchgemeinden erstreckte. Ein Blick in die Protokolle von 1614 zeigt aber, daß Ausschußmitlieder von St Botolph sowohl unter den Geschworenen wie auch unter den gewählten Stadträten figurierten. Angezeigt und verhandelt wurden in diesen Quartierversammlungen Mißstände im Bauwesen und der Wasserversorgung sowie zahlreiche weitere, in den Kompetenzbereich der weltlichen Beamten fallenden Tatbestände 108 ). Dazu fiel bei jeder Sitzung etwas für die Pfarreikasse ab: Seit 1566 hatten alle am wardmote
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) Foster (Hrsg.), Churchwardens' Accounts (wie Anm. 52), 263. ) Audit Book (wie Anm. 1), ca. 1639. 104 ) Foster (Hrsg.), Churchwardens' Accounts (wie Anm. 52), 475. 105 ) Valerie Pearl, London and the Outbreak of the Puritan Revolution. Oxford 1961, 55; Archer, Pursuit (wie Anm. 95), 29. 106 ) Carte Miscellanee (wie Anm. 93), nos 62 und 85. 107 ) Siehe Vestry Minutes (wie Anm. 52), 29. Juni 1606: „the same day were chosen Skavingers Nicholas Elliston for the first precincte, John Raven for the second [etc., total vier]" und 22. November 1607 (Wahl eines constables). 108 ) GL, MS 1502: Wardmote Inquest 1614; Unter den common councillors befinden sich die Pfarreiausschußmitglieder Jenkins, Tailor und Treswell, under den grand jurymen Freeman, Haughton, Sadler, Wells, Westwood und Wilson. 103
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beteiligten Biirger, die nicht zu St Botolph kirchgenössig waren, für die Benutzung des Pfarrsaales eine Gebühr von sechs Pence zu entrichten 109 ). Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß von einer völligen Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Kirchgemeinde durch staatliche Instanzen auch nach der elisabethanischen Gesetzesflut kaum die Rede sein kann. Dazu existierten zu viele unreglementierte Bereiche und Eigeninitiativen, zu wenig königliche Beamte und zu unterschiedliche lokale Umfelder und Traditionen. Im Extremfall konnte eine Pfarrei gar ein „miniature kingdom of its own" bilden 110 ), doch boten die Absteckung des jeweiligen Tätigkeitsbereichs und die Setzung von Prioritäten generell Raum für ein intensives „politisches" Leben innerhalb des Sprengeis. Wie aber, um zur zweiten und bisher bewußt ausgeklammerten Hauptvariablen überzugehen, wurden die notwendigen Entscheidungen gefällt? Die Forschung ist übereinstimmend der Ansicht, daß die Ereignisse des 16. Jahrhunderts breite kommunale Beteiligung in mancherlei Hinsicht erschwerten. Da war einmal die durch die Verschlechterung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen und die Verteilung des Kirchenbesitzes geförderte Polarisierung der Gesellschaft in Stadt und Land 111 ). Dann die religiöse Zersplitterung, die in mancher Gemeinde das nachbarschaftliche Verhältnis trübte 112 ), sowie die Umgestaltung des kulturellen Lebens, dessen Symbolik - etwa in städtischen Prozessionen - immer weniger an kommunale Einheit und immer mehr an soziale Unterschiede erinnerte. Auch auf dem Land wurde dem Brauchtum durch die moralische und religiöse Offensive der ersten Reformationsjahre ein gewaltiger Schlag versetzt, von dessen Wirkung sich etwa die church ales nur unvollständig erholten 113 ). Diese Prozesse spiegelten sich auf der Ebene der Pfarreipolitik in der immer deutlicheren Machtverschiebung weg von der Gemeindeversammlung hin zum exekutiven, sich selbst ergänzenden Ausschuß, der sogenannten select vestry, wider 114 ). Der Trend zeigt sich deutlich in einem Vergleich zweier im Abstand von 40 Jahren entstandener Vestry Ordinances aus Bristol: In St Stephen hieß es 1524, daß die Verfahrensregeln „with the whole assent ande consent" der Ge109 ) Botolph CWA (wie Anm. 31), 1566-67 und folgende Jahre; Gebührenzahlungen etwa i n C W A 1571-72. 110 ) Dies das Fazit für die mit außerordentlichen Immunitäten ausgestattete Gemeinde von Holy Trinity Minories in London: Edward Tomlinson, A History of the Minories. London 1907, 165. m ) Keith Wrightson, English Society 1580-1680. London 1982, 121-148; William Hoskins, The A g e of Plunder. The England of Henry VIII 1500-47. London 1976, 137. 112 ) Duffy, Stripping of the Altars (wie Anm. 21), 497; in London, „the world of shared faith was broken [...] and the Christian community divided": Susan Brigden, London and the Reformation. Oxford 1989, 639. 113 ) Peter Clark/Paul Slack, English Towns in Transition 1500-1700. Oxford 1976, 131; Ronald Hutton, The Rise and Fall of Merry England. Oxford 1994, 6 9 - 1 1 0 . 114 ) Siehe etwa Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 419 f.
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meinde entstanden seien, daß sich alle Pfarrgenossen für die Rechnungsablage der Kirchenpfleger versammeln müßten und bei dieser Gelegenheit auch ein Nachfolger für den abtretenden Amtsmann zu wählen sei. Im nachreformatorischen St Thomas hingegen behielten die „proctors and major sort" die Wahl der Kirchenpfleger einer select vestry vor. Der Gemeinde wurde lediglich „publication thereof in Aussicht gestellt, und von einer Anwesenheitspflicht für die Buchprüfung war nicht mehr die Rede 115 ). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts scheint auch die parlamentarische Gesetzgebung von der Existenz einer Pfarreioligarchie ausgegangen zu sein, und kirchliche Instanzen gaben der Schaffung von Ausschüssen ohne weiteres ihren Segen 116 ). Die Rhetorik mancher zeitgenössischer Dokumente läßt keinen Zweifel daran, daß die „most ancient and grave parishioners" sehr bewußt auf eine Verstärkung ihres Einflußbereichs hinarbeiteten, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie den größten Teil des Gemeindehaushaltes aufbrachten 117 ). All dies ist nicht zu bestreiten, aber trotzdem sollte nicht von einer generellen politischen Kapitulation der einfachen Pfarrgenossen gesprochen werden. Eine Reorganisation der kommunalen Verwaltungsstrukturen drängte sich aufgrund der neuen gesetzlichen Pflichten, der Erhebung zusätzlicher Abgaben und der intensiveren Außenüberwachung praktisch von selber auf. Die jährliche Gemeindeversammlung allein konnte dem erweiterten Aufgabenkreis nicht mehr gerecht werden. Gelegentlich finden sich deshalb Belege dafür, daß Exekutiven aufgrund eines breiten Konsenses aller Betroffenen ins Leben gerufen wurden: In Pittington (Grafschaft Durham) etwa beschlossen die Pfarrgenossen 1584 „to electe and chuse out of the same [parish] xij men to order and define all common causes pertaininge to the churche [...] without molestation or troublinge of the rest of the common people" 118 ). Eine 1636 von Bischof William Juxon in Auftrag gegebene Umfrage erlaubt einen einmaligen Einblick ins Regiment der Londoner Pfarreien. Jede Gemeinde hatte anzugeben, ob sie ihre Angelegenheiten mittels select vestry erledige, und falls ja, welche Kompetenzen ihr übertragen seien und auf welcher rechtlichen Grundlage sie fuße 119 ). Nicht alle 114 Antwortbögen sind n5 ) Francis Fox (Hrsg.), Regulation of the Vestry of St Stephen, in: Clifton Antiquarian Club 1 (1884-88), 198-201; Charles Taylor (Hrsg.), Regulations of the Vestry of St Thomas, in: ebd., 193 f. 116) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 176 (hier auch der detailreichste Überblick über Entwicklung und Begründung der vestries)-, Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 422 (die Bischöfe von London erteilten Pfarreien oft eine formelle Erlaubnis zur Einrichtung eines exklusiven Ausschusses). 117 ) Archer, Stability (wie Anm. 95), 70, 96 (London); die Hierarchiesymbolik betont auch Alldridge, Loyalty (wie Anm. 73), 91. 118 )iWr. Barmby (Hrsg.), Churchwardens' Accounts of Pittington. Durham 1888, 12f.; ähnliche Gemeindeentscheide auch in London, z.B. St Mildred Poultry (vestry um 1600 geschaffen zur Verwaltung einer großen Stiftung): Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 87. 119 ) Der Hintergrund der Umfrage ist unklar: Juxon gilt als Gesinnungsgenosse des armi-
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gleich detailliert, sie enthüllen aber insgesamt eine große Bandbreite verschiedener, keinesfalls einheitlich-oligarchischer Modelle. Am einen Ende des Spektrums befinden sich die 50 Gemeinden, die - oft mit Verweis auf eine bischöfliche Ermächtigung - erläuterten, daß alle ihre Geschäfte durch einen exklusiven Ausschuß geregelt würden 120 ). Einige beriefen sich auf Gewohnheitsrecht, was allerdings, wie etwa im Beispiel von St Martin-in-the-Fields, einem genaueren Quellenstudium nicht standhält 121 )- In den meisten Fällen bestand die Exekutive aus ehemaligen constables und churchwardens122), zum Teil aber auch einfach aus den „ancient" oder „most discreet parishioners" 123 ), während ab und zu praktische Motive (zu große Bevölkerung oder ein kleiner Versammlungssaal) genannt werden 124 ). Es handelte sich also um eine rein weltlich begründete Auswahl; selbst in den zwei Gemeinden, wo die religiöse Einstellung thematisiert wird 125 ), ging es um Treue zur anglikanischen Kirche und keinesfalls um die Einführung einer calvinistischen Ältestenverfassung. Drei Gemeinden aber, und damit rücken wir vom streng autokratischen Typus ab, praktizierten eine informelle Selektion ihrer Ausschußmitglieder: Holy Trinity, Minories, etwa versammelte alle, die als „fit" und „able" eingestuft wurden 126 ). Insgesamt 11 Pfarreien besaßen eine Art Großund Kleinratsystem: St Stephen Coleman Street zum Beispiel antwortete, daß seine Angelegenheiten „partly by a selected vestrey and partly by a generali meeting" geregelt würden. Hier scheinen dem Ausschuß Entscheide in Sachen Armenwesen und Landbesitz vorbehalten gewesen zu sein 127 ), aber die Kompetenzverteilung konnte sehr unterschiedlich ausfallen. In einigen Fällen behandelte die Gemeindeversammlung alle wichtigen Verhandlungsgegenstände, und die vestry bloß „ordinary affairs"; andernorts aber war gerade das manischen Erzbischofs Laud: Thomas Mason, Serving God and Mammon. William Juxon 1 5 8 2 - 1 6 6 3 . Newark 1985, 4 5 - 6 7 . Eine weitere Frage galt den kommunalen Einkünften; Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 422, vermutet deshalb fiskalische Motive. I2 °) Zum Beispiel St Michael Wood Street, Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 34 (Bischofsdokument aus dem Jahre 1614). I21 ) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 183: „hidden away in CWA and vestry minutes, the investigator discovers clear evidence of there having been in these parishes during the fifteenth or sixteenth century, public meetings, open to all the inhabitants". ,22 ) Etwa in St George Botolph Lane (Carte Miscellanee [wie Anm. 93], no. 25) und rund einem Dutzend anderer Pfarreien. 123 ) Ebd., z.B. St Mary Magdalene Fish Street (no. 21). In St Margaret Moses umfaßte der Ausschuß die Pfarrgenossen aus den ersten sechs Kirchenbänken (no. 12), in St Magnus Martyr eine Mischung aus „younger" und „ancient sort" (no. 104). 124 ) St Botolph Billingsgate und St Martin-in-the-Fields (ebd., nos 91, 79). 125 ) In St Andrew Holborn, w o „men that are knowne to bee well addicted to the rites and ceremonies of the church of England" die Pfarrei leiteten (ebd., no. 57) und in St Anne Blackfriars, w o die vestry Mitglieder als „inhabitants that [ . . . ] come to church, and are not disordered or turbulent" beschrieben werden (ebd., no. 42). 126 ) Ebd., no. 51; St Peter Poor und St Clement Eastcheap ließen je nach Bedarf weitere Pfarrgenossen an den Sitzungen teilnehmen (nos 3 0 , 6 7 ) . 127 ) Ebd., no. 41.
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„chiefest parish businesse", nämlich die Rechnungslegung, den ehemaligen Amtsträgern vorbehalten 128 ). Am „demokratischen" Ende des Verfassungsspektrums finden sich schließlich nicht weniger als 45 Pfarreien, die beteuerten, daß bei ihnen alle kommunalen Angelegenheiten von einer general vestry behandelt würden. Darunter wird in der Frühneuzeit - im Einklang mit dem Grundsatz „no taxation without representation" - meist die Gesamtheit der abgabenleistenden Hausvorsteher verstanden 129 ). Die Quellen allerdings erhellen dies nicht in wünschenswerter Klarheit; viele der 1636 verfaßten Antworten klammern jedenfalls niemanden explizit von einer Partizipation an der Versammlung aus 130 ): „the busynes of our parishe is and hathe bene time out of mynde ordred by the parishioners meetinge in generali" (All Hallows Lombard Street), „we doe nothinge without the consent of the whole parish" (St Olave Hart Street), „we clayme noe power by the authority of any vestry but what is agreed upon at the generali meeting of the parishioners, by the greater part of them [...] and by this we have always had peace and quietness in our parish" (St Bartholomew Exchange) 131 ). Dies wird in einigen Fällen mit der Vorschrift unterstrichen, daß allen Gemeindemitgliedern genügend „warning" für alle Versammmlungen zu geben sei 132 ), aber im Gegensatz zur Vorreformationszeit findet sich nirgends mehr ein Hinweis auf eine Anwesenheitspflicht aller politisch Berechtigten, und Beschlüsse werden überall nur von einer beschränkten Zahl von Pfarrgenossen unterschrieben 133 ). Mindestens eine Kirchgemeinde brach ein Experiment mit einer select vestry nach kurzer Zeit wieder ab 134 ), und ein anderes Londoner Fallbeispiel mag erhellen, daß auch dort, wo 1636 ein Ausschuß dominierte, lebhafte politische Auseinandersetzungen ausgefochten werden konnten. St Botolph Al128 ) Zitate aus den Antworten von St Giles-in-the-Fields und St Alban Wood Street: ebd., nos 50, 80. In St Mary Aldermanbury waren die Wahlen Sache der select vestry, alles andere fiel in den Bereich der Kirchgemeindeversammlung (no. 98). 129 ) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 105; Pearl, London (wie Anm. 105), 55, n. 38; und Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 419. I3 °) Keith-Lucas, Franchise (wie Anm. 49), 12, ist sich im unklaren, ob alle Hausvorsteher oder nur alle Abgabenpflichtigen in der general vestry Einsitz nahmen. 131 ) Carte Miscellanee (wie Anm. 93), nos 18, 5, 72. Die Rechnungsbücher und Sitzungsprotokolle ihrerseits sprechen oft vom „generali assent & consent of all & every the parishioners" (Audit Book St Mary (wie Anm. 1), 1639). 132 ) Ebd., etwa nos 33 (St Edmund Lombard Street) und 113 (St Helen). 133 ) Pearl, London (wie Anm. 105), 55, n. 38 (die Teilnahme aller freemen kaum je nachgewiesen); Archer, Pursuit (wie Anm. 95), 69f. (ein Viertel bis ein Sechstel der berechtigten Pfarrgenossen von St Bartholomew Exchange und St Margaret Lothbury besucht die Versammlungen). Es ist aber auch denkbar, daß nur die „gewichtigsten" der anwesenden Pfarrgenossen namentlich registriert wurden. 134 ) „Our vestries [...] were generali, untill about 4 yeares now paste finding many inconveniences by a generali vestry, [we] did prescribe a course for a selected number, but seeing we could not well accomplish that intendment, we have since [fallen back onto] a generali company": Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 17 (St Michael Royal).
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dersgate bietet die Möglichkeit, die Entwicklung des Pfarreiregiments zwischen Spätmittelalter und Commonwealth im Detail zu verfolgen. In Abschnitt (1.) wurde bereits darauf hingewiesen, daß seit den 1480er Jahren explizite Gemeindebeschlüsse zur jährlichen Rechnungsablage der Kirchenpfleger und zur Präsenzpflicht aller Hausvorsteher vorliegen. Ungefähr ein Jahrhundert später entstand offensichtlich Bedarf nach einer effizienteren Verwaltungsmaschinerie, doch die getroffenen Vorkehrungen zeigen, daß es sich um die Schaffung eines repräsentativen Organs, und keineswegs um eine Abtretung aller Kompetenzen an die kommunalen Eliten handelte. 1573 findet sich folgender Beschluß im Rechnungsbuch: „that there shalbe xxx tie persons appointed to determyne all matters of causes growinge in the parishe for the hole yere from one accompte to annother whereof sixtene to be fremen and fourten gentlemen [...] and to be newe chosen everie accompte daie" 135 ). Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, daß die attraktive Lage der Kirchgemeinde immer mehr Gentlemen zur Wohnsitznahme in der Pfarrei und damit offensichtlich auch zur Einflußnahme auf deren Regiment bewog 136 ). Immerhin sicherten sich die commons eine Mehrheit im neu eingerichteten Ausschuß. Die breit abgestützte politische Kultur von St Botolph belegt auch die kurz danach erfolgte Mahnung an die Kirchenpfleger, dass sie die Pfarrgenossen zwei oder drei Wochen zum Voraus auf den bevorstehenden Rechnungstag aufmerksam zu machen hätten, damit diesen genügend Zeit zum Studium der Bücher bliebe 137 ). All dies scheint der Pfarreielite aber bald einmal zu mühsam geworden zu sein. Im Jahre 1607 erbaten deshalb deren acht, darunter ein Exchequer-Baron, vom Londoner Bischof die Erlaubnis zur Bildung einer select vestry, mit dem - in vielen anderen zeitgenössischen Dokumenten wiederholten - Hinweis auf die „Disquietness and Hindrance to the good Proceedings [...] through the general Admittance of all sorts of Parishioners" 138 ). Dem Anliegen wurde mit der Schaffung eines sich selbst ergänzenden Ausschusses von 24 Pfarrgenossen entsprochen. Die hohen Herren dehnten in der Folge ihre Kompetenzen auf die Wahl der Kirchenpfleger aus, und 1620 erließen sie eine äußerst kontroverse Gebührenregelung für Beerdigungen und an-
135 ) St Botolph CWA (wie Anm. 31), 1572-73. Dieses Modell wurde in St Agnes und Anne, einer Nachbarpfarrei, offenbar noch 1635 mit Erfolg praktiziert: Die Pfarreiangelegenheiten oblagen dort einer gewählten select vestry, über deren Aktivitäten „the churchwardens do give a public account in the public audience of the whole parishioners yerely": Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 107. 136 ) Das reiche kulturelle und gesellschaftliche Leben der Pfarrei betont Thomas Henrey, St Botolph Without Aldersgate. London 1895, 33 f. 137 ) Botolph CWA (wie Anm. 31), 1573-74. 138 ) Der volle Text der bischöflichen Bestätigung in „The Report of the Committee Appointed By a General Vestry". London 1733, 9-13; ähnlich Gibson (Hrsg.), Codex (wie Anm. 65), 1477 (St Botolph Aldgate).
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dere abgabepflichtige Leistungen 139 ). Die marginalisierten Gemeindemitglieder aber gaben sich nicht geschlagen. Anfangs der 1630er Jahre initiierten sie sowohl einen Prozeß vor der Sternkammer, einem nach dem Tagungsort benannten gerichtlichen Ausschuß des königlichen Rates, wie auch die Bildung einer staatlichen Untersuchungskommission zur Prüfung eines langen Beschwerdenkatalogs. Die Bevollmächtigten hörten im Rahmen ihrer Recherchen Zeugenaussagen von 27 Klägern, die sich vor allem gegen den Mißbrauch von Armengeldern und die willkürliche Einführung neuer Gebühren richteten 140 ). Die Wurzel des Übels lag deren Meinung nach in „the late innovated Table [of fees] and [the] private selected vestrie occasioninge the said exactions and oppressions". Der Ausschuß „ought to have given upp before the minister and parishioners a just accompt", und überhaupt sei die einzige Lösung, daß „the vestrie of the said parrish may bee publique as hath bin alwaies anciently accustomed for the generali freedom and benefit of all the foresaid parishioners" 141 ). Die Oppositionsbasis bildeten nicht etwa arme Unterschichten, sondern eine von den weniger vermögenden Ausschußmitgliedern kaum scharf zu unterscheidende Gruppe von Hausvorständen 142 ). Zur Zeit der Umfrage von 1636 mußten die Kirchenpfleger Bischof Juxon melden, daß ihr Pfarreiregiment völlig aus den Fugen geraten sei, daß keine Ausschußsitzungen mehr stattfänden, daß Abgaben verweigert würden, und daß dies „without Reformation" unweigerlich zu großen Problemen führen müsse 143 ). Während des Bürgerkrieges scheint die Opposition - wenigstens temporär 144 ) - die Oberhand gewonnen zu haben: Im September 1645 vermerken die Sitzungsprotokolle nämlich, daß „we the inhabitantes [...] have this day in each precinct with unanimous consent elected and chosen [24 Namen] for the agitating and managing of all the civill Matters [...] of the said parishe, who are to conduct the relevant affairs as if wee were all personally present for the space of one whole year" 145 ). In den folgenden Jahren finden sich tatsächlich
139 ) Wahl von churchwardens, sidesmen und overseers durch den Ausschuß etwa in Vestry Minutes (wie Anm. 52), 8. April 1607; Burial Fee Ordinance: ebd., 27. Juli 1620. 140 ) Die Verteilung und unstatthafte Abzweigung von Armengeldern bildete im 17. Jahrhundert einen häufigen kommunalen Konfliktherd, den die Levellers zur Revolutionszeit weiter schürten: Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 284. 141 ) Zitate aus GL, MS 10,910: Inquisition under the Great Seal (6. Januar 1630). ,42 ) Diese Einschätzung stützt sich auf den Vergleich der Abgabenleistungen der Mitglieder beider Gruppen (GL, MS 1503/3: Rate Assessments St Botolph, 18. April 1629): die identifizierbaren Schätzungen bewegen sich meist zwischen £ 3 - 5 . Ein vergleichbarer Protest erschütterte St Saviour Southwark 1605: Archer, Pursuit (wie Anm. 95), 73. I43 ) Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 55. ,44 ) Zur Zeit einer späteren Untersuchung im Jahre 1733 war die vestry wieder select und (offenbar) ähnlich korrupt: „Report of a Committee" (wie Anm. 138), passim. I45 ) Vestry Minutes (wie Anm. 52), 23. September 1645. Auf ähnliche Demokratisierungsschübe in anderen Pfarreien zur selben Zeit verweist Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 423.
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Verweise sowohl auf Sitzungen der „24" wie auch auf „conventions of the whole parish" 1 4 6 ). Die lange Vorgeschichte dieses Triumphes zeigt aber deutlich, daß es weder Revolution noch Sekteneinfluß brauchte, um für breit abgestützte kommunale Ordnungsprinzipien einzustehen. Dies belegen zahlreiche weitere Beispiele wie St Katherine Cree (dort waren die Souveränitätsansprüche der vestry „disliked by the generalitie of the parish and controverted by suits now depending both in the Court of Arches [...] and also in the high Court of Chancery") 1 4 7 ) oder St Lawrence Jewry (wo 1627 ohne den Konsens der Gemeinde ein Ausschuß eingerichtet worden war, doch „upon the humble petition of the parishioners" an Erzbischof Laud zum alten Regiment zurückgekehrt wurde 1 4 8 ). Im Jahre 1615, um einen letzten Fall aus der Hauptstadt anzufügen, vermerken die Sitzungsprotokolle von St Lawrence Pountney lakonisch, daß die Anwesenden „doe not consent to have a vestery according unto one writing tendred unto us by our minister" 1 4 9 ). Generalisierungen für die vielen tausend Gemeinden außerhalb Londons sind nur bedingt möglich. Immerhin kann davon ausgegangen werden, daß ländliche Pfarreien, wie zum Beispiel Mildenhall in Suffolk, normalerweise eine open vestry besaßen 1 5 0 ) Spuren oligarchischer Einflüsse finden sich aber auch dort: In Yatton wurde der Verkauf eines silbernen Kruzifixes von „Mr Lenne and xx li of the honest of the parish" beschlossen, die Kirchenpfleger verteilten Armengelder „in the presence of dyvers honest men", und in Boxford legitimierten sich kommunale Regelungen durch den Konsens der „chief of the inhabitants" 1 5 1 ). Für Provinzstädte sind die Angaben meist etwas detaillierter: in Chester etwa konnte via Ämterlaufbahn in die Exekutive aufgestiegen werden, und finanzielle Belange wurden durchaus öffentlich diskutiert 1 5 2 ). St Mary, Ely, scheint ein Groß- und Kleinratssystem praktiziert zu haben 1 5 3 ), während für Great St Mary, Cambridge, generell ein
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) Zum Beispiel Vestry Minutes (wie Anm. 52), 23. Januar 1647 und 9. Januar 1648. ) Carte Miscellanee (wie Anm. 93), no. 11. 148 ) Ebd., no. 83; während des Episkopates von William Laud (London: 1628-1633; Canterbury: 1633-1641) stellte sich die Kirchenhierarchie - wahrscheinlich aus Angst vor Entwicklungen in Richtung Presbyterianismus - plötzlich gegen die Einrichtung von select vestries: Hill, Puritanism (wie Anm. 48), 427. 149 ) GL, MS 3908/1: Vestry Minutes St Lawrence Pountney, 1. November 1615. 15 °) John Craig, Cooperation and Initiatives. Elizabethan Churchwardens and the Parish Accounts of Mildenhall, in: SocH 18 (1993), 371 f.; Eric Carlson, The Origins, Function and Status of the Office of Churchwarden with Particular Reference to the Diocese of Ely, in: Margaret Spufford (Hrsg.), The World of Rural Dissenters 1520-1725. Cambridge 1995, 183 f.). 151 ) CWA Yatton (wie Anm. 33), 1547-48 und 1587-88; CWA Boxford (wie Anm. 29), 28. März 1608. 152 ) Alldridge, Loyalty (wie Anm. 73), 109 (Beispiel St Oswald). 153 ) Beschlüsse sowohl durch alle Einwohner als auch nur die „best chargebearers": Holmes (Hrsg.), Churchwardens' Accounts (wie Anm. 49), 18, 41. 147
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Regiment durch select vestry angenommen wird 154 ). Die Quellensprache ist nicht eindeutig: Oft wird neutral vom „generali consent of the Company of this Parish" berichtet, manchmal suggestiv von der Zustimmung von „all & singular the parishioners" 155 ). Alle Pfarrgenossen hätten bei den im Chor abgehaltenen Versammlungen allerdings kaum Platz gefunden, und dazu finden sich Entscheide „by those whose names are under written" 156 ). Wie dem auch sei, die vestry war von der Gemeinde nicht scharf geschieden: Eine grobe Analyse der Unterschriften in einer Reihe von Beschlüssen zeigt, daß nicht nur die wohlhabendsten Pfarrgenossen mitbestimmten und daß bekanntermaßen einflußreiche Leute nicht immer unter den Signataren figurieren157). Insgesamt läßt sich in bezug auf die Ausführung der kommunalen Pflichten festhalten, daß breite Partizipation zwar nicht immer in die Frühneuzeit hinübergerettet werden konnte, die Gemeinde aber keinesfalls generell entmachtet wurde. Vielerorts war sie an Neuordnungen zumindest mitbeteiligt, und praktisch überall finden sich Hinweise auf die Relevanz oder Nachwirkung der alten Verfassung. Die englische Pfarrei liefert damit ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie die kirchliche Ortsverfassung zur weltlichen Gemeindebildung beitragen konnte 158 ). Konkret handelt es sich hier nicht um die Schaffung einer neuen territorialen Einheit, sondern um die allmähliche Ablösung einer vertikalen Form von Lokalverwaltung (via Grundherrschaft) durch eine horizontale Spielart 159 ). Eine amorphe Art Dorfgemeinde hatte es zwar in Form des vills schon seit dem Hochmittelalter gegeben, doch bot erst die Institutionalisierung und Politisierung der Pfarrei der ländlichen Gesellschaft eine Chance zum Ausbau ihrer Selbstverwaltung. Auch im städtischen Bereich, wo korporative Gemeindeformen bereits existierten, übernahm die Pfarrei oft weltliche und administrative Funktionen 160 ). Seit dem Spätmittelalter kann deshalb von einer eigentlichen Kommunalisierung der englischen Gesellschaft gesprochen 154
) Etwa im Archivkatalog des Cambridgeshire Record Office. ) Foster (Hrsg.), Churchwardens' Accounts (wie Anm. 52), 371 (1621) und 163 (1568). !56) Ebd., 458 (1633); Audit Book (wie Anm. 1), 1639. 157 ) Resultat eines Vergleichs von Beschlüssen zur Zeit der Umlagenschatzung von 1638/ 39: ebd. 158 ) Siehe etwa die vor allem mit (frühem) kontinentalem Material argumentierenden Studien von Leopold Genicot, Rural Communities in the Medieval West. Baltimore 1990, 105 („The parish was an important, probably the most important factor in the birth or maturation of the rural Community"), und Robert Fossier, Paysans d'Occident. Paris 1984, Kap. 2, 5 (Friedhof und Pfarrei erscheinen zwar nicht als primäre Wurzeln kommunaler Organisation, aber doch als wichtiger Impuls ab dem 10. Jahrhundert). 159 ) Christopher Dyer, The English Medieval Village Community and Its Decline, in: Journal of British Studies 33 (1994), 428 f. 160 ) Siehe die Aktivitäten der Londoner vestries oder die Quartierfunktion der Kirchgemeinden in Städten wie York: David Palliser, Tudor York. Oxford 1979, 77. 155
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werden 161 ), deren jeweilige Ausprägung als ein komplexes Zusammenspiel von obrigkeitlichen und lokalen Impulsen sowie „demokratischer" und oligarchischer Entscheidungsfindung zu verstehen ist. Als entscheidende Schübe können dabei die Übernahme kanonischer Pflichten und die Entwicklung einer kommunalen Steuerhoheit, vor allem aber auch die Verwaltung von Stiftungsgut und die spontane Expansion in weltliche Aktivitäten identifiziert werden. Die Reformationszeit, kombiniert mit ungünstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und dem energischen Führungsanspruch der Tudordynastie, verstärkte die zentralen Regelungs- und Kontrollmöglichkeiten sowie die Position der kommunalen Eliten. Der wichtigste Außeneinfluß war nun der Staat anstelle der Kirche, und die Pfarrei wurde in die Verwaltungspyramide integriert. Selbst in dieser proto-absolutistischen Atmosphäre bestand aber weiterhin lokaler Spielraum, sowohl in der Definition der kommunalen Aktivitäten wie auch in ihrer konkreten Ausführung 162 ). Geoffrey Elton, der grand old man der Tudorhistoriographie, hat in einem seiner letzten Essays mit Erstaunen davon Kenntnis genommen, daß man auch im England des 16. Jahrhunderts republikanische Spuren entdecken kann 163 ). Der vorliegende Aufsatz hat deshalb versucht, die Existenz kommunaler Selbstverwaltung auf eine breitere empirische Basis zu stellen, ohne dabei das pointiert monarchische Umfeld aus den Augen zu verlieren. Trotz zunehmender Bürokratisierung, Oligarchisierung und staatlicher Integration kann tatsächlich vom Fortbestehen vieler - verfassungsmäßig, religiös und politisch sehr unterschiedlicher - „Mikro-Republiken" ausgegangen werden 164 ), oder doch zumindest von einem weit verbreiteten Bewußtsein für horizontale und kommunale Ideale. Die Umwälzungen von Bürgerkrieg und Commonwealth verhalfen diesen vielerorts zum Durchbruch, verdankten ihnen aber auch manchen
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) Kümin, Shaping of a Community (wie Anm. 21), Epilog. ) Den Zentralisierungsschub „von oben" betonen Redlich/Hirst, Local Government (wie Anm. 14), 23, und Davies, Bäuerliche Gemeinde (wie Anm. 4); Kent, State Formation (wie Anm. 19), unterstreicht dagegen kommunale Anforderungen an die Obrigkeit. Gemeindeinitiativen hatten allerdings keineswegs nur staatsbildenden Effekt, sondern dienten oft wie etwa die von Great St Mary gegen die Cambridger justices geführte Kampagne gezeigt hat - der Verteidigung ihrer zunehmend eingeschränkten Autonomie. 163 ) Rezension von Patrick Collinson, Elizabethan Essays. London 1994, in: JEcclH 4 6 (1995), 366 f: „Collinson's inaugural address as Cambridge's Regius Professor astonished at the time by his discovery of what he called republican possibilities within the Tudor Kingdom [d.h.] the possibility of local self-government (in tiny republics) by the elders of small communities in areas where there was neither aristocracy nor gentry to run things". 164 ) Den spezifischen politischen Charakter einzelner Pfarreien betont etwa Alldridge, Loyalty (wie Anm. 73), für Chester. Für eine analytische Diskussion der zahlreichen innerkommunalen Spannungsfelder und Variablen siehe Keith Wrightson, The Politics of the Parish, in: Paul Griffiths u.a. (Hrsg.), The Experience of Authority in Early Modern England. Basingstoke 1996, Kap. 1. 162
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theoretischen Impuls 165 ). Mit der Restauration schwang das Pendel wieder zurück, doch blieb die Pfarrei - bis weit ins 19. Jahrhundert - einer der dynamischen Grundpfeiler des englischen politischen Lebens 166 ).
165 ) Für den Einfluß kommunaler Realitäten auf das Leveller-Progamm siehe Beat Kümin, Gemeinde und Revolution, in diesem Band. 166 ) Webb/Webb, Parish (wie Anm. 17), 172 („Tod" der Pfarrei im 19. Jahrhundert).
Teil II Die Formbarkeit des Staates - Experimente mit Suppliken
Laufen gen Hof Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit Von
Renate Blickle
1. Die weiße Stute der Gret Replin - zum Stand der Dinge Hans Schuster aus Saulgrub im Ammergau berichtet als Zeuge von einem Vorfall, der sich um das Jahr 1500 dort ereignet hat, folgendermaßen: „Als Grethn Replin von Seun nach absterben irs manns, Hanns Schmälzeis, ain weisse stuet durch des von Raitenpuech diener auf der waid zu todtfall genomen worden, sey der Finsterle mit derselben Grethn gen hof gangen und solches clagt, und als sy widerumben anheimb khumen, hab derselb Finsterle dises zeugens vater gesagt, welches er zeug auch angehört, wie bemelte Replin ain geschefft an den von Raitenpuech erlanngt, er soll ir ir roß widerumben zustellen" 1 )- Die Zeugenaussage - eine von zehn, wobei noch in zwei weiteren von Gret Replins weißem Pferd und ihrer Beschwerde am herzoglichen Hof in München berichtet wird - sollte einen Streit um die Verpflichtung zur oder die Freiheit von der Todfallabgabe der Ammergauer Bauern klären helfen. Hier wird sie ihrem Zweck entfremdet als ein Bericht über bäuerliche Handlungsräume gelesen. Man sieht eine Ammergauer Witwe mit ihrem Anliegen und männlichem Beistand die Stufen herrschaftlicher Ordnung kurzerhand überspringen und deren Spitze erreichen. Gret Replin umging die lokale Obrigkeit ebenso wie den landesfürstlichen Beamten in der Region und nahm Beschwernis und Kosten einer mehrtägigen Reise auf sich, um in die entfernt gelegene Residenz zu gelangen. Dort erwirkte sie, so hört man, ein „geschefft" - in ihrem Fall vermutlich das Gebot an den beklagten Propst, auf die vorgebrachte Beschwerde zu antworten. Sie muß demnach am Hof einen Ort gefunden haben, wo sie ihren Fall vortragen konnte, wo man zuständig für derlei Personen und Affären war und zudem die Kompetenz hatte, einzugreifen. Das Vorgehen der Bäuerin wurde - auch das zeigt die Schilderung - weder ') Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Klosterurkunden (KU) Ettal 292; 1530 XI.23. - „Seun" = Bayersoyen; „der von Raitenpuech" = der Propst des Augustiner Chorherrenstifts Rottenbuch. Das Kloster hatte Besitzungen im Ammergau.
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von ihren Nachbarn auf dem Land, noch von den Leuten am Hof für sensationell gehalten; sie werden es als durchaus im Rahmen der bekannten Möglichkeiten vermerkt haben. Gret Replin folgte, als sie mit ihrer Beschwerde „gen H o f zog, keinem spontanen Einfall, sondern - so die hier vertretene These einem vertrauten Handlungsmuster. Die Existenz dieses Musters plausibel zu machen, es zu beschreiben und seine Bedeutung zu bedenken, ist denn auch die erste Aufgabe dieses Beitrags. Dabei wird es nötig sein, in etwas umständlicher Manier Begebenheiten und Verfahrensabläufe aus den Quellen vorzustellen; denn über die spätmittelalterliche zentral organisierte Beschwerdepraxis wird in der Literatur, soweit ich sehe, kaum etwas berichtet, und was Bayern anbelangt, so wurde ihr Vorhandensein mit Verweis auf die fehlenden Quellenzeugnisse ausdrücklich bestritten. Eduard Rosenthal, der Altmeister der bayerischen Gerichts- und Verwaltungsgeschichte, fand, wie er betont, keine Belege dafür, „daß die Untertanen sich vielfach an den Landesherrn statt an das Gericht zur Beilegung ihrer Streitigkeiten gewendet" haben würden 2 ). Einen Zugang zu entsprechenden Quellen erschloß erst die Frage nach den politischen Handlungsmöglichkeiten der Untertanen, insbesondere nach der Existenz und den Formen bäuerlichen Widerstands. Im späteren 15. Jahrhundert begann im deutschsprachigen amtlichen Schriftgut das Wort „Supplikation" als Terminus technicus im Beschwerdebereich vorzudringen. In der Folgezeit wurden die schriftlich und mündlich vorgetragenen sehr verschiedenen Anliegen, Beschwerden, Klagen oder Bitten, die Untertanen an ihre Obrigkeiten richteten, gewöhnlich mit diesem Begriff bezeichnet. Hier ist daher auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Supplikenwesen" kurz anzusprechen. Aus dem weltlichen Bereich findet man für das Mittelalter nur einige knappe Hinweise zum Supplikationswesen am deutschen Königshof 3 ). Auch die Forschung für die frühe Neuzeit verharrt in einem Anfangsstadium und ist mit dem Namen Helmut Neuhaus nahezu erfaßt 4 ). Werner Hülles mehr als zwanzig Jahre alte Situationsbeschreibung, wonach es sich bei der Supplikation um eine „im Dunkeln liegende Rechtsfigur" handele 5 ), trifft auf weite Strecken noch heute zu und ist von historischer 2
) Eduard Rosenthal, Besprechung: Adolf Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung. 2. Bd. Berlin 1910, in: ZRG GA 31 (1910), 522-561, 538; ders., Das bairische Hofgericht und das Hofgeding, in: VSWG 11 (1913), 4 1 5 ^ 4 4 , 419. 3 ) Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1977, 85 f. 4 ) Ebd.; ders., Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert. Teil I und II, in: HessJbLG 28 (1978), 110-190 und 29 (1979), 63-92. Das Fehlen historischer Forschung zum Thema bemerkte auch Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat abgehandelt am Beispiel des Petitionswesens. Hamburg 1965, 11. Vgl. zum Stand der Literatur Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden, 267-271 in diesem Band. 5 ) Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: ZRG GA 90 (1973), 194-212, 194.
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Seite dahingehend zu ergänzen, daß es sich nicht nur um eine unbeleuchtete Rechtsfigur, sonden um einen wissenschaftlich nicht ausgeleuchteten sozialen Aktionsraum handelt. Da das Supplikenwesen jedoch aus metahistorischer Perspektive für ein ubiquitäres Merkmal von Staatlichkeit gehalten wird - es sei „geradezu konstitutiv für den Staat", zu „allen Zeiten und in allen Staatswesen" anzutreffen 6 ), sei „selbstverständlich" 7 ) oder „naturwüchsig" 8 ) - gibt eine Untersuchung der spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis nebenbei Auskunft über den Entwicklungsstand der Staatlichkeit. Als die bekannten institutionalisierten Möglichkeiten der Artikulation und der Interessenwahrnehmung, die dem einzelnen oder Gruppen von Untertanen in vorkonstitutioneller Zeit offen standen, gelten auf Landesebene die Vertretung auf Landtagen - soweit gegeben 9 ) - und durchgängig der Gerichtsweg, als ultima ratio kommen der handgreifliche Protest, Widerstand und Verweigerung in unterschiedlichen Formen hinzu 1 0 ). In Bayern war die große Menge der Untertanen, nämlich die Landbevölkerung, auf Landtagen nicht vertreten. Sie kam folglich dort auch nicht zu Wort. Es blieb theoretisch also der Gerichtsweg, er war tatsächlich jedermann zugänglich, wobei selbstverständlich die Zuständigkeiten zu beachten waren, die sich meist aus dem Stand und Wohnort der Parteien oder der Lage des streitigen Objekts ergaben. Das spezifische Problem einer ständisch gestuften Sozialordnung, die rechtliche Auseinandersetzung mit einem Übergenossen - dem Angehörigen eines höheren Standes - und insbesondere mit dem eigenen Herrn, war derart organisiert, daß Adel und Prälaten ihren privilegierten Gerichtsstand vor dem landesherrlichen Hofgericht hatten, wohin nach herrschender Lehre auch der Rechtszug 1 1 ) mit „Geding" und „Appellation" aus Land-, Stadt- und Hofmarksge6
) Neuhaus, Reichstag (wie Anm. 3), 97; ders., Supplikationen 1 (wie Anm. 4), 114; Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 5), 200. Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Berlin 1908, 1. 7 ) Dietmar Willoweit. Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. 1. Bd. Stuttgart 1983, 2 8 9 - 3 4 6 , 310; Neuhaus, Supplikationen I (wie Anm. 4), 113 f. 8 ) Zum Vorschlag, das Petitionsrecht der Arbeiter als „naturwüchsiges" Phänomen zu verstehen: Klaus Tenfelde, Einleitung. Beschwerden der Arbeiter. Arbeit und Politik im Spiegel proletarischer Dokumente, in: ders./Helmuth Trischler (Hrsg.), „Bis vor die Stufen des Throns". Bittschriften und Beschwerden von Bergarbeitern während der Industrialisierung. München 1 9 8 6 , 9 ^ 3 , 11 f. 9 ) Gerhard Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Berlin 1980, 2 5 3 - 2 7 1 . 10 ) Zusammenfassend zu diesem Forschungsbereich: Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. München 1988; zuletzt: Helmut Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien ( 1 6 4 8 - 1 7 9 4 ) . Tübingen 1995. 11 ) Jürgen Weitzel, Art. „Rechtszug", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 4. Bd. Berlin 1990, 4 3 0 - 4 4 3 .
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richten ging, und Beschwerden über die Amtsausübung landesherrlicher Beamter sowie über Justiz Verweigerung gerichtet wurden 12 ). Die skizzierte relativ klare Kompetenzgliederung verliert, gerade was die Aufgaben des Hofgerichts angeht, bei der Betrachtung konkreter überlieferter Vorgänge viel von ihrer Deutlichkeit. Das referierte Schema des ordentlichen Gerichtswegs erfaßt die Praxis des Beschwerens nicht und blendet notwendig den Bereich der „Ausrichtung", des Verhandeins, des gütlichen Vergleichens und des schiedlich-rechtlichen Entscheidens aus. Die Mehrgleisigkeit der rechtlichen Streiterledigung insgesamt und insbesondere die am landesherrlichen Hof wird infolgedessen eher verschwommen registriert, der Beschwerdeweg als eigener starker Strang des Einflusses auf die Entwicklung im Land bleibt unkenntlich. Hier liegt nicht nur ein perspektivisches Problem vor - die Fixierung auf das ordentliche Gerichtswesen - , sondern ebenso eine Schwierigkeit in der Überlieferungssituation. Die Menge der kleinen „täglichen Händel", wegen welcher man im späten Mittelalter „gen H o f gelaufen sein mag, läßt sich nicht konkret nachweisen. Allenfalls Zufallsfunde wie Gret Replins Geschichte, die im Kontext größerer Beschwerdeaktionen stehen, erlauben ab und an einen flüchtigen Blick in das große Dunkel. Die Quellenlage resultiert einmal aus der im 15. Jahrhundert noch vorherrschenden Mündlichkeit im Verkehr bei Gericht und in der Verwaltung 13 ), ebenso aber aus der geringen Bedeutung, die jedem einzelnen der Vorgänge für sich genommen zukam. Die meisten erschöpften sich im Tagesgeschehen, wo man besonders wenig schrieb, und gelegentlich doch anfallende Schriften bewahrte man nicht auf. Noch im 16. Jahrhundert wurden Rezesse von der Hofkanzlei nur auf Antrag einer Partei ausgefertigt, und was so alltägliche Schreiben wie Supplikationen und ihre administrativen Begleitschriften anging, so gebot die herzogliche Instruktion dem Registrator der Hofkanzlei 1566 ausdrücklich, sich der Menge durch systematische Ausmusterung zu entledigen 14 ). Das Material für diesen Beitrag stammt großteils aus klösterlichen Archivbeständen und entstand im Kontext bäuerlicher Unruhen. Es handelt sich um Berichte von drei benachbart wohnenden Bauernschaften im Teilherzogtum Bayern-München, der „Hausgenossenschaft" der Bauern des Stiftes Rotten12 ) Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang. Köln/Wien 1971, 5 9 - 9 2 ; Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baiems. 2 Bde. Würzburg 1889/1906, ( N D Aalen 1968), B d . l , 108-153. 13 ) Zur Mündlichkeit im spätmittelalterlichen Gerichtsverfahren: Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12), 212 f., 458. Zur Entwicklung des Verwaltungsschriftguts: Joachim Wild, Die Fürstenkanzlei des Mittelalters. Anfänge weltlicher und geistlicher Zentralverwaltung in Bayern. München 1983. 14 ) Hofrats-Kanzleiordnung vom 14.XI.1566, in: Manfred Mayer (Hrsg.), Quellen zur Behörden-Geschichte Bayerns. Die Neuorganisationen Herzog Albrecht's V. Bamberg 1890, 143.
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buch, der Bauernschaft im Ammergau, die dem Kloster Ettal unterstand, und der Gemeinde der Bauern in der Pfarrei Steingaden, die zum gleichnamigen Kloster gehörte - alles in allem damals etwa 800 Haushalte. In die Schilderung werden Quellenbegriffe, die Signalfunktion für die Art und die Form der Verfahren haben, mit aufgenommen. Nach einer kurzen Erörterung der Verfahrensvarianten, die dabei zutage treten, und Überlegungen zur Position des Landesherrn als „oberster Richter" wird die Situation am Hof betrachtet und von den Wirkungen des „Laufens gen H o f auf die Institutionalisierung des Regiments berichtet. Abschließend wird die Kontinuität koexistierender ordentlicher gerichtlicher und extrajudizialer Verfahren in der frühen Neuzeit angesprochen.
2. Laufen gen Hof - Skizzen zur zentralisierten spätmittelalterlichen Beschwerdepraxis Am Georgentag des Jahres 1418 befahl Herzog Wilhelm III. in München, einen Brief an die Nachbarschaft der Bauern in Rottenbuch zu schreiben 15 ). Die Rottenbucher und ihre Streitigkeiten mit dem Stift waren ihm seit langem bekannt, denn seit einem Vierteljahrhundert kamen die Bauern oder die Pröpste regelmäßig alle paar Jahre mit ihren wechselseitigen Beschwerden an den herzoglichen Hof: Zuerst - 1393 - waren die Vertreter der Bauernschaft vor seinem Vater erschienen und hatten wegen der Fronforderungen und der Erbansprüche Propst Heinrichs an ihre fahrende Habe geklagt. Herzog Johann hatte damals den Propst zu sich nach München gerufen und beide Seiten, die ebenfalls her beorderten Bauern und den Herrn, „von wort ze wort verhört" und sie daraufhin veranlaßt, „hinter" ihn zu gehen, das heißt, sich bereit zu erklären, den Schiedsentscheid, den er zu treffen beabsichtigte, anzunehmen und auszuführen. Der Spruch war dann erteilt und seine Einhaltung unter Strafandrohung für beide Seiten befohlen worden 16 ). Man hatte über den Vorgang eine Urkunde zweifach ausgefertigt und jeder Partei ein mit dem herzoglichen Siegel versehenes Exemplar ausgehändigt 17 ). - Dann, während Herzog Wilhelms 15 ) BayHStA, Klosterliteralien (KL) Rottenbuch Nr. 47a, fol.3; 1418 IV.23. Zur Ausbildung der Verwaltungskorrespondenz in Bayern: Wild, Fürstenkanzlei (wie Anm. 13), 9 f., 62, 121. 16 ) Zum Schiedsverfahren in Bayern: Michael Kobler, Das Schiedgerichtswesen nach bayerischen Quellen des Mittelalters. München 1967, 84 f., 9 3 - 9 6 ; Wolfgang Sellen, Art. „Schiedsgericht", in: Handwörterbuch (wie Anm.l 1), 1386-1393. 17 ) BayHStA, Kurbaiern Urkunden Nr. 18378; 1393.IX.13. Druck: Monumenta Boica (MB). 8. Bd. München 1767, 83 f.; Renate Blickte, „Spenn und Irrung" im „Eigen" Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des AugustinerChorherrenstifts, in: Peter Blickle (Hrsg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, 6 9 - 1 4 5 , 8 1 - 8 4 .
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nun schon seit zwanzig Jahren gemeinsam mit Herzog Ernst, seinem älteren Bruder, geführten Regiments, waren die Pröpste mehrmals nach München gereist und hatten sich darüber beschwert, daß, wie sie behaupteten, die Bauern die Bestimmungen des Spruchbriefs von 1393 nicht einhielten: Im November 1403 hatte Herzog Ernst daher an die „lieben besundern" - die Bauernschaft geschrieben und sie seiner Gnade versichert, aber zugleich streng geboten, den alten herzoglichen Schiedsspruch strikt zu vollziehen 18 ). - Sechs Jahre später, Ende November 1409, hatte er, Herzog Wilhelm, gemeinsam mit seinem Bruder aus München ein schriftliches und gesiegeltes Gebot nach Rottenbuch geschickt, in dem der Bauernschaft ernstlich befohlen wurde, dem Propst gehorsam zu sein und den Spruchbrief einzuhalten 19 ). - 1413, auf neuerliches Monieren des Rottenbucher Propstes in München hatten die Herzöge schriftlich bei ihrem beamteten Pfleger im nahen Landsberg Erkundigung darüber eingezogen, was es mit den Abgabenverweigerungen in der Gegend, insbesondere im benachbarten Peiting, auf sich habe 20 ). Dieses Mal nun - um zum Anfang zurückzukehren - im Frühjahr 1418, waren es zwei verwitwete Bäuerinnen gewesen, die sich über die Zwangsdienstforderungen, die der Propst an ihre Kinder stellte, beschwert hatten. Herzog Wilhelm hatte den Propst vor sich gerufen und der Klagen wegen überhört. Jetzt ordnete er an, der „nachparschaft gemainlich zu Raitenpuch und sunderlich der Mairinn von Laytten und der Stroblin" zu schreiben, ihnen seine Gnade zu entbieten und darzulegen, der Propst habe sein Vorgehen als herkömmlich bezeichnet und darauf verwiesen, daß auch zwölf andere Rottenbucher derzeit im Meierhof arbeiteten, weshalb er, Wilhelm, ihren Protest für unbillig halte 21 ). Als es nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zu neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und dem Kloster kam, gingen die Rottenbucher in gewohnter Weise nach München. Sie wandten sich, wie es in ihrer Klageschrift heißt, an den Landesherrn „als den obersten und rechten Erbherr und Fürst" 22 ) oder - wie eine Einzelklage über die verletzte Ehre ihrer Töchter begründet wird - an den Fürsten „als den obersten Vogt und Herrn", von dem allein sie Hilfe erwarten könnten 23 ). Sie trugen ihre Beschwerden artikelweise vor, dabei schilderten sie allerdings mehr Zustände, als daß sie gerichtsförmige Anklagen formuliert hätten. Das Antwortschreiben des Propstes ging •8) BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 1'; 1403 XI.28. 19 ) BayHStA, KU Rottenbuch 1409 XI.26. Druck: MB (wie Anm. 17), 86f.; Karl-Ludwig Ay (Bearb.), Altbayern von 1180 bis 1550. Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern 1,2. München 1977, 445 f. 20 ) BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 3; 1413 IX.22. 21 ) Ebd.; 1418 IV.23. 22 ) Ebd., fol. 3-4'; undatiert (vor 1466). Es handelt sich bei diesem Schreiben um die älteste mir bekannte bäuerliche Beschwerdeschrift aus Bayern. 23 ) Ebd., fol. 4'.
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Punkt für Punkt darauf ein und anschließend zu Gegenklagen über 24 ). Neben diesen schriftlich niedergelegten Streitpunkten wurden noch weitere bei mündlichen Unterhandlungen erörtert. Auf den 28. Juni 1466 hatten die Herzöge Sigmund und Albrecht IV. die Parteien vor sich und die Räte zur Tagsatzung nach München geladen. Es erschienen sechs Rottenbucher als „volmachtig answälde und sendtboten" der Bauernschaft und Propst Georg, der für sich und seinen Konvent sprach. Der Spruchbrief von 1393 und die Klage- und Antwortschreiben lagen vor, als man sie nun „gegeneinander" verhörte. Die Herzöge und Räte redeten den Streitenden zu, bis diese sich mit einer schiedlichen Entscheidung einverstanden erklärten. Bauern und Propst gelobten mit „handt gegebben trewen" zu akzeptieren, was Herzöge und Räte „gütlich entschaiden und zwischen in sprechen" würden 25 ). Den daraufhin erteilten Spruch ließen die Herzöge „als regierendt fürsten" mit dem Sekretsiegel und mit einer Strafandrohung versehen doppelt ausfertigen. Etwa anderthalb Jahre später, in der Fastenzeit 1468, meldeten sich die Sendboten der Bauern neuerlich bei den herzoglichen Anwälten und Räten in München und baten um Erläuterung des ergangenen Entscheids. Die Räte kamen dem nach; und in einem Brief Herzog Albrechts IV. wurde der Bauernschaft mitgeteilt, was ihren Abgeordneten mündlich dargelegt worden war. Man forderte sie auf, ihre Beschwerden schriftlich abzufassen, damit der Propst informiert und seinerseits angehört werden könnte. Falls es erforderlich werden würde, sollte ein Termin bestimmt werden, an dem beide Seiten gehört und die gewünschte Erklärung abgegeben werden könnte 26 ). Die Klageschrift lag am 4. April in München vor. Die Bauern nannten darin ihre Anliegen und baten, den Propst schriftlich zu einem ihnen und ihm „genantn tag für ewr fürstlich gnad und gnaden rat" vorzufordern. Sie würden, heißt es abschließend, dort ihre Beschwerden vorbringen, und versprachen, dies zu „verdienen", indem sie, so lange sie lebten, Gott um ein langes Leben für den Fürsten bitten würden 27 ). Herzog Albrecht befahl den „clagzedel" an den Propst zu senden und kündigte diesem im Begleitbrief an, er beabsichtige, einige Mitglieder seines Rates, denen er befehlen werde, den Propst und die Bauern „gegeneinander" zu verhören, in der Osterwoche nach Rottenbuch zu schicken. Er werde sich dann darüber Bericht erstatten lassen, um die Sache weiter zu behandeln, wie es sich gebühre. Der Propst solle die Bauern von dem Vorhaben in Kenntnis setzen 28 ). Die Auseinandersetzung muß noch im Laufe des Jahres 1468 auf den or24
) ) ) 27 ) 28 ) 25 26
Ebd., fol. 4 - 5 ' ; undatiert. Zu dieser Form des Gelöbnisses: Köhler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16), 99. BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 15; 1468 III. 12. Ebd., fol. 16 f. Ebd., fol. 15'.
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dentlichen Gerichtsweg eingeschwenkt, das heißt, an das Hofgericht gelangt sein. Denn als Propst Georg Anfang September ein Notariatsinstrument über die klösterlichen Urkunden und Salbücher anfertigen ließ, befand er sich „in hangender Rechten" 29 ). Auch die Vollmacht, die von einhundert Rottenbuchern auf herzoglichen Befehl am 12. März 1469 „dem Riegermair, Jungweißkopf und Hans Engel als von des Rechtes wegen" schriftlich erteilt wurde und sich auf „alles zu gewin zu Verlust und zu allem rechten" erstreckte, spricht von den „anhengenden rechten" und von der Gewalt, deren man „im rechten notturftiklich" sei 30 ). In seiner Antwort und Gegenklage weist Propst Georg, dem es um die Behauptung seines freien Stiftrechtes über die Bauerngüter ging, nachdrücklich darauf hin, daß er in dieser Frage niemals und vor niemandem einem „Hintergang" zugestimmt hätte31)» sondern als ein „clager in recht" stünde, und er „setzte" seine Behauptungen „mit allem herkommen zu [...] rechtlichen Spruch" 32 ). Mitte August 1469 setzte Herzog Albrecht IV. dem Propst und den Bauern einen Rechtstag vor den Räten in München und befahl ihnen, am 28. September in der Stadt „zunacht an der herberg zu sein und furo dem rechten und sollicher Öffnung der urtail zu warten" 33 ). Dazu ist es jedoch nicht gekommen, und „in seiner gnaden abwesen ditzmal zu München" schrieben sein Hofmeister und seine Räte Anfang Dezember abermals an Propst und Bauern und setzen ihnen „an stat des benannten unnsers gnadigen Herrn als Anwalte" auf den 11. Januar 1470 „widerumb ain rechttag für sein genaden Rate gen München" 34 ). Der Brief ist mit dem herzoglichen Sekretsiegel versehen. Auch dieser Tag vor dem Hofgericht führte zu keinem Urteil. Ob bereits damals der Abbruch des ordentlichen Gerichtsprozesses vor dem Hofgericht beschlossen wurde oder der Entschluß erst in der Zeit danach heranreifte, ist heute nicht mehr zu klären. Jedenfalls hatten die gegnerischen Parteien noch im Frühjahr ihre Zustimmung für den Übergang der Angelegenheit auf den gütlich-rechtlichen Weg erteilt. Der Streit sollte von Herzog und Räten mit einem Entscheid oder Abschied beendet werden, und Herzog Albrecht IV.
29) Ebd., fol. 7-8', 7'; 1468 IX.2. 30 ) Ebd., fol. 20'f.; 1468 III. 12. Der Gewaltbrief des Rottenbucher Konvents vom November 1469 bevollmächtigte drei Mitbrüder als „procuratores vor dem recht und allem recht" zu handeln, ebd., fol. 21. 31 ) Der Propst nimmt Bezug auf die Bestimmungen über Schiedsrichter im Oberbayerischen Landrecht, Art. 24 bis 28. - Max Frh. von Freyberg (Hrsg.), „Kayser Ludwigs Rechts-Buch. 1346", in: Sammlung historischer Schriften und Urkunden. 4/3. Bd. o.O. 1834, 385-498. 32 ) BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 1 6 - 2 0 . 33 ) Ebd., fol. 21; 1468 VIII. 12. 34 ) Ebd., fol. 21'. Vgl. unten S. 261 zu diesem Vorgang die Bestimmungen der Regierungsordnung von 1466, die den Behördencharakter des Rates begründete.
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setzte Propst und Bauern auf den 4. Juli einen neuerlichen Tag in München „für uns und unns rät" 35 ). Der Konflikt wurde durch einen „Spruch" Herzog Albrechts in Anwesenheit und mit dem Rat des Hofmeisters und weiterer sieben Räte, darunter des Kanzlers, abgeschlossen. Der Herzog verwies dabei auf die vorausgegangenen Handlungen, die „in recht" vor ihn und seine Räte gebracht worden waren, sowie auf die beiderseits vorgetragenen Klagen, Antworten, Reden und Widerreden, über die man die Parteien verhört habe und fuhr dann fort, er habe sich „als ir baider herr und lanndtfurst" um Propst und Bauern bemüht und sie dazu bewegt, daß sie ihren Streit gänzlich „in der guttigkhait" an ihn übergeben hätten, und für sich und ihre Erben zugesagt hätten, ohne Widerrede zu vollziehen, was er „in der gutikayt zwischen ir sprechen setzen und entschaiden" werde. Die anwesenden Bauernvertreter gelobten das „mit hant gegeben trewen". Alle früher ergangenen Sprüche wurden aufgehoben. Wie üblich erfolgte die Ausfertigung des Spruchbriefs doppelt unter dem herzoglichen Sekretsiegel 36 ). Die Bauernschaft im Ammergau, die südlich des Rottenbucher Eigengebiets wohnende Nachbarschaft, hatte schon früh, nämlich im April 1330, ihre Abgesandten an den Hof geschickt, allerdings nicht, um Beschwerde zu führen, sondern um für die Zukunft vorzusorgen. Die Ammergauer hatten wegen der Pläne Ludwigs des Bayern, in ihrer unmittelbaren Nähe und wohl auf ihnen zugehörendem unbebauten Areal das Kloster Ettal zu gründen, Garantien ihres persönlichen Status und ihrer Güterrechte verlangt und erwirkt 37 ). Zwei Jahre später erhielten sie ebenfalls in München das Recht einer Warenniederlage in ihrem Dorf zugesprochen 38 ). Mit diesen Dokumenten sind sie in den folgenden Jahrhunderten - erstmals 1352 39 ) - regelmäßig zur landesherrlichen Kanzlei gereist, um sie bestätigen zu lassen. Die Vogtei und andere Herrenrechte im Ammergau waren 1330/48 an das Kloster Ettal übertragen worden, das Verhältnis zwischen Bauern und geistlichen Herren gestaltete sich in den folgenden Jahrhunderten sehr konfliktreich. 35
) BayHStA, KL Rottenbuch Nr. 47a, fol. 21'. ) BayHStA, KU Rottenbuch 1470 VIII. 13. - Im Mai 1498 bat die Gemeinde Rottenbuch die herzoglichen Räte in München, zu „vernehmen", daß der Propst ungewöhnliche Straßenbaufronen von ihr verlange. Das Schreiben wurde am 15.V. von den Räten zur Stellungnahme an den Propst gesandt. BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4143, fol. 152. 37 ) Am 23.IV. 1330 befreite Kaiser Ludwig der Bayer zu seinem Seelenheil die Bauernschaft im Ammergau vom Todfall. Insert in: BayHStA, KU Ettal 292; 1530 XI.23. Die Erbrechtsgarantie in: Monumenta Boica. 7. Bd. München 1766, 232f.; 1330 IV.23.; Ay, Altbayern (wie Anm. 19), 444f.; Joseph Alois Daisenberger, Geschichte des Dorfes Oberammergau, in: Oberbayerisches Archiv 20 (1859/61), 53-244, 71, 76; Renate Blickte, Die Tradition des Widerstands im Ammergau. Anmerkungen zum Verhältnis von Konflikt- und Revolutionsbereitschaft, in: ZAA 35 (1987), 138-159. 38 ) BayHStA, KL Ettal Nr. 45, unfol.; 1332 XI.10. 39 ) Ebd.; 1352 IV.25. 36
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Beide Seiten wandten sich mit ihren Beschwerden an den Münchner Herzogshof. Zunächst kamen Klagen über die Bauern vor den Landesherrn, im November 1352 erging daraufhin ein gesiegeltes Schreiben aus München an die „bauren und die gantze gemain, die in dem Tal zeu Ammergau gesezzen sind", mit dem Gebot, dem Abt von Ettal „gehorsam" zu sein 40 ). Zu Beginn des Jahres 1393 beschwerte sich der Abt wegen der von den Ammergauern nicht korrekt entrichteten Herbststeuer. Herzog Johann, der sich des Problems annahm, schrieb aus München an den Abt, er sei „mit seinem rath darob gesessen" und habe „erkhannt", daß dem Gotteshaus Unbilliges widerfahre 41 )Damit dürfte jedoch die Angelegenheit nicht bereinigt gewesen sein, denn 1405 mußte die Steuerfrage noch einmal aufgegriffen werden. Sie war offenbar auch nur ein Punkt in einem breiten Spektrum von Kontroversen. Zu deren Beilegung reisten die Bevollmächtigten der Ammergauer Bauernschaft und des Abtes von Ettal Anfang Dezember nach München und erklärten sich beiderseits vor den Herzögen Ernst und Wilhelm III. und ihren Räten bereit, Entscheidungen, die diese aussprechen würden, zu befolgen. Am Sankt Nikiausabend wurde der Schiedsspruch dann niedergeschrieben, mit den herzoglichen Siegeln versehen und je ein Exemplar der Urkunde an die Parteien ausgehändigt 42 ). Daß jetzt der Friede im oberen Ammertal einkehren würde, war auch deshalb nicht sehr wahrscheinlich, weil es zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der ganzen Gegend rumorte. So ist denn einem Brief, den Herzog Ernst am 18. Dezember 1407 aus Starnberg an die Bauernschaft im Ammergau richtete, folgender Sachverhalt zu entnehmen: Abt Konrad von Ettal hatte sich bei Hof über Scharwerksverweigerungen der Ammergauer beschwert, woraufhin die Herzöge für beide Parteien eine Tagsatzung nach München auf den 18. Dezember anberaumt hatten. Da die Landesherren selbst nicht termingerecht erscheinen konnten, hatte Herzog Ernst von Starnberg aus, wo er sich an diesem Tag aufhielt, Boten nach München gesandt, um die Vorgeladenen zu benachrichtigen und zu sich zu rufen. Es hatte sich gezeigt, daß nur der Ettaler Abt gekommen, von den Bauern aber niemand angereist war. Der Fall war trotzdem verhandelt worden. Herzog Ernst und seine Räte hatten sich „über" den Spruchbrief von 1405 „gesetzt" und gemeinsam „erkannt", daß die Ammergauer dessen Bestimmungen nicht erfüllt hätten und dem Herkommen nach zu den von ihnen verweigerten Heufronen verpflichtet seien. Das „Erkenntnis" teilte der Herzog den Ammergauern nun schriftlich mit und befahl zugleich, die Arbeiten zu erledigen. Dagegen war Einspruch zugelassen. Der Herzog er-
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) BayHStA, KU Ettal 1352 XI.24. ) BayHStA, KU Ettal 1393 11.10. Druck: MB (wie Anm. 37), 268f. 42 ) BayHStA, KU Ettal 1405 XII.5.; Druck: MB (wie Anm. 37), 269-272; Johann Georg von Lory, Der Geschichte des Lechrains zweyter Band, Urkunden enthaltend. München 1765, 97f. 41
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klärte schon jetzt seine Bereitschaft, eine „kuntschaft" für beide Seiten erteilen zu wollen, falls die Ammergauer den Sachverhalt anders beurteilten 43 ). Das Ritual der Starnberger Verhandlungen läßt im Modus der Entscheidungsfindung Elemente erkennen, die an die Arbeitsweise des späteren landesherrlichen Hofrats erinnern 44 ). Es ist eine Mehrzahl von Personen, die zusammentritt, in gerichtsförmiger Art „setzt" man sich zur Beratung nieder und „erkennt", was rechtens ist und zu geschehen habe. Doch scheint das Regiment noch persönlich zu sein, ohne die Anwesenheit des Herzogs kann die Tagsatzung offenbar nicht stattfinden. Die herzogliche Bereitschaft, eine Kundschaft für Bauern und Abt erteilen zu wollen, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Jahre später, im Mai 1432, ritt Herzog Ernst, als er sich zur Jagd in der Gegend aufhielt, tätsächlich im Ammergau über die Weiden und markierte die Grenzlinie, die fortan Klosterwiese und Bauernwiese schied. Diese Kundschaft wurde der Form nach als Hintergang beschrieben, den der Abt und die Oberammergauer Bauernschaft getan hatten, und als Spruchentscheid, den daraufhin der Landesherr getroffen hatte, beurkundet 45 ). Zu Beginn des Jahres 1444 hatte Herzog Albrecht III. einen Termin für eine Tagsatzung vor seinen Räten in München zur Behandlung der neuerlichen Streitigkeiten zwischen der Ammergauer Bauernschaft und dem Ettaler Abt anberaumt. Das erwies sich jedoch als unnötig, weil die Kontrahenten mit Hilfe ihrer örtlichen Nachbarn einen Vergleich hatten schließen können. Diesen Vertrag brachten sie anschließend nach München, um ihn von „irn rechten landsfursten vnd erbherrn" bestätigen zu lassen. Der Herzog erfüllte die Bitte „nach rath unserer räth und getreuen", wie er schreibt, und siegelte für beide Teile gleichlautende Briefe 46 ). Als in der Zeit um 1500 neuerlich ernstliche Auseinandersetzungen zwischen den Ammergauern und Ettal ausbrachen, waren Herzog und Räte in München also längst zum strategischen Fixpunkt aller Streitenden im Ammertal geworden. Die Bauern sandten ihre Vertreter nach München, damit sie ihre 43
) BayHStA, KL Ettal Nr. 10,11, unfol. Die betreffende Stelle lautet: „Also sein wir mit unßn reten ob dem spruch gesessen den wir und unßer bruder vor zwischen ewr zu baiderseit nach eurem willen gesprochen [...] und chunnen darum nit anders versteen noch erchennen [...]". 44 ) Zur Arbeitsweise des Hofrats: Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598-1651). München 1981, 100-112. 45 ) BayHSTA, KU Ettal 1432 V.12. Zum Kundschaftsverfahren: Köhler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16), 79f.; zum Kundschaftsbeweis: Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12). 371-375. - Vom selben Datum gibt es auch die doppelte Ausfertigung eines Schiedsspruchs, den Herzog Ernst für die Bürger „gemainiclich" des nahen Marktes Murnau am Staffelsee und den Abt von Ettal erließ, nachdem beide Seiten erklärt hatten, „hinter" ihn zu gehen und seinen Entscheid zu akzeptieren; BayHStA, KU Ettal 1432 V.12. Druck: MB (wie Anm. 37), 275-277. Hier war offenbar ein Verfahren vor dem Hofgericht unter Hofmeister Jörg von Gundelfingen und den Räten vorausgegangen; BayHStA, Staatsverwaltung 2230, Register aller Hofrechte unter Herzog Ernst, fol. 4' (1432). 46 ) BayHStA, KU Ettal 1444 III.6.; MB (wie Anm. 37), 285-288.
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Klagen vor dem Herzog und den Räten vorbrächten. Diese setzten einen Termin zur Anhörung der Parteien an, veranlaßten den Abt und die Bauernvertreter, einem gütlichen Verfahren zuzustimmen und verlangten zu diesem Zweck von den Bauern eine schriftliche „suplicatio" 47 ). Die Ammergauer wählten acht Männer aus dem ganzen Gericht und bevollmächtigten sie, die Schrift anzufertigen. Diese schrieben die Supplikation, verlasen sie in den Dörfern und holten die Zustimmung der Gemeinden ein. Ein Bote brachte das Schreiben an den landesherrlichen Hof. Da man aber dort offenbar anderweitig sehr beschäftigt war und die „Ausrichtung" auf sich warten ließ, machten sich des öfteren einige Leute aus dem Ammergau auf den Weg, um in München größere Eile anzumahnen - allerdings längere Zeit vergeblich. Daneben waren auch Ammergauer in eher privater Mission häufiger am Hof, unter ihnen, wie eingangs berichtet, Gret Replin ihrer konfiszierten weißen Stute wegen. Eine etwa fünf Seiten lange Supplikationsschrift, die Heinz Schmid aus Oberammergau verfaßt hat, öffnet einen kleinen Durchblick auf das alltäglichere Geschehen, das uns ansonsten verborgen bleibt. Heinz Schmid schreibt, er habe am vergangenen Palmabend vor Herzog und Räten über die ehrlosen Faistenmantels, seine Nachbarn, geklagt und fasse nun seine Beschwerde als „suplicatio" schriftlich ab. Zugleich kündigte er an, in anderer Angelegenheit eine weitere Supplikation vorlegen zu wollen, erwähnt, daß auch seine Gegner in München gewesen waren und dort ein „geschafft" zu seinem Nachteil erwirkt hatten, sowie daß in Kürze mit der Ankunft weiterer Ammergauer bei Hof zu rechnen sei 48 ). Da Heinz Schmids Supplikation auf Befehl des Hofes zurückgesandt und vor Ort vom Richter „offenlich vor dem landtrechten verlesen" worden war, der Ettaler Abt aber meinte, in dem Schreiben in seiner Ehre gekränkt worden zu sein, griff dieser nun seinerseits zur Feder und schickte seine Beschwerden an den Herzog 49 ). Im April 1503 ließ Herzog Albrecht IV. dann den „Endschidbrief' im Ammergau-Ettaler Hauptkonflikt ausfertigen. Dieser enthielt einen „enntlichen ausspruch und entschid", der nicht durch den Herzog, sondern von dessen Hofmeister und den Räten nach gründlichem Überlegen und schriftlichem Vortrag der Streitpunkte sowie nach Vorlage von Briefen und Urkunden getroffen worden war. Zuvor hatten die Abgesandten der Parteien mündlich und später auch schriftlich ihre Bereitschaft erklärt, vollziehen zu wollen, was die 47
) Das Wort „suplicatio" wird von Heinz Schmid aus Oberammergau in seiner Supplikation an Herzog Albrecht IV., wahrscheinlich im Frühjahr 1500 verfaßt, achtmal verwendet, mehrmals gleichgesetzt mit „eingelegter clag"; BayHStA, Kurbayern Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 7 2 - 7 5 ' . Ein Schreiben Abt Johannes von Ettal an Herzog Albrecht vom 21. Juni 1500, ebd. fol. 76, enthält den Begriff „suplicatio" und das Tätigkeitswort „suplicirn" je dreimal. Vgl. allgemein Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. 10. Bd. Leipzig 1942, 1250-1255. 48 ) BayHStA, Kurbaiem Äußeres Archiv Nr. 4092, fol. 7 2 - 7 5 ' . 49 ) Ebd., fol. 76; 1 5 0 0 V I . 2 1 .
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Räte „erkennen, sprechen und entschaiden" würden 50 ). Von Dauer war das nicht, das nächste Dokument wurde im Dezember 1507 niedergeschrieben 51 )Es läßt ein etwas anders verlaufenes vorausgegangenes Prozedere erkennen. Die Parteien - von Seiten der Nachbarschaft kamen 13 Verordnete - waren „zw güttlicher Verhöre" vor Hofmeister und Räten erschienen. Die Räte hatten nach mündlichem und schriftlichem Vortrag, aber offensichtlich ohne einen Hintergang zu verlangen, also ohne Abschluß eines Schiedsvertrags, „erkenndt, und zw abschide geben", was im doppelt ausgefertigten mit dem Sekretsiegel bekräftigten „Entschyd B r i e f , auch „Abschyd Brieff" festgehalten wurde. Der Ettaler Abt ließ sich am nächsten Tag noch einen zweiten Abschied der Räte bestätigen, der besagte, daß ein bestimmtes Waldstück ihm zustehe, und diejenigen Ammergauer, die behaupteten, es gehöre zu ihren Gütern, auf den ordentlichen Gerichtsweg verwies 52 ). In Steingaden, dem dritten der einander benachbarten Klostergebiete, verliefen die Dinge in Variationen nach demselben Muster. Auch hier kam es wie in Rottenbuch und im Ammergau im ausgehenden Mittelalter zu Auseinandersetzungen zwischen der Bauernschaft und den geistlichen Herren, die von beiden Seiten regelmäßig vor die Herzöge und nach München getragen wurden. Im späten November 1423 waren die Vertreter der „gepawrschaft gemainlich die in die pfarr gen Staingaden gehörend" und der Propst des Gotteshauses in München erschienen, hatten sich bereit erklärt, „hinter" die Herzöge Ernst und Wilhelm zu gehen und ihnen „mit iren hantgeben treuen gelobt vnd versprochen" einhalten zu wollen, was entschieden würde. Daraufhin hatten sich die Herzöge mitsamt ihren Räten „über die sach" gesetzt, um Klage, Rede und Widerrede jeder Partei aufzunehmen und zu verhören und um danach zu entscheiden. Sie sanktionierten ihren Spruch mit Androhung harter Strafe und ließen ihn mit ihrem Siegel versehen und doppelt ausfertigen 53 ). In der Regel scheint die Initiative zu den Verhandlungen in der Zentrale von einer der streitenden Parteien ausgegangen zu sein, aber als Herzog Ernst im April 1437 den Abt von Steingaden und den Bauern Peter Schlauch zu sich an den Hof nach München rief, war er möglicherweise von sich aus tätig geworden. Er kannte die Streitigkeiten der beiden seit vielen Jahren; schon 1423 bei 50
) MB (wie Anm. 37), 313-319; 1503 IV.24. Die Wörterreihe „erkennen, sprechen und entscheiden" wird dreimal verwendet. 51 ) BayHStA, KU Ettal 1507 XII. 16. Druck: MB (wie Anm. 37), 319-321. Der einzige unter den vorgestellten Entscheiden, der nicht in München, sondern von der Kanzlei Herzog Wolfgangs in Landsberg ausgefertigt wurde. 52 ) MB (wie Anm. 37), 321-323; 1507 XII. 17. 53 ) BayHStA, KU Steingaden 404; 1423 XI.25. Druck: Monumenta Boica. 6. Bd. München 1766, 616-620; Lory, Lechrain (wie Anm. 42), 109-111; Günter Franz (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges. Darmstadt 1963,9-12; Renate Blickte, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern, 1400-1800, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Stuttgart 1983, 166-187, 182-185.
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den Verhandlungen mit der gesamten Steingadener Bauernschaft-hatte er sich mit dem Problem der Familie Schlauch zu befassen gehabt, und da jetzt offenbar die Gefahr bestand, Peter Schlauchs Agitationen könnten die Bauernschaft neuerdings in Aufruhr versetzen, forderte er die Gegner vor sich und die Räte. Er verhörte beide Seiten und redete ihnen solange zu, bis sie, wie er festhalten läßt, mit „ir spruch und irrung gäntzlich auf uns und unser Räte gangen sein", und versprachen, einhalten zu wollen, was man entscheiden würde. Sie gelobten das an Eides statt und gaben jeder einen „anlas brief' 5 4 ). Die Anlaßbriefe, die Bauer und Abt erteilten, bezeichnen den Übergang von einer wenig förmlichen Verhandlungsart zum förmlichen Schiedsverfahren. Der Spruch, der vom gleichen Gremium, nämlich Herzog und Räten, daraufhin gefällt wurde, beginnt mit der Versöhnungsformel und bestimmt dann, Peter Schlauch sei „als recht ist" zum Beweis seiner Behauptung, vor 36 Jahren sei seinem Vater Erbrecht versprochen worden, vor den Räten zugelassen, sobald ihm und dem Abt dort vom Herzog ein Tag „gesetzt" werde. Herzog Ernst beglaubigte den doppelt ausgefertigten Spruchbrief mit seinem Siegel 55 ). Durch diesen Spruch war die Angelegenheit vom gütlichen Rechtsweg auf den ordentlichen Gerichtsweg gewiesen. Am nächsten Tag erschienen Peter Schlauch und Abt Johannes von Steingaden vor dem Hofmeister Jorg von Gundelfingen und sieben herzoglichen Räten, die das „hofrecht" besaßen und trugen durch von ihnen gewählte „Fürleger" ihre Rechtsbehauptungen vor. Die dort gesprochenen Urteile wurden mit dem Hofgerichtssiegel bekräftigt. Peter Schlauch wurde aufgetragen, sein beanspruchtes Recht zu beweisen. Er sollte deshalb mit sechs unbescholtenen Männern, die bereit wären, mit ihm zu schwören, daß der alte Abt von Steingaden seinem Vater Erbrecht für den Hof versprochen habe, innerhalb von sechs Wochen und drei Tagen in München vor dem Hofmeister, falls dieser nicht anwesend wäre, vor den herzoglichen Räten erscheinen 56 ). Anhand eines einzelnen Falles wird hier eine Reihe möglicher Verfahren erkennbar, die im 15. Jahrhundert am Münchner Hof zur Konfliktbeilegung eingeschlagen werden konnten, besonders klar tritt die Abfolge Verhandlungsstadium - Schiedsverfahren - Gerichtsprozeß hervor. Einen Einblick in den Ablauf einer Verhandlungsitzung selbst gibt der Spruchbrief Herzog Albrechts III., der im Januar 1441 in München ausgefertigt und in je einem Exemplar für das Gotteshaus und die Bauernschaft in Steingaden gesiegelt wurde. Auch hier hatten die Bauern geklagt und der Abt 54
) Der Anlaß oder das Compromiß bedeutet wie der Hintergang den Abschluß eines Schiedsvertrags; Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16), 23. 55 ) BayHStA, KU Steingaden 453 I und II; 1437 IV.7. Herzog Ernst ist Aussteller und Siegler. 56 ) BayHStA, KU Steingaden 454; 1437 IV.8. Der Hofmeister siegelt mit dem Hofgerichtssiegel Herzog Emsts.
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seine Entgegnung vorgetragen und waren Herzog und Räte bemüht gewesen, die Parteien zu veranlassen, mit Handschlag den Vollzug dessen zu versprechen, was entschieden würde. Sodann hatte sich der Herzog mit den Räten „darüber gesetzt", und gemeinsam hatten sie Rede und Gegenrede beider Seiten erörtert und darüber entschieden 57 ). Dieser Spruchbrief trägt Punkt für Punkt je eine Beschwerde der Bauern, die Entgegnung des Abtes und die Entscheidung der Räte vor, sodaß hier nicht nur zum erstenmal Beschwerden und ansatzweise die Argumentation von Bauern und Herren erkennbar werden, sondern auch eine Sequenz aus Artikel und Entscheidung. Eine weitere Variante der Münchner Verhandlungspraxis wurde im Frühjahr 1515 vorexerziert. Neun Bauern als Vertreter der Pfarrgemeinde Steingaden und der Abt waren damals von Herzog Wilhelm IV. zu sich und vor seine Räte beschieden worden. Man hatte die Klagen der Bauern und die Antwort des Abtes „gegeneinander verhört", und die Räte hatten sich darum bemüht, daß die Streitpunkte mit dem „gueten Willen und Vörwissen" der Parteien „betaidingt und gesprochen" 58 ) und die Streitenden selbst „entlich mit einander vertragen" werden konnten. Die Ergebnisse wurden jedem Teil als „Spruch" Herzog Wilhelms mit dem herzoglichen Sekretsiegel beurkundet. Hier hatten die Räte auf keinem Hintergang der Parteien bestanden - es gab keinen Schiedsvertrag - , und sie hatten auch keine autoritative Entscheidung getroffen, sondern konsentierte Sachlösungen ausgehandelt, die anschließend urkundlich fixiert wurden 59 ).
3. Varianten rechtlicher Verfahren und eine Präsumtion für den „obersten Richter" im Land Die Quellenzeugnisse aus Rottenbuch, dem Ammergau und Steingaden geben Auskunft darüber, wie man dort und wie man am herzoglichen Hof in München im Spätmittelalter mit Beschwerden und anderen vorgebrachten Anliegen umging. Die aufgezeigten Fälle mögen als Nachweis für die Existenz dieser Gewohnheit genügen, ein vollgültiger Beleg für ihre landesweite Verbreitung sind sie noch nicht. Doch spricht andererseits wenig für die Annahmen, nur die Leute vom Lechrain hätten diesen Weg gekannt und am herzoglichen Hof sei man allein mit Rottenbucher, Ammergauer und Steingadener Bauern und Prälaten nach diesem Muster verfahren. Es gibt auch entsprechende Anhaltspunkte: Als beispielsweise die landesherrlichen Jäger im letzten Viertel 57
) BayHStA, KU Steingaden 475; 1441 1.14.: „also seien wir mit sambt vnsern raten darüber gesessen beider tail red und wider red für uns genomen und sprechen [...]". 58 ) Zur Bedeutung von „taidingen" als dem „umfassendsten Ausdruck für alle Bemühungen um eine außerordentliche gütliche Beilegung von Rechtshändeln": Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16), 6 f. 59 ) BayHStA, KU Steingaden 921; 1515 IV.26. Druck: Lory, Lechrain (wie Anm. 42), 254 f.
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des 15. Jahrhunderts dazu übergingen, sich in die Bauernhäuser einzuquartieren, „da lüffen", wie Sigmund Riezler einen Bericht aus dem Gericht Aibling zitiert, „die armen läut gen hof, wollten das abprächt haben" 60 ). Auch Marktgemeinden wie Dießen, Altomünster oder Murnau 61 ) und Stadtgemeinden wie Reichenhall 62 ) oder adelige Hofmarksherren wie Heinrich der Kammerberger 63 ) sind diesen Weg gegangen. Für die Zulassung bei Hof scheint es kaum Beschränkungen gegeben zu haben, es kamen Frauen und Männer, Laien und Geistliche, Gruppen und Einzelpersonen, Obrigkeiten und Untertanen. Die Schwellenscheu der Ankömmlinge war vermutlich nicht allzu ausgeprägt. Im Ablauf der Vorgänge lassen sich deutlich Phasen oder Bereiche erkennen. Auf den Vortrag eines Anliegens bei Hof folgte gewöhnlich eine Phase der Sondierung, in der Herzog und Räte die Initiative übernahmen, Informationen einholten und von zuständigen bzw. kundigen Personen oder lokalen Behörden Bericht anforderten oder gegebenenfalls eine Stellungnahme der Gegenpartei verlangten. Nach Erörterung der Angelegenheit in formalisierter Form konnte sodann ein schriftliches Gebot des Landesherrn ergehen, das zur Einhaltung des Herkommens aufforderte. Bei umfänglicheren oder unklaren Streit- oder Beschwerdefällen erweiterte man die Erkundungs- zur Verhandlungsphase und lud die Parteien gemeinsam zu einem gesetzten Termin vor, verhörte sie „gegeneinander" und verhandelte mit ihnen über die Chancen eines Vergleichs. Mißlang die Schlichtung und kam kein Vertrag zustande, wurde von landesherrlicher Seite bis zum Jahr 1503 häufig auf Abschluß eines Schiedsvertrags gedrungen und damit in einen anderen Verfahrensbereich übergewechselt. Die Schiedsverfahren vor Herzog und Räten endeten mit definitiven Entscheiden. Des weiteren gab es die Möglichkeit, ein Verfahren vor dem Hofgericht zuzulassen, das heißt, eine Klage anzunehmen und Kläger und Beklagtem einen Termin zur ordentlichen Verhandlung bei Gericht zu setzen. Diese Verfahren endeten mit einem Urteilsspruch. Wie sich zeigte, wurde am Münchner Hof von einem Modus zum an-
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) Sigmund Riezler, Nachtseiden und Jägergeld in Bayern, in: Abhandlungen der Historischen Klasse der Königlich Bayrischen Akadademie der Wissenschaften. 23. Bd. III. Abt. (1905/6), 5 3 7 - 6 3 1 , 574. 61 ) Gero Kirchner, Probleme der spätmittelalterlichen Klostergrundherrschaft in Bayern: Landflucht und bäuerliches Erbrecht, in: ZBLG 19 (1956), 1 - 9 4 , 7; Klaus Frh. von Andrian-Werburg, Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem der Herzoge Johann II., Ernst und Wilhelm III. von Bayem-München ( 1 3 9 2 - 1 4 3 8 ) . Kallmünz 1971, 158; Wilhelm Liebhart, Kloster und Markt Altomünster im Streit um den St. Alto Bannwald, in: Oberbayerisches Archiv 102 (1977), 2 1 3 - 2 2 5 . Zu Murnau vgl. Anm. 45. 62 ) Von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 149. 63 ) Ein Spruchentscheid Herzog Wilhelms III. (gest. 1435) wird im Spruchbrief des Hofmeisters Marquard von Schellenberg für Heinrich den Kammerberger und die Bauern und Grundherren zu Vierkirchen (Dachau) am 14.111.1446 bekräftigt. Friedrich Hector Graf Hundt (Hrsg.), Die Urkunden des Klosters Indersdorf. 1. Bd., in: Oberbayerisches Archiv 2 4 ( 1 8 6 3 ) , Nr. 721.
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deren und bei Bedarf w i e d e r z u r ü c k g e w e c h s e l t . M a n unterschied, s o läßt s i c h s u m m i e r e n d feststellen, z w i s c h e n e i n e m B e r e i c h der T ä d i g u n g und A u s r i c h tung - d e s g ü t l i c h e n Verhandeins, der S c h l i c h t u n g s - und V e r g l e i c h s b e m ü h u n g e n - und e i n e m z w e i t e n Verfahrensbereich, in d e m v o n d e n Parteien k o n s e n tierte schiedlich-autoritative, s o w o h l g ü t l i c h e w i e rechtliche E n t s c h e i d u n g e n o d e r S p r ü c h e g e t r o f f e n wurden, s o w i e e i n e m dritten B e r e i c h , d e n d i e ordentl i c h e n g e r i c h t l i c h e n P r o z e s s e vor d e m H o f g e r i c h t bildeten. D a s N e b e n e i n a n d e r v e r s c h i e d e n e r Verfahrens- und E n t s c h e i d u n g s a r t e n a m H o f beschreibt, z u g e s p i t z t ausgedrückt, den d a m a l i g e n Ort d e s R e c h t s z w i s c h e n Gericht und R e g i m e n t . D a s R e c h t wanderte a l l m ä h l i c h aus der Einheit v o n Gericht und Urteil, in d i e e s durch das d i n g g e n o s s e n s c h a f t l i c h e Verfahren i m Mittelalter e i n g e b u n d e n g e w e s e n w a r 6 4 ) , hinüber auf die S e i t e der G e b o t s und S c h u t z g e w a l t , d i e s i c h i m m e r deutlicher i m landesherrlichen R e g i m e n t konzentrierte. D i e S p r ü c h e und A b s c h i e d e , d i e H e r z ö g e und Räte a m H o f erteilten, galten j e länger j e m e h r als „rechtliche" E n t s c h e i d e mit der Dignität v o n Urteilen, und waren darin A u s d r u c k e i n e s s i c h ändernden R e c h t s v e r s t ä n d n i s s e s 6 5 ) . D i e Verteilung der K o m p e t e n z e n z w i s c h e n Gericht und Rat a m H o f oder d i e Relation z w i s c h e n den Pflichten, d i e d e m H e r z o g als „ o b e r s t e m R i c h ter" und d e n j e n i g e n , d i e i h m als „ o b e r s t e m Vogt" und Schutzherrn i m L a n d e o b l a g e n , ist dafür k e n n z e i c h n e n d 6 6 ) . M
D e r B e g r i f f der
„Justizgewährungs-
) Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter. Köln/Wien 1985. 65 ) Wie die geschilderten Fälle des 14. und 15. Jahrhunderts gezeigt haben, war den Herzögen und ihren Räten im Rahmen dieser Verfahren keine Urteilskompetenz zugekommen. Als Legitimation für ihre Entscheidung wird regelmäßig der Konsens der Parteien, deren Handgelübde und Hintergang hinter den Herzog (1393) oder hinter die Herzöge und ihre Räte (1405, 1423, 1441, 1466, 1470) oder hinter den herzoglichen Rat (1503) genannt. Dagegen warden späteren Abschieden (1507, 1515) kein Schiedsvertrag vorausgegangen, der Hintergang ist aus den Verfahren vor dem Hofrat verschwunden. Bis Mitte der 1520er Jahre etwa scheint man das legitimatorische Defizit durch verstärkten Druck auf die Parteien, gütlich ermittelten Verhandlungsergebnissen zuzustimmen, ausgeglichen zu haben. Die Parteien stimmten dabei den ausgehandelten Sachentscheiden zu, die dann mit ihrem „wissen und willen" als „Abschied" der Räte (1515) urkundlich fixiert wurden. In dieser Form erging beispielsweise der „entliche bescheid" des Hofrats im Streit der Söldner von Zell mit ihrem Hofmarksherrn. Nach Klage, Verhör und etlichen Schriften wurde ein „Vertrag" ausgehandelt, der „mit jeder parthey ganntzem vorwissen und guetem willen" als „abschid" des Hofrats im September 1525 doppelt ausgefertigt und besiegelt wurde. BayHStA, Kurbayem Hofrat Nr. 1110, fol. 255-256' ; 1525 IX.2. Auch der Streit der Schmiechener mit ihrem Hofmarksherm wurde, nachdem die gütlichen Verhandlungen im Münchner Hofrat zu keinem Erfolg geführt hatten, im Juni 1526 „mit ihrem bewilligen vnd vorwissen" durch einen „Abschied" der Räte beendet. BayHStA, GerichtsU Landsberg Nr. 851; 1526 VI.27. Ein Jahrzehnt später scheint die legitimatorische Grundlage seiner Abschiede dem Hofrat nicht mehr problematisch gewesen zu sein. Die zahlreichen in den Jahren 1537 bis 1543 doppelt ausgefertigten „rezeß" etwa, mit denen Landhofmeister und Räte die vorgeladenen Streitparteien nach Klage, Antwort und genügendem Verhör „verabschiden", lassen keinerlei Unsicherheit mehr erkennen. Es wurden durchweg gütliche Verhandlungen gepflogen und wenn diese scheiterten, Abschiede erteilt. BayHStA, Kurbayem Hofrat Nr. 1110-1112. ö6) Die „Tatsache einer Trennung von Hofgericht und Hofrat", das Nebeneinander eines ge-
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pflicht" 6 7 ), d i e d e m Herrscher o b l a g , kann, s o treffend er z u n ä c h s t scheint, nicht zur Erläuterung d e s B e s c h w e r d e w e s e n s h e r a n g e z o g e n w e r d e n , s o l a n g e darunter e i n e Pflicht verstanden wird, d i e d e m Richter und d e m Gericht auferl e g t w a r 6 8 ) . D i e v o m Land „ g e n H o f l a u f e n d e n L e u t e z o g e n nicht vor G e richt, s i e l i e f e n nicht d e n obersten Richter a n 6 9 ) und w u r d e n a u c h nicht v o n ein e m Fürsten angehört, der sich dabei als Richter verstanden hätte. W i e d i e ersten erhaltenden bäuerlichen B e s c h w e r d e n und d i e Ä u ß e r u n g e n der H e r z ö g e selbst z e i g e n , w a n d t e n s i c h d i e B a u e r n an d e n Landesherrn, als an ihren „obersten recht erbherrn und fürst" o d e r an den „obersten v o g t und herrn", und d i e H e r z ö g e handelten als „ihre", der Prälaten und der Bauern „rechte landsfürsten und erbherrn", als „regierendt fürst" o d e r „als ihr b e i d e r herr und landtfurst". S i e w a r e n an ihre Pflichten als Herren und als Fürsten - n ä m l i c h ihre S c h u t z p f l i c h t e n - g e m a h n t w o r d e n und hatten d i e s e n A p p e l l e n g e n ü g t . D i e U n t e r s c h e i d u n g ist aus w i s s e n s c h a f t s i n t e r n e n Gründen nötig, da in der Literatur das breite B e d e u t u n g s f e l d v o n „richten" auf d i e Tätigkeit d e s G e richts reduziert zu w e r d e n droht 7 0 ). I m Verständnis der B e t e i l i g t e n j e n e r Zeit „richteten" Landesherr und Räte auch in den gütlich-rechtlichen, s c h i e d l i c h autoritativen U n t e r h a n d l u n g e n , zu d e n e n sie d i e streitenden Parteien vorluden. S i e g a b e n dort „Ausrichtung", sie b e m ü h t e n s i c h darum, e t w a s in O r d n u n g zu bringen, e t w a s richtig zu m a c h e n .
richtlichen und eines sog. gütlichen Verfahrens und die Unterscheidung zwischen der Funktion des Landesherrn als Richter und als Herrn des Gerichtsschutzes waren schon in der Auseinandersetzung zwischen Eduard Rosenthal und Adolf Stölzel unstrittig. Rosenthal, Hofgericht (wie Anm. 2); ders., Besprechung (wie Anm. 2); Adolf Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung. 2. Bd. Berlin 1910, 317-501. Ungeachtet dessen unterschieden sich die Folgerungen grundsätzlich. Rosenthal, für die bayerische Geschichte bis heute Autorität, neigt dazu, Vorgänge, die am Hof in irgendeiner Weise verfahrensförmig verhandelt wurden (Erledigung von Beschwerden, Gedinge, streitige Parteihandlungen) als Tätigwerden des Hofgerichts zu deuten. Wie stark seine Präsumtion für das Gericht ist, zeigt beispielsweise die Arglosigkeit, mit der er seinem Gegner versichert, er „habe niemals bestritten, daß ein Hofgericht einen Schiedsspruch fällen" könne; Rosenthal, Hofgericht (wie Anm. 2), 427. Genau das aber muß entschieden bestritten werden. Das Hofgericht fällte keine Schiedsentscheide, sondern sprach stets Urteile; von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 157; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 194. Analog verfährt Rosenthal mit den Aufgaben des Landesherrn. Der Landesherr ist für ihn primär der oberste Richter im Land, seine Schutz- und Rechtsschutzpflichten werden angesprochen und sogleich dem favorisierten Richtertum beigefügt; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12), 109. Bitten um Rechtsschutz werden dem Herzog als oberstem Richter (ebd., 430) und entsprechend dem Hofgericht zugeordnet und nicht als Appell an die Schutzpfiicht des Landesherrn verstanden, die von Regent und Räten wahrgenommen wurde. 67
) Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12), 86-92. ) Gernot Kocher, Art. „Richter", in: Handwörterbuch (wie Anm. 11), 1033-1040. Danach gilt „seit der Existenz richterlicher Organe ein prinzipieller Zwang, bei Anrufung tätig zu werden", ebd. 1035. 69 ) So jedoch Hülle, Supplikenwesen (wie Anm. 5), 198; Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 294,310. ™) Vgl. Gerhard Köhler, Richten - Richter - Gericht, in: ZRG GA 87 (1970), 57-113. 68
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4. Am Hof. Landesherr und Räte - die Organisierung des Regiments Während des ganzen Spätmittelalters war das Land Bayern in mehrere Fürstentümer aufgeteilt. Dieser Umstand begünstigte den Ausbau des Verwaltungs- und Gerichtssystems. Auch für das Beschwerdewesen dürfte die Kleinräumigkeit von Vorteil gewesen sein. Durch die Teilung war alles überschaubarer - die Entfernungen, die Anzahl der Beteiligten sowie die Qualität und die Menge der zu bewältigenden Probleme. Umgekehrt beförderte das erleichterte „Laufen gen H o f die institutionelle Zentralisierung des angehenden Staatswesens 71 ), jedenfalls zeigten sich Tendenzen zum Ausbau zentraler Organe hier am frühesten 72 ). Der herzogliche Hof in München, schon seit den Tagen Ludwigs des Bayern die bevorzugte Residenz im Oberen Bayern, wurde im 15. Jahrhundert zum Ziel der Untertanen, die Gehör beim Landesherrn suchten. Sie wandten sich an den Fürsten persönlich, wurden jedoch niemals allein empfangen, sondern standen immer einer Mehrzahl von Personen gegenüber, oft genug dürften sie dem Fürsten gar nicht begegnet sein, sondern nur seine Räte angetroffen haben. Die bayerischen Herzöge regierten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts mit dem Beistand von Räten, die dem hohen einheimischen Adel angehörten 73 ). Wenigstens zwei Räte sollten schon 1293 jeweils ständig am Hof weilen 74 ), während andere auf Anfordern zu erscheinen hatten. Die Räte mit Anwesenheitspflicht werden um 1464 als „tägliche Räte" bezeichnet 75 ). Noch nach der Mitte des 15. Jahrhunderts sind die Räte in ihrer großen Mehrzahl adelige und - seltener - bürgerliche Laien ohne Universitätsbildung 76 ). Der Einfluß der
71
) Zentralisierung gilt als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Modernisierung der Verwaltung; Hans Patze, Die Herrschaftspraxis der deutschen Landesherren des späten Mittelalters, in: Wemer Paravicini/Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire Comparée de l'Administration (IVe-XVIIIe siècles). Zürich/München 1980, 3 6 3 - 3 9 1 , 368, 377, 3 8 2 - 3 8 7 . 72 ) Die Finanzverwaltung blieb im Mittelalter dezentral; vgl. dazu von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 160-162; Walter Ziegler, Studien zum Staatshaushalt Bayerns in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die regulären Kammereinkünfte des Herzogtums Niederbayern 1450-1500. München 1981, 55. 73 ) Wilhelm Volkert, Die innere Entwicklung. Staat und Gesellschaft bis 1500, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. 2. Bd. Das alte Bayern. Begr. von Max Spindler, 2. Aufl. hrsg. von Andreas Kraus. München 1988, 5 3 6 - 6 2 4 . 14 )Ay, Altbayern (wie Anm. 19), 611. Niederbayerische Hofordnung. 75 ) Nach einer undatierten Münchner Hofordnung gab es damals „acht täglich Rath"; Max Josef Neudegger, Die Hof- und Staats-Personaletats der Wittelsbacher in Bayern vornehmlich im 16. Jahrhundert. Abt. 1, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 26 (1889), 4 2 - 4 9 , 43; Ay, Altbayern (wie Anm. 19), 615. - Neudegger, 42, datiert mit ca. 1464, Sigmund Riezler, Geschichte Baierns. 3. Bd. Gotha 1889, 675, gibt 1465 an. 76 ) Von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 139-145; Heinz Lieberich, Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: ZBLG 27 (1964), 120-189, 125, 132; ders., Art. „Gelehrte Räte", in: Handwörterbuch (wie Anm. 11), 1. Bd. Berlin 1971, 1474-1477, 1475; Rainer A. Müller, Zur Akademisierung
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Stände auf den herzoglichen „Rat" 77 ) und durch ihn auf das Regiment reichte sehr weit. Doch gab es keine Räte von Geburt, alle wurden berufen und waren den Herzögen eidlich verpflichtet. Es sollten nur Landleute zu Räten angenommen werden, das ließen die Stände sich seit dem 14. Jahrhundert immer wieder zusichern 78 ). Als „Hofgesind" konnten Fremde engagiert werden, aber es mußte garantiert sein, „das land und leut mit inen und durch sy nicht geregirt" würden 79 ). Mit der Regierung von „Land und Leuten" waren die Räte zwar vornehmlich befaßt, doch fielen auch sonst alle Probleme, mit denen der Landesherr konfrontiert wurde, in ihre Kompetenz. Die „prinzipielle Allzuständigkeit" 80 ), wie sie als Aufgabenbereich des landesherrlichen Hofrats im 16. Jahrhundert festgestellt worden ist, trifft als Funktionsbeschreibung auch auf die Tätigkeit der herzoglichen Räte des 15. Jahrhunderts zu81)- Traditionell kam der Rechtspflege als prophylaktischer Friedewahrung dabei große Bedeutung zu. Von Anfang an waren die Räte als Schlichtungs- und Schiedsleute in die fortwährenden Streitigkeiten der Herzöge untereinander eingeschaltet worden 82 ). In Niederbayern wurden sie bereits 1322 zur zuständigen Instanz für Beschwerden über landesherrliche Beamte und Klagen gegen den Herzog erklärt 83 ), in Oberbayern sollten sie spätestens seit 1402 - neben den Herzögen - vorgebrachte Klagen oder Anschuldigungen „verhören" 84 ). 1458 wiederholte Herzog Albrecht III. diese Zusage in verallgemeinerter Form: „Wir wollen auch mit uns selbs und vnser reten also halten und bestellen, das alle die zu clagen oder anzubringen haben [...] das wir die oder den genedigklich und furderlich horn und nach vnser rete erkantnus ausrichtung thun oder recht ergen lasdes Hofrats in Bayern 1450-1650, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Berlin 1996, 291-307. 77 ) Die Räte waren überwiegend Mitglieder der Landschaft; von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 155. 78 ) Gustav Frh. von Lerchenfeld (Hrsg.), Die altbaierischen landständischen Freibriefe mit den Landesfreiheitserklärungen. München 1853. Für das Obere Bayern vgl. die Jahre 1363, 1392, 1393, 1396, 1402. 79 ) Ebd., 105. Zusage Herzog Albrechts III. im 42. Freibrief. 80 ) Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 310, auch 307 f.; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12), 433; Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: Herbert Grundmann (Hrsg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 2. Bd. 9. Aufl. Stuttgart 1970,361—436,405; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 231; Dieter Albrecht, Staat und Gesellschaft, in: Handbuch (wie Anm. 73), 651-655; Peter Moraw, Art. „Reichshofrat", in: Handwörterbuch (wie Anm. 11), 630-638, 631. 81 ) Für Bayern-München: von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 151155; Heydenreuter, Ho'frat (wie Anm. 44), 8-10. Allgemein: Paul-Joachim Heinig, Art. „Rat", in: Lexikon des Mittelalters. 7. Bd. München/Zürich 1995, 4 4 9 ^ 5 3 , 450; KaiiHeinz Blaschke, Art. „Hofrat", in: ebd., 5. Bd. München/Zürich 1991, 77. 82 ) Kobler, Schiedsgerichtswesen (wie Anm. 16), 52, 54 f. 83 ) Von Lerchenfeld, Freibriefe (wie Anm. 78), 10, 12. 84 ) Ebd., 52.
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sen" 85 ). Der Herzog garantierte die Annahme, die Behandlung und die Erledigung von Klagen und Anliegen unter Beiziehung der Räte - das geht aus dem Passus hervor - in den Formen des gütlich-rechtlichen und des gerichtlichen Austrags: Er versprach, nach Erkenntnis der Räte eine streitige Angelegenheit „ausrichten" oder im ordentlichen Rechtsprozeß darüber Urteil sprechen zu lassen. Das Hofgericht, wo letzteres geschah, wurde im 15. Jahrhundert vornehmlich mit Räten besetzt 86 ). Die Stellung der herzoglichen Räte im Oberen Bayern erhielt im Jahre 1466 eine neue Qualität. Den Anlaß dazu bot der Streit der jungen Herzöge „von des Regiments wegen". Der Konflikt führte zur Ausarbeitung einer Ordnung 87 ), deren Kern die Etablierung des Rates als Regiment oder Regierung und ortsgebundener, permanenter und bevollmächtigter Zentralbehörde bildete. Für das ganze Fürstentum und für beide regierenden Herzöge wurden eine gemeinsame Kanzlei eingerichtet und ein gemeinsamer Hofmeister bestellt, dem sechs genannte Räte als Gremium zugeordnet waren 88 ). Hofmeister und Räte gelobten, nach bestem Verständnis dem Reichen wie dem Armen Urteil zu sprechen und dem Regiment der Landesherren „Land und Leut antreffend" 89 ) getreulich zu „raten" sowie Schaden von ihnen abzuwenden. Ihr Versprechen betraf zwei gesondert benannte Bereiche, nämlich ihre Aufgaben im Hofgericht - wo die Urteile gesprochen wurden - und ihre Regierungsgeschäfte. Das Verfahren, wie ein Urteil zustande kommt, also die Arbeitsweise des Hofgerichts, wurde nicht weiter erörtert. Es gab offenbar keinen diesbezüglichen Bedarf, weil keine Veränderungen vorgesehen waren. Das Hofgericht wurde traditionell von Hofmeister und Räten besetzt - die Herzöge nahmen an 85
) Ebd., 105. ) Von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 158; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 8. 87 ) Die Söhne Albrechts III., Sigmund und Albrecht IV. (ihre Brüder Christoph und Wolfgang sind noch mindeijährig), sind durch Herzog Ludwig von Niederbayern und Vertreter der Landschaften im Ober- und Niederland zu Bayern und auf dem Nordgau gütlich vertragen worden; Franz von Krenner (Hrsg.), Baierische Landtags-Handlungen in den Jahren 1429 bis 1513. 5. Bd. München 1803, 165-191; 1466 III.4.; Ay, Altbayem (wie Anm. 19), 6 1 6 - 6 1 8 . Vgl. dazu: Riezler, Geschichte (wie Anm. 75), 675 f.; Rosenthal, Gerichtswesen I (wie Anm. 12), 138 f., 2 5 9 - 2 6 1 ; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 15 Anm. 57; Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 7), 111; ders., Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 292; Volkert, Innere Entwicklung (wie Anm. 73), 5 9 8 - 6 0 9 . 86
88
) Zur Zeit des gemeinsamen Regiments der Herzöge Ernst und Wilhelm III. von 1398 bis 1435 hatten beide Herzöge je einen Hofmeister; von Andrian-Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 92. 89 ) Ausgenommen vom Komplex „Land und Leut", oder jedenfalls nur mit Zustimmung beider Herzöge zu regeln, waren Dinge, die „der Herrn Regalia, oder Veränderung, Verpfändung oder Versetzung oder Verkaufung ihrer Schloß, Städte, Märkte, Dorfer, Gerechtigkeit, Gilt, Rent, Zinß, oder Nutzung beruehren [...]"; von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 180 f.
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den Sitzungen seit langem nur ausnahmsweise teil es trat viermal im Jahr zu festen Terminen zusammen und erhielt die Gewalt, Urteile zu sprechen, für jede Sitzungsperiode durch herzogliches Gebot. Das Hofgericht wurde bis ins 16. Jahrhundert hinein ad hoc, nicht auf längere Zeit bevollmächtigt 90 ). Hingegen schien es erforderlich gewesen zu sein darzulegen, auf welche Weise das Regiment über Land und Leute auszuüben sei. Zunächst wurde es lokalisiert, die Regierung erhielt ihre dauernde Residenz in München. Ob ein Landesherr an den Regierungsgeschäften beteiligt wurde oder nicht, hing in Zukunft vor allem von seiner Anwesenheit oder Abwesenheit in der Stadt ab. Es sollte nicht dort regiert werden, wo der Regent sich aufhielt, sondern dort, wo die Regierung ihren Sitz hatte. Dieser Sitz befand sich „im alten Schloß in der gewöhnlichen Rathstuben" 91 ). Sodann wurde der Modus des Regiments über Land und Leute geregelt. Die betreffenden Angelegenheiten sollten von den je in München anwesenden Landesherren mit dem Hofmeister und den sechs Räten „gerathschlagt und gehandelt" werden, und was „alle oder der mehrere Theil beschliessen" würden, sollte vollzogen werden 92 ). Der Hofmeister und die sechs Räte bildeten ein exklusives Kollegium, aus den Räten war „der Rat" geworden. Das zeigen die Bestimmungen über die „andern Räte", die es ja nach wie vor auch noch gab. Diese Räte konnten im Unterschied zu denen, die dem Gremium angehörten, nur dann, wenn beide Landesherren dies für notwendig erachteten und diesen oder jenen aus ihnen eigens anforderten, „im Rathe ihre Stimme auch haben" 93 ). Für einen umfangreichen Teilbereich der Regierungsarbeit aber erhielt das Kollegium der Räte noch weitergehende Kompetenzen: Der Hofmeister und die sechs Räte sollten nämlich, wenn keiner der Landesherren anwesend wäre, „an der Herren Statt Macht haben zu handeln zwischen den Partheyen von Sachen wegen, die nicht die Herrn, sondern die Partheyen allein gegeneinander
90 ) Zum Hofgericht vgl. Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12), 108-153; Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12), 80-86, 91 f., 395-399; von Andrian- Werburg, Urkundenwesen (wie Anm. 61), 156-159; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 6, 184, 193, 200, 208f.; Heinz Lieberich, Baierische Hofgerichtsprotokolle, in: JbFränkLF 36 (1976), 7-22; auf Dauer mit Hofgerichtssachen betraute Räte sind erst für das 16. Jahrhundert nachweisbar; ebd., 15. 91 ) „Was dann Sache die das gemeine Regiment der Herrn Land und Leute berührt, angebracht werden, dieselbe sollen durch beyde Herrn, ob sie derselben Zeit allhier zu München wären, oder durch ihrer einem, der dann im Abwesen des andern allhier wäre, mit samt dem Hofmeister und sechs Räthen gerathschlagt und gehandelt, was sie dann alle oder der mehrere Theil beschliessen, dem soll nachgegangen werden." Von Krenner, LandtagsHandlungen (wie Anm. 87), 180. - Die Sitzungen in der Ratsstube sind die Regel, nur für den Fall, daß allein der jüngere Herzog, Albrecht IV., in München wäre, konnte er Hofmeister und Räte „in seinen Hof und Herberg fordern", ebd., 181. Die Regimentsordnung von 1468 wiederholt diese Bestimmung, ebd., 292. 92 ) Ebd., 180. 93 ) Ebd., 181.
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berührten" 94 ). Die Vollmacht zu handeln wurde nicht einer Person, sondern dem Rat als kollegialer Institution übertragen, und diese Vollmacht war genereller Art, nicht ad hoc für den konkreten Einzelfall erteilt. Der Gewalttransfer bezog sich auf die Kompetenz, die Streitigkeiten und Anliegen, die von den Untertanen an die Regierung herangetragen wurden, allein zu verhandeln und zu entscheiden. Die Aufgabe der ersten zu selbständigem Handeln autorisierten Zentralbehörde in Bayern war es, sich mit dem Beschwerdewesen zu befassen. Die Konstituierung einer Zentralbehörde - der Anfang vom Ende der „ambulanten Stegreifverwaltung" 95 ) - , ein für den Entwicklungsstand der staatlichen Verwaltung und den Grad ihrer Institutionalisierung stets als Marke angesehenes Ereignis 96 ), stellt sich im Oberen Bayern als die organisatorische Antwort auf Anforderungen heraus, mit denen Land und Leute den Landesherrn konfrontiert hatten. Die Einrichtung einer Regierung oder eines ständigen Ratskollegiums als Behörde war eine Reaktion auf das „Laufen gen H o f der Untertanen. Handlungsbedarf im Bereich des Beschwerdewesens war offenbar seit einigen Jahren als akut empfunden worden. Am Hof hatte das zu der Überlegung geführt, künftig „khain paurntäding" mehr vorfordern zu wollen 97 ), und im Februar 1464 die Publikation eines Landgebots zum selben Problemkreis veranlaßt. Angestoßen durch Beschwerden über saumselige Amtleute auf dem Land und ausgelöst von der Belastung, als die Herzog und Räte das stete „Nachlauffen" der Untertanen empfanden, war eine Verordnung ergangen, wonach alles was die „armen Leute und Unterthanen fuero einer gen den andern zu handeln, oder zu klagen haben" würden, vor die Amtleute auf dem Land „gebracht" werden solle. Diese sollten dann „die Partheyen gegeneinander" verhören und dabei anstatt des Herzogs handeln, damit - heißt es - der Billigkeit Genüge geschähe 98 ). Die Richter auf dem Land hingegen sollten einem jeden nach Landrecht und „Buchsage" Recht sprechen. Auch auf dieser Ebene werden zumindest zwei unterschiedliche Verfahrensarten erwähnt. Weiterhin mit einer Beschwerde bei Hof zugelassen war, wer sich „im Rech94 ) Ebd. 95) Werner Hülle, Art. „Kollegialbehörden", in: Handwörterbuch (wie Anm. 11), 2. Bd. Berlin 1978, 9 2 7 - 9 3 0 , 928. 96 ) Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte. 1. Bd. Neubearb. Aufl. Karlsruhe 1962, 315; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 15; Willoweit, Landesherrschaft (wie Anm. 87), 111; ders., Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 297; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. München 1990, 106 nennt als Kriterien des Übergangs vom locker gefaßten Rat zum Hofrat ein fixiertes organisatorisches Gerüst und detaillierte Verfahrensregeln. 97 ) Neudegger, Personaletats (wie Anm. 75), 47; Beschwerden über Beamte (Pfleger, Richter, Amtleute) bei Hof werden davon ausdrücklich ausgenommen. 98 ) Der Zusammenhang von außergerichtlichem Verfahren und Billigkeitsmaxime kann im Rahmen dieses Beitrags nicht abgehandelt werden.
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ten" durch den Richter „beschwert bedunkte" und an den Hof dingte, und wer sich von den Amtleuten beschwert glaubte"). Hier handelt es sich um einen ersten Versuch, das „Laufen gen H o f zu regulieren und einzudämmen. Es blieb nicht der einzige. Auch nachdem das Kollegium der Räte in der Ratsstube des Alten Hofs in München fest etabliert und insofern den Anforderungen des Beschwerdewesens organisatorisch entsprochen worden war, wurden mehrmals gesetzliche und administrative Vorstöße unternommen, die der tendenziell anarchischen Beschwerdepraxis Ordnung geben, ihr aber auch Einhalt gebieten sollten. Nach dem Vorgang des Ratskollegiums in München folgte 1489 auf Anregung der Landschaft die Einrichtung einer gleichartigen Institution durch Herzog Georg von Niederbayern in Landshut. Der Herzog verordnete „der taglichen Handel und Ausrichtung halben" etliche Räte, „die alle Werktage auf eine bestimmte Stunde nämlich um Sieben Vormittags zusammen auf die Kanzley kommen, und daselbst im Beywesen unsers Kanzlers [...] einen jeden der alsdann in unserm Hofe zu thun hat, und was sonst gemeiner Sachen sind, verhören und darinn forderliche und ziemliche Ausrichtung zu thun Macht haben sollen". Außerdem sollten diese Räte auch „Macht haben gütliche und Rechttage [...] zu setzen" 100 ). Die Einsetzung und Ermächtigung des Ratsgremiums wird auch hier in erster Linie mit den Erfordernissen des Beschwerdewesens begründet. Die aus Bayern-München bekannte Differenzierung nach einem variablen Modus des „Anhören-Verhandeln-Ausrichtens" einerseits und den auf anberaumten Tagsatzungen vorgenommenen gütlichrechtlichen Verhandlungen und Entscheidungen andererseits, sowie den gleichfalls an einem gesetzten Termin durchgeführten Rechtsprozessen vor dem Hofgericht als der dritten Verfahrensart, ist auch hier unschwer zu erkennen 101 ). Nach der Vereinigung der Teilfürstentümer und den administrativen Umstellungen der Jahre 1505/07 kam dem Münchner Hof die eindeutige Funktion ") Von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 102-105, 103; Buchsage meint das Landrechtsbuch von 1346. Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12), 132; Schlosser, Zivilprozeß (wie Anm. 12), 91 f.; ders.: Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: ZRG GA 100 (1983), 9-52, 18, 21. Zu ähnlichen Verhältnissen in benachbarten Fürstentümern vgl. Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 310. 10 °) Von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 12. Bd. München 1804,275 f.; vgl. dazu ebd., 337; Ay, Altbayern (wie Anm. 19), 621; Rosenthal, Gerichtswesen 1 (wie Anm. 12), 151; ders., Hofgericht (wie Anm. 2), 429; Riezler, Geschichte (wie Anm. 75), 676; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 13; Willoweit, Verwaltungsorganisation (wie Anm. 7), 308; Reinhard Stauber, Der letzte Kanzler des Herzogtums Bayern-Landshut. Eine biographische Skizze zu Wolfgang Kolberger, in: ZBLG 54 (1991), 325-367; ders., Herzog Georg von Bayern-Landshut und seine Reichspolitik. Kallmünz 1993, 789. 101 ) Die Unterscheidung von Verfahren vor dem Hofgericht und vor den Räten wird für Niederbayern bereits 1444 erwähnt. Von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 2. Bd. München 1803, 102; ebenso in der Landesordnung von 1474; von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 7. Bd. München 1804, 502, 509, 511.
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eines Mittelpunkts für das ganze Land zu, doch blieben die alten Zentren Landshut, Straubing und Burghausen Regimentsorte, an denen ein Viztum mit einem Kollegium von Räten und einer Kanzlei in gleicher Weise wie das Münchner Rätekollegium die Geschäfte ihrer Amtsbezirke erledigten. Zu diesen Aufgaben zählte nach wie vor die Befassung mit dem Justizwesen. Die Hofräte - 1501 ist der Begriff erstmals überliefert 102 ) - hörten der Verlesung von Klagzetteln oder den Worten eines Supplikanten bzw. seines Prokurators zu und antworteten darauf, sie verhörten vorgeladene Parteien gegeneinander, sie verhandelten mit ihnen und verglichen oder entschieden abschließend ihre Streitigkeiten 103 ). Die Bildung von Institutionen - hier der Zentralbehörde Hofrat - wird im Rahmen neuerer theoretischer Modelle als eine Objektivierung von sinnorientierten Verhaltensmustern gedeutet 104 ). Unter dieser Perspektive erscheint die Etablierung einer Behörde in erster Linie als die Folge gesellschaftlicher Erfordernisse und als das Ergebnis der inneren Entwicklung. Die Ausführungen zur Entstehung des Hofrats in Bayern stehen jenen Modellen näher als dem Erklärungsmuster, wonach die Bildung der Zentralbehörden in den deutschen Territorien als weitgehende Übernahme äußerer Vorbilder zu sehen ist und demnach eine Imitationsabfolge vom Burgunderhof über die Reformen Kaiser Maximilians bis in die kleineren Fürstentümern reicht 105 ).
5. Kontinuitäten - Supplikationen und Summarischer Prozeß in der frühen Neuzeit Die bayerischen Untertanen behielten ihre Gewohnheit, mit Beschwerden und Anliegen vieler Arten beim landesherrlichen Hofrat vorstellig zu werden, in der frühen Neuzeit bei. Als Bezeichnung setzte sich das Wort Supplikation im102 ) In der Landesordnung Herzog Georgs von Niederbayern ist mehrmals von Hofräten die Rede; von Krenner, Landtags-Handlungen (wie Anm. 87), 13. Bd. München 1804, 270ff. Zu 1501 als vermeintlichem Reformjahr in Bayern vgl. Oestreich, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 80), 405. 103) vgl. die Regiments- und Hofordnung von 1511; Neudegger, Personaletats (wie Anm. 75), 77-85; Heydenreuter, Hofrat (wie Anm. 44), 16f. 104 ) Gert Melville, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde. Köln 1992, 1-24. 105 ) Für den Forschungsstand zum vorgängigen Streit über die Behördenentwicklung als primär imitierenden oder eher autogenen Vorgang wird üblicherweise verwiesen auf: Fritz Härtung, Der französich-burgundische Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Behördenverfassung, in: HZ 167 (1943), 3-12. Im Kontext der „Hofforschung" ist neuerdings das Modell Burgund als ein noch zu untersuchendes bezeichnet worden; Werner Paravicini, The Court of the Dukes of Burgundy. A Model for Europe? in: Ronald G. Asch/Adolf M. Birke (Hrsg.), Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modem Age c.1450-1650. Oxford 1991, 69-102.
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mer mehr durch. In die Landesordnung von 1516 wurden Vorschriften über die korrekte Handhabung der Supplikation durch die Supplikanten, die lokalen Obrigkeiten und die Hofräte erlassen 106 ). Diese Bestimmungen gingen in die Landesordnung von 1553 über und erschienen dort unter dem Titel eines „Summarischen Prozesses" 107 ). Einen gewissen Endstand in der Entwicklung bedeutete die große Kodifikation, die 1616 als „Landrecht, Policey:GerichtsMalefiz- vnd andere Ordnungen" in München erschien. Sie enthielt eine völlig selbständige Ordnung für den „Summarischen Process Der Fuerstenthumben Obern vnd Nidem Bayrn". Hier finden sich in den ersten beiden Titeln die Relikte der Verfahren, die im Spätmittelalter bei Hof im Umgang mit dem Beschwerdewesen angewendet worden waren, es gibt Ausführungen zur Supplikation, zum Aushandeln von Vergleichen und zum Schiedsvertrag. Die Parallelität der verschiedenen rechtlichen Wege, wie sie aus dem 15. Jahrhundert bekannt war, blieb erhalten; denn neben dem Summarischen Verfahren vor dem Hofrat existierte nach wie vor das ordentliche Gerichtsverfahren vor dem Hofgericht. Es war bereits 1520 in einer Gerichtsordnung festgehalten worden und wurde 1616 abermals publiziert. Die Koexistenz endete erst 1753 mit der Ablösung beider Prozeßformen durch den Codex Juris Bavarici Judiciarii. „Iustitia", so hieß es in der Vorrede jener Kodifikation von 1616, habe in bayerischen Landen „also florirt, daß sie vor inwendigen Kriegen und Auffruhren mehrers als andere Provintzen Ruhe gehabt". Als vorteilhaft habe sich dabei der Umstand erwiesen, daß die bayerische Bevölkerung vor „langwirigen Rechtsprozessen" bewahrt worden und ihr „vil ordenliche Rechtfertigungen" erspart geblieben seien 108 ). Iustitia, so liest man also heute einigermaßen verblüfft, bewirkte den inneren Frieden, indem sie die „ordentliche Rechtfertigung" mied. Doch - wie erinnerlich - es hatten ihr ja seinerzeit mehrere Wege offengestanden. Als Friedensstifterin war sie - nach Meinung des landesfürstlichen „Vorredners" jedenfalls - außerhalb des ordentlichen gerichtlichen Prozesses auf den Pfaden der extrajudizialen Verfahren gewandelt 109 ). Der innere Friede sei als Leistung des Summarischen Prozesses anzusehen.
106
) Das buech der gemeinen Land-pot. Landsordnnung. s.L. 1516, 2. Teil, fol. 2 9 - 3 0 ' . ) Bayrische Landtsordnung 1553. 2. Buch. 1 .Titel bestehend aus 6 Artikeln, fol. 19-21: „Wie der Summarisch proceß in gütlichen handlungen durchgenommen und gehalten werden soll"; vgl. auch ebd., 8.Titel, 2. und 3. Artikel. - Summarisch bedeutet „verkürzt, vereinfacht". 108 ) Landrecht, Policey: Gerichts-Malefitz- und andere Ordnungen. Der Furstenthumben Obern vnd Nidern Bayrn. München 1616; „An den Leser". 109 ) Zur Einordnung des Summarischen Verfahrens als einem Extrajudizialverfahren vgl. die Hofratskanzleiordnung von 1569, w o von den Fällen, deren „erledigung außerhalb rechtens vnd an ordenlich gerechtlichen process in der guete summari mit schriftlicher einclag [...]" erfolgte, die Rede ist, ähnlich die Hofratskanzleiordnung von 1600. Mayer, Quellen (wie Anm. 14), 148, 187. - Die Zweigleisigkeit der rechtlichen Verfahren in der frühen Neuzeit ist jedoch keine Besonderheit Bayerns. 107
Supplizierende Gemeinden Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung Von
Rosi Fuhrmann,
Beat Kümin und Andreas
Würgler*
1. Forschungsstand und Fragestellung Wer sich mit den politischen Aktivitäten frühneuzeitlicher Gemeinden beschäftigt, wird unweigerlich auf die Quellengattung der Suppliken stoßen1)Es scheint sich dabei um einen in nahezu allen Kulturen und Epochen rege benutzten Kommunikationskanal zwischen Untertanen und Obrigkeit zu handeln, dessen Stellenwert sich an frühneuzeitlichen Rechtssprichwörtern wie „Suppliciren und Appelliren ist niemand verboten" oder „Suppliciren und Wassertrinken sind jedem gestattet" ermessen läßt2). Trotz untertänigem Ton und auf den ersten Blick mangelndem politischem Gewicht ist auch die Durchschlagskraft des Instrumentes nicht zu unterschätzen 3 ). Die Forschung hat den Gegenstand zwar lange nur sehr eklektisch behandelt 4 ), doch lassen sich immerhin folgende grobe Entwicklungslinien erkennen. Vom lateinischen Verb supplicare („bitten", aber auch „vor jemand in die Knie fallen") hergeleitet, bezeichnete supplicatio im römischen Zivilprozeß der Kaiserzeit einerseits Bittschriften klagender Privatpersonen an den Kaiser und andererseits Gesuche um gutachterliche Stellungnahmen in einem *) Für Württemberg zeichnet Rosi Fuhrmann, für England Beat Kümin, für Hessen Andreas Würgler verantwortlich. ') „Suppliken" (bzw. die in gewissen Untersuchungsräumen gebräuchlicheren Varianten „Supplikationen" oder petitions) sind hier im weitesten Sinn als direkt an die jeweils zuständigen Instanzen gerichtete, meist schriftliche Anliegen definiert, also als Überbegriffe für die verwandten und im zeitgenössischen Gebrauch nicht scharf geschiedenen Quellengattungen der „Bitten", „Klagen", „Anbringen", „Beschwerden", „Appellationen" usw. Zum Problem der Begrifflichkeit siehe unten S. 322. 2 ) Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: HessJbLG 28 und 29 (1978 und 1979), 110190 und 63-97, hier I, 136 f. Die Sprichwörterbelege wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeichnet. 3 ) Eine hohe Erfolgsquote ermitteln z.B. Thomas Rohisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany. Cambridge 1989, und Raymond Bailey, Populär Influence upon Public Policy. Petitioning in Eighteenth-Century Virginia. Westport/London 1979, 166. 4
) „ H i s t o r i a n s have d e v o t e d relatively little attention t o the role p l a y e d b y petitions sent
from local Citizens": Bailey, Populär Influence (wie Anm. 3), xi.
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Rechtsstreit, um sich in der nachklassischen Epoche von einem außerordentlichen zu einem der appellatio gleichgestellten ordentlichen Rechtsmittel zu entwickeln 5 ). Dies scheint eine auch in späteren Phasen oft zu beobachtende Tendenz darzustellen, wobei derartige Ansätze „aber zumeist zurückgenommen [werden], wenn sich der Behelf [...] zum technischen Rechtsmittel verfestigt. Dasselbe Verfahren wird dann Revision genannt, die Supplik fällt zurück in den Bereich des persönlich-unjuristischen Gesuchs" 6 ). Mit dem Niedergang des römischen Reichs drängten sich neue Adressaten in den Vordergrund. Schon im 5. Jahrhundert finden sich Hinweise auf Suppliken an den Papst, und zwar im wesentlichen in der Form von Eingaben in Justizangelegenheiten und Bitten um allgemeine Gnadenerweise 7 ). Die große Attraktivität des direkten Appells an Rom, die sich noch heute in der ungeheuren Masse von Archivalien spiegelt, erklärt sich aus dem kanonischen Grundsatz, daß der pontifex maximus keinen Richter über sich habe und daher einen unanfechtbaren Entscheid fällen könne. Das Potential des Quellenbestandes für mentalitäts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen ist mittlerweile deutlich zu Tage getreten 8 ). Ebenfalls seit dem Frühmittelalter finden sich auch Bittschriften an Fürsten und andere weltliche Würdenträger 9 ). Erste Vorschriften für deren Erledigung wurden in den sizilianischen Kanzleiordnungen Friedrichs II. im 13. Jahrhundert erlassen, während Friedrich III. im 15. Jahrhundert dazu überging, schriftliche Bescheide an Supplikanten von einer eigens eingesetzten Kommission erarbeiten zu lassen 10 ). Zur selben Zeit findet man das Wort „Supplikation" auch erstmals im deutschen Sprachgebrauch, wo es bis ins 17. Jahrhundert vorherrschte 11 )- Wie in manch anderen Bereichen läßt sich also beobachten, wie vom kirchlichen Recht ausgebildete, das heißt römisch-rechtlich beeinflußte Institutionen vom weltlichen Recht übernommen wurden. 5
) Ausführlich zur Begriffsgeschichte Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1975, hier 75 f., und Werner Hülle, Das Supplikationswesen in Rechtssachen, Anlageplan für eine Dissertation, in: ZRG G A 9 0 (1973), 194-212; für Einblicke in die spätrömische Praxis vgl. Arnold Jones, The Later Roman Empire 2 8 4 - 6 0 2 . Oxford 1964, ii. 575. 6 ) Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. KölnAVien 1976, 288. 7 ) Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), 7 9 - 8 1 . 8 ) Ludwig Schmugge (Hrsg.), Illegitimität im Spätmittelalter. München 1994; ders., Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter. Zürich 1995; ders./Patrick Hersperger/Beatrice Wiggenhauser, Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus derZeit Pius' II. ( 1 4 5 8 - 1 4 6 4 ) . Tübingen 1996. 9 ) Siehe insbesondere Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France. Ithaca/London 1992. 10 ) Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), 8 5 f f . , und G. Dolezalek, Art. „Suppliken", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 33. Lieferung. Berlin 1991, 94-97. 11 ) Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), 88.
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Neben Kaiser und Fürsten konnten im Spätmittelalter auch repräsentative Organe wie das englische Parlament oder der deutsche Reichstag als Adressaten von Bittschriften in Frage kommen 12 ). Generell ist zu beachten, daß sich alle Stände des Mittels der Supplikation bedienten, vom Hausarmen bis zum Landesherrn. Letzteres beweisen gerade die zahlreichen Bittschriften regierender Häupter an den Reichstag. Die Tatsache, daß jemand suppliziert, sagt also keineswegs etwas über dessen sozialen Status aus, sondern höchstens etwas über dessen rechtliche und politische Stellung in der Gesellschaft - und zwar vor allem im Hinblick darauf, an wen die Supplikation gerichtet ist 13 ). Dabei konnten aber auch die schwächsten gesellschaftlichen Gruppen davon ausgehen, daß einer christlichen Obrigkeit per definitionem die Pflicht oblag, die ihre Untertanen bedrückenden Probleme ernst zu nehmen und im Rahmen des Evangeliums wo immer möglich Gnade und Barmherzigkeit walten zu lassen 14 ). Konnte eingangs noch von der relativen Vernachlässigung des Quellenbestandes durch die ältere Forschung die Rede sein, so muß dieses Verdikt angesichts der Entwicklung der letzten Jahre nun doch korrigiert werden. Suppliken als „Ego-Dokumente" erleben so etwas wie eine Blütezeit 15 ), und ihr Einfluß auf bestimmte politische Prozesse und geschichtliche Epochen ist ebenfalls in zahlreichen neueren Arbeiten thematisiert worden. So hat David Zaret den in der englischen Revolution erstmals zu beobachtenden Einsatz der Druckerpresse zur Verbreitung von Petitionen als Geburtsstunde der politischen Öffentlichkeit bezeichnet 16 ). Für analytisch-systematische Zugänge 12
) Ebd. Siehe auch Kapitel 2 unten. ) Vgl. These 2 unten S. 3 1 9 f . 14 ) Zu diesem Thema siehe u.a. Hans-Jürgen Becker, Recht und Gnade im Bild der Reformationszeit, in: M. Baldus (Hrsg.), Liber Amicorum. Professor Dr. Herbert Frost zum 65. Geburtstag. Köln 1986, 127-144; H. Krause, Art. „Gnade", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1971, 1714-1719. 15 ) Natalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Frankfurt am Main 1991 (Stanford 1987); Otto Ulbricht, „Angemaßte Leibeigenschaft". Supplikationen von schleswigschen Untertanen gegen ihre Gutsherren zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Demokratische Geschichte 6 (1991), 11-34; ders., Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, 149-174; Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahmehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: ebd., 2 0 7 - 2 2 6 ; Siegfried Grosse u.a. (Hrsg.), „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung": der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Bonn 1989. 13
16 ) David Zaret, Petitions and the „Invention" of Public Opinion in the English Revolution, in: AJSoc 101 (1996), 1497-1555. Eine Auswahl aus den vielfältigen Thematisierungen: Octave Guérod, Enteuxeis: requêtes et plaintes adressés au roi d'Egypte au Ille siècle avant J.-C. Hildesheim 1988; Koziol, Begging Pardon (wie Anm. 9); Mark Knights, London Petitions and Parliamentary Politics in 1679, in: Parliamentary History 12 (1993), 2 9 - 4 6 ;
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bieten sich allerdings noch zahlreiche Ansatzpunkte. Im Einklang mit der in diesem Sammelband verfolgten Fragestellung sollen im folgenden einige, an den Fallbeispielen England, Württemberg und Hessen(-Kassel) illustrierte Aspekte der Gattung der Gemeindesuppliken näher beleuchtet werden. Dies natürlich nicht mit dem Ziel, das Thema abschließend zu behandeln, sondern in der Absicht, die Diskussion auch auf die kollektiven Dimensionen des Phänomens zu lenken. Konkret stehen drei Themenkreise im Vordergrund: die Quellenvielfalt, die Entwicklung des Supplikationswesens im frühneuzeitlichen Territorialstaat sowie die Norm und Praxis des Verfahrens. Welche Suppliken aber, um ein methodisches Problem gleich zu Beginn aufzuwerfen, verdienen denn wirklich das Attribut „kommunal"? Gemeinden traten ja keineswegs immer als harmonische Einheiten auf, sondern hatten mit Interessengegensätzen und Reibungsflächen zwischen Amtsträgern und einfachen Bürgern zu kämpfen. Suppliken waren eine mögliche Form, solche Konflikte auszufechten. „Sämptliche Schultheißen undt gemeinden dero Ambts Schwartzenfelß" in Hessen-Kassel beklagten sich 1707, daß „wir seither ein paar Jahren erfahren müßen, daß einige unruhige Unterthanen dieses Ambts sich erkühnet[,] Ewer Hochfürstl. Durchlt. [...] im Nahmen dieses gantzen Ambts oder sämbtlicher Unterthanen mit unnachläßigem Suppliciren und vermeinten beschwerungen [...] zu belästigen. Wann aber [wir] mit diesen übel gegründeten Klagen nichts zu thun haben, wir aber dennoch durch solche continuirlich querelen nicht allein bey dero hohen Ministris undt gantzem Lande, sondern auch dero gantzen Nachbarschafft, alß ob Wir duchgehends so böße Leuthe weren, in verdacht gesetzet worden, [...] an obigen unnöthigen Klagunkosten Unß keinen Heller uffbürden laßen wollen oder können". Daher baten sie darum, diesen „unruhigen Köpfen [...] hinfüro kein gehör mehr zu geben" 17 ). In der hessischen Stadt Spangenberg spalteten die Schulden die Gemeinde in zwei Lager. Im Verlauf des Streites warfen sich die Faktionen gegenseitig vor, „im nahmen der sämptlichen Bürgerschaft [...] falsche Supplicationes" eingereicht zu haben 18 ).
Gregory L. Freeze, From Supplication to Revolution. A Documentary Social History of Imperial Russia. Oxford 1988. Vgl. die Beiträge von Beat Hodler, Doléances, Requêtes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, vor allem 5 3 - 6 0 , Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und André Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey" in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in diesem Band. 17 ) Hessisches Staatsarchiv Marburg [StAM], [Bestand] 5 [Geheimer Rat] Nr. 19821 (Supplik des Amts Schwarzenfels 3.III.1707). [Alle im folgenden zitierten Archivalien aus Hessen(-Kassel) stammen aus dem Marburger Archiv und werden zitiert mit der Sigle StAM und nach Bestand und Nr.] 18 ) StAM 5 Nr. 14941, fol. 127 [unsere Hervorhebung],
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Die Beispiele aus dem Amt Schwarzenfels und der Stadt Spangenberg, in welchen konfligierende Gruppen beanspruchten, für die ganze Gemeinde sprechen zu können, sind keine Einzelfälle 19 ). Nicht selten supplizierte ein Teil der Bürgerschaft gegen den andern 20 ), baten Bürger und Zünfte um Nichtbestellung 21 ) oder Absetzung ihres Bürgermeisters und/oder Rats 22 ). Das Problem, wer in wessen Namen legitimierterweise sprechen durfte, berührt auf verschiedenen Ebenen zentrale Fragen wie etwa die Haftung für eventuell entstehende Folgekosten oder auch die öffentliche Ehre, den guten Ruf in der Nachbarschaft und damit die individuelle und kollektive Kreditfähigkeit. Zudem wirft es die Frage auf, wie Gemeindesuppliken konkret entstanden. Handelten Bürgermeister und Rat beziehungsweise Vierer oder Vorsteher kraft Amt im Rahmen ihrer allgemeinen Verpflichtung oder wurden Suppliken eigens breiter konsensuell abgestützt, etwa über die Zünfte oder eine Gemeindeversammlung? Die Entstehung und Realisierung der Idee zu Supplizieren ist für die Gemeinden im konkreten Fall wenig erforscht 23 ). Doch die Verwaltung interessierte sich immer dafür, wer hinter einer Supplik stand. Das Beispiel der hessischen Stadt Rinteln, deren Bürgerschaft eine Geldkollekte veranstaltete „zu Bestreitung der Kosten einer höchsten Orts durch eine Deputation zu überreichenden unterthgsten Vorstellung", soll als Illustration dienen.. Weil die Regierung zu Rinteln dieses Vorgehen der Bürger 19 ) Grundlegend: David Martin Luebke, Factions and C o m m u n i t y in Early Modern Central Europe, in: C E H 25 (1992), 2 8 1 - 3 0 1 . Vgl. Robert von Friedeburg, „Reiche", „geringe Leute" und „Beambte". Landesherrschaft, dörfliche Factionen und gemeindliche Partizipation 1648-1806. Zugleich eine Antwort auf Peter Blickle, in: Z H F 23 (1996), 2 1 9 - 2 6 5 , 244—259; für zwei englische Beispiele vgl. Tom Woods, Prelude to Civil War 1642. M r Justice Malet and the Kentish Petitions. Salisbury 1980, 2 8 , 4 5 (Faktionalismus innerhalb des Londoner Rats) und J. H. E. Bennett/J. C. Dewhurst (Hrsg.), Quarter Session Records for the County Palatine of e h e s t e r 1559-1760. e h e s t e r 1940, 9 3 f. (religiöse Spaltung innerhalb der Pfarrei Bunbury). 20 ) Z.B. S t A M [Bestand] 17 [Landgräflich Hessische Regierung Kassel] e [Ortsreposituren] AllendorfAVerra Nr. 114 (Verschiedene Klagen der Gilden und Z ü n f t e über Bürgermeister und Rat 1652-1653); 5 Nr. 15580 (Stadt Kassel 1722); 17e Kirchhain Nr. 61 (Gesuch der Anspänner zu Kirchhain, Frankenberg und G e m ü n d e n um Beteiligung der unbespannten E i n w o h n e r mit einem Geldbeitrag an den Kriegsfuhren 1793). 21 ) S t A M 17e I m m e n h a u s e n Nr. 4 (Gesuch der gesamten Bürgerschaft zu Immenhausen um Nichtbestellung des Ratsverwandten Georg Lötz zum Bürgermeister 1687). 22 ) Z.B. S t A M 17e Allendorf Nr. 41 (Stadt AllendorfAVerra 1576); 17e Niedenstein Nrn. 38 und 4 ( 1 6 0 0 - 1 6 0 7 ) ; 17e Sontra Nr. 88 (1558, 1589); 17e Immenhausen Nr. 80 ( 1 6 7 4 1675); 5 Nr. 1814 (Stadt Allendorf 1709/1719-1721). 23 ) Vgl. das Beispiel aus d e m frühen 17. Jahrhundert bei John C. Theibault, German Villages in Crisis. Rural Life in Hesse-Kassel and the Thirty Years' War, 1580-1720. Atlantic Highlands 1995, 2 7 - 2 9 ; aus der Zeit um 1700: Mathias Hattendorf, Begegnung und Konfrontation der bäuerlichen Bevölkerung mit Herrschaftsrepräsentanten im Spiegel von Bittschriften (am Beispiel des holsteinischen A m t e s Rendsburg zwischen 1660 und 1720), in: Ulrich L a n g e (Hrsg.), L a n d g e m e i n d e und f r ü h m o d e m e r Staat. Sigmaringen 1988, 1 4 9 163, 153 f. Ein Fall von 1595 aus d e m Fürstbistum Basel bei: Hans Berner, Gemeinden und Obrigkeit im fürstbischöflichen Birseck. Liestal 1994, 185-188.
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mißbilligte, meldete sie den Fall nach Kassel. Die Zentrale leitete eine Untersuchung ein, in deren Verlauf zwei Männer verhört wurden, welche berichteten: „Die Stadt-Vorsteher hätten die Alter-Leute aus denen Aemtern durch die Stadt Diener auf das Rathhauß fordern laßen und denselben vorgetragen, sie wolten eine Deputation mit einer Vorstellung ad S[erenissi]mum auf Cassel schicken um ihre alte Gerechtsame wieder zu erlangen, womit dann sämtliche zu frieden gewesen. Hierauf hätten die Vorsteher bey denen Ämtern [über elf Reichstaler] aufgehobenf,] um davon die Kosten wegen der Vorstellung zu bestreiten und als solche fertig gewesen, wären die Geschworenen der Aemter wieder zusammen gefordert und ihnen die Vorstellung vorgelesen worden, welche dann die Schrift mitgenommen und denen Aemtern vorgetragen, da dieselbe aber verschiedenes darinnen gefunden, welches sie vor überflüßig gehalten, so wäre sie kürtzer gefaßt und mit zweien Bürgern aus dem Mittel der Gemeinde auf Cassel geschickt worden. Die Bürgerschaft wäre mit der ganzen Sache zu frieden gewesen, und hätten sich erboten zu denen Kosten nach Vermögen beizutragen" 24 ). Die Regierung zu Rinteln hingegen hatte in ihrer Anzeige gewarnt, daß „es ein nicht geringes Vergehen ist, daß singuli, unter den Augen ihrer vorgesetzten Obrigkeit, sich ermächtigen, [sich] unter Vorspiegelung der Bürgerschaft wichtige Vörtheile zu verschaffen zu wollen" 25 ). Was der herrschaftliche Beamte als selbstsüchtigen Bereicherungsversuch von „singulis" darstellte, war in der Optik der Supplikanten ein breit abgestütztes Verfahren, das sowohl von der Bürgerschaft als auch von den Ämtern mitformuliert und konsentiert worden war. Beachtenswert ist insbesondere, daß auch der Konsens der Ämter eingeholt wurde. Weil nun aber diese Form der Zustimmung offenbar nicht als ausreichend galt, brachten die Geschworenen die Vorstellungen heim. Die aufgrund des Vörtragens zu Hause enstandenen Kürzungsvorschläge wurden von der Stadt Rinteln akzeptiert und umgesetzt. Welche der beiden gegensätzlichen Darstellungen zutrifft, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden; der Fall zeigt aber das Spektrum möglicher Entstehungsprozesse an. Angesichts dieser Problematik ist es nicht einfach, zu einer verläßlichen Definition von „Gemeindesuppliken" zu gelangen. Im folgenden sollen pragmatisch alle explizit von der Gesamtheit der politisch in der Gemeinde Berechtigten oder von ihren legitimen Vertretern eingereichten Eingaben als „Gemeindesuppliken" bezeichnet werden, wenn auch immer zu bedenken bleibt, daß selbst bei solchen, auf den ersten Blick einheitlich-konsensualen
24
) StAM 5 Nr. 360, fol. 9 f. (Bericht des Advocatus fisci Rath Eigenbrodt zu Rinteln mit dem Verhörprotokoll 5. und 7.1.1786). 25 ) Ebd., fol. 4' (Anzeige des Rats Eigenbrodt v. 29.XII.1785). StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, 17.111.1786, Nr. 183/42. Der Bericht der Rintelner Regierung wurde nochmals ohne Resultat verhandelt, ebd., 26.V.1786, Nr. 75/316.
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Eingaben innerkommunale Auseinandersetzungen nie ganz auszuschließen sind 26 ).
2. Die Quellenvielfalt am Beispiel des Adressatenspektrums englischer Gemeindepetitionen England bietet hier insofern günstige Untersuchungsbedingungen, als das Petitionsrecht an Krone und Parlament seit dem 13. Jahrhundert unbestritten 27 ) und die hohe Frequenz der Eingaben „von unten" der Obrigkeit immer wieder ein Dorn im Auge war. Die Suppliken richteten sich allerdings nicht nur an die oberste Staatsspitze. Auffallend ist vielmehr, wie auf den verschiedensten Ebenen an alle möglichen Stellen suppliziert wurde 28 ). Im folgenden soll deshalb das Adressatenspektrum in einem vom 13. bis zum 18. Jahrhundert reichenden diachronischen Aufriß näher beleuchtet werden. Als empirische Basis dient eine exemplarische Auswahl von kommunalen das heißt von Dörfern, Städten, Pfarreien und ihren Amtsträgern verfaßten petitions, und damit natürlich nur eine verschwindend kleine Teilmenge des erhaltenen Quellencorpus 29 ). Tabelle 1 und die daran anschließende Diskussion versuchen, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, die wichtigsten Empfängergruppen funktionell zu gliedern und an einigen konkreten Beispielen zu illustrieren. Zu beachten gilt es dabei, daß aufgrund der zeitgenössischen Vermengung von judikativen, legislativen und exekutiven Kompetenzen viele Adressaten in mehr als einer Untergruppe aufgeführt sind; die an sie gerichteten Schreiben konnten daher oft sachlich ganz unterschiedliche Anliegen kombinieren. Außerdem traten einige der hier aufgelisteten Empfanger auch selbst als Petitionäre auf: so etwa Städte, die sich beim König um rechtliche Privilegierung bemühten, oder Grundherren, die eine Besitzstreitigkeit via Rechtssupplikation an ein höheres Gericht weiterzogen.
26
) Ungelöst bleibt damit immer noch das Problem der offensichtlich gefälschten Petitionen, wie sie etwa 1651 in der englischen Grafschaft Chester zirkulierten: Bennett/ Dewhurst, Chester (wie Anm. 19), 149. 27 ) Norman Wilding/Philip Laundy, Encyclopaedia of Parliament. 4. Aufl. London 1972, 561. 28 ) Zaret, Petitions (wie Anm. 16), 1511. Das Parlament beklagte sich 1648 darüber, daß es sich unmöglich auf seine Geschäfte konzentrieren könne, „while the drums beat, or the people tumultuate", um ihren Petitionen Nachdruck zu verleihen: A Declaration of some Proceedings (1648), in: William Haller/G. Davies (Hrsg.), The Leveller Tracts 1647-53. Gloucester (Mass.) 1964, 115; einen ähnlichen Druck der Straße schildert Mark Knights, Politics and Opinion in Crisis 1678-81. Cambridge 1994, 239, für den Winter 1679-80. 29 ) Allein im Archiv des Oberhauses liegen nicht weniger als 4 8 1 2 Bände von Appellationspetitionen zur näheren Einsicht bereit: Maurice Bond, Guide to the Records of Parliament. London 1971, 117.
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Tabelle 1 : Empfängergruppen k o m m u n a l e r Suppliken Zentrale
Instanzen
Regionale
Ebene
Lokale
Instanzen
30
1. Kirchliche Adressaten ) Papst (vorreformatorisch)
Bischöfe
Königliche Kommissare und
Archidiakone
Court of Delegates
Pfarrer Patronats- und Inkorporationsherren
(beide nachreformatorisch) 2. Weltliche Adressaten a) in gerichtlicher Funktion König(in)
Grafschaftsgerichte
Grundherrliches Gericht
Parlamentskammem
Friedensrichter
Stadtgericht
Chancery, Exchequer b) in gesetzgeberischer Funktion König(in)
Quarter Sessions
Grundherren
Privy Council
Friedensrichter
Stadtrat
Parlament c) in exekutiver Funktion 31 ) König(in)
Friedensrichter
Grundherren
Privy Council
Grafschaftsbeamte
Stadtrat
Einzelne Minister
Regionale Korporationen
Zünfte
d) in grundherrlicher Funktion König(in)
Hochadel
Grundherren
Colleges
Stadtrat
Domkapitel
2.1. Kirchliche Amtsträger D i e religiöse Ebene bot v o n jeher A n l a ß zu besonders intensiver Bittätigkeit, und die Amtskirche als institutionelle Vermittlerin göttlicher Gnade erscheint als Adressatin zahlloser Gemeindepetitionen. Vor der Glaubensspaltung war R o m die oberste Instanz, die sehr direkt auf lokale Verhältnisse Einfluß neh-
30 ) Streng genommen sollten auch diese in funktionelle Kategorien (Gerichts- und Grundherren, Seelsorger usw.) unterteilt werden, doch soll die Feinanalyse hier nur für den reicher dokumentierten weltlichen Bereich durchgeführt werden. 31 ) Also Suppliken an die Instanzen, die zum Entscheid von Einzelfällen sowie zur Gewährung von Gnadenakten und Ausnahmen befähigt waren.
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men konnte. Gemeinden mit ungenügender sakramentaler Versorgung wandten sich deshalb im Spätmittelalter in großer Zahl an den Papst, um ihren Anliegen Nachdruck zu verschaffen. So beauftragte Julius II. den Dekan des Kapitels von York am 23. Oktober 1506 aufgrund einer „recent petition of the body of inhabitants of the vills or districts of Saborbe, Uerley [etc.; insgesamt acht Ortschaften]", deren Wunsch nach einer eigenen Kapelle unter Anhörung aller Parteien zu prüfen und gegebenenfalls die Neugründung zu bewilligen 32 ). Doch konnte Rom auch andere Dienste leisten. Aufgrund einer Supplikation von Bürgermeister und Gemeinde der Stadt York übertrug Clemens VI. 1343 Peter de Langaton eine normalerweise vom dortigen Erzbischof zu besetzende Pfründe 33 ). Parallel wurde auch auf Diözesanebene suppliziert: ein Kirchenpfleger von Ruckinge in Kent erinnerte den Offizial von Canterbury 1502 daran „that where I labored unto your mastershipp for reformacon of divers matters mysordered within the parish [... you] commandyd me to bryng it in wrytying at the corte". Trotzdem seien noch immer keine entsprechenden Maßnahmen getroffen worden, weshalb er ihn noch einmal bitten wolle „to have remembraunce thereof' 3 4 ). Genau hundert Jahre früher hatten die Bewohner von Emneth in Cambridgeshire im Rahmen eines Streites um Nutzungsrechte an den Messutensilien ihrer Kapelle an den Bischof von Ely appelliert. Offensichtlich erhofften sie sich von kirchlicher Vermittlung eine Bestätigung ihrer Ansprüche 35 ). Für Beispiele aus dem lokalen Bereich kann auf die zahlreichen „complaints" der Pfarrgenossen von Carlton in Yorkshire gegen ihre Inkorporationsherren, die Mönche von Selby, verwiesen werden: an der Wende zum 15. Jahrhundert häuften sich im Abteiarchiv die Beschwerden wegen der mangelhaften priesterlichen Versorgung der zahlreichen im Sprengel verstreuten Kapellen 36 ). Nach der Reformation kamen ehemals päpstliche Kompetenzen an Kommissare und neue Appellationsinstanzen. Die Pfarrgenossen von Long Melford richteten daher 1547-1548 eine „byll of complaynte [...] for the pore 32
) Michael J. Haren (Hrsg.), Calendar of Entries in the Papal Registers Relating to Great Britain and Ireland. Vol. 18: Pius III and Julius II 1503-13. Dublin 1989, 481. Die immer klarere Tendenz, direkt nach Rom zu supplizieren, betont A. D. Frankforter, The Reformation and the Register, in: Catholic History Review 63 (1977), 2 0 4 - 2 2 4 , 223. 33 ) W. H. Bliss (Hrsg.), Calendar of Entries in the Papal Registers Relating to Great Britain and Ireland. Petitions to the Pope. Vol. 1: 1342-1419. London 1896, 56. 34 ) C. Woodruff (Hrsg.), An Archidiaconal Visitation, in: Archaeologia Cantiana 47 (1935), 53. 35 ) Registers of the Bishops of Ely: Cambridge University Library, G / l / 3 , f. ccxxv. Zu erwähnen wären auch die zahlreichen Ablässe, die die Bischöfe (zweifellos aufgrund lokaler Anfragen) brand- oder flutbeschädigten Kirchen zwecks Wiederaufbauhilfe gewährten: siehe Margaret Aston, Iconoclasm at Rickmansworth, in: JEcclH 4 0 (1989), 5 2 4 - 5 5 2 , 526. 36 ) Robert Swanson, Parochialism and Particularism, in: Michael J. Franklin/Christopher Harper-Bill (Hrsg.), Medieval Ecclesiastical Studies in Honour of Dorothy Owen. Woodbridge 1 9 9 5 , 2 4 1 - 2 5 7 , 2 4 4 .
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peple & hyghe wayes & churche goodes" an eine königliche Visitation, um wenigstens einen Teil ihres Kirchengutes vor staatlicher Beschlagnahmung zu bewahren. Mehr oder weniger gleichzeitig bat St. Nicholas, Guildford, die sich in ihrem Sprengel umsehenden „commissioners" um Verständnis für den von den Kirchenpflegern vorgenommenen Verkauf von Meßkelchen, „your orators not knowynge or cenceyvynge any restraynt or com[and]ment not to sell the same plate" 37 ). Appellationen aus den zwei Kirchenprovinzen von York und Canterbury gelangten in der Frühneuzeit mittels Petition an den Kanzler ans sogenannte Court of Delegates, das von der königlichen Verwaltung je nach Bedarf zusammengestellt wurde 38 ).
2.2. Weltliche Adressaten a) in gerichtlicher Funktion Die Regierungszeit von Edward I. (1272-1307) gilt als eine wichtige Phase in der Entwicklung des Petitionswesens, in der sich eine „machinery for dealing with complaints against faults in royal administration" entwickelte, während es unter Richard II. (1377-1399) zu einer stärkeren Formalisierung und Standardisierung der Quellengattung kam 39 ). Mehr noch als seine mittelalterlichen Vorgänger und Vorgängerinnen beschäftigte sich Jakob I. (1603-1625), im Einklang mit seinem „self-image as the primary source of all justice", mit einer großen Anzahl von Petitionen in Rechtssachen 40 ). Seine Räte hatten zwar keine eigenen jurisdiktionellen Kompetenzen, erhielten aber trotzdem immer wieder Petitionen von Parteien, die sich von ihrem Einfluß auf König und Richter Hilfe erhofften 41 ). In Finanzsachen übte die Schatzkammer seit dem 13. Jahrhundert eine eigene Gerichtsbarkeit aus. Im Falle der Pfarrei Prestbury ging es 1640 um die Frage, ob die gewohnheitsrechtliche Maxime, daß jedes Dorf seine eigenen 37
) Black Book: Suffolk Record Office, Bury St Edmunds, FL 509/1/15, f. 27v; R. Roberts (Hrsg.), Further Inventories of Goods of the Churches of Surrey, in: Surrey Archaeological Collections 2 4 (1911), 35. 38 ) „The appellant's proctors would first draw up a petition, addressed to the Lord Chancellor": G. / . O. Duncan, The High Court of Delegates. Cambridge 1971, 82; die Akten verteilen sich auf 1114 Bände: Public Record Office, D E L 1-11. 39 ) C. M. Fraser (Hrsg.), Northern Petitions Illustrative of Life in Berwick, Cumbria and Durham in the Fourteenth Century. Gateshead 1981, 1 (Zitat) und Zaret, Petitions (wie Anm. 16), 1509. 40 ) Im ersten Regierungsjahr allein ( 1 6 0 3 - 1 6 0 4 ) finden sich 4 6 6 Fälle: James S. Hart, Justice upon Petition. The House of Lords and the Reformation of Justice 1621-75. London 1991,33. 41 ) Geoffrey R. Elton, The Tudor Constitution. 2. Aufl. Cambridge 1982, 103; J. P. Dawson, The Privy Council and Private Law in the Tudor and Stuart Period, in: Michigan Law Review 48 (1950), 3 9 3 ^ 2 8 , 6 2 7 - 6 5 6 , 629.
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Armen unterhalten solle, durch die in der elisabethanischen Gesetzgebung definierte Koordinationsrolle der Gesamtpfarrei hinfällig geworden sei. Der Lord Chief Baron wurde deshalb per Petition aufgefordert „that your Lordship and the rest of the Reverend Judges would be pleased to deliver their opinion Whether the parishioners of Prestbury may not proceed in their Ancient and laudable Custom". Der Entscheid bekräftigte das Herkommen, doch sollten die Friedensrichter bei Bedarf auch auf das neue Statut zurückgreifen dürfen 42 ). Die im Spätmittelalter praktisch erloschene Kompetenz des Oberhauses, Rechtssuppliken zu empfangen, wurde 1621 „almost entirely in response to the pressure of public discontent" wiederhergestellt 43 ). Das Lange Parlament wurde mit Eingaben regelrecht überflutet: 83 im Dezember 1640, 125 im Januar 1641, 83 im Februar - an eine faire Behandlung im zuständigen Petitionsausschuß war nicht mehr zu denken. Die Klagen verraten eine tiefsitzende Abneigung gegen die Alleinherrschaft Karls I. Bürgerkrieg und Parlamentsregime erzeugten zwanzig Jahre danach offensichtlich einen ähnlichen Problemstau: während den bloß acht Monaten des Convention Parliament von 1660 empfingen die Lords nicht weniger als 850 Petitionen 44 ). Die Kompetenz des Kanzlers (und seines Chancery-Gerichtes) „to decide equitable remedies" 45 ), das heißt im Gegensatz zu den common law courts die jeweiligen Streitfälle nicht aufgrund formeller Kriterien und Präzedenzfälle, sondern nach seinem besten Wissen und Gewissen zu entscheiden, scheint sich aus der Flut an ihn gerichteter Eingaben herausgebildet zu haben 46 ). Die dadurch „von unten" erwirkte Institutionalisierung einer speziellen Behörde stand im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer treuhänderischer Besitzformen, die von den existierenden Gerichten nicht behandelt werden konnten 47 ). Die an den Kanzler gerichteten Schreiben hießen „bills of complaint", begannen mit einer untertänig-ehrerbietigen Grußformel und mußten einen 42
) Bennett/Dewhurst, Chester (wie Anm. 19), 98 f. ) Hart, Justice (wie Anm. 40), 2. 44 ) Ebd., 2 f., 20, 45, 66-70 und Tabelle 1.3 (unter den Petitionären befinden sich auch lokale Amtsträger). 45 ) Fräser, Northern Petitions (wie Anm. 39), 1. 46 ) „As authorities able to handle almost anything, the king and his council received many bills alleging all kinds of grievance, general and particular; and those complaining of individual wrongs were so regularly referred to the chancellor that by the fifteenth century they were often addressed directly to him, and decrees came to be expressed as made on his own authority": Francis Milsom, Historical Foundations of the Common Law. 2. Aufl. London 1981,82. 47 ) Ebd., Kapitel 4: The Rise of Equity; M. E. Avery, History of Equitable Jurisdiction of the Chancery before 1460, in: Bulletin of the Institute of Historical Research 42 (1969), 129— 144; Robert Palmer, English Law in the Age of the Black Death 1348-81. Chapel Hill 1993. 43
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Abriß über die beanstandeten Vorgänge und die Begründung des Weiterzugs vor eine neue Instanz enthalten 48 ). Pfarreien, die wegen ihres mangelnden korporativen Status in königlichen Gerichten oft nicht prozessieren durften, wußten die Flexibilität des Kanzleigremiums besonders zu schätzen. Unter den frühesten Akten befindet sich die Petition der Kirchenpfleger von Axbridge in Somerset, die sich beklagten, daß sie auf Anweisung der Gemeinde ihre Amtsvorgänger immer wieder aufgefordert hätten, „to make accompt [...] according to there olde accustomed usage", was jene allerdings verweigerten. Geld wie auch Güter seien der Pfarrei dadurch entzogen worden, „to the uttermost undoyng and decay of the meyntenance of the churche" 49 ). Zur Illustration der zahlreichen regionalen und lokalen Gerichtsinstanzen sei hier noch auf die in jeder Grafschaft abgehaltenen quarter sessions verwiesen 50 ). Eine vom Pfarrer, den Kirchenpflegern, Dorfpolizisten, Armenaufsehern und anderen Einwohnern unterzeichnete Supplik von Castle Combe in Wiltshire beklagte sich 1606 über den „filthy act of whoredom" einer Frau, „by the which licentious life of hers not only God's wrath may be poured down upon us inhabitants of the town, but also her evil example may so greatly corrupt others that great and extraordinary charge for the maintenance of baseborn children may be imposed upon us" 51 ). Ähnliche finanzielle Erwägungen bewogen 1693 die Einwohner von Radnage in Buckinghamshire, von ihren Friedensrichtern eine rechtsverbindliche Bestätigung ihrer Steuerhoheit über den Grundbesitz des Pfarrers zu erwirken 52 ). b) in gesetzgeberischer Funktion 53 ) Bereits im frühen 14. Jahrhundert baten die „commons of Cumberland" Edward II., die Gültigkeit des Statuts von Winchester, das unter anderem die Verhaftung von Verbrechern regelte, auf ihr Territorium auszuweiten 54 ). Eine „passionate plea from the town [of Shrewsbury] to the Queen and Lords" hingegen datiert von 1571: in einer von den städtischen Friedensrichtern, den Ratsmitgliedern, einzelnen Gentlemen und vielen anderen Einwohnern unterzeichneten Petition wurde die Aufhebung eines der Tuchhändlerzunft sechs 48
) Hart, Justice (wie Anm. 40), 10. ) Early Chancery Proceedings: Public Record Office, London, C 1 872/17. 50 ) Die Sessionen „received a steady stream of petitions from the villages", die meisten „thoroughly parochial": Anthony Fletcher, Reform in the Provinces. The Government of Stuart England. New Haven 1986, 165. 51 ) Martin Ingram, Church Courts, Sex and Marriage in England 1570-1640. Cambridge 1987, 261; weitere Beispiele für „community values" illustrierende Petitionen in Keith Wrightson, English Society 1580-1680. London 1982, 53-55, 170. 52 ) William Le Hardy, County of Buckingham. Calendar of Session Records 1678-94. Aylesbury 1933, 482. 53 ) „Gesetzgebung" ist hier im weitesten Sinn als Regulierungs- und Statutarkompetenz zu verstehen. 54 ) Fräser, Northern Petitions (wie Anm. 39), 95 f.
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Jahre zuvor gewährten Statuts angestrebt, das sich für die Allgemeinheit als sehr nachteilig erwiesen hatte 55 ). Immer wieder ersuchten Gemeinden den Monarchen um die Verleihung oder Erneuerung von Stadtrechten. Für die von ihm als „solicitor" der Cinque Ports, einem Bund von Häfen in Kent, anläßlich der Krönung von Mary 1553 präsentierte Supplikation stellte Thomas Menesse den Städten eine Rechnung von über £ 42 56 ). Seit 1327 tritt das Unterhaus selbst mit Petitionen an den Monarchen, so etwa mit der Supplication against the Ordinaries von 1532, einer polemischen Abrechnung mit der weltlichen Macht der Kirche, oder der Great Remonstrance im Vorfeld der Revolution von 1649 57 ). Verfahrensmäßig besonders interessant sind die Vorgänge um die Petition of Right (1628). Karl I. hatte sich geweigert, ein verbindliches Gesetz über die genaue Abgrenzung zwischen Untertanenfreiheiten und königlichen Prärogativen zu akzeptieren, worauf die Gelehrten des common law den Parlamentsvertretern die Verwendung einer „Petition of right" als Alternative empfahlen. Dieses zuvor nur in juristischen Verfahren eingesetzte Instrument, womit eine Partei ihr bestehendes Recht formell einforderte, sollte den Monarchen auf den Inhalt der Supplik verpflichten. In der Praxis allerdings nahm Karl I. die Eingabe zwar an, ohne sich jedoch an die Interpretation der Initianten gebunden zu fühlen 58 ). In eher seltenen Fällen wandten sich Petitionäre mit ihren auf gesetzliche Regelung abzielenden Anliegen auch an den privy council oder einzelne seiner Mitglieder. Aus der elisabethanischen Epoche kann etwa auf eine Eingabe für bauliche Verbesserungen des Hafens von Rye in Sussex verwiesen werden 59 ). Normalerweise wurde aber an eine der beiden Parlamentskammern suppliziert. Das Oberhaus empfing neben den oben skizzierten juristischen Petitionen auch solche, die die Einbringung einer bestimmten Gesetzesvorlage zum Ziel hatten. Jede wurde dem „Clerk of Parliament" überreicht, von einem Lord im Haus eingebracht und debattiert, ab 1624 jedoch bloß ins Journal eingetragen und ohne Verhandlung im Plenum direkt einem Ausschuß überwie-
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) Geoffrey R. Elton, The Parliament of England 1559-81. Cambridge 1986, 124 (14 Eliz. I, c. 12); 56 ) Felix Hull (Hrsg.), A Calendar of the White and Black Books of the Cinque Ports 14321955. London 1966, 250; vgl. Berwick-upon-Tweed (1306): Fraser, Northern Petitions (wie Anm. 39), 28-30. 57 ) Wilding/Laundy, Parliament (wie Anm. 27), 562; zur Bedeutung der „Supplication" siehe Christopher Haigh, English Reformations. Oxford 1993, 111 f.; Text der „Great Remonstrance with the Petition accompanying it" (1641), einem langen Katalog von königlichen Unterlassungen, in: Samuel Rawson Gardiner (Hrsg.), The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625-60. 3. Aufl. Oxford 1906, 202-232. 58 ) Jess Stoddart Flemion, The Struggle for the Petition of Right in the House of Lords, in: Clyve Jones/David L. Jones (Hrsg.), Peers, Politics and Power. London/Ronceverte 1986, 41,47. 59 ) Elton, Parliament of England (wie Anm. 55), 52.
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sen 60 ). Trotzem fanden kommunale Interventionen weiterhin Gehör: das Sitzungsprotokoll vom 23. Januar 1702 vermerkt, daß „the Lords Spiritual and Temporal [...] upon reading the Petition of the Inhabitants of Bawtry, in the County of York" beschlossen hätten, daß die Bittsteller „shall be heard [...] as desired, on Monday next, at Eleven a Clock" 61 ). Seit seiner Entstehung im Spätmittelalter fungierte aber besonders das Unterhaus als eine „assembly of petitioners on behalf of the realm" 62 ). Im 16. Jahrhundert scheinen die turbulenten religiösen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen zu einer starken Zunahme der Eingaben geführt zu haben, was sich ab 1571 in einer ganzen Reihe von Verfahrensänderungen niederschlug 63 ). Zwar sind alle eingehenden Suppliken im Parlaments-Journal vermerkt, dennoch machen es die verschlungenen parlamentarischen Wege schwierig, verabschiedete Gesetzestexte (acts) direkt auf einzelne Entwürfe (bills) zurückzuführen. Immerhin kann davon ausgegangen werden, daß „local interests" einen signifikanten legislativen Einfluß besaßen und „große Politik" keineswegs nur auf Regierungsinitiative zurückging. Städtische Behörden waren immer „among the most eager to watch what happened in Parliament and to promote their own needs" 64 ). Dieses Lobbying ließen sie sich einiges kosten: London betrieb in den 1560er Jahren gegen einigen Widerstand die Schiffbarmachung des Flusses Lea, was nach Bestreitung der administrativen und parlamentarischen Gebühren mit £ 40 zu Buche schlug. Am Ende jedoch resultierte aus der kommunalen „bill" ein nationaler „act". Bei jeder Neueinberufung des Parlaments lud die Stadt außerdem interessierte Kreise ein, Gesetzesvorlagen einzureichen, die vom Rat unterstützt werden könnten 65 ). Nach der unerhörten Supplikenflut ans Lange Parlament der 1640er Jahre 66 ) kam es 1661 zum Tumultuous Petitioning Act67), der festlegte, daß keine Anliegen von über zwanzig Personen ohne Zustimmung der lokalen 60
) Bond, Parliament (wie Anm. 29), 172f.; Hart, Justice (wie Anm. 40), 3 5 - 3 7 . ) Journal of the House of Lords. Vol. 17, 255 (betr. Schiffbarmachung des Flusses Darwent). 62 ) Elton, Parliament of England (wie Anm. 55), 17. 16 0 0 0 Petitionen sollen zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert ans Parlament gerichtet worden sein: Zaret, Petitions (wie Anm. 16), 1509; siehe auch Alec R. Myers, Parliamentary Petitions in the Fifteenth Century, in: EHR 52 (1937), 3 8 5 - 4 0 4 , 5 9 0 - 6 1 3 . 63 ) Dazu gehörten die Einrichtung neuer Kommissionen: Bond, Parliament (wie Anm. 29), 2 4 0 f. M ) Elton, Parliament of England (wie Anm. 55), 76 (Zitat), 273 (lokaler Einfluß). In den 1560er Jahren z. B. bemühte sich Guildford erfolgreich um die Einrichtung eines Gymnasiums (ebd., 128 f.). 65 ) River Lea: ebd., 5 6 ( 1 3 Eliz. I, c. 18); für eine detaillierte Diskussion der Initiativen von London und York siehe ebd., 7 8 - 8 6 , 85 (Zitat). 66 ) Siehe z.B. die in Beat Kümin, Gemeinde und Revolution, in diesem Band behandelten Petitionen der Levellers. 67 ) 13 Charles II, Session I, c. 5. 61
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Friedensrichter eingereicht werden dürften. Acht Jahre später wurde der Problemkreis generell neu geregelt. Das uneingeschränkte Petitionsrecht aller „commoners" blieb in Kraft, zuständig war jetzt aber in erster Linie das Unterhaus (und nicht mehr das gesamte Parlament). Dazu mußten neue formelle Bestimmungen eingehalten werden: handgeschriebene Texte, klare Gliederung unter Angabe von Initianten, Gegenparteien, Thematik sowie Einreichung via jeweiligen Abgeordneten (mit Ausnahme der City of London, die ihre Schreiben direkt „an der Schranke" des Hauses übergeben durfte) 68 ). Kommunale Organe ließen sich von diesen Bürokratisierungstendenzen aber nicht abschrecken: Die „free burgesses" der Stadt Colchester informierten am 4. November 1702 das Unterhaus über „Bribes, Threats, Treats, and other Means", mittels derer Sir Thomas Cook sich unrechtmäßig die Wahl zum Abgeordneten erschlichen hatte, und baten um Bestrafung. Das Journal vermerkt denn auch den üblichen Beschluß, „that the Consideration of the said Petition be referred to the Committee of Privileges and Elections; and that they do examine the Matter thereof, and report the same, with their opinion therein, to the House" 69 ). In den 1720er Jahren kam es zu einer intensiven städtischen Kampagne gegen die Machenschaften der Südsee-Handelsgesellschaft, der vorgeworfen wurde, die Kredit- und Vertrauenswürdigkeit der englischen Nation zu untergraben 70 ). Am 15. Februar 1721 beschloß Cambridge „that this Corporation doe petition the Honourable House of Commons in Parliament assembled relating to the decay of Trade & for the calling to account the late Directors of the South Sea". Zweieinhalb Monate später vermerkt das Ratsprotokoll, daß einer der lokalen Parlamentsabgeordneten, Sir John Hynde Cotton, mit der Präsentation folgender Supplik in Westminster beauftragt worden sei: „To the Right Honourable the Commons of Great Britain in Parliament assembled. The humble Petition of the Mayor Recorder Aldermen and the Rest of the free Burgesses of the Antient Corporation of the Town of Cambridge Sheweth, That your Petitioners being deeply sensitive of the Deplorable Condition this Nation at present is in by the Villainous Management of the late South Sea Directors [...] humbly pray this Honourable House [...] to bring the Guilty (Be they never so great) to condign punishment" 71 ). Cotton erledigte seine Pflicht bereits am 2. Mai desselben Jahres, wie aus dem entsprechenden Eintrag im Parlamentsjournal hervorgeht 72 ). Die Abgeordneten hörten sich das Anliegen 68
) Weitere Verfeinerungen erfolgten 1685, 1689 und 1713: Einzelheiten in Bond, Parliament (wie Anm. 29), 240 f. (Zitat), und Wilding/Laundy, Parliament (wie Anm. 27), 562 f. 69 ) Journals of the House of Commons. Vol. 14, 13. 70 ) Siehe Journal of the House of Commons. Vol. 19, 493-590; z.B. London (502f.) oder Oxford (534). 71 ) Cambridge Corporation Archives, Common Day Book 1681-1722: Cambridgeshire Record Office, C/2, p. 685 (Beschluß) und 686 f. (Petition). 72 ) „A Petition of the Mayor, Recorder, Aldermen, and the rest of the free Burgesses of the ancient Corporation of Cambridge was presented to the House and read [...] praying, That
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aus Cambridge zusammen mit ähnlichen weiteren Petitionen an und verfaßten in der Folge eine ganze Reihe von Berichten und Gesetzesentwürfen über die umstrittene Gesellschaft. Gegen Ende des Jahrhunderts schließlich erwirkte sich der Ausschuß der mit vielen weltlichen Sonderrechten ausgestatteten Holy Trinity Minories Pfarrei einen act, welcher der Gemeinde Vollmachten im Straßenunterhalt zugestand 73 ). Auch noch nach 1779 erwiesen sich Petitionen als „primary weapon" für die Durchsetzung von politischen und sozialen Reformen 74 ). Eingaben an die regionalen quarter sessions konnten - direkt oder indirekt - ebenfalls regulative Konsequenzen zeitigen. Bei einer Tagung der Friedensrichter von Buckinghamshire führte eine Beschwerde der Gemeinde Fulmer 1679 zu einer generellen Neuregelung der für den Transport von Armen und Behinderten durch ihre Gegend einzuhaltenden Route 75 ). Unter den grundherrlichen Dokumenten der Abtei von Fountains - und damit sind wir auf der lokalen Ebene - findet sich eine Quelle des ausgehenden 14. Jahrhunderts, die auf die selbständige gesetzgeberische Tätigkeit der Holden hinzuweisen scheint. Offensichtlich hatte die Gemeinde einen Regelungsbedarf empfunden und darauf den Lord of the Manor erfolgreich darum gebeten, sich die entsprechenden Statuten selbst setzen zu dürfen: „Preceptum est in curia ad rogatum tocius homagii quod ordinaverint et statuent inter se leges et consuetudines in plebiscitis suis" 76 ). „Every company in the city" supplizierte beim Stadtrat von Chester am 22. Oktober 1619 gegen die Tolerierung von fremden Händlern und Handwerkern, weil dies den Bürgern und eingesessenen Lehrlingen zum Schaden gereiche. Damit wurde offensichtlich eine generelle Regelung des Problems angestrebt, doch begnügte sich der Rat mit der bloßen Ablehnung eines anhängigen Gesuches auf Aufnahme ins Stadtrecht, und „no definite order was made checking this practice in future" 77 ). c) in exekutiver Funktion Die oberste Regierungsinstanz von König und Rat war eine besonders naheliegende Adresse für Untertanenpetitionen. So erhofften sich die „gentz de la franchise de Duresme [Durham]" um 1345 vom Monarchen ein energisches Eingreifen, um ihren weltlichen Herrn; den Bischof von Durham, zu zwingen, all Endeavours will be used to bring the Guilty to condign punishment": Journal of the House of Commons. Vol. 19, 534. 73 ) Edward Murray Tomlinson, A History of the Minories London. London 1907, 296 (1771). 74 ) Bond, Parliament (wie Anm. 29), 241. 75 ) Le Hardy, Buckingham (wie Anm. 52), 15. 76 ) Warren Ault, Open-Field Husbandry and the Village Community: A Study of Agrarian By-Laws in Medieval England. Philadelphia 1965, 42 [unsere Hervorhebung], 77 ) Margaret J. Groombridge (Hrsg.), Chester City Council Minutes 1603-1642. Preston 1956, 100.
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seine gerichtlichen Pflichten zuverlässiger auszuüben 7 8 ). Die Grenzregionen im Norden Englands hatten im Spätmittelalter besonders oft Anlaß zu Bitten und Klagen, waren sie doch Schauplatz ständiger Auseinandersetzungen mit den Schotten. Kriegszerstörungen und Nahrungsmittelengpässe trieben die Einwohner immer wieder zu Gesuchen um Schulden- und Steuererlaß. Die „poures gentz de Aukeland" etwa baten Eduard II. 1323 um die Befreiung von einer Geldschuld, „come il nauoient rien dont viuere pur plusurs destructions qil ount eu par les Escoces" 7 9 ). Könige und Königinnen blieben beliebte Anlaufstellen für ihre Untertanen auch in der Frühneuzeit: Elisabeth I. etwa behandelte Hunderte von Fällen jedes Jahr 8 0 ), und das umstrittene Regiment von Karl I. provozierte eine wohl einmalige Flut von Grafschaftseingaben. Neu war in der Vorrevolutionszeit, daß Petitionen seit 1642 routinemäßig gedruckt wurden, was zu einer weiteren Verbreitung, stärkeren Generalisierung und breiteren öffentlichen Diskussion der darin enthaltenen Anliegen führte 8 1 ). Im Rahmen der durch eine angebliche katholische Verschwörung verursachten politischen Krise der Jahre 1678-1681 forderten die „Massen" Londons und der Provinz die Einberufung des Parlaments. Zeitgenossen berichten, daß von Pfarrei zu Pfarrei Unterschriften gesammelt würden: deren 8000 sollen für eine Petition aus Essex zusammengekommen sein 8 2 ). Als Beispiele für an einzelne Minister gerichtete Petitionen können zwei Eingaben aus dem 16. Jahrhundert angeführt werden: zum einen das sich unter den Akten von Thomas Cromwell befindende Memorandum der Pfarrei von Wembury, worin sich 1535-1536 Gemeindevertreter über ihre Zehnt- und Patronatsherren, die Augustiner von Plympton, beschwerten, weil „the said parish hath not with them no priest [... and also] the said prior nor his convent will not come nor send no priest to the said parish to bury a corpse [...] but they will have for their labour 7 d." 8 3 ); zum andern die Supplikation von mehreren Hafenstädten aus Kent an den Lord Treasurer „for the overthrowe of cer-
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) Fräser, Northern Petitions (wie Anm. 39), 2 3 7 - 2 3 9 . ) Ebd., 181 f., 118f. (ähnlich Carlisle 1385). 80 ) Darunter z.B. eine Petition der Cinque Ports betreffend „the charter touching the impost of wine which shall be [ . . . ] exhibited to the Queen": Hull, Cinque Ports (wie Anm. 56), 282 (1570). 81 ) Zur Grafschaftsebene: Hart, Justice (wie Anm. 40), 33; für zahlreiche Beispiele Anthony Fletcher, National and Local Awareness in the County Communities, in: H. Tomlinson (Hrsg.), Before the English Civil War. London 1983, 151-174. Zur Vorrevolutionszeit: Zaret, Petitions (wie Anm. 16), 1497, 1518. 82 ) Für Kontext und Nachweise siehe Knights, Politics and Opinion (wie Anm. 28), Kapitel „The popular humour of petitioning". Wie „kommunal" diese Interventionen waren ist allerdings ungewiß: vielerorts unterschrieben die lokalen Eliten, die sich an die anarchischen Zustände der Vorrevolutionszeit erinnert fühlten, nicht. 83 ) Gedruckt in Joyce Youings, The Dissolution of the Monasteries. London 1971, 139-141. 79
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teyne ordynances agreed upon against trafique and the publique trade of the Portes" 84 ). In den quarter sessions galt es die wachsende Gesetzesflut anzuwenden und politische Schwerpunkte zu setzen. Es kann deshalb nicht überraschen, daß sich Gemeinden dort immer wieder lautstark zu Wort meldeten. Zum Teil handelte es sich um institutionalisierte Besch werde verfahren: die Friedensrichter von Buckinghamshire etwa beschlossen 1683 „as to the settlement of any [poor] person at any towne or parish: The officers of such parish, towne, or Liberty, where such person shall be an Intruder [...] shall within one month after such endeavouringe give notice to the party to depart, and make and enter a Complaint before some or one of his Majesty's Justices of the peace" 85 ). Die Akten aus Cambridgeshire beinhalten eine ähnliche Fülle von „appeals", „complaints" und „applications" von Pfarreibewohnern 86 ), während die Stadt Burton-on-Trent 1729 - im Anschluß an einen die Errichtung von Arbeitshäusern betreffenden act von 1723 - um die Bewilligung bat, gleichzeitig ein Zuchthaus einrichten zu können, da das eine ohne das andere kaum wirksam sein würde. Kommunale Amtsträger ihrerseits konnten sowohl Urheber wie Gegenstand von Suppliken sein: Chatwell in Staffordshire beklagte sich 1718 über die verdächtig hohen Spesen seines Dorfpolizisten, während seit dem frühen 18. Jahrhundert ganze Heerscharen von Straßenaufsehern bei den Friedensrichtern um die Erlaubnis zur Steuererhebung nachsuchten 87 ). Immer wieder ging es um die Linderung oder Umverteilung von finanziellen Lasten. So petitionierten der Pfarrer, die Kirchenpfleger und andere Einwohner von Burton in Cheshire 1717 um Hilfe bei der Renovierung von Turm und Kirchenschiff, die „by reason of their antiquity are become so decayed [...] that the parishioners have been forced to take part thereof down to prevent the fall of the whole". Gret Neston und Leighton beklagten sich hingegen 1713 über die ungeheuren Kosten, die ihnen als Hafenstädte durch die große Zahl von Landstreichern erwüchsen, während die Pfarrgenossen von Wrenbury, Marbury, Baddeley und Malpas 1648 auf ihr durch Truppeneinquartierungen bewirktes „extraordinary suffering" aufmerksam machten 88 ). Kein
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) Hull, Cinque Ports (wie Anm. 56), 339 (1591). ) Le Hardy, Buckingham (wie Anm. 52), 119; diese Regulierungsmaßnahme war zweifellos beeinflußt vom „von unten" signalisierten Problemdruck: siehe etwa die zahlreichen „removal orders" [d.h. Befehle, Arme an ihren Wohnsitz zurückzuführen] an den vorhergehenden Gerichtstagen (ebd., 98 f., 112). 86 ) Quarter Sessions Order Books 1699-1715: Cambridgeshire Record Office, Q/SO/3, z.B. f. lr (Pfarrei Lynton, 13. Juli 1699), 51v (Bassington, 16. Januar 1706) und ebd., Quarter Sessions Minute Books 1723ff., Q/S/l/1, unpaginiert (Fordham, 21. April 1726). 87 ) Joan Kent, The Centre and the Localities. State Formation and Parish Government in England c. 1640-1740, in: HJ 38 (1995), 369, 394, 380. 88 ) Bennett/Dewhurst, Chester(wie Anm. 19), 206,203, 126. Von mehreren Gemeinden gemeinsam verfaßte Suppliken betrafen auch das Straßenwesen: ebd., 136; das Armutspro85
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Wunder deshalb, daß zumindest gegen Ende unseres Untersuchungszeitraums die große Mehrzahl der Amtshandlungen der Friedensrichter nicht auf Eigeninitiative, sondern den Petitionen aus den Gemeinden beruhte 89 ). Im (über-)regionalen Bereich bilden auch die an nicht-staatliche Institutionen gerichteten Eingaben einen interessanten Bestand. Im Laufe der Frühneuzeit etablierten sich zahlreiche Wohlfahrtsorganisationen, so die zur Unterstützung bedürftiger Seeleute von Heinrich VIII. 1541 gegründete Trinity House Corporation90), oder die verarmten Geistlichen und ihren Familien unter die Arme greifende Corporation of the Sons of Clergy. Auch hier kam es ab dem späten 17. Jahrhundert zu einer „flood of petitions", an denen kommunale Amtsträger zumindest indirekt beteiligt waren. Alle um Pensionen nachsuchenden Kapläne mußten ihrer Eingabe nämlich eine von den Kirchenpflegem unterzeichnete Bestätigung ihres „good character" beilegen 91 )- Einblicke in die sozioökonomischen Verhältnisse des 17. Jahrhunderts bieten die „Memorials and Petitions presented to the Bedford Level Corporation" 92 ). Ab 1634 oblag die Meliorierung der Moorlandschaft von East Anglia der Bedford Level Gesellschaft, die deshalb als Adressatin zahlreicher Suppliken fungiert. Immer wieder gab es Probleme mit Schleusen, Brücken, Vergandungen oder neuen Straßen. Im April 1702 etwa erhielten die „Governors Bailiffs and Conservators of the geat level of the fens [...] the Petition of the Inhabitants of Downham [Cambridgeshire]". Diese „humbly sheweth that whereas there is a Cart-bridge [...] it is now in great decay. We humbly conceive the same ought to be repaired by your Honourable Corporation" 93 ). In der Geschäftstätigkeit der Stadtbehörden von Chester, um noch zur lokalen Ebene überzuleiten, bildeten Petitionen „the larger part of the business conducted at a meeting" 94 ). Oft waren mehrere Anläufe notwendig, so daß die Initianten mit beträchtlichen Kosten zu rechnen hatten. Ein Großteil der Supplikanten bat um die Aufnahme ins Stadtrecht oder um die Anhörung eines anderen individuellen Anliegens, doch gab es auch hier kommunale Petitionen. Für die vakante Stelle eines Schulmeisters in Farnworth zum Beispiel, deren permanente Besetzung sich offensichtlich verzögerte, wurde 1623 aufgrund
blem provozierte jedoch bei weitem die meisten kommunalen Suppliken: ebd., lOOf. (churchwardens und Armenaufseher von Stockport, 1640), 114 (Sandbach, 1642). 89 ) Nach Einschätzung von Kent, Centre and Localities (wie Anm. 87), 403. 90 ) The Trinity House Petitions. London 1987, erschließt die entsprechenden Eingaben. 91 ) Nicholas Cox, Bridging the Gap. A History of the Corporation of the Sons of Clergy 1655-1978. Oxford 1978, 59, 90. 92 ) Cambridgeshire Record Office, S/B/SP. 93 ) Ebd., bundle 3, no. 227 (mit 31 Unterschriften). Andere Petitionen sind z.T. von Hunderten von Einwohnern signiert, viele tragen den Vermerk „referred to Ely meeting" oder „to be done". 94 ) Groombridge, Chester City Council Minutes (wie Anm. 77), vii.
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einer „request of the inhabitants there" eine Übergangslösung gefunden 95 ). Einen Sonderfall stellt die Konföderation der Cinque Ports in Kent dar, die fünf besonders privilegierte und zu gemeinsamen Lasten verpflichtete Hafenstädte sowie eine Reihe zugewandter Orte umfaßte. Zu den Traktanden der regelmäßigen Sitzungen gehörten auch Anliegen der einzelnen Gemeinden, so etwa am 24. Juli 1520 eine „petition of Folkestone" betreffend den Rechtsstatus seiner Bürger 96 ). Abschließend lassen sich auch Zünfte als Adressaten von Gemeindesuppliken anführen. So vermerkten die Amtsträger der Londoner Druckerzunft am 4. Februar 1634 folgendes Anliegen in ihrem Sitzungsprotokoll: „Dr Jurman and the churchwardens [of St Martin next Ludgate] exhibited a petition desiring that they might have part of [a] garden for a Buriall place. [The officers] have thought fitt to take the Matter into Consideration and to give them an Answere the next Court" 97 ). d) in grundherrlicher Funktion Die Holden („tenant") der königlichen Stadt Penrith baten Eduard III. 1376, doch endlich ihre Wasserversorgung zu verbessern („come il ad nulle eawe en la dite vile") und den Verunreinigungen der knappen Vorräte durch die Gerber einen Riegel zu schieben 98 ). Grundherren auf regionaler und lokaler Ebene umfaßten ein weites Spektrum von Hochadligen und Domkapiteln bis zu den Mitgliedern der niederen Gentry. Informationen und Beschwerden der Untertanen wurden in den jeweiligen Gerichten meist mittels Rügen der Dorfbeamten und Geschworenenorgane weitergeleitet, doch finden sich in den unzähligen manor court rolls auch Petitionen. In der Grundherrschaft von Hai ton in Buckinghamshire etwa ersuchte „the whole court" 1291 den Herrn um Erlaubnis, die Felder abzuschreiten und Marksteine setzen zu können, was unter der Bedingung bewilligt wurde, daß alle zum Vorschein kommenden Mißstände beim kommenden Gerichtstag anzuzeigen seien 99 ). Die Cinque Ports, um zu einem städtischen Beispiel überzugehen, unterstanden einem Stadtherrn, der einerseits der Krone verantwortlich war, andererseits aber auch die Freiheiten der Häfen zu garantieren hatte. Seit dem 13. Jahrhundert ergaben sich aus dieser Konstellation Friktionen und Kompetenzstreitigkeiten, doch wurde der sogenannte Lord Warden als Appellationsund Beschwerdeinstanz geschätzt. Wie in vielen Präzedenzfällen beschlossen Dover, Sandwich und die anderen Mitglieder des Bundes am 26. Juli 1726, „to 95
) Ebd., 125. 6) Hull, Cinque Ports (wie Anm. 56), 179 f. 91 ) William Jackson (Hrsg.), Records of the Court of the Stationers' Company 1602-40. London 1957,264. 98 ) Fraser, Northern Petitions (wie Anm. 39), 107f. (am 8. Juli wurde eine entsprechende Untersuchungskommission eingesetzt). " ) Ault, Agrarian By-Laws (wie Anm. 76), 36. 9
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draw up a petition to the Lord Warden complaining that Yarmouth have taken upon themselves the right of fixing the price of herrings [...] in violation of the Privileges of the herring fishery of the Ports" 1 0 0 ). Der Stadtrat von ehester seinerseits entschied in seiner grundherrlichen Funktion über die Vergabe von städtischen Liegenschaften regelmäßig aufgrund von Petitionen 1 0 1 ). Quantitative Aussagen über die relative Bedeutung der einzelnen Adressaten oder langfristige Trends im englischen Petitionenwesen lassen sich aufgrund der hier getroffenen exemplarischen Auswahl - aber auch wegen der unterschiedlichen Überlieferungsquoten - nur schwer machen. Immerhin sind die weltlichen Suppliken sicher sehr viel häufiger als die kirchlichen, und die an Gerichte und Exekutivorgane gerichteten Anliegen zahlreicher als die Gesetzesinitiativen. Alle hier skizzierten Beispiele und Ebenen repräsentieren jedoch substantielle und über den gesamten Untersuchungszeitraum verbreitete Quellenbestände. Als Fazit darf sicher festgehalten werden, daß kommunale Organe das Instrument der Supplik in virtuoser Weise je nach Bedarf einsetzten und mit praktisch allen obrigkeitlichen Instanzen in alltäglichem Kontakt standen. Dabei fanden sie mit ihren Anliegen zwar nicht immer Gehör, doch konstituierten sie einen wichtigen Impulsgeber: Ohne die konstanten Interventionen der Gemeinden aus nah und fern hätte die „große" englische Politik ohne Zweifel ganz anders ausgesehen.
3. Supplikationen und frühmoderner Staat - Tendenzen im Herzogtum Württemberg Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert weisen die landesfürstlichen Kanzleien im Reich die Neigung auf, an die Herrschaft gerichtete Eingaben und Anbringen als Supplikationen zu bezeichnen 1 0 2 ). Wenn Sprache Symbolcharakter hat, dann wird man kaum annehmen können, daß es sich hierbei um eine bloße Veränderung des Stils handelte 1 0 3 ). Um als Fachausdruck der Verwaltung oder Modewort der Schreiber abgetan zu werden, gewann das Wort zu schnell zu viel begriffliche Substanz. Im späten 16. Jahrhundert findet man die Supplikation in aller Munde. Der Sprachgebrauch der Kanzleien des ausgehenden 15. Jahrhunderts dürfte demnach eine schon in Gang gekommene Umstrukturierung politischer und sozialer Realitäten abgebildet haben, deren Faktoren
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°) Hull, Cinque Ports (wie Anm. 56), 555; 1570 wurde festgehalten, daß man „in all matters in dispute between him and the Ports" an den Warden supplizieren solle: ebd., 282. 101 ) Groombridge, Chester City Council Minutes (wie Anm. 77), 60. 102) Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 113 ff. 103) Vgl. hierüber Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1977, 38 ff., 42.
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und Verlauf näher zu untersuchen wären. Im folgenden soll dies am Fall Württembergs beispielhaft versucht werden. In den normativen Rechtsquellen der Herrschaft Württemberg findet sich der Ausdruck Supplikation - soweit ersichtlich - erstmals in der Landesordnung von 1495 104 ). Beachtung verdient, daß jene Ordnung, die den ersten Versuch einer umfassenden landesweiten Gesetzgebung darstellte, nur gute drei Monate nach der Erhebung Württembergs zum Herzogtum erlassen wurde 105 ). Zwar liegt somit die Annahme, daß die summarische Bezeichnung von Bitten, Beschwerden und Klagen als Supplikationen - und die damit einhergehende ordentliche (also grundsätzlich schematisierte) verfahrensmäßige Handhabung derselben - im Dienste einer Territorialisierung mittels Vereinheitlichung von Recht, Gerichtsbarkeit, Friedewahrung und Konfliktbewältigung stand, im Fall das jungen Herzogtums besonders nahe; nicht ausgeschlossen ist aber, daß sich die Dinge in anderen Territorien in dieselbe oder eine ähnliche Richtung entwickelten. Immerhin wird zu bedenken sein, daß Obrigkeiten, die ihre ausgreifenden Herrschaftsansprüche mit anderen Mitteln durchzusetzen vermochten, vielleicht darauf verzichten konnten, die Supplikation in genau dieser Weise zu instrumentalisieren; während Herrschaften ohne entsprechende Gerichts- und Standesprivilegien sich des Instruments der Supplikation vielleicht von vornherein nicht bedienen konnten. Von besagter Annahme ausgehend können, was die Ausbildung der Supplikation als Institution frühneuzeitlicher Politik betrifft, zunächst drei Thesen aufgestellt werden, die sich ausschließlich auf Supplikationen an den Landesherrn beziehungsweise seine Kanzlei beschränken. Die auch in Württemberg vorhandenen Bitten an andere Adressaten werden dabei ausgeblendet 106 ): 1. Indem Bitten, Klagen 107 ) und Beschwerden ungeachtet der ihnen eigenen inhaltlichen, formalen und damit auch rechtlichen (institutionalen) Besonderheiten unter den Begriff Supplikation subsumiert wurden, ließen sie sich auf 104 ) Anton Ludwig Reyscher (Hrsg.), Vollständige, historische und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. I - X I X . Tübingen 1828 ff., hier Bd. XII, Nr.4. Von Supplikanten ist schon früher in kirchlichen Quellen die Rede, u.a. in Separationsurkunden: z . B . Frickenhausen (1467): Hauptstaatsarchiv Stuttgart [ = H S t A S t ] A 6 0 2 [= W R ] 11392; Stetten (1482) ebd., 12891. 105 ) Diesen Zusammenhang sehen auch Dietmar Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrens u.a. (Hrsg.). Zum römischen Gesetzesbegriff. Göttingen 1987, 123-146, 141; Klaus Graf, Geschichtsschreibung und Landesdiskurs im Umkreis Graf Eberhards im Bart von Württemberg ( 1 4 5 9 - 1 4 9 6 ) , in: BlldtLG 129 (1993), 165-193, 180ff. 106) Vgl. dazu Fuhrmann, Landtagsgravamina (in diesem Band). Zum Begriffsverständnis: Berger/Luckmann, Konstruktion (wie Anm. 103), 58f.: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution". 107 ) Von „Klagen" sprechen die württembergischen Quellen. Zur Unterscheidung von ordentlicher im Gegensatz zu außerordentlicher Gerichtsbarkeit: Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. 2 Bde. Köln/Wien 1987, 1251 ff.
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einen gemeinsamen Nenner bringen. Daß heißt, einer Vielzahl von untertänigen Supplikanten konnte eine anscheinend immer gleiche und von daher scheinbar umfassend legitimierte gnädige Obrigkeit gegenübergestellt werden. 2. Die Supplikation hätte demnach dazu gedient, auch solche Rechtsstreitigkeiten und Interessenkonflikte unter den Primat landesherrlicher Friedewahrung und Rechtsetzung zu ziehen, die bis dahin der ordentlichen landesherrlichen Gerichtsbarkeit nicht unterworfen werden konnten. 3. Über den Begriff der Supplikation konnte eine bis dahin fehlende Theorie zur Legitimierung eines umfassenden landesherrlichen Gewaltmonopols entwickelt werden. Das Supplikationswesen hätte in diesem Fall als Vehikel gedient, um ältere Verfahren und die (in diesen abgebildeten und bewahrten) autonomen Rechte von Individuen und Korporationen im Bereich der Konfliktbewältigung 108 ) abzulösen. Worum es diesen Thesen nicht geht, ist, als Initianten und Akteure der bezeichneten Umstrukturierung allein die Landesherren - und ihre gelehrten Juristen - hinzustellen und damit einen neuen Zugang zu einer alten erkenntnistheoretischen Sackgasse zu eröffnen. Als gegeben wird vielmehr - ohne hier auf die Dualismusdebatte näher eingehen zu können - angesehen, daß im Ständestaat Obrigkeit nicht ungeteilt war und von daher landesherrliche Gewalt das Recht, den Frieden und die Auskömmlichkeit aller zu schützen und keineswegs allein den privaten Interessen der Herrschaft zu dienen hatte. Von daher konnte auch das Feld der gelehrten Juristen nicht das der autoritativen, sondern höchstens das der integrativen Innovation sein 109 ). Der hier angezogenen Wissenssoziologie zufolge repräsentieren Institutionen primäre soziale Kontrolle. Der Kontrollcharakter, welcher der Institutionalisierung als solcher innewohnt, „hat Priorität vor und ist unabhängig von irgendwelchen Zwangsmaßnahmen, die eigens zur Stütze einer Institution eingesetzt werden" 110 ). Eine (in diesem Sinne) erfolgreiche Institutionalisierung - in unserem Fall wäre dies die Errichtung eines landesweit einheitlich zu handhabenden Gewaltmonopols zur gewaltfreien Sicherung des sozialen Friedens - ließe sich von daher durch die Formulierung von Gesetzen auch dann nicht leisten, wenn Sanktionen angedroht und verhängt würden. Vielmehr wäre der Griff zu solchen zusätzlichen Zwangsmaßnahmen als Zeichen dafür zu weiten, daß „die Institutionalisierungsvorgänge selbst zum eigenen Erfolg nicht ganz ausreichen" 111 ). 108 ) Einen wohl zu engen Konfliktbegriff verwendet Gabriele Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbandes in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, 5ff., 13. 109 ) Siehe dazu Berger/Luckmann, Konstruktion (wie Anm. 103), 98 ff., 112 ff., vor allem 117ff., 131 ff. 110 ) Ebd., 58 f. "•) Ebd., 58ff., Zitat 59; vgl. außerdem ebd., 84ff.
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Um diese für den Historiker zunächst theoretische Überlegung am konkreten Beispiel nachzuarbeiten, bietet sich das Supplikationswesen als Baustein der frühneuzeitlichen Verfassung und Gesellschaft Württembergs als lohnendes Objekt an. Denn außer den mit der Supplikation befaßten normativen Quellen sind für die Zeit von 1500 bis 1750 über tausend Supplikationsfälle an den Oberrat überliefert 112 ). Die Entwicklung ließe sich also verhältnismäßig breit auch von der Gegenseite, das heißt aus der Sicht derjenigen betrachten, deren Kommunikation mit der Obrigkeit mittels einer Supplikationsordnung an bestimmte Verfahren gebunden werden sollte. Schon bei der oberflächlichen Sichtung der bei der württembergischen Kanzlei im genannten Zeitraum eingegangenen Supplikationen fällt auf, daß die Räte neben den zahlreichen Supplikationen von Einzelpersonen und (mehr oder weniger institutionell organisierten) Gruppen eine beträchtliche Zahl an Klagen und Beschwerden von Korporationen zu verhandeln hatten, von denen sich ein guter Teil gegen die Herrschaft richtete. In Württemberg begegnen als Supplikation also nicht allein Bitten von Untertanen an die Herrschaft um Vergünstigungen oder Gnadenerweise oder um Beistand bei der Schlichtung von Konflikten und der Durchsetzung bewiesenen Rechts gegen Dritte, sondern vor allem auch gegen den Landesherrn beziehungsweise seine Kammer- und Justizverwaltung gerichtete Klagen 113 ). Man könnte auch sagen, es finden sich zahlreiche in die Form der Supplikation gegossene kommunale Gravamina mit Klagecharakter. Breit gestreute Stichproben (1525-1740) lassen erkennen, daß die auf dem Weg der Gesetzgebung erfolgte Regelung des Supplikationswesens das kommunale wie das individuelle Recht der württembergischen Untertanen, Beschwerde gegen ihre Obrigkeit zu führen, über einen langen Zeitraum hinweg einklagbar machte. Wenn ungeachtet der guten Überlieferung in diesem Abschnitt lediglich aus normativen Quellen gewonnene Eindrücke zum Verhältnis zwischen Supplikation und Klage (und keine Einzelfälle) behandelt werden, dann geschieht dies vor allem im Bemühen, auf diese Weise den Anschluß an den Artikel über die württembergischen Landtagsgravamina 114 ) zu gewinnen und so zur Erhellung des Erkenntnisproblems, das ja weniger bei den Quellen als vielmehr bei den Fragestellungen zu liegen scheint, zumindest einen kleinen Beitrag leisten zu können 115 ). Drei Untersuchungsschwerpunkte stehen dabei im Vordergrund: Wie werden die Ordnungen, die das Supplizieren regeln sollen, begründet, und durch wen werden sie beschlossen (3.1.)? Wer darf oder soll in welchen Fällen gegen wen und wohin supplizieren (3.2.)? Wie haben die Supplikanten, wie die Behörden zu verfahren (3.3.)? Il2
) "3) 114 ) 115 )
Akten des Oberrates: HStASt A 206. Wie Anm. 107. Fuhrmann, Landtagsgravamina, in diesem Band. Zur Praxis des Supplikenwesens vgl. die Kapitel 2 und 4 in diesem Aufsatz.
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3.1. Die Legitimationsgrundlage Die erste Landesordnung, die das Wort „supplicacion" in die württembergische Landesgesetzgebung einführte, wurde den Amtleuten vom Herzog 1495 ohne ein Wort zu ihrem Zustandekommen zur Publikation übersandt 116 ). Wofür der Ausdruck gesetzt war, erweist sich als ein keineswegs neues Verfahren, das als solches keiner besonderen Rechtfertigung oder Begründung bedurfte 117 ). Die zweite Landesordnung, die 1515 von Ulrich seinen Amtleuten aufgetragen wurde, war mit „güt ansehen und rath gemainer vnser Landtschafft" beschlossen. Die ausführlichen Anweisungen darüber, „Wie es mit Supplicieren der vnderthon" gehalten werden solle, sollten den „vnderthonen zu gnaden vnd gutem auch zuuerhütung vil costens schadens vnd Versäumnis" dienen 118 ). Die 1521 ebenfalls mit Rat und Zustimmung der Landschaft erlassene, dritte Landesordnung faßte die älteren Bestimmungen über das Supplizieren als „Ordnung" auf und gab keine besondere Begründung 119 ). Doch ist in der unmittelbar davor ergangenen Erläuterung des Tübinger Vertrags zu lesen, daß die „Practic vnnd beswer der gierten [Juristen]", die an den niederen Gerichten eingebrochen sei, zu so vielen „Appellationes vnnd rechtfertigungen" führe, daß die Landschaft die Regierung gebeten habe, dem mit Gesetzen und Statuten entgegenzutreten 120 ). Außerdem fällt auf, daß die Erläuterung ausdrücklich betonte, daß die Prälaten wie bisher im Lande „ynnlendisch Rechtes vnnd austrags in weltlichen sachen bekommen" und nicht unter „auslyndisch Regiment" gezogen werden sollten 121 ). Die Supplikationsordnung ließe sich von daher als Vorgriff auf oder als Teillösung für eine umfassend territoriale, das heißt die Klosterämter mit ihren Schirmverwandten einschließende, Zivilprozeßordnung deuten, wie sie mit dem Landrecht angestrebt, aber erst 1555 geschaffen wurde 122 ). Der von Herzog Ulrich 1536 ohne erkennbare Mitwirkung der Landschaft gebesserten und erläuterten vierten Landesordnung 123 ) waren die in etlichen Punkten geänderten Supplikationsbestimmungen als besondere „Ordnung vnd Satzung" einverleibt, die festlegte, „wie Wir es in Vnserm Fürstenthumb mit u6
) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 4, 5. ) Ebd., 11 f. 118 ) Ebd., Nr. 6, 17,27 f. - Schon 1514 war der Landschaft zugesagt worden, die Kanzlei zu ordnen und ältere Anordnungen zur Supplikation bei den Amtleuten besser durchzusetzen: ebd. II, Nr. 19, 47 f. " 9 ) Ebd. XII, Nr. 10; gerichtet an Ober- und Unteramtleute, Gericht, Rat und Gemeinden aller Städte und Flecken und jährlich in den Vogtgerichten zu verkünden. I2 °) Ebd. II, Nr. 25, 63. 121 ) Ebd., 61. 122) Vgl. zum Landrecht Fuhrmann, Landtagsgravamina, in diesem Band, 85-97; zu den Klosterämtern ebd., 106-111. 123 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 21, Zitate 84f., 102, 105; Adressaten und Publikation wie bei der 3. Landesordnung. 117
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Supplicieren vnserer vnderthonen, vnd vnderschreiben der Amptleut, gehalten wollen haben". Begründet war sie damit, daß den Parteien durch den obligatorischen Güteversuch unnötige Kosten erspart werden sollten. Alle folgenden Landesordnungen präsentierten die Supplikationsordnung - samt allfälligen Ergänzungen - jeweils ohne besondere Rechtfertigung 124 ). Von daher erscheint sie als integrierter Bestandteil der Landesgesetzgebung und -Verfassung, zumindest was ihre wesentlichen Züge und ursprünglichen Absichten betraf. Die Entwicklung des Supplikationswesens war damit jedoch keineswegs abgeschlossen - was sich unter anderem an den Kanzleiordnungen zeigen läßt. Herzog Christoph ordnete unmittelbar nach dem Tod seines Vaters im November 1550 das Kanzlei- und Rätewesen mit dem erklärten Ziel, die Mißstände im Supplikationswesen abzustellen 125 ). Es war nämlich „bis daher wenig ausgericht, Die Expedition mit großer Beschwerde der vnderthonen, Vnnd wer by dieser Cantzly zu schaffen gehabt, langsam von Statt gangen, Die Supplicierenden, die Je zu zeytten, Irem anligen nach, zuthun gehabt, hin vnd wider gewisen worden, daraus dann allerley nachred, widerwill, vnnd widerspennstigkheit erwachssen, Vnnd die sachen letstlich dahin gerathen sind, das Inn vnd ausserhalb dises Fürstenthumbs das geschrey eruolgt, Es seie by diser Cantzly, wenig, oder gar khein aussrichtung". Außerdem heißt es, es seien vom Hof und von der Kanzlei einander widersprechende Befehle ausgegangen und so bei den Untertanen Schaden und „wider willen" verursacht wor-
124 ) Die 5. Landesordnung (1552) erging „mit sonderm dapfferen vorgehaptem Rath", aber ohne Hinweis auf die Mitwirkung der Landschaft. Die Supplikationsbestimmungen waren als landesherrliche Ordnung ausgegeben und an Ober- und Unteramtleute, Pfleger, Verweser, Keller, Kastner, Forstmeister, Schultheißen, Gerichte, Räte und Untertanen sowie alle Schirmverwandte und Zugehörige - also auch an die Klosteruntertanen direkt gerichtet: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 49, [im Druck fälschlich als 48 numeriert], 195,230. - Die 6. (1567) war - ihrer in die 7. (1621) inserierten „Vorrede" zufolge - mit der „Prälaten vnd Landtschafft Grossem Außschutz erwegen" geändert und gebessert worden (ebd, Nr. 214, 726f.; Abweichungen zur nicht gedruckten 6. in den Fußnoten.) Trotz der Übernahme jener Vorrede erging die 7. Landesordnung wiederum ohne Vergleichung mit der Landschaft (worüber diese sich 1629 beschwerte: HStASt L6 1275, Nr. 2). Seither war die Reihe der Adressaten ergänzt durch die Waldvögte, See- Vieh- und Zahlmeister und die Stadt- Amts- und Gerichtsschreiber; erstmals erscheinen (vom Landhofmeister abwärts) die höheren Beamten sowie die Prälaten und Universitätsprofessoren (ebd., 717f.). 125 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 37, alle Zitate 173 f.; ergangen ohne Adresse oder ersichtliche Mitwirkung von Landschaft und Räten. Die schon 1553 - inklusive einer Rentkammer- und Visitationsordnung - erlassene 2. Kanzleiordnung wurde allgemeiner mit Mängeln und Unordnung begründet. Auch hier fehlen Adressaten und Hinweise auf eine Mitwirkung Dritter: ebd., Nr. 52, 242. Angeblich verstarb Christoph über Plänen für eine 3. Kanzleiordnung, die er mit dem Rat der Räte hatte vornehmen wollen: ebd., Nr. 86, 363.
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den. In Zukunft sollten „die Armen In Iren anligen gehört, förderlich, der Billicheit nach, abgeuertigt vnnd nit auffgezogenn werdenn" 126 ).
3.2. Das Supplikationsrecht Die erste Landesordnung beschrieb unter Verwendung des Ausdrucks „supplicacion" lediglich das bereits in der Hofordnung von 1478 geregelte Verfahren, wonach dem Landhofmeister das „Verantworten" der Untertanen im Namen der Herrschaft, die Aufsicht über die Amtleute und die Büßung gewisser Übertretungen im Bereich von Maß und Gewicht und dergleichen oblag 127 ). Als Supplikationen galten die „handlungen" der Untertanen, die zur „ußrichtung" an die Kanzlei weitergereicht werden mußten, das hieß Sachen, deren die Amtleute „nit verstendig" waren, die den Amtmann und das Gericht angingen oder die „also dapfer" waren, daß man sie „an vns oder vnsern Landthoffmaister oder Cantzler bringen" müsse 128 ). Die zweite Regimentsordnung (1498) führte die Bestimmungen wegen der „hendel" gegen Amtleute und Gerichte näher aus, ließ aber außerdem auch „Klagen" und „Verunglimpfungen" der „vnderthanen und verwandten dis fürstenthumbs" gegeneinander zur Verhörung und Ausrichtung bei der Kanzlei zu, sofern dies von den Klagenden begehrt werde. Bedingung war, daß der Amtmann beide Parteien vernommen hatte und einem Güteversuch „bey den parthyen sament oder ainichs teils besunder güttlich volg" versagt geblieben war 129 ). Daß sich dieses Recht, Privathändel und Zivilklagen zwischen Individuen vor die Kanzlei zu tragen, lediglich auf Konflikte zwischen württembergischen Untertanen und württembergischen Schirmverwandten bezog - also auf Konflikte, für die sich württembergische Amtleute und Nieder- oder Appellationsgerichte nur bedingt zuständig machen konnten - läßt sich nur aus dem Kontext erschließen. Aufgrund der zitierten Regimentsordnung nahm von 1498 bis 1504 ein aus Adligen, Prälaten und Landschaftsvertretern zusammengesetztes landständisches Regiment die Funktionen des entmachteten Herzogs Eberhard der Jüngere wahr 130 ). Von daher könnte die Vermeidung 126 ) Das „aufziehen" meint wohl „vertagen", ähnlich dem „hängig sein" von Klagsachen bei Gericht. 127 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 4, 11 f.; zur Hofordnung Friedrich Wintterlin, Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg. Teil 1. Stuttgart 1902, 15, Anm. 2; zur Kanzlei Anm. 31. 128 ) Bei der Kanzlei waren auch vorm Vogtgericht gerügte schwere Verstöße gegen das Spielverbot (Falschspiel, übermäßiges Schuldenmachen, Fluchen, Gotteslästerung und so fort, also die im Grunde kirchliche Sittengerichtsbarkeit angehende Belange) zu melden. Die alten Freigerichte wurden aufgehoben: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 4 , 7 . 129 ) Ebd. II, Nr. 16, 26 f. I3 °) Zur Rolle der Landstände und des Adels hierbei: Walter Grube, Der Stuttgarter Land-
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von Konflikten zwischen den Ständen um konkurrierende Niedergerichtsrechte ein Gebot der Stunde gewesen sein. Wesentlich - vor allem auch für die Bewertung der Gesamtkonzeption des württembergischen Supplikationswesens - dürfte sein, daß die gütliche Einigung vor dem württembergischen Amtmann und - wo diese scheiterte - die Einreichung einer Supplikation bei der Kanzlei des Regiments den Parteien nicht geboten, sondern lediglich angeboten wurde. Eine Klage mit dem Recht wurde ihnen nicht untersagt, aber auch nicht nahegelegt 131 ). Die zweite Landesordnung (1515) ließ das 1498 formulierte Supplikationsrecht für rechtliche Konflikte zwischen Untertanen und Schirmverwandten stillschweigend fallen 132 ). Dafür wurde in die Reihe der nunmehr breit ausgeführten Bestimmungen über die Beschwerden und Klagen, die anzunehmen die Kanzlei verpflichtet war 133 ), ein Klagerecht der Untertanen gegen Sonderpersonen aufgenommen 134 ). Ein Recht auf Supplikation bestand nun 1. für Klagen und Anbringen gegen den Amtmann und das Gericht gemeinsam. Sie sollten direkt „an vns in vnser Canzly gebracht" werden 135 ); 2. für Klagen oder Vorbringen gegen den Amtmann „oder seinen nechsten angebornen freunde". Sie sollten vor dem Gericht, in dem der Amtmann saß, zu gütlichem Austrag kommen. „Wo es aber nit sein wölt, so soll alsdann der cleger oder suplicierer erst für vns, inn vnser canzly gewißen" werden; 3. für Klagen oder Vorbringen gegen „sonder personen". Sie gehörten vor den Amtmann des Beklagten, der die Parteien „nach gestalt vnd gelegenheit ainer jeden sach wo ers allein nit ußrichten oder hinlegen kan" mit „etlichen von gericht" vertragen sollte 136 ). Scheiterte dies, dann sollte „baid tailn wie tag 1 4 5 7 - 1 9 5 7 . Von den Landständen zum demokratischen Parlament. Stuttgart 1957, 58 ff.; zur Geschichte des Territoriums: Dieter Mertens, Württemberg, in: Meinrad Schaab/ Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte. 2. Bd. Stuttgart 1995, 1 - 1 6 3 , hier 6 6 f f . ,31 ) Unmittelbar an den Abschnitt zur Supplikation schließt die Zusage an, alle Gerichte und Ämter mit fähigen Personen zu besetzen: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), II, Nr. 16, 26. 132 ) Mittelbar schirmverwandt waren auch die Hintersassen von Kommunen oder kommunalen Institutionen. Vgl. die Klage der Stadt Blaubeuren über den Entzug der Gerichtsbarkeit im Dorf Pappelau: HStASt A 3 4 Bü 13b, Nr. 1. 133 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 6, 27 ff., alle Zitate 28. 134 ) Unter Sonderpersonen sind im allgemeinen unter landesherrlichem Schirm sitzende, aber den Zivilgerichten in erster und zweiter Instanz nicht unterworfene Personen von Stand zu verstehen. Wintterlin, Behördenorganisation (wie Anm. 127), 28, faßt die Definition zu eng. Anzunehmen ist vor allem, daß auch juristische Personen (kirchliche und karitative Institutionen wie Klöster, Spitäler und Stiftungen und Korporationen) als Sonderpersonen galten. Vgl. dazu den Sprachgebrauch der Landtagsabschiede. Siehe z.B. den von 1565: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), II, Nr. 37, 133. Unklar bleibt, ob auch Klagen gegen den Landesherr selbst unter diese Klausel gezogen wurden. 135 ) Die Kompetenzaufteilung zwischen Herzog und Räten erfolgte erst 1550 durch die Formulierung von Reservatrechten: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 3 7 , 1 7 5 f. 136 ) Es dürfte der in seiner Funktion als ausführendes Organ der Schirmherrschaft für diese
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sich gebürt zu förderlichem schieinigem rechtlichem ußtrag vnd entschaid verholffen, das selbig ainem ieden gestattet vnnd niemand versagt oder geuarlich verzogen werden". Scheiterte auch der Austrag, dann sollte „die suplicierend parthy für vns zu vnser Cantzly gewisen" werden 137 ); 4. für Vorbringen gegen das Gericht. In solchen Fällen sollte der Amtmann einen gütlichen oder rechtlichen Austrag versuchen und erst danach solches „suplicieren oder fürbringen" an die Kanzlei weiterleiten 138 ). Diese Aufstellung zum Recht auf Klage bei der Kanzlei scheint in direkter Anlehnung an das kaiserliche Gerichtsprivileg vom 23. Juli 1495 formuliert worden zu sein, das diejenigen, die „dienern oder mannen, einem oder mer, Stetten, Merckten, Dörffern oder Communen jchtzit zuclagen oder zusprechen" 139 ) hätten, vor die Herren von Württemberg „mitsampt dero beysitzenden Reten" wies 140 ). Daß solche, zunächst im Blick auf auswärtige Forderungen formulierte Privilegien so gedeutet wurden, daß aus potentiell Beklagten erst Klageberechtigte, bald aber in ihrem Klagerecht an das herrschaftliche Gericht gebundene Kläger wurden, ist nichts Außergewöhnliches und kann wohl als Folge der - die tatsächlichen Rechtsbeziehungen verkürzenden Verknüpfung von landesherrlicher Schirmgewalt und herrschaftlicher Gerichtsbarkeit erklärt werden 141 ). In dieses Bild paßt, daß sich die - jährlich in den Vogtgerichten zu verlesenden - Supplikationsordnungen die längste Zeit über Klagen gegen den Herzog selber ausschwiegen, die - dem zitierten Privileg zufolge - unter Ausschluß des als Partei beklagten Schirmherrn von der Urteilsfindung vor den (als Hofrichter fungierenden) Landhofmeister und die Räte gehört hätten. Darauf, daß die Kanzlei sehr wohl für rechtlich relevante Sonderpersonen zuständige württembergische Vogt oder (Ober)Amtmann gemeint sein. Zur Problematik der Klostervogtei: Klaus Schreiner, Altwürttembergische Klöster im Spannungsfeld landesherrlicher Territorialpolitik, in: BlldtLG 109 (1973), 196-245. Was die zuzuziehenden Gerichtsleute betrifft, so konnte bei dieser Formulierung offen bleiben, aus welchem (genauer wessen) Gericht sie genommen wurden. Vgl. dazu den Generalbefehl vom 6.7.1553 zur Wahrung der württembergischen Hoheitsrechte bei den Ruggerichten in den Klosterflecken: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 53. 137 ) Die Regelung tauchte 1515 zum ersten Mal auf und fiel in der 7. Landesordnung (1621) wieder weg: ebd., Nr. 214, 735. 138 ) Im Abschnitt zum Gericht fällt weder das Wort verklagen noch das Wort Klage. Ob dies relevant ist, läßt sich von hier aus nicht sagen. 139 ) Die üblichere Formel lautete „dienere, manne, lüte, vndersessen, vnd die jn zuuersprechen sten, gütere vnd habe gemeinlich vnd sunderlich": Keyscher, Sammlung (wie Anm. 104), IV, Nr. 12(1417), 15; ebd., Nr. 31 (1495), 39. I4 °) Ebd. II, Nr. 30, 33; im vollen Wortlaut: „mitsambt dero beysitzenden Reten oder vor jrem hofrichter vnd Erbern Reten". Dies verweist auf eine Funktion des Hofgerichts, das dieses so nicht oder nicht mehr wahrnahm. Vgl. Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht (1460-1618). Stuttgart 1989, 84 ff. I41 ) Von daher ist der Ausdruck „zuuersprechen sten" von Interesse (siehe Anm. 139). Vgl. dazu die Hofgerichtsordnung von 1557 über die Erfordernis vollkommener Gerichtsgewälte für Appellationsverhandlungen: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), IV, Nr. 60, 122.
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Interessenkonflikte der Untertanen mit dem Herzog zuständig war, nahm erstmals - und auch jetzt nur indirekt - die Kanzleiordnung von 1553 Bezug 142 ). Auch sonst bleibt man (zumindest was die Behandlung der Frage in den Ordnungen betrifft, denn die Supplikationen selbst geben ja, wie schon erwähnt, hinreichend Aufschluß) lange darauf angewiesen, zwischen den Zeilen zu lesen 143 ). Erst Herzog Friedrich kam aus der Reserve, als er 1597 allen Räten und Kanzleibeamten verbot, Parteien, die gegen ihn selbst Klage führten, oder Amtleute, die von ihm wegen Nachlässigkeit belangt waren, zu „beraten", und anordnete, denjenigen Räten und Amtleuten, die mit ihm in „mißuerstanndt vnnd Irrung" geraten würden, den Zugang zum Archiv zu verwehren 144 ). Die 1515 formulierten Bestimmungen zum Supplikationsverfahren erhielten sich im Großen und Ganzen bis ins 18. Jahrhundert, wobei allerdings vieles weiter ausformuliert und dabei nicht allein sprachlich klarer ausgedrückt, sondern vor allem auch inhaltlich fortentwickelt wurde. Nicht alle Veränderungen hatten Bestand, zum Teil waren sie auch recht feiner Natur 145 ).
3.3. Das Supplikationsverfahren Während die erste Landesordnung (1495) von schriftlichen Supplikationen ausgegangen war, die lediglich der Unterschrift des Amtmanns bedurften, ließ die zweite Regimentsordnung (1498) auch mündliche Supplikationen gelten 146 ). Von der Möglichkeit, mündlich zu supplizieren, hört man dann erst wieder in der siebten Landesordnung von 1621147). Wurden die Amtleute 1498 angewiesen, einen Bericht anzufertigen und diesen - weil er außer dem Verhörprotokoll auch eine Beurteilung der Parteien im Hinblick auf ihren Le142
) Weil „allerley spenn vnnd Irrung zu Abbruch vnnser Ober, Herrlich vnd gerechtigkait, one gerechtferttigt ettwan ersizen bleiben", wurden die Räte angehalten, diese Sachen nicht gefährlich anstehen zu lassen: ebd. XII, Nr. 52, 247. Damit war immerhin zugegeben, daß die Räte mit Konflikten um Hoheitsrechte befaßt waren. 143 ) Der 2. Landesordnung zufolge durften zwischen den Parteien getroffene Vergleiche („vertrege") der Herrschaft nicht zum Schaden gereichen: ebd., Nr. 6, 28; die Hofgerichtsordnung von 1557 wies Appellationen in Sachen, die „Oberkeit, Herrlicheit, oder Cammergut" betrafen, „für vnsere Houeräthe" (1514 hatte es noch geheißen „für vnns oder vnser hofräthe"), ohne auf die Instanz Bezug zu nehmen, von deren Urteil appelliert wurde; ebd. IV, Nr. 60, 116. Von Interesse ist hier, daß sich das württembergische Hofgericht über die Regel, wonach gegen Supplikationsbescheide nicht appelliert, sondern höchstens suppliziert werden dürfe, hinwegsetzte. Die 1609 erlassene 8. Kanzleiordnung ließ - wohl unter dem Eindruck der Vorgänge während der Regierung Friedrichs - die Remission vom Oberrat an das Hof- oder ein Stadtgericht zu: Frey, Hofgericht (wie Anm. 140), 85 f.; zur Berufung von Hofgerichtsurteilen an den Oberrat: ebd., 86ff. 144 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 128, 501 f. ' « ) Siehe etwa ebd., Nr. 21, 103, 105 und Nr. 214, 735. 146 ) Ebd., Nr. 4, 7; ebd. II, Nr. 16, 26. 147 ) Ebd., Nr. 214, 733.
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benswandel und ihre Verhältnisse enthalten sollte - den Supplikanten verschlossen mitzugeben, so waren sie ab 1515 gehalten, außerdem Augenscheine vorzunehmen und Kundschaften einzuholen 148 ). Daraus entwickelte sich für die gesamte niedere Beamtenschaft die Verpflichtung, in Supplikationssachen zu Verhörtagen zu erscheinen oder schriftliche Berichte einzureichen. Abgesichert wurde diese Pflicht über die Landesordnungen, deren Adressen von daher immer größere Ausführlichkeit gewannen 149 ). Die Supplikationsordnungen, aber auch zahlreiche Ausschreiben und Mandate 150 ) zeigen die württembergischen Landesherren als grundsätzlich bemüht, den an die Kanzlei gewiesenen Parteien zu ordentlicher Ausrichtung zu verhelfen und sie gegen Nachlässigkeiten und Anmaßungen der Amtleute abzusichern. Immer wieder wurden diese ermahnt, sich gegen die Supplikanten freundlich zu verhalten 151 ), kein Geld für ihre Dienste zu verlangen 152 ) und in ihren Berichten Sorgfalt und Wahrheitsliebe zu beweisen 153 ). Strafe drohte vor allem den Amtleuten, die, weil ihre eigenen Interessen berührt waren, Unterschrift und Bericht verweigerten, um die Annahme einer ihnen nachteiligen Supplikation zu verhindern 154 ). Als treibende Kraft hinter diesem reiterierenden Verordnungswesen findet man allerdings auch die Landschaft, deren Anliegen es war, das Element der Privilegierung des Supplikationswesens herauszustellen und zu bewahren. Wenn die Mahnungen und Drohungen nur bedingt fruchteten, so boten die Verordnungen den Parteien doch eine konkrete Handhabe für die Einreichung von Dienstbeschwerden 155 ). Daß dafür wie selbstverständlich auf die Form der Supplikation zurückgegriffen werden mußte, verweist auf das Bemühen um Vereinheitlichung des gesamten Verfahrens.
148
) Ebd., Nr. 6, 27 f. Dazu U. Kornblum, Art. „Beweis", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1971, 401-^08. 149 ) Siehe oben die Anmerkungen 116-126. I5 °) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), bringt eine Aufstellung der von ihm gedruckten Mandate, Reskripte, Befehle und Ausschreiben zur Supplikation in den Fußnoten zur 7. Landesordnung: ebd. XII, Nr. 214, 733, Anm. 807. 151 ) Zuerst 4. Landesordnung: ebd., Nr. 21, 103; vgl. auch 5. Landesordnung: ebd., Nr. 49, 231. 152 ) Zuerst 5. Landesordnung: ebd., Nr. 49, 232. 153 ) Die 7. Landesordnung (1621) drohte, „den Partheyen, wa sie es begehren, solchen Bericht fürhalten zulassen, vnd sie auch darüber zuhören, darauß sich leichtlich, wasie das Widerspiel fürbracht, der Grundt befinden wirdt, vnd sie die Amptleut darüber, alßdann Gefahr vnd Straff, wie hernach volgen wirdt, zugewarten haben", ebd., Nr. 214, 734. 154 ) 5. Landesordnung: ebd., Nr. 49, 231. 155 ) Seit 1552 konnten die Amtleute außer zu einer Strafe zur Entschädigung der Parteien veranlaßt werden: ebd., 232. Der von da aus entwickelte Supplikationsstrang ermöglichte der Landschaft nachdrücklicher auf die Reglementierung der Beamtenschaft einzuwirken. Vgl. den Befehl vom 2.5.1581 (gegen Unterlassung der Eröffnung der Bescheide): ebd., Nr. 98, 430; vgl. auch Anm. 153.
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Auch die Kanzleiordnungen enthielten - wie schon zu sehen war - Verfahrensregeln für das Supplikationswesen. Schon 1549 wurde die Kanzlei angehalten, nur noch Klagen von Kommunen gegen Kommunen oder Sonderpersonen anzunehmen 156 ). Seit 1553 wollte man Beschwerden über die Amtleute und Gerichte von der Kanzlei fernhalten, weil man glaubte, sie hinlänglich über die Rügungen bei den Vogtgerichten erfassen zu können 157 ). Heikel war, daß hier das Klagerecht von Kommunen betroffen war, die, wenn sie die Amtleute verklagten, oftmals eigentlich den Landesherrn und dessen Verordnungswesen meinten 158 ). 1569 wurde dem Kanzleipersonal ausdrücklich untersagt, unter Umgehung der Unterbehörden eingereichte Supplikationen überhaupt entgegenzunehmen 159 ). Das Vorrecht, direkt vor die Kanzlei zu kommen, sollte künftig nur noch für Klagen von Kommunen gegen Sonderpersonen gelten 160 ). Alle übrigen Klagen sollten, auch wenn sie von Kommunen herrührten, wie gewöhnliche Supplikationen zuerst zum gütlichen Austrag bei den Amtleuten eingereicht oder sonst bei den „ordentlichen Vnder vnnd ober Gerichten" anhängig gemacht werden, weil die „Appellation für vnnser fürstlich Hofgericht einem jedenn vorbehalten vnd zuegelassen" sei 161 ). Ziel dieser Regelungen war die Beschneidung des der Landschaft 1521 zugestandenen umfassenden Rechts auf Klage bei der Kanzlei. Interesse verdient auch die Entwicklung im Bereich der Beweiserhebung und Urteilsfindung. War es 1515 Aufgabe der Amtleute und Gerichte gewesen, Zeugenverhöre und Augenscheine vorzunehmen, so findet man hiermit seit 1550 zunehmend sogenannte Expeditionen befaßt, das heißt einzelne oder mehrere landesherrliche Räte, die aufgrund der Geschäftsordnung für das betreffende Ressort zuständig waren 162 ). Zweifellos bedienten sich Landesherren dieser Einrichtung zur zuverlässigeren Wahrung herrschaftlicher Interes156
) Kanzleiordnung Ulrichs (zitiert bei Wintterlin, Behördenorganisation [wie Anm. 127], 28). Die Bestimmung war in Christophs 1. Kanzleiordnung ausgelassen, kehrte aber 1553 wieder: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 52, 246. 157 ) Ebd., 245f.; siehe dazu den Generalbefehl vom 6.7.1553 zur Wahrung der Hoheitsrechte bei den Ruggerichten in den Klosterflecken: ebd., Nr. 53. 158 ) Zu den ursprünglichen Bestimmungen siehe Abschnitt 2, 1. und 3. - Der Hofgerichtsordnung von 1557 zufolge sollte, was „vnser Oberkeit, Herrlicheit, oder Cammergut belangt [ . . . ] für vnsere Houeräthe gewisen werden". (1514 hatte es noch geheißen: „Was aber vnser Oberkheit oder herlicheit belangt, soll für vnns oder vnser hofräthe gewisen werden"): Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), IV, Nr. 60, 116. 159 ) Ebd. XII, Nr. 86, 362 f. Der Erlaß der Ordnung ging anscheinend auf Unstimmigkeiten zwischen Ludwig und seiner Mutter und der Vormundschaftsregierung zurück. 160 ) Siehe dazu Anm. 156. 161 ) Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 86, 372. Vgl. 1553: ebd., Nr. 52, 246. 162 ) Zur Ressortaufteilung siehe die Kanzleiordnungen von 1550 und 1553: ebd., Nr. 37, 52; zudem Walter Bernhardt, Die Zentralbehörden des Herzogtums Württemberg und ihre Beamten 1520-1629. 2 Bde. Stuttgart 1972, 17f., 47, 56; Frey, Hofgericht (wie Anm. 140), 85, Anm. 416; zur Problematik des kommisarischen Verfahrens vgl. Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm. 107), 1282 ff., 1301 ff.
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sen 163 ). Andererseits hatten darauf, bedingt durch die zunehmende Zahl von Auseinandersetzungen zwischen Amtleuten und Gemeinden um die rechte Ordnung und damit um das Recht, auch die Gemeinden und die hinter diesen stehende Landschaft hingearbeitet 164 ). Die Gründe dafür, daß sich das Expeditions- und Kommissionswesen als Methode zur Abwehr neuen Rechts als ungeeignet erwies, sind jedoch nicht allein im Kräfteverhältnis Landschaft Herrschaft zu suchen. Wo Beweiserhebung gleichbedeutend mit Beweiswürdigung war, beeinflußte sie das Urteil. Daß es sich bei den beauftragten Räten je länger desto selbstverständlicher um gelehrte Juristen handelte, führte - wie sich an den angefertigten Gutachten ablesen läßt 165 ) - zu einer Minderbewertung der Beweismittel alten Rechts und demzufolge zu einer Verkürzung bäuerlicher Ansprüche. Zwar standen auch die Vögte den Anliegen der Supplikanten nicht grundsätzlich wohlwollend gegenüber, sie waren aber weitaus stärker in die vor Ort maßgeblichen Relevanzstrukturen eingebunden. Schon von daher mußte ihre Rolle eine andere sein als die der höheren, weit vom Schuß sitzenden Beamtenschaft 166 ). Als die Räte 1629 ausdrücklich auf die Landschaft verpflichtet wurden, dürfte eine entscheidende Phase der Ausbildung des Supplikationswesens schon abgeschlossen gewesen sein 167 ). Von hier aus kann an die drei oben formulierten Thesen angeknüpft werden. Zunächst ist festzuhalten, daß die gesetzesmäßige Formulierung des Supplikationsrechts über die Ordnung des Supplikationswesens im Sinne der Ausgestaltung eines Verfahrens vonstatten ging. Das heißt, sie verlief - dem Entwicklungsstand des zeitgenössischen Gesetzgebungswesens entsprechend - auf zwei Geleisen - nämlich dem der Legislative und dem der Administration. Über die Aufnahme der Verfahrensbestimmungen in die Landesordnungen wurde eine Vereinheitlichung von Recht angestrebt, die einem zweifachen Interesse diente: Zum einen ließ sich so erreichen, daß das außergerichtliche Klage- und Beschwerderecht in gemischten Fällen sowie in Konflikten mit dem Herzog selber - das über die Gerichtsprivilegien dem Landesherrn abverlangt, der Landschaft aber nicht eigentlich zugeschrieben war - rechtlich ga-
' « ) Wie Anm. 143. ) Zu den Klagen gegen Forstbeamte, hinter denen in vielen Fällen Klagen gegen die Forstordnungen standen, siehe die Resolvierung der Gravamina in den Landtagsabschieden: z.B. Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), II, Nr. 18 u.19, dort 33, 36, 37, 41. 165 ) Z.B. die Kommentare zu den, z.T. auch als Supplikationen eingereichten Gravamina von 1552: HStASt A 34, Bü 13b, Nr. 1 u. 2; zum Kontext: Fuhrmann, Landtagsgravamina, in diesem Band 111-129. 166) v g l . Berger/Luckmann, Konstitution (wie Anm. 103), 84 ff. - Siehe das Reskript vom 28.6.1644, wonach die Namen der Räte, die entschieden hatten, auf den Bescheiden nicht erscheinen sollten: HStASt A304, Bd. 2 [Herrenberg], fol. 1 v. 167 ) Betraf den für die Gutachten und (delegierten) Urteile in Reservatsachen zuständigen Geheimrat: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), II, Nr. 36. 164
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rantiert und verfahrensmäßig geordnet wurde. Zum anderen versetzte die Ummünzung von Recht in Ordnung (oder Gesetz) den Landesherrn als Schirmherr von Recht und Ordnung in die Lage, diejenigen, die sich nicht an die Verfahrensregeln hielten, zu strafen. Indem über solche Strafen - entsprechend den alten Regeln des Bannrechts - nicht gerichtlich, sondern administrativ entschieden wurde, ließ sich das außergerichtliche Klage- und Beschwerdewesen anstatt als Landesfreiheit als Instrument guter Polizei darstellen 168 ). Der von daher latente Vorrang der administrativen Entscheidungsgewalt läßt sich an der Art ablesen, in der die Kanzleiordnungen die Landesordnungen nicht allein ergänzten, sondern auch konkurrierten. Entscheidend dabei war die Frage der Legitimation. Während nämlich die Supplikationsbestimmungen der Landesordnungen, die außer an die Amtleute auch an die Untertanen adressiert waren, dem Tübinger Vertrag zufolge mit der Landschaft verglichen werden mußten, ließen sich die in die Kanzleiordnungen aufgenommenen Verfahrensmaßregeln zumindest formal gänzlich auf die obrigkeitliche Autorität des Landesherrn zurückführen 169 ). Zwingend war diese Lesart nicht, aber sie gewann Unterstützung von Seiten der gelehrten Juristen, die als Anwälte oder Anbieter römischen Rechts und der diesem zugehörigen Symbolik gesehen werden können. Schon seit dem hohen Mittelalter hatten weltliche und geistliche Fürsten und Würdenträger versucht, die dem römischen Kaiser zugeschriebene plena potestas in Anspruch zu nehmen, in dem sie sich an die römische Tradition anlehnten 170 ). Seither lassen die Quellen nicht allein eine latente Neigung erkennen, das Wort supplicatio an die Stelle des sozial und rechtlich anders konnotierten Begriffs Bitte (petitio) zu setzen 171 ), sie zeigen zudem, daß immer öfter 168 ) Auf sämtlichen Übertretungen der Landesordnung von 1495 stand die Turmstrafe (ebd. XII, Nr. 4, 12). Die 2. Regimentordnung setzte keine Strafe für falsches Supplizieren (ebd. II, Nr. 16, 26 f.). Die 2. Landesordnung büßte Verstöße gegen die -jährlich zu verlesende Supplikationsordnung mit einem kleinen Frevel, falsche Angaben konnten, wenn sie anderen Schaden verursachten, eine höhere Betrafung (durch den Landesherrn) nach sich ziehen (ebd., Nr. 6, 29). Die 3. ließ für arme Leute, die den Frevel nicht zahlen konnten, eine achttägige Turmstrafe zu (ebd., Nr. 10, 53); desgleichen alle folgenden Landesordnungen. 169 ) Dasselbe konnte für die an die herzoglichen Beamten gerichteten Befehle und Ausschreiben gelten, die nicht ausdrücklich auf Verlangen der Landschaft ergingen. Siehe Anm. 150. 170 ) Siehe oben S. 267-269 und Gaines Post, Plena potestas and the Consent in Medieval Assemblies. A Study in Romano-Canonical Procedure and the Rise of Representation, 1150-1325, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. 1. Bd. Darmstadt 1980, 30-114, 37 f., 49 f. Der Begriff wurde im 12. und 13. Jahrhundert über päpstliche Gesandtenformulare in englische, französische und spanische (Aragon) Kanzleien und Ständeversammlungen getragen. Zu seiner Bedeutung für die Ausbildung übergeordneter Gerichtsbarkeit als Prärogative ebd., 54 ff. m ) Vgl. Koziol, Begging Pardon (wie Anm. 9), 25 ff., 42; zahlreiche Quellenbelege für supplicatio, suppliciter, supplicans und ähnlich konnotierte Worte wie deprecans etc., auch in Verbindung mit petitio vom 8. bis zum 12. Jahrhundert für den fränkischen und französischen Bereich: ebd., 344ff.
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auch die aufstrebenden Partikulargewalten den Wandel der Symbolik für die Definition ihre eigenen Herrschaft in Anspruch nahmen 172 ). Im Zuge der Reichsreform bemühten sich die Reichsstände, allen voran die Fürsten, ihre Position gegenüber dem Kaiser einerseits und ihren Lehnsleuten, Schirmverwandten und Untertanen andererseits auch semantisch zu sichern 173 ). Der Verlauf der Reformation, die dem Primat des römischen Königs als Schirmherr von Kirche und Christentum ein Ende setzte, trug ein Übriges zur Vereinnahmung des Begriffs und den von diesem transportierten Herrschaftskonzepten bei 174 ). Im Reich hatte man ein nach Art des römischen Supplikationsrechts gestaltetes, allgemein verbindliches Verfahren für den weltlichen Bereich bis zum ausgehenden Mittelalter weder für die außergerichtliche Streiterledigung noch für Bitten und Beschwerden gekannt. Mit derlei Ansuchen konnte man sich entweder an diejenigen wenden, von denen die Beschwerung herrührte, oder an diejenigen, von denen im anliegenden Fall die wirksamste Hilfe zu erwarten war. Selbstverständlich war dabei eine äußere Form einzuhalten, die durch die Art des Ansuchens, aber auch durch den Adressaten und den jeweiligen situativen Kontext bedingt war 175 ). Eine Bitte (petitio) um Hilfe in Not konnte im Grunde an jeden gerichtet werden. Formal gesehen war jedoch, wenn sie einem Mitglied des Hochadels schriftlich oder mündlich vorgetragen wurde, eine andere Semantik und Gestik gefordert, als wenn sie sich an ein Familienmitglied richtete; wobei sich in beiden Fällen die zur Anwendung gebrachte Symbolik in je spezifischer Weise änderte, wenn die betreffende Person zugleich die eigene Herrschaft repräsentierte. Als Bitten an die Herrschaft findet man vor allem Bitten um den Nachlaß von geschuldeten Abgaben und Diensten oder verbrochenen Bußen und verdienten Strafen. Konkreter Handlungszwang ergab sich für alle Gebetenen in erster Linie aus sozialen und politischen Zwängen 176 ). Eine Bitte um Beistand gegen die von einem überlegenen oder sonst nicht greifbaren Gegenpart zu erduldenden Beschwerungen oder um die Vermittlung der Fürbitte oder 172 ) Ebd., 4 0 f f . , zeigt anhand von Petitionsformeln hochmittelalterlicher Quellen, daß eine bestimmte Symbolik vom Hochadel bis hinunter zu den Grafen in Anspruch genommen werden konnte. m ) Schon Willoweit, Gesetzgebung (wie Anm. 105), 143, hat auf das „angestrengt moralische Herrschaftsdenken, das sich jetzt mit der neuen Vokabel .Obrigkeit' schmückt", hingewiesen. 174 ) Robisheaux, Rural Society (wie Anm. 3), 100ff., sieht - ausgehend vom Supplikationswesen in der Grafschaft Hohenlohe - im 16. Jahrhundert einen neuen „Paternalismus" entstehen. 175) Vgl. Fabian Frangk, Ein Cantzley und Titel buechlin. Wittenberg 1531 [Hildesheim/ N e w York 1979]; Post, Plena potestas (wie Anm. 170), 41 f., kennt solche Formelbücher aus dem 11 - 1 4 . Jahrhundert. 176 ) Koziol, Begging Pardon (wie Anm. 9), passim, vor allem 25 ff., 5 9 ff., 289 ff., zum Ritual und der zugehörigen Symbolik.
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Hilfe Dritter folgten den Regeln der intercessio. Auch sie war, wiewohl sie sich auf die Hilfspflicht des Stärkeren berief, durch das Prinzip von Gabe und Gegengabe bestimmt 177 ). Wenn sie an Personen gerichtet werden mußte, die dem Bittenden nicht oder nur bedingt oder nur über Dritte verwandt und damit verpflichtet waren, war ihre Erfüllung ungewiß und daher mehr als Gnade denn als Pflicht (oder Recht) zu verstehen. Für das christliche Mittelalter ist allerdings kennzeichnend, daß selbst die sogenannte Gnadenbitte den Bittenden keineswegs als recht- oder würdelos kennzeichnete. Wer so bat, berief sich auf die durch die Taufe zugesagte Hilfe der Heiligen, der Mutter Gottes oder Jesu Christi und verwies damit geistliche und weltliche Herren und Amtsträger auf die ihrem officium geschuldete Barmherzigkeit 178 ). Unter christlichen Vorzeichen blieb selbst die einem Mörder gewährte Gnade und Barmherzigkeit nicht ohne Gegengabe 179 ). Beschwerden gegen die Herrschaft wegen Vernachlässigung ihrer Schutz-, Schirm- und Lehnspflichten konnten nach altem Herkommen als petitio angebracht oder aber als gravamen im Kontext von herrschaftstechnisch relevanten Ereignissen vorgetragen werden. Auch hier gab es festgelegte Formen 180 ). Mit anderen Worten, petitiones und gravamina weisen mit ihren zum Teil stark ritualisierten Verfahren auf eine weit fortgeschrittene Institutionalisierung hin, bei der das klassische römische Recht keine oder nur eine geringe Rolle spielte. Hält man nun diese älteren Verfahren des Bittens und Beschwerens neben die württembergische Supplikation, dann wird zunächst ersichtlich, daß sich auf die eine wie die andere Weise auf die Inhaber von auctoritas etpotestas ein grundsätzlich legitimer Druck ausüben ließ, während die Nichtbeachtung der angemessenen Form die Abweisung des Anliegens oder gar die Ungnade des Angerufenen nach sich ziehen konnte. Wo also lagen die Unterschiede, wo die Entwicklung? Die Supplikation, so wie sie in Württemberg gehandhabt werden sollte, gewährte denjenigen, die sich zu beschweren hatten, mehr Sicherheit, weil sie den Anspruch auf eine Anhörung und Resolution des Ansuchens rechtlich einklagbar machte. Hier lag zweifelsohne das Interesse begründet, das die Landschaft der Ausbildung eines ordentlichen Supplikationswesens entgegenbrachte. Andererseits eröffnete gerade diese Verrechtlichung den Landesherren die Möglichkeit, sich (mitsamt ihren gelehrten Räten und, das wird man nicht umhinkönnen anzumerken, mitsamt einem Teil
177) Vg]. die württembergischen Gerichtsprivilegien: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), IV, Nr. 12, 13.; aber auch die Bitten Graf Ulrichs und seiner Landschaft an die Uracher Landschaft um Rat und Hilfe wegen der Vorgänge im Urachischen Teil der Herrschaft: Grube, Landtag (wie Anm. 130), 25 ff. 178
) Koziol, Begging Pardon (wie Anm. 9), 81 ff. ) Ebd., 35 ff.; 5 9 f f . 180 ) Dazu André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung ( 8 0 0 - 1 8 0 0 ) . Stuttgart/New York 1991, vor allem 433 ff. 179
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der besseren Ehrbarkeit) 1 8 1 ) aus einer umfassenderen sozialen, religiösen und politischen Verantwortung zu stehlen. Was die soziale und religiöse Verantwortung betrifft, so fällt auf, daß in den württembergischen Quellen von Anfang an sowohl die Klage bei der Kanzlei wie auch die vielfältigen, die verschiedenen Ressorts der Kammerverwaltung oder den Landesherrn selbst angehenden Bitten als Supplikation bezeichnet wurden und sich dennoch in den Supplikationsordnungen des 16. Jahrhunderts kaum je mehr als ein schwacher Hinweis auf die Existenz jenes im älteren Recht begründeten Bittwesens findet. Dieses Bittwesen (das im justinianischen Recht umfänglich geordnet war) wollte man in Württemberg offensichtlich nicht rechtlich - also einklagbar regeln. Was die Verweigerung politischer Verantwortung betrifft, so läßt sich beobachten, daß das Supplikationsrecht dahin tendierte, die Schirmvogtei zu einem umfassenden, das ältere Bittwesen gänzlich einschließenden landesherrlichen Recht im Sinne einer Funktion umzugestalten, um deren Ausübung die Obrigkeit untertänig und kniefällig gebeten werden mußte. Die Verpflichtung, welche dem Gebetenen durch eine derartige Gestik nach mittelalterlichem Rechtsempfinden aufgeladen wurde, sieht man jetzt in frommen Floskeln aufgelöst oder durch Angriffe auf den „Mutwillen", die „Leichtfertigkeit" und den „Ungehorsam" der Bittsteller abgewehrt 1 8 2 ). Allerdings kam diese Entwicklung nicht voll zum Zuge, und dies ist vor allem der Politik der Landschaft zu verdanken. Die in der Gesetzgebung zwar unausgesprochene, in der Rechtspraxis aber nachweisbare Einbindung der älteren Verfahren des Bittens und Beschwerens in ein ordentliches, auf ein Klagerecht gestütztes Supplikationswesen erhöhte zweifelsohne die Akzeptanz für die durch den Begriff Supplikation transportierten Relevanzstrukturen und Sinngehalte. Andererseits verhinderte sie aber, daß die petitio und das gravamen zu Suppliken im Sinne bloßer - das soll heißen nach frühneuzeitlicher Manier ihrer sozialen und rechtlichen Verbindlichkeit entkleideter - Gnadenbitten abgewertet wurden 1 8 3 ). Damit war ein allgemeines Recht auf Supplikation gewonnen, das auf der Ebene der Landespolitik als Petitionsrecht formuliert und von der Landschaft dazu genutzt werden konnte, den Landesherm in eine umfassendere Schutz- und Fürsorgepflicht zu nehmen, als dies andernorts der Fall gewesen zu sein scheint.
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) Vgl. Fuhrmann, Landtagsgravamina, 73f. in diesem Band. ) Vgl. Weitzel, Appellation (wie Anm. 6), 33, Anm. 31 f.; 38, Anm. 53, 41 ff. Zur Beschränkung des Supplikationsrechts siehe oben; vgl. auch die Generalverordnungen vom 18.4.1629 und vom 24.1.1646: Reyscher, Sammlung (wie Anm. 104), XII, Nr. 260, 329. IS1 ) Zur Unterscheidung von Bitte (petitio), Gnadenbitte, Supplik beziehungsweise Rechtsoder Justizsuppliken, Supplikation und Gravamina vgl. oben und Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), vor allem 114ff.; Hülle, Supplikationswesen (wie Anm. 5); Koziol, Begging Pardon (wie Anm. 9). 182
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4. Norm und Praxis des Supplizierens in Hessen(-Kassel) In Hessen(-Kassel) hatten städtische und ländliche Gemeinden oder auch Korporationen, Gruppen oder Einzelpersonen jederzeit das Recht zu supplizieren, ohne daß dieses Recht als solches positiviert worden wäre, wiewohl natürlich die zahlreichen Verordnungen zur Regelung des Supplizierens durch ihre Existenz das Supplizieren als rechtmäßig anerkennen. Die Supplik rief die Schutz- und Schirm-Funktion der Herrschaft an, und die Landgrafen gingen nach Ausweis ihrer Testamente 184 ) ebenso wie die Verwaltung in der Regel von der Geltung dieses Rechtes aus. „Erlaubt muß es jedem Unterthanen seyn", so ein Advocatus Fisci 1786, „sein anliegen dem Landesherrn vortragen zu dürfen, mithin auch ganzen Gemeinden" 185 ). Die Quellen belegen, daß von diesem Recht in der Praxis reger Gebrauch gemacht wurde. Der Landgraf und seine Verwaltung konnten schon im 16. Jahrhundert „teglichen aus den Supplicationibus vnd andern schreiben so an vnß gelangen vernehmen", welche Probleme die Untertanen erkannt hatten und gelöst haben wollten 186 ). Die fürstlichen Räte saßen unter Landgraf Karl (1670/77-1730) täglich zusammen, um unter anderem Suppliken zu beraten 187 ) und die wichtigen dem Landesherrn im „Gemach" oder im Geheimen Rat persönlich vorzutragen 188 ); 1731 klagte sein Nachfolger Friedrich I. darüber, daß „in Überreichung der an Uns gestelten Suppliquen, ein solcher Excess vorgehe" 189 ). Um den Überblick über die große Zahl der schriftlich oder mündlich 190 ) vorgebrachten Suppliken nicht zu verlieren, wurden sie seit dem 16. Jahrhundert Tag für Tag in Protokollen registriert, die mit wenigen Ausnahmen 191 ) zu Beginn des 19. Jahr184
) Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 115 f. ) StAM 5 Nr. 360, fol. 5' (Bericht des Advocatus fisci Rath Eigenbrodt an die Regierung 7.1.1786). ,86 ) Sammlung fürstlich hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben. 1.-8. Teil. Kassel 1767-1816. 1. Teil: 1 3 3 7 - 1 6 2 7 (1767); 2: 1 6 2 7 - 1 6 7 0 (1770), bearb. v. Christoph Ludwig Kleinschmid. 3: 1 6 7 1 - 1 7 2 9 (1777); 4: 1730-1751 (1782); 5: 1 7 5 1 - 1 7 6 0 (1784); 6: 1 7 6 0 - 1 7 8 5 (o.J.); 7: 1 7 8 5 - 1 8 0 0 (1802), bearb. v. Christian Gerhard Apell. 8: 1 8 0 1 - 1 8 0 6 (1816), bearb. v. Karl Eggena\ künftig zit. als „LO", hier: LO 1, 451 f., 4 5 2 (Ausschreiben 18.11.1582). 187 ) Hans Philippi, Landgraf Karl von Hessen-Kassel. Ein deutscher Fürst der Barockzeit. Marburg 1976, 633. 188 ) Karl Ehrhardt, Die innenpolitische Organisation des Hessen-Kasselischen Staates während der Regierungszeit König Friedrichs I. von Schweden und Landgraf Wilhelms VIII. ( 1 7 3 0 - 1 7 6 0 ) . Phil. Diss. Marburg 1954 (masch.), 6 5 f . 189 ) LO 4, 6 2 f . (Edict 25.IX. 1731). '9°) LO 1, 4 3 8 - 4 4 7 , hier 439 (Cantzley-Ordnung 25.IV.1581, Tit. VIII). Auch in: Franz Gundlach, Die hessischen Zentralbehörden. 3 Bde. Marburg 1930-1932, hier 2. Bd., 2 0 0 216; vgl. ebd., 1, 335. Laut Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 135 geben die Register des 16. Jahrhunderts keine Auskunft über den jeweiligen Anteil der schriftlichen bzw. mündlichen Anbringen. Auch im 18. Jahrhundert fehlt es nicht an Hinweisen auf mündliche Suppliken, vgl. L O 4, 2 0 4 f. (Regierungs-Ausschreiben 8.VI.1733). 191 ) Die Ausnahmen verzeichnet bei Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 118f.: 185
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hunderts vernichtet w u r d e n 1 9 2 ) . D i e A l l t ä g l i c h k e i t d e s S u p p l i z i e r e n s veranlaßte die F o r s c h u n g dazu, v o n „perpetuellen S u p p l i k a t i o n e n " 1 9 3 ) z u sprechen. D a n e b e n g a b e s p u n k t u e l l e A n l ä s s e , S u p p l i k e n und B e s c h w e r d e n z u f o r m u l i e ren, w i e d i e p o l i t i s c h e n L a n d e s - o d e r Ä m t e r v i s i t a t i o n e n 1 9 4 ) s o w i e d i e H u l d i g u n g e n 1 9 5 ) und L a n d e s r e i s e n der L a n d g r a f e n 1 9 6 ) . Trotz der h o h e n A n z a h l reg e l m ä ß i g anfallender S u p p l i k e n und ihrer g r o ß e n B e d e u t u n g als I n f o r m a t i o n s k a n a l 1 9 7 ) für die landesherrliche Verwaltung w u r d e n in H e s s e n ( - K a s s e l ) k e i n e s p e z i e l l e n B e h ö r d e n o d e r Institutionen z u ihrer B e h a n d l u n g ausgebildet, w i e d a s in anderen Territorien der Fall w a r 1 9 8 ) . D o c h v e r m o c h t e der Landesherr, das S u p p l i k e n w e s e n an sich zu binden; i m G e g e n s a t z zu anderen Territorien war e s in H e s s e n nicht üblich, an d e n Landtag zu s u p p l i z i e r e n 1 9 9 ) . D i e O r i g i n a l s u p p l i k e n wanderten in der R e g e l w e i t e r zu der B e h ö r d e , die s i c h mit der S a c h e b e f a s s e n mußte; sie sind daher - w e n n überhaupt - e i n z e l n verstreut bei den S a c h a k t e n der V e r w a l t u n g s a b t e i l u n g e n z u finden, nicht aber als serieller B e s t a n d überliefert. V i e l l e i c h t d e s h a l b hat s i c h d i e L a n d e s g e s c h i c h t e a b g e s e h e n v o m Pionieraufsatz v o n H e l m u t N e u h a u s bisher nicht s y s t e m a t i s c h mit d e n S u p p l i k a t i o n e n befaßt und d i e s e l e d i g l i c h als b l o ß e Inf o r m a t i o n s q u e l l e n für v e r s c h i e d e n e T h e m e n v e r e i n z e l t g e n u t z t 2 0 0 ) . 1573-1580 und 1590-1597 (fragmentarisch) sowie ders., Supplikationen (wie Anm. 2), II, 91: 1786/87-1807 und 1814-1821. Vgl. auch Fragmente lokaler Supplikenprotokolle, etwa: St AM 17e Oldendorf Nr. 6 (1728). 192 ) Freundliche Auskunft des leitenden Archivdirektors Herrn Dr. Fritz Wolff, Marburg. Vgl. StAM Repertorium Bestand 5, Geheimer Rat, 12. Bd., Einleitung von Karl E. Demandt [masch. 1940]. 193 ) Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), II, 63. 194 ) Vgl. etwa StAM 17e Rauschenberg Nr. 45 (1666). Die Quellen verzeichnet: StAM Repertorium Bestand 5, Bd. 2, Abt. III, S. 15 ff. und Armin Sieburg (Bearb.), Bestand 17. Landgräflich Hessische Regierung zu Kassel, I. Alte Kasseler Räte 1518-1708. Marburg 1989, 237-245 und ders., Bestand 17. Landgräflich Hessische Regierung zu Kassel, II. Herrschaftliche Repositur (1708-1821). Marburg 1976, 27-31. Dazu Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), II, 63; Friedrich Küch, Eine Visitation der Obergrafschaft Katzenelnbogen im Jahre 1514, in: ArchHessG NF. 9 (1914), 145-234; Kersten Krüger, Politische Ämtervisitationen unter Landgraf Wilhelm IV. [1567-1592], in: HessJbLG 27 (1977), 1 36. 195 ) Vgl. StAM [Bestand] 17 [Landgräflich Hessische Regierung Kassel] I [Alte Kasseler Räte 1518-1708] Nr. 2479 (Gravamina der Städte und Ämter des Oberfürstentums anläßlich der Huldigung und Besitznahme 1605). 196 ) Vgl. etwa StAM Protokolle II, Kassel Cc 6, Bd. 2a (Suppliquen Protocoll abgehalten bey der LandReise im Monat September 1786). 197 ) Vgl. z.B. LO 4, 568 (Cameral-Ausschreiben 22.IV.1739). 198) Vgl. die Übersicht bei Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 71-73 sowie Renate Blickte, Laufen gen Hof, in diesem Band. 199 ) Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), 1,71-73. Suppliken an den Landtag kamen nur gelegentlich vor (Günter Hollenberg, Die hessen-kasselischen Landstände im 18. Jahrhundert, in: HessJbLG 38 (1988), 1-22, 5). Oft ist es jedoch schwierig, zwischen Suppliken und Spezialgravamina zu unterscheiden. 200) vgl. Herbert Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen: Untersuchung zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Marburg 1983, 10,
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4.1. Supplizieren nach der Norm: Das Verfahren aufgrund der Landesordnungen Um Chancen auf Erfolg zu haben, mußten Suppliken einem ganzen Bündel formaler Vorschriften entsprechen und eine ganze Reihe von Verfahrensschritten einhalten. Die normativen Regelungen zum Supplikenwesen wurden in der Tendenz immer differenzierter, von der ersten bekannten Verfügung aus dem Jahre 1526 über die erste explizite Verordnung zum Supplizieren 1539 und die entsprechenden Artikel der Kanzleiordnungen von 1581, 1628 und 1656 bis zu den zahlreichen Detailregelungen des 18. Jahrhunderts. Sie sahen vor, daß das Anliegen in schriftliche Form gebracht werden sollte. Schon im 16. Jahrhundert wurde dazu meist ein Supplikenschreiber, oft auch „Concipist" genannt, verpflichtet, der, wie 1582 bestimmt wurde, „mit keiner andern, als der gewelbten Schrift" 201 ) rein, leserlich und korrekt 202 ) zu schreiben hatte. Die Anforderungen an Supplikenschreiber 203 ) wurden im 17. und 18. Jahrhundert dahingehend präzisiert, daß sie im Stande sein mußten, eine klar strukturierte, verständlich und anständig geschriebene Supplik auf gestempeltes Papier 204 ) zu bringen. Diese Vorschrift reagierte auf die Erfahrung des Landesherrn und seiner Kanzlei, daß nämlich die „Uns oder Unsern Secretarien eingegebenen Suppliquen so wol in Justitz- Cammer- alß Land-Sachen bißhero [•..] theils so undeutlich eingerichtet/ daß man den Inhalt Uns nicht darauß hat referieren können" 205 ). Als Entgelt für seine Leistung stand 1773
139 f., 148; Hollenberg, Landstände (wie Anm. 199), 5; Charles W. Ingrao, The Hessian Mercenary State. Ideas, Institutions, and Reform under Frederick II, 1760-1785. Cambridge u.a. 1988, passim; Wilhelm Speitkamp, Soziale Unruhe und ständische Reaktion in Hessen-Kassel zur Zeit der Französischen Revolution, in: Helmut Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution. Göttingen 1988, 1 SOU S , 139; Theibault, German Villages (wie Anm. 23), 2 7 - 2 9 , 5 5 - 5 8 , 145-152; ders., Community and Herrschaft in the Seventeenth-Century German Village, in: JModH 64 (1992), 1-21, 8, 19; Gerhard Menk, Die Gemeinde Braunau in der frühen Neuzeit, in: Reinhard Dietz/Gerhard Menk (Hrsg.), Braunau. Beiträge zu seiner Geschichte. Bad Wildungen 1990, 23-96; ders., Dörfliche Eigenständigkeit und Initiative am Beispiel Höringhausens. Quellen und Traditionen kommunalen Verhaltens in der Neuzeit, in: Geschichtsblätter für Waldeck 77 (1989), 45-79, 47, 59, 79; Robert von Friedeburg, Landgemeinde, adelige Herrschaft und frühmoderner Staat in Hessen-Kassel nach dem Dreißigjährigen Krieg: Merzhausen 1646-1672, in: HessJbLG41 (1991), 153-176, 154f„ 170; ders., Landesherrschaft (wie Anm. 19), 244-259; Peter K. Taylor, Indentured to Liberty. Peasant Life and the Hessian Military State, 1688-1815. Ithaca/London 1994, 99-103. 201 ) LO 1,451 (Ausschreiben 18.11.1582). 202) LO 3, 713-726, 722 f. (Canzley-Ordnung [Marburg] 1.1.1613). 203) Vgl. LO 3, 988f. (Regierungs-Reskript 5.II.1726). Darin wird von den Beamten eine „Lista sothaner Suppliquenschreiber" angefordert. 204 ) LO 4, 222-224 (Verordnung 28.X.1733, die bezüglich des Stempelpapiers eine Verfügung 14.X. 1707 wiederholt). Vgl. allgemein Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 10), 96. 205 ) StAM 5 Nr. 11112, fol. 3 (Verordnung, daß die zu exhibitionirende Suppliquen unterschrieben werden sollen 8.VI.1687).
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dem Konzipisten höchstens ein viertel Gulden zu, wobei er den erhaltenen Betrag auf der Supplik vermerken mußte 206 ). Bevor die Supplik eingereicht werden konnte, mußte sie mit einem Attest versehen werden. Atteste erfüllten zwei Funktionen. Erstens belegten sie, daß, wie in den Ordnungen vorgesehen 207 ), die Beamten alles unternommen hatten, um den Fall auf der tiefstmöglichen Ebene zu lösen. Zweitens beglaubigten sie, daß die Sachverhalte in den Suppliken wahrheitsgetreu dargestellt wurden. Bereits 1526 verfügte der Landgraf, daß „wir hinfür kein supplication von niemandts vnser vnderthan annemen wollen, sie sey dan durch den Statthalter, Amptman oder Knecht, vnter den er gesessen, vnderschrieben" 208 ). Diese Vorschrift zog sich durch alle Verordnungen zum Supplikenwesen und erfuhr im Laufe der Zeit weitere präzisierende Verschärfungen. Versäumten es die Beamten oder weigerten sie sich gar, ihrer Attestierpflicht nachzukommen, so verfielen sie einer Strafe von einem Reichstaler zuzüglich der Unkosten, die den Supplikanten dadurch entstanden, daß sie mit notgedrungenermaßen unattestierten Suppliken nach Kassel und unverrichteter Dinge wieder zurückreisen mußten 209 ). Je nach Form und Inhalt der Bitte waren unterschiedliche Amtpersonen befugt und verpflichtet, Atteste auszustellen, ohne dafür Gebühren verlangen zu dürfen 210 ). In gewissen Fällen, in denen die Atteste die Funktion von Zeugenaussagen über hergebrachte Rechte hatten, konnten sie auch von den Gemeinden ausgestellt werden 21 ')• Allgemein und für alle Supplikentypen waren die Beamten beziehungsweise Amtleute zuständig. Auch mußten alle Bittschriften vom Konzipisten unterschrieben sein. Bei Suppliken um Almosen und in Gnadensachen waren neben den Beamten weitere Personen, je nach Gegenstand der Bittschrift, attestierfähig. So sollten im 16. Jahrhundert die Almosensuppliken vom „pfarherr, vnnd zwen oder drei vortrefliche[n] Christenn, aus derselbigen gemeint" unterschrieben sein 212 ). Bei den Gesuchen um kostenlose Holzzuteilung brachte die Verwaltung dagegen im 18. Jahrhundert nicht den vortrefflichen Christen, sondern den Zimmermeistern als Fachleuten das nötige Vertrauen entgegen 213 ). Für Erlaß-Suppliquen und Dilationsgesuche war ein Bericht des zuständi-
206
) StAM 5 Nr. 5326 (Ausschreiben 10.11.1783). ) S t A M 17e Marburg Nr. 4 2 0 (Ausschreiben Landgraf Philipps 26.XI.1526); LO 1, 106 f. (Fürstliches Ausschreiben [Supplikationen-Ordnung] 1.1.1539). Zu den Attesten siehe unten. 208 ) StAM 17e Marburg Nr. 420 (Ausschreiben Landgraf Philipps 26.XI.1526). 209 ) LO 3, 564 (Camera! Post-Scriptum 8.II.1707). 21 °) StAM 5 Nr. 11112, fol. 8 (Rentkammer Edikt 24.1.1716); LO 6, 6 (Verordnung zu Bittschriften 22.11.1760). 2M ) StAM 5 Nr. 362, fol. 6 (Attest der Gemeinde Beretsheim für die Gemeinde Oberbeisheim 22.III. 1708). 212 ) L O 1, 106 f. (Fürstliches Ausschreiben [Supplikationen-Ordnung] 1.1.1539). 213 ) LO 3, 791 f. (Cameral-Ausschreiben 19.IV.1717). 207
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gen Beamten 214 ) und zusätzlich eine Bestätigung des Pfarrers 215 ) beziehungsweise des Pfarrers, des Greben und der Vorsteher 216 ) vonnöten. „Greben" wurden in Hessen die in aller Regel obrigkeitlich bestellten Dorfvorsteher (Schultheiß, Ammann, Heimbürge) genannt. „Vorsteher" hießen die anderswo meist als Vierer, Schöffen oder Geschworene bezeichneten Mitglieder der mittleren dörflichen Organe; diese waren vom 14. bis ins 16. Jahrhundert von den Gemeinden autonom gewählt worden; seit dem 17. Jahrhundert hatte sich die Landesherrschaft nach und nach an immer mehr Orten das Recht angeeignet, die Wahl der Gemeinde bestätigen (oder ablehnen) zu können beziehungsweise aus einem Zweier- oder Dreiervorschlag der Gemeinde die Wahl zu treffen 217 ). Für Gesuche um Erlaß der Steuern oder Verschiebung der Zahlungsfrist wurde im 18. Jahrhundert - zusätzlich zum Attestat, das die spezifische (Not)situation der Supplikanten als wahrheitsgetreu bestätigte - ein spezielles Formular verwendet, das die Amtleute ausfüllen mußten 218 ). Die Existenz dieses Formulars deutet darauf hin, daß Erlaß-Suppliken ein massenhaftes Phänomen gewesen sein müssen. Dies bestätigen auch die häufigen Wiederholungen der entsprechenden Vorschriften 219 ) in Verordnungen. So heißt es in einem „Cameral-Ausschreiben", daß „bey gegenwartiger Erhebungs-Zeit derer Herrschaftlichen] Intraden viele Unterthanen mit Erlaß-Suppliquen sich wieder melden" 220 ) würden. Suppliken in Justizsachen22') wurden von zusätzlichen Regeln betroffen, die das Ziel hatten, die „Verzögerung, auch Vilipendenz der Justiz" zu vermeiden 222 ). Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die Suppliken „in Appellationsais andern Justitz-Sachen" nicht nur vom Konzipisten, sondern auch vom Advokaten oder Prokurator, der die Sache vor Gericht vertrat, unterschrieben sein. Mit dieser Regelung sollte nicht etwa das Supplizieren an sich verboten werden, wohl aber der Mißbrauch des Mittels Supplik zu „frivolen Appellationen und sonstigen temerarischen querelen" 223 ). Der besondere Rang der Justizsuppliken spiegelt sich in der Tatsache, daß ihr Mißbrauch unter Strafe gestellt wurde. Die Sanktionen richteten sich weniger gegen die Supplikanten selber, als gegen die Advokaten und Supplikenschreiber. Weder die ange214
) Z.B. LO 2, 646 f. (Fürstlicher Befehl 21.XII. 1669); LO 6, 5 f. (Verordnung zu Bittschriften 22.11.1760). 2'5) StAM 5 Nr. 11112, fol. 8' (Rentkammer Edikt 24.1.1716); LO 6, 5f. (Verordnung zu Bittschriften 22.11.1760). 216 ) LO 3, 974 (Cameral-Ausschreiben 25.X.1725). 217 ) Reyer, Dorfgemeinde (wie Anm. 200), 38-54 (Grebe), 81-90 (Vorsteher). 218) StAM 5 Nr. 11112, fol. 10 (Rentkammer Edikt 24.1.1716). 219 ) Vgl. ebd. 220 ) LO 3,973f. (Cameral-Ausschreiben 25.X.1725); LO 3,1006f. (Cameral-Ausschreiben 8.IV.1727). Vgl. dazu Robisheaux, Rural Society (wie Anm. 3), 171-173, 238-240. 221 ) So der Quellenterminus; StAM 5 Nr. 11112, fol. 20 (3.XI.1727). 222 ) LO 3, 973 (Gemeiner Bescheid 18.X.1725). 223 ) LO 3, 977 f. (Verordnung 29.1.1726).
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drohte Überwälzung der „Weege und Kosten", die aufgrund nicht unterschriebener Suppliken entstehen konnten 224 ), noch die vorerst unbestimmt formulierte Strafandrohung 225 ) brachte eine spürbare Verbesserung der Unterschriftsdisziplin. Dann wurde das Strafmaß verschärft und präzisiert 226 ). Wie z.B. der Student Grimmel aus Marburg erfahren mußte, handelte es sich dabei nicht um leere Drohungen. „Wegen verbotenen Suppliquenschreibens, und Verleitung der unterthanen zu unnothigen processen" traf ihn in den 1780er Jahren die „condemnation [...] auf 3 Monath zum Zuchthauß" 227 ). Ein Grund für die besondere Stellung der Justizsuppliken lag darin, daß die Supplik als eine Art Appellations-Ersatz dienen konnte. War nämlich der Streitwert einer Sache zu gering, um appellabel zu sein, so stand - nach reichsrechtlichem Vorbild - dem Unterlegenen im Falle vermuteter oder subjektiv empfundener Rechtsverweigerung die Supplikation offen 228 ). Der Sprachgebrauch unterschied nicht immer scharf zwischen Appellation und Supplikation 229 ). Suppliken gegen Amtleute und Beamte waren seit 1526 vom Attestierzwang ausgenommen 230 ) für den Fall, daß „jemandts vnserer vnderthonenn vonn vnsernn Beampttenn, denen vom Adell oder andernn grossenn Hansen mitt gewaltt verdruckt" würde 231 )- Noch 1786 wurden „von solcher Attestation jedoch die gegen die Gerichte, Beamte und Vorgesetzte selbst gerichtete beschwerende Vorstellungen ausgenommen" 232 ). Hatten sich Gemeinden oder Untertanen erst einmal ein Attestat verschafft, brachten sie ihr nun schriftlich formuliertes Anliegen entweder persönlich oder durch Deputierte oder - seit den 1770er Jahren 233 ) - auf dem Postweg nach Kassel, um sie durch Advokaten, Prokuratoren und Sollicitanten bei der 224
) StAM 5 Nr. 11112, fol. 16 (Regierungs-Ausschreiben 16.111.1717). ) LO 3, 9 8 9 (Regierungs-Reskript 5.II.1726). 226 ) StAM 5 Nr. 11112, fol. 2 0 (Gnädigster Befehl 3.XI.1727), republiziert am 8.X.1729 (ebd.). Vgl. LO 3, 721 (Canzley-Ordnung 1.1.1613); LO 2, 290 (Cantzley-Ordnung 20.111.1656); LO 3, 978 (Verordnung 29.1.1726); LO 5, 155 (Gemeiner Bescheid 13.VI.1757). 227 ) StAM 5 Nr. 11167. 228) Vgl. Kurt Dülfer, Fürst und Verwaltung. Grundzüge der Hessischen Verwaltungsgeschichte im 16.-19. Jahrhundert, in: HessJbLG 3 (1953), 150-223, 161, 169, 172 f.; Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 137. Zum Reichsrecht W. Hülle, Art. „Supplikation", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 33. Lieferung. Berlin 1991, 9 1 - 9 4 , hier 91 f.; Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), 9 3 - 9 7 . 229 ) Vgl. die Marburgische Hofgerichts- und Kanzleiordnung 28.VI.1563, in: Gundlach, Zentralbehörden (wie Anm. 190), 2, 119-124, 124 und 17 I Nr. 3345 (1573). 23 °) StAM 17e Marburg Nr. 4 2 0 (Ausschreiben Landgraf Philipps 26.XI. 1526). So auch die sog. Supplikationenordnung LO 1, 106 (Fürstliches Ausschreiben 1.1.1539). 231 ) LO 1, 4 3 9 (Cantzley-Ordnung 25.IV.1581). So auch LO 3, 7 1 4 f . (Canzley-Ordnung 1.1.1613); LO 4, 6 2 f . (Edikt 25.IX.1731). 232 ) StAM 5 Nr. 5326, fol. 11 (Ausschreiben 12.1.1786). 233 ) Suppliken sollten nach dem Regierungs-Ausschreiben 3.VII.1773 per Post eingegeben werden (LO 6, 700); die Postporto-Ordnung 26.VIII.1784 ermöglichte den erwiesenermaßen Armen, ihre Suppliken portofrei auf dem Postweg zu spedieren (LO 6, 1164). 225
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Kanzlei einreichen zu lassen 234 ). Das Bedürfnis, dem Landesherrn die Supplik möglichst persönlich oder doch jemandem in dessen allernächsten Nähe zu übergeben, äußert sich unter anderem in der Tatsache, daß Landgraf Friedrich I. (1730-1750), der als schwedischer König in Stockholm residierte und in Hessen von seinem Bruder Wilhelm VIII. vertreten wurde, „allen [...] hessischen Unterthanen" 1733 in der gedruckten Kasseler Zeitung den Befehl veröffentlichen lassen mußte, „des verwegenen und unnöthigen Reysens nach Schweden, unter Praetext ihre Klagen und Beschwerungen selbst vorzustellen, sich bey Vermeidung ansehnlicher Geld- auch Leibs-Straffen hinkunfftig zu enthalten" 235 ). Weil trotzdem „ein und andere Hessische Unterthanen nach Schweden sich begeben", wurde der Befehl sechs Jahre später erneut in der Zeitung publiziert 236 ). Beim Einreichen einer Supplik in der „Geheimen- und Land-Canzley" 237 ) der fürstlichen Regierung waren die „Bürozeiten" zu beachten. Weil nämlich „alle und jede bey der Regierung einlauffende Supplicationes und Vorstellungen gleich zu anfang der Session distribuiret, und daruff resolviret, die nachher einkommende Exhibita aber auff den andern Raths-Tag hingeleget werden sollen" 238 ). Die hier zitierte Regelung aus dem Jahr 1731 bestand seit der Kanzlei-Ordnung von 1581, die als Begründung für diese Regel anführt, daß „den supplicanten der vertzug von wegen Zehrung vnd versaumbnus des ihren, fast schwer forfallen wurde" 239 ). Spätestens seit der Kanzleiordnung von 1581, deren Bestimmungen betreffend Suppliken in den folgenden Kanzlei- und anderen Ordnungen im wesentlichen übernommen wurden 240 ), war grundsätzlich festgelegt, „wie die Supplicationes zu expedyrn" seien. Jede eintreffende Supplikation sollte im Rat offen verlesen werden, worauf der Statthalter des Landesherrn die anwesenden Räte reihum nach deren Meinung fragte, sofern die Sache wichtig oder zweifelhaft war. Dagegen wurden Fälle, die unstrittig und in den Verordnungen klar geregelt waren, an einzelne Räte verwiesen, die darüber berichteten und einen Entscheid vorschlugen; diskutiert wurde nur dann noch, wenn ein anderer der Räte etwas zu bemerken hatte. Gesuche, welche die herrschaft234
) StAM 5 Nr. 11112, fol. 16 und 18 (Regierungs-Ausschreiben 16.111.1716). Vgl. LO 3, 887 f. (Regierungs-Ausschreiben Oktober 1722 zu den Prokuratoren). 235 ) Verordnung 11./22.VII. 1733, in: Casselische Zeitung/ von Policey, Commercien, und andern dem Publico dienlichen Sachen Nr. XXXIX vom 28.IX.1733, 305 f. 2M) Ebd., Nr. XLVIII vom 30.XI.1739, 379 f. und dasselbe nochmals ebd., Nr. XLIX vom 7.XII.1739, 387 f. 237 ) LO 3, 790 (Regierungs-Ausschreiben 16.111.1717). 23 8) LO 4, 57 f. (Gemeiner Bescheid 16.VIII. 1731). 239 ) LO 1, 4 3 8 ^ 4 7 , hier 439 (Tit. II, § 1). Dieselbe Regel auch in: LO 3, 714f. (CanzleyOrdnung 1.1.1613 Tit. 2). 240 ) Der Herausgeber Christoph Ludwig Kleinschmid verweist in seinem Kommentar zum Supplikenparagraphen der Kanzleiordnung von 1581 darauf, daß noch die Verordnung vom 22.11.1760 vieles einfach von 1581 übernimmt, LO 1, 439; vgl. ebd., 452 Anm. 3.
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liehen Renten, Zinsen und Interessen berührten, mußten der Rentkammer zur Begutachtung übergeben werden. Direkt an den Landesfürsten gelangten wichtige Sachen, zumal sie Präjudizcharakter hatten, schwere Malefizfälle sowie Bitten und Beschwerden gegen landesherrliche Beamte 241 )- Letztlich hat der Landesfürst über die Suppliken entschieden. So mußten, laut einem Rentkammeredikt von 1716, die Suppliken um Erlaß oder Dilation herrschaftlicher Abgaben zusammen mit dem Bericht der lokalen Beamten und dem Gutachten mit Entscheidungsvorschlag seitens der Rentkammer dem Landesfürsten zur Resolution unterbreitet werden 242 ). An den Landesherrn gelangten auch die Fälle, in welchen „gantze Communen umb moderation ihres monatlichen ContributionsVorschusses nachsuchen" wollten. Selbst Eingaben, in denen Gemeinden um Bauholz zur Reparatur öffentlicher Gebäude baten, wurden auf der Grundlage eines Berichts aus dem Forstamt vom Landesherr persönlich entschieden 243 ). Das Forstgeld wurde nur in schweren Unglücksfällen nach genauer Prüfung erlassen. Der Geheimrat durfte dabei 25-50% in eigener Kompetenz erlassen; weitere Gnadenzuteilungen blieben dem Landesherrn vorbehalten 244 ). Alleiniges Privileg des Landesherrn war es im weiteren, Gnadengesuche in peinlichen Urteilen und Suppliken um Erleichterung des Strafmaßes zu entscheiden 245 ). Der typische Weg einer Supplik durch die Verwaltung bis zum Landesherrn dürfte wie folgt ausgesehen haben: die Behörde, die eine Supplik im Namen oder an Stelle des Landesherrn erhielt, entschied zunächst, ob die Bittschrift direkt an den Landesherrn oder aber an eine nachgesetzte Behörde weitergeleitet wurde. Diese wiederum ließ gegebenenfalls Berichte von örtlichen Beamten einholen, verglich diese mit den geltenden Ordnungen und präsentierte ihrerseits die Supplik inklusive den Berichten und einem Lösungsvorschlag dem Landesherrn zur Resolution. Die ursprüngliche Intention und allgemeine Attraktivität des Mittels „Supplik" bestand wohl darin, daß es einen direkten Zugang zur obersten Entscheidungsinstanz, das heißt meist zum Landesherrn eröffnete, also gewissermaßen den mühsam aufgebauten Dienstweg durch die Instanzen 246 ) verkürzte. Die241
) LO 1, 4 3 8 - 4 4 0 (Cantzley-Ordnung 25.IV. 1581). ) StAM 5 Nr. 11112, (Rent-Cammer Edict 24.1.1716). 243 ) Zit. bei Ehrhardt, Organisation (wie Anm. 188), 39. 244 ) LO 3, 5 6 0 (Verordnung, wie es mit Anweisung des BauHolzes und Attestation dessen Nothdurft gehalten werden solle 4.XII.1706); vgl. Ehrhardt, Organisation (wie Anm. 188), 38 f. 245 ) Ehrhardt, Organisation (wie Anm. 188), 42. Vgl. z.B. StAM 17e Trendelburg Nr. 35, 36, 37, 4 0 , 4 3 , 44 (sechs Bde. mit Suppliken um Straferlaß 1686-1699). Zum Gnadenrecht als Herrenrecht Krause, Gnade (wie Anm. 14), 1714—1719. 246 ) Vgl. z.B. LO 1, 107 (Fürstliches Ausschreiben [Supplikationen-Ordnung] 1.1.1539) und die wiederholte Aufforderung, sich in Justiz-Sachen an das zuständige Gericht und nicht an die Regierung selbst zu wenden, 15.X.1748 (Staatsbibliothek zu Berlin Nr. 5 in! 2 Gp 16310-1). 242
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ser Begriff der Supplik liegt auch der älteren Definition von Felix Rosenfeld zugrunde. Supplikationen sind danach „Gesuche aller Art von seinen Untertanen, die sich außerhalb des Geschäftsgangs der Kanzlei an den Fürsten selbst wenden" 247 ). Das „subversive" Potential, das dem Instrument „Supplik" inhärent ist, charakterisiert das Edikt von 1731 als „Excess" und meint damit die Tatsache, daß „Suppliquen-Steller" in geringsten Sachen „mit Vorbeygehung derer bestellten Corporum und ordentlichen Obrigkeiten" direkt an den Landesherrn zu gelangen suchen 248 ). Dies ist sicherlich ein Charakteristikum der Supplik. Doch zeigten die Supplikenordnungen seit dem 16. Jahrhundert die Tendenz zur bürokratischen Eindämmung der Bittgesuche. Schon die erste Regelung von 1539 wollte die „beampten vngnediglich darumb straffen", die „denn leuthenn wol helffenn konten, vnnd doch dj Supplicationes vndterschrieben, vnnd also die Sach auf vns schiebenn" 249 ). Die Suppliken- und Kanzleiordnungen versuchten, den Strom der Bittschriften zu kanalisieren und mittels der Supplikenprotokolle überschaubar zu machen. Die Behandlung der Suppliken durch die Verwaltung im 18. Jahrhundert läßt schließlich keinen Zweifel mehr offen, daß auch dieser - ursprünglich als direkt gedachte - Zugang zum Landesherrn von der Bürokratie erfaßt und reglementiert worden ist. Wer jetzt (1760) versuchte, mittels Supplizieren den Instanzenweg abzukürzen, obwohl „zu Vorbeygehung der nächsten rechtlichen Instantz keine Ursache vorhanden wäre", dem wurde mit „gebührender Strafe" gedroht 250 ). In vielen Fällen war die Supplik sogar ein Bestandteil des Geschäftsgangs geworden. In zahlreichen Verordnungen war vorgesehen, daß deren Bestimmungen in begründeten Einzelfällen außer Kraft gesetzt werden konnten. Anträge auf Ausnahmen mußten dann mittels eines „Gesuches um Dispensation" eingereicht werden 251 )- 1720 beklagte sich die Rentkammer, daß fast alle versuchten, sich von den Wolfsjagddiensten eximieren zu lassen, obwohl die möglichen Dispensationsfälle in der Jagd-Ordnung von 1665 klar geregelt seien 252 ). Ähnlich sind auch die zahllosen Suppliken um Gewährung des Judenschutzbriefes 253 ), um Holzzuteilung 254 ), um Beförderung 255 ), um Dispen-
247
) Zit. bei Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 117. ) LO 4 , 6 2 f . [Unsere Hervorhebung]. Ähnlich auch LO 6, 6 (Verordnung zu Bittschriften 22.11.1760). 249 ) LO 1, 106 (Fürstliches Ausschreiben 1.1.1539). 25 °) LO 6, 6 (Verordnung zu Bittschriften 22.11.1760). 251 ) Solche Dispensationsgesuche z.B. von der Hufenordnung von 1773 sind zu finden in: StAM 5 Nr. 13283. Dasselbe gilt für die Hute-Ordnung von 1779, vgl. 5 Nr. 13269 oder das „Pflanz-Regulativ" von 1764, das die Höhe des Pflanzaufsatzgeldes bestimmt, vgl. die Befreiung davon: LO 6, 228 f. (6.IV.1765). 252 ) LO 3, 838 (Cameral-Ausschreiben 14.X. 1720). Die Wolfsjagddienste wurden seit Jahrzehnten „erlassen", d.h. durch einen Geldbetrag ersetzt, so am 28.VI.1701, 23.1.1708, 13.XI.1714, 20.1.1716, 14.X.1720, 2.III.1729 (LO 3, 592, 763, 838, 1034). 253 ) StAM Repertorien zu Bestand 5, 7. Bd., Stichwort „Juden" und LO 6, 643 f. (Ver248
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sation der Handwerksgesellen von den in den Zunftordnungen vorgeschriebenen Wanderjahren 256 ), um Erteilung des Bürgerrechts und so weiter zu werten: es handelt sich um formale Gesuche im Rahmen des Verfahrens, das von den geltenden Ordnungen vorgeschrieben ist. Zugleich behält sich der Landesherr vor, eine unabhängige und flexible Politik betreiben zu können. So mußte etwa gemäß Verordnung für die Aufnahme als Beisitzer beziehungsweise Bürger ein Vermögensnachweis erbracht werden, doch Landgraf Wilhelm VIII. verfügte 1786: „Wenn hingegen geschickte Handwerksleute von fremden Orten sich in Unseren Staaten niederlassen wollen; So behalten Wir Uns vor, in dergleichen oder sonstigen Fällen die Aufnahme per modum dispensationis zu gestatten" 257 ).
4.2. Supplizieren in der Praxis: Fallbeispiele Verläßt man die normative Ebene und begibt sich in die Praxis, so wird bald ersichtlich, daß diese Vorschriften nur bedingt funktionierten. Zahlreiche Wiederholungen und Einschärfungen thematisieren dieses Problem, wie am Beispiel der Attestierpflicht illustriert werden soll. So klagte z.B. das Cameral Post-Scriptum vom 8. Februar 1707 darüber, daß „die umb Erlaß- oder Dilation sowol bey Unsers Gnädigsten Fürsten und Herrn Hoch-Furstl. Durchl., als bey dero Renth-Cammer einkommende der Unterthanen Suppliquen entweder gar nicht attestiret werden, oder [...] die deßhalb von Furstl. RenthCammer ergangene Verordnung keines weges beobachtet wird" 258 ). Die Attestierpflicht wurde seit 1526 mit großer Beharrlichkeit wieder und wieder „de novo publicirft]" 259 ). Sie ließ sich jedoch nie wirklich durchsetzen. Das lag Ordnung gegen die ubermäßige Aufnahme der Juden und ihre wucherliche Händel 7.IV.1772). 254 ) StAM Repertorien zu Bestand 5, 8. Bd., Stichwörter „Bau- und Brennholzgesuche" (von Einzelpersonen und Gemeinden) und „Holzsachen" (Supplikationen um Deputatholz). 255 ) Diese wurden 1761 verboten, vgl. Stefan Brakensiek, Lokalbehörden und örtliche Amtsträger im Spätabsolutismus. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1750-1806, in: ders. (Hrsg.), Kultur und Staat in der Provinz: Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte. Bielefeld 1992, 129-164, 147. Auch dieses Reskript mußte wiederholt werden, vgl. LO 6, 761 (Extract General-Direktorial-Protokoll 2.IV.1774) mit Hinweisen auf Anordnungen 1.1.1762 und 11.IX. 1766 und ebd., 1191 (Resolution 18.111.1785, Wiederholung). 256 ) LO 6, 636 (Regierungs-Ausschreiben 3.III.1772). 257 ) StAM 5 Nr. 14746 (gedrucktes Ausschreiben 24.11.1786) [unsere Hervorhebung]. Vgl. Günter Hollenberg (Hrsg.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649-1798. Marburg 1989, 549 Anm. 54. Zur Rolle der Dispensationen vgl. auch Holenstein, Bittgesuche, in diesem Band. 258 ) LO 3, 564. 259 ) LO 3, 887 f. (Regierungs-Ausschreiben X.1722). Eine kleine Auswahl an Belegen: LO 1, 106f. (Fürstliches Ausschreiben 1.1.1539); LO 2, 646f. (Fürstlicher Befehl vom
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sicherlich auch daran, daß die Verwaltung entgegen ihren eigenen Richtlinien stets auch unattestierte Suppliken behandelte. So sind beispielsweise die Fälle im Supplikenprotokoll von 1786 nur selten mit dem Vermerk „attestirt" versehen 260 ). Die Wirkungsmöglichkeiten und -grenzen der Gemeindesuppliken sollen im folgenden an einigen Beispielen illustriert werden. Steuern und Abgaben gehörten zu den häufigsten Themen der Suppliken, seien es Bitten um Steuererlaß, um Erstreckung der Zahlungsfrist, um Verzicht auf Steuererhöhung, aber auch um mehr Steuergerechtigkeit 261 ). So baten Bürgermeister und Rat der Stadt Helmarshausen 1544 „gantz underthenigleich, e.f.g. wolthe uns nidt hoher besweren laissen, dan [...] so wir von aldens her gegeven haben" 262 ). Die Antwort der Verwaltung lautete dahin, daß die Sache dem Fürsten mit dem Vorschlag, eine Ermäßigung zu gewähren, unterbreitet werden solle 263 ). Auch in den Supplikenprotokollen von 1594 264 ) und 1786 265 ) gehörten die Bitten ganzer Gemeinden um Steuererlaß, denen unterschiedlicher Erfolg beschieden war, zu den häufigsten. In Kriegszeiten wandten sich die Untertanen oft gemeindeweise an die Landesobrigkeit. An die Schutz und Schirm-Funktion der Herrschaft appellierend, baten sie um Abwendung von Kriegskosten in Form fouragierender fremder oder eigener Truppen, Senkung der Steuerlasten als Ausgleich für zusätzliche Leistungen und Zahlungen an fremde oder eigene militärische Einheiten - im 17. so gut wie im 18. Jahrhundert 266 ). In Friedenszeiten ersuchten die Städte und Dorfgemeinden mittels Supplikationen darum, die Einquartierungen zu
21 .XII. 1669); LO 4, 57 f. (16.VIII. 1731), 6 2 f. (25.IX. 1731), LO 3, 778 (1760, 1762, 1772, Kommentar des Herausgebers Christian Gerhard Apell); LO 6, 1100 (Regierungs-Ausschreiben 10.11.1783, Wiederholung des Ausschreibens 3.VII.1773). 26 °) StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, lanuar bis Juli 1786, z.B. Nr. 144/31, 99/65, 100/66, 88/73. 26 ' ) Vgl. Andreas WUrgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800, 176-178, 184, 196 in diesem Band; Jörg Witzel, Hersfeld 1525 bis 1756: Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte einer mittleren Territorialstadt. Marburg 1994, 3 8 7 - 3 9 4 . 262 ) Supplik der Stadt Helmarshausen 19.VI.1544, Günter Hollenberg (Hrsg.), Hessische Landtagsabschiede 1526-1603. Marburg 1994, 128f. Vgl. die Supplik der Stadt Vacha 3.XII.1531, ebd., 7 0 f . 263 ) Der Stadt Treffurt wurde 1544 trotz massiver Ernteschäden eine Ermäßigung verwehrt, ebd., 129 Anm. 10. 264 ) Analysiert bei Neuhaus, Supplikationen (wie Anm. 2), I, 123. 265 ) Die meist genannte Steuer war eindeutig die Kontribution. Vgl. StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, z.B. Nr. 144/31, 118/47, 100/66, 85/97, 92/104, 90/128 etc. Dasselbe gilt auch für Suppliken von Einzelnen oder Gruppen. 266) Theibault, German Villages (wie Anm. 23), 145-152. Auf individueller Ebene vgl. die zahlreichen Gesuche um Befreiung vom Militärdienst, erwähnt bei Taylor, Hessian Military State (wie Anm. 200), 9 9 - 1 0 3 .
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mildern 267 ) und die aus vorangegangenen Kriegen stammenden Schulden nachzulassen 268 ). 1721 richteten sich die ,,unterthänige[n] und gehorsambstefn] sämtlichefn] unterthanen des Amts Geißa" im Hessen-Kasselischen Fürstentum Hersfeld mit einer Supplik an die Rentkammer in Kassel. Hinter der Gesamtheit der Untertanen eines Amtes standen in der Regel organisatorisch und institutionell die einzelnen Gemeinden 269 ). Sie baten mit Hinweis auf ihre Armut sowie ihre für die Landwirtschaft ungeeignete, bergige und unfruchtbare Heimat um Aufschub der Zahlungsfrist für die herrschaftlichen Abgaben. Insbesondere klagten sie darüber, daß sie, um „die gelt-Zinßen, Forstgelder und andere onera" im Herbst pünktlich bezahlen zu können, jeweils ihr Saatgut verkaufen müßten. Obwohl sich ihr Nebenverdienst, die Garn- und Leinenfabrikation, erst im Frühling gewinnbringend vermarkten lasse, seien sie in ihrer Not gezwungen, ihre Produkte vor der Zeit und daher weit unter dem Preis abzusetzen 270 ). Auf die am 19. März von den Untertanen präsentierte, ordnungsgemäß attestierte 271 ) Supplik erfolgte bereits am 28. März die zustimmende Resolution der Rentkammer zu Kassel 272 ). Eine erfolgreiche Supplik: Innerhalb von zehn Tagen reagierte die Verwaltung positiv und flexibel auf ein plausibel begründetes Ansuchen der Untertanen. Doch nur gut ein Jahr später, am 22. Dezember 1722, richteten sich dieselben Untertanen in derselben Angelegenheit wieder an die Rentkammer. Sie beschwerten sich über den Amtsverweser Bilstein, der alle fälligen Abgaben bereits vor Weihnachten einziehen wollte und sich dabei auf einen Befehl der Rentkammer vom 10.IX. 1722 berief 273 ). Auf die erneute Supplik, in der die „Supplicanten" argumentierten, „ihre schuldige praestanda ohne ihren ruin vorjetzo" zu leisten nicht imstande zu sein, „verwilligt Fürstl. Renth Cammer, daß denenselben zu deren Abtragung bis nechsthinstehendem Petri Tag [29. Juni] dilation verstattet werden möge; wornach sich der Ambts Verweser Major Bilstein zu achten und als dann solche ohnfehlbar und ohne weiteres nachsehen einzubringen hatt" 274 ). Doch auch diesmal hielten Einsicht und Verständnis der Rentkammer für die Situa267
) Vgl. z.B. StAM 17e Kirchhain Nr. 101 (Stadt Kirchhain 1684); LO 3,671 (Stadt Kassel 1711); LO 3, 969f. (Gemeinden im Amt Borken 1725). 268 ) StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, 10.11.1786, Nr. 88/73 (Attestierte Supplik der Gemeinde Harmuthsachsen um Milderung der Schulden, die aus den Fouragelieferungen an französische Truppen im Siebenjährigen Krieg (1761) stammten. Die Bitte wurde abgeschlagen). Vgl. LO 6, 161 (Regierungs-Ausschreiben 16.X.1764: Erlaß der von Kriegsjahren her ausstehenden Steuern, Kontributionen und Kriegsbaufuhrgelder). 269) Vgl auch fheibault, German Villages (wie Anm. 23), 55 f. 27 °) StAM 17e Obergeis Nr. 9, Beilage 2 (Supplik sämtlicher Unterthanen des Amts Geißa [Obergeis], 19.111.1721). 271 ) Ebd. (Attest von Amtsverweser Bilstein, undat.). 272 ) Ebd., Beilage 1 (Vermerk). 273 ) Ebd., Beilage 2 (Supplik sämtlicher Untertanen des Gerichts Geisa 10.XII.1722). 274 ) Ebd., Beilage 2 (Vermerk der Rentkammer 11 .XII. 1722).
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tion der Untertanen nicht lange vor. Offensichtlich war die Verwaltung nicht bereit, den unüblichen Zahlungstermin dauerhaft zu akzeptieren. Anläßlich einer Enquête bat 1731 der Amtmann Bilstein auf Rat und Ansuchen der „gerichtsschöpffen, Vorstehere, und anderefn] ältestefn] auß Jeder Dorffschafft hiesiges Ambts" an erster Stelle, den Termin zur Bezahlung der Geldzinsen, Steuerraten, Forst-, Mast- und anderen Gelder zu verschieben. Diese Verschiebung habe die Rentkammer zwar schon mehrfach erlaubt, aber „jedesmahl wieder auffgehoben" 275 ). Eine Resolution auf diese Antwort der Enquête ist ebensowenig bekannt wie eine endgültige Lösung des Problems. Doch fehlen Hinweise auf spätere Klagen des Amtes in derselben Sache. Ein zweites Beispiel betrifft die Stadt Grebenstein. „Gemeine Bürgerschafft nebst Gilden und Zunfften zu Grebenstein" wurden beim Landesherrn vorstellig in Sachen lus Metrocomiae, wie das örtlich hergebrachte Näher- oder Rückkaufsrecht hieß 276 ). Die fürstliche Regierung verfügte am 22. März 1727 aufgrund eines Berichts von Geheimrat Scheffer und aufgrund der in der Grebensteiner Supplik „angeführten motiven", daß das „Jus Metrocomiae in ihrer [der Stadt Grebenstein, A.W.] Terminey ferner beobachtet^] hinfuhro bey denen Gerichten darauff gesprochen, und keinem Fremden in einer anderen Feldmarck Guther zu kauffen oder an sich zu bringen [...] erlaubt sein solle". Die Regierung ließ sich vom Argument leiten, daß der Erwerb von Gütern durch Fremde Probleme und Streitigkeiten bei der Erhebung der Steuern auslösen könnte 277 ). Nur zwei Monate später entschied Landgraf Karl persönlich einen einschlägigen Fall am Oberappellationsgericht. Dem Grebensteiner Bürger Johann Köckel wurde mit Verweis auf das jüngst bestätigte lus Metrocomiae der Retrakt (Rückkauf) einer halben Hufe Landes vom Förster Johann Georg Bauer aus Udenhausen zugestanden. Allerdings mit der Einschränkung, daß der Rückkauf nicht vollzogen werden solle, falls der Förster Bauer, wie beabsichtigt und angekündigt, das Bürgerrecht zu Grebenstein für sich und die Seinen erwerbe und dadurch „die Bürgerliche Praestanda gleich andern tragen wurde". Landgraf Karl fällte diesen Entscheid nach „mündlicher Relation" der Sache und ließ sie, eigenhändig unterschrieben, „vor Unsere hiesige nachgesetzte Regierung alß Iudicium a quo, umb vorstehende Unsere gnädigste Resolution [vom 22. März] zur Wurcklichkeit bringen zu laßen, hiermit remittir[en]" 278 ). Offensichtlich verweigerte aber die Stadt Grebenstein dem fremden Förster die Aufnahme ins Bürgerrecht. Der daraus entstandene Prozeß von „Burgermeister und Rath und gemeiner Burgerschafft samt Gilden und 275
) Ebd. (Bericht Bilstein 18.IX.1731). ) L. Carlen, Art. „Näherrecht", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 3. Bd. Berlin 1984, 8 2 7 - 8 3 1 . 277 ) StAM 5 Nr. 11978, fol. 2 und LO 3, 1005 (Reskript). 2 ™) LO 3, 1007 (Ober-Appellations-Gerichts-Decret 29.V.1727). 276
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Zünfften zu Grebenstein [...] wider den Forster Joh. George Bauer zu Udenhausen" wurde am 1. Februar entschieden. Die Kanzlei wies die Stadt an, daß der Förster Bauer „in numerum Civium zu recipiren sey" 279 ). Hier wird deutlich, daß die Bürgerschaft Grebensteins mit dem Rechtsinstrument Ius Metrocomiae andere Wertvorstellungen verband als die Zentralverwaltung. Während die städtische Politik den alteingesessenen Bürgern Vorteile auf dem Bodenmarkt verschaffen beziehungsweise erhalten wollte, war der absolutistische Staat an der Sicherung der Fiskaleinnahmen interessiert und zudem offen für Maßnahmen, die der Zerstückelung von Gütern entgegenwirkten und vom funktionalen Standpunkt aus gesehen sinnvolle Betriebsgrößen schufen 280 ). Nicht auf dem Weg der Supplik, sondern in Form eines Spezialdesideriums am Landtag 1731 ersuchte die Stadt Waldkappel den Landesherrn, das örtlich hergebrachte Ius Metrocomiae in Geltung zu belassen 281 )- Die Supplik aus Grebenstein, das Desiderium aus Waldkappel und einige Prozesse zwischen Privaten, in die sich die Stadt Waldkappel einmischte, bildeten die empirische und argumentative Grundlage für Rechtsgutachten, die 1738 und 1739 erstellt wurden. Die lokale Geltung des Ius Metrocomiae in Gemeinden, in denen es herkömmlich galt, war dabei unstrittig. Zum Problem hatte sich aber der Preis entwickelt, der bei Rückkäufen aufgrund des Ius Metrocomiae angesetzt werden sollte. An den Landtagen 1754 und 1764 bat „die Landschaft unterthänigst, daß das in jure communi gegründete beneficium juris metrocomiae in denen übrigen Städten und Communen, wo solches nicht bereits hergebracht worden, ebenfalß eingeführet werden" möge 282 ) und daß damit dessen Geltungsbereich auf das gesamte Territorium ausgedehnt werde. Die fürstliche Antwort folgte diesem Vorschlag weitgehend 283 ). Am Anfang dieser allgemein verbindlichen rechtlichen Norm, die auf Druck der Landtagsgravamina eingeführt wurde, standen die Suppliken der Stadt Grebenstein. Suppliken und Gravamina bewirkten die Veränderung rechtlicher Normen. Von verschiedenen Bittstellern eingereichte Suppliken konnten um die Gunst des Landesherrn konkurrieren und sich neutralisieren. Die Metzgerzunft zu Oldendorf bat 1786, „sie bey ihrem Zunfft-Brief gnädigst zu schützen und den dortigen Juden das Viehschlachten und den Handel mit Fleisch zu un-
279
) L 0 3, 1033 (Cantzley-Bescheid 1.II. 1729). 280) Vgl. LO 3, 453 f. („Edict, daß die herrschaftlichen Hufen-Guther nicht zerrissen" 25.IX. 1700) und die in den Hufenordnungen verfolgte Politik: Würgler, Desideria, in diesem Band. 281 ) StAM 17 I Nr. 1299, fol. 384 (28.IX.1731). 282 ) StAM [Bestand] 73 [Hessische Landstände 1509-1866] Nr. 117 Bd. 4 Nr. 122. Vgl. 5 Nr. 14717 (5. Desiderium commune der Landschaft 1764) und StAM 17 II Nr. 683 (1754) und Nr. 695 (1764). Vgl. zur landständischen Ebene Würgler, Desideria, in diesem Band. 283 ) LO 6, 411 (Verordnung zur Verbesserung des Justizwesens 17.111.1767, § XXXIX).
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tersagen" 284 ). Der Geheimrat verlangte einen Bericht der Regierung in Rinteln und übertrug dieser darauf die Aufgabe, die Sache zu regulieren. Die Schutzjuden Jacob Herz, Siemon und Perez Levi zu Oldendorff, die um Beibehaltung des seit Jahren geübten Viehschlachtens supplizierten, verwies sie auf den vorangegangenen Entscheid 285 ). Suppliken waren ein Mittel, mit dem allgemein gültige Ordnungen für konkrete Einzelfälle außer Kraft gesetzt werden konnten. So hatte der Landtag 1731 erfolgreich eine neue Judenordnung mit präzisen Regelungen zur Aufnahme von Juden gefordert. Diese war 1731 vorläufig und 1739 endgültig erlassen (1749 erneuert) und - wohl als erste umfangreichere Ordnung überhaupt in extenso - in der „Casselischen Zeitung/ von Policey, Commercien, und andern dem Publico dienlichen Sachen" 286 ) publiziert worden. Doch 1772 stellte, veranlaßt von Klagen des Landtags, die „Verordnung gegen die ubermäßige Aufnahme der Juden" fest, daß „in der Folge auf beschehenes ungleiches Suppliciren von diesen heilsamen Verordnungen [von 1739 und 1749, A. W.] so weit abgegangen worden [.. .]" 287 ), daß sie erneuert werden mußten. Von Landtagsbeschwerden veranlaßte Gesetze konnten demnach durch die fürstliche Bewilligung von Ausnahmen, die auf dem Weg der Supplik zu beantragen waren, ausgehöhlt werden. Supplizieren war für die Untertanen ein Weg, sich - wie etwa die Stadt Melsungen 1529-1541 - g e g e n „Exzesse der Beamten" zur Wehr zu setzen 288 ). So supplizierte die Stadt Kirchhain 1525 um Absetzung des alten und Einsetzung eines neuen Stadtschreibers 289 ). Von 1639 an stritten sich die Hersfelder mit ihrem Stadtschultheißen, dessen Absetzung sie 1666 ebenso erreichten, wie die eines späteren Nachfolgers 1676 290 ). 1653 beschwerte sich die Gemeinde Harle über den Oberförster wegen Beeinträchtigung ihrer Holzrechte und in ähnlicher Sache 1724 die Gemeinde Oberthalhausen über den Riedeselischen Schultheißen 291 )- 1771 wandten sich die Greben des Amtes Wetter mit einer Supplik gegen „neuerlich zugemuthet[e]" Dienste und erreichten, daß die Beamten vom Geheimen Rat angewiesen wurden, „die Supplicanten der hergebrachten und der Greben-Ordnung gemäßen Freiheiten fernerhin geniesen zu 284
) StAM Protokolle II, Kassel Cc 6 Bd. 2a, 16.V.1786, Nr. 72/287. 285) Ebd., 23.VII.1786, Nr. 10/413 und 11/414. 286 ) Nr. XLII 19.X.1739 bis XLVII 23.XI.1739. Sonst wurden Ordnungen in dieser Zeitung meist nur in Zusammenfassung oder in Auswahl präsentiert, nie aber als Fortsetzung über sechs Nummern. 287 ) LO 6, 643 f. (7.IV.1772). 288 ) StAM 17e Melsungen Nr. 49 (Exzesse der Beamten zu Melsungen 1529-1541). Vgl. dazu die Beispiele zur prozessualen Konfliktaustragung bei von Friedeburg, Landesherrschaft (wie Anm. 19), 232-259. 289 ) StAM 17e Kirchhain Nr. 22. 29 °) Witzel, Hersfeld, (wie Anm. 261) 307-309. 29 ' ) StAM 17e Harle Nr. 9; 17e Oberthalhausen Nr. 1. Vgl. den weiteren Streit mit dem Schultheiß wegen Injurien 17e Ober- und Niederthalhausen Nr. 2 (1727-1728).
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lassen" 292 ). Die große Welle von Supplikationen und Beschwerden gegen die 1776 neueingeführten fürstlichen Landräte trug dazu bei, diese Beamtenstellen bald wieder abzuschaffen 293 ). Der erste Schritt, eine innovative Idee in die Tat umzusetzen, bestand oft darin, eine Supplik zu verfassen. Zahlreiche Städte ersuchten z.B. um die Gewährung (zusätzlicher) Markttage, von denen sie sich besseren Absatz ihrer Produkte, mehr Handel und ein vielfältigeres Warenangebot für die Stadt und die Umgebung versprachen. Die Bitte um Gewährung weiterer Termine wurde in der Absicht, alle Einflußmöglichkeiten auszuschöpfen, auch als Spezialdesiderium an Landtagen eingereicht 294 ). Die Bedeutung der Gemeindesuppliken sollte, so läßt sich zusammenfassen, auch für Hessen(-Kassel), das nicht zu den stark kommunal geprägten Territorien des Reiches gezählt wird, nicht unterschätzt werden. Die folgenden generellen Thesen können jedenfalls auch aufgrund des präsentierten hessischen Materials gestützt werden 295 ).
5. Thesen zum Supplikationswesen Der Vorteil der Heterogenität der hier diskutierten Territorien und Aspekte besteht darin, daß sich auf dieser Grundlage ein breites Spektrum von Thesen und Forschungsdesideraten zum Supplikenwesen formulieren lassen: 1. Die Quellengattung zeichnet sich bereits in einer lokalen Fallstudie und noch viel mehr im internationalen Vergleich durch eine ungeheure Vielfalt von Inhalten, Adressaten und formellen Varianten aus. Die Grenzen zwischen Klagen, Bitten, Appellationen usw. sind oft fließend und die schiere Masse der Eingaben stellte die Obrigkeit vor beträchtliche Probleme. 2. Das Adressatenspektrum der Bittschriften spiegelt die jeweilige Behörden- und Gerichtsorganisation und bietet daher aufschlußreiche Einsichten in die Machtverteilung innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. In Hessen-Kassel zum Beispiel, ganz im Gegensatz zu den englischen Verhältnissen, hat es der Landgraf offensichtlich verstanden, für sich und seine Verwaltung ein Monopol in Sachen Suppliken durchzusetzen und die Entwicklung eines an den 292) StAM 5 Nr. 345, fol. 4' und 6' (20.VIII. bzw. 19.X.1771). Für das 17. Jahrhundert vgl. Theibault, German Villages (wie Anm. 23), 27. 293
) Ingrao, Mercenary State (wie Anm. 200), 2 0 6 f . Vgl. Würgler, Desideria, in diesem Band. ) Auswahl aus dem StAM Bestand 17e: Homburg/O Nr. 4 (1553); Allendorf/Werra Nr. 182 (1567); Helmarshausen Nr. 16 (1584), Nr. 67 (1652); Homburg/E Nr. 62 (1686-1689). Vgl. Sieburg, Bestand 17 II (wie Anm. 194), 189f. (Beispiele 1739-1821). Zum Landtag: StAM [Bestand] 63 [Landtagskommissare] Nr. 1315 Anl. 335 (Desiderium speciale Kirchhain 11.III. 1786). 295 ) Gemeint sind die Thesen 1 - 5 und 7 - 9 , insbesondere aber 3, 4, 7, 8 und 9. 294
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Landtag gerichteten Supplikationswesens zu verhindern. Gleiches strebte mit geringerem Erfolg auch der württembergische Herzog an. Insbesondere in Steuersachen erwarb und bewahrte sich jedoch die Landschaft ausreichende Kompetenz, um als attraktive Adresse für Suppliken zu gelten. 3. Innovative Ideen, Wünsche und Forderungen wurden in Form von Suppliken vielen Institutionen der Verwaltung mitgeteilt (sei es aus einem besonderen Anlaß, etwa einem Besuch des Landesherrn in der Region 296 ), oder zu irgendeiner anderen Zeit) und konnten so partielle Verbesserungen und Reformen auslösen. Suppliken waren zudem ein Mittel, mit dem die Gemeinden und Untertanen direkt auf die Gesetzgebung einwirken konnten, indem sie die Ausformulierung von Edikten und Verordnungen überhaupt anregten und inhaltlich oft deutlich mitprägten. Dabei brachten die Initianten in vielen Fällen Anliegen vor, die in ähnlicher Weise auch als Gravamina an den Landtagen formuliert wurden; Gravamina und Suppliken haben sich wechselseitig ergänzt und verstärkt 297 ). Auch die Geschichte des englischen Parlaments wäre ohne die unzähligen Petitions von unten bestimmt anders verlaufen. 4. Suppliken waren ein erstrangiger Informationskanal für einen Staat, dem die herrschaftlich-administrative Durchdringung und Kontrolle des Lokalen, wiewohl angestrebt, noch nicht gelungen war. Auf dem Weg der Suppliken gelangten Informationen an die Zentrale, die nicht von den Beamten stammten und nur bedingt von diesen gefiltert worden waren. Daher wurden Suppliken zu einem guten Sensor für neu entstandene Problemlagen oder ein neues Problembewußtsein sowie für die Akzeptanz und Praxistauglichkeit landesherrlicher Verordnungen bei den Untertanen. Die Bittschriften waren zugleich ein ideales Instrument zur Kontrolle der Beamten seitens der Landesherrschaft wie seitens der Untertanen. 5. Die Intensität des Supplizierens reflektiert den lokalen Problemstau 298 ): Krisenzeiten (Hungersnöte, Bevölkerungsdruck, politische Instabilität) vervielfachten die Zahl der Interventionen. Das Supplikenwesen erfüllte daher eine Ventilfunktion für sozialen Unmut, weil es sowohl die Artikulation der drängenden Probleme als auch eine sofortige Reaktion in Form einer oft allerdings nur scheinbaren, da partiellen und/oder befristeten Lösung erlaubte. 6. Im frühneuzeitlichen Territorialstaat, so scheint jedenfalls das Beispiel Württemberg nahezulegen, besteht die Tendenz, immer größere Teile der von den Untertanen verfaßten Bitten, Beschwerden und formelleren Klagen unter dem Begriff „Supplikation" zu subsumieren und damit auf ein umfassendes Gewaltmonopol der Obrigkeit hinzuarbeiten; einer Obrigkeit überdies, die
296
) Siehe André Holenstein, Bittgesuche, in diesem Band. ) Vgl. WUrgler, Desideria, 196-201 und oben S. 278-282. 298) Wrightson, English Society (wie Anm. 51), 150.
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Supplizierende
Gemeinden
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solche Eingaben lieber als Appelle an ihre „gnädige" Hilfe denn als formelle Rechtsansprüche zu interpretieren versuchte. 7. Oft bildete die parallel vorangetriebene Expansion der Staatsverwaltung einen weiteren Anlaß für das Supplizieren der Gemeinden. Entscheidungen etwa im Bereich der Nutzungen oder der Gemeindeangelegenheiten 299 ), welche die Gemeinden früher entsprechend kommunalem oder regionalem Herkommen selbst treffen konnten, mußten nun den Umweg über eine Supplik an die landesherrliche Behörde machen. 8. Die Supplikenflut konnte allerdings zum Ausbau respektive zur Differenzierung des Staatsapparates ihrerseits beitragen. Eine institutionenbildende Funktion ist etwa am Beispiel des bayerischen Hofrates, der englischen Chancery oder des Supplikationsausschusses des Reichstags beobachtet worden 300 ). In Hessen-Kassel scheint dies zwar nicht der Fall gewesen zu sein, immerhin haben aber auch dort die Bittschriften der Gemeinden und Untertanen eine Gesetzgebung über Suppliken provoziert. Der generelle Trend zu Formalisierung und Bürokratisierung ist unübersehbar. 9. Auf dem Weg des Supplizierens konnten Konflikte, die innerhalb der Gemeinden nicht mehr lösbar waren, zum Landesherrn als neutrale Instanz oder gütlichen Richter getragen werden, ohne daß der Aufwand und die Kosten eines geregelten und oft langwierigen gerichtlichen Verfahrens hätten in Kauf genommen werden müssen.
6. Forschungsdesiderate Drei wichtige, für ein umfassendes Verständnis des Supplikenwesens unerläßliche Aufgaben müssen hier genannt werden. Wünschenswert wären, erstens, genauere Einsichten in die jeweiligen Initiierungsvorgänge und Entstehungsumstände von kommunalen Bittschriften. Ob sich bei der auch hier zu erwartenden Vielfalt generelle Aussagen werden machen lassen, sei jedoch dahingestellt. Zweitens gälte es, auch der Rhetorik der Quellen größere Aufmerksamkeit zu schenken 301 ). Wie weit ist sie von 2
" ) Z.B. durften ab 1776 (StAM 5 Nr. 11120, fol. 13) die Gemeinden in Hessen-Kassel nicht mehr ohne Bewilligung des fürstlichen Landrates, die mittels einer Supplik einzuholen war, gegen die Zentralbehörden prozessieren. Diese Regelung wurde auf Druck der Landstände 1786 wieder aufgehoben, vgl. LO 7, 45 (Verordnung 1 O.III. 1786). 30 °) Siehe Renate Blickte, Laufen gen Hof, in diesem Band, oben S. 276-278, und Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5). 301 ) Petitionen entwickelten sich ja vielerorts gar zu einer eigenständigen Literaturgattung. Sehr schön läßt sich dies an der englischen Reformationszeit demonstrieren, wo sowohl Simon Fishs antiklerikale Polemik wie Sir Thomas Mores Verteidigung der Fegefeuerdoktrin in Form von Supplikationen publiziert wurden: Simon Fish, A Supplication for the Beggars. London 1528; Sir Thomas More, A Supplication of Souls. London 1529.
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Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas
Würgler
Formularen und professionellen Schreibern vorgegeben, wie weit kann sie als genuiner Ausdruck der Befindlichkeit der Supplizierenden verstanden werden? Als vordringliches Forschungspostulat kann sicher, drittens, der Wunsch nach einer schärferen, für alle Epochen und Untersuchungsräume anwendbaren Begrifflichkeit gelten. An Ansätzen dazu mangelt es zwar nicht: so wird etwa im einschlägigen deutschsprachigen Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte deutlich zwischen „Petition", „Supplikation" und „Supplik" unterschieden 302 ), während anderswo Aufteilungen in „Rechtssuppliken" und „Supplikationen" oder in „Gnaden-" und „Justizsupplikationen" vorgeschlagen werden 303 ). Sicherlich sind mit der Absicht der Bittsteller, mit der Differenzierung zwischen Gnaden- und Rechtsakten, mit dem Grad der Formalisierung und mit dem verfassungsgeschichtlichen Rahmen wichtige Angelpunkte angesprochen, doch stellen sich in der Praxis noch fast unüberwindlich scheinende Probleme. Wie etwa sind Quellen zu klassieren, die verschiedene Materien vermischen oder formelle Beschwerden und konkrete legislative Vorschläge miteinander kombinieren? Wie lassen sich, wenn von der Quellensprache ausgegangen werden soll, die in verschiedenen Territorien unterschiedlich verwendeten Begriffe unter einen Hut bringen? Sollte hingegen der Adressat als Kriterium Verwendung finden, wie können dann die sehr disparaten konkreten Funktionen ein und derselben Instanz damit erfaßt werden? Die in diesem Band gesammelten Beiträge mögen zur Illustration der Komplexität des Problems beitragen, jedoch noch kaum zu einer Lösung. All diesen Fragezeichen zum Trotz steht außer Zweifel, daß sich Suppliken europaweit als Schlüssel zu Normen, Werten und Lebensverhältnissen der Untertanen und ihres Verhältnisses zum (entstehenden) Staat herausstellen könnten. Eine langfristig angelegte, vergleichende und quantitative Untersuchung wäre unerläßlich, um wenigstens genauere Daten zu Häufigkeit und Inhaltsspektrum 302
) „Supplikationen" wären demnach - sehr verkürzt gesagt - ordentliche Rechtsmittel, „Suppliken" informelle untertänige Bitten und „Petitionen" auf modernen verfassungsrechtlichen Grundlagen beruhende Eingaben: siehe Hülle, Supplikation (wie Anm. 228); Dolezalek, Suppliken (wie Anm. 10); J. H. Kumpf, Art. „Petition", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 3. Bd. Berlin 1984, 1639-1646; zum Zusammenhang des modernen Petitionsrechts mit dem Supplikenwesen auch Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte moderner Verfassungen in rechtsvergleichender Darstellung. Berlin 1908; Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat, abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre. Hamburg 1965; Rupert Schick, Petitionen. Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht. Heidelberg. 3. Aufl. 1996. 303 ) Ersteres in Hülle, Supplikationswesen (wie Anm. 5), 197 („Rechtssupplik" als auf ein verletztes Rechtsgut bezogenes, in seiner Wirksamkeit allein von der Geneigtheit des Adressaten abhängiges „Schutzmittel", „Supplikation" als ein römischem Recht nachgebildetes formalisiertes Rechtsmittel), letzteres in Neuhaus, Supplikationsausschuß (wie Anm. 5), 133 ff., 138 ff., und ders., Supplikationen (wie Anm. 2), I, 120 (wo zwischen auf einen Gnadenakt abzielenden Bitten und einen richterlichen Entscheid zwischen zwei Parteien anstrebenden Eingaben unterschieden wird).
Supplizierende
Gemeinden
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von Suppliken zu erhalten. Somit müßten die Suppliken eigentlich eine der ganz zentralen empirischen Grundlagen der Erforschung des Alten Europa werden.
Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung Zur Praxis „guter Policey " in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach)* Von
André
Holenstein
1. Einleitung „Zu Ermunterung und Belohnung derer vor die Aufnahm derer GemeindsAerarien [...] besorgten Dorfs-Vorgesezten" ließ Markgraf Karl Friedrich (1738/46-1811) im Jahre 1761 ein Generalreskript ergehen, welches viel vom landesherrlich-bürokratischen Interesse an der Funktion und Stellung der Landgemeinden im Rahmen des sogenannten absolutistischen Staates verrät. Die Vögte, Schultheißen, Stabhalter, Anwälte sowie Heimbürgen und Burgermeister, welche alle aufgrund ihres Amtes in den Landgemeinden der Markgrafschaft Baden-Durlach mit der Verwaltung von kommunalen Einnahmen und Ausgaben betraut waren, sollten zum sparsamen Umgang mit den Gemeindefinanzen und zur Äufnung des Gemeindekapitals motiviert werden, indem ihnen eine nach ihrer Stellung in der lokalen Ämterhierarchie abgestufte Beteiligung am Vermögenszuwachs in Aussicht gestellt wurde. Ein bis ein viertel Prozent der ersparten und zu Kapital angelegten Gemeindegelder sollte demnach den Dorfvorgesetzten, solange sie im Amt verblieben, als „jährliche Zulage und Ergözlichkeit" zukommen. Zuständig für die Bewilligung dieser Zulagen für „treue Vorgesezte" war der Hofrat, bei dem dörfliche Amtsleute „supplicando einkommen" sollten, die berechtigte Hoffnung auf diese Belohnung zu haben meinten 1 )- Der Landesherr wollte mit dieser bezeichnenderweise von den Gemeinden finanzierten Maßnahme die Umsetzung der ein Jahr zuvor erlassenen Commun-Ordnung unterstützen, die über eine detaillierte Regelung des Gemeinderechnungswesens die landesherrliche Aufsicht über die Gemeindefinanzen und über den kommunalen Vermögensbestand auf das Ziel festlegte, die Einnahmen der Gemeinden in gutem Zustand zu erhalten,
* Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen eines selbständigen, vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützten Forschungsvorhabens. ') Das Generalreskript bei Carl Friedrich Gerstlacher, Sammlung aller Baden-Durlachischen [...] Anstalten und Verordnungen. 3 Bde. Karlsruhe bzw. Frankfurt/Leipzig 1773/74, Bd. 3, Ziff. 226.
326
André
Holenstein
d i e „ G e m e i n d s - K o s t e n auf all s c h i k l i c h e Art z u spahren" u n d das V e r m ö g e n „ b e s t m ö g l i c h zur A u f n a h m u n d Verbesserung z u bringen" 2 ). D a s Interesse d e s Staates d e s A n c i e n R é g i m e an e i n e m g e o r d n e t e n Zustand der G e m e i n d e f i n a n z e n war nicht u n e i g e n n ü t z i g , e s gründete in der Einsicht der Landesherren und R e g i e r u n g e n , daß „gute P o l i c e y " i m S i n n e einer regulativen B e v ö l k e r u n g s - , S o z i a l - , Wirtschafts- u n d Moralpolitik auf der administrativ-organisatorischen E i n b i n d u n g der K o m m u n e n u n d der M o b i l i s i e r u n g ihrer
finanziellen
Ressour-
c e n beruhte. D i e Kontrolle über d i e Struktur und den Zustand der G e m e i n d e haushalte, über d i e B e s c h a f f e n h e i t der G e m e i n d e e i n n a h m e n und - a u s g a b e n s o w i e über den U m g a n g der G e m e i n d e n mit ihrem V e r m ö g e n w u r d e damit e i n zentrales A n l i e g e n landesherrlicher G e m e i n d e p o l i t i k . Ein Mittel, d e s s e n s i c h der Staat dazu bediente, war d i e jährliche Prüfung der G e m e i n d e r e c h n u n g e n ; ein w e i t e r e s bestand darin, alle e r h e b l i c h e n A u s g a b e n der K o m m u n e n s o w i e Veränderungen in deren V e r m ö g e n s b e s t a n d v o n einer B e w i l l i g u n g d e s Fürsten o d e r der R e g i e r u n g abhängig zu m a c h e n . U m d i e s e B e w i l l i g u n g m u ß t e n G e m e i n d e n bitten, sie hatten, in der V e r w a l t u n g s s p r a c h e der Zeit ausgedrückt, darum b e i m Landesherrn „ s u p p l i c a n d o e i n z u k o m m e n " 3 ) .
2 ) Ebd., Ziff. 225. Weitere Erlasse hinsichtlich der Aufsicht über die Gemeinden und deren Finanzen ebd., Ziff. 225-242 sowie für die gesetzlichen Maßnahmen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts siehe: Wesentlicher Inhalt des beträchtlichsten Theils der neuern Hochfürstlich-Markgräflich-Badischen Gesezgebung [...]. 2 Teile. Karlsruhe 1782/1801, hier Teil 1, 203-213, Teil 2, 192-200. - Zur Stellung der Gemeinde im badischen Staat des Ancien Régime vgl. Wolfgang Windelband, Die Verwaltung der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrichs. Leipzig 1916, 243, 246, 287-290; Albrecht Strobel, Agrarverfassung im Übergang. Studien zur Agrargeschichte des badischen Breisgaus vom Beginn des 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Freiburg/München 1972, 178-185; Clemens Zimmermann, Reformen in der bäuerlichen Gesellschaft. Studien zum aufgeklärten Absolutismus in der Markgrafschaft Baden 1750-1790. Ostfildern 1983, 20 ff. - Zum allgemeinen Kontext vgl. Marc Raeff, Der wohlgeordnete Polizeistaat und die Entwicklung der Moderne im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus. Frankfurt am Main 1986, 310-343; Petef-Michael Hahn, „Absolutistische" Polizeigesetzgebung und ländliche Sozialverfassung, in: JbGMOD 29 (1980), 13-30. 3
) Der Hofrat und die 1753 aus dem Hofrat gebildete Kommun-Deputation führten die Oberaufsicht über den Vermögenszustand der Gemeinden. Gemäß der Commun-Ordnung von 1760 erforderten folgende Geschäfte in den Gemeinden eine Bewilligung: Umlagen, die Aufnahme von Kapitalien, die Errichtung kommunaler Gebäude, die Umlage der Amtsund Fleckenkosten, die NichtWiederanlage abgelöster Kapitalien, die Veräußerung, Verpfändung oder sonstige Veränderung von Liegenschaften, Gebäuden, Gülten oder Gerechtigkeiten, der Verzicht auf eine öffentliche Versteigerung von Gemeindegütern, Reparaturen an Gemeindegebäuden im Wert von mehr als 5 fl. (Bewilligung durch das Oberamt) bzw. 100 fl. (Bewilligung durch den Hofrat), die Verfügung oder Erhöhung von Besoldungen, die Ausrichtung von Zehrungen auf Gemeindekosten in unvermeidlichen Fällen (iGerstlacher, Sammlung [wie Anm. 1], Bd. 3, Ziff. 225). - Hinweise auf die Befolgung der Ordnung liefern die Gemeindesuppliken im Badenweiler Supplikenverzeichnis von 1798; Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) 74/915 (s. dazu ausführlich unten) und kommunale Bittschriften in Gemeindeökonomiesachen im Bestand GLAK 74/2619. - Alle im folgenden zitierten Archivsignaturen verweisen auf Bestände des GLAK und werden allein mit der Nummer des Bestands belegt.
Bittgesuche,
Gesetze und
Verwaltung
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So suchte die Gemeinde Kirchen im September 1798 bei Markgraf Karl Friedrich um die Bewilligung nach, ihr linksrheinisch gelegenes Gemeindegut verkaufen zu dürfen. Am 14. September dieses Jahres bat Stabhalter Fritz Räuber den Landesherrn um die Erlaubnis für die Gemeinde Eichen, die Tannwaldungen im Gemeindebann beweiden zu dürfen. Supplizieren war im 18. Jahrhundert aber auch in der administrativen Kommunikation zwischen einzelnen Untertanen und dem Landesherrn bzw. den Behörden ein gängiges Verfahren. Der Lörracher Sattlermeister Johann Christian Rösch wandte sich Ende August 1798 mit der Bitte an Karl Friedrich, der Fürst möge die ihm wegen eines Betrugs auferlegte öffentliche Arbeitsstrafe in eine Geldbuße umwandeln. Nur kurz davor, am 23. August, hatte der Müllheimer Alt-Judenvorsteher Jacob Meier ein bereits im März 1798 eingereichtes Bittgesuch an den Landesherrn erneuert, in dem er um die Verleihung des Schutzes an seinen zweitgeborenen Sohn Israel sowie für diesen um die Erlaubnis zur Heirat mit der Tochter des gegenwärtigen Judenvorstehers Elias Meier bat, mit welcher Israel schon seit vier Jahren verlobt war. Am gleichen Tag wie Jacob Meier war auch der aus dem Württembergischen stammende und in Badenweiler lebende Bergmann Friedrich David Rahm mit einer Bitte vor den Landesherrn getreten; er wollte in seinem Wohnort als Bürger angenommen werden 4 ). Die Gemeinden Kirchen und Eichen und die Untertanen Rösch, Meier und Rahm nutzten alle den Umstand, daß sich Markgraf Karl Friedrich im Sommer 1798 zur Badekur in Badenweiler aufhielt, um dem in der Nähe weilenden Landesherrn ihre Anliegen mündlich oder durch Überreichung eines Bittschreibens persönlich vorzutragen. Allein Sattlermeister Rösch erhielt jedoch vom Fürsten umgehend Bescheid: das zuständige Oberamt Rötteln wurde angewiesen, den Vollzug der Arbeitsstrafe solange aufzuschieben, bis das Strafverwandlungsgesuch definitiv entschieden sein würde. Alt-Judenvorsteher Jacob Meier erhielt, wie bereits im Frühjahr 1798, vorerst keinen Bescheid, so daß er am 5. September und dann am 3. Oktober noch ein viertes Mal beim Fürsten vorstellig wurde 5 ). Der Fürst ließ es sich erst am 3. Dezember 1798 gefallen, dem Gesuch ausnahmsweise und unter Würdigung der gegebenen Umstände zu willfahren 6 ). Zu diesem Zeitpunkt war Sattlermeister 4
) Die fünf Vorgänge dokumentiert im Bestand 74/915, NN 301, 334, 2, 44, 51. ) 74/915, NN 166,400. 6 ) 61/1919, RN [Referatsprotokollnummer] 878. - Ausnahmecharakter trug die Entscheidung insofern, als das Gesetz die Schutzerteilung nur für den ältesten Sohn erlaubte (so z.B. die Argumentation der Behörden im Fall 74/915, NN 427 f.). Das Gesuch dürfte angesichts außerordentlicher Umstände genehmigt worden sein: der Hofrat wies in seinem Antrag an den Fürsten darauf hin, die Müllheimer Juden bezögen ihre Nahrung weniger aus dem Badischen als vielmehr aus dem benachbarten Vorderösterreich; die Väter der heiratswilligen Kinder hatten versprochen, als Judenvorsteher alle Regierungsanordnungen hinsichtlich der vorgesehenen Neuorganisation der Judenschaft im badischen Oberland zu befolgen; schließlich trug die Schutzannahme von Israel Meier der Gemeindekasse 200 fl. ein, die knapp drei Wochen nach dem Entscheid des Fürsten bereits bezahlt waren (61/1919 RN 5
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André
Holenstein
Rösch schon seit geraumer Zeit im Besitz einer für ihn positiven Entscheidung: am 10. September hatte der Fürst das erste Urteil, welches für Rösch eine vierwöchige öffentliche Arbeitsstrafe festgelegt hatte, in eine Strafe von acht Tagen Turmhaft sowie eine Gebühr von 30 fl. umgewandelt7). Auch der Bergmann Rahm hatte vom Fürsten eine zustimmende Antwort auf sein Gesuch erhalten; er mußte nun von der Gemeinde Badenweiler, die sich bis dahin gegen seine Annahme ausgesprochen hatte, als neuer Bürger aufgenommen werden8). Über eine Entscheidung zu den beiden Gemeindesuppliken aus Eichen und Kirchen verlautet aus der zugrundeliegenden Quelle nichts Näheres, wahrscheinlich weil deren Anliegen in die Zuständigkeit der fürstlichen Rentkammer fielen und ihre weitere administrative Behandlung in anderen Quellenserien ihren Niederschlag fand. Die fünf zufällig ausgewählten Bittgesuche von Kommunen und Einzelpersonen sollten zum Gegenstand dieses Beitrags hinführen und Supplizieren als gängige Praxis von Korporationen und Untertanen im Staat des Ancien Régime vorstellen9). Die fünf Vorgänge sind in einem zeitgenössischen Verzeichnis 10 ) festgehalten, welches auszugsweise die während des Aufenthalts des Markgrafen in Badenweiler vom August bis Oktober 1798 eingereichten Bittgesuche im Hinblick auf deren weitere Behandlung durch das Regierungskollegium notierte11)- In der Tat enthält die Zusammenstellung auffallender317; 61/3313 HRN [Hofratsprotokollnummer] 9706; 61/3314 HRN 10950f.; 61/3316 HRN 13271). ) 61/1919 RN 59. - Rösch war im Oktober 1797 wegen eines als erheblich beurteilten Betrugs vom Hofrat exemplarisch bestraft worden; der Hofrat hatte in der Folge mehrere Gesuche Röschs um Strafumwandlung abgelehnt, deutete aber nun die Aufschiebung des Strafvollzugs im ersten Teilentscheid als Gnadenzeichen des Fürsten und rückte deshalb von seiner früheren Auffassung ab; für Rösch sprach nunmehr sein vorgerücktes Alter (63 Jahre) (61/3312 HRN 8992; 61/3313 HRN 9808). 8 ) 61/1919 RN 778; 61/3315 HRN 11483. - In seinem Antrag an den Fürsten hatte der Hofrat auf Grundlage der Angaben des Oberamts zugunsten Rahms vorgebracht, dieser habe ein eigenes Vermögen von 300 fl., er sei mit der einzigen Tochter eines Badenweiler Bürgers verheiratet, von der er dereinst ein gewisses Vermögen erhalten werde; er sei Vater von drei Kindern und seinen Schwiegereltern unentbehrlich. Wenn er auch im Bergbau keine Arbeit finde, so verschafften ihm seine Güter doch genügend Nahrung. Das Oberamt und die Ortsvorgesetzten erteilten ihm zudem hinsichtlich seiner „Aufführung" das beste Zeugnis. Die Sorge der Gemeinde, Rahms Beispiel werde weitere Bürgerannahmegesuche von Seiten von Bergleuten nach sich ziehen, erachtete der Hofrat als unerheblich, weil andere Bergleute aus dieser Einzelentscheidung kein Recht ableiten konnten (61/3314 HRN 10565). 9 ) Für die allg. Literatur zum Supplikenwesen vgl. die einschlägigen Beiträge von R. Fuhrmann, B. Hodler, B. Kümin und A. Würgler in diesem Band. 10 ) 74/915. " ) Das Verzeichnis erfaßte alle dem Fürsten vorgetragenen Bitten, soweit diese in das Ressort des Hofrats fielen. Es entstand im Januar oder Anfang Februar 1799 im Zusammenhang mit der Übertragung der Audienzgeschäfte durch den Fürsten an den Legationsrat und Geheimsekretär Friedrich August Wielandt (74/915; Berthold Beinert, Geheimer Rat und Kabinett in Baden unter Karl Friedrich (1738-1811). Berlin 1937, 101); es führt mit weni7
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Gesetze und
Verwaltung
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w e i s e k e i n e s der sonst zahlreichen G e s u c h e v o n E i n z e l p e r s o n e n o d e r G e m e i n d e n u m N a c h l a ß finanzieller Lasten, d i e in die Zuständigkeit der R e n t k a m m e r fielen12). Eine eingehendere Untersuchung des Supplikenverzeichnisses von 1 7 9 8 / 9 9 rechtfertigt s i c h trotz d e s s e n beschränkten U m f a n g s , w e i l d a s D o k u m e n t g l e i c h s a m in einer M o m e n t a u f n a h m e d i e b e i m Fürsten v o n Tag zu Tag e i n g e h e n d e n B i t t g e s u c h e der Untertanen aus der näheren U m g e b u n g bündelt und d a m i t e i n e n Eindruck v o n der S p a n n w e i t e der i m A l l t a g a n f a l l e n d e n Supp l i k e n a n l i e g e n 1 3 ) vermittelt. D e r Beitrag soll in e i n e m ersten A b s c h n i t t A u f s c h l u ß über d i e Praxis d e s S u p p l i z i e r e n s in B a d e n a m E n d e d e s 18. Jahrhunderts liefern (2.). D i e s e r B e f u n d v e r w e i s t auf d e n f u n k t i o n a l e n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d e m S u p p l i z i e r e n der Untertanen und praktischen Erfordernisgen Ausnahmen nur den Namen, teilweise auch Beruf oder Tätigkeit und den Herkunftsort sowie das Anliegen des Bittstellers an sowie die erste Resolution des Fürsten auf die vorgetragene Bitte. Wielandt übergab das Verzeichnis dem Hofrat am 7. Februar 1799 mit dem Auftrag, bei jeder Nummer die Schlußresolution zu vermerken, damit er dem Fürsten einen mündlichen Vortrag erstatten könne; diese Ergänzung fehlt im Dokument. - Um die weitere Behandlung der Bittgesuche durch die Behörden zu rekonstruieren, wurde versucht, über parallele Überlieferungen die weiteren Verfahrensschritte und möglicherweise auch die Endresolutionen zu eruieren. Zu diesem Zweck wurden für den Zeitraum Juli bis Dezember 1798 die Serien der Referats-, Geheimrats- und Hofratsprotokolle systematisch durchgesehen - (61/1919 [Referatsprot.]; 61/1800, 1801 [Geheimratsprot.]; 61/3312-3316 [Hofratsprot.]). Aus arbeitsökonomischen Gründen wurde diese Untersuchung nicht über Dezember 1798 hinaus weitergeführt, so daß für die folgende Darstellung immer zu berücksichtigen bleibt, daß sich Aussagen über das weitere Schicksal der Bittgesuche auf jene Fälle beschränken, welche in der zweiten Jahreshälfte 1798 Spuren in den Protokollen der erwähnten Kollegien hinterließen. - Zum Problem der in der Praxis schwierigen Abgrenzung der Zuständigkeiten der Regierungskollegien (Hofrat, Rentkammer) s. Paul Lenel, Badens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738-1803. Karlsruhe 1913, 18 ff. 12 ) Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 262. - Für die Jahre 1796 und 1797 existiert ein offensichtlich aus dem Rentkammerprotokoll zusammengestelltes Verzeichnis der bewilligten Gratiale und Nachlässe für Einzelpersonen und Gemeinden; es vermittelt einen punktuellen Einblick in die Themenbereiche und den finanziellen Umfang der von der Rentkammer behandelten Bitten um finanzielle Unterstützung und um Nachlaß von Abgaben (74/3034). 13 ) Häufig sind Bittschriften in den Archiven nach dem Pertinenzprinzip in den jeweiligen Aktenbeständen eingereiht; demgegenüber erfaßt das hier zugrundeliegende Verzeichnis alle in Badenweiler eingegangenen und in die Zuständigkeit des Hofrats fallenden Gesuche in ihrer ganzen thematischen Breite. - In der baden-durlachischen Überlieferung findet sich kein geschlossener Supplikenbestand (mehr); wahrscheinlich haben die teilweise verwinkelten und langwierigen administrativen Abläufe bei der Behandlung einer Supplik die Anlage geschlossener Bestände erschwert. 1694 scheint die Verwaltung kurzfristig den Versuch unternommen zu haben, ein Register über die eingehenden Suppliken und deren Behandlung einzurichten. Dieses „Eintrag-Buch über unterthänigst eingereichte Supplicationes und Memorialien (...)" verzeichnet nach Ämtern geordnet und in der chronologischen Reihenfolge der eingehenden Suppliken den Bittsteller mit seiner Bitte, den Bericht der zuständigen Behörde, das Datum des Präsentatum, das Datum der Beratung sowie zuletzt jenes der Expedition, ohne den Inhalt der Resolution zu erwähnen. Die Einträge beginnen mit Januar 1694 und erstrecken sich bis Februar 1696, allerdings betreffen die Einträge auffallenderweise nur die Monate Januar bis April, für einzelne Amter bis Juli (61/345).
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sen bei der Implementierung der Gesetzgebung im sogenannten „well-ordered police state" 14 ); im Licht der Suppliken erscheint die „gute Policey" der frühneuzeitlichen Obrigkeiten als ein praktischer Vorgang, der in seiner Reichweite und Begrenzung durch die Nutzung administrativer Verfahren 15 ) durch die untertänige Bevölkerung mitgestaltet worden ist (3.)-
2. Der Gang nach Badenweiler - Sozialprofil, Anliegen und Erfolgsaussichten supplizierender Untertanen Während des mehrwöchigen Aufenthaltes 16 ) Karl Friedrichs in Badenweiler in den Monaten August bis Oktober 1798 nahmen zahlreiche Einzelpersonen, Gruppen 17 ) und Vertreter von Gemeinden den Weg zum Badeort unter die Füße, um den Landesherrn mit einer schriftlich und/oder mündlich vorgetragenen Bitte um Unterstützung in einem persönlichen oder kollektiven Anliegen anzugehen. Die allermeisten Supplikanten stammten aus dem badischen Oberland, so etwa aus der Gegend um Emmendingen und aus dem Kaiserstuhl, aus dem Oberamt Rötteln und aus den Dörfern der Umgebung Badenweilers selbst, einige wenige kamen von weiter her, aus dem Oberamt Mahlberg, nur vereinzelt gingen auch Suppliken von Personen aus anderen Territorien (Württemberg, Brandenburg-Ansbach) ein, doch lagen in diesen Einzelfällen jeweils besondere persönliche Beziehungen des Bittgesuchsstellers zur Markgrafschaft Baden vor, die ihn zu diesem Schritt veranlaßten 18 ). Supplizieren 14 ) Marc Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600-1800. New Häven u.a. 1983. 15 ) Zum konzeptionellen Hintergrund und zur interpretationsleitenden Bedeutung der Kategorie „Justiznutzung", an die ich mich hier anlehne, vgl. Martin Dinges, Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Frankfurt am Main 1993, 189-212. 16 ) Die Dauer des Aufenthalts Karl Friedrichs in Badenweiler läßt sich anhand des Referatsprotokolls (61/1919) ungefähr eingrenzen. Das erste Referatsprotokoll aus Badenweiler datiert vom 21. August 1798, am 3. Oktober datiert das Protokoll aus Emmendingen. Seit dem 11. Oktober werden die Einträge wieder ausführlicher, nachdem sie für die Dauer des Aufenthalts in Badenweiler häufig nur knapp die Entscheidung des Fürsten und einen Verweis auf die zugrundeliegende Nummer des Hofrats- und Geheimratsprotokolls anführen; dieser Wechsel läßt darauf schließen, daß Karl Friedrich zu diesem Zeitpunkt wieder in der Residenz Karlsruhe angelangt war. 17 ) Als Bittgesuche einer Gruppe wurden Suppliken definiert, die von mehr als einer Person bzw. im Namen von mehr als einer Person und nicht von einer Gemeinde eingereicht wurden. Die untersuchten Gruppensuppliken stammen von Eheleuten, Verlobtenpaaren, Ehefrauen und Töchtern, von Vätern, Geschwistern, Zünften und Berufsgruppen. 18 ) In 146 von insgesamt 148 Fällen sind die Suppliken mit dem Herkunftsort des/der Supplikanten und Supplikantinnen versehen bzw. ließ sich ein solcher nachträglich eruieren. Die supplizierenden Untertanen stammten aus 80 Orten. 25 Orte sind mit mehr als einem Bittgesuchssteller vertreten; die meisten Supplikanten kamen aus Müllheim (20), Sulzburg (7), Badenweiler, Kandern, Lörrach und Niederweiler (je 5) sowie Auggen, Buggingen,
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Verwaltung
erscheint somit vorwiegend als Handlungsoption für Landesuntertanen, die diese umso eher ergriffen, wenn sich der Landesherr in der näheren Umgebung aufhielt; in diesem Fall gestaltete sich die Übergabe der Bitte als unmittelbare Begegnung mit dem Landesherrn und war mit der Gelegenheit verknüpft, das Anliegen in mündlicher Rede, damit auch nachdrücklicher als in Schrift und mit Betonung der besonderen Umstände der eigenen Lage vortragen zu können 19 ). Beim Markgrafen selber vorgelassen zu werden mag für manchen Supplikanten nicht zuletzt deshalb entscheidend gewesen sein, weil er mit seinem Anliegen bei untergeordneten Behörden nicht erhört worden war und seine letzte Hoffnung nun in den Gunsterweis des „mildtätigen, gnädigen Landesvaters" setzte - nicht ohne Grund, wie etwa der oben geschilderte Fall des Lörracher Sattlermeisters zeigt. Karl Friedrichs Anwesenheit im Oberland setzte ein emsiges Laufen der Untertanen an den Hof nach Badenweiler in Gang. Kein Tag verging, ohne daß im Durchschnitt mindestens ein Bittgesuch eingereicht wurde (vgl. Diagramm 1 ) 20 ). Innerhalb von sechs Wochen wurden in Badenweiler insgesamt 148 Bittgesuche eingereicht, 125 von Einzelpersonen, 17 von Gruppen und sechs von Gemeinden. Insgesamt wurden in diesen Gesuchen 171 Anliegen
Diagramm 1: Supplikeneingang in Badenweiler
Suppliken/Tag
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19. August - 30. September 1798
Feldberg, Hügelheim und Seefelden (je 3); 14 Orte sind noch mit zwei Personen vertreten, die übrigen 55 Ortschaften jeweils noch mit einer Person bzw. Gruppe. ,9 ) Die gesprochene Sprache wird eingesetzt, um vor dem Landesherrn noch weitere Anliegen anzubringen, die Bitten mit Hinweis auf bestimmte Umstände besonders zu legitimieren oder die Dringlichkeit des Anliegens zu unterstreichen (vgl. 74/915, NN 4, 43, 44, 92, 131, 268). - Für das Jahr 1694 ist belegt, daß Untertanen sich nach Basel begaben, wohin der Markgraf sich vor den Kriegswirren geflüchtet hatte (74/1576). 20 ) In 74 von insgesamt 148 Fällen ist das Erscheinen des/der Supplikanten in Badenweiler datiert. Davon fallen 55 Fälle in die Zeit zwischen dem 19. August und 30. September, neun datierte Gesuche stammen aus der Zeit vor dem 19. August, auf den 3. Oktober sind noch deren zwei datiert; in 8 Fällen ist die Datierung nicht eindeutig.
332
André
Holenstein
vorgetragen. Supplizieren war somit überwiegend eine Angelegenheit von Einzelpersonen und, wie die Auswertung in Tabelle 1 zeigt, vorab eine solche von Männern. Vergleichsweise selten haben sich im beobachteten Zeitraum einzelne Frauen, Gruppen oder Gemeinden bzw. deren Vertreter „ad supplicandum" zum Landesherrn begeben. Zu beachten ist auch, daß Männer und Frauen, Gruppen und Gemeinden mitunter mehr als ein Anliegen in einem einzelnen Bittgesuch vorbrachten, in einzelnen Fällen suchte ein Supplikant gar um einen Gunsterweis in drei oder vier Geschäften 21 ) nach. Tabelle 1, welche die Bittgesuche nach Supplikenart und Geschlecht der Supplizierenden erfaßt und die vorgebrachten Anliegen grob in sieben Themenbereiche einteilt, liefert weitere Anhaltspunkte für eine Bewertung der Supplikenpraxis der Untertanen aus dem badischen Oberland am Ende des 18. Jahrhunderts. Die vorgetragenen Bitten verteilen sich sehr ungleich auf die verschiedenen Themenbereiche und die insgesamt 37 Einzelanliegen, unter welche die Suppliken rubriziert wurden: - Knapp ein Viertel der Bitten suchte um die Niederlassung und den Aufenthalt im Territorium nach, um die Erlaubnis zur Heirat22) und Gründung eines eigenen Haushalts oder um die Erteilung von Dispensationen von entsprechenden Vorschriften23). Neben den zahlreichen Gesuchen von 21
) Vogt und Wirt Obermeier aus Hertingen etwa bat um Fronfreiheit, Wachtfreiheit und um die Konzession, seine ehemalige Wirtschaft nach Niederlegung des Vogtamts wieder aufnehmen zu dürfen (74/915, N 404). 22 ) Drei von vier Gesuchen um Erteilung der Heiratserlaubnis wurden in derselben Sache von zwei Müllheimer Judenvorstehern eingereicht; die Genehmigung wurde schließlich erteilt (74/915, NN 44, 166, 400; 61/1919 RN 878). Der vierte Fall betraf das Gesuch eines Teilungskommissars, eine Pfarrerstochter heiraten zu dürfen; das Gesuch wurde abgelehnt, obwohl der Mann ein gewisses Vermögen von seiner Seite und von Seiten seiner Verlobten nachweisen konnte und das Oberamt, welches sich zum Fürsprecher der Interessen der verwitweten Mutter der Verlobten machte, das Anliegen unterstützte; der Hofrat verwies in seinem ablehnenden Gutachten an den Landesherrn darauf hin, das Gesetz verbiete die Heirat von Bediensteten vor deren Eintritt in ständige Dienste; von dieser Vorschrift seien in der Vergangenheit zu häufig Dispensationen bewilligt worden. Angesichts solcher Überlegungen nützte es dem heiratswilligen Teilungskommissar wenig, daß er auf mehrere Präzedenzfälle aus seiner näheren Umgebung verweisen konnte (74/915, N 189; 61/1919 RN 875). - Zu den Hintergründen der Bewilligungspflichtigkeit von Beamtenheiraten vgl. August Roth, Die Rechtsverhältnisse der landesherrlichen Beamten in der Markgrafschaft Baden-Durlach im 18. Jahrhundert. Karlsruhe 1906, 46 f. Grundsätzlich war den landesherrlichen Beamten auch der Grunderwerb ohne Nachsuchen eines besonderen Konsenses untersagt; um 1760 wurde geklagt, es liefen dazu fast wöchentlich Dispensationsgesuche ein (ebd., 42 f.). - Laut Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 199 f., 203, behielt sich der Markgraf alle Erlasse in Dienstangelegenheiten der Beamten (Besoldung, Ernennung, Beförderung, Bestrafung und Absetzung) vor. 23
) Das Heiratsalter war in einer Ordnung von 1730 für Männer auf 25, für Frauen auf 18 Jahre festgelegt; diese Regelung stand im Zusammenhang mit obrigkeitlichen Versuchen, das Bevölkerungs- und Gesindeproblem zu lösen; Alfred Straub, Das badische Oberland im 18. Jahrhundert. Husum 1977, 28; Zimmermann, Reformen (wie Anm. 2), 4 0 , 7 3 f. Vor Erteilung des Dispenses sollten die Beamten sich nach der Höhe der Mitgift er-
Bittgesuche,
Gesetze und
Verwaltung
333
M ä n n e r n und Frauen, in einer G e m e i n d e als Bürger, Hintersassen o d e r Schutzbürger a n g e n o m m e n z u w e r d e n 2 4 ) , sticht die h o h e Zahl der v o n Juden e i n g e r e i c h t e n S u p p l i k e n u m Erteilung d e s landesherrlichen S c h u t z e s hervor. -
K n a p p e i n Fünftel der G e s u c h e läßt sich d e m B e r e i c h Wirtschaft und H a n d w e r k zuordnen. A n der S p i t z e stehen hier d i e G e s u c h e u m N a c h l a ß v o n G e bühren, w e l c h e G e s e l l e n i m R a h m e n ihrer A u s b i l d u n g z u entrichten hatten, u n d u m d i e Erteilung einer K o n z e s s i o n zur B e t r e i b u n g e i n e s G e w e r b e s 2 5 ) . In d e n B e r e i c h G e m e i n d e ö k o n o m i e fielen vorab G e s u c h e v o n G e m e i n d e n , w e l c h e Änderungen im G e m e i n d e v e r m ö g e n oder bewilligungspflichtige A u s n a h m e n für d i e B e w i r t s c h a f t u n g ihrer A l l m e n d e und W a l d u n g e n bezweckten.
-
I m dritten T h e m e n b e r e i c h w u r d e n S u p p l i k e n z u s a m m e n g e f a ß t , in d e n e n Untertanen die Unterstützung der Obrigkeit bei der D u r c h s e t z u n g ihrer A n sprüche g e g e n ü b e r Dritten erbaten 2 6 ); hier m a c h t e n Untertanen S c h a d e n s ersatzforderungen g e g e n ü b e r Parteien und o b r i g k e i t l i c h e n S t e l l e n 2 7 ) o d e r d i e n o c h a u s s t e h e n d e B e z a h l u n g erbrachter D i e n s t l e i s t u n g e n
geltend28);
hierher g e h ö r e n a u c h die Bitten u m d i e A u s f o l g u n g v o n V e r m ö g e n s b e s t ä n d e n ausgewanderter, v e r s c h o l l e n e r oder verstorbener A n g e h ö r i g e r 2 9 ) o d e r
kundigen und auch danach, ob der junge Mann die Größe zum Soldaten habe (A. Ludwig, Die Diözese Hochberg zur Zeit Karl Friedrichs. Heidelberg 1911, 123). 24 ) Der Hofrat entschied im Rahmen seiner Zuständigkeit für das „Policeywesen" nach Anhörung der Gemeinde, in der sich jemand niederlassen wollte, über die Annahme von Bürgern, Hintersassen und „Schutzverwandten"; Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 243. 25 ) Gemäß Windelband waren Hofrat und Rentkammer ursprünglich gemeinsam für die Erteilung von Wirtschafts- und Krämereikonzessionen in der Weise zuständig gewesen, daß der Hofrat die Grundsatzentscheidung fällte und sich die Rentkammer der finanziellen Aspekte annahm; später sei gegen den Widerspruch des Hofrats der Rentkammer die alleinige Zuständigkeit für die Erteilung von Wirtschaftsgerechtigkeiten zugewiesen worden (ebd., 269). Die Behandlung von Bittgesuchen um Erteilung einer Wirtschaftsgerechtigkeit aus dem Verzeichnis von 1798 zeigt allerdings, daß sich diese Kompetenzaufteilung offenbar nicht immer hat durchsetzen können (74/915, NN 243, 404). 26 ) Etwa die Bitte um eine Verfügung der Obrigkeit an die Ortsvorgesetzten einer Gemeinde, sie sollten einem Einwohner das Bauholz aus dem Gemeindewald nicht verweigern (74/915, N 480), oder um obrigkeitlichen Schutz eines Einwohners in dessen Anteil am Bürgemutzen (74/915, N 395). 27 ) Schadenersatz für einen Ehemann wegen der unbeabsichtigten tödlichen Verwundung seiner Frau durch den Förster (74/915, N 175); Schadenersatz für Vieh, das aus seuchenpolizeilichen Gründen getötet werden mußte (74/915, N 330) bzw. bei Militärfronen mit der Viehseuche angesteckt worden war (74/915, N 210); Satisfaktion wegen unrechtmäßiger Anschuldigung und Strafe (74/915, N 134). 28 ) So bat der Landchirurg Rieger, die Obrigkeit möge ihm zu seinen Forderungen für geleistete chirurgische Dienste verhelfen (74/915, N 131). 29 ) Der Genehmigung des Hofrats bedurften auch andere vermögensrechtliche Geschäfte der Untertanen, wie z.B. Schenkungen und Bürgschaften in gewisser Höhe sowie die Aufnahme von Hypotheken, was damit erklärt wird, daß „der Polizeistaat" die Untertanen vor Vermögensverlusten bewahren wollte; Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 243.
334
André
Holenstein
um Wiederaufnahme, Beschleunigung oder Wiederholung eines Zivilverfahrens. - Unter den Bitten im Zusammenhang mit laufenden oder abgeschlossenen Strafverfahren ragen die Gesuche um Nachlaß bereits verhängter Strafen heraus 30 ); sie bilden die umfangreichste der 37 Rubriken, in die sich die Anliegen des Verzeichnisses einteilen lassen. 24 Suppliken 31 ) erbaten die Milderung oder Verwandlung von Strafurteilen, welche in Strafverfahren über recht verschiedenartige Delikte ergangen waren: sechs Supplizierende hatten Sexual- und Sittlichkeitsvergehen begangen, fünf hatten Luxus- und Moralvorschriften für das Gastgewerbe (Mißachtung von Weinausschankund Tanzverboten 32 ) übertreten, in drei Fällen hatten sich die Supplizierenden der Wilderei, des Forstfrevels bzw. der Mißachtung des Waldweideverbots schuldig gemacht; tumultuarisches Benehmen bzw. Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit durch Ortsvorgesetzte lagen zwei weiteren Gesuchen zugrunde; eine Injuriensache, die Mißachtung eines Heiratsverbots durch einen Juden, die Mißachtung eines Vorleseverbots durch einen Schulmeister, ein Pferdediebstahl, der Verstoß eines Metzgers gegen die Fleischordnung sowie ein Fall von Betrug waren nebst zwei weiteren, nicht näher bezeichneten Delikten der Grund für die übrigen Strafurteile gewesen, für welche die Bittsteller nunmehr auf das gnädige Einsehen des Landesherrn hofften 33 ). Die meisten hofften auf den Nachlaß einer Geldstrafe, die Sträflinge im Zuchthaus auf eine vorzeitige Entlassung 34 ) oder um den Erlaß des 30 ) Der Hofrat führte als einziges Kriminalgericht des Territoriums alle Kriminalprozesse von Eröffnung der Untersuchung bis zum Urteilsantrag, der vom Geheimrat und dem Markgrafen bestätigt werden mußte; Lenel, Rechtsverwaltung (wie Anm. 11), 11; Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 241. - Windelbands Feststellung, der Hofrat habe im Falle von Strafnachlässen ohne weitere Anfrage beim Fürsten entscheiden können (ebd., 241), wird durch mehrere Beispiele aus dem Bittschriftenverzeichnis von 1798 widerlegt (74/915, NN 2, 194, 244, 253 u.a.). 31 ) 74/915, NN 2, 80, 81, 120, 194, 244, 268, 295, 336, 349, 383, 401, 404>/ 2 , 412, 420, 4 2 1 , 4 2 4 , 4 3 2 , 435, 436, 442, 471, 510, 517. 32 ) Generalreksript 1752.05.25: Getanzt werden durfte, wenn beim Oberamt gegen Erlegung von 1 fl. ein Tanzzettel eingeholt wurde; Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1, Bd. 1, Ziff. 25 a; weitere Tanzerlasse ebd., Ziff. 25 b-e. 33 ) Ursprünglich war der Hofrat im 18. Jahrhundert einziges Kriminalgericht für das Territorium, die Oberämter besaßen keine Gerichtsbarkeit in Kriminalsachen. 1773 wurde den Ämtern die Bestrafung der einfachen „Hurerei", 1791 zusätzlich die Bestrafung der zweiten „Unzucht", des ersten Ehebruchs, der kleineren Diebstähle sowie der Verbalinjurien sowie der Realinjurien ohne Verletzungsfolgen übertragen. Die von den Ämtern verhängten Strafen konnte der Hofrat gnadenweise mildern; Lenel, Rechtsverwaltung (wie Anm. 11), 212-219. 34 ) Zum größeren Zusammenhang der Zuchthausstrafen sowie für weitere Beispiele von Entlassungsgesuchen aus dem Zuchthaus vgl. Bernhard Stier, Fürsorge und Disziplinierung im Zeitalter des Absolutismus. Das Pforzheimer Zucht- und Waisenhaus und die badische Sozialpolitik im 18. Jahrhundert. Sigmaringen 1988, 69-158 bzw.70f., 129-135. Stier zeigt für die 1790er Jahre, daß die Aussicht auf vorzeitige Entlassung recht günstig war (ebd., 129), und macht auf die Motive des Hofrats und der Zuchthausverwaltung für
Bittgesuche, Gesetze und s o g e n a n n t e n Willkomms
und Abschieds^5)',
Verwaltung
335
w e r s c h l i e ß l i c h zu ö f f e n t l i c h e r
Arbeitsstrafe verurteilt w o r d e n war, erstrebte mit s e i n e m G e s u c h deren U m w a n d l u n g in e i n e G e l d s t r a f e 3 6 ) . Betrachtet m a n d i e 13 G e s u c h e näher, für w e l c h e sich e i n e R e s o l u t i o n der Obrigkeit hat eruieren lassen, s o z e i g t sich, daß die H o f f n u n g e n der Supplikanten durchaus begründet waren: nur in drei Fällen w u r d e das G e s u c h r u n d w e g a b g e l e h n t 3 7 ) ; drei Sträflinge h i n g e g e n k a m e n in d e n G e n u ß einer B e f r e i u n g v o n der Prügelstrafe d e s Willk o m m s und A b s c h i e d s und/oder einer v o r z e i t i g e n E n t l a s s u n g aus d e m Z u c h t h a u s , w o b e i i m e i n e n Fall d i e Zuchthausstrafe gar u m ein Jahr halbiert w u r d e 3 8 ) ; den drei zu ö f f e n t l i c h e n Arbeitsstrafen verurteilten D e l i n q u e n t e n w u r d e die Arbeitsstrafe verkürzt b z w . in e i n e Turmstrafe und/oder G e l d b u ß e u m g e w a n d e l t 3 9 ) ; in s e c h s Fällen w u r d e n G e l d s t r a f e n reduziert, teilw e i s e u m die H ä l f t e , in andern Fällen u m ein Drittel unter der B e d i n g u n g , daß die G e b ü ß t e n als G e g e n l e i s t u n g die v e r b l e i b e n d e Strafe sofort in bar bezahlten40). -
E i n e n b e s o n d e r e n T h e m e n b e r e i c h m a c h e n d i e G e s u c h e g e g e n w ä r t i g e r und allenfalls künftiger Amtsträger aus, d i e e n t w e d e r e i n e A u f b e s s e r u n g ihrer E n t l o h n u n g , d i e Übertragung e i n e s A m t e s 4 1 ) o d e r die E n t l a s s u n g aus e i n e m
vorzeitige Entlassungen aufmerksam (Neigung zu milden Entscheidungen, Überfüllung der Anstalt, Kostenersparnis) (ebd., 130-35). 35 ) Beim sog. Willkomm und Abschied handelte es sich um eine vor den versammelten Anstaltsinsassen verabreichte Prügelstrafe für Sträflinge bei deren Eintritt in bzw. Entlassung aus dem Zuchthaus; Willkomm und Abschied bedeuteten eine zusätzliche Bestrafung des Insassen, sie diente der Abschreckung des Publikums und versinnbildlichte die obrigkeitliche Gewalt über die Züchtlinge; bei Vaganten war sie seit 1767 durch die öffentliche Brandmarkung ersetzt (ebd., 99-103). - Die Härte der Maßnahme, die Stier als „eine nicht nur schmerzhafte und einprägsame, sondern auch überaus schmachvolle Form der Züchtigung" bezeichnet (ebd., 100), spiegelt sich im Gesuch des Michael Adler aus Bahlingen wider, der als „gebrochener Mann" und unter Hinweis auf seinen Leibschaden um den Erlaß der Prügel bat; nach Einholung eines Berichts beim Physikat und der Waisenhausverwaltung Pforzheim erließ der Hofrat Adler auf dessen Wohlverhalten hin die Züchtigung (74/915, N 517; 61/3314 HRN 10646; 61/3315 HRN 11520). 36 ) Beide Supplikanten um Nachlaß bzw. Umwandlung einer öffentlichen Arbeitsstrafe waren Handwerker; ihr Gesuch könnte damit zusammenhängen, daß die Verurteilung zu öffentlicher Arbeitsstrafe für sie mit Unehre und „gewerberechtlichen Nachteilen" verbunden war; Lenel, Rechtsverwaltung (wie Anm. 11), 200. -17) 74/915, NN 424, 436, 510; 61/3314 HRN 11125; 61/3315 HRN 11716; 61/3314 HRN 10856 und 61/3315 HRN 11838. 38 ) 74/915, N 244; 61/3314 HRN 11114. 39 ) 74/915, NN 2, 404>/ 2 ; 61/1919 RN 59; 61/1919 RN 800. 40 ) 74/915, NN 295, 336, 383, 420, 435; 61/3314 HRN 10493; 61/3314 HRN 11147; 61/3316 HRN 13334; 61/3316 HRN 12627; 61/3316 HRN 12554. 41 ) Die Einreichung eines Bittgesuches war übliche Voraussetzung, um als landesherrlicher Bediensteter angenommen zu werden; Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 28. Zahlreiche Bittschriften um Übertragung eines Amtes finden sich in 74/1781-1785. - 1763 verbat sich der Markgraf in einem Edikt, „bei in Aussicht stehenden Beförderungen mit Bittschriften behelligt zu werden"; Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 30 - offenbar mit wenig Erfolg.
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Holenstein
Tabelle 1: Bittgesuche nach Supplikenart, Geschlechtszugehörigkeit der Supplizierenden und Anliegen (zusammengestellt nach den Angaben des Supplikenverzeichnisses GLAK 74/915) EinzelEinzel- GruppenGeSuppliken Suppliken Suppliken Suppliken meindeTotal von von Suppliken Männern Frauen (148) (105) (20) (17) (6) Anliegen in VII Themenbereichen /. Bürgerrecht, Niederlassung, Heiraten (38 Anliegen)
Juden,
1. Bürgerannahme
9
5
0
0
14
2. Judenschutz
8
0
0
0
8
3. Heiratserlaubnis
3
0
2
0
5
4. Hintersassenannahme
4
0
1
0
5
5. Dispensation vom Heiratsalter
1
0
1
0
2
6. Niederlassung in Baden
2
0
0
0
2
7. Abzug
1
0
0
0
1
8. Schutzbürgerannahme
0
0
1
0
1
1. Gesellengebühren
7
2
0
0
9
2. Gewerbekonzession
5
1
3
0
9
II. Wirtschaft, Handwerk, Gesellen, Zunftsachen (33 Anliegen)
3. Gemeindeökonomie
1
0
0
5
6
4. Bildungskosten
3
0
0
0
3
5. Dispensation von Wanderjahren
1
1
0
0
2
6. Handelskonzession
2
0
0
0
2
7. Meisterstück
1
0
0
0
1
8. Zunftsache
1
0
0
0
1
1. Amtshilfe gegen Dritte
8
0
2
0
10
2. Zivilrechtliche Forderungen
7
1
0
0
8
3. Vermögensausfolgung
5
2
0
0
7
4. Zivilrechtsverfahren
4
0
3
0
7
III. Amtshilfe, Zivilrecht (32 Anliegen)
Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung
337
EinzelEinzel- GruppenGeSuppliken Suppliken Suppliken Suppliken meindeTotal von von Suppliken Männern Frauen (105) (20) (17) (6) (148) IV. Strafsachen (28 Anliegen)
und-verfahren 16
3
2
1
22
2. Strafverwandlung
2
0
0
0
2
3. Abbitte
1
0
0
0
1
4. Aufhebung der Vermögenskonfiskation
1
0
0
0
1
5. Kriminalverfahren
0
0
1
0
1
6. Suspension der Zuchthausstrafe
1
0
0
0
1
1. Strafnachlaß/Gnade
V. Dienersachen, Amter, Militär (24 Anliegen) 1. Besoldung
5
0
1
1
7
2. Fronfreiheit
6
0
0
0
6
3. Amtsübertragung
3
0
0
0
3
4. Amtsentlassung
2
0
0
0
2
5. Entlassung aus der Militärpflicht 42 )
1
1
0
2
6. Wachtfreiheit
2
0
0
0
2
7. Rückzahlung des Landschreibereikapitals
0
1
0
0
1
8. Schaffung eines Amtes
0
0
0
1
1
VI. Unterstützung, (15 Anliegen)
0
Belohnung
1. Unterstützung
7
3
2
1
13
2. Belohnung
1
1
0
0
2
VII. Unklar (1 Anliegen)
0
1
0
0
1
121
22
19
9
171
Anliegen Total 42
) Söhne von Beamten waren vom Militärdienst befreit; Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 70. - In diesen beiden Fällen handelte es sich einmal um die Bitte des AltStabhalters Sauger aus Kandern um Befreiung seiner Söhne von der Rekrutierung, die der Fürst ablehnte (74/915, N 369; 61/1919 RN 923), das andere Mal um die Bitte der Anna Maria Spotin aus Hügelheim um Nachlaß ihrer Unzuchtsbuße, um Bürgerannahme ihres Schwängerers, des Soldaten Blank aus Zunzingen, sowie um dessen Entlassung aus dem Militärdienst im Hinblick auf ihre Heirat (74/915, N 268). Ein Entscheid konnte bis Ende 1798 nicht eruiert werden.
338
André
Holenstein
Amt begehrten; häufiger sind auch Bitten ehemaliger Ortsvorgesetzter und anderer Bediensteter um die Gewährung gewisser Dienstbefreiungen 43 ), welche den Charakter einer nachträglichen Zusatzentschädigung für ihre frühere, häufig nur schlecht bezahlte Amtstätigkeit besaßen. - In welchen Fällen schlössen sich Personen zusammen, um gemeinsam eine Bittschrift einzureichen? Die Gruppensuppliken sind Ausdruck einer sehr vielfältigen kollektiven Interessenvertretung bzw. -Wahrnehmung: zwei Brüder suchten gemeinsam um die Annahme als Hintersassen nach 44 ); zwei Väter erbaten die Erteilung der Heiratserlaubnis für ihre Kinder 45 ); eine Witwe suchte gemeinsam mit ihrem Verlobten um den Altersdispens für diesen nach 46 ); in zwei Fällen forderten ein Ehepaar bzw. Geschwister die Revision eines Inventur- und Gantgeschäfts 47 ), ein anderes Ehepaar bat um die Entlassung ihres Sohnes aus dem Zuchthaus 48 ); die sechs Hatschiere des Oberamts Rötteln beantragten gemeinsam eine Erhöhung ihrer Besoldung 49 ), während die Metzgermeister der Vogtei Badenweiler gegen ein Gesuch des Gärtners und Kronenwirts Eglin opponierten, der als Metzger in die Zunft aufgenommen werden wollte 50 ). Drei Auggener Frauen baten um Gnade für ihre Väter bzw. Ehemänner, die wegen Unbotmäßigkeit im Amt verhaftet und ins Pforzheimer Zuchthaus eingeliefert worden waren 51 ); die Bergleute aus Badenweiler hingegen baten um die Erlaubnis, im Röttelischen und sonstwo ungehindert musizieren zu dürfen 52 ). Schließlich erhofften sich die Kinder eines gewissen Lorenz Erb aus Friesenheim eine Intervention des Landesherrn beim Prälaten zu Schuttern mit dem Ziel, daß ihnen die Anwartschaft auf das Erbe eines Klosterlehens, das ihr Vater bewirtschaftet hatte, eingeräumt werde, obwohl diese bereits anderweitig vergeben worden war und ihr Vater als liederlicher Haushälter notorisch bekannt war 53 ).
43
) „Öffentliche Diener" waren von Frondiensten befreit (ebd., 70). - Die Behandlung der hier vorliegenden Gesuche durch die Oberämter, den Hofrat und Landesherm zeigt allerdings, daß Ortsvorgesetzte um diese Befreiung bitten mußten und dieser Bitte nicht unbedingt entsprochen wurde (vgl. die entsprechenden Entscheidungen des Hofrats auf die Gesuche 74/915, N N 130, 4 0 4 und 85 (61/3314 HRN 11003; 61/3313 HRN 9877; 61/3315 H R N 11684)). 44 ) 74/915, N 140. 45 ) 74/915, N 166. 46 ) 74/915, N 172. 47 ) 74/915, N N 2 5 , 2 3 1 . 48 ) 74/915, N 510. 49 ) 74/915, N 322. 50 ) 74/915, N 227. 51 ) 74/915, N 401. 52 ) 74/915, N 478. 53) 74/915, N 519.
Bittgesuche,
Gesetze
und
Verwaltung
339
- In den sechs Suppliken, welche Ortsvorgesetzte im Namen ihrer Gemeinde vorbrachten, ging es um Fragen der Nutzung und Verwendung des Gemeindevermögens (Waldweide, Teilung von Wald, Verkauf von Gemeindegütern) 54 ); sie suchten um die Unterstützung einer armen Frau 55 ) bzw. um ein jährliches Gnadengehalt für einen Mann nach 56 ), erbaten die Bewilligung, einen Hirten anstellen zu dürfen, oder sie verwendeten sich für den Nachlaß einer mehreren Bürgern angesetzten Forststrafe 57 ). Das Sozialprofil der Supplizierenden erhält noch schärfere Konturen, wenn die Angaben aus Tabelle 1 einer genaueren Betrachtung im Hinblick auf die Geschlechterzugehörigkeit der Einzelsupplikanten, auf die Frage nach dem Anteil der zu Gunsten von Drittpersonen eingebrachten Suppliken (Fürbitten) (Tab. 2.1, 2.2) sowie im Hinblick auf den Beruf, die Tätigkeit oder den Status der Bittsteller (Tab. 3) unterzogen werden. Die Suppliken der 20 im Verzeichnis figurierenden, als Einzelpersonen agierenden Frauen konzentrierten sich auf bestimmte Themenbereiche. Bitten um Bürgerannahme, um Unterstützung sowie um Strafnachlaß bzw. Gnade bildeten zusammen bereits die Hälfte der von Frauen eingebrachten Suppliken, während sich deren übrige Gesuche nur noch auf wenige andere Themenbereiche verteilten (Gesuche um Nachlaß von Gesellengebühren, Erteilung einer Gewerbekonzession, Dispensation von Wanderjahren, Ausfolgung von Vermögen u.a.). Anders: es gab eine Vielzahl von Anliegen, um welche Frauen im Gegensatz zu Männern überhaupt nicht oder kaum suppplizierten. Weitere spezifische Merkmale von Frauensuppliken werden sichtbar, wenn danach gefragt wird, in welchen Anliegen und wie häufig Männer und Frauen nicht primär für sich selber, sondern im Namen oder zum Nutzen anderer, verwandter oder ihnen nahestehender Personen an die Herrschaft gelangten, mit andern Worten: in welchen Lebenslagen sie jeweils für andere Fürbitten einlegten und interzedierten. Immerhin handelte es sich etwa bei jeder fünften Bitte um eine solche Fürbitte bzw. Interzession (35 von 171), die nicht oder nur mittelbar im eigenen Interesse, sondern vorab zu Gunsten einer Person, die selber nicht in der Lage oder willens war, den Landesherrn um dessen Gunst- und Gnadenerweis anzugehen, vorgetragen wurde (Tab. 2.1 und 2.2). Auch die Nutzung verwandtschaftlicher oder enger persönlicher Beziehungen zum Zweck der Fürbitte bei der Landesherrschaft zeigte geschlechterspezifische Merkmale. In elf von insgesamt 24 Fällen, in denen sich Frauen alleine oder gruppenweise ohne Mitwirkung von Männern bittend an den Landesherrn wandten, taten sie dies zum Nutzen eines ihnen nahestehenden 54
) 74/915, NN 301, 327, 334, 471. ) 74/915, N 381. ) 74/915, N 464 >/2. 57 ) 74/915, N 471. 55 56
340
André
Holenstein
Mannes - ihres Ehemannes, ihres Sohnes, ihres Verlobten oder jenes Mannes, der sie geschwängert hatte. Damit liegt der relative Anteil der Frauensuppliken an solchen Interzessionen wesentlich höher als bei den Männersuppliken. Tabelle 2.1 : Träger und Nutznießer von Fürbitten 1. Vater
2. 3. 4. 5. Vater Mutter Eltern Frauen o. Töchter für für für für für Sohn o. Toch- Sohn o. Kinder Männer o. Söhne ter o. Söhne Väter Töchter 8
4
4
2
1
6. 7. 8. 9. 10. 11. Ehe- Ehe- Mann Frau Mann Gemann frau meinde für für für für für für Ehe- Ehe- Ver- Verlob- Bruder einfrau mann lobte ten 0. zelne 0. Schwänmehrere gerer Bürger 3
1
3
5
1
3
Von der Erhörung solcher Bitten durch die Herrschaft war aber vielfach nicht nur die weitere existentielle Perspektive dieser Männer, sondern ebenso sehr jene der mit ihnen verbundenen oder auf sie angewiesenen Frauen abhängig. Wenn Frauen um einen Gunsterweis des Landesherrn für eine andere Person einkamen, so taten sie dies häufig aus einer ähnlichen Lebens(not)lage heraus: jene fünf Frauen, die um die Verleihung des Bürgerrechts baten, taten dies entweder für ihren Ehemann (1 Fall) oder für ihren Verlobten (4 Fälle), letztere wahrscheinlich im Hinblick auf die bevorstehende Geburt eines Kindes 58 ) und/oder die Gründungeines eigenen Haushalts - ein Beweggrund, der auch einzelnen Suppliken von Vätern für ihre Tochter bzw. von Männern für ihre Verlobten zugrundelag59). Bei den Frauen, die um den Erlaß von Gesellengebühren (2 Fälle) oder um die Dispensation von Wanderjahren (1 Fall) baten, agierten jeweils verwitwete Mütter für ihre Söhne. Es ist zu vermuten, daß Frauen vielfach in Situationen als Supplikantinnen aktiv wurden, in denen Väter, Ehemänner oder Verlobte nicht oder nicht mehr für sie handeln konnten oder wollten. 58
) So explizit im Fall der Anna Maria Spotin aus Hügelheim, vgl. Anm. 53. ) Der Witwer Martin Maurer aus Holzen bat um Bürgerannahme für seine Verlobte Anna Wagnerin aus Malsburg, welche ein Vermögen von 300 lb. besaß und ein uneheliches Kind hatte (74/915, N 113). Ungeachtet des Widerspruchs der Gemeinde Holzen verfügte der Hofrat die Erteilung des Bürgerrechts (61/3314 HRN 10738). - Beat Schneider aus Tannenkirch ersuchte um die Annahme seiner Verlobten Maria Weberin aus Neuenweg als Bürgerin in Tannenkirch; er hatte mit ihr ein Kind gezeugt (74/915, NN 135, 311). Der Fürst entschied in diesem Fall noch in Badenweiler, daß die Verlobte des Supplikanten in Tannenkirch als Bürgerin angenommen werden sollte, wenn sie das von ihr angegebene Vermögen bescheinigte und die Ortsvorgesetzten von Tannenkirch nicht dartun konnten, daß sich das Paar auch anderwärts bürgerlich niederlassen konnte. - Emanuel Gräßlin aus Auggen bat um die Bürgerannahme von Anton Chaudonet aus der Franche-Comté, der seine Tochter geschwängert hatte (74/915, N 138). Das Gesuch wurde abgelehnt (61/3313 HRN 9982). 59
341
Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung
Tabelle 2.2: Anliegen der Fürbitten (Die Ziffern in der ersten Spalte verweisen auf die Spaltennumerierung in Tab. 2.1) Juden- Hei- Vermö- Bür- Gnade Bezah- Geschutz rats- gens- geru. lungd. seilenerlaub- ausfol- annah- Straf- Lehr- genis gung me nach- gelds bühren laß 1.
2
2.
2
2
1 1
1
1
4. 5.
1
6.
1
1
8 4
1 1
3.
Entlas- Fron- Dispen- Unter- Total sung frei- sation stütausd. heit v. Wan- zung o. der- BesolMilitär jahren dung
4
1
2
1
2
1
1 1
1
3
7.
1
1
8.
3
3
4
9. 10.
5 1
11. Total
1
1 1 5
3
1
9
6
1
3
2
1
1
2
3
3
35
D a s Supplizieren der Männer verweist in vielen Fällen auf deren Beruf, eine spezielle Tätigkeit oder deren Rechtsstatus zurück (Tab. 3 ) 6 0 ) . Es erstaunt kaum, daß Handwerker besonders häufig um die Erteilung einer K o n z e s s i o n zur Betreibung e i n e s G e w e r b e s (3 G e s u c h e ) , u m den N a c h l a ß v o n G e s e l l e n gebühren (6 G e s u c h e ) oder u m die A n n a h m e als Hintersassen (3 G e s u c h e ) einkamen, e b e n s o w e n i g , daß auch Wirte in drei Fällen um e i n e G e w e r b e k o n z e s s i o n baten. Nur Juden baten u m die Verleihung des ihre Sonderstellung signalisierenden landesherrlichen Schutzes (8 G e s u c h e ) , aus ihrer Mitte stammten auch die meisten Bitten u m Erteilung einer Heiratserlaubnis i m Hinblick auf die Haushaltsgründung eines S o h n e s oder einer Tochter im Territorium (3 G e s u c h e ) ; daneben figurierte diese B e v ö l k e r u n g s g r u p p e nur n o c h
Nur in seltenen Fällen geben die Suppliken einen Hinweis auf eine Erwerbstätigkeit von Frauen: in einem Fall supplizierte die Witwe eines Wirts mit ihrem 22jährigen Verlobten um die Dispensation vom vorgeschriebenen Heiratsalter für den Mann, das Gesuch wurde aber abgelehnt (74/915, N 172; 61/3315 HRN 12379). Anna Maria Brändlin, die sich als Krämerin bezeichnete, bat um die Annahme ihres Verlobten als Bürger nach Sulzburg; eine definitive Entscheidung erging bis Ende 1798 nicht (74/915, N 224). Eine Witwe bat für ihre beiden Söhne um den Nachlaß der sogenannten Aufding- und Ledigsprechgebühren, sie war mit einem Sattler verheiratet gewesen; auch hier ist nichts über eine Entscheidung bekannt (74/915, N 254). Die ledige Barbara Bürgin aus Haltingen schließlich supplizierte um die Erlaubnis, das von ihrem Vater erlernte Schuhmacherhandwerk forttreiben zu dürfen; bis Ende 1798 erging hierin keine Resolution (74/915, N 320).
342
André
Holenstein
Tabelle 3: Zusammenstellung der 12 häufigsten Anliegen in den Bittschriften nach Berufsund Tätigkeits- bzw. Statusgruppen 61 ) (Die Tabelle berücksichtigt nur Anliegen, welche von einer oder mehreren dieser Gruppen mindestens dreimal vorgetragen wurden. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, daß für 76 Supplikanten, die insgesamt 88 Anliegen vortrugen, die Angaben vorliegen: 24 Handwerker kamen mit 27 Anliegen ein, 19 Amtleute mit 24 Anliegen, 12 Juden mit 12 Anliegen, 9 Wirte mit 10 Anliegen, 6 Angehörige medizinischer Berufe mit 8 Anliegen und 6 andere mit 7 Anliegen) HandAmt- Juden werker leute 62 ) 1. Gewerbekonzession
3
3
2. Judenschutz 3. Strafnachlaß
1
1
1
1
2
2
6. Gesellengebühren
6
7. Fronfreiheit
8 1
1
1
6 2
5
1
1
9. Heiratserlaubnis
1
10. Amtsübertragung
3 1
12. Hintersassenannahme
3 17
6 6
5
11. Bildungskosten
9 8
5
5
5. Bürgerannahme
Total Anliegen
Medizin. AnTotal Berufe 6 4 ) dere 65 )
8
4. Besoldung
8. Amtshilfe gegen Dritte
Wirte 63 )
2
4
3
4 3 1
1
3 3
15
12
10
6
5
65
61 ) 76 Suppliken enthalten 84 Angaben zum Beruf, zur Tätigkeit bzw. zum Status der Supplikanten, die in die sechs Kategorien Handwerker, Amtleute, Juden, Wirte, Angehörige medizinischer Berufe und Andere eingeteilt wurden. Die Differenz rührt daher, daß für acht Suppliken jeweils zwei Angaben zur Tätigkeit bzw. zum Status der Person gemacht werden; um diese Suppliken nicht doppelt zu zählen, wurden sie der sachlich enger mit dem vorgebrachten Anliegen verbundenen Tätigkeit zugeordnet. Alle Angaben stammen aus dem Verzeichnis (74/915) bzw. sind aus parallelen Überlieferungen ergänzt. - Ich bin mir bewußt, daß diese Einteilung ungleichartige Kategorien bildet; sie spiegelt die zeitgenössische Wahrnehmung wider und fixiert wahrscheinlich primär die Tätigkeit bzw. den Status, aufgrund deren jeweils suppliziert wurde. Mancher Handwerker, Amtmann und Wirt wird einem agrarischen Neben- oder Haupterwerb nachgegangen sein, über den aber in keiner Supplik etwas verlautet. Für Baden ist daran zu erinnern, daß das Territorium aufgrund der herrschenden Agrarverfassung und der starken Verbreitung des Landhandwerks einen hohen Anteil von Mischeinkommensbezügern besaß; vgl. Strobel, Agrarverfassung (wie Anm. 2); Straub, Oberland (wie Anm. 23); Eckart Schremmer, Zu wenig städtisches und zu viel ländliches Gewerbe in Baden um 1790? in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hrsg.), Historia socialis et oeconomica. Festschrift Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1987, 316-329. 6i
) Vögte, Stabhalter, Schultheißen, Judenvorsteher (hier gezählt, sofern das Bittgesuch mit ihrem Status als jüdische Amtleute in Verbindung steht), Oberamtswachtmeister, Hat-
Bittgesuche,
Gesetze und
Verwaltung
343
mit dem Gesuch eines Mannes um Nachlaß einer Geldstrafe von 156 fl., die ihm von der Judenschaft wegen auswärtiger Heirat angesetzt worden war, im untersuchten Supplikenverzeichnis 66 ); die Bitten von Juden waren in ihrer inhaltlichen Ausrichtung möglicherweise nichts anderes als der Ausdruck der prekären Lage einer religiösen Minderheit, deren Niederlassung und Existenz in der Markgrafschaft zahlreichen Einschränkungen unterworfen waren 67 ). Auch die Anliegen von Amtsleuten waren wesentlich durch situations- und rollenspezifische Erfordernisse dieser Tätigkeitsgruppe geprägt: Erhöhung der Besoldung (5 Gesuche), Befreiung von Frondienstpflichten (5 Gesuche) und die Übertragung eines Amtes (3 Gesuche) wurden am häufigsten von ihnen vorgebracht. Eine Besonderheit stellen die Suppliken der Wirte dar: als einzelne Berufsgruppe sind sie in der Gesamtheit des Supplikenbestandes deutlich überrepräsentiert 68 ), was vorwiegend darauf zurückzuführen ist, daß sie auffallend häufig um Strafnachlaß supplizierten: fünf der neun Gesuche aus dieser Gruppe betrafen die Minderung von Geldstrafen, die wegen Mißachtung von Weinschank- und Tanzverboten ausgesprochen worden waren; zwei Wirten wurde denn auch die Strafe jeweils um ein Drittel reduziert 69 ), einem weiteren gar um die Hälfte, wohl nicht zuletzt dank einer Entschuldigung, vor der sich der Landesherr schlecht verschließen konnte 70 ); in zwei Fällen ließ es der Hofrat nach Anhörung der Berichte aus den Oberämtern bei der ursprünglichen Buße bewenden 71 )- Auch wenn somit keineswegs jedes Strafnachlaßgesuch der Wirte genehmigt wurde, so verrät deren Supplizieren doch immerhin, daß für schiere, Teilungskommissar, Fronmeister, Posthalter, Gemeindeschaffner sowie der Gatte einer Hebamme. 63 ) Die Wirte sind in der Rubrik „Handwerker" nicht noch einmal mitgezählt. M ) Chirurgen, Apotheker. 65 ) Soldat, Viehhändler, Bergleute, Krämerin, Viehhirte. 66 ) 74/915, N 412; eine Endresolution erging bis Ende 1798 nicht. - Laut Lenel, Rechtsverwaltung (wie Anm. 11), 14, besaßen die Juden in geringen Zivil- und Strafsachen eine Sondergerichtsbarkeit. 67 ) Adolf Lewin, Geschichte der badischen Juden seit der Regierung Karl Friedrichs (1738-1909). Karlsruhe 1909; Reinhard Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, in: ZGO NF. 114(1966),241-300. 68 ) Die Wirte stellen neun von insgesamt 148 Gesuchsstellern bzw. neun von 76 Supplikanten, für welche Angaben zu Beruf, Tätigkeit oder Status überliefert sind. 69 ) Jacob Böhler aus Kirchhausen und Martin Heß aus Feuerbach wurde die Strafe unter der Bedingung reduziert, daß sie die verbleibenden zwei Drittel der Buße sofort bar entrichteten; im Fall Böhlers verringerte sich die Buße um 5fl. auf 10 fl. (74/915, NN 295, 435; 61/3314 HRN 10493 bzw. 61/3316 HRN 12554). 70 ) Der Haltinger Wirt Gütlin konnte sich damit entschuldigen, daß er aus Anlaß der Anwesenheit des Fürsten im Oberland im März 1798 in seiner Wirtschaft hatte tanzen lassen, als an andern Orten auch getanzt worden sei. Auch in seinem Fall war das Entgegenkommen des Landesherrn an die Bedingung geknüpft, daß er die verbleibende Strafe von 7'/ 2 fl. sofort bar erlegte (74/915, N 336; 61/3314 HRN 11147; 61/1919 RN 817). 71 ) 74/915, NN 424, 436; 61 /3314 HRN 11125; 61 /3315 HRN 11716.
344
André
Holenstein
sie das Einkommen um Bußenminderung wegen Verstößen gegen Gastwirtschaftsgesetze eine selbstverständliche Option darstellte. Wenn die Wirte aber die Wahrscheinlichkeit einer nachträglichen Strafmilderung abzuschätzen vermochten, so dürften ihr Habitus und ihre Handhabung der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften davon nicht unberührt geblieben sein. Die Anwesenheit des Landesherrn im badischen Oberland hat zwar zahlreiche Untertanen bewogen, sich nach Badenweiler aufzumachen, um ihre Anliegen dem Fürsten bei einer Audienz persönlich zu überreichen, doch wurden dabei all jene enttäuscht, die sich in der Hoffnung auf eine rasche und billige Entscheidung in ihrer Sache auf den Weg gemacht hatten. Nur in wenigen Fällen fällte der Fürst substantielle Entscheidungen an Ort und Stelle 72 ); in aller Regel war die erste Resolution des Fürsten zu einem Bittgesuch eine solche zum weiteren Gang des Verfahrens. Im Zuge der weiteren Behandlung einer Supplik wurde diese in den meisten Fällen dem zuständigen Oberamt in Lörrach (Rötteln), Müllheim (Badenweiler) oder Emmendingen (Hochberg) mit dem Auftrag zugestellt, weiteren Bericht über die Hintergründe und die Sachlage des Bittgesuchs einzureichen. Häufig hat dieser Informationsauftrag die Oberämter gezwungen, noch mit den Ortsvorgesetzten der Wohnorte der Supplizierenden Rücksprache zu nehmen. Die Oberamtsberichte waren in einigen Fällen direkt in Badenweiler beim Landesherrn einzureichen, meistens aber direkt an den Hofrat in Karlsruhe zu senden, der seinerseits den Gegenstand so weit prüfte und begutachtete, daß er dem Geheimrat und dem Fürsten einen Resolutionsantrag vorlegen konnte, dem die letzte Entscheidungsinstanz in aller Regel auch folgte. Sehr häufig verzögerte dieses Verfahren, welches mitunter durch die Einholung weiterer Informationen in den Oberämtern oder Gemeinden oder durch den Meinungsaustausch zwischen Hofrat und Rentkammer noch in die Länge gezogen wurde, die Entscheidung. Wie die Zusammenstellung in Tabelle 4 zeigt, harrten am Ende des Jahres 1798 noch deutlich mehr als die Hälfte aller Gesuche auf eine Entscheidung. Am raschesten konnten offensichtlich Supplikanten um Strafnachlaß, um Bürger- und Hintersassenannahme, um Verleihung
72
) Im Fall des wegen Betrugs zu einer öffentlichen Arbeitsstrafe verurteilten Lörracher Sattlermeisters Rösch befahl der Fürst unmittelbar nach Einreichung des Bittgesuchs dem Oberamt Rötteln, den Vollzug der Strafe einstweilen bis zur weiteren Resolution auf Röschs Gesuch um Umwandlung der Strafe in eine Geldbuße zu suspendieren (74/915, N 2). Unmittelbar aufschiebende Wirkung erhielt auch das Gesuch des wegen mehrerer Delikte zu einer Zuchthausstrafe verurteilten Michael Adler; die Strafe wurde jedoch schon bald nach Eintreffen des Berichts des Oberamts Hochberg an Adler vollzogen (74/915, N 43). Im Fall des um die Heiratserlaubnis für seinen Sohn bittenden Judenvorstehers Meier aus Müllheim hatte die wiederholte Einreichung der Bitte zumindest den Effekt, daß der Fürst dem Hofrat die beschleunigte Behandlung des früher bereits einmal eingereichten Gesuchs auftrug (74/915, N 400).
345
Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung Tabelle 4: Resolutionen auf die Bittgesuche nach Themenbereichen (GLAK 74/915) keine End- positiv negativ resolution bis Ende 1798 73 )
an das Oberamt 74 )
GeTotal setz 75 )
Gegenstand 1. Strafnachlaß/Gnade
9
9
4
0
0
22
2. Bürgerannahme
7
5
2
0
0
14
3. Unterstützung
7
5
1
0
0
13
4. Amtshilfe gegen Dritte
4
2
1
2
1
10
5. Gesellengebühren
7
2
0
0
0
9
6. Gewerbekonzession
5
1
2
0
1
9
7. Judenschutz
3
3
2
0
0
8
8. Zivilrechtl. Forderungen
5
2
0
1
0
8
9. Besoldung
6
0
1
0
0
7
7
0
0
0
0
7 6
10. Vermögensausfolgung 11. Fronfreiheit
3
0
3
0
0
12. Zivilrechtsverfahren
6
0
0
1
0
7
13. Gemeindeökonomie
6
0
0
0
0
6
14. Hintersassenannahme
2
0
3
0
0
5
15. Heiratserlaubnis
3
1
1
0
0
5
16. Bildungskosten
3
0
0
0
0
3
17. Amtsübertragung
2
0
1
0
0
3
18. Strafverwandlung
1
1
0
0
0
2
19. Handelskonzession
0
0
2
0
0
2
20. Niederlassung in Baden
2
0
0
0
0
2
21. Wachtfreiheit
1
0
1
0
0
2
22. Amtsentlassung
0
1
1
0
0
2
23. Belohnung
2
0
0
0
0
2
24. Entlassung aus der Militärpflicht
1
0
1
0
0
2
25. Dispensation von Wanderjahren
0
1
1
0
0
2
26. Dispensation vom Heiratsalter
0
1
1
0
0
2
27. Meisterstück
0
1
0
0
0
1
28. Aufhebung der Vermögenskonfiskation
1
0
0
0
0
1
29. Suspension der Zuchthausstrafe
0
1
0
0
0
1
30. Zunftsache
0
1
0
0
0
1
346
André Holenstein keine End- positiv negativ resolution bis Ende 179 8 7 3 )
an das Oberamt 74 )
Gesetz 75 )
Total
31. Abbitte
1
0
0
0
0
1
32. Abzug
0
0
1
0
0
1
33. Rückzahlung des Landschreibereikapitals
1
0
0
0
0
1
34. Schutzbürgerannahme
1
0
0
0
0
1
35. Schaffung eines Amtes
1
0
0
0
0
1
36. Kriminalverfahren
1
0
0
0
0
1
37. Unklar
1
0
0
0
0
1
99
37
29
4
2
171
Total
des Judenschutzes, um Amtshilfe gegen Dritte sowie um Unterstützung mit einem definitiven Bescheid rechnen, mit einem positiven zumal noch am ehesten Straftäter auf der Suche nach Milderung ihres Strafurteils, sodann Personen, die sich um die Verleihung eines Ortsbürgerrechts bewarben oder schlicht materielle Unterstützung der einen oder anderen Art erhofften.
3. Supplizieren und Gesetzgebung Supplizieren war - so viel ging aus der Untersuchung des Badenweiler Bittschriftenverzeichnisses von 1798/99 hervor - ein von Untertanen oft und aus unterschiedlichsten Beweggründen ergriffenes, zudem keineswegs von vornherein aussichtsloses Mittel, um in einem persönlichen oder kollektiven Anliegen vom Landesherrn angehört und auch erhört zu werden. Der Grundsatz des freien Zugangs der Untertanen zum Souverän ist als Ausdruck des paternalistischen Selbstverständnisses der Obrigkeit aus ganz verschiedenen Anlässen und in verschiedenen Zusammenhängen in der badischen Gesetz73
) Die Beschlußfassung von Geheim- und Hofrat wurde aus arbeitsökonomischen Gründen nur für den Zeitraum Juli bis Dezember 1798 systematisch über die Protokolle dieser Kollegien rekonstruiert. 74 ) Der Fürst oder der Hofrat entschieden in diesen Fällen, das Gesuch zur weiteren Erledigung an das Oberamt zu verweisen. 75 ) Die Resolution des Fürsten verfügte, daß der Fall gemäß den gesetzlichen Vorschriften behandelt und entschieden werden sollte. - Der Lörracher Nadler Wilhelm Jacob Grether hatte z.B. zweimal das Gesuch eingereicht, das von einem verstorbenen Handelsmann erkaufte Handelsrecht uneingeschränkt ausüben zu dürfen; auf den Bericht des Oberamts hin ließ der Fürst dem Hofrat die Resolution mitteilen, er sei nicht willens, in dieser Sache etwas Außerordentliches zu statuieren und überlasse es der Regierung, „deßfalls das Ordnungsmäsige zu beschließen" (74/915, NN 12, 53).
Bittgesuche,
Gesetze und
Verwaltung
347
gebung immer wieder erneuert worden. 1677 gewährte Markgraf Friedrich Magnus „allen und jeden, welche ihre angelegenheiten Unß immediate zu überreichen verlangen, und dadurch dieselbe zu befördern verhoffen, einen freyen Zugang"; täglich sollte zur Mittagszeit, „wann wir [der Markgraf, A. H.] zur tafel gehen", die Möglichkeit bestehen, „die Supplicationes in gebührender Unterthänigkeit Unß selbst [...] zu überreichen"; damit sollte der Hauptzweck „Unserer von Gott tragender Regierung" gewahrt werden, nämlich „daß [...] Unsere getrewe liebe Unterthanen und männiglich in gesambt und ein jeder in Sonderheit vor unbilligen Gewalt und Zunöthigung gesichert, bey seinem habenden Recht beschützet bleiben und also alle in guter Ruhe und vergnüglicher harmonie leben mögen" 76 ). Daß Supplizieren gängige Praxis der Untertanen war, spiegelt sich auch in einer Fülle von gesetzlichen Vorschriften und Maßnahmen wider, welche der Staat des Ancien Régime erließ, um diesen massenhaften Vorgang administrativ handhabbar zu erhalten. Dabei ging es vor allem um eine effiziente Gestaltung der administrativen Abläufe bei der Behandlung der Suppliken durch die verschiedenen Behördeninstanzen und um eine entsprechende Modellierung der Verhaltensmuster von supplizierenden Untertanen. Vom 16. bis 18. Jahrhundert wiederholten sich Reskripte 77 ), mit welchen die Landesherren und Regierungskollegien ihre Untertanen und Amtleute daran erinnerten, nur Bittschriften einzureichen, die mit hinreichenden Begleitberichten der zuständigen Oberämter versehen waren, aus denen zum einen alle sachdienlichen Umstände der Supplik, zum andern das eigene Gutdünken des Amtmanns darüber, wie er „die sache in eigener Untersuchung befunden habe", hervorgingen 78 ). Die Gewohnheit mancher Untertanen, sich ohne diese Berichte zum Landesherrn zu begeben, verursachte in den Augen 76
) 74/910. - Die Verordnungen gegen die Annahme von „Schmieralien, Praesenten und Verehrungen" durch fürstliche Bedienstete aus den Jahren 1710, 1714 und 1733 garantierten einen ungehinderten, „unerkaufften" Zugang zur Kanzlei, Kollegien und Ämtern, um „Memorialien/ Suppliquen und rechtliche Handlungen einzugeben"; 74/3778; Druck: Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 96 ff. - Ankündigungen von Landesvisitationen im Oberland 1713 und 1717, u.a. damit die Untertanen Bitten, Klagen und Anbringen zu den angegebenen Audienzterminen vorbringen konnten; 74/912 (1713); Patent von 1717 zit. nach Konstantin Schäfer, Landesvisitationen in der badischen Markgrafschaft, in: AlemJb 1960, 158-202, hier 167. - Eine spätere Verfügung legte für das Winterhalbjahr von Oktober 1736 bis April 1737 den Dienstagmorgen als Audienztermin fest; die Oberämter sollten den Untertanen mitteilen, daß mit Ausnahme der Armen alle ihre Anliegen schriftlich vorzubringen hatten (74/913). - Zu den öffentlichen Audienzen in Baden im 18. Jahrhundert knapp Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 154; Beinert, Geheimer Rat (wie Anm. 11 ), 14, 26, 100 f. - Für das späte 18. Jahrhundert sind Audienzen indirekt belegt (z.B. 74/915: 61/3315 HRN 11644). 77
) Landesordnung von 1622/54/1715, Teil 2, Tit. 6; 74/1576 (Ausschreiben v. 1559, 1602; Generalausschreiben v. 1667, 1694, 1696, 1698); 74/1577 (1699); 74/1509 (1705); 74/1568 (Verordnungen v. 1712, 1733; Generaldekret v. 1779); 74/1578 (Hofratsdekret v. 1735); 74/ 1583 (Reskript v. 1753; Hofratsdekret v. 1762). 78 ) 74/1568(1715).
348
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der Obrigkeit unnötige Reisekosten und verhinderte eine rasche Entscheidung, weil die Berichte nachträglich eingefordert werden mußten; Suppliken ohne Beiberichte konnten, zumindest theoretisch, zurückgegeben und als „gar nicht eingebracht geachtet werden" 79 ). Die Amtleute waren verpflichtet, ihre Berichte ohne Verrechnung einer Gebühr oder Annahme anderer Erkenntlichkeiten zu erstatten und sich dabei aller Parteilichkeit zu enthalten 80 ). Allerdings konnten jederzeit Bittschriften oder Beschwerden ohne Berichte von Amtleuten eingereicht werden, wenn sie sich gegen die Amtleute selber richteten 81 ). Die Vorschrift, zu jeder Supplik Bericht bei den zuständigen Instanzen in den Ämtern einzuholen, verzögerte häufig die Entscheidung. Die amtlichen Stellungnahmen gingen oft nur langsam, d. h. nach drei Monaten, einem halben Jahr, bisweilen sogar erst nach einem Jahr ein 82 ), während die einschlägigen Anordnungen eine Frist von wenigen Tagen bis höchstens zwei Wochen für eine sachdienliche Berichterstattung vorsahen 83 ). Mit der Vorschrift, daß Suppliken nur durch ordentliche Stadt-, Amts- oder Gerichtsschreiber bzw. die Advokaten am Hofgericht verfertigt werden durften, bezweckte die Regierung zum einen eine möglichst einheitliche und den bürokratischen Erfordernissen genügende Ausfertigung der Bittschriften 84 ), zum andern schützte sie damit materielle Interessen dieser Berufsgruppen, für welche die anfallenden Taxen Bestandteil der Besoldung waren. Bei einer Strafe von 1 fl. für den Schreiber und den Supplikanten war es untersagt, Bittschriften bei nichtautorisierten Stellen im Land oder gar außer Landes verfertigen zu lassen 85 ). 79
) 74/1576 (1696, 1698). ) 74/1576 (1559); Landesordnung 1622/54, Teil 2, Tit. 6. - Patente über die sog. „Schmieralien" und „Bibalien" von 1718 und 1732 (74/1572); vgl. dazu Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 66 ff. 81 ) 74/1576 (Ausschreiben v. 1559); Landesordnung 1622/54, Teil 2, Tit. 6; 74/1577 (1699); 74/1568 (1712; 1733; 1779); 74/1578 (1735). 82 ) Die Verschleppung der Berichterstattung um zwei, drei und mehr Monate zum Schaden der Supplikanten wurde z.B. 1715 in einem Ausschreiben an alle Ober- und Forstämterund Rechnungsbeamten gerügt (74/1570). 83 ) 74/1576 (Generalausschreiben v. 1608); Landesordnung 1622/54, Teil 2, Tit. 8. 1699 wurde die Frist differenziert: die Beamten der unteren Lande sollten 14 Tage, jene der weiter von der Residenz entfernten oberen Lande 4 Wochen für die Berichterstattung erhalten (74/1577). 84 ) Die Bemühungen um Vereinheitichung der Supplikenform spiegeln sich z.B. in einem Dekret des Hofrats von 1736 an alle Ämter wider, wonach künftig nach dem Vorbild von Kurpfalz und Württemberg auf allen Bittgesuchen („petita") eine Zusammenfassung des Anliegens zwischen die Anrede und den Text gesetzt werden sollte (74/1613). 85 ) 74/1576 (Ausschreiben v. 1602); Landesordnung 1622/54, Teil 2, Tit. 7 . - Die Kanzleiordnungen von 1672 und 1700 wiederholten die Bestimmung mit dem Zusatz, daß auch die Kanzleijuristen den Untertanen „mit Consuliren, advociren, mit Supplications Verfassungen, der Schrifften und Supplicationen revidirungen" nicht an die Hand gehen durften (74/1330). 1781 Erneuerung der Bestimmung, daß nur Hofgerichtsadvokaten oder Stadt80
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Wenn die Regierung die formalen und technischen Einzelheiten des Supplikenverfahrens im 17. und 18. Jahrhundert einer detaillierten bürokratischen Regelung unterzog, so spiegelt sich darin nichts weniger als die Tatsache wider, daß die Beratung und Entscheidungsfindung über Bittgesuche von Einzelpersonen und Gemeinschaften einen wesentlichen Bestandteil der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit der zentralen Kollegien darstellte 86 ). Zum Verständnis dieses Befunds ist es allerdings nötig, sich von der Vorstellung zu lösen, Supplizieren sei ein ganz und gar einseitiger Vorgang gewesen, nichts als „eine demüthige, flehentliche, und bewegliche Bitte" 87 ). Die Untersuchung des im Badenweiler Supplikenverzeichnis enthaltenen Querschnitts durch die Vielzahl von Anliegen, die am Ende des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand eines Bittgesuchs gemacht werden konnten oder mußten, hat ergeben, daß nur ein Teil der vorgebrachten Anliegen - etwa die Gesuche um Milderung eines Strafurteils oder jene um materielle Unterstützung - der allgemeinen Vorstellung von der Supplik als eines Vorgangs entspricht, bei dem sich der gnadengewährende oder -verweigernde Souverän und der diese Gnade suchende, notleidende, rechtlose bzw. sein Recht verwirkt habende Untertan gegenübertreten 88 ). Die Tatsache, daß innerhalb weniger Wochen aus dem badischen Oberland 14 Bittgesuche von Personen eingingen, die an einem Ort als Bürger aufgenommen zu werden wünschten, oder sich acht Juden mit der Bitte an den Landesherrn wandten, er möge ihnen oder nahen Angehörigen seinen Schutz verleihen, oder mehrmals um die Erteilung einer Gewerbe- oder Handelskonzession nachgesucht wurde, zeigt die Suppliken vielmehr als notwendigen, vorgeschriebenen Verfahrensschritt in unterschiedliund Amtsschreiber Bittschriften an die fürstlichen Kollegien verfertigen dürfen (74/1578). - Klagen der Karlsruher Advokaten sowie der Unterländer Stadt- und Amtsschreiber über entsprechenden Entzug ihrer „Nahrung" 1716 und 1741 (74/1580). Besonders für die sogenannten Advocati extraordinarii und die ,Juris Practici" waren solche Einnahmequellen wichtig, weil sie im Gegensatz zu den Advocati ordinarii kein festes Gehalt bezogen und allein von den Gebühren lebten; Roth, Rechtsverhältnisse (wie Anm. 22), 6 2 f . ; Lenel, Rechtsverwaltung (wie Anm. 11), 48 ff. 86
) Die Durchsicht mehrerer Bände der Hofratsprotokolle für das Jahr 1798 hinterläßt den noch genauer zu quantifizierenden Eindruck, daß dieses Kollegium einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit für die Behandlung eingehender Suppliken verwendete. - Vgl. für das Folgende auch die parallelen Beobachtungen zu Hessen-Kassel von Andreas Wiirgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und ständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800, in diesem Band. 87 ) Großes vollständiges Universal-Lexicon [Zedier]. Bd. 41. Leipzig/Halle 1744, Sp. 364. 88 ) Diese Vorstellung mag durch den Erfolg des Buches von Natalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Frankfurt am Main 1988, noch bestärkt worden sein. Vgl. auch Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Berlin 1977, 88: „Supplication" ist im Frühneuhochdeutschen ein Rechtswort der fürstlichen Kanzleien „und hat den in sich abgeschlossenen Bereich der Kanzlei- und Rechtssprache kaum verlassen. D e m persönlichen Charakter der Bitte entsprechend, wurde sie devot und servil abgefaßt und vorgebracht, wozu das Bild vom händeringenden und auf den Knien liegenden Supplikanten paßt."
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chen Rechts- und Verwaltungsgeschäften. Wie sehr das Supplikenwesen im 18. Jahrhundert ein integraler Bestandteil der Gesetzgebungs- und Gesetzespraxis war und inwiefern diese Beobachtung auf das historische Verständnis des Regulierungs-, Disziplinierungs- bzw. Rationalisierungsstrebens im Staat des Ancien Régime zurückprojiziert werden muß, soll im folgenden - vorerst andeutungsweise und thesenhaft - skizziert werden. Die Suppliken machen auf den praktischen Anteil der Untertanen an der Ausgestaltung und Anwendung der staatlichen „guten Policey" jenseits bzw. unterhalb der in Landständen institutionalisierten, in der Epoche des sogenannten Absolutismus weitgehend ausgeschalteten Mitwirkungsmöglichkeiten aufmerksam. Das Supplizieren bzw. die Einreichung eines förmlichen Bittgesuchs entpuppt sich bei genauerer Betrachtung von Gesetzeskompilationen des 18. Jahrhunderts als genuines Verfahrenselement der Policeygesetzgebung. Diese wies die Untertanen, Körperschaften oder Gemeinden in einer Vielzahl von Rechts- bzw. Verwaltungsakten „ad supplicandum" an den Landesherrn bzw. an eines der Ratskollegien. Die Ausdehnung der gesuchspflichtigen Sachbereiche geht ansatzweise aus folgender Zusammenstellung hervor, die keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; an dieser Stelle kann es vorläufig nur darum gehen, auf gewisse Zusammenhänge zwischen dem oben aufgezeigten Supplizieren der Oberländer Untertanen einerseits und einzelnen Normen der badischen Policeygesetzgebung andererseits aufmerksam zu machen"). Wer in das Bürgerrecht einer Gemeinde aufgenommen werden wollte, mußte sein Mannrecht vorlegen und bescheinigen, daß er keinen nachjagenden Herrn hatte; er hatte die Stadt, den Flecken oder das Dorf, wo er sich bürgerlich niederlassen wollte, um deren guten Willen anzusuchen und mußte schließlich beim Fürsten um die Erteilung des Bürgerrechts „suppliciren und Unsers gnädigen Bescheyds darüber gehorsamlich erwarten" 90 ). Als die Rentkammer 1738 einen Rückgang der Einnahmen aus der Bürgertaxe feststellte, beklagte sie sich beim Hofrat darüber, daß die Gesuchspflicht bei Bürgerannahmen in Vergessenheit geraten sei und riet dazu, die entsprechende Verordnung in Erinnerung zu rufen 91 )- Die Rentkammer stieß jeweils bei der Kon-
89 ) Grundlage der Zusammenstellung bildet eine erste, noch unvollständige Auswertung der Landesordnung von 1622/54 sowie der offiziösen baden-durlachischen Gesetzessammlung von Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1), welche primär den Bereich der sogenannten „Policeygesetzgebung" erfaßt und - allerdings ungleich systematisch und mit einer deutlichen Konzentration auf die Gesetzgebung seit den späten 1740er Jahren - die ersten sieben Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts abdeckt. 90 ) Landesordnung 1622/54, Teil 4, Tit. 4. - Verschiedene Gesuche um Bürger- und Meisterannahme dokumentiert im Bestand 74/10481. 91 ) 74/1228. - Das Dekret schärfte den Amtleuten ein, von den Leuten keine Taxe einzu-
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trolle der Ämterrechnungen auf solche Unregelmäßigkeiten, so zum Beispiel erneut im Jahre 1750, als der Vergleich der Burgvogtei- und Einnehmereirechnung des Oberamts Rötteln aus dem Jahr 1746 ergab, daß die Einnehmerei Lörrach den Sebastian Blattner aus Waldenburg in der Basler Landschaft ordnungswidrig ohne fürstlichen Rezeptionsbefehl als Bürger eingeschrieben und aus dem Hintersassengeldregister gestrichen hatte, wodurch dem Fürsten Hintersassengelder entgangen waren92). Bewilligungspflichtig war auch die Annahme von Frauen zu Bürgerinnen, welche innerhalb des Amts ihren Wohnort wechselten; ein Generalreskript erinnerte 1751 daran, nachdem festgestellt worden war, daß Dorfgerichte oder Stadträte sie eigenmächtig aufnahmen, „ohne dieselbe zuvor supplicando an Uns [den Fürsten, A.H.]" verwiesen zu haben93). Als der Hofrat 1773 zur Entlastung der Regierungskollegien sowie zur Kostenersparnis bei den Untertanen das Supplikenverfahren vereinfachte, delegierte er u.a. auch die abschließende Entscheidungskompetenz über Gesuche um Bürger- und Hintersassenannahme an die Ämter; diese Maßnahme wurde damit begründet, daß der Hofrat in diesen Fällen ohnehin gestützt auf die in den Amtsberichten angeführten Umstände entschieden hatte. Allerdings sollten die Ämter nur abschließend resolvieren können, wenn der Gesuchssteller schon als Bürger oder Hintersasse im Land wohnte, keiner fremden Leibherrschaft unterworfen war, der örtlich vorherrschenden Konfession angehörte und die Gemeinde sowie die Berufskollegen am Ort keinen Einspruch gegen seine Annahme erhoben. Bei der Behandlung der Gesuche sollten die
ziehen noch ihnen Hoffnung auf die Annahme zu machen, bevor sie gehörig „supplicirt" und die fürstliche Resolution erhalten hatten. 92 ) 74/1228. Die Rentkammer ordnete beim Oberamt, bei der Burgvogtei und den Einnehmereien zu Rötteln und Sausenberg an, künftig niemanden als Bürger einzuschreiben bzw. aus der Hintersassenanlage zu entlassen, er habe denn seine Schuldigkeiten bezahlt und vom Fürsten den Rezeptionsbefehl erhalten. - 1753 tadelte die Rentkammer aus Anlaß der Kontrolle der Amtsrechnung von Stein erneut die Praxis mehrerer Amtsorte, Personen als Bürger anzunehmen, ohne daß diese zuvor beim Hofrat suppliziert hatten (74/1228). - Die Rentkammer forderte 1762 aus gleichem Anlaß den Hofrat erneut zum Erlaß eines Generaldekrets auf (74/1228) bzw. wies im Februar 1763 Oberamt, Burgvogtei und Einnehmerei von Hochberg direkt an, die aus andern Amtsorten zuziehenden Männer und Frauen sowie Fremde „ad supplicandum" an den Hofrat zu verweisen, bevor diese von den Stadt- und Dorfgerichten als Bürger angenommen würden (74/1228). 1764 deckte die Rentkammer bei der Rechnungsabhör der Rötteier Burgvogtei für die Jahre 1759 und 1760 auf, daß 17 bzw. 10 Männer Schutz- bzw. Hintersassengelder entrichteten, die weder um die Schutzaufnahme suppliziert noch die gewöhnliche Rezeptionstaxe entrichtet hatten. Soweit es sich um Fremde handelte, sollte das Oberamt eine nachträgliche Supplikation veranlassen und künftig eigenmächtige Annahmen von Fremden zu Hintersassen durch die Ortsvorgesetzten vor Eintreffen der fürstlichen Resolution verhindern (74/1260). 1776 zeigte die Rentkammer emeut die Schutzannahme von Hintersassensöhnen an, die weder suppliziert noch die Rezeptionstaxe bezahlt hatten (74/1260). 93
) 74/1228, 1229. Künftig sollten alle Männer und Frauen, ob sie nun in ein anderes Oberamt zogen oder nicht, beim Fürsten um ihre bürgerliche Annahme in Städten und Dörfern supplizieren.
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Ämter Grundsätze beachten, welche deutlich das Interesse der obrigkeitlichen Bevölkerungspolitik verraten: in Dörfern sollte durch die Aufnahme neuer Bürger oder Hintersassen mit Ausnahme der Leinweber, Müller, Wagner, Schmiede, Schneider und Schuhmacher das Handwerk nicht gefördert werden, in großen Dörfern sowie Bade- und Marktorten gehörten noch Metzger und Bäcker zu den Ausnahmen; nicht von dieser Einschränkung betroffen waren die Oberamtsorte sowie Orte an der Landesgrenze, die näher bei ausländischen Orten als bei badischen Landstädten lagen; weiter hatten die Ämter darauf zu achten, daß sich keine Leibeigenen vor erteilter Manumission in leibsfreien Orten niederließen und die neu angenommenen Einwohner ihre Nahrung fanden, ohne dem „Publico" zur Last zu fallen 94 ). Wie die Annahme, so war auch die Aufgabe des Untertanenstatus bewilligungspflichtig. Hofrat und Rentkammer behandelten die sogenannten Manumissionsgesuche: der Hofrat fällte „als Wächter über die Zusammensetzung der Bevölkerung" den Grundsatzentscheid, während die Rentkammer die finanziellen Aspekte des Bescheids erledigte und die eigentlichen Manumissionen ausfertigte 95 ). Auch um die Aufnahme in eine Zunft mußte suppliziert werden; 1765 entschied der Hofrat, daß der Supplikant und nicht die Zunft die Verfahrenskosten zu tragen hatte, wenn die Zunft gegen die Aufnahme eines neuen Mitglieds Einspruch erhob 96 ). In Zunftsachen wurde 1772 die Vorschrift aufgehoben, daß für die Erlernung des Bäcker- oder Metzgerhandwerks um eine besondere Genehmigung suppliziert werden mußte 97 ). Gesuche um Unterstützung bedürftiger Personen sollten seit 1795 bei dem für den Supplikanten zuständigen Oberamt eingereicht werden, welches sie mit seinem Bericht an das Kollegium weiterzuleiten hatte, „wohin sie sich nach ihrem Inhalt und den Verhältnissen des Supplicanten eignen" 98 ). Wer in das 1718 eröffnete Waisenhaus in Pforzheim aufgenommen werden wollte, hatte bei der Regierung in Karlsruhe ein Aufnahmegesuch einzureichen; vom Hofrat gelangte das Gesuch in das Kabinett, wo es vor dem Fürsten persönlich behandelt wurde; Entscheidungsgrundlagen lieferten Gutachten der Oberämter und geistlichen Verwaltungen zur wirtschaftlichen Lage, zum Lebenswandel und zu den moralischen Eigenschaften des Antragstellers. Bei der Behandlung der Aufnahmegesuche war „weniger die Erfüllung der ge94
) 74/1365 (Hofratsprotokoll v. 25.9.1773); Genehmigung des Hofratsantrags durch den Fürsten am 6.11.1773 und Druck des Reskripts in den Karlsruher Wochenblättern am 18.12.1773. 95 ) Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 243,269. - Über die administrative Behandlung der Manumissionsgesuche durch die Kollegien vgl. Werner Hacker, Auswanderungen aus Baden und dem Breisgau. Stuttgart/Aalen 1980, 105 ff., 192-210. 96 ) Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1), Bd. 3, Ziff. 461 (Generaldekret v. 1765). 97 ) Zunächst nur für die Bäcker und Metzger auf dem Land, wenig später auch für jene in der Stadt (ebd., Ziff. 429 f., Generaldekrete v. 1772). 98 ) 74/1578 (Auszug Geheimratsprotokoll v. 21.8.1795).
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schilderten formalen Aufnahmebedingungen als vielmehr die umfassende Betrachtung der persönlichen Situation des Kandidaten und der gesamten Umstände seines Leidens (Armut, Elternlosigkeit, Arbeitsunfähigkeit oder Krankheit) bestimmend" 99 ). Die Verleihung des Bürgerrechts, des Hintersassenstatus, des Schutzes an Juden, die Erteilung einer Konzession für ein Gewerbe u.a.m. waren gemäß der badischen Territorialgesetzgebung des 18. Jahrhunderts Rechts- und Verwaltungsvorgänge, für welche Untertanen „supplicando" einkommen mußten. Das Bittgesuch erfüllte hier die Funktion eines Antrags auf Erteilung eines bestimmten Rechts- und Verwaltungsbescheids durch die Obrigkeit bzw. die staatlichen Behörden. Daneben ist noch ein weiterer funktionaler Zusammenhang zwischen den Suppliken und der Gesetzespraxis dort zu beobachten, wo es um die Handhabung von Ausnahmen bzw. Dispensationen von einer gesetzlichen Grundsatznorm ging 100 ). Das Badenweiler Supplikenverzeichnis führte mehrere Fälle an, in denen Untertanen darum baten, von der Befolgung einer policeygesetzlichen Norm entbunden zu werden, sei es, daß sie bereits vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestalter heiraten wollten 101 ), sei es, daß sie als Handwerksgesellen sich nicht oder weniger lang auf Wanderschaft begeben wollten, als dies die Handwerks- und Zunftordnungen vorschrieben. Bittgesuche ebneten grundsätzlich den Zugang zu einer Ausnahmebewilligung, Sonderbehandlung oder Spezialerlaubnis von obrigkeitlicher Seite, die es den begünstigten Untertanen möglich machte, gesetzlichen Vorschriften auszuweichen. An dieser Stelle kann es wiederum nicht um eine erschöpfende Darstellung des Zusammenhangs zwischen Supplikenpraxis und Gesetzesdispensation gehen; an wenigen exemplarischen Hinweisen zu den Bereichen der Gesellenwanderpflicht und der Bauordnung soll dieser Konnex in seiner Bedeutung für ein adäquates Verständnis der Funktionsweise frühneuzeitlicher Gesetzespraxis plausibel gemacht werden. Der Wanderzwang für Handwerksgesellen, der sowohl in Zunftordnungen wie auch in obrigkeitlichen Verordnungen vorgeschrieben war, trug zum einen dem allgemeinen Interesse an der Hebung der Ausbildung der Gesellen und " ) Stier, Fürsorge (wie Anm. 34), 59,64. Für das Jahr 1718 registrierte Stier 90 Aufnahmegesuche in den Protokollen des Kabinetts, jede Woche ging mindestens ein Gesuch ein (ebd., 59). 100) Für Dispensationen von gesetzlichen Bestimmungen war grundsätzlich der Hofrat zuständig; Windelband, Verwaltung (wie Anm. 2), 244. 101 ) Heiratswillige Minderjährige bedurften nicht nur einer „venia aetatis", d.h. eines Dispenses vom gesetzlich festgelegten Mindestheiratsalter von 25 Jahren, sondern auch der vom Fürsten verliehenen Verfügungsgewalt über ihr Vermögen, ohne welche Rechtshandlungen, Veräußerungen und Verträge ohne Bewilligung des Pflegers ungültig waren; Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1), Bd. 3, Ziff. 195, Generaldekret v. 1765.
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damit an der Förderung des Gewerbes Rechnung, zum andern war er Ausdruck des „von ökonomischen Zwängen diktierte[n] Selbstschutzinteressefs] der Handwerksmeister, die sich in ihren Zünften nicht nur nach außen und oben, sondern schon frühzeitig auch nach unten zu verteidigen hatten" 102 ). Je nach Festlegung der Wanderzeit und der Qualitätsanforderungen an die Ausbildung der Gesellen in Zunftartikeln und staatlichen Vorschriften war die Zulassung zur Meisterschaft offener oder eingeschränkter. Im Spannungsfeld dieser unterschiedlichen, bisweilen gegenläufigen Anforderungen an das Gesellenwandern bewegten sich sowohl die Verordnungstätigkeit der Obrigkeit als auch deren Dispensationspraxis. Die Bittgesuche von Gesellen um Dispensation von der vorgeschriebenen Wanderzeit erhellen von der Seite der Gesetzespraxis her die Akzeptanz und jeweilige Durchsetzungsfähigkeit der normativen Vorgaben bei der betroffenen Gruppe; die von den Gesellen vorgebrachten, für die Erteilung der Ausnahmebewilligung sprechenden Umstände geben den Blick frei zum einen auf Strategien der Gesellen zur Umgehung der ihnen lästig fallenden Vorschriften, zum andern auf jene sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Gegebenheiten und Zwangslagen, die eine prinzipielle Umsetzung des normierten Ordnungswillens erschwerten, behinderten oder unmöglich machten. Die Bewilligungspflichtigkeit der Dispensationen vom Wanderzwang war ein Instrument in der Hand der Obrigkeit, mit welchem sie im konkreten Einzelfall Grundsätze ihrer Handwerks- und Gewerbepolitik zur Anwendung bringen konnte, die mitunter zünftisch-korporativen Interessen zuwiderlaufen mochten 103 ). 1750 untersagte der Hofrat den Oberämtern, Handwerker von der Anzahl vorgeschriebener Wanderjahre zu dispensieren; die Handwerker sollten bei Vorliegen besonderer Umstände vielmehr „ad supplicandum" an den Hofrat verwiesen werden 104 ). „Professionisten" und Handwerker suchten die Wan102 ) Vgl. allg. Klaus J. Bade, Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey: Gesellenwanderung zwischen Zunftökonomie und Gewerbereform, in: VSWG 69 (1982), 1-37, Zitat 5. - Zur Dispensationspraxis als Indikator für die Entlastung des Gewerbes als Primärfunktion des Wanderzwangs im 18. Jahrhundert vgl. ebd., 20f. Bades Beispiele stammen aus dem Bereich des städtischen Zunfthandwerks; die Ausnahmegesuche begünstigten Bade zufolge besonders den Nachwuchs der Zunftbürger, vermögendere Gesellen oder jene, die Aussicht auf die Heirat einer Meistertochter oder -witwe hatten. - Die Dispensationspraxis der badischen Behörden insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentieren die Bestände 74/10411, 10412, 10428, 10481. 103 ) Bade, Wanderzwang (wie Anm. 102), 27 ff., weist darauf hin, daß sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Gegensatz zwischen „den konkurrenzfeindlichen Nahrungsinteressen der Zünfte" und reformwilligen Obrigkeiten entwickelte; letztere stellten Wirtschaftswachstum, Gewerbeförderung und Beschäftigungspolitik zur Bekämpfung der unterständischen Armut in den Vordergrund. Bade betrachtet die Einhaltung eines generellen Wanderzwangs als Merkmal der obrigkeitlichen Handwerkspolitik seit dem Reichsabschied 1731, wobei hier der Aspekt der Gewerbeförderung im Vordergrund steht (ebd., 28 f.). '«) Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1), Bd. 3, Ziff. 439 (3.3.1750).
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derpflicht zu umgehen, indem sie das Erreichen der Volljährigkeit abwarteten oder gar „eine Dispensation circa Minorennitatem zu erschleichen suchen, da solche sich zuvor, ehe sie sich um das Burger- und Meisterrecht unterthänigst supplicando gemeldet haben, heurathen, und dadurch sich in die Nothwendigkeit, daß sie zum Wandern nicht mehr angehalten werden, und die Dispensation zu ertheilen gleichsam erzwingen könnten, gesetzt zu haben glauben". Diesen „dem allgemeinen Besten höchst schädlich und in fraudem legis abzwekenden Griffen" der Professionisten und Handwerker wollte der Hofrat vorbeugen, indem er einem Handwerksmann die Heirat nur erlauben wollte, wenn er die vorgeschriebenen Wanderjahre an Orten verbracht hatte, die mindestens zehn Stunden von den Landesgrenzen entfernt lagen 105 ). 1767 kritisierte der Hofrat den Mißstand, daß „Professionisten" erst im Alter von 25 Jahren um Nachlaß ihrer Wanderzeit einkamen und damit unter dem Vorwand ihres Alters die Dispensation zu erzwingen suchten. Der Hofrat wollte dies nicht mehr weiter dulden und wies die Oberämter an, jene Personen, die sich zwei Jahre nach der Lehre noch nicht auf Wanderschaft begeben hatten oder vor Ablauf der Wanderzeit zurückkehrten, anzuweisen, die Wanderjahre zu erstehen oder um Dispensation der Wanderjahre bzw. um Erlaubnis, sie im Land ableisten zu dürfen, einzukommen 106 ). 1760 monierte der Hofrat in einem Generaldekret an die Ämter, daß die Küferverordnung von 1755 107 ) in den Amtsberichten zu den Gesuchen von Küfern um Dispensation von Wanderjahren nicht gehörig beachtet werde; für dieses übersetzte Handwerk war eine Wanderzeit von drei Jahren außerhalb des Landes vorgeschrieben 108 ). Um den Anteil der „übersetzten" Berufe an der Gesamtbevölkerung zu reduzieren, erachtete der Hofrat auch noch 1790 in einem Gutachten über die Lage des Landhandwerks die restriktivere Bewilligung von Dispensationsgesuchen von der vorgeschriebenen Wanderzeit als geeignete Maßnahme 109 ).
105 ) Ebd., Ziff. 441 (1751). - Dem Hofrat fiel es offenbar nicht immer leicht, die Dispensationsgesuche von Handwerksgesellen zu beantworten; 1752 mußte er die Oberämter anweisen, in ihren Berichten zu entsprechenden Suppliken zu notieren, wie viele Wanderjahre die Zunftartikel vorschrieben und welche Taxe für die Erteilung der Dispensation zu entrichten sei (ebd., Ziff. 443, Generaldekret v. 1752). 106 ) Ebd., Ziff. 442. - Der Hofrat wurde unmittelbar durch das Dispensationsgesuch des Metzgers Sebastian Müller aus Schopfheim zum Erlaß des Dekrets bewogen (74/10411; 23.5.1767). 107 ) Ebd., Ziff. 446 (Ordnung v. 1755). J °8) Ebd., Ziff. 447 (Generaldekret v. 1760). I09 ) Schremmer, Gewerbe in Baden (wie Anm. 61), 325. Zu den „übersetzten" Berufen im Landhandwerk zählten die Oberämter und der Hofrat die Schuhmacher, Schneider, Schmiede, Metzger, Maurer, Wagner, Müller, Zimmerleute und Bäcker, die alle nur für den Inlandskonsum produzierten (ebd., 320).
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Eine 1715 erneuerte Verordnung aus dem Jahre 1696 verpflichtete Bauherren, die ihren Bau durch fremde statt einheimische Maurer aufführen ließen, zur Entrichtung einer Gebühr in der Höhe von 10% der Bausumme, welche je zur Hälfte der Herrschaft und der Maurerzunft zugute kommen sollte. In der Folge wurde die Herrschaft öfters um Nachlaß dieser Taxe angegangen; 1750 wies der Hofrat die Ämter an, in ihren Berichten zu den Nachlaßgesuchen immer auch die Vermögensumstände des Supplikanten mitzuteilen, weil es der Hofrat als billig erachtete, bei Ausnahmebewilligungen Unvermögende vor Vermögenden zu berücksichtigen 110 ). Die soziale Rücksichtnahme auf die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Untertanen ist bei der Umsetzung von Bauordnungen auch noch an anderer Stelle zu beobachten. 1756 wurden Verordnungen von 1736 und 1744 erneuert, die das Bauen in Stein vorschrieben, und gleichzeitig wurde verfügt, daß die Oberämter nach Untersuchung der Vermögensverhältnisse arme Einwohner, die nicht in Stein bauen konnten, unentgeltlich von dieser Vorschrift dispensieren konnten, so daß diese nur den unteren Stock und die Tür- und Fenstergestelle in Stein bauen mußten, für den oberen Stock aber Holz verwenden durften. Vermögenden, „so von diesem Geseze befreyt seyn wollen", durfte das Oberforstamt keinen Bescheid erteilen, sondern mußte sie „an Uns [den Markgrafen, A. H.] ad supplicandum" verweisen 111 ). 1771 allerdings stellte der Hofrat fest, daß die Oberforstämter allzu großzügig von den Vorschriften der Verordnungen von 1736, 1744 und 1756 dispensierten, sodaß die fürstlichen Befehle bei den zahlreichen Dispensationsgesuchen kaum mehr befolgt würden; die Oberämter wurden deshalb angewiesen, künftig weniger häufig und nur, wenn die Umstände der Bauwilligen nach gründlicher Untersuchung eine Ausnahme zuließen, entsprechende Anträge zu stellen 112 ).
4. Thesen Suppliken von Gemeinden und Untertanen und die Policeygesetzgebung des Landesherrn und seiner Regierungskollegien standen im 18. Jahrhundert in einem wechselseitigen funktionalen Zusammenhang:
u0
) Gerstlacher, Sammlung (wie Anm. 1). Bd. 3, Ziff. 454 (1750). '") Ebd., Ziff. 290 (Generalreskripte an die Ober- und Forstämter v. 1756). - Schon 1730 hatte die Regierung die Oberämter angewiesen, in ihren Begleitberichten über Dispensations-, Bürgerannahme-, Manumissions- und andere dergleichen Gesuche genauer als bis dahin die Vermögensverhältnisse des Supplikanten anzuzeigen, damit der Hofrat „bey ertheilung derer resolutionen ein sicheres Fundament" habe (74/5288). I12 ) Ebd., Ziff. 291 (Generaldekret an die Ober- und Oberforstämter).
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1. Gemeinden- und Untertanensuppliken machten die Behörden auf gesellschaftliche Problemlagen aufmerksam und unterrichteten sie über die Praxis und die Reichweite staatlicher Ordnungsbestrebungen in der Gesellschaft. Mit neuen Verordnungen konnte die Obrigkeit auf diese Informationen und Rückmeldungen reagieren. Suppliken waren eine wichtige Voraussetzung für die flexible,
situativ angepaßte Gesetzgebungs- und Verordnungstätigkeit des
„wohlgeordneten Policeystaats". 2. Indem die Obrigkeit zahlreiche rechts- und verwaltungsrelevante Vorgänge bewilligungspflichtig und damit von der Einreichung von Bittgesuchen durch die Gemeinden
und Untertanen
abhängig machte,
schuf sie
auf
zentralstaatlicher Ebene ein Instrument, das es ihr erlaubte, mit einer Entscheidung im j e konkreten Einzelfall auf gesellschaftliche Vorgänge und Entwicklungen im Sinne ihrer Policeygesetze Einfluß zu nehmen. 3. Mit Suppliken suchten Gemeinden und Untertanen vielfach, die in den Policeygesetzten implizit und vielfach auch explizit vorgesehene Möglichkeit, von der Befolgung gesetzlicher Vorschriften dispensiert zu werden, für sich zu nutzen. Wenn die Berücksichtigung besonderer Umstände prinzipiell Ausnahmen von den Normen zuließ, eröffnete sich für die Kommunen und Untertanen ein weites Feld für das Aushandeln einzelfallbezogener Lösungen. 4. Indem die Obrigkeit die konkrete Handhabung der Policeygesetze dem Supplikenverfahren überantwortete, damit zahlreiche Rechts- und Verwaltungshandlungen gesuchs-, genehmigungs- oder dispensationspflichtig machte und die Gesetzespraxis unter dem Vorzeichen der dem Souverän vorbehaltenen Gnade beließ, blieb letztlich die Entscheidung über Recht und Gesetz dem Ermessen der Kollegien und des Fürsten vorbehalten. Die Würdigung der im Einzelfall vorliegenden persönlichen sozialen, wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Umstände und die darauf basierenden Resolutionen waren einer weiteren Überprüfung im rechtsstaatlichen Sinne entzogen. D e m abgewiesenen Bittsteller verblieb nur sein Recht, ein weiteres Mal zu bitten.
Teil III Gemeinde - eine Herausforderung der Theorie
Gemeinde und Revolution Die kommunale Prägung der englischen Levellers Von
Beat
Kümin*
Kommunaler Einfluß auf das Regiment größerer politischer Verbände läßt sich empirisch meist am besten auf der realhistorischen Ebene von Verwaltung, Gesetzgebung und Gericht dokumentieren. Zum Verständnis zeitgenössischer Verfassungsvorstellungen kann aber neben der alltäglichen Praxis auch das Verlangen nach Veränderung beitragen, besonders wenn es nicht nur von sozialen und intellektuellen Eliten, sondern auch von breiteren Kreisen geäußert wird. Eine solche Ausnahmesituation ergab sich durch die Publikation einer beispiellosen Flut von politischen Traktaten während den englischen Revolutionswirren der 1640er Jahre. Hier bietet sich die Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Gemeinde und Staat im Rahmen einer theoretischen Debatte zu beleuchten. Der folgende Beitrag soll dies an Text und Kontext einiger besonders prägnanter Schriften illustrieren. In der Zeitspanne zwischen der späten elisabethanischen Epoche und der Glorreichen Revolution drängten die „people" energisch auf die nationale Bühne 1 ). Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde aus ihrer Mitte gar für Prinzipien wie Volkssouveränität, Ausweitung des Wahlrechts, periodische Repräsentation, Erweiterung der lokalen Kompetenzen, Rechenschaftspflicht aller Beamten und religiöse Toleranz geworben. Besonders eloquent geschah dies in den Verlautbarungen der Londoner Levellers unter der Führung des charismatisch-streitfreudigen Generalleutnants John Lilburne (1615-1657), des Schauspielers Richard Overton (1615-1663?) und des Kaufmannes William Walwyn (1600-1680) 2 ). Die Frage nach der Herkunft ihrer Ideen ist seither oft thematisiert und kontrovers diskutiert worden. Zeitgenössische Kritiker sprachen von ökonomisch motivierten „Eineb-
* Für Anregungen und Kritik danke ich Kaspar von Greyerz sowie den Teilnehmern des Reformation Studies Colloquium (St. Andrews, 1996) und des Cambridge Stuart Seminars. ') Keith Wrightson, English Society 1580-1680. 6. Aufl. London 1990, 225. 2 ) Lebensläufe im „Dictionary of National Biography" und in Richard Greaves/Robert Zaller (Hrsg.), Biographical Dictionary of British Radicals in the Seventeenth Century. 3 Bde. Brighton 1984.
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nern" aller Vermögens- und Standesunterschiede 3 ). Moderne Interpretationen betonen dagegen die Weiterentwicklung englischer Rechtsprinzipien 4 ), die allmähliche Ergänzung historisch-juristischer Argumentation durch die Zweckbindung weltlicher Herrschaft 5 ) sowie die durch den Bürgerkrieg verursachten Entlehnungen aus deutschen und französischen Widerstandstheorien6). Ideengeschichtler verweisen zudem auf das zeitgenössische Umfeld von Naturrecht, Vernunft und Neothomismus 7 ), während die Meinungen über die Relevanz der Impulse aus dem biblisch-religiösen Bereich geteilt sind 8 ). Auffallend ist generell, wie oft Fluchtlinien in die Gegenwart gezogen werden: Die Levellers, so heißt es etwa, seien „social democrats" 9 ), „strangely modern" und „individualists" 10 ), denen man das Attribut „demokratisch" nicht versagen dürfe 11 ). Im folgenden soll jedoch eher zurück- als vorausgeschaut werden. Im Einklang mit der Forderung, die Levellers aus ihrer Zeit heraus zu verstehen 12 ), geht es um den Versuch, diese eher abstrakten Einflüsse um eine andere, konkretere Wurzel für die auf den ersten Blick radikal-revolutionären Forderungen der 1640er Jahre zu ergänzen, nämlich die alltägliche kommunale Erfahrung. Damit sollen die bewahrenden Komponenten der Leveller-Bewegung ins Blickfeld gerückt und die zentralen Postulate - so weit möglich - auf ihre jeweilige Prägung durch die kirchliche oder weltliche Gemeindepraxis untersucht werden. Dies ist bisher nur ansatzweise geschehen. So wurden etwa die 3
) Siehe dazu die Verteidigungsschrift von John Lilburne/William Walwyn/Richard Overton/Thomas Prince, A Manifestation. London 1649, in: William Haller/Godfrey Davies (Hrsg.), The Leveller Tracts 1647-53. Gloucester (Mass.) 1964, 276-84. 4 ) Hans-Christoph Schröder, Die Levellers und das Problem der Republik in der englischen Revolution, in: GG 10 (1984), 4 6 1 ^ 9 7 , bes. 463-468 (vertragliche Gebundenheit des Königs seit der Magna Charta); die common /aw-Tradition unterstreicht Peter Wende, „Liberty" und „Property" bei den Levellers, in: ZHF 1 (1974), 147-173. 5 ) Mit dem salus populi als Hauptkriterium: Andrew Sharp (Hrsg.), Political Ideas of the English Civil Wars 1641-9. London 1983, 13-25. 6 ) Howard Erskine-Hill/Graham Storey (Hrsg.), Revolutionary Prose of the English Civil War. Cambridge 1983, 26-29. 7 ) Arthur Morton, The World of the Ranters. London 1970, 196, bezeichnet Walwyn als „exponent of secular humanism, of reason and nature"; Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Cambridge 1978, ii. 153. 8 ) Für Brian Manning, The Levellers and Religion, in: J. F. McGregor/Barry Reay (Hrsg.), Radical Religion in the English Revolution. Oxford 1984, 65-90, war die politische Freiheit „the overriding objective" der Bewegung (ebd., 82), während James Davis, The Levellers and Christianity, in: Brian Manning (Hrsg.), Politics, Religion and the English Civil War. London 1973, 225-50, religiösen Motiven Priorität einräumt (ebd., 226). 9 ) Joseph Frank, The Levellers. A History of the Writings of three Seventeenth-Century Social Democrats. Cambridge (Mass.) 1955. 10 ) Theodore Pease, The Leveller Movement. Washington 1916, 217, 358. ") Kaspar von Greyerz, England im Jahrhundert der Revolutionen 1603-1714. Stuttgart 1994, 108. n ) Gerald Aylmer, Introduction, in: ders. (Hrsg.), The Levellers in the English Revolution. London 1975, 49.
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egalitär-demokratischen Elemente der Sektengemeinden hervorgehoben 13 ), während Historiker wie Brian Manning das Leveller-Programm als „blueprint for a society of self-governing communities" interpretierten 14 ). Letzteres wurde von der Forschung aber nur mit Vorbehalt übernommen. Keith Thomas zum Beispiel konzidierte die Existenz von „demokratischen" Lokalverwaltungstraditionen, distanzierte sich aber gleichzeitig von Mannings zu harmonisch-idealisierender Einschätzung der kommunalen Realitäten 15 ). Im Vordergrund der Diskussion stand vielmehr eine andere, eher amorphe und sozial exklusive politische Einheit, nämlich die von der Gentry und ihren Amtsträgern dominierte Grafschaft 16 ). Die jüngere Geschichtsschreibung hat die lokale Dimension zwar vermehrt miteinbezogen 17 ), aber noch keine umfassende Untersuchung zum Ideentransfer zwischen Gemeinde und Staat vorgelegt. An dieser Stelle muß allerdings eine begriffliche Präzisierung erfolgen. In Anbetracht der unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen kann im englischen Bereich nicht mit den für den Südwesten des Reiches entwickelten Definitionen von „kommunalen Strukturen" gearbeitet werden 18 ). Im folgenden soll ein weicherer, lebensweltlicher Gemeindebegriff der Tatsache Rechnung tragen, daß jenseits des Kanals von mehreren, sich oft überlappenden territorialen Einheiten auszugehen ist. Dabei gilt es in erster Linie an die kirchliche und weltliche Lokalverwaltung in eigentümlicher Weise kombinierende Pfarrei zu denken 19 ), daneben aber auch an die Organisationsformen von Dorf, Hundertschaft und städtischen Siedlungen. Die Verwendung ähnlicher Terminologie soll englische Phänomene also nicht in ein mitteleuropäisches Korsett zwängen, sondern auf vergleichbare, wenn auch keinesfalls in jeder Beziehung identische lokale Gegebenheiten hinweisen.
13
) D. B. Robertson, Religious Foundations of Leveller Democracy. New York 1951. ) Brian Manning, The English People and the English Revolution. 2. Aufl. London 1991, 410. Siehe auch Henry Brailsford, The Levellers and the English Revolution. Ed by Christopher Hill. Manchester 1961, 10, 253 Anm. 4, 321 f. 15 ) Keitl Thomas, The Levellers and the Franchise, in: Gerald Aylmer (Hrsg.), The Interregnum. 2 Aufl. London 1979, 57-78. 16 ) So etwa in den Studien von Alan Everritt (Kent) und John Morrill (Cheshire). n ) Margo Todd, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Reformation to Revolution. Politics and Religion in Early Modern England. London 1995, 4. 18 ) Zusammengefaßt in Peter Blickle, Kommunalismus. Begriffsbildung in heuristischer Absicht, in: ders. (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. München 1991, 5-38. Die englischen Rahmenbedingungen unterscheiden sich unter anderem durch die Existenz eines relativ starken Zentralstaates sowie des allgemeinverbindlichen common law. 19 ) Vergleiche dazu Beat Kümin, Parish und Local Government, in diesem Band. 14
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1. Die zeitgenössische Relevanz der Reformforderungen Bevor wir uns einzelnen Postulaten und Erklärungsmodellen zuwenden, sollte jedoch abgeklärt werden, welchen Stellenwert die uns hier besonders interessierenden Traktate besaßen. Blieben sie im wesentlichen „private" Meinungsäußerungen der jeweiligen Verfasser, oder gab es zu jener Zeit bereits eine Sensibilisierung breiterer Bevölkerungsschichten für überregionale Themen und damit eine (rudimentäre) politische Öffentlichkeit? Konnten die Traktatschreiber hoffen, daß ihre Forderungen bezüglich Macht- und Kompetenzverteilung zwischen Gemeinde und Staat von der Basis rezipiert und zum Programm erhoben würden? Die Beantwortung dieser Fragen wirft beträchtliche methodische Schwierigkeiten auf und kann hier nur in groben Zügen skizziert werden. Erste Hinweise liefert die Zunahme der Alphabetisierungsrate auf etwa 30% der männlichen Bevölkerung im frühen 17. Jahrhundert 20 ). Zur selben Zeit war auch der Umfang der gedruckten Literatur im allgemeinen und der politischen news im besonderen in stetigem Wachstum begriffen. Diese Neuigkeiten hatten potentiell subversiven Charakter, da ihr Inhalt im Gegensatz zur obrigkeitlichen Betonung von Ordnung die Existenz von Widerspruch und Konflikt besonders hervorhob. Es fällt jedenfalls nicht schwer, in Tagebüchern Beispiele für politische Diskussionen auf Dorfebene zu finden21). Dazu finden sich ab den späten 1620er Jahren vermehrt Indizien für Auseinandersetzungen um kirchen- und verfassungspolitische Fragen anläßlich von Parlamentswahlen 22 ). Die Wahlberechtigung war zwar unterschiedlich geregelt und (in den Grafschaften) vom Zensus abhängig, dennoch aber kommt Derek Hirst zum Fazit, daß insgesamt etwa 27-40% der Männer (in den Städten zum Teil noch viel mehr) an solchen Wahlen beteiligt waren, und daß „those involved in the populär outbursts of the 1640s had clearly had some form of political education beforehand" 23 ). Schon um 1630 sahen sich Parlamentskandidaten einer selbstbewußten, auf Rechenschaftspflicht pochenden Wählerschaft gegenüber, und in Essex findet sich 1640 ein klassisches Beispiel für den Schock, den populäre Agitation dem politischen Establishment versetzen konnte. Lord Maynard äußerte sich nach einer verlorenen Kampagne verächtlich über die „fellows without shirts [who] challenge as good a
20
) David Cressy, Literacy and the Social Order. Cambridge 1980, 177. Dazu kamen vielleicht 20%, die zwar nicht schreib-, aber doch lesefähig waren (die Rate war natürlich stark sozial differenziert). 21 ) Richard Cust, N e w s and Politics in Early Seventeenth-Century England, in: P & P 112 (1986), 6 0 - 9 0 . 22 ) Die genaue Datierung und Virulenz ist umstritten. Diese Einschätzung folgt von Greyerz, Jahrhundert der Revolutionen (wie Anm. 11), 30. 23 ) Derek Hirst, The Representative of the People? Cambridge 1975, 104 f.
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voice as myself' 2 4 ). Man darf eben nicht vergessen, daß sich das Parlament neben großer Politik auch mit - aus kontinentaler Sicht - trivialen lokalen Belangen beschäftigte, sei es mit der Absegnung eines Brückenbauprojektes, mit der Reorganisation von Pfarrsprengeln oder der Gründung von Schulen 25 ). In Westminster getroffene Entscheidungen konnten deshalb weite Bevölkerungskreise ganz unmittelbar betreffen. Ein entscheidender weiterer Schub war die plötzliche Explosion der Pamphletliteratur als Folge einer Vollzugskrise im Zensurbereich. Die vor dem Bürgerkrieg mit der Lizenzierung der Druckerzeugnisse betrauten kirchlichen und gerichtlichen Instanzen waren 1641 durch das Parlament abgeschafft worden, und die sie ersetzenden Bestimmungen erwiesen sich als absolut ungenügend 26 ). Von Sozialhistorikern ist deshalb von der Existenz eines „reading public" gesprochen worden, und auch aus soziologischer Sicht scheint der öffentlichen Meinung in England Mitte des 17. Jahrhunderts bereits zentrale Bedeutung zuzumessen zu sein 27 ). Die Frage, wieviele Traktate sich in irgendeiner Form mit Gemeindefragen befassen, wäre nur bei einer systematischen Durchsicht aller Quellen mit einiger Genauigkeit zu beantworten. Auf jeden Fall war es aber eine äußerst lebhafte publizistische Debatte, die nicht selten ganze Serien von Anschuldigungen, Dementis, Repliken und Gegenanklagen provozierte 28 ). Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Levellers die Londoner Massen mobilisieren konnten. Schon nur die Tatsache, daß die Protagonisten vom Parlament und der Armeeführung immer wieder diffamiert, verhört und verhaftet sowie ihre Traktate von offiziellen Kommissionen untersucht wurden, deutet darauf hin, daß die Machthaber diese Herausforderung ernst nah24
) Zitiert in Anthony Fletcher, National and Local Awareness in County Communities, in: Howard Tomlinson (Hrsg.), Before the English Civil War. London 1983, 151-74, hier 167. 25 ) Siehe etwa Statutes of the Realm. Vol. 4/2. London 1819 (ND 1963), 43 Eliz. I, c. 16 (An Acte for the reedifienge of Two Bridges over the Ryver of Eden; 1601), 1 Jac. I, c. 30 (An Acte for the erectinge of a Churche in Melcombe Regis to be the Parishe Churche ofRadipoli, 1603-04), 4 Jac. I, c. 7 (An Act for the foundinge and incorporatinge of a Free Grammer Schoole in the Towne of Northleech\ 1606-07). 26 ) Die Lizenzierung und Überwachung des Buchhandels besprechen William Haller (Hrsg.), Tracts on Liberty in the Puritan Revolution. New York 1934, i. 9 ff., und Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 17. 27 ) Wrightson, English Society (wie Anm. 1), 225; DavidZaret, Religion, Science and Printing in the Public Spheres in Seventeenth-Century England, in: Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere. Cambridge (Mass.) 1992, 216, und ders., Petitions and the „Invention" of Public Opinion in the English Revolution, in: AJSoc 101 (1996), 1497-1555. 28 ) Als Beispiel kann die Affäre um das anti-Leveller-Traktat „A Declaration of some Proceedings" gelten: John Wildman attackierte den darin zitierten Kronzeugen George Masterson in „Truths Triumph", letzterer replizierte in „The Triumph stain'd", J. Norris erneuerte den Angriff in „A Lash for a Lyar", und John Lilburne verteidigte seine Position in „A Whip for the present House of Lords" (alle publiziert im Februar 1648).
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men 29 ). Die Zahlen sprechen für sich: 30000 Abzüge von The earnest Petition of many Free-born People of this Nation sollen am 18. Januar 1648 gedruckt worden sein, während die Auflage von The mournefull Cryes of many thousand Tradesmen ebenfalls in die Tausende ging 30 ). Die Levellers trafen sich in privaten Unterkünften sowie in Wirtshäusern, sie wählten Kommissare (etwa zur Koordination von Unterschriftensammlungen) und Schatzmeister, und sie korrespondierten mit anderen Grafschaften über die Bildung ähnlicher Organisationsformen31). Ihr als Agreement of the People bezeichneter Verfassungsentwurf vom Januar 1649 enthielt eine Anweisung über „the orderly taking of all subscriptions to this Agreement, by fit persons to be employed for that purpose in every parish" und sah die sorgfältige Aufbewahrung der Abrechnungen vor32). Daneben waren die Anführer in der Lage, gewaltige Demonstrationen zu organisieren. 98064 Personen unterstützten mit ihrer Unterschrift A Remonstrance of many thousand Citizens und damit die von Leveller-Exponent Walwyn koordinierte Agitation für die Freilassung von John Lilburne im September 1649. Auch Frauen wurden mobilisiert: Lilburnes Gattin Elizabeth hatte bereits im April eine ähnliche Petition der weiblichen Anhängerinnen ihres Mannes produziert, während Katherine Chidley zur selben Zeit bei den tagelangen Demonstrationen vor dem Unterhaus eine führende Rolle spielte33). In London trat die Bewegung sicherlich am auffälligsten in Erscheinung, aber Anhaltspunkte für Leveller-Agitation gibt es auch anderswo. Einen besonders wichtigen Resonanzkörper bildete die zum Schutze der parlamentarischen Verfassung mobilisierte Armee, die für längere Zeit Truppen aus allen 29
) Am 20. Mai 1647 befahl das Parlament dem „common hangman", die „Large Petition" der Levellers zu verbrennen; Haller/Davies, Leveller Tracts (wie Anm. 3), 1. In der 3. Version des „Agreement" erwähnt Lilburne, daß die Idee einer solchen „Volksvereinbarung" das Establishment schockiert habe und daß man die Initianten als „wilde, irrationall, dangerous Creatures" apostrophiere (ebd., 319). Die Meuterei von Banbury im Mai 1649, der letzte nennenswerte Versuch, dem Leveller-Programm zum Durchbruch zu verhelfen, wurde von Oberbefehlshaber Fairfax und Cromwell blutig niedergeschlagen (ebd., 28). 30 ) Walter Frost, A Declaration of some Proceedings of Lt. Col. lohn Lilburne. 1648, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 51. 31 ) Ebd., 13-23; vgl. Valerie Pearl, London and the Outbreak of the Puritan Revolution. Oxford 1961,228 ff. („How were the Citizens organized?"). 32 ) Gedruckt in Samuel Gardiner (Hrsg.), The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625-60. 3. Aufl. Oxford 1906, 359-371, hier 366. Als Schatzmeister wirkten z.B. Samuel Chidley und Thomas Prince, die Beiträge variierten zwischen 2 Pence und einer halben Krone. 33 ) Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 21; Ian Genties, London Levellers in the English Revolution, in: JEcclH 29 (1978), 292. Richard Overtons Gattin Mary wurde im Januar 1647 im Zusammenhang mit dem Besitz eines systemkritischen Traktats verhaftet. Ihr Kind verstarb darauf im Gefängnis: Pauline Gregg, Free-born John. A Biography of John Lilburne. London 1961, 151. Siehe auch Ann Hughes, Gender and Politics in Leveller Literature, in: Susan Amussen/Mark Kishlansky (Hrsg.), Political Culture and Cultural Politics in Early Modern England. Manchester 1995, 162-188.
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Landesteilen zu einer neuen Einheit verband und durch die Wahl von agitators politisch sensibilisierte. Hier bot sich für einfache Soldaten eine außerordentliche Gelegenheit, mit radikalem Gedankengut in Kontakt zu kommen und aktiv an der Gestaltung der nationalen Geschicke beteiligt zu sein. So stießen im November 1647 zwei Regimenter uneingeladen zu einer politischen Versammlung eines anderen Heeresteils in Corkbush Field mit „copies of the Agreement in their hats", um eine (allerdings rasch unterdrückte) Meuterei zu provozieren. Der Oberkommandierende, General Fairfax, hatte Grund zur Beunruhigung und berichtete dem Oberhaus, daß „(by what hands I yet know not fully) very many copies of the same Agreement were dispersed among the soldiers, thereby to engage them" 34 ). Der zwei Jahre danach durch dieselben Kreise initiierte Truppenaufstand vom Mai 1649 ist denn auch als „the most serious and sustained attempt at popular revolution by physical force in seventeenth-century England" bezeichnet worden 35 ). Daneben existierten zivile Leveller-Organisationen in den London unmittelbar benachbarten Gebieten, zum Teil aber auch in größerer Distanz 36 ). Kurze Zeit nach einem Aufruf Lilburnes zur Unterstützung seiner in England's Birthright (1645) erhobenen Forderung nach Abschaffung des Zehnten wurden aus den Grafschaften von Hertford und Buckingham entsprechende Petitionen eingereicht 37 ). In letzterer profilierte sich wiederholt ein extremer Flügel der Leveller-Bewegung durch klassenkämpferische Parolen und einen besonderen Haß auf König, Juristen und Privilegienträger 38 ). Die der Londoner Gruppierung nahestehende Wochenzeitung The Moderate druckte in ihrer Nummer 28 vom 16.-23. Januar 1649 eine Humble petition of the known well affected [d.h. parlamentsfreundlichen ] Inhabitants of the County of Surrey zur Unterstützung der Wahlreformvorschläge, „expressed in a Paper, intituled, The Agreement of the people". So impressionistisch diese Anzeichen auch sein mögen, es läßt sich wohl kaum bestreiten, daß der breiten Bevölkerung ein beträchtliches Informations- und Einflußpotential zur Verfügung stand und ihr Erfahrungshorizont nicht außer Acht gelassen werden sollte. Was aber waren die genauen Forderungen der Levellers? In der Folge sollen ihre Hauptanliegen zunächst kurz skizziert und dann auf ihre möglichen kommunalen Wurzeln hin untersucht werden. Aus dieser Sicht läßt einmal aufhorchen, daß Cromwell bei einer Realisierung des Programmes eine Aufsplitte34
) Morton, Ranters (wie Anm. 7), 207; Francis Maseres (Hrsg.), Select Tracts Relating to the Civil Wars in England. London 1815, i. xlii. 35 ) Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 44. 36 ) Pease, Leveller Movement (wie Anm. 10), 361. 37 ) Gregg, Free-born John (wie Anm. 33), 129. 38 ) Siehe die anonymen radikalen Pamphlete „Light Shining in Buckinghamshire", 1648, und „More Light Shining in Buckinghamshire", 1649, in: George Sabine (Hrsg.), The Works of Gerrard Winstanley. Ithaca 1941, 611-623, 627-640.
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rung Englands nach schweizerischem Modell befürchtete und sich einzelne Exponenten der Bewegung tatsächlich an der Verfassung eidgenössischer Orte orientiert haben mögen 39 ). William Walwyns Anspielung ist deutlich genug: „I could instance a Country [...] that is surrounded with potent Princes and States, and was as much distracted with divisions as ours at present is, yet by wisdom so order themselves, as that they keep up no Army, nor dread no war, but have set the native Militia in such a posture; as that all the Countries round about them dare not affront them with the least injury; [...] as also, not to let passe, without severe exemplar punishment, the least corruption in publique Officers and Magistrates; [...] and to hold authority or command beyond the time limited by law, or Commission amongst them, is a capitall offence, and never fails of punishment" 40 ). Es ist auch nicht auszuschließen, daß radikale politische Literatur aus der Zeit der Bündner Wirren in Leveller-Kreisen bekannt war. Thematisch ergeben sich jedenfalls auffällige Parallelen 41 ). Konkret läßt sich der (im Laufe der Zeit je nach politischer Situation modifizierte) Forderungskatalog dieser „ersten englischen Partei" 42 ) aus einer Reihe von zwischen 1647 und 1649 verfaßten Petitionen sowie aus den drei Versionen des Verfassungsentwurfes An Agreement of the People herausdestillieren 43 ). Lilburne, Walwyn und Overton wurden dabei punktuell durch andere Verfasser unterstützt, die meist wie sie selber in irgendeiner Form mit dem Londoner Handwerkerstand verbunden und keinesfalls nur Vertreter der Unterschicht waren. Von Walwyn wird etwa berichtet, daß es ihm seine Vermögensverhältnisse erlaubt hätten, die Familie „in a middle but contentful condition" zu unterhalten 44 ). Zentral geht es in den Texten immer wieder um die Verankerung von native rights (Gewissensfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz) in einer Verfassung, die Lokalisierung der Souveränität beim (das 39
) Brailsford, Levellers (wie Anm. 14), 253 Nr. 4; Pease, Leveller Movement (wie Anm. 10), 251 Nr. 41. ) William Walwyn, The Fountain of Slaunder Discovered. 1649, 15 f. Explizit als Vorbild für Volksrechte erscheint die Schweiz in William Ball, Constitutio Liberi Populi. 1 6 4 6 , 4 , 6 . 41 ) The Proceedings of the Grisons, in the yeere 1618. London 1619, B2: „The forme of our Common-wealth is popular and the choosing and displacing of the supreme magistrate [ . . . ] standeth meerely in the power of our People". Den Kontext und die europaweite Verbreitung des Traktats bespricht Randolph Head, Early Modern Democracy in the Grisons. Cambridge 1995, 2 2 6 - 2 3 4 . 42 ) Derek Hirst, Authority and Conflict: England 1603-58. London 1986, 273. 43 ) Das Leveller-Programm ist als „the culmination of ceaseless petitioning" bezeichnet worden Zaret, Petitions (wie Anm. 27), 1505; zentral sind: The Large Petition. 1647; The Case of the Army truly stated. 1647; An Agreement of the People for a firme and present Peace. 1647 (mit Version II. 1648/49 und III. 1649); The Earnest Petition of many freeborn People of this Nation. 1648; The humble Petition. 1648, alle in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), Erskine/Storey, Revolutionary Prose (wie Anm. 6), und Don Wolfe (Hrsg.), The Leveller Manifestoes of the Puritan Revolution. N e w York 1944. 44 ) Robert Brook, The Charity of Churchmen. 1649, 11. 40
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Volk nur vertretenden) Unterhaus, die Periodizität des Parlamentes, die Rechenschaftspflicht, Kompetenz- und Amtszeitbeschränkung der Beamten, das Wahlrecht aller Hausvorstände über 21 Jahren 45 ), die Abschaffung von Zehnt, Militärdienstzwang und wirtschaftlichen Monopolen, Publizierung der Gesetze in der Muttersprache, die Wahl aller lokalen Amtsleute, trial by peers (in der Praxis durch Geschworenengerichte in den Hundertschaften) und die Ersetzung der Akzise durch faire Steuern und Gebühren. Im dritten und endgültigen Agreement-Entwurf finden sich etwa die folgenden charakteristischen Artikel 46 ): „I. That the Supreme Authority of England [...] shall be and reside henceforward in a Representative of the People consisting of four hundred persons, but no more; in the choice of whom (according to naturall right) all men of the age of one and twenty yeers and upwards (not being servants, or receive alms, or having served the late King in Arms or voluntary Contributions) shall have their voices 47 ). VIII. And for the preservation of the supreme Authority [...] we agree and declare: That the next & all future Representatives, shall continue in full power for the space of one whole year: and that the people shall of course, chuse a Parliament once every year. X. That we do not impower or entrust our said representatives to continue in force, or to make any Lawes, Oaths, or Covenants, whereby to compell by penalties or otherwise any person to any thing in or about matters of faith, Religion or Gods worship or to restrain any person from the profession of his faith 48 ). XXV. That it shal not be in their power, to continue or make a law, for any other way of Judgements, or Conviction of life, limb, liberty, or estate, but onely by twelve sworn men of the Neighbour-hood; to be chosen in some free way by the people 49 ). XXVII. That it shal not be in their power to impose any publike officer upon any Counties, Hundreds, Cities, Towns or Borroughs; but the people capable by this Agreement to chuse Representatives, shall chuse all their publike Officers that are in any kinde to administer the Law for their respective places,
45
) Darauf scheinen die ambivalenten Formulierungen abzuzielen: Thomas, The Levellers and the Franchise (wie Anm. 15), 70-78; Manning, English People (wie Anm. 14), 418. 46 ) John Lilburne/William Walwyn u.a., An Agreement of the Free People of England. 1649, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 326 f. 47 ) In weniger expliziter Weise übertrugen die Buckinghamshire Levellers das Wahlrecht „all the well-affected in generali und nicht mehr nur den Patentee Burgesses und freeholders": Light Shining (wie Anm. 38), 621-622. 48 ) Punkt 2 der „Humble Petition [...] of the County of Surrey", in: The Moderate 28 (1649), 264, unterstreicht die Wichtigkeit dieser Forderung. 49 ) Ähnlich: More Light Shining (wie Anm. 38), 638.
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for one whole yeer, and no longer, and so from yeer to yeer; and this as an especial means to avoyd Factions, and Parties 50 ). XXVIII. That the next, and all future [parliaments] shall exactly keep the publike Faith, and give ful satisfaction, for all securities, debts, arrears or damages, (justly chargeable) out of the publike Treasury" 51 )Viele dieser Forderungen waren nicht neu und die Levellers nicht unbedingt ihre einzigen Vertreter. So zirkulierten schon im 13. Jahrhundert Ideen über eine Periodisierung der parlamentarischen Vertretung, und auch die Unzufriedenheit mit dem unverständlichen law french hatte eine lange Vorgeschichte 52 ). Die Originalität der Bewegung liegt vielmehr in der Kombination und Kohärenz der verschiedenen Postulate, die auf die Bedürfnisse und politischen Erfahrungen des middling sort zugeschnitten waren. Trotz der entsprechenden gegnerischen Propaganda ging es explizit nicht um eine gleichmäßige Vermögensverteilung im Sinne der proto-kommunistischen Diggers53). Für die Levellers stand die Schaffung einer von Privilegien und Monopolen geschützten „society of secure and independent small producers" im Vordergrand. Richard Overton etwa garantierte jedermann „the fruit of his own labour, industry, and sweat of his brow [as] his own naturall right, and property". Staatliche Instanzen haben den Arbeitsertrag zu schützen, doch soll dieser die Auskömmlichkeit nicht unbotmäßig übersteigen: allzu reiche Mitbürger konnten von den Levellers keine Sympathien erwarten 54 ). Auf die Einzelheiten der politischen Auseinandersetzungen kann hier nicht eingegangen werden, aber mit ihrem Programm setzten sich die Levellers zwischen alle Stühle: die Royalisten konnten mit der Entmachtung von König und Oberhaus nicht einverstanden sein, die anfänglich das Parlament dominierenden Presbyterianer traten für eine calvinistisch geprägte Staatskirche ein 55 ),
50
) „That the Commissioners of the Militia, the Deputy Lieutenants, Sheriffs, Justices of the Peace [ . . . ] may be chosen by the well-affected inhabitants t h e r e o f : Humble Petition of the County of Surrey (wie Anm. 48), 264. Artikel X X I V des 3. „Agreement" weist auch das Pfarrerwahlrecht den Pfarrgenossen des jeweiligen Sprengeis zu. 51 ) „No person whatsoever be permitted to exercise any Power or Authority in this Nation, w h o shal not [ . . . ] be always accountable for the discharge of his trust, to the People in their Representers": The earnest Petition of many Free-born People. 1648, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 108. 52 ) Christopher Hill, The Norman Yoke, in: ders., Puritanism and Revolution. London 1 9 5 8 , 5 0 - 1 2 2 , hier 5 8 - 6 0 . 53 ) Das Parlament sei nicht ermächtigt „to level men's estates": Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 327. Walwyn allerdings scheint die kommunistischen Ideale, wenigstens in der Form eines Naturzustandes, weniger deutlich abgelehnt zu haben: Wilhelm Schenk, The Concern for Social Justice in the Puritan Revolution. London 1948, 53. 54 ) Morton, Ranters (wie Anm. 7), 179 (small producers); ähnlich Hill, Norman Yoke (wie Anm. 52), 75. Overton, A Defiance against all Arbitrary Usurpations. 1646, 5; der Haß auf die Reichen: Manning, Levellers and Religion (wie Anm. 8), 77. 55 ) Vgl. etwa die parlamentarische „Ordinance for the speedy Dividing of [...] Counties
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die die Armee und damit allmählich auch das politische Leben beherrschenden Independenten Cromwells sperrten sich gegen eine (ihrer Meinung nach eigentumsgefährdende) Abschaffung des Zensus 56 ), und die Sektenpolitiker hofften nicht auf Volkssouveränität, sondern auf die Herrschaft der Auserwählten 57 ). Inwiefern läßt sich nun dieser Katalog in einen kommunalen Erfahrungshorizont stellen? Im wesentlichen drängen sich zwei Untersuchungsgebiete auf: zunächst die von der Forschung breit diskutierten Bezüge zu den separatistischen Sektengemeinden und in einem zweiten Schritt die bisher nur summarisch abgehandelten Verbindungslinien zur weltlichen Lokalverwaltung 58 ).
2. Glaubensbekenntnis und politische Haltung In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die Zersplitterung des konfessionellen Spektrums nach der Reformation hinzuweisen. Die Erfahrung von kontinentalem Exil zur Zeit der Ketzerverfolgungen Marias I. resultierte für den radikalen calvinistischen Flügel in einer hohen Erwartungshaltung in Bezug auf die zukünftige Gestaltung der englischen Kirche 59 ). Der von der elisabethanischen Gesetzgebung seit 1559 beschrittene Mittelweg enttäuschte diese Hoffnungen, und obschon sich der anglikanische Kompromiß um etwa 1580 bei der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt hatte, zeigten andauernde Kontroversen um die liturgischen Gewänder oder die Gottesdienstgestaltung, daß es sich keinesfalls um einen unangefochtenen Konsens handelte 60 ). Besonders umstritten war die Form der Kirchenorganisation. Bereits in seinen 1570 gehaltenen Cambridger Vorlesungen plädierte Thomas Cartwright into classical Presbyteries" (29. Jan. 1648), in: Charles Firth/Robert Rait (Hrsg.), Acts and Ordinances of the Interregnum. London 1911, i. 1062f. 56 ) Dies der Hauptstreitpunkt in den Putney Debatten vom Oktober 1648 (gedruckt in Arthur Woodhouse [Hrsg.], Puritanism and Liberty. London 1951, 1-124). Der LevellerOberst Rainsborough betonte, daß er keinen Grund sehe „why any man that is born in England ought not to have his voice in election of burgesses" (ebd., 55), während Cromwells Schwiegersohn Ireton warnte, „all the main thing that I speak for, is because I would have an e y e to property [ . . . ] For here is the case of the most fundamental pan of the constitution of the kingdom, which if you take away, you take away all by that" (ebd., 57). 57 ) Ebd., [18], 58 ) Letzteres findet sich bloß bei den sozialistischen Autoren Manning, English People (wie Anm. 14), 406, und Brailsford, Levellers (wie Anm. 14), 253, 321 f., sowie dem kontinentalen Historiker Schenk, Social Justice (wie Anm. 53), 3 3 - 3 4 , 7 8 - 7 9 ; bei allen geht es vor allem um die Dezentralisierungselemente im Leveller-Programm und weniger um die Vorbildfunktion von lokalen Praktiken für die nationale Ebene. 59 ) Die Verfolgung des (Proto-)Protestantismus ist zusammengefaßt in der äußerst einflußreichen Sammlung von John Foxe, Actes and Monuments of the English Church (eine Neuedition unter der Leitung von David Loades ist in Vorbereitung). 6°) William Sheils, The English Reformation 1530-70. London 1989, 3 1 - 6 7 .
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(1535-1603) für einen presbyterianischen Aufbau der englischen Kirche, was ihn in schroffen Gegensatz zum Vizekanzler der Universität John Whitgift (1530-1604) brachte. Whitgifts Works dokumentieren den Schlagabtausch und die wichtigsten Argumente 61 ). Cartwright will das im weltlichen Bereich gültige Prinzip „quod omnes tangit ab omnibus approbari debet" auch auf die Kirche angewendet wissen, wo es noch viel zwingender sei, da es dort ums Seelenheil gehe. Vorwürfe, daß größere Mitspracherechte einfacher Hausvorstände unweigerlich ein Übergreifen von „demokratischen" Elementen auf das weltliche Regierungssystem zur Folge hätten, kontert Cartwright mit der Versicherung, daß es ihm a) nur um die Kirche gehe, und b), daß auch dort aristokratische Kontrolle dem populären Element klare Schranken setze 62 ). Während es hier um die Reform der Gesamtkirche und den Ersatz der Bischöfe durch eine Hierarchie von Synoden ging, sahen sich die radikaleren Protestanten bald mit der Frage konfrontiert, ob es ihre religiöse Überzeugung zuließ, Gottesdienst und Abendmahl gemeinsam mit „Ungläubigen" in der lokalen Pfarrkirche zu zelebrieren, oder ob dies nur in einem exklusiv aus engagierten Mitgliedern bestehenden Konventikel möglich sei 63 ). In der Sektenpraxis führte dann die protestantische Vorstellung des Priesteramtes aller Gläubigen und die spezifisch calvinistische Betonung der Prädestination zu „demokratischen" internen Entscheidungsprozessen und einem hohen Unabhängigkeitsgrad jeder Gemeinde gegen außen (congregationalism) M ). Ähnliche Strukturen entwickelten die Exilkirchen in den Niederlanden, wo der Kongregationsautonomie durch sprachbedingte Isolation und relativ kleine Mitgliederzahlen Tür und Tor geöffnet wurde 65 ). So bildete 1608 der aus Lincolnshire nach Holland emigrierte Prediger John Smyth dort eine Gemeinde, aus der der spätere Gründer der ersten englischen Baptistenkirche, Thomas Helwys, hervorgehen sollte. Die Glaubensbekenntnisse dieser Denomination (die sich bald in zwei Äste teilte: einerseits die in der Tradition der Täufer an einen Opfertod Jesu für alle Menschen glaubenden General Baptists um Helwys, andererseits die Particular Baptists, für die Christus nur für die Auserwählten starb 66 ) zeigen die souveräne Rolle der Gemeinde besonders deutlich:
6') John Ayre (Hrsg.), The Works of John Whitgift. Cambridge 1851, z.B. i. 370-373, 390, 455-456, 463 ff. 62 ) The Second Replie of Thomas Cartwright. 1575. Die Debatte ist analysiert in Andrew Scott Pearson, Church and State. Cambridge 1928. 63 ) Für den Wortlaut eines solchen, am 12. Dezember 1645 in Canterbury geschlossenen „Covenant of Free Grace" siehe Canterbury Cathedral Library and Archives, U 37. 54 ) Der Begriff wird für alle Denominationen verwendet, die ihre Kirchenorganisation auf eine mehr oder weniger starke Gemeindeautonomie gründen, auch wenn zwischen den einzelnen Gruppierungen (etwa den Independenten und Baptisten in der Frage der Taufe) große theologische Unterschiede bestehen. 65 ) Robert Acheson, Radical Puritans in England 1550-1660. London 1990, 11 ff. 66 ) Barrington White, The English Baptists of the Seventeenth Century. London 1983, 7.
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„XXXVI. Being thus joined, every church hath power given them from Christ, for their well-being, to choose among themselves meet persons for pastors, teachers, elders and deacons [...] and that none have any power to impose on them either these or any other [...] XLII. [Christ has] given power to his church to receive in and cast out any number that deserves it; and this power is given to every congregation, and not to one particular person, either member or officer" 67 ). Eine entscheidende Zuspitzung der religiösen Auseinandersetzungen in England bewirkte der ab 1633 amtierende Erzbischof William Laud. Ausgehend - im Gegensatz zur vorherrschenden Doktrin der Prädestination - von einer universellen Erlösungstat Christi (Arminianism) und vom Vorrang von Sakramenten vor Schrift und Predigt, sollte die „beauty of holiness" in den Pfarrkirchen physisch ausgedrückt werden. Lauds Instruktionen zielten unter anderem auf eine zentralere Plazierung und durch Gitterstäbe markierte Abgrenzung der Altäre, was für viele an schlichte Kommunionstische gewohnte Puritaner unakzeptabel war. Verlangt wurde zudem ein Knien beim Empfang des Abendmahles, was einer impliziten Anerkennung der Realpräsenz gleichkam. Diese Vereinheitlichungsbestrebungen veranlaßten manchen überzeugten Calvinisten, sich definitiv aus der lokalen Pfarrei zu verabschieden. Laud war zu weit gegangen: im 1640 nach langer Pause wieder einberufenen Parlament fand sich 1645 eine Mehrheit sowohl für die Abschaffung der Bischofshierarchie wie auch für die Hinrichtung des verhaßten Erzbischofs 68 ). Dies geschah allerdings nicht ohne militärische Konfrontation und intensive publizistische Debatte: Die Frage nach der richtigen Mischung zwischen den Rechten des Kirchenvolkes und der Autorität der Amtsträger wurde nach Brian Manning zum wichtigsten kirchlichen Streitpunkt im Bürgerkrieg 69 ). Lord Brookes A Discourse Opening the Nature of That Episcopacie, which is Exercised in England (1641) kann als Schlüsseltext gelten. Hier wurde der Klerus erstmals einer fundamentalen rationalen Kritik unterzogen, und daraus das Fazit gewonnen, daß es der Geistlichkeit nur um die Erhaltung ihrer Macht und Privilegien gehe 70 ). Konkret warf Brooke den Bischöfen päpstlich-autokratische Tendenzen vor, während die Schrift doch eher auf die Rechte des Kirchenvolkes verweise. Außerdem brach er eine Lanze für die Unabhängig67
) A Confession of Faith of seven Congregations or Churches of Christ in London, which are commonly (though unjustly) called anabaptist [particular Baptists], 1646, in: Edward Underhill (Hrsg.), Confessions of Faith Illustrative of the History of the Baptist Churches in England. London 1854,40-42. 68 ) Hirst, Authority and Conflict (wie Anm. 42), 160 ff; Acheson, Radical Puritans (wie Anm. 65), 28 ff. 69 ) Brian Manning, Puritanism and Democracy, 1640-2, in: Donald Pennington/Keith Thomas (Hrsg.), Puritans and Revolutionaries. Oxford 1978, 152 f. 70 ) Gedruckt in: Haller, Tracts on Liberty (wie Anm. 26), ii. [35]—[ 163]. Die Wertung ebd., i. 20-22.
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keit der einzelnen Kongregationen und die Notwendigkeit von Toleranz gegenüber Andersdenkenden, weil ja niemand die ganze Wahrheit für sich beanspruchen könne 71 )Die Gegenpositionen der anglikanischen Partei vertrat Sir Thomas Aston zur gleichen Zeit in A Survey of Presbyterie und A Briefe Review ofEpiscopacie. In ersterer wird vor den dunklen Konsequenzen des Presbyterianismus gewarnt (an die Stelle von 26 Bischöfen würden in den 9324 Pfarreien potentielle „Presbyter-Päpste" treten), und mit historischen Belegen argumentiert, daß ein Körper nur einem Kopf unterstehen könne (deshalb sei „Episcopacie most agreeable with a Monarchie"). Als abschreckendes Beispiel wird auf die Zustände in der Schweiz und den Niederlanden verwiesen. Die Review hingegen betont die seit der Apostelzeit praktizierte Sukzession der Bischöfe, ihre Bollwerkfunktion gegen Schismata und die Notwendigkeit ihrer Wahl durch qualifizierte Instanzen (da es zuviele Kandidaten gebe „whose abilities the common people cannot judge") 72 ). Die Frontstellungen wurden aber immer komplizierter, da sich innerhalb des Puritanismus nach dem Wegfall des im Bürgerkrieg von 1642-1646 besiegten Gegners die Fragmentierungstendenzen und inneren Konflikte verstärkten. Zum eigentlichen „philosopher of independency" entwickelte sich der seit 1633 in Neuengland tätige John Cotton (1584-1652) 73 ). Sein in ekklesiologischer Hinsicht wegweisendes The Keyes of the Kingdom of Heaven (1644) wurde in England von den Kongregationalisten Thomas Goodwin und Philip Nye publiziert. In ihrer einleitenden Epistle reflektieren die beiden über die bestmögliche Machtverteilung zwischen Kirchenhierarchie und Basis und schlagen (erneut in Anlehnung an das weltliche System) vor, daß „the finall judgement [may] be a sutable and due proportioned distribution and dispersion of this power into severall interests, and the whole to neither part". Cottons Modell liefere nun eine solche Lösung, indem den Ältesten „rule and authority" und den Brethren ein „interest" zugestanden würde. Darüber stünden Synoden mit Beratungs- und Schlichtungs-, aber keinen Exkommunikationskompetenzen. Dies erlaube einen Mittelweg zwischen zu autonomem Separatismus und der strengen Synodenhierarchie des Presbyterianismus, sowie zwischen Tyrannei und Volksherrschaft 74 ). Die Vorteile der lokalen Ebene, etwa in der Beurteilung und Ahndung von Vergehen, lägen auf der Hand: „there is [...] the speciall advantage of an exact knowledge of the
71) Teil I, Kap. 3, 4, 9, 10; Teil II, Kap. 1-5, 7. 72 ) Enthalten in „A Remonstrance against Presbytery". 1641: Survey, Sektionen 4, 5, 9; Review, Sektionen 1-4, 16. 73 ) Manning, Puritanism and Democracy (wie Anm. 69), 156. 74 ) Epistle; Keyes, Kap. IV („liberties" der brethren: Wahl der Amtsträger, Neuaufnahmen, Beteiligung an Gerichtsbarkeit) und V („authority" der eiders: Predigt, Ordination, Einberufen von Versammlungen).
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fact"; höhere Instanzen dagegen seien „abstracted from the people [and] in a further distance [from] the Fact and frame of spirit in the person transgressing" 75 ). Wie sehen die verschiedenen Gemeindemodelle nun aber im Vergleich aus? Ein offensichtlicher Ansatzpunkt dafür ist die Quellengattung der Glaubensbekenntnisse. Hier wird in prägnanter Form (und in bewußter Selbstdarstellung) zusammengefaßt, was die Anhänger einer bestimmten Konfession verbindet bzw. von anderen Denominationen trennt. Tabelle 1 vergleicht deshalb Ausschnitte aus den jeweiligen Dokumenten der Presbyterianer, Independenten und Baptisten. Speziell beleuchtet werden die Gemeinderechte bei Wahlen und Disziplinarverfahren, die Position innerhalb der Kirchenhierarchie und die Beziehung zu weltlichen Instanzen, um sie anschließend mit den von diesen Gruppen vertretenen politischen Lösungsvorschlägen vergleichen zu können. 1. The Westminster Confession of Faith und The Form of Presbyterial Church Government (1646) Diese beiden Dokumente repräsentieren den presbyterianischen Standpunkt 76 ). Das Parlament erließ wiederholt entsprechende Anweisungen für das ganze Land, doch erwies sich die lokale Verwurzelung des anglikanischen Ritus als überraschend stark. In der Praxis kam es statt zu einer strengen Synodenhierarchie zu einer großen Manövrierfreiheit der einzelnen Pfarreien 77 ). 2. The Savoy Declaration of Faith and Order und The Savoy Institution of Churches and the[ir] Order (1658) Obschon erst 1658 entstanden, gibt dieses Bekenntnis den zuverlässigsten Überblick über die (von Cotton beeinflußte) independente Kirchenorganisation 78 ). Zuvor war der Widerstand der „Unabhängigen" gegen eine allgemein bindende Erklärung zu groß gewesen, aber unter dem Eindruck neuer, als gefährlich eingestufter Tendenzen (Quäker) erschien ein gewisser Grad an Koordination unabdingbar 79 ).
75
) Epistle. ) Hrsg. v. Samuel Carruthers. Manchester [c. 1937] (Confession) und [anonym] Edinburgh 1913 (Government). 77 ) Siehe etwa die „Ordinance for the speedy Dividing of [ . . . ] Counties into classical Presbyteries" (29. Jan. 1648), in: Firth/Rait, Acts and Ordinances of the Interregnum (wie Anm. 55), i. 1062 f. Für den mangelnden praktischen Erfolg Acheson, Radical Puritans (wie Anm. 65), 49; die Anweisungen des Parlaments „were not only largely ignored, but actively resisted": John Morrill, The Church in England, 1642-9, in: ders. (Hrsg.), Reactions to the English Civil War. London 1982, 8 9 - 1 1 4 , hier 90. 78 ) Hrsg. v. Arnold Matthews. London 1959. 79 ) Siehe die Einleitung zu ebd. Cromwells Regierungszeit war allerdings durch die Koexistenz von verschiedenen (protestantischen) Organisationsformen geprägt: Claire Cross, 76
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Tabelle 1: Die Stellung der G e m e i n d e in puritanischen Glaubensbekenntnissen 1 ) 1. Presbyterianer
2. Independents
Position der Gemeinde in der Kirchenhierarchie
Gibt Pyramide von congregations, classical und synodal assemblies mit aufsteigender Autorität
Gottesdienst und Diszi- Gemeinden sind plin lokal geregelt; keine „distinct bodies yet [...] walk by the same rule" (1644) Synoden (oder nur beratend)
Einfluß auf Wahl der Geistlichen
People können Kandidaten nominieren, ablehnen und testen; Examen & Ordination aber durch Älteste bzw. classis
Bestellung zu allen Kirchenämtem „by common suffrage of the Church itself (incl. pastors/ teachers)
Unterhalt der Pastoren
[Zehnt wird nicht abgeschafft]
„Public maintenance", also eine Art obligatorischer Beitrag
Einfluß auf Wahl der Ältesten
Pastoren und mündige Mitglieder (die den National Covenant beschworen haben und Familienoberhäupter sind) bei der Konstitution, danach Kooptation und nur noch Konsensrecht 2 )
Rechenschaftspflicht der Amtsträger
„Scandalous eiders" können angezeigt und diszipliniert werden 2 )
Einfluß auf die kirchliche Gerichtsbarkeit
„Officers" (also Pastoren und Älteste) ermahnen und exkommunizieren; Gemeinde hat Konsens-/Vetorecht 3 ) Magistrat kann Synoden Verhältnis zu einberufen; Weltliches weltlichen Regiment ist gottInstanzen gegeben, ihm gebührt Gehorsam; es soll aktiv Frieden und Einheit der Kirche fördern.
„Every Church has power [...] to choose to Themselves meet persons into the office of Pastors, Teachers" (1644) ( 1679 präzisiert: „by common suffrage")
„Due maintenance [by] free and voluntary communication by the church" (1644) Alle Ämter besetzt durch „Every Church has power [...] to choose to themselves meet „common suffrage" persons [as] Elders, Deacons" (incl. elders, deacons) (1644); 1679: „by common suffrage of the particular congregation"
[Nicht explizit]
[Nicht explizit]
Zuerst private Ermahnung, dann Aufforderung durch Älteste, Kongregation sanktioniert Exkommunikation
Mitglieder wachen übereinander; Gemeinde bestimmt Neuaufnahmen und Exkommunikationen. (1644)
Weniger starke Verbindung: Magistrat schafft günstigen Rahmen & mischt sich nicht in Doktrin; Kirche greift dafür nicht auf weltl. Domäne über, wo der Obrigkeit Gehorsam gebührt 4 )
Weltl. Regiment gottgewollt („King in Parliament freely chosen by the Kingdom"); ihm gebührt Gehorsam „in lawfull things"; Staat schützt vor Verfolgung und rei. Zwang (1644); 1651: Regiment („if determined in just parliamentary way") akzeptiert
') Quellenverweise: Anm. 76-80. ) Parlaments-Ordinances vom 19.8.1645 und 29.1.1648. 3 ) Manning, Puritanism and Democracy (wie Anm. 69), 148. W. Selbie, Congregationalism. London 1927, 72.
2
3. & 4. Particular / General Baptists
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3. The Confession of Faith, Ofthose Churches which are commonly (though falsly) called Anabaptists (1644) 4. The Faith and Practise of thirty Congregations (1651) und An orthodox Creed (1679) Nummer 3 ist das Bekenntnis von sieben Londoner Kongregationen der Particular oder Calvinist Baptists, mitverfaßt von den Leveller-nahen William Kiffin und Samuel Richardson, und Nummer 4 sind zwei einander ergänzende Konfessionen der General Baptists80). In einer entsprechenden Aufstellung für die anglikanische Kirche würde die (territorial definierte) Pfarrei als unterste Einheit in einem von Dekanen, Archidiakonen, (Erz-)Bischöfen und - für weltliche Angelegenheiten - dem Monarchen gebildeten Pyramidensystem erscheinen. Einfluß auf die Wahl der Geistlichen ergab sich nur bei der seltenen Erwerbung des Patronatsrechts durch die Gemeinde, während immerhin eine Mitsprache bei der Bestellung der weltlichen Laienämter (Kirchenpfleger) existierte. Letztere nur hatten der Pfarrei Rechenschaft abzulegen. Die kirchliche Gerichtsbarkeit hingegen konnte bloß mittels Anzeigen beeinflußt werden; die Urteilsfindung befand sich außerhalb kommunalen Zugriffs 81 )Im Vergleich dazu sind alle in Tabelle 1 erfaßten Positionen explizit bibelinspiriert, laienfreundlicher und frei von bischöflichem Einfluß. Überall gibt es ein gewisses Mitspracherecht der Gemeinden bei der Ämterbestellung und Kirchendisziplin sowie eine Akzeptanz der Notwendigkeit von weltlichem Regiment. Ein Überblick über die verschiedenen ekklesiologischen Positionen läßt aber eine (von 1. bis zu 3./4. sich intensivierende) Tendenz weg von Zentralisation und Aristokratie hin zu einer nur lose verbundenen Assoziation von selbstregulierenden Kongregationen erkennen. Ein Presbyterianer wie Cartwright - um einen seiner Kritiker zu zitieren - „by snatches here and there doth so powder his matters, that in effect he giveth them [the people] onely an empty bottle to play with" 82 ). Die Sekten hingegen betonen die Autarkie und demokratische Meinungsfindung der saints. Außerdem gibt das presbyterianische Modell dem Staat viel direkteren und stärkeren Einfluß im kirchlichen Bereich, während die anderen Denominationen sich von ihm lediglich die Schaffung friedlicher Rahmenbedingungen und die Toleranz aller „christ-
The Church in England 1646-60, in: Gerald Aylmer (Hrsg.), The Interregnum. London 1972, 9 9 - 1 2 0 . 80 ) Die Entstehungsumstände der Baptisten-Konfessionen schildert William Lumpkin (Hrsg.), Baptist Confessions of Faith. 5. Aufl. Valley Forge 1983, 153-171, 2 9 7 - 3 3 4 . 81 ) Den besten Überblick über das englische Kirchenrecht verschaffen die Sammlungen von Edmund Gibson (Hrsg.), Codex iuris ecclesiastici anglicani. Oxford 1761, und William Lyndwood (Hrsg.), Provinciale. Oxford 1679. 82 ) Richard Bancroft, A Survay of the Pretended Holy Discipline. 1593, 346.
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liehen" Ansichten erhoffen. Im von Brian Manning vorgenommenen direkten Vergleich der Gemeindepram von Presbyterianern und Independenten zeigen sich Gemeinsamkeiten, so etwa in der aristokratischen Grundtendenz, wie auch klare Unterschiede, besonders im Ausmaß der verbrieften Gemeindekompetenzen und der Einflußmöglichkeiten außenstehender Instanzen 83 ). Die kompromißlose Lokalisierung der Souveränität an der Basis und die Theologie der Erwachsenentaufe setzten die Baptisten dagegen deutlich von den beiden puritanischen Hauptgruppierungen ab. Nun wird oft darauf hingewiesen, daß es enge Verbindungen zwischen den separatistischen Sekten und den Levellers gab 84 ). Zu nennen sind zunächst die zahlreichen personellen Bezüge: Richard Overton zum Beispiel war in seiner Jugend Mitglied einer holländischen Täufergemeinde. Unter den General Baptists können der Pastor von Old Jewry, London, Jeremiah Ives (Verfasser von Traktaten), der Seifenmacher Thomas Lambe (Hauptorganisator der Londoner Baptisten, von dessen Techniken sich die Levellers maßgeblich beeinflussen ließen 85 ), sowie die Prediger Samuel Oates, Henry Denne oder Edward Barber genannt werden 86 ). Oates half bei der Verteilung des ersten Agreements, Denne entging nach der Meuterei von 1649 nur knapp der Todesstrafe, und Barber veröffentlichte im selben Jahr ein pro-Leveller-Traktat. Darin vergleicht er die Situation der Autoren des Agreement mit der Mission Moses, der von den verblendeten Kindern Israels auch nicht verstanden worden sei 87 ). Unter den Particular Baptists stechen zwei Namen besonders hervor: William Kiffin und Samuel Richardson. Richardson war ein Mitautor des Glaubensbekenntnisses von 1644 und versuchte 1649, die Leveller-Führer zu einer Versöhnung mit dem Regime der Independenten zu bewegen 88 ). Kiffin, ebenfalls beteiligt an der Konfession von 1644, war ein alter Freund Lilburnes, dem er einst als Lehrling gedient hatte 89 ). Aber auch unter den Independenten fanden sich Anhänger: John Goodwin, ehemals Pfarrer von St Stephen Coleman Street, London, dann Gründer einer unabhängigen Kongregation, war ein Freund Lilburnes und (zumindest zeitweise) ein Vertreter seiner politischen Positionen 90 ). Samuel Chidley, der sowohl Kiffin wie Lilburne persönlich
83
) Manning, Puritanism and Democracy (wie Anm. 69), 149 ff. ) „A Baptist apprenticeship was often an important stage in the making of a radical": McGregor/Reay, Radical Religion (wie Anm. 8), vii. 85 ) J. McGregor, Baptists, in: McGregor/Reay, Radical Religion (wie Anm. 8), 51; dazu gehören Massenversammlungen und flexible Mitgliedschaftsbestimmungen: Murray Tolmie, The Triumph of the Saints. Cambridge 1977, 151. 86 ) White, English Baptists (wie Anm. 66), 55. 87 ) Edward Barber, An Answer to the Essex Watchmens Watchword. 1649, 1 , 8 - 1 0 , 12. 88 ) Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 22. 89 ) Ebd., 6; vgl. Lilburne, Legall Fundamentall Liberties. 1649, in: ebd., 401 f. 90 ) Ebd., 6. 84
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kannte, war ein radikaler Gegner der Staatskirche und Mitglied einer separatistischen Gemeinde in London. 91 ). Diese Verbindungen fielen natürlich auch den Zeitgenossen auf: So beklagten sich die mit radikalen Positionen sympathisierenden Soldaten oft, daß sie in undankbarer Weise als „sectaries and men of corrupt Judgements" verschrieen würden. Lilburne, Overton und Prince ihrerseits gaben zu, daß man sie als „Atheists, Hereticks, and seditious Sectaries" bezeichne 92 ). Das kam nicht von ungefähr: Lilburne war bereits 1638 als Autoreines bischofsfeindlichen Traktats hervorgetreten, nachdem ihn die zum Teil geistlichen Richter der Sternkammer wegen Veröffentlichung unlizenzierter Pamphlete hatten verhaften lassen 93 ). An anderer Stelle zählt er John Foxes Martyrologie Acts and Monuments, Luther, Calvin, Beza, Thomas Cartwright und andere protestantische Standardwerke zu seinen frühen Einflüssen 94 ). Schon 1639 folgte Come out of her, my people, or: [...] a just Apologie for the Way of Totall Separation, und im Nachwort zu The Freemans Freedome Vindicated (1646) entwickelte Lilburne die biblische Grundlage aller Macht und Autorität. Gott habe die Menschen nach seinem Vorbild geschaffen und ihnen eine „rationall soule" mitgegeben. Von Adam abstammend, seien alle ursprünglich gleich, und Herrschaft über Mitmenschen könne nur auf der Basis freien Konsenses ausgeübt werden. Deshalb sei es „wicked and unjust" für weltliche wie kirchliche Instanzen, Macht ohne explizite Zustimmung der Betroffenen an sich zu reißen, und wer es trotzdem tue, maße sich in fataler Weise göttlichen Status an. Dies muß auf den ersten Blick als Hinweis auf eine religiöse Herkunft politischer Ansichten erscheinen, um so mehr als Lilburnes Nachwort zu London's Liberty in Chains (1646) noch einmal in dieselbe Kerbe schlug 95 ). Wie steht es aber mit der Parallelisierbarkeit von konfessioneller Zugehörigkeit und konkreten politischen Vorstellungen? Erklären sich die Verfassungsdokumente der Levellers (sowie der parlamentarischen Presbyterianer und Independenten) primär aus ihren kirchlichen Erfahrungen? Tabelle 2 analysiert die entsprechenden Schlüsseldokumente: 1. The Propositions of the Houses sent to the King at Newcastle (Juli 1646): die Vorstellungen der presbyterianisch dominierten Parlamentshäuser, verfaßt zum Zeitpunkt, als der König sich den Schotten ergeben hatte 96 ). 2. The Heads of the Proposals agreed upon by [...] the Council of the Army 91
) Gentles, London Levellers (wie Anm. 33), 281-309. ) Humble Petition (wie Anm. 43), Art. 26; Second Part of Englands New Chains Discovered. 1649, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 173. 93 ) A WorkeoftheBeast, 1,9-10, 14-15, 17. 94 ) Lilburne, Legall Fundamentall Liberties (wie Anm. 89), 404. 95 )Aylmer, Levellers (wie Anm. 12), 71-74. % ) Gardiner, Constitutional Documents (wie Anm. 32), 290-306. 92
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Tabelle 2: Verfassungs- und Reformvorstellungen der Presbyterianer, Independenten und Levellers 1. Propositions
2. Heads
3. Petition
HoC + HoL (Zustimmung des K nicht notwendig)
HoC + HoL (K restauriert in nichtsouveräner Rolle) Ja (alle 2 Jahre)
HoC (im Agreement präzisiert: „inferior only to those who chuse them")
Council of State 7 Jahre
Richter 3 Jahre; Grafschaftsbeamte 1 Jahr
Kooperation des K fakultativ
Keine HoL Jurisdiktion über Commons
hohe Beamte im Amt „quam die se bene gesserint"
Staatsräte „si bene se gesserint"; Rechenschaft über Steuern
Wahlkreise; Wahlberechtigung
[wohl unverändert: 40s .freeholders)
Direkte Wahl
[MPs]
Indirekte Wahl
Armee-Offiziere und hohe Staatsbeamte via MPs
MP-Verteilung nach Steuerkraft des county; (Steuerzahler-Zensus in Offizier-Agreement) MPs, Grand Jury (neu) JPs, Sheriff via Grand Jury Staatsräte und Beamte via Parlament (K wählt aus 3 Nominationen)
für Gerichte (Agreement: „native Rights of people") „any power [...] be always accountable"; Offenlegung der Staatsfinanzen MP-Verteilung nach Bevölkerungszahl 21+ (keine Dienstbaren, Bettler, Kriminellen)
Steuerhoheit
HoC + HoL
HoC + HoL
„common consent in Parliament"
Gerichtsreform
-
klarere, billigere und kürzere Verfahren
Wirtschaftsreform
-
Akzise eingeschränkt; Monopole + Handelshemmnisse 1; faire Steuern
Gesetz in Englisch; Justizopfer-Entschädigung; klare Kompetenzen; Richtersaläre statt „fees"; (Agreement II: lokale, juries") Akzise 1; besitzorientierte Steuern t ; Monopole i
Kirchenreform
Bf und CoE Amtsträger i Covenant = Staatsreligion; anti-katholischer Eid Sonntagsheiligung
Bf, PB, und covenant -I; Pfarreibesuchszwang i ; alternative Glauben Î ; Zehnt „considered"
PB I ; „nothing be imposed upon the consciences"; kein Eideszwang Zehnt i (Humble Petition)
„rights and liberties of the kingdom"
„birth-right"; Magna Chart Cook, Institutes of Laws
Souveränität
Periodizität des Parlaments Amtszeitbeschränkung Kompetenzbeschränkung Rechenschaftspflicht
Legitimation
(Agreement: jedes Jahr)
MPs (Agreement II: juries) Pfarreivertreter JPs, Sheriff, County Courts, Grafschafts-Buchprüfer via Pfarreivertreter
Legende: Bf: Bischof; CoE: Church of England; HoC: House of Commons; HoL: House of Lords; JP: Justices of the Peace; K: König; MPs: Members of Parliament; PB: Prayer Book; t : Einführung; -l: Abschaffung; [ ]: nicht explizit, aber wahrscheinlich
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(August 1647): die Vorschläge des von Ireton und den Independents kontrollierten Armeerates 97 ). 3. The earnest Petition of many free-born People of this Nation (Januar 1648): eine der detailreichsten Leveller-Petitionen ergänzt durch die drei Versionen des Agreement of the People 1647—4998). Im Vergleich der Spalten 1 bis 3 lassen die Forderungen (ähnlich wie in der „konfessionellen" Tabelle 1) wiederum eine Tendenz weg von Zentralismus und Aristokratie hin zu breiter Beteiligung und lokaler Kontrolle erkennen 99 ). Auf Ähnlichkeiten zwischen radikaler Sektenpraxis und Leveller-Programm wird denn auch immer wieder verwiesen: „England was to become a gathered nation, with a covenant, An Agreement of the People, which was to be signed by all" 100 ). Parallelen sind tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, so etwa zwischen Hausvorstände-Wahlrecht in Kongregation und Staat, kommunalem Einfluß auf kirchliche und weltliche Gerichtsbarkeit, Souveränität der Basis oder Muttersprache für Bibel und Gesetz. Als Gemeinsamkeit muß auch die Betonung des voluntaristischen Elementes auffallen. Mit der für den englischen Puritanismus so charakteristischen Intensivierung von Predigtbesuch und Bibellektüre öffnete sich im Vergleich zum Kontinent „a dimension of autonomous and voluntary religion which was the outstanding feature of the English Church in this period" 101 ). Ohne diese Verstärkung von individueller Entscheidungskompetenz und protestantischer Identität wäre die Bereitschaft zur gewaltsamen Konfrontation mit einem sich absolutistisch und „popish" gebärdenden König nur schwer denkbar gewesen. Nach der Erfahrung von freiwillig eingegangenen Bindungen im kirchlichen Bereich konnte im Staat „government without consent" als unerträgliche „bondage" empfunden werden 102 ). Die Einführung der Republik erscheint zwar nicht als explizites Ziel, aber doch als eine dem Geist der Leveller-Forderungen inhärente Entwicklung 103 ). Damit erinnert die englische Revolutionszeit an das emanzipatorische Potential christlicher Reformbewegungen, wie es schon in den Hussitenaufständen und im deutschen Bauernkrieg zu Tage getreten war 104 ). 97
) Ebd., 3 1 6 - 3 2 6 . ) Die Petition erscheint in „A Declaration of some Proceedings", in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 8 8 - 1 3 4 ; für die verschiedenen „Agreement" Versionen siehe Anm. 43. " ) Die „Heads" etwa sahen eine mächtigere Exekutive vor als die „Petition" und hätten das Parlament nur unwesentlich stärkerer Basiskontrolle unterworfen als bisher: Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 25. I0 °) Morton, Ranters (wie Anm. 7), 14. Erst im Verlaufe der Revolution sei es zu einer „steady secularization of thought" gekommen (ebd., 16). 101 ) Patrick Collinson, The Religion of Protestants. Oxford 1982, 247. 102 ) So formuliert vom radikalen Geistlichen Jeremiah Borroughes, The Glorious Name of God. London 1643, 94. 103 ) Schröder, Problem der Republik (wie Anm. 4), 469. 104) Ferdinand Seibt, Die hussitische Revolution, in: ders., Hussitenstudien. München 1987, 7 9 - 9 6 ; Peter Blickte, Die Revolution von 1525. 3. Aufl. München 1993. 98
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Nun muß aber zwischen verwandten ideologischen Grundprinzipien und konkreter Vorbildsfunktion unterschieden werden. Selbst in religiösen Ausnahmesituationen konnte die kirchliche Praxis nur sehr bedingt als Modell für politische Programme herangezogen werden. 1525 etwa wurde als Rechtfertigung für gesellschaftlichen Wandel zwar immer wieder auf das göttliche Recht verwiesen, doch fußte das den Bauern vorschwebende Organisationskonzept der christlichen Vereinigungen eher auf den profaneren „Fundamenten lokalregionaler Korporationen wie Dorf- und Stadtgemeinden, Gerichten und Landschaften" 105 ). In ähnlicher Weise konnten im 17. Jahrhundert relativ entrückte Ziele wie „Verfassung" und „Republik" mit puritanischen Delegationsprinzipien untermauert werden, die detaillierten Ausführungsbestimmungen aber verrieten auch ganz andere Prioritäten. Vor dem Eintreten eines Handlungszwanges durch die militärische Auseinandersetzung (und noch lange danach) sah etwa die politische Führung der Independenten trotz gemeindefreundlicher Kirchenverfassung keinen Anlaß zu dramatischen Veränderungen des weltlichen Regierungssystems 106 ). Selbst ein so stark in metaphysischen Dimensionen denkender Führer wie Cromwell blieb im Grunde ein Sozialkonservativer. Radikale Pamphletisten übten sich zwar in antimonarchischer Rhetorik 107 ), doch versuchten Parlaments- und Armeespitze immer wieder, sich mit dem König zu arrangieren 108 ). Die meisten Zeitgenossen sahen Kirche und Staat als zwei zwar verbundene, aber doch strukturell sehr unterschiedliche Gebilde. Im Falle der Presbyterianer und Independenten trifft man eher auf die Anwendung von weltlichen Modellen auf den kirchlichen Bereich als umgekehrt; in beiden Sphären sei keine Basisdemokratie anzustreben, sondern ein aristokratisches System 109 ). Die meisten Meinungsführer entstammten der Gentry, und solange sich der König nicht allzu autokratisch aufführte, hatten sie kein Interesse daran, die existierenden Vefassungsstrukturen und damit ihre Dominanz auf den politisch entscheidenden Ebenen von Grafschaft und Parlament zu gefährden. Auch als die verfahrene politische Situation 1649 die Elimination der monarchischen Staatsspitze praktisch erzwang, sollte keine grundlegende Änderung des Unterbaus folgen. Es waren vielmehr die Royalisten, die auf potentielle weltliche Konsequenzen der puritanischen Anliegen aufmerksam machten, weil sie wußten, in welche Verlegenheit sie ihre Widersacher bringen konnten. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. Ebd., 158. 106) Vgl e ( w a ¿ig Betonung des „interest" aller brethren in Cotton, Keys (wie Anm. 74), mit Cromwells in Putney geäußerter Warnung „for where is there any bound or limit set if you take away this limit that men that have no interest [d.h. Besitz] but the interest of breathing shall have no voice in elections?": Woodhouse, Puritanism (wie Anm. 56), 59. 107 ) Borroughes, Glorious Name of God (wie Anm. 102), 27, 31, etwa spricht vom legitimen Verteidigungskrieg gegen den König. 108 ) Von Greyerz, Jahrhundert der Revolutionen (wie Anm. 11), 186. 109 ) Manning, Puritanism and Democracy (wie Anm. 69), 151, 153.
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Sir Thomas Aston war überzeugt, „that under pretext of Reforming the Church, the true aime of suche spirits is to shake off the yoke of all obedience, either to Ecclesiasticall, Civill, Common, Statute, or the Customarie Lawes of the Kingdome, and to introduce a meere Arbitrary Government" 110 ). Griffith Williams stieß in dasselbe Horn, wenn er bereits auf der Titelseite die Ziele des Parlaments wie folgt zusammenfaßte: „to overthrow the established Religion, and the well setled Government of this glorious Church [...] and also, to subvert the fundamentall Lawes of this famous Kingdome". Letztlich, so bilanzierte er, gehe es doch darum, „to make the Government of this Kingdom popular" 111 ). Das war zwar taktisch geschickt, aber keinesfalls eine faire Einschätzung der presbyterianischen und independenten Absichten. Im Lager der Levellers können Kirche und Staat aus anderen Gründen nicht direkt verknüpft werden. So waren zwar alle Protagonisten gegen Bischöfe und für eine bibelkonforme Ekklesiologie, aber glaubensmäßig lassen sie sich nicht über einen Leisten schlagen: die wenigen gemeinsamen Äußerungen gehen kaum über ein praktisch verstandenes „doing good"/Nächstenliebe-Christentum hinaus 112 ). Hätten sie sich alle konsequent von ihren jeweiligen konfessionellen Affiliationen leiten lassen, so wäre Lilburne als orthodoxer Calvinist wohl kaum damit einverstanden gewesen, Auserwählte und Verdammte politisch gleichzustellen 113 ). Solche Nivellierungsabsichten könnten schon eher bei den General ßapto/.v-beeinflußten Levellers vermutet werden, die ja von einer Erlösungstat Christi für alle Menschen ausgingen 114 ). Aber auch hier muß auffallen, daß der Glaube an die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen vor Gott nicht unmodifiziert in Verfassungsvorschläge umgesetzt wurde 115 ). Geplant war ja keineswegs, allen Männern (geschweige denn Frauen) dieselben Rechte zuzugestehen. Dazu kam als genereller Unterschied, daß sich politische Gemeinden im Gegensatz zu Sektenkongregationen auf territorialer Basis konstituierten. Für den Entwurf des politischen Programms mußten religiöse Überzeugungen also in den Hintergrund treten, um so mehr als führende Vertreter der Bewegung - wie noch zu zeigen sein wird - ihre Positionen auf ein unzweideutig weltliches Wertesystem zurückführten. Viele politische Forderungen lassen sich denn auch nur schwerlich aus den Glaubensbekenntnissen herleiten: eine zeitliche Beschränkung war dort weder für Pastoren- noch Ältestenamt vorgesehen, die Rechenschaftspflicht (das eigentliche „Kemno
) Remonstrance (wie Anm. 72), Sekt. 1. ) Discovery of Mysteries. 1643, Titelblatt und 107. 112 ) Eine (kurze) gemeinsame Stellungnahme in „A Manifestation" (wie Anm. 3), 281; für das „good Workes"-Verständnis: Manning, Levellers and Religion (wie Anm. 8), 68 f. 113 ) Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 15. 114 ) McGregor, Baptists (wie Anm. 85), 52; ein Beispiel ist der (theologisch allerdings schwierig einzuordnende) William Walwyn: Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 20. 115 ) Davis, Levellers and Christianity (wie Anm. 8), 226, und Zaret, Public Spheres (wie Anm. 27), 222, weisen auf die Absenz konkreter Belege für einen solchen Transfer hin. m
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stück" des Leveller-Katalogs 116 ) eher Gewissensache als unverrückbares Prinzip, und auch für „mittelständische" wirtschaftliche Anliegen wie Wohlfeilheit und Auflösung der Monopole existierten keine unmittelbaren Vorbilder. Die Bewegung konnte aus zwei weiteren Gründen keine „sectarian pressure group" werden 117 ). Einerseits wollten die gemäßigten Täuferführer niemandem einen Anlaß bieten, sie aufgrund der Unterstützung radikal-politischer Forderungen mit ihren militanten Ziehvätern aus Münster vergleichen zu können 118 ). In A Manifestation beklagten sich 1649 die vom Independentenregime inhaftierten Levellerführer, daß „such as we took for Friends, our brethren of severall Churches [...] for whom with truth of affection we have even in the most difficult times done many Services" sie nun verraten hätten 119 ). Overton zeigte sich enttäuscht, daß sich Baptistenführer wie Kiffin und Richardson in einer Petition ans Unterhaus von ihnen distanziert hätten, obschon dies nicht dem Willen der „generality of the People" entspräche 120 ). Zu vermuten ist, daß (nach dem Sieg über die sektenfeindlichen Presbyterianer und dem Aufstieg der toleranteren Independenten) die vor allem auf der Forderung nach Religionsfreiheit beruhende Allianz zwischen Sekten und Levellers zusammenbrach. Für letztere stand das weltlich-politische Wohl des Commonwealth im Vordergrund, während die gemäßigten „saints wished above all things to settle down in the Zion that Cromwell's sword had provided and to contend no longer for aims that went beyond the aspirations of godliness" 121 ). Auf der anderen Seite konnten die Levellers auch den militanten Calvinisten nicht genügen. Jene vertraten - im Einklang mit der Theologie der Prädestination - eine Linie „neither democratic in tendency nor secular in aim" und betonten „not the rights of the people, but the privileges of the Saints" 122 ). In Gruppierungen wie den endzeitlich argumentierenden Fifth Monarchists wurde politische Berechtigung von einer bestimmten religiösen Überzeugung und einer gottgerechten Lebensführung abhängig gemacht. All diese Faktoren scheinen darauf hinzuweisen, daß im Falle der Levellers von einer eher weltlich-pragmatischen Motivation auszugehen ist 123 ). Wie im ersten Abschnitt gesehen, gab es durchaus eine von Religion unabhängige Spielart von national awareness und dazu zahlreiche konkrete Anläße (Steuerwillkür, höfische Korruption, königliche Alleinherrschaft) zur grundsätzlichen Reflektion hergebrachter Verfassungsstrukturen. Für die überwälti116
) Schröder, Problem der Republik (wie Anm. 4), 470. ) Tolmie, Triumph of the Saints (wie Anm. 85), 148. ) McGregor, Baptists (wie Anm. 85), 51. Wie Anm. 3, 282f. 120 ) Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 228-230. >21) Ebd., 21. 122 ) Woodhouse, Puritanism and Liberty (wie Anm. 56), [18]. 123 ) Schröder, Problem der Republik (wie Anm. 4), 481; Manning, Levellers and Religion (wie Anm. 8), 82. 117 U8
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gende Mehrheit der Bevölkerung (und damit der Leveller-Massengefolgschaft) war selbst in dieser kirchenpolitisch äußerst bewegten Zeit die althergebrachte Pfarrei und nicht die separatistische Kongregation der primäre weltliche und kirchliche Referenzpunkt 124 ). Dasselbe gilt für Protagonisten wie John Wildman, der sich sowohl als Diskussionsteilnehmer in Putney wie auch als Traktatschreiber profilierte 125 ). Richard Overton hatte zwar einige Zeit in einer Baptistengemeinde verbracht, sein Arrow Against all Tyrants (1646) verriet aber eher naturrechtliche Impulse: „For by naturall birth, all men are equally and alike borne to like propriety, liberty and freedome" 126 ). Wie im Falle seiner „biblisch" argumentierenden Weggefährten diente dies allerdings mehr als abstrakte Rechtfertigung der Systemkritik denn als detaillierte Anleitung zur Neugestaltung der Verhältnisse. Für letzteres mußte auf konkretere Vorbilder zurückgegriffen werden.
3. Die Modellfunktion der weltlichen Gemeinden Ohne sich allzu stark um empirische Absicherung zu bemühen, hat die Leveller-Forschung gelegentlich vermutet, daß die englischen Gemeinden ihre Angelegenheiten mit „communal responsibility and good neighbourliness" erledigt hätten, und deshalb in der Bürgerkriegszeit „ideas from the local to the national community" übertragen worden seien 127 ). Zur Verifizierung dieser Aussagen müssen allerdings drei Themenbereiche näher untersucht werden: Kann man, erstens, in England von weltlichen kommunalen Strukturen überhaupt sprechen, waren, zweitens, die Levellers davon persönlich geprägt, und läßt sich, drittens, der Transfer von lokalen Prinzipien auf die nationale Ebene empirisch belegen? Die Beantwortung der ersten Frage kann in diesem Rahmen nur kurz skizziert werden 128 ). Generell ist, wie eingangs erwähnt, von mehreren, sich oft überlappenden kommunalen Einheiten auszugehen, deren Situation sich zur frühen Stuartzeit etwa wie folgt zusammenfassen läßt. Mit der seit der Reformation zunehmenden staatlichen Interventionstendenz brach eine wahre Regelungsflut im Armen-, Militär-, Straßen- und Steuerwesen über die Grafschaften und die nun auch weltliche Lokalverwaltungsaufgaben erfüllenden
124 ) Morrill, Church in England 1642-9 (wie Anm. 77), 90, schätzt die maximale Reichweite der Sekten auf 5%. 125 ) Maurice Ashley, John Wildman. London 1947, 11. 126 ) Gedruckt in: Aylmer, Levellers (wie Anm. 12), 68-69. 127 ) Brian Manning in seiner Einleitung zu Davis, Levellers and Christianity (wie Anm. 8), 225; vgl. Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 13, und Brailsford, Leveller Movement (wie Anm. 14), 10. 128) Vgl. dazu Beat Kümin, Parish und Local Government, in diesem Band.
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Pfarreien herein, so daß das 16. und 17. Jahrhundert zweifellos mit den Schlagworten „Increase of Governance" und „Triumph of the Gentry" (aus der die unbezahlten, aber mit immer größeren Kompetenzen ausgestatteten Friedensrichter rekrutiert wurden) charakterisiert werden kann 129 ). Viel hing jedoch von der Energie und Initiative dieser Beamten und den (aus der bäuerlichen Oberschicht stammenden) Geschworenen und High Constables ab 130 ). Zu einer völligen Erosion lokaler Kompetenzen und Einflußmöglichkeiten kam es jedenfalls nicht, um so mehr als die Ausbildung und Effizienz der Beamten natürlich nicht mit modernen Maßstäben gemessen werden kann 131 ). Unbestritten ist zudem die Tatsache, daß in verschiedenen Grafschaften hundred juries überlebt hatten und auch innerhalb der Gemeinden informelle Konfliktlösungsmuster weiterexistierten 132 ). Die von den Levellers geforderte Verstärkung lokal kontrollierter Gerichtsbarkeit entbehrte also keineswegs einer realen Grundlage. Auch sonst darf man in Sachen kommunaler Aktivität im frühneuzeitlichen England nicht allzu schwarz malen. Für London, Hauptbasis der Leveller-Bewegung, ist festgehalten worden, daß die politisch berechtigten freemen keine elitäre Minderheit darstellten, sondern drei Viertel aller Hausvorstände umfaßten 133 ). Die seit der Reformation zu beobachtende Oligarchisierungstendenz in den Pfarreien und wards (den ursprünglich militärische Aufgaben erfüllenden Quartieren) sollte nicht überbetont werden. Das politische System konnte weiterhin „genuinely popular" sein (natürlich - wie in den Leveller-Forderungen - immer abgesehen von Frauen, Dienstbaren oder Lehrlingen) und die zahlreichen Ämter wurden mit „suggestions of consensus politics" vergeben 134 ). Es ist kein Zufall, daß sich die Levellers weniger über die zu geringe Zahl und lokale Kompetenz der freien Stadtbürger beklagten, sondern über die an der Spitze des Stadtregiments zu beobachtenden Usurpationen der magisterialen Eliten. 1646 etwa ritt Lilburne eine scharfe Attacke gegen Bürgermeister und Rat, bezeichnenderweise als Reaktion auf den gescheiterten Versuch seiner Anhänger, ihre Rechte bei städtischen Wahlen einzufordern. Es handelte sich dabei also klar um die Verteidigung kommunaler Traditionen und nicht um die Verwirklichung neuer, religiös inspirierter Ideen. Zur Debatte
l29 ) Kapitelüberschriften in Anthony Fletcher, Reform in the Provinces. The Government of Stuart England. Yale 1986. I3 °) Ebd., 116-136. 131 ) Hirst, Authority and Conflict (wie Anm. 42), 47. 132 ) Fletcher, Reform in the Provinces (wie Anm. 129), 116, 121, und Kap. „Villagers and the law"; James Sharpe, Enforcing the Law in the Seventeenth-Century English Village, in: V. A. C. Gatrell u.a. (Hrsg.), Crime and the Law. London 1980, 9 7 - 1 1 9 . 133 ) Valerie Pearl, Change and Stability in Seventeenth-Century London, in: Jonathan Barry (Hrsg.), The Tudor and Stuart Town. London 1990, hier 139-159. Die genaue Quote der Freien ist in der Forschung umstritten. 134 ) Ebd., 154f.
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standen die „alten Rechte" der Bevölkerung, die Lilburne mit der Veröffentlichung von bis weit ins Mittelalter zurückreichenden Urkunden zu untermauern suchte135). Londons VerfassungsVerhältnisse lassen sich zwar nicht einfach auf alle englischen Stadtgemeinden übertragen, aber auch anderswo waren durchaus nicht nur repressive Oligarchien am Ruder. Im 17. Jahrhundert finden sich noch vielerorts Belege für die Rücksichtnahme auf „community opinion" und breite Einstiegsmöglichkeiten in die Ämterlaufbahn 136 ). So ist aus einer Fallstudie für Chester geschlossen worden, daß trotz der Existenz von Hierarchien die städtische Pfarrei zwischen Reformation und Revolution eine „dynamic" und „vital community" blieb137). Auf die überraschend breite Beteiligung an den Parlamentswahlen ist bereits hingewiesen worden. Das Unterhaus tendierte aus politischen Gründen dazu, in Streitfällen um das Ausmaß des Wahlrechts zugunsten breiterer Partizipation zu entscheiden. Wenn es 1628 festhielt, daß „the Election of Burgesses [...] did of common Right, belong to the Commoners", dann konnten die Levellers dies als Bestätigung ihrer Überzeugungen vermerken138). Im Bereich der durch grundherrschaftliche Bezüge (manor) definierten ländlichen Gemeinde bestätigt sich das bisher gewonnene Bild. Natürlich waren Dörfer und Pfarreien immer auch in vertikale herrschaftliche Strukturen eingebunden 139 ), doch damit die bäuerliche Landwirtschaft funktionieren konnte, war es „evident [... that] some rules of customary procedure would have to be established"140). Die Holden konnten sich anläßlich des manor court zur Entscheidungsfindung versammeln, aber andernorts, besonders wo Grundherrschaft- und Dorfgrenzen differierten, „we must invoke a village meeting to regulate the management of the open fields". Dies, wenn auch nicht die Regel, konnte noch im späten 16. Jahrhundert gelten. Ein Quellenbeleg von 1578 dokumentiert eine Dorfversammlung in Glatton, Huntingdonshire. Darin wird festgelegt, daß alle Einwohner von der Kirchenglocke zur Versammlung zu rufen seien, wo sie bis zur Lösung der anstehenden Probleme zu verweilen hätten141). 135 ) London's Liberty in Chains. 1646 (wo das Wahlrecht aller Freien u.a. mit Verweis auf die Magna Charta gerechtfertigt und zur Verteidigung dieser „just and undeniable Liberties" aufgefordert wird); The Charters of London. 1646 (Lilburne wird hier unterstützt von einem lateinkundigen „man versed in Antiquity"). 136 ) Jonathan Barry, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Tudor and Stuart Town (wie Anm. 133), v.a. 25-28. 137 ) Nick Alldridge, Loyalty and Identity in Chester Parishes 1540-1640, in: Susan Wright (Hrsg.), Parish, Church and People. London 1988, 85-124, hier 117, 118. 138 ) Hirst, Representative (wie Anm. 23), 104 f., 232-236; vgl. Thomas, Levellers and the Franchise (wie Anm. 15), 64. 139 ) Diese Polarität betont Keith Wrightson, ,Two concepts of order', in: John Brewer/John Styles (Hrsg.), An Ungovernable People. London 1980, 21-46. I4 °) Warren Ault, Open-field Husbandry and the Village Community. Philadelphia 1965, 11. I41 ) Ebd., 43, 51,54, 88f.
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Der wichtigste Dorfbeamte war der village constable und seine Wahl bietet einen weiteren Anhaltspunkt für die Gewichtung von lokalem respektive auswärtigem Einfluß. Ursprünglich „chosen for the position by their fellow inhabitants", war oft vermutet worden, daß um 1600 die Friedensrichter immer mehr in das Selektionsprozedere eingegriffen hätten. Die jüngste Monographie dagegen kommt zum Schluß, daß constables auch zu diesem Zeitpunkt immer noch „by a local body" gewählt wurden 142 ). Alles in allem kann es also nicht überraschen, wenn - auch im europäischen Vergleich - festgehalten worden ist, daß „the wide degree of participation in local government enjoyed by men of humble status" in der Tudor- und Stuartepoche ein auffälliges Merkmal der englischen Verwaltungspraxis darstelle 143 ). Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit den Leveller-Traktaten, daß Dorfpolizisten wie Kirchenpfleger periodisch ausgewechselt wurden und ihrer Gemeinde (township oder parish) rechenschaftspflichtig waren. Die entsprechenden Forderungen verweisen denn auch auf praktische Erfahrungen. Die Surrey Levellers etwa warnten 1649: „avoid the perpetuation of Command, Trust, or Office, in the hand of any person or persons, it having proved by the sad experience of all Ages and Countries, and of our own in particular, the means of Corruption and Tyranny in those that are trusted" 144 ). Eine weitere Parallele ergibt sich im Bereich des „Gemeinen Nutzens": so wie sich viele Mitglieder der ländlichen Gesellschaft durch Einhegungen bedroht sahen, und die dörfliche Ethik durch die Ideale Nachbarschaft, Ehrlichkeit und Auskömmlichkeit geprägt war, so prangerten die Levellers die die Unterschicht besonders belastenden indirekten Steuern und die den Armen vorenthaltenen Ressourcen an 145 ). Die Brandmarkung der privilegierten Monopolisten reflektierte ihrerseits die Frustrationen vieler nicht-zünftischer Gesellen und vom Großhandel ausgeschlossener Kaufleute innerhalb der Bewegung 146 ). Wie steht es aber, um zur zweiten Frage überzugehen, mit dem kommunalen Bewußtsein der uns hier besonders interessierenden Autoren? Ein wichtiger Bestandteil ihrer Weltanschauung war die Vorstellung von einem angelsächsischen goldenen Zeitalter, das von der normannischen Unterjochung der
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) Joan Kent, The English Village Constable 1580-1642. Oxford 1986, v.a. 57-71. ) Thomas, Levellers and Franchise (wie Anm. 15), 60. ) Humble Petition (wie Anm. 48); die Versuchung befällt „men in a low, and in an exalted position": A Manifestation (wie Anm. 3), 282. Rechenschaftspflicht der constables: Kent, Village Constable (wie Anm. 142), 64; der churchwardens: siehe Beat Kiimin, Parish und Local Government, in diesem Band. 145 ) Für ländliche Ideale: Fletcher, Reform in the Provinces (wie Anm. 129), 76; für die Konsequenzen von „enclosures" Wrightson, English Society (wie Anm. 1), 133. Entsprechende Leveller-Forderungen etwa in „The earnest Petition" (wie Anm. 43), Art. 13 (Armenunterstützung) und 14 (Ersatz der verhaßten Akzise durch die traditionellen, nach Besitz abgestuften subsidies). 146 ) Ebd., Art. 9. 143
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englischen Bevölkerung abgelöst worden sei. In jener Epoche der großen Freiheit gab es weder Juristen noch Richter, „but only twelve good and legal men, chosen in each hundred, finally to decide all controversies, which lasted till William the Conqueror subdued that excellent constitution" 147 ). Bei den Forderungen nach größeren Rechten für lokale Geschworenengerichte handelt es sich also um einen „appeal from the existing state power to surviving vertiges of the old communal institutions" 148 ), und die immer wieder betonten Rechte der „freeborn people" dürfen keineswegs nur „individuell" verstanden werden: „[the Law ...] is not to be understood to bee any speciall Ordinance, sent from Heaven by the Ministry of Angels, or Prophets, [...] but the actions and agreements of suche and such politike Corporations."149). William Ball, ein weiterer zeitgenössischer Zeuge, muß ebenfalls von einer kommunalen Verfaßtheit der englischen Gesellschaft ausgegangen sein, wenn er in seiner Constitutio Liberi Populi formulierte, „that the Parliament is the highest Court extensive (viz. to conserve Rule, Order, & c.) but the people in generali (viz. the Counties, Cities, and Towns corporate) are the highest, or greatest Power Intensive, in that they are the efficient, and finall cause under God, of the Parliament" 150 ). Die Leveller-Traktate reflektieren die ganze Bandbreite der verschiedenen Gemeindetypen. In den Artikeln des dritten Agreement trifft man auf die explizite Erwähnung von counties, hundreds, cities, towns, boroughs, parishes und neighbourhoods sowie der dazugehörigen Amtsträger 151 ). Die Offiziersversion des zweiten Entwurfs verzeichnet Städte, Dörfer und Pfarreien als Grundeinheiten für die gerechte Verteilung der Parlamentssitze und weist der Kirchgemeinde auch die Erstellung von Wählerlisten sowie den Einzug von freiwilligen Beiträgen zur Unterstützung des Agreement zu 152 ). Die Hundert- und Nachbarschaften ihrerseits erscheinen regelmäßig im Zusammenhang mit der Aufwertung der Geschworenengerichte 153 ). Kann man aber davon ausgehen, daß die Diskussionsteilnehmer nicht nur auf gewisse lokale Strukturen Bezug nahmen, sondern aus eigener praktischer Erfahrung argumentierten? In diesem Zusammenhang wurde bis anhin nur vermutet, daß die Levellers viel ihrer „experience in the petty offices of local
147 ) The Try all of Lt. Col. John Lilbume. 2. Aufl. 1710, 18, 98; vgl. Walwyn, Juries Justified. 1 6 5 1 , 2 . 148 ) Hill, Norman Yoke (wie Anm. 52), 81. 149 ) Lilburne, Regall Tyrannie Discovered. 1647, 4 0 f. [meine Hervorhebung]. 15 °) Ball, Constitutio (wie Anm. 40), 12. 151 ) Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 3 2 6 - 3 2 7 . Für die „ancient Lawes" zur Wahl aller Amtsträger durch die Bewohner der lokalen Einheiten siehe auch: Overton, Certaine Articles for the Good of the Commonwealth. 1647, in: Wolfe, Leveller Manifestoes (wie Anm. 43), 190f. 152 ) Gardiner, Constitutional Documents (wie Anm. 32), 3 6 0 - 3 6 6 . 153 ) Z.B. in „More Light shining" (wie Anm. 38), 638.
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government that so many Londoners had" verdankt haben müssen 154 ). Die empirische Absicherung scheiterte dabei an den lückenhaften biographischen Informationen für die Protagonisten. Meist kann nur darauf verwiesen werden, daß ihnen eine Lehre im Handwerk erlaubte, die kommunalen Aktivitäten ihrer Meister in einer Art Warteschleife von außen zu studieren 155 ). So höhnte Thomas Edwards in seinem „Sektenhammer" Gangraena (1646), daß die Levellers besitzlose Gesellen ohne eigenes Wahlrecht seien 156 ). Bekannt ist immerhin, daß Lilburne seine „Rechte" schon in dieser Phase lautstark von kommunalen Instanzen einforderte und etwa beim city chamberlain gegen seine Behandlung durch den Meister eine Klage einreichte 157 ). Für einen der Protagonisten können nun aber detailliertere Angaben gemacht werden. William Walwyn wurde 1600 in eine Gentry-Familie in Worcestershire geboren und als jüngerer Sohn in eine Tuchhandelslehre nach London geschickt. Innerhalb von acht Jahren erwarb er die Freiheit der Merchant Adventurers, und nach seiner Heirat mit Anne 1628 nahmen die Walwyns für eineinhalb Jahrzehnte in der Pfarrei St James Garlickhithe Wohnsitz 158 ). Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen schloß er sich keiner Sekte an, sondern warf den Abtrünnigen vor, „to have scumm'd the Parish Congregations of most of their wealthy and zealous members" 159 ). Seine Verbundenheit mit der lokalen Kirchgemeinde ergibt sich auch aus der Tatsache, daß seine Kinder mit großer Regelmäßigkeit (die Familie zählte zuletzt 20 Sprößlinge) in den offiziellen Taufrödeln auftauchen 160 ). Dies hinderte Walwyn zwar nicht daran, Predigten auch in anderen Kirchen zu besuchen, doch immer „ so as we could give no offence to the congregation" 161 ). Wie die meisten seiner Zeitgenossen sah er keinen Anlaß „to disclaim the publike ministry or the parochial congregations & I have yet some hopes to see them reduced into such a condition, as that all things thereunto belonging, may without difficulty be justified" 162 ). 154
) Hirst, Authority and Conflict (wie Anm. 42), 273. ) Lilburne, Walwyn, Maximilian Petty, Edward Sexby und Samuel Chidley hatten alle apprentice-Edahrung und damit (oft berechtigte) Hoffnungen auf zukünftige volle Zunftmitgliedschaft: Greaves/Zaller, British Radicals (wie Anm. 2), passim. 156 ) Gangraena, iii. 16. ,57 ) Gregg, Free-born John (wie Anm. 33), 47. 158 ) Walwyn, Fountain of Slaunder (wie Anm. 40), 1 f., und Brook, Charity of Churchmen (wie Anm. 44), 344. 159 ) Ebd., 345; Walwyn, The Vanitie of the Present Churches. 1649, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 2 5 2 - 2 7 5 , hier 258. I6 °) London, Guildhall Library, MS 9140: Parish Registers of St James Garlickhithe 1535-1692; z.B. William (8. Aug. 1633); ebd., MS 9139: Parish Registers of St James Garlickhithe 1622-66; z.B. Herbert Walwyn (20. Sept. 1634), Edward (5. Juni 1636), Margaret (23. Juni 1637), Herbert II (14. Mai 1640). ifil ) William Walwyn, Walwyns Just Defence. 1649, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 3 5 0 - 3 9 8 , hier 362. I62 ) Ders., A Whisper in the Eare of Mr Thomas Edwards. 1646, in: Haller, Tracts on Liberty (wie Anm. 26), iii. 3 1 9 - 3 3 5 , hier 325. 155
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Daß dies nicht nur leere Floskeln waren, bestätigt ein genauerer Blick in die vestry minutes von St. James Garlickhithe. Walwyn selbst macht uns auf die Quelle aufmerksam, wenn er in seinem Whisper in the Eare of Thomas Edwards ausführt, daß er die Pfarrei „out of order" vorgefunden und selbst für eine „reformation" gesorgt hätte 163 ). Was war geschehen? Mitte der 1630er Jahre befand sich das Kirchengebäude in einem bedenklichen Zustand, und die Gemeinde verschuldete sich bei verschiedenen Kreditgebern, um die dringend notwendigen Reparaturen in der Höhe von £ 700 finanzieren zu können 164 ). Walwyn war seit mindestens Januar 1637 Mitglied des Pfarreiausschusses und wurde im Dezember 1640 zusätzlich in eine von der „general assembly of the parish" zur Untersuchung angeblicher Mißstände gebildete Untersuchungskommission delegiert: „And wheras divers parisheners desyred to bee acquainted how the estate of the parish [and] the rents and Revenues of the Church & poores stocke now standeth, for their better sattisfaction therin it was now thought fitt by this vestry to chuse a comitte of 12 men of the vestry to Examen the bookes & accomptes of this parish and [...] to that purpose there was now chosen [12 Namen inkl.] Mr Wallwine [...] which 12 men with the parson and churchwardens [...] shalbee a full meeting & all wrightinges & bookes to bee produced before them" 165 ). Die Kommission muß ihre Arbeit unverzüglich aufgenommen haben, denn bereits am 8. Februar 1641 präsentierte Walwyn als Sprecher seiner Kollegen „a noate from the comitte of observatyons tacken by them out of the vestry booke [...] and whereas the two first Artickles concerned Mr Marbere [Edward Marbury, Pfarrer von St James 166 ] about the Rentes of Dunghill stayres & a debt of 4 ob. [=2 pence] which hee should owe to the parishe the said Mr Marbere desired to have the vewe of the orders of fformer vestryes & audit bookes to give his answer in wrightinge at the next vestrye, whereuppon it is ordred by this vestry that the said Mr Marbere shall have the sight of the vestrye bookes & accompte booke, in the presence of the churchwardens for the tyme beeinge" 167 ). Die Kommission hatte also finanzielle Unregelmäßigkeiten entdeckt, die den Pfarrer belasteten. Marburys Stellung war dadurch offensichtlich unhaltbar geworden, und er trat am 14. April 1642 von seinem Amt zurück; spätestens 1643 taucht dann mit Mathew Barker ein neuer minister in den Quellen auf 168 ). Damit nicht genug: Walwyn und seine Kommissionskollegen legten 163
) Ebd., 324. ) London, Guildhall Library, MS 4813/1: Vestry Minutes of St James Garlickhithe 1615 ff., hier fol. 52 f . 165 ) Ebd., fol. 54v. ,66 ) Richard Newcourt (Hrsg.), Repertorium ecclesiasticum parochiale Londinense. London 1708, i. 528. 167) Vestry Minutes (wie Anm. 164), fol. 55r. 168 ) Ebd., fol. 6lr; Marburys Rücktritt und Ersetzung: Newcourt (Hrsg.), Repertorium (wie Anm. 166), 367. 164
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der Gemeinde im Februar 1641 auch eine ganze Palette von Reform vorschlagen in den Bereichen Buchführung, Lohnzahlungen und Ausgabenkontrolle vor. Was daraus wurde, ist schwer abzuschätzen, da die nächsten vier Folioseiten (bezeichnenderweise?) aus den Sitzungsprotokollen verschwunden sind. Von Walwyn, der seiner Pfarrei auch als regulärer Rechnungsprüfer und dem lokalen vintry ward als „[wardmote injquestman" gedient hatte 169 ), ist danach jedenfalls nicht mehr die Rede, und nach seinen eigenen Aussagen zog er ungefähr zur selben Zeit nach Moorfields um 170 ). Der spätere Leveller-Protagonist hatte also in St James Garlickhithe eine auf die „alten Rechte" Basiskontrolle und Rechenschaftspflicht pochende Mini-Revolution miterlebt 171 ), lange bevor er sich publizistisch der Neuordnung der nationalen politischen Verhältnisse zuwandte. Wenn er im November 1642 den „inherent rationalism of the common man" herausstrich 172 ), war dies wohl mindestens so stark von seinen praktischen Erfahrungen wie seiner naturrechtlichen Lektüre beeinflußt. Interessanterweise, um auf eine weitere Spur hinzuweisen, taucht in seiner neuen Pfarrei St Stephen Coleman Street unter den veifry-Mitgliedern auch ein gewisser (aber nicht näher identifizierter) Mr Overton auf 173 ). So wie die Vorstellungen Cromwells und Iretons die konkrete Erfahrung von Grafschafts- und Parlamentspolitik reflektierten, weist das von Walwyn und seinen Mitstreitern entworfene Programm verblüffende Überschneidungen mit der Gemeindepraxis auf. Ganz eindeutig ist es - von den Wahlrechtsvorstellungen bis zu den wirtschaftlichen Anliegen - auf den mittelständischen Hausvorsteher und damit den Hauptpfeiler lokaler Verwaltungsstrukturen zugeschnitten 174 ). Die Gegner der Levellers höhnten, daß in Zukunft Schuster und Metzger das Gerichtswesen sowie alle exekutiven Ämter monopolisieren würden 175 ), worauf Walwyn unverzagt entgegnete, daß es tatsächlich auch in der kleinsten Hundertschaft genügend „understanding and fit men" als Geschworenenkandidaten gebe, ja daß eine ausreichende Anzahl
169) Vestry Minutes of St James (wie Anm. 164), fol. 54v („allsoe for the Adding up [the accounts] was nomynated & chosen [...] Mr Wallwin"; 1640/1); London, Guildhall Library, MS 4813/2: St James Garlickhithe Vestry Book, fol. 3v (questman 1636). 170) Walwyn, Fountain of Slaunder (wie Anm. 40), 2. 171 ) Ein weiteres Beispiel für die energische Verteidigung der alten Rechte der Gemeinde liefert St Botolph Aldersgate: siehe Beat Kümin, Parish und Local Government, in diesem Band. 172 ) Frank, Levellers (wie Anm. 9), 34, mit Bezug auf das Traktat „Some Considerations" von 1642. m ) Vestry Minute Book of St Stephen Coleman Street: Guildhall Library MS 4458/1, pt. 1; z.B. 1642(121). 174 ) Manning, English People (wie Anm. 14), 397; Hughes, Gender and politics (wie Anm. 33), 180, identifiziert den „honest household" als „central Leveller image". 175 ) Er habe keine Ruhe bis „Butchers and Coblers be chosen into the places of Magistracy and Government": Walwins Wiles. 1649, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 2 8 5 - 3 1 7 , hier 300 und 303 (dieselben als Mitglieder von Geschworenengerichten).
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„might even [...] be found, for trial of all the causes of each Parish" 176 ). Der Erwerb voller bürgerlicher Rechte durch den gemeinen Mann hätte aber auch entsprechende Pflichten nach sich gezogen. Lilburne meinte, daß es ausgezeichnet wäre, „if [Parliament] would ordainee, that every freeman of England, who is able, would bestow his service one yeere at least, freely for the Good of the Civil State, in any place or Office of Trust, whereof his skill and breeding doe fit him" 177 ). Drittens und abschließend gilt es zu klären, ob sich die hier postulierte Vorbildfunktion der lokalen für die nationale Ebene nicht nur durch Analogieschlüsse plausibel machen läßt, sondern auch durch explizite Äußerungen der Leveller selbst. In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, daß im 17. Jahrhundert von einer Isolierung der local community keine Rede mehr sein kann, sondern von einer „intensified interaction between the locality and larger society" ausgegangen werden muß 178 ). Die Traktate reflektieren dies deutlich. Lilburnes Englands Birthright thematisierte 1645 die gesamtenglische Situation im gleichen Atemzug mit der Forderung nach Reform der kommunalen Strukturen in der Hauptstadt 179 ). Daß die Levellerkampagne aber von unten nach oben (und nicht etwa umgekehrt) aufgebaut war verdeutlicht Walwyn in seinem A Whisper. Nach dem eben diskutierten Engagement in seiner Pfarrei habe er sich, immer im Interesse des „public good", der nächsthöheren Ebene des ward zugewandt, „wherein after much labour, we so prevailed, that the well affected carryed the choice of [all] officers in the Ward". Darauf sei eine Petition an den Londoner Rat formuliert worden, und erst „when the common enemy was at the highest, [...] I with many others petitioned Parliament for the generali raising and arming of all the well affected in the Kingdom" 180 ). Dieselbe Tendenz, vom Kleinen zum Größeren vorzugehen, findet sich in den Schriften von John Wildman. Im Jahre 1647 formulierte er das folgende Credo: „It is the command of God, that every man should seek the good of his neighbour, and consequently much more the good of the Nation [for] hath not God commanded us to relieve and help our neighbours oxen or Asses in any distresse, or being sunk down under any burthen? and doth he not much more command us to endeavour the reliefe of the people of our Nation, whose backs are bowed down under their heavie burthens?" 181 ). Richard Overton münzte das hier moralisch angewandte Axiom in politische Sprache um. Das Wort „König" verwendet er in An Arrow nicht für die Spitze der staat-
176) Walwyn, Juries Justified (wie Anm. 147), 1 f. 177
) John Lilburne, England's Birthright Justified. 1645, Postscript (eine Art republikanische Dienstpflicht). 178) Wrightson, English Society (wie Anm. 1), 222. 179 ) Gregg, Free-bom John (wie Anm. 33), 126-134. 180) Walwyn, A Whisper (wie Anm. 162), 324. 181 ) John Wildman, Truths Triumph. 1647, 4.
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lichen Pyramide, sondern für deren Grundlage, nämlich das in einer kommunalen Einheit aufgehobene Individuum: „Every man by nature being a King, Priest and Prophet in his owne naturall circuite and compasse182), whereof no second may partake, but by deputation, commission, and free consent from him, whose naturall right and freedom it is." 183 ). Der souveräne common man delegiert daher gewisse Kompetenzen an höhere Instanzen in einem von unten nach oben auf gleichen Grundlagen beruhenden Verfahren. Im dritten Verfassungsenwurf von 1649 findet sich denn auch das explizite Junktim, daß „the people capable by this Agreement to chuse [Members of Parliament], shall chuse all their publike Officers that are in any kinde to administer the Law for their respective places" 184 ). Nun aber zurück zur Ausgangsfrage nach den kommunalen Wurzeln der Systemdebatte. Der eben unternommene Überblick hat gezeigt, daß sich - mit Ausnahme der kriegsbedingten Soldatenanliegen 185 ) - alle Leveller-Forderungen sehr direkt an die jahrhundertealte und durch die Sekten ergänzte Gemeindetradition anlehnen. Zwei Hauptstoßrichtungen des Programms können noch einmal festgehalten werden: 1. Die Bestätigung, respektive Wiederherstellung der alten kommunalen Rechte und eine konsequente Dezentralisierung staatlicher Funktionen in die Gemeinden 186 ). 2. Die sich aus der Lokalisierung der Souveränität an der Basis ergebende Projektion kommunaler Verfassungsprinzipien auf alle höheren politischen Ebenen 187 ). Während der erste Punkt, der bereits 1644/45 von den verschiedenen Clubmen-Vereinigungen eingefordert worden war 188 ), das bewahrende Moment der Bewegung darstellt, ist der zweite zweifellos als revolutionärer Schritt zu bezeichnen. Die Übertragung altbewährter Praktiken auf neue Bereiche drohte
182 ) Siehe auch Lilburne, Regall Tyrannie (wie Anm. 149), 40: Jedermann „raignes and governs as much by God in their inferior orbs (of City, hundreds, wapentacks, and families) [ . . . ] as Kings in their Kingdoms" [meine Hervorhebungen]. 183 ) Overton, An Arrow (wie Anm. 126), 69. 184 ) Lilburne u.a., Agreement (wie Anm. 46), Art. XXVII. 185 ) Immunität für Kriegshandlungen, Zahlung der Soldrückstände und Abschaffung des Militärdienstzwanges. 186 ) Das Ideal „of independent and self-governing village communities" ist bereits als Ziel des Bauernaufstandes von 1381 identifiziert worden: Christopher Dyer, The Social and Economic Background to the Rural Revolt of 1381, in: Rodney Hilton/Trevor Aston (Hrsg.), The English Rising of 1381. Cambridge 1 9 8 4 , 4 2 . 187 ) Unter „Basis" ist das in kommunalen Verbänden organisierte „freie" Individuum zu verstehen. 188 ) Einen Einblick in die Vorstellungen dieser ländlichen Protestvereinigungen ermöglicht John Morrill, The Revolt of the Provinces. London 1980, 9 8 - 1 1 0 .
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den englischen Staat vom Kopf auf die Füße zu stellen 189 ). Wer aber ausschließlich von „secular radicals" und von einer „readiness to set aside the past" spricht 190 ), verfälscht die Optik der Reformer: attackiert wurde nur die diskreditierte vertikale oder feudale Dimension der Vergangenheit, nicht aber das horizontale und kommunale Vermächtnis. Läßt sich genauer eruieren, welche Prinzipien durch die kirchliche und welche durch die weltliche Gemeindeerfahrung geprägt waren? Angesichts der vielen Überlappungen ist eine scharfe Scheidung natürlich problematisch, wie Lilburne selbst zu bedenken gibt: Der Kampf gegen Tyrannei und Unterdrükkung sei „in every age, sometimes upon a religious, and sometimes upon a civil account, and very often upon both in one and the same persons" geführt worden 191 )- Trotzdem können gewisse Tendenzen ausgemacht werden. Die ideologische Intensität der Debatte und der Ruf nach Konsentierung einer staatlichen Verfassung erinnern stark an die vorgängigen kirchenpolitischen Polemiken und die Bundesidee der Sekten. Gemischt religiös-weltliche Impulse mögen bei folgenden Anliegen im Spiel gewesen sein: Toleranz (als Voraussetzung zur freien Glaubensausübung, aber auch als Bedingung zur Aufrechterhaltung kommunaler Lokalverwaltung in einer zunehmend konfessionell und sozial differenzierten Gesellschaft 192 ), Wahlprinzip (in Sekte und Pfarrei 193 ), Armenfürsorge (die saints helfen einander „to their mutual good" 194 ); Poor Law Administration durch die Kirchenpfleger) oder Dezentralisierung (Ekklesiologie der Baptisten und Independenten; „angelsächsische" Geschworenen-Tradition). Eine primär weltliche Prädisposition muß hingegen für die nur in den säkularen Gemeinden institutionalisierten Prinzipien der Rechenschaftspflicht 195 ) und periodischen Neuwahl aller Beamten, sowie für das Mittelstand-spezifische Wirtschaftsprogramm (keine Monopole, faire Steuern) vermutet werden. Aus historischer Perspektive kann am Vorrang der weltlichen Gemeindeerfahrung ohnehin kaum gezweifelt werden: während Pfarrei, Hundertschaft und Städte alle aufs Mittelalter zurückgehen, 189 ) Ein nationales Hausvorsteherwahlrecht hätte die Vorherrschaft von Gentry und Adel akut gefährdet: Manning, English People (wie Anm. 14), 418; Aylmer, Introduction (wie Anm. 12), 50. 190 ) Morton, Ranters (wie Anm. 7), 15, 195. ]9l )John Lilbume, The Just Defence of John Lilburne. 1653, in: Haller/Davies, Tracts (wie Anm. 3), 450-464, hier 452. 192 ) Collinson, Religion of Protestants (wie Anm. 101), vertritt die Ansicht, daß sich sowohl Anglikaner wie Puritaner in der Praxis auf einen Grundkonsens geeinigt hatten. Dies ermöglichte, daß die ja auch als weltliche Verwaltungseinheit funktionierende Pfarrei der primäre Bezugspunkt für ganz verschiedene konfessionelle Gruppierungen bleiben konnte. 193 ) Local govemment-Erfalmmg als wichtige Wurzel der Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht betont Patrick Collinson, De republica Anglorum. Cambridge 1990, 33. 194 ) Westminster Confession (wie Anm. 76), Kap. XXVI.i. 195 ) Obschon in der Pfarreiverwaltung ein indirekter Einfluß kanonischer Prinzipien nicht auszuschließen ist.
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sind die Sekten eine vergleichsweise „moderne" Erscheinung, die sicherlich gewisse kommunale Prinzipien verstärkt und durch breite theoretische Reflexion neu legitimiert, aber nur wenige wirklich neu erfunden hat. Auf nationaler politischer Ebene gelangten Ideen wie Rechenschaftspflicht und Periodizität ebenfalls erst im Laufe des 17. Jahrhunderts zum Durchbruch 196 ). Damit soll nicht behauptet werden, daß in Stadt und Land (und damit bei den Levellers) zeitgenössische intellektuelle Debatten keine Resonanz gefunden hätten. Das wäre mit Blick auf die von Lilburne und Walwyn zitierten Autoren ja auch absurd. Trotzdem muß deren Bedeutung relativiert werden. Naturrecht, Biblizismus, Vernunft und Individualismus brachten nicht plötzliche Erleuchtungen, denen in der Folge alles Existierende untergeordnet und angepaßt wurde 197 ), sondern sie schufen ein mentales Umfeld, das breitere Kreise zu politischer Reflexion und zur Hinterfragung existierender Herrschaftsbezüge ermunterte 198 ). Dazu boten die neuen Konzepte willkommene Argumentationshilfen für die Legitimation von altbewährten und nun auch auf höhere Ebenen projizierbaren Prinzipien. Für unmittelbare Umsetzung in praktische Politik waren die philosophisch-theologischen Axiome aber zu verschwommen und abstrakt, weshalb ähnliche theoretische Impulse bei presbyterianischen Parlamentariern, Ireton oder Lilburne zu ganz unterschiedlichen Verfassungsmodellen führten. Die Independenten übernahmen in ihrer Regierungszeit zwar gewisse Leveller-Anliegen wie Verfassung, Toleranz oder Periodizität, doch hüteten sie sich vor der Verwirklichung so zentraler Punkte wie dem Hausvorsteherwahlrecht oder der konsequenten Rechenschaftspflicht aller Amtsträger 199 ). Zum Entwurf eines echten populär government genügte die Erfahrung des Sektenlebens offensichtlich nicht. Zusätzlich brauchte es eine entsprechende soziopolitische Disposition. Gentlemen wie Cromwell, die dank ihres Besitzes sowohl auf Grafschaft wie Parlament aktiven Einfluß nehmen konnten, hatten keinen Anlaß zu radikaler Veränderung. So paradox es auch klingen mag, wirklich sozial-revolutionären Gehalt erhielten die „großen Theorien" erst in ihrer Verbindung mit dem kommunalen Alltag.
196 ) Für das Primat der Krone (und das Fehlen einer periodischen Regierungskontrolle) in den Tudor- und frühen Stuart-Parlamenten siehe Geoffrey Elton, The Parliament of England 1559-81. Cambridge 1986, ix, und Conrad Russell, The Nature of a Parliament in Early Stuart England, in: Howard Tomlinson (Hrsg.), Before the English Civil War. London 1983, 124, 147. Erst im Triennial Act von 1641 wurde die Untertanenvertretung auf eine periodische Basis gestellt. 197 ) Pease, Leveller Movement (wie Anm. 10), 360. 198 ) Das Fehlen dieser Komponente mag mitverantwortlich dafür gewesen sein, daß die Clubmen den zweiten, revolutionären Leveller-Schritt nicht vollzogen. 199 ) Siehe „The Instrument of Government". 1653, in: Gardiner, Constitutional Documents (wie Anm. 32), 4 0 5 - 4 1 7 .
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„Ce fut une célébré & memorable contention entre ces deux grands Docteurs de Droict Lothaire & Azon, si la haute Justice & droict de glaive, que les jurisconsultes appellent Imperium, appartenoit aux Magistrats par participation & communication du Prince souverain, ou bien s'ils en avoient le simple exercice, usage et execution soubs le nom & authorité du Prince. & sur cette dispute ayans gagé un cheval, ils en firent Juge l'Empereur Henry septième, qui iugea pour Lothaire, que les Magistrats n' avoient que le ministere & exercice du glaive, & luy adiugea le cheval: & combien que plusieurs ayent dit, que Lotharius equum tulerat, sed Azo aequum, si est-ce que les plus docteurs modernes ont approuvé le iugement de l'Empereur, [.. .]"')• Die berühmte Lothar-Anekdote wird von Charles Loyseau erzählt, einem Juristen am Pariser Parlement des 17. Jahrhunderts, der aufgrund seiner Erfahrungen in der Provinz für eine Zentralisierung der Gerichte und eine Straffung des Instanzenzuges als Mittel gegen die Korruption auf dem Lande plädiert. In seinem engagierten Discours läßt Loyseau keine Zweifel daran, daß er selbst es mit der Mehrheit der „docteurs modernes" hält und wie sie keineswegs die in der Anekdote vertretenen mittelalterlichen Vorstellungen teilt, wie ein gerechtes Regiment auszusehen habe. Loyseaus lebhafte Schilderung der Mißstände in den von lokalen seigneurs und ihren Handlangern in der Gemeinde beherrschten Dorfgerichten entspricht dem Bild, das die Aufklärung der Nachwelt von Mittelalter und früher Neuzeit vermittelt hat. Es ist das Bild eines Systems, in dem die einfachen Leute auf dem Land mit ihren schwachen Gemeinden den Feudalherren nichts entgegenzusetzen haben und dessen Auswüchsen höchstens ein Landesherr mit einem rationellen und kompetenten Verwaltungsapparat wirkungsvoll begegnen kann. Die meisten Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts standen im Dienste von Landesherren, die in ihren gerade auch rechtlich gesehen immer noch heterogenen Territorien ihre Herrschaft mit der Schaffung größerer Rechts- und damit auch Wirtschaftsräume zu legitimieren versuchten. ') Charles Loyseau, Discours de l'abus des justices de village, in: Les œuvres de Charles Loyseau. Paris 1641, 4.
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Die Jurisprudenz ist einerseits eine normative Wissenschaft, und so konnte der Großteil der Juristen Modelle entwerfen, die den Bedürfnissen ihrer Fürsten entsprachen, zumal sie mit dem im 12. Jahrhundert wiederentdeckten und durch die unermüdliche Arbeit der Glossatoren und Kommentatoren zur „ratio scripta" entwickelten römischen Recht ein respektables Instrument zur Bearbeitung lokaler Rechtsvorstellungen in der Hand hatten. Anderseits basiert aber Rechtswissenschaft auf dem Austausch zwischen Normen und realen gesellschaftlichen Gegebenheiten, die im Mittelalter nicht nur feudal und im 17. Jahrhundert nicht nur absolutistisch waren. Und schließlich setzten sich nicht alle Juristen für den Fürstenstaat ein - und die es taten, ließen dabei selten alle anderen Möglichkeiten außer acht. So erhielt sich auch nach der von den Juristen der italienischen Kommunen geprägten Rechtstradition immer ein kommunales und republikanisches „Gegenbild" zum allgemeinen Lobgesang auf Monarchie und zentrale Kontrolle 2 ), ein Bild, das selbst in den Schriften der Autoren auftaucht, die wie Charles Loyseau davon überzeugt sind, daß einfache Gemeinden nichts zum Schutz ihrer Mitglieder und deren Rechte und damit zur Sicherung einer gerechten Gesellschaft beitragen können. Während die kommunale Tradition in der juristischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit in bezug auf die Stadtgemeinde sowohl von historischer als auch von rechtshistorischer Seite eingehend untersucht wurde 3 ), sind Arbeiten zur juristischen Theorie der ländlichen Gemeinde eher selten. Wenn überhaupt erwähnt wird, daß sich Juristen auch mit diesem Thema befaßten, geschieht dies meist nur nebenbei 4 ). Eine Ausnahme macht Otto 2
) Ulrich Scheuner, Nichtmonarchische Staatsformen in der juristischen und politischen Lehre Deutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986, 7 3 7 - 7 7 3 . Scheuner spricht von einem „Nebengleis", das aber nie ganz aus der juristischen und politischen Lehre verschwindet (738). 3 ) Einen Überblick über den Stand der Forschung geben Manlio Bellomo, The Common Legal Past of Europe 1000-1800. Washington, D.C. 1995; Antony Black, Political Thought in Europe 1250-1450. Cambridge 1992; Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte. l . B d . : Mittelalter ( 1 1 0 0 1500). München 1973, insbesondere Peter Weimar, Die Legistische Literatur der Glossatorenzeit, S. 1 2 9 - 2 6 0 . (Black und Weimar gehen vor allem auf die Fülle der politischen und juristischen Literatur ein, die im Mittelalter im Zusammenhang mit der lex omnes populi produziert wurde und zitieren auch entsprechende Sekundärliteratur); Giorgio Chittolini/ Dietmar Willoweit (Hrsg.), Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland. Berlin 1992; Gerhard Dilcher (Hrsg.), Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. Berlin 1988; Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte. Heidelberg 1992; Ulrich Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen. München 1994; Helmut G. Walther, Die Legitimität der Herrschaftsordnung bei Bartolus von Sassoferrato und Baldus de Ubaldis, in: Erhard Mock/Georg Wieland (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie des Mittelalters. Frankfurt am Main 1990. 4
) Dirk Usadel, Die Korporation im Werk Kreittmayrs. München 1984, 104f. Usadel be-
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Gierke, der in seinem Genossenschaftsrecht die alteuropäische Korporationslehre mit all ihren Bezügen auch auf ländliche Gemeinden würdigt und dessen Arbeit noch heute ein unentbehrliches Referenzwerk für alle Theorien kommunaler Ordnung ist 5 ). Allerdings sind für Gierke ländliche und städtische Organisationsprinzipien unvereinbar, und er findet diese Auffassung auch durch die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Juristen - etwa in der europäischen Spruchpraxis des 16. Jahrhunderts - bestätigt: „[...] das gemeinrechtliche Schema [...] wahrte nur den größeren Gemeinheiten und insbesondere den Städten einen erheblichen Rest der alten Selbstregierung, bedrohte dagegen die Landgemeinden und zum Teil auch die Zünfte mit dem Untergange aller Selbständigkeit. Denn den Körperschaften höherer Stufe sollte hiernach allerdings eine wahre jurisdictio' mit den darin enthaltenen obrigkeitlichen Zwangsbefugnissen von Rechtswegen gebühren. Der ,universitas minima' dagegen wurde nicht nur jegliche jurisdictio' abgesprochen, sondern es wurde auch vielfach zu ihren Ungunsten dem Begriff der Jurisdiktionshandlungen eine Ausdehnung gegeben, bei welcher für eine derartige universitas mit der jurisdictio' zugleich fast jede von höherer Mitwirkung unabhängige korporative Lebenstätigkeit in Wegfall kam." Durch den Verlust der iurisdictio wurden also auch die inneren Körperschaftsrechte wie zum Beispiel Versammlungs- und Vorsteherwahlrecht „zersetzt" 6 ). Karl Siegfried Bader konstatiert vor allem das Desinteresse der Juristen an der Dorfgemeinde: „Über Dorf und Dorfgemeinde als selbständige Rechtsgebilde pflegte man sich [...] in der juristischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts nicht allzu sehr den Kopf zu zerbrechen" 7 ). Allerdings weisen sozieht sich im betreffenden Abschnitt hauptsächlich auf Fritz Zimmermann, Die Rechtsnatur der altbayerischen Dorfgemeinde und ihrer Gemeindenutzungsrechte. Straubing 1950, 15 ff. (rechtsdogmatische Voraussetzungen); Edoardo Rujfini, II trattato „de iure universitatum" del torinese Nicolö Losa (1601), in: Rivista di Storia del Diritto Italiano 4 (1931), 5 - 2 8 (die ländliche Gemeinde wird auf Seite 14 erwähnt); Friedel-Walter Meyer, Christoph Besold als Staatsrechtler. Diss. Erlangen 1956, 43 und 88. 5 ) Karl Siegfried Bader, Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. 2. Bd. Köln/Graz 1962, 384; Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune. Aalen 1967, 161; Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Herbert Jankuhn (Hrsg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Göttingen 1981, 293 f.; Dietmar Willoweit, Genossenschaftsprinzip und altständische Entscheidungsstrukturen in der frühneuzeitlichen Staatsentwicklung, in: Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Berlin 1986, 126. 6 ) Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4. Bd. Berlin 1881, 147 ff. - Gierke geht es in seiner Darstellung auch darum zu zeigen, daß das genossenschaftliche Element in der europäischen Rechtstheorie aus der germanischen Rechtstradition stammt und durch die Rezeption des römischen Rechts - und insbesondere seiner kanonischen, hierarchischen Komponenten - bedrängt wird; Peter Landau, Otto von Gierke und das kanonische Recht, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NSZeit. Tübingen 1995, 7 7 - 9 4 , hier besonders 84 f. 7 ) Karl Siegfried Bader, Dorf und Dorfgemeinde im Zeitalter von Naturrecht und Aufklärung, in: ders., Schriften zur Rechtsgeschichte. Hrsg. v. Clausdieter Schott. 2. Bd. Sigma-
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wohl Gierke als auch Bader auf die Resistenz partikulärer Rechte gegen Vereinheitlichungsbemühungen seitens des Landesherrn selbst auf Ebene des Dorfes hin, und Klaus Schreiner bemerkt, daß „Argumentationsfiguren, mit deren Hilfe kommunale Selbständigkeit begründet werden konnte, [...] sich nicht auf den Verwendungszusammenhang .Stadt' [...] begrenzen" ließen, sondern auch „zur Verteidigung dörflicher Selbstverwaltungsrechte herangezogen werden konnten" 8 ). Im Gegensatz zur deutschen Forschung hat Pierre Michaud-Quantin über die Begriffsgeschichte von universitas zur Zeit der Glossatoren (bis etwa 1260) gezeigt, wie fließend bei den Juristen die Grenze zwischen städtischer und ländlicher Gemeinde sein konnte 9 ). Keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Stadt und Dorf macht auch Helmut Coing in seiner europäischen Privatrechtsgeschichte im Abschnitt über die gemeinrechtliche universitas 10 ). Coing stützt sich dabei vor allem auf Losaeus und Lauterbach, zwei äußerst „gemeindefreundliche" Juristen"). Auch Roland Mousnier 12 ) zeigt, indem er in seiner Darstellung weitgehend den gemeinrechtlichen Darstellungen um 1600 folgt, deutlich die strukturellen Analogien zwischen Land- und Stadtgemeinde. Aufgrund der historischen Quellen jedoch rücken die Unterschiede zwischen den beiden Gemeindetypen stärker in den Vordergrund, weil der Stadt eine militärische Schutzfunktion sowie besondere rechtliche Privilegien zugestanden werden. Nachdem heute grundsätzlich kein Zweifel besteht, daß neben der herrschaftlichen auch die genossenschaftliche Seite der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft in der juristischen und politischen Theorie der Zeit reflektiert wurde 13 ), dieser Zusammenhang aber vor allem anhand der Städte ringen 1984, 79. Ähnlich Klaus Schreiner, Teilhabe, Konsens und Autonomie. Leitbegriffe kommunaler Ordnung in der politischen Theorie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa. München 1996, 37. 8 ) Ebd., 59. 9 ) Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le Moyen-Age Latin. Paris 1970. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch der Hinweis von Karl Kroeschell, Art. „Dorf", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1. Bd. Berlin 1971, vor allem 770 f. auf die unterschiedliche Herkunft der Ämter im Dorf und ihrer Bezeichnungen. 10 ) Helmut Coing, Europäisches Privatrecht. l . B d . : Älteres Gemeines Recht. München 1985, 261-265. » ) Vgl. unten S. 426-433 und 443-446. I2 ) Roland Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue. 1. Bd. Paris 1974, vor allem 428 ff. Vgl. auch den Beitrag von Beat Hodler, Doléances, Requêtes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, in diesem Band. ,3 ) Wie Anm. 3. Zusammenfassend vgl. Gerhard Dilcher, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, und Dietmar Willoweit, Genossenschaftsprinzip und altständische Entscheidungsstrukturen in der frühneuzeitlichen Staatsentwicklung, in: Dilcher/Diestelkamp (Hrsg.), Recht (wie Anm. 5), 114-123 und 126-138.
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untersucht worden ist, geht der folgende Beitrag zunächst der Frage nach, wie weit diese Theorie zwischen den Städten und den viel zahlreicheren Dörfern Gemeinsamkeiten sah. Die Frage heißt, ob auch Zeitgenossen „Gemeinde" als ein besonderes gesellschaftliches Organisationsprinzip wahrnahmen. Damit verbindet sich die Frage, ob und wie dieses kommunale Konzept mit Herrschaft und (später) Staat verbunden wurde. Rechtswissenschaftliche Texte scheinen für die Behandlung dieser Fragen vor allem geeignet, weil sie relativ stark normiert und so über einen längeren Zeitraum vergleichbar bleiben. Die von Anfang an römischrechtlich geprägte Ausbildung der Juristen führte dazu, daß sie alle eine gemeinsame Sprache sprachen. Das römische Recht, die „ratio scripta" war die Grammatik, nach deren Regeln darüber gesprochen wurde, wie die jeweilige Gesellschaft organisiert war und wie sie organisiert sein sollte. Die Texte, auf die sich der folgende Beitrag stützt - Kommentare, Traktate, Dissertationen und Konsilien - wurden mit Blick auf den Unterricht an juristischen Fakultäten oder als Begründung für Entscheide von Richtern und Gesetzgebern geschrieben und spiegeln den jeweiligen Stand der Rechtslehre wider 14 ). Diese Literatur an der Grenze zwischen Praxis und Theorie schien besonders geeignet, die kommunale Welt in den Blick zu bekommen. Nicht berücksichtigt wurden Rechtsphilosophen oder Staatstheoretiker, die sich mit ihren Entwürfen weiter vom ius commune entfernen. Dadurch konzentriert sich diese Arbeit auf das Privatrecht - wobei dieses Privatrecht ursprünglich alle Verbände innerhalb des Reichs umfaßte und damit auch viele „staatsrechtliche" Themen behandelt. Zunächst soll eine kurze Einleitung zur römischrechtlichen Tradition helfen, die zitierte Literatur einzuordnen.
1. Einleitung Das mittelalterliche Recht war seiner Natur nach ungeschriebenes, mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht; allenfalls wurden Statuten für einen örtlich und sachlich eng begrenzten Bereich oder Privilegien (Vorrechte oder Lasten für Einzelpersonen oder Korporationen) auch schriftlich festgehalten 15 ). Die juristische Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit stammt allerdings von Autoren mit einer römisch-rechtlichen Ausbildung, die sich auch im Umgang mit den partikularen Rechten an dem Normensystem orientierten, das 14 ) Coing weist darauf hin, daß es für das gemeine Recht vor 1800 keine Instanz gibt, die verbindliche Entscheide fällen kann - so kann das ius commune zwar eine Norm setzten, aber es hat nicht Gesetzescharakter; Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 38. 15 ) Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. 3. Aufl. Heidelberg 1989, II.
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seit Ende des 11. Jahrhunderts an den Rechtsschulen und Universitäten in Italien, später auch nördlich der Alpen gelehrt und wissenschaftlich weiterentwickelt wurde.
1.1. Das römische Recht Die römischrechtliche Tradition speist sich einerseits aus dem Kirchenrecht, in dem die antike Tradition auch nach dem Untergang des römischen Reiches weiterlebte, anderseits aus dem spätantiken Gesetzgebungswerk, das seit der kritischen Textausgabe des Dionysius Gothofredus 1583 als „corpus iuris" bezeichnet wird. Das corpus iuris entstand zur Hauptsache zwischen 528 und 534 im Auftrag des oströmischen Kaisers Justinian und umfaßt eine Sammlung von Auszügen aus den klassischen Juristenschriften (Digesten oder Pandekten), eine Sammlung der seit Hadrian erlassenen Kaiser-Konstitutionen {Codex) und ein Lehrbuch des römischen Rechts (Institutionen). Ergänzt wurde dieses Gesetzeswerk durch die Novellen, neue Konstitutionen, die Zweifelsfragen klären, das kodifizierte Rechte ergänzen und der Praxis annähern sollten. Nach der Eroberung Italiens durch Justinian wurde das corpus iuris auch dort eingeführt. Doch während der Codex, die Institutionen und ein Teil der Novellen im Westen zumindest bekannt, wenn auch nicht sonderlich beachtet blieben, gerieten die Digesten schnell in Vergessenheit. Seine große rechtsgeschichtliche Bedeutung erhielt das corpus iuris erst, weil es durch die im 11. Jahrhundert gegründete Rechtsschule von Bologna wiederbelebt und damit zum Fundament der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft wurde 16 ). Die wiederentdeckten Texte wurden mit den Methoden der scholastischen Philosophie erschlossen 17 ). Diese Arbeiten mündeten Mitte des 13. Jahrhunderts in die „glossa ordinaria" des Accursius. Die folgende Bearbeitung des corpus iuris durch die Kommentatoren (Postglossatoren) war stärker auf die Praxis ausgerichtet 18 ); so entstanden seit dem 13. Jahrhundert zahlreiche Konsilien (Rechtsgutachten). Eine Wiederherstellung des ursprünglichen justinianischen Gesetzestextes mit den Methoden einer Textkritik, die auch den unterschiedlichen gesell16 ) Kurzer Überblick in: Alfred Söllner, Einführung in die römische Rechtsgeschichte. 4. Aufl. München 1989, 134ff. Ausführlicher: Bellomo, Common Legal Past, und Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte (beide wie Anm. 3). ,7 ) Zur Methode der Juristen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 15-25. 18 ) Die juristischen Argumente müssen allerdings immer mit Sätzen aus dem kodifizierten römischen oder kanonischen Recht begründet werden; Bellomo, Common Legal Past (wie Anm. 3), 145.
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schaftlichen Hintergründen Rechnung trug, begann erst mit den Humanisten. Eine oft benutzte kritische Ausgabe ist das eingangs erwähnte corpus iuris von Dionysius Gothofredus. Das römische Recht der Postglossatoren gelangte mit Juristen, die nach einer Ausbildung in Bologna Städten, Kirchen oder Fürsten in Gerichtswesen und Verwaltung dienten, über die Alpen nach Norden. „Diese, Rezeption' des römischen Rechts in Deutschland erhielt sozusagen den kaiserlichen Segen, als Maximilian 1495 das Reichskammergericht errichtete und ihm aufgab, bei Fehlen einer anderen Rechtsquelle ,nach des Reiches gemeinen beschriebenen Rechten' zu judizieren, worunter das Recht des corpus iuris zu verstehen war" 19 ). In der folgenden Periode des usus modernus pandectarum (16. bis 18. Jahrhundert) wurden die römischen Rechtssätze, die sich auf die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse anwenden ließen, von denen gesondert die, wie zum Beispiel Regeln des römischen Sklavenrechts, nicht anwendbar waren. Zugleich verschmolzen in der Gerichtspraxis zumindest teilweise rezipiertes Römisches Recht und einheimisches Rechtsgut. Bis zum Ende des 18. Jahrhundert hatte formal das partikulare Statutarrecht und das lokale Gewohnheitsrecht Vorrang vor dem nur subsidiär geltenden „gemeinen Recht" des corpus iuris. Allerdings zeugen auch die Stadt- und Landrechtskodifikationen des 16. bis 18. Jahrhunderts zunehmend vom Einfluß der römischrechtlich geschulten Juristen 20 ).
1.2. Die Entwicklung des europäischen „ius commune" Doch das römische Recht, das auf die europäische Rechtswissenschaft so großen Einfluß ausübte, wurde seinerseits auch wieder von verschiedenen anderen Rechtstraditionen beeinflußt. Die Voraussetzung dafür war allein schon deshalb gegeben, weil während Jahrhunderten verschiedene Rechte nebeneinander existierten 21 ). Zugleich mit der Wiederentdeckung des corpus iuris begann auch die wissenschaftliche Bearbeitung des kanonischen Rechts. Um 1140 wurde aus verschiedenen älteren privaten Sammlungen das „Decretum Gratiani" erstellt, 19
) Söllner, Römische Rechtsgeschichte (wie Anm. 16), 149. ) Ders., Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Coing (Hrsg.), Quellen und Literatur (wie Anm. 3), 502. 21 ) Coing spricht von einer „Pluralität der Ordnungen" und weist darauf hin, daß das „römische" gemeine Recht in dieser „mehrstufigen Rechtsordnung" immer nur subsidiäre Geltung hatte. Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 40. Bellomo warnt allerdings davor, den Einfluß des ius commune zu unterschätzen und weist beispielsweise darauf hin, daß die Konsilien praktisch ausschließlich mit dem ius commune argumentieren. Bellomo, Common Legal Past (wie Anm. 3), 145. 20
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das fortan bei den Kanonisten denselben Platz einnahm wie das corpus iuris bei den Legisten. Durch die Gesetzgebung und Entscheidungen der mittelalterlichen Päpste wurde das kanonische Recht weiterentwickelt, und durch die wissenschaftliche Bearbeitung und den Unterricht an den Universitäten beeinflußte es auch die Lehre der Legisten 22 ). Daneben mußten die Juristen verschiedene Einrichtungen, die sich im Mittelalter entwickelt hatten, in ihre gemeinrechtliche Theorie integrieren, zumal sie ja nicht selber Gesetzgeber waren, sondern vor allem allgemeine Richtlinien für die Anwendung und Weiterentwicklung geltenden Rechts schaffen mußten. Zu den mittelalterlichen Rechtsinstituten gehörte das ständische und oft auch geschlechtsspezifische Personenrecht (im Gegensatz zur Unterscheidung von Bürger- und Sklavenrecht im klassischen römischen Recht). Vom römischen Recht übernommen wurde dabei die Annahme, daß im Zweifelsfall der günstigere Status anzunehmen ist (praesumptio libertatis). Ebenfalls aus der mittelalterlichen Gesellschaft stammten das gestufte Eigentum (im Gegensatz zur vollen Nutzungs- und Verfügungsgewalt im römischen Recht) und die Verknüpfung von Grundbesitz mit persönlichen Leistungen. Daraus entwickelten sich im ius commune die verschiedenen Arten von „dominium", etwa die strenge Trennung von Grund- und Gerichtsherrschaft vom Privateigentum. Schließlich konnten nach mittelalterlicher Praxis auch Hoheitsrechte Gegenstand von privatrechtlichen Geschäften werden - Geschäfte wie die Gewährung bestimmter Rechte gegen Kredite waren dem römischen Recht nicht bekannt 23 ). Die Rezeption des römischen Rechts bestand so einerseits aus der Übernahme materiellen Rechtes aus dem corpus iuris, anderseits aus einer „Verwissenschaftlichung" mittelalterlichen Rechtes 24 ). Die Humanisten leiteten mit der kritischen Untersuchung des corpus iuris als Sammlung historischer Texte eine Relativierung der alten Autoritäten ein und gaben mit ihrem Interesse für das „ius patrium" als eigenständiges Recht und nicht nur als Abweichung von der römischen Norm modernen Völkerrechtlern wie Grotius wichtige Impulse. Das ius gentium wurde nicht mehr unbedingt als gottgegeben angesehen, sondern als Recht, das die Vernunft aller Völker festgesetzt hat. Der Einfluß auf die Privatrechtswissenschaft des gemeinen Rechts hielt sich allerdings in Grenzen, war doch das ius commune durch jahrhundertelange Wirkung schon zu stark in der Praxis verankert.
22
) Ebd., 9 f. ) Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 25 ff. 24 ) Ebd., 38. 23
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Ähnliches gilt für die Rechtsschulen, die sich an Descartes' Methode orientierten: Zwar wurde in der Rechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts der systematische Ansatz gegenüber dem an einzelnen Problemen orientierten Denken stärker gewichtet, und die Rechtsmaterie wurde bisweilen auch neu geordnet. So versuchte etwa Leibniz mit seinem corpus iuris reconcinnatum eine Trennung der allgemeinen Regeln von den Einzelentscheidungen, und der Wolff-Schüler Nettelbladt ordnete das ganze gemeine Recht nach streng deduktiver Methode. Doch am materiellen Recht änderte sich wenig 25 ). Im Korporationsrecht führte allerdings die Betonung der Systematik und die Suche nach allgemeinen Begriffen und Regeln dazu, daß die einzelnen Korporationstypen stärker ausgeprägt wurden und daß damit beispielsweise die Trennung von Stadt und Dorf oder auch von Gemeinde und Zunft schärfer wurde, eine Entwicklung, die vermutlich der Praxis mit der Oligarchisierung der Städte und den Bestrebungen, das Recht in den Territorien zu vereinheitlichen, entgegenkam. Schließlich führten aber auch die relativ frei entwickelten Systeme Pufendorfs und anderer deutscher Naturrechtler, welche die neuen Ideen anders als die Rechtsphilosophen im französischen und angelsächsischen Raum weniger auf das Staatsrecht, sondern vielmehr auf das Privatrecht anwendeten, vor allem zu einer neuen Rechtfertigung des hergebrachten ius commune, auch wenn das Naturrecht vor allem nach der Mitte des 18. Jahrhunderts in Einzelfragen (zum Beispiel in der Frage der persönlichen Freiheit) durchaus Ansatzpunkte für kritische Theorien bot 26 ). Verschiedene Entwicklungen - die schon im 16. Jahrhundert einsetzende Kritik an der Realitätsferne und den „Subtilitäten" des ius commune, Ansätze zur Trennung von Rechtsprechung und Gesetzgebung, schließlich die in der Aufklärung mit Nachdruck vertretenen Forderungen nach einer klaren Trennung der Rechtsnorm von ihrer Anwendung sowie nach Klarheit und Überschaubarkeit des geltenden Rechtes für die betroffenen Bürger - begünstigten im 18. Jahrhundert die Ablösung des alten, „polyphonen" Rechtssystems mit seinem Nebeneinander verschiedener Rechtsquellen 27 ) durch das Gesetz als einzig mögliche Quelle der Rechtsnormen und schließlich auch die Auflösung des europäischen ius commune durch die verschiedenen nationalen Rechtskodifikationen 28 ). Die gemeinrechtliche Korporationstheorie allerdings überlebte selbst das 25
) Ebd., 6 7 f f . ) Ebd., 72 ff., und Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976. 27 ) Wolfgang Adam Lauterbach zählt in seinem „Collegium theorico-practicum", das zwischen 1690 und 1784 sechsmal aufgelegt wurde, neben dem Herkommen (consuetudo) sechs verschiedene Quellen für Normen mit Gesetzeskraft auf (W. A. Lauterbach, Collegium theorico-practicum ad L Pandectarum libros. Tübingen 1690, lib.l, tit.3, § 24). 28 ) Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 76 ff. 26
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Ende des ius commune und tauchte - zumindest in „konservativeren" Kodifikationen wie etwa dem Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis - praktisch unverändert wieder auf.
2. Die ländliche Gemeinde in der gemeinrechtlichen Korporationstheorie
2.1. Vorbemerkung zur Terminologie Während in den deutsch abgefaßten juristischen Texten, die hier behandelt werden und die vor allem aus dem späten 17. und aus dem 18. Jahrhundert stammen, die Terminologie keine Probleme aufgibt, da sie bezüglich der zentralen Begriffe „Dorf und „Stadt" in etwa dem heutigen Sprachgebrauch entspricht 29 ), ist die Situation in den lateinischen Texten nicht so eindeutig, was wohl zum einen am zeitlichen und kulturellen Kontext liegt, der für die hier verwendeten lateinischen Texte weit heterogener ist als für die deutschen Schriften; anderseits sind die lateinischen Begriffe für die Juristen Termini technici, die sowieso einer expliziten Definition bedürfen. Allerdings äußert sich diese relative Beliebigkeit nicht in einer Inflation der Begriffe; vielmehr ergibt sich durch das häufige Zitieren anerkannter Autoritäten eine große Konstanz der Begriffe, deren Inhalt aber wechseln kann. Für die in Italien lehrenden Glossatoren ist die civitas der Prototyp der aus einem Zusammenschluß Gleichgestellter entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Gemeinschaft mit autonomem Rechtsbereich. Die civitas entspricht der aristotelischen polis. Wie in den italienischen Stadtstaaten üblich, kann sie nur die Stadt oder Bürgerschaft 30 ) bezeichnen oder auch den ganzen Herrschaftsbereich der Stadt, das heißt die Bürgerschaft und die Einwohner der Dörfer, die das Recht der Stadt teilen 31 ). 29
) Gemäß Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 9, 766, Art. „Dorf") wird im Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit der ursprünglich recht unspezifische Begriff „Dorf" soweit eingeengt, daß ein Gegensatz zum Weiler einerseits und zu Markt und Stadt anderseits erkennbar wird. Auch ist immer klar, daß es sich beim Dorf um eine Gemeinde handelt, auch wenn diese hinsichtlich wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Organisation sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann. 30
) Im Gegensatz zum Terminus „urbs", der nur für die ewige Stadt Rom oder für die bauliche Infrastruktur einer Stadt verwendet wird, bezeichnet „civitas" den Inhalt dieses Ortes, die Einwohner mit ihren gemeinsamen Rechten. Diese Definition ist später auch im usus modernus pandectarum anzutreffen. Wie Michaud-Quantin zeigt, kann „urbs" im Mittelalter aber auch als Synonym für „civitas" oder „oppidum" verwendet werden, sofern es nicht um spezifisch juristische Fragen geht; Michaud-Quantin, Universitas (wie Anm. 9), 118 f. 3') Ebd., 113ff.
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Neben der Stadtgemeinde sind in den frühen juristischen Texten verschiedene nicht-autonome Gemeindetypen zu unterscheiden: Der Stadt am nächsten kommt das municipium, dessen Recht aber oft den Statuten (dem partikulären Recht) gleichgestellt wird, während das eigene Recht der civitas als ius civile (allgemeingültiges Recht) gilt 32 ). Burgus bezeichnet eine Vorstadt oder in Westeuropa die neugegründeten wirtschaftlichen Zentren, denen die territorialen Autoritäten ein gewisses Maß an Autonomie zugestanden haben 33 ). Für die kleinen Agglomerationen schließlich benützen die Glossatoren die Bezeichnungen Castrum, vicus oder villa. Dabei hat Castrum als befestigter Ort meist eine militärische Konnotation, vicus bezeichnet städtische Unterabteilungen wie Quartiere oder Vorstädte, villa schließlich verwenden die Glossatoren allgemein für ländliche Gemeinden. Nicht einig waren sich die frühen Juristen bezüglich der Fragen, ob diese kleinen Gemeinschaften eigene Rechte (Statuten) haben können und ob sie überhaupt als rechtsfähige universitates gelten können. Im allgemeinen wurden offenbar beide Fragen positiv beantwortet, wobei die Juristen die Abhängigkeit von der städtischen oder adeligen Herrschaft mehr oder weniger stark betonten. So erklärte Albert von Gandino im 12. Jahrhundert in seinen Quaestiones statutorum, die villa oder das Castrum sei zwar Teil der civitas, konstituiere aber eine universitas mit eigenen Gemeindegütern, mit selbstgewähltem Rechtsvertreter und selbst erlassenen Statuten, die sogar denen der Stadt vorgehen können; die Selbstverwaltungsrechte der villae, castra und burgi im Languedoc werden im späten 13. Jahrhundert auch von den Juristen der Universität Toulouse anerkannt, allerdings mit dem Vorbehalt obrigkeitlicher Autorisierung 34 ). Die Form der rechtsfähigen und wohl in der Selbstverwaltung, nicht aber „außenpolitisch" autonomen universitas minima - darunter fallen castra, vici und villae - wird mit Bartolus von Saxoferrato 35 ) für die folgenden Jahrhunderte bis ans Ende des usus modernus zementiert, wobei allerdings im Territorialstaat die obrigkeitliche Kontrolle stärker betont wird. Ob es sich insbesondere bei den castra der Glossatoren und Kommentatoren um eher genossenschaftlich oder um herrschaftlich geprägte Verbände (mit einer nicht von der Gemeinde kontrollierten Herrschaft) handelt, ist kaum eindeutig zu entscheiden. Die Theorie läßt beide Interpretationen zu. Im mittelalterlichen Italien ist es angesichts der „realen Vorbilder" wahrscheinlich, daß die Theorie flexibel genug angelegt wurde, um beide Verbände zu erfassen: Im Hochmittelalter entstanden in Italien „Neusiedlungen, auch solche des 32
) Ebd., 121. « ) E b d . , 122 f. 34 ) Ebd., 124-127. 35 ) S o etwa in Bartolus de Saxoferrato, Tractatus de regimine civitatis. Kritische Textedition in: D i e g o Quaglioni, Politica e diritto nel trecento italiano. Firenze 1983, insbesondere 168.
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castrum-Typs, die nicht von einem Herren abhängig waren, vielerorts durch die Initiative der freien ländlichen Bevölkerung selbst." Dabei erlangten die castra „aufgrund ihrer Rolle bei der Verteidigung und als Zentren der Rechtsprechung und Verwaltung eine Sonderstellung im Vergleich zu den einfachen Dörfern" 36 ). Im 16. Jahrhundert definiert Reichskammerjurist Andreas Gaill Castrum als befestigten Ort, der rechtlich, sofern er ein Territorium und die iurisdictio hat, mit einer Stadt oder andern universitates gleichzusetzen ist 37 ). Das Castrum ist herrschaftlich organisiert, erwähnt doch Gaill nicht nur die adeligen Besitzer, sondern auch öfters die Untertanen 38 ). Gaills Sprachregelung scheint sich bei den deutschen Juristen durchzusetzen, ebenso wie die villa zunehmend zum „Landgut" wird 39 ). Allerdings werden castra und villae weiterhin unter dem Recht der universitas abgehandelt einerseits gelten für herrschaftliche Beziehungen zwischen dem übergeordneten und dem untergeordneten Rechtsbereich dieselben Regeln, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Fürsten oder eine Stadt, um einen Grundherrn oder ein Dorf handelt 40 ), und anderseits wird immer noch die Formulierung „Castrum, villa seu vicus" 41 ) benützt. Gehen die Abhandlungen ins Detail, stützt sich der usus modernus nach 1600 auf Losaeus' Standardwerk De iure universitatum42). Losaeus beschreibt unter dem Titel universitates minimae folgende universitates: Castrum ist ein befestigter Ort mit eng aneinandergebauten Wohnungen. Wenn sich villa auf eine universitas bezieht, handelt es sich um eine „congregatio hominum & unitas quarundam domorum" ohne Mauern. „In Gallia tarnen villa idem est quod civitas apud nos.. ," 43 ). Eine villa besteht aus mindestens fünf „hominibus patribus familias". Die einzelnen Wohnungen dürfen nicht weiter als auf Rufweite voneinander entfernt sein, damit sich die Nachbarn jederzeit gegen36
) Giorgio Chittolini, Art. „Dorf (Italien)", in: Lexikon des Mittelalters. 3. Bd. München/ Zürich 1986, 1284. 37 ) Andreas Gaill, Practicae observationes. Köln 1690 (1. Ausgabe 1578), lib.2, obs.62, §§ 38
) Ebd., obs.61, § 8, oder „De arrestis Imperii" (1586 den Observationes angefügt; hier nach der Ausgabe von 1690), c.10, § 6. 39 ) So etwa bei Gottfried Christian Leiser, Jus georgicum. Frankfurt/Leipzig 1698. 40 ) Besonders deutlich in Gaill, De arrestis Imperii (wie Anm. 38), c.8, § 10. 41 ) Diese Standardaufzählung übernehmen die Vertreter des usus modernus von Bartolus, der die drei Begriffe zur Illustration seiner Kategorie der „universitas minima" gebraucht. Bartolus selber erwähnt im Kommentar zu D. 3,4,1,2 als Beispiel für territoriale universitates neben der civitas das Castrum oder die villa (Bartolus, Ad Digestum vetus in: Opera omnia. 1. Bd. Venedig 1603, fol.112). Hundert Jahre früher nannte Azo Portius in der Erklärung zu D. 3,4 neben den civitates nur die vici (Summa Azonis. Venedig 1584, 1156.) 42 ) Nicolaus Losaeus, Tractatus de iure universitatum. Spirae 1611. 43 ) Ebd., P.l, c.2, §§ 38/39. Bei dieser französischen Spezialität handelt es sich um eine Entwicklung, die im 13. Jahrhundert einsetzte; Michaud-Quantin, Universitas (wie Anm. 9), 127.
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seitig zu Hilfe kommen können 44 ). Vicus bezeichnet generell alles, was nicht „civitatis dignitate honoratur, sed quia vice civitatis cui subest regitur [.. .]" 45 ). Oppidum kann jede civitas außer Rom heißen 46 ); burgus schließlich ist eine Vorstadt, deren Einwohner die Privilegien, welche die Stadt als Ort und nicht „pro personis" erhalten hat, ebensowenig teilen wie die Bewohner des platten Landes 47 ). Für das Dorf, ohne Herrschaft betrachtet, verwenden die Juristen nördlich der Alpen zunehmend die Bezeichnung pagus, wobei immer - mit der Übersetzung „Dorf" oder in der Umschreibung - definiert wird, ob es sich nun um ein Dorf oder um eine größere Einheit handelt 48 ). Der württembergische Jurist Wolfgang Adam Lauterbach verwendet im Collegium Theorico-Practicum ad L. Pandectarum Libros, das bis Ende 18. Jahrhundert ein verbreitetes Lehrbuch blieb, Castrum, vicus, villa, pagus und Dorff synonym 4 9 ), während sein sächsischer Zeitgenosse Christoph Philipp Richter in der Dissertation De universitate mit Gaill Castrum als Herrschaft mit Untertanen definiert, vicus für Weiler und pagus für Dorf oder „Gegend" benützt 50 ). Auch für den Niederländer Ulricus Huber ist ein vicus, da ihm jedes eigene regimen fehlt, keine universitas, wohl aber der pagus (dessen Bedeutung „qua territorium" ausgeschlossen wird), „quod pagi certo regendi ordine consistant; seu per unum rectorem vel paucos, aut totius plebis suffragationes is ordo exerceatur." 51 ) In den Dorf- und Bauernrechten 52 ) wird - sofern sie nicht überhaupt deutsch geschrieben sind und soweit sie nicht direkte Zitate verwenden - konsequent von „pagus" gesprochen 53 ). Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.l, c.2, §§ 36-41. ) Ebd., § 43. ) Ebd., § 45. 47 ) Ebd., § 46 und P.3, c.13. 48 ) Letztere wird eher historisch verstanden (so etwa in Ulrich Huber, De jure civitatis. 4. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1708, lib.2, Sectio 3, c.5, § 5). 49 ) Lauterbach, Collegium Theorico-Practicum (wie Anm. 27), zu D. 3,4,5: „Castrum seu villa"; ebd., § 10: „in villis & pagis"; ders., Dissertationes Academicae. Tübingen 1728, 3. Bd., Resp. 103, c.3, th.2, § 1: „de Pagis, von denen Dörfern". Der etwas ältere Christoph Besold definiert „pagus" als „Dorff' und „vicus" als Teil davon; „Castrum" ist ein befestigter Ort (Dissertatio de iure universitatum, in: Opus Politicum. Argentorati 1626, c . l , § 2). 50 ) Christoph Philipp Richter, Exercitatio de universitate, in: Ahasver Fritsch, Exercitationum variorum juris publici Romano-Germanici. Vol. 9, P. 2. Frankfurt/Leipzig 1679, 241-352, hier c . l , § 10. 51 ) Huber, De Jure civitatis (wie Anm. 48), lib.2, Sectio 3, c.5, §§ 3 - 5 . 52 ) Vgl. Abschnitt 4. 53 ) Etwa im ältesten mir bekannten Werk dieser Gattung, in Ahasver Fritsch, De jure ac statu pagorum germaniae. Jena 1673, c . l , § 2: „Evolvenda autem est ambiguitas nominis pagi, quod 1. notat vicum, seu villam, muris portisque carentem; Germanis diciturein Dorff [...]". Auch schon der französische Jurist Petrus Gregorius Tholosanus, De Republica libri 26. Köln 1597, dessen unverbindliche, meist aus der klassisch griechischen und römischen 45 46
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D a k e i n e e i n h e i t l i c h e T e r m i n o l o g i e e n t w i c k e l t w u r d e , m u ß v o n Fall zu Fall aus d e m K o n t e x t e r s c h l o s s e n w e r d e n , w o v o n D ö r f e r n allein o d e r v o n D ö r f e r n e i n s c h l i e ß l i c h Obrigkeit g e s p r o c h e n wird o d e r w o überhaupt nur W e i l e r g e m e i n t sind.
2.2. Die universitas im römischen Recht Für ihre Korporationslehre
g r e i f e n d i e Juristen v o m Mittelalter bis
ins
18. Jahrhundert i m m e r w i e d e r auf das C o r p u s juris zurück. D a s r ö m i s c h e R e c h t beschreibt Verbände, d i e e i n e s k o l l e k t i v e n W i l l e n s f ä h i g sind und deren V e r m ö g e n der V e r f ü g u n g d e s e i n z e l n e n M i t g l i e d e s entz o g e n ist, nicht als ein v o n d e n M i t g l i e d e r n v e r s c h i e d e n e s Rechtssubjekt, s o n dern e s versteht als Rechtsträger d i e G e s a m t h e i t der j e w e i l i g e n Mitglieder. A u c h ein s o definierter Verband kann über e i n V e r m ö g e n v e r f ü g e n , das v o n d e m der M i t g l i e d e r getrennt g e h a l t e n wird, und er kann durch dazu b e r u f e n e Vertreter rechtlich h a n d e l n 5 4 ) : D e r mittelbare Stellvertreter n i m m t das G e s c h ä f t i m e i g e n e n N a m e n und mit Wirkung für s e i n e e i g e n e Person vor u n d überträgt d i e R e c h t e und Pflichten v i a separates Rechtsverhältnis d e m Vertretenen55). D i e r ö m i s c h e n Juristen b e z e i c h n e t e n G e s a m t h e i t e n v e r s c h i e d e n e r Art als universitas56).
V e r g l e i c h e mit der natürlichen Person k a m e n nur selten v o r 5 7 ) ,
Literatur stammenden Feststellungen von den deutschen Juristen im 17. Jahrhundert gern zitiert werden, benützt „pagus" für das unbefestigte Bauerndorf, wobei er aber - analog zu „urbs" - vor allem die Siedlung meint: Von „pagi" und „villae" spricht Gregorius Tholosanus im Kapitel „de urbis seu civitatis aedificatione" (lib.2, c.l, § 4), während im Abschnitt über das Recht der ländlichen Gemeinden (in einem Zitat aus dem corpus iuris) von „vici" die Rede ist (üb. 1, c.2, § 21). Der Unterschied wird in dem auf Deutsch und Latein erschienenen juristischen Wörterbuch von Fritschs Zeitgenossen, dem Besold-Schüler Johann Jacob Speidel, übernommen: Unter „pagus", respektive „ D o r f f ' wird nur die Entstehung der „pagi" und die Herkunft des Terminus gemäß Gregorius Tholosanus abgehandelt; das Dorfrecht erscheint unter den Einträgen „universitas", wo Speidel mit Losaeus die vier Species der universitas „provincia, civitas, Castrum seu villa & simplex collegium" aufzählt, respektive unter „Gemeind"; hier spricht Speidel im Text von „civitas, communitas vel collegium" (Sylloge Quaestionum Juridicarum. 2. Aufl. Tübingen 1653, und Speculum juridico-politico [...] Observationum. 1. Aufl. Nürnberg 1657). 54
) Max Käser, Römisches Privatrecht. 15. Aufl. München 1989, 86. ) Ebd., 64. 56 ) Die „universitas" (Körperschaft) unterscheidet sich von der „societas" (Gesellschaft); letztere bezeichnet ein Vertragsverhältnis zwischen mindestens zwei Personen, das zwischen den Gesellschaftern obligatorische Verpflichtungen erzeugt (d.h., der Vertrag wurde zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks geschlossen). Anders als die universitas tritt die societas nach außen hin nicht als eine selbständige Einheit auf und hat so auch keine Organe, die ihren Gesamtwillen ausführen - allenfalls können die Vertragspartner von einem der Gesellschafter mittelbar vertreten werden. Ebenso gehört allfälliges Gesellschaftsvermögen nicht der societas, sondern den Gesellschaftern als Miteigentümern. Schließlich ist die societas an die Personen ihrer Mitglieder gebunden und erlischt mit dem Tod derer, die 55
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dienten aber später den Kanonisten als Ausgangspunkt für ihre Theorie der persona ficta, die von den Legisten übernommen und nördlich der Alpen mit dem übrigen römischen Recht rezipiert wurde. Zu den verschiedenen Körperschaften gehören neben dem Staat die städtischen Gemeinden außerhalb Roms, die municipia und coloniae, die auch als civitates oder res publicae bezeichnet werden. Ihre politische Organisation (Willensbildung, handlungsberechtigte Organe) richtet sich nach der Gemeindeverfassung und damit nach öffentlichem Recht. Daneben haben Gemeinden auch teil am privaten Recht und können im Zivilprozeß klagen und verklagt werden 58 ). Dasselbe gilt auch für die nicht-territorialen Verbände (collegia oder corpora). Seit Augustus brauchen alle Vereine, deren Satzungen Mitgliederversammlungen vorsehen, eine Zulassung durch den Senat 59 ). Nur für die Vereine der kleinen Leute (collegia tenuiorum) besteht eine generelle Erlaubnis. Die Satzungen der Körperschaften {lex collegii) regeln den Ein- und Austritt der Mitglieder, deren Rechte und Pflichten sowie die Festsetzung der Vereinsorgane. Während für die Vereinsgründung mindestens drei Mitglieder nötig sind, genügt für den Fortbestand ein Mitglied 60 ).
2.3. Landgemeinde und Korporation in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft
2.3.1. Azo: Das Volk erläßt Gesetze, die Gemeinde schützt das Recht Eine frühe und über das Mittelalter hinaus einflußreiche Interpretation des corpus iuris ist die Summa Azonis6[). In der erläuternden Zusammenfassung von D. 3,4 wird die universitas als corpus definiert und der Unterschied zwischen der Gesamtheit und den einzelnen erläutert 62 ). Diese corpora können ihre Geschäfte über Rechtsvertreter abhandeln 63 ); Voraussetzung dafür ist, daß die betreffenden Körperschaften - civitates und vici sowie religiöse collegia, so-
den Vertrag abgeschlossen haben, während die universitas unabhängig vom Wechsel der Mitglieder weiterbesteht; Käser, Römisches Privatrecht (wie Anm. 54), 86. 57 ) So etwa in D. 30,116,3. 58 ) D. 3,4,7 ferner Inst. 2,11; D. 4,3,15,1; D. 41,2,1,22. 59 ) D. 3,4,1. 6°) D. 50,16,85 und D. 3,4,7,2. 61 ) Die Codex-Summe des berühmten Bologneser Juristen Azo Portius (gestorbern um 1230) „die schnell zum Handbuch der kommunalen Juristen Italiens avancierte" (Walther, Die Legitimität der Herrschaftsordnung (wie Anm. 3), 120), wurde als Lehrbuch bis in die frühe Neuzeit benützt. 62 ) Summa Azonis (wie Anm. 41), D. 3 rubr. quod cuiusque universitatis nomine vel contra eam agat, § 1. 63 ) Ebd., § 2. Das Recht der universitas auf einen syndicus wird in § 5 behandelt.
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cietates professionum oder negotiationum - vom Gesetz erlaubt sind 64 ). Generell gilt allerdings, „omnis congregatio potest dici licita que fit pro conservandae cuique sua iustitia" 65 ). In seiner Auslegung der Codex-Titel, die sich mit der Entstehung und Anwendung von Gesetzen und Gewohnheitsrecht beschäftigen, lehrt Azo, wie diese universitas gegen Eingriffe von außen respektive oben abzusichern ist: Gesetze im engeren Sinn wurden ursprünglich nur vom populus romanus beschlossen 66 ); und selbst wenn die Gesetzgebungsgewalt später dem Kaiser übertragen wurde, hat das Volk des römischen Reichs als Ganzes und in seinen Teilen (in Form der populi der Kommunen) dennoch die Kompetenz behalten, Statuten per Gewohnheitsrecht zu erlassen 67 ). Die consuetudo des Volkes und die kaiserliche lex stehen - sofern sie beide generalis und necessaria sind gleichwertig nebeneinander. Die consuetudo ist sogar das erste Interpretationsmittel, und erst wenn sie versagt, soll der Kaiser um Rat gefragt werden 68 ). Lokal geht die consuetudo der civitas sogar vor die lex principis: „civitas sibi constituit per consuetudinem", und da die lokale Gesetzgebung vom princeps geduldet wird „consuetudo, id est quam priceps patitur", ist diese im Konfliktfall zuerst zu beachten 69 ). Neben dem Volk hat auch der Magistrat eine Gesetzgebungskompetenz, die allerdings vom Kaiser (ex principis autoritate) hergeleitet wird 70 ).
2.3.2. Keine Gesetzgebung ohne iurisdictio Dieselbe Haltung vertrat grundsätzlich auch Ranieri Arsendi 71 ) im 14. Jahrhundert. Während das ius statuendi den kommunalen Obrigkeiten nur durch ausdrückliche Verleihung zukommt, gründet sich das Recht des Volkes, über die vorgelegten Statuten abzustimmen, auf das merum et mixtum Imperium und, seit der Übertragung dieser Gewalt auf den princeps, auf die patientia der Kaiser, die in der lex omnes populi (D. 1,1,9) auch schriftlich fixiert ist. Und 64
) Ebd., 394 v, §§ 2 und 3 („super his universitatibus generalis traditur regula: ut omnia dicantur illicita quae non probantur permissa legis authoritate"). ) Ebd., § 4. 66 ) Summa Azonis (wie Anm. 41), C . l , rubr. de legibus & constitutionibus princium, & edictis, § 1: „Stricte, [ . . . ] lex est, quod populus Romanus senatorio magistratu interrogante, veluti consule, constituebat". 67 ) Ebd., § 8. 68 ) Ebd., §§ 12-14. Ein drittes Interpretationsmittel ist der Vergleich mit analogen Fällen. 69 ) Ebd., C.8, rubr. „quae sit longa consuetudo". Zur Haltung von A z o in der Frage der Gesetzgebungskompetenz und der Entwicklung dieser Lehre hin zu einem stärker herrschaftlich geprägten Verständnis bei den Kommentatoren: Walther, Legitimität der Herrschaftsordnung (wie Anm. 3). 70 ) Summa Azonis (wie Anm. 41), C . l , rubr. de legibus & constitutionibus principum, & edictis, § 9. 71 ) Rainerius de Forlivio (de Arsendis, gestorben 1358). 65
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während die Autorisierung des Kaisers nur die causa remota ist, gilt der consensus populi als causa proxima (unmittelbare Ursache) und ist so für die Gültigkeit von Statuten in jedem einzelnen Fall erforderlich. Konkret heißt das, daß der superior die Volksversammlung einberuft und ihr die Statuten zur Abstimmung vorlegt 72 ). Mit seiner Repetitio. zu D. 1,1,9 wandte sich Arsendi gegen die Lehre seines Schülers Bartolus de Saxoferrato, der das ius statuendi an die iurisdictio band - ein Zug, durch den einerseits die Legitimationsschwelle für die neuen Stadtherren gesenkt 73 ), und anderseits das ius statuendi der villae und castra stark eingeschränkt wurde 74 ). Volle Autonomie garantiert Bartolus den universitates superiorem non recognoscentes75). In der Praxis waren das die italienischen Städte, die den Kaiser zwar formell noch als obersten Schiedsrichter anerkannten, sich de facto aber wie unabhängige Mächte verhielten. Die Gemeinden ohne iurisdictio - vor allem villae und castra16) - haben in Bartolus' System das Recht, ihre Selbstverwaltung mit ihren eigenen Statuten zu regeln; gehen die Statuten über die gemeindeinternen Angelegenheiten hinaus, müssen sie vom superior bestätigt werden 77 ). Während Arsendi den Maßstab für Recht in den Gesetzen sucht, welche die jeweiligen Gemeinden für ihren Rechtsbereich als billig anerkannt haben, ist für Bartolus die Frage nach Legitimität vor allem eine Frage der Rechtstitel, die mit dem ius commune begründet werden müssen 78 ). Bartolus' Haltung 72
) Claudia Storti Storchi, Betrachtungen zum Thema „Potestas condendi statuta", in: Chittolini/Willoweit (Hrsg.), Statuten (wie Anm. 3), 258-261. 73 ) Vermutlich aufgrund von Arsendis „Repetitio" schrieb Bartolus die drei Traktate „De tyranno", „De Guelphis et Gebellinis" und „De regimine civitatis", die sich mit der Legitimation von Machtergreifung und Machtausübung beschäftigen; Storti Storchi, Potestas condendi statuta (wie Anm. 72), 263. 74 ) Bartolus' Theorie setzte sich zwar bei der Mehrheit der späteren Juristen durch, doch blieben offenbar auch Arsendis Argumente zumindest bis ins 16. Jahrhundert in Gebrauch und wurden zunächst sogar noch zugunsten der Kommune ausgebaut (ebd., 269 f. und 264 f.). 75 ) Bartolus, Ad Digestum vetus (wie Anm. 41), zur „lex omnes populi"D. 1,1,9,4-5: „Populus habens omnem iurisdictionem, potest statuta facere sine superiore", und „populus, qui habet iurisdictionem limitatam, in quibus habet iurisdictionem, potest sine superiore statuere". 76 ) Ebd., § 3. Bartolus geht davon aus, daß villae und castra keinen iurisdictio haben, sofern sie ihnen nicht vom Princeps konzediert wurde. Offenbar denkt Bartolus bei „castra" und „villae" vor allem an Dörfer, da er in diesem Zusammenhang vom ius statuendi der Bauern (rustici) in internen Verwaltungsangelegenheiten spricht. Diese dorfinternen Statuten werden wie alle anderen Gemeindebeschlüsse auch gefallt - mit Mehrheitsbeschluß von einer ordentlich einberufenen Versammlung, an der mindestens zwei Drittel der Gemeindemitglieder anwesend sind (§ 16. Vgl. auch Kommentar zu D. 3,4,3,8 unten) - und sie dürfen nicht gegen übergeordnetes Recht verstoßen (§51). 77 ) Ebd., § 3. 78 ) Bellomo weist darauf hin, daß Bartolus im Gegensatz zu seinen Lehrern nicht mehr ius proprium und ius commune als zwei gleichrangige, an einer übergeordneten aequitas zu
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läßt sich am Beispiel der Definition des „Tyrannen" im Tractatus de tyranno illustrieren: Die Bezeichnung „Tyrann" trifft auf denjenigen zu, der Herrschaft ohne den entsprechenden Rechtstitel ausübt, weil er beispielsweise nicht rechtmäßig gewählt wurde, oder weil er zwar gewählt, aber durch ein ordentliches Verfahren seines Amtes enthoben worden ist 79 ). Durch diese Konzentration auf die Rechtstitel werden die Grenzen zwischen den verschiedenen Kategorien von universitas aufgelöst: civitas und Castrum werden nicht nur analog, sondern oft sogar gleich behandelt. Das Stadtrecht ist noch nicht das entscheidende Trennungsmerkmal, sondern ein Definitionskriterium unter anderen für ländliche und städtische Kommunen; dabei sind die graduellen Unterschiede wichtiger als die Frage, ob eine Gemeinde eine „Stadt" oder ein „ D o r f ist. Zu den Unterscheidungsmerkmalen gehörten neben der Frage, ob eine universitas einen superior anerkennt und die Jurisdiktion hat, auch politische Kriterien. Diese beziehen sich vor allem auf die innere Organisation der Kommune, insbesondere auf das Problem, wie die Legitimität eines Regiments festgestellt werden kann. So stellt Bartolus etwa im Tractatus de regimine civitatis (das über weite Strecken der Politik und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles folgt) eine Relation zwischen der Regierungsform und der Größe eines Gemeinwesens her: Die geeignetste Regierungsform für ein populus der kleinsten Größenordnung ist die Demokratie. Denn was eine Gemeinschaft dieser Größenordnung erwirtschaften kann, reicht nicht aus, um einen König oder eine Aristokratie ordentlich zu erhalten. Die Demokratie führt, dank der Akzeptanz für selbstbeschlossene Maßnahmen, zu Eintracht und, weil sie in jeder Hinsicht „billig" ist, zu wirtschaftlicher Blüte, wie das Beispiel des blühenden und gedeihenden Perugia beweist 80 ). Für populi maiori wie Venedig und Florenz empfiehlt Bartolus dagegen die Aristokratie, da hier eine Volksversammlung wegen ihrer Größe leicht zu Unruhen führen könnte. Die größten populi, die viele andere Städte und Provinzen beherrschen, sollten zur Erhaltung der Einheit Monarchien sein 81 ). Nicht in die Kategorie der Gemeinwesen, die sich selber regieren können,
messende Gruppen von Normen sieht, sondern daß er das ius commune selbst als geschlossenes Normensystem und als den Maßstab versteht, an dem die einzelnen Sätze des ius proprium zu messen sind (so wie die Richtigkeit einer sprachlichen Äußerung an der Grammatik der jeweiligen Sprache gemessen wird). Bellomo bezieht sich für den Vergleich nicht auf Arsendi, sondern auf Cinus von Pistoia, einen anderen Lehrer des Bartolus; Manlio Bellomo, Bartolus von Sassoferrato und die moderne europäische Jurisprudenz, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (1995), 3 1 ^ 4 . 79 ) Bartolus de Saxoferrato, tractatus de tyranno, in: Quaglioni, Politica (wie Anm. 35), 177 f. 80) Ebd., 162ff. 81 ) Ebd., 164-168.
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gehören die civitates und castra, die so klein sind, daß sie sich unter den Schutz größerer Gemeinden stellen müssen 82 ). Mit Bartolus' Kommentar zu D. 3,4 und zur lex omnes populi ist die Korporationstheorie, die ohne größere Modifikationen bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts - und mit einer stärkeren Betonung der obrigkeitlichen Kontrolle bis ins 18. Jahrhundert - an den Juristenfakultäten gelehrt wird, in den Grundzügen vollendet 83 ). Nach Bartolus brauchen alle Korporationen eine Bewilligung (approbatio); allerdings sind sämtliche Gemeinden („congregatio cuiuslibet civitatis, castri vel villae") nach ius gentium zugelassen, sofern sie keiner anderen Gemeinde schaden 84 ). Ein großer Teil des Titels D. 3,4 beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern und der Korporation. Dabei geht es einerseits um die Frage, auf welche Weise aus einer Menge von einzelnen durch Delegation eines Teils der individuellen Rechte eine Korporation entsteht, und anderseits um die Abgrenzung der individuellen Rechtssphäre gegen die Rechte der Gemeinschaft. So wird zunächst festgelegt, daß der Rechtsvertreter dieser Korporation für die Gesamtheit, nicht für die einzelnen Mitglieder steht 85 ). Der Rechtsvertreter braucht ein Mandat; dieses wird von der Versammlung der Korporationsmitglieder nach Mehrheitsprinzip erteilt 86 ). Damit die Versammlung beschlußfähig ist, müssen alle Mitglieder geladen und mindestens zwei Drittel anwesend sein 87 ). Dabei gilt ein individuelles Stimmrecht, sofern das partikuläre Recht (statutum vel consuetudo) nichts anderes sagt 88 ). Dieselben Bestimmungen gelten für die Versammlung einer repräsentativen Körperschaft
82
) Ebd., 168. ) Gierke, Genossenschaftsrecht (wie Anm. 6), 3. Bd., 354 f. 84 ) „Verum ergo, quod si aliqua gens vellet se ponere in uno loco, & facere civitatem, Castrum, vel villam, quod hoc posset [...] nisi tenderet ad iniuriam, vel aemulationem alterius castri, vel villae [...] Item quaelibet congregatio pro iustitia conservanda [...]"; Bartolus, Ad Digestum vetus (wie Anm. 41), zu D. 3,4,1. 85 ) Ebd., zu D. 3,4,2. 86 ) Hier greift Bartolus auf die von Kanonisten, insbesondere von Innocenz IV. im 13. Jahrhundert entwickelte Theorie zurück. Diese bringt vor allem drei Neuerungen: Die vollständige Trennung der universitas von ihren einzelnen Mitgliedern - die Korporation bleibt auch bei Mitgliederwechsel dieselbe; die universitas als Rechtsträger wird eindeutig als „Person" bezeichnet („persona ficta"), und dieser Personenbegriff hat keine reale Entsprechung, sondern bezieht sich nur auf das Rechtssystem; Gierke, Genossenschaftsrecht (wie Anm. 6), 3. Bd., 277-282, und Peter Landau, Otto von Gierke (wie Anm. 6), 85. 87 ) Bartolus, Ad Digestum vetus (wie Anm. 41), zu D. 3,4,3. 88 ) Ebd., zu D. 3,4,5. Diese beiden Bestimmungen begründet Bartolus damit, daß mit dem Wahlrecht eine öffentlichrechtliche Funktion ausgeübt wird: So müssen Verwandte nicht in den Ausstand treten, „quod in his, quae publici iuris sunt, non curatur patria potestas [ . . . ] quia ibi non facit ut privata persona, sed ut publica." Ebenso gehört der Wahlmodus zum ius publicum und folgt der lex oder der consuetudo der universitas. 83
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(der decuriones). Die Vertreter der universitas sind von der Mitgliederversammlung autorisiert, spezifische Geschäfte durchzuführen und dürfen ihr Mandat nicht beliebig weiterdelegieren. Es besteht also eine Kontrolle durch die universitas 89 ). Wird ein Rechtsvertreter von der ganzen civitas gewählt, kann er auch die ihr untergebenen collegia vertreten, sofern diese keine eigene Verwaltung (kein caput oder keine administrado) haben; denn für solche collegia gilt die übergeordnete universitas als caput 90 ). Daneben können aber auch Teile der universitas Mandate erteilen 91 ). Eine Bestätigung der Wahlen durch den superior ist, wie Bartolus mit einer Analogie zum Verkauf von Gemeindegütern zeigt, nicht nötig, sofern die universitas die iurisdictio hat 92 ). Die universitas ist soweit beschlußfähig, wie ihre Rechtsfähigkeit geht: „Sicut universitas potest agere, ita potest conveniri" 93 ). Das heißt, die universitas kann nicht über die Angelegenheiten ihrer einzelnen Mitglieder entscheiden, und es ist auch keine Haftung der Mitglieder für die Korporation oder umgekehrt gegeben. Wenn eine universitas in Not gerät, etwa weil sie für die Bezahlung ihrer Schulden nicht mehr auf Gemeindegüter zurückgreifen kann, hat sie das Recht, Steuern zu erheben. Diese Steuern dürfen aber ausschließlich nur für Gemeindezwecke gebraucht werden 94 ). Für die Gründung einer universitas sind mindestens drei Mitglieder nötig. Eine bestehende universitas aber ist im Prinzip unsterblich, solange ihre Rechte existieren. Wird eine universitas aufgelöst, teilen die Mitglieder die Güter auf. Was nicht aufgeteilt werden kann, wird vom superior für eine neue universitas verwendet oder fällt an den fiscus95). In der Korporationstheorie, die mit Bartolus ihren vorläufigen Abschluß findet, sind ländliche und städtische Gemeinde nach demselben Muster aufgebaut und funktionieren nach denselben Prinzipien. Keine Unterschiede bestehen bezüglich der Rechtsfähigkeit der Gemeinden als personae fictae und der Gesetzgebung, die für die Verwaltung gemeindeinterner Angelegenheiten notwendig ist. Deutliche Unterschiede bestehen bezüglich der iurisdictio und der daran gebundenen Gesetzgebung zu überkommunalen Fragen. In diesem Bereich wird grundsätzlich zwischen autonomen civitates und abhängigen villae 89
) Ebd., zu D. 3,4,6. ) Ebd., zu D. 3,4,3. ) Ebd., zu D. 3,4,4. 92 ) Ebd., zu D. 3,4,3,6. Wo ein rector überhaupt fehlt, kann eine universitas ihre eigene iurisdictio ausüben. 93 ) Ebd., zu D. 3,4,7. 94 ) Dagegen liegt das Recht, Steuern aus Gründen der utilitas publica zu erheben, nur beim Princeps (ebd., zu D. 3.4.1). 9 5) Ebd. 90
91
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oder castra unterschieden. Allerdings zeigen die Korrelation von ökonomischer und politischer Autonomie in De regimine civitatis sowie der Hinweis auf privilegierte villae und castra, daß auch dieser Unterschied eher gradueller als prinzipieller Art ist.
2.4. Die Rezeption nördlich der Alpen Mit der Proklamation des Ewigen Landfriedens und der Schaffung des Reichskammergerichts 1495 hatte sich im deutschen Reich das ius commune nach dreihundert Jahren „Frührezeption" durch die vor allem in der Kirche und im städtischen Patriziat verankerten Juristen gegen den Widerstand der Feudalherren durchgesetzt. Die „Vollrezeption" konnte beginnen 96 ). Zu den einflußreichsten Juristen nördlich der Alpen gehörte zu dieser Zeit Ulrich Zasius 97 ). Zasius plädiert für einen starken Staat, dessen Herrscher sich an die grundlegenden Gesetze zu halten hat und der das merum imperium - die Kompetenz, Recht zu setzten, und die Gewalt, es durchzusetzen - mit den Ständen teilt 98 ). Als Jurist einer de facto autonomen Stadt benützt Zasius die mittelalterliche Lothar-Legende 99 ), um die Delegation von Staatsgewalt an den Magistrat zu illustrieren und die Position der städtischen Obrigkeit zu stärken. In seinen Digestenkommentaren folgt Zasius der Lehre des Bartolus in den wichtigsten Punkten. So bindet er das ius statuta condendi an die iurisdictio. Damit steht vor allem den Städten ein Gesetzgebungsrecht zu, die keinen su96
) Bellomo, Common Legal Past (wie Anm. 3), 219 f. ) Ulrich Zasius (1461-1535) übte einen großen Einfluß auf die Entwicklung sowohl des praktischen Rechts als auch der Rechtstheorie im Reich aus. Als Freiburger Stadtsyndicus war er verantwortlich für die Stadtrechtsreformation von 1502-1520. Diese Synthese aus rezipiertem römischem und überliefertem deutschem Recht wurde bis 1800 gebraucht und beeinflußte zahlreiche andere Stadt- und Landrechte. Als Rechtslehrer bildete Zasius eine ganze Reihe von einflußreichen Juristen aus, darunter Joachim Mynsinger von Frundeck, der die Kammergerichts-Jurisprudenz mitbegründete. Wie andere Humanisten wandte sich Zasius gegen eine blinde Autoritätsgläubigkeit. Anders als eher philologisch interessierten Zeitgenossen ging es dem vor allem auf praktische Brauchbarkeit bedachten Zasius jedoch darum, den ursprünglichen Text nur soweit von Kommentaren zu befreien, daß „das Verständnis nicht durch den Wirbelwind der gelehrten Meinungen verworren wird" (zitiert nach Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen [wie Anm. 15], 324). Zasius' Werke wurden während des ganzen 16. Jahrhunderts regelmäßig neu aufgelegt - vereinzelt auch später {Steven Rowan, Ulrich Zasius: A Jurist in the German Renaissance, 1461-1535. Frankfurt am Main 1987, 232 ff.). 97
98
) Ebd., 87. ) Ulrich Zasius, Opera omnia. 6 Bde. mit Index. Hrsg. v. Joachim Mynsinger von Frundeck u.a. 1550 (Nachdruck 1964—66), Kommentar zum Digestum vetus, tit. de Iurisdictione Omnium Iudicum, 1. Imperium, § 36. Zasius verteidigt damit die Position, die später von Juristen, die sich wie Charles Loyseau für eine zentrale Verwaltung einsetzen, heftig angegriffen wird (vgl. Eingangszitat). 99
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perior außer dem Kaiser kennen - wobei die Bewilligung (autoritas) des Kaisers im Einzelfall zwar nicht erforderlich ist, aber „im allgemeinen von einem neuen Kaiser Bestätigungen der Privilegien, Statuten und Gewohnheiten erbeten" werden 100 ). Bei Städten mit einer beschränkten iurisdictio reicht das Statutargesetzgebungsrecht so weit wie die iurisdictio 101 )- Dörfer und Flecken (villae et castra) können, sofern sie keine Jurisdiktion haben, auch keine Statuten erlassen außer über das, was die gemeinsame Kasse (communis bursa) und die Verwaltung ihrer privaten Angelegenheiten betrifft 102 ). Die Statuten dürfen von der Versammlung der Räte (decurionum) gemacht werden, da diese das Volk repräsentieren. Wie schon die Glossatoren und Kommentatoren sagen, muß die Versammlung ordentlich einberufen werden, mindestens zwei Drittel der Räte müssen anwesend sein, Entscheide werden nach Mehrheitsprinzip gefällt. Worüber statuiert werden kann, ist von Ort zu Ort verschieden; immer ausgenommen sind Angelegenheiten, die unter das kanonische Recht fallen 103 ). Generell darf nicht gegen allgemeines Recht (ius civile) statuiert werden. Das heißt, die Gemeinden dürfen nicht in die Gesetzgebungskompetenz des Kaisers oder ihres superior eingreifen. Allerdings lassen Gesetze, die nur einen allgemeinen Rahmen setzen, sowohl Statuten als auch private Verträge {pacta) zu 104 ). Im Gegensatz zum übergeordneten Recht können bestehende Statuten durch neue Statuten geändert werden, sofern diese keinen Dritten schädigen 105 ). Sobald die Statuten beschworen und damit gültig sind, wobei sie auch die Gesetzgeber selber binden, haben sie in ihrer Gemeinde dieselbe Geltung wie das ius civile. Folglich wirken sie im Prozeß wie allgemeingültige Gesetze und werden nach denselben Regeln wie das ius civile interpretiert 106 ). Die Rechtsfähigkeit und innere Organisation handelt Zasius im Kommentar zu D. 4,3 ab. Dabei folgt er zunächst weniger den italienischen Juristen als Aristoteles (den er nicht zitiert) und der Rechtspraxis (auf die er sich ausdrücklich beruft): Die Gemeinden (universitates) und auch die collegia ermöglichen ein gutes, glückliches und angenehmes Leben. Aus dieser Notwendigkeit heraus wurden solche Korporationen legitimiert. Nicht zulässig sind diejenigen, die zu schlechten Zwecken oder als private Konspiration ohne autoritas der Obrigkeit und gegen die mores civiles entstehen 107 ). I0
°) ) 102 ) 103 ) 104 ) 105 ) 106 ) 107 ) 101
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
Kommentar zur 1. omnes populi, §§ 6 und 7. § 10. § 9. § 11-13. § 21 und § 23. § 27. § 29-35. Kommentar zu D. 3,4,1—4.
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Anders als Bartolus legitimiert Zasius die universitas also nicht nur über ihre Rechtstitel, sondern auch über ihren Zweck. Das Dorf wird dabei vor allem über seinen ökonomischen Zweck definiert: Den Dörfern (villae) kommt nach Zasius' Meinung nur dann die Bezeichnung collegium zu, wenn sie neben den privaten Gütern auch gemeinsame Güter haben sowie zumindest Ansätze (umbra) zu einem Gemeinwesen, und sei dies auch nur in der consuetudo geregelt 108 ). Zwar entgeht Zasius nicht, daß Bartolus und andere Autoren dem Dorf die restitutio in integruml09) zugestehen, womit das Dorf juristisch einwandfrei als Korporation anerkannt wird. Dennoch empfiehlt er, daß, wenn ein Dorf eine Verpflichtung eingeht, sich die Dorfgenossen verpflichten, was im übrigen auch dem Herkommen entspreche 110 ). Im restlichen Kommentar entfernt sich Zasius wieder kaum von Bartolus: Die universitas repräsentiert eine reale Versammlung mehrerer Menschen, die über Güter verfügt und von einem von Rat oder Gemeinde bestimmten syndicus vertreten wird 11 '). Schließlich zitiert Zasius auch in der Frage der Gemeindedelikte und ihrer Bestrafung Bartolus: Wenn einzelne Gemeindemitglieder gegen das Gesetz verstoßen, sollen sie bestraft werden; wenn die Mehrheit der Gemeinde willentlich gegen das Gesetz verstößt, „contra totam communitatem proceditur" 112 ).
2.5. Gemeinden im 16. Jahrhundert: Potentielle Unruhestifter Während Zasius den Korporationsdelikten nur wenig Platz einräumt, erscheint die universitas in den Konsiliensammlungen und Observationes von Joachim Mynsinger 113 ) und Andreas Gaill 114 ), den Begründern der Kameral-
l0R ) Obwohl Zasius Aristoteles nicht zitiert, entspricht die Definition des Dorfes als einer primär ökonomisch ausgerichteten Einheit mit einer elementaren gesellschaftlichen Organisation - einer Vorstufe zur Stadt mit ihrem guten und angenehmen Leben, das auch mit der Rechtspflege als einer freien Kunst verbunden ist - der aristotelischen „Politik". ,09 ) Das Rechtsbesserungsmittel der „restitutio in integrum" steht Mündeln oder Korporationen zu, die von ihrem Rechtsvertreter geschädigt wurden. Die Wiederherstellung der ursprünglichen .Rechtsverhältnisse wird, da es sich um eine Frage der Billigkeit handelt, beim Landesherrn beantragt. 110 ) Zasius, Opera omnia (wie Anm. 99), Kommentar zu D. 3,4,8. Vgl. auch die Diskussion bei den Glossatoren in Michaud-Quantin, Universitas (wie Anm. 9), 125 f. '") Zasius, Opera omnia (wie Anm. 99), Kommentar zu D. 3,4,13 und 14. u2 ) Ebd., § 5, 2 0 - 2 5 . Solange der universitas die Privilegien nicht entzogen werden, ist sie unsterblich. " 3 ) Der Zasius-Schüler Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588) lehrte unter anderem in Freiburg und war Assessor am Reichskammergericht, Kanzler der Herzöge von Braunschweig und erster Vizekanzler der Universität Helmstedt. Bekannt wurde vor allem seine zuerst 1563 publizierte und mehrmals neu aufgelegte und erweiterte Sammlung und
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Jurisprudenz, fast ausschließlich im Zusammenhang mit Delikten, und auch Johann Oldendorp widmet der Frage ein ausführliches Kapitel 115 ). Ursache dafür dürfte vor allem der Versuch gewesen sein, den Reichslandfrieden durchzusetzen, sowie die Bildung und Intensivierung territorialer Herrschaft.
2.5.1. Ausgangslage:
Ist die universitas deliktfähig und strafbar?
Der Titel zur universitas in Oldendorps De iure á aequitate, in dem der aktuelle Stand der Diskussion dargestellt wird, geht von den drei Fragen aus, ob die universitas rechtlich von ihren Mitgliedern unterschieden werden kann, ob sie deliktfähig ist und ob und wie sie bestraft werden kann. Diese Fragen handelt Oldendorp vor allem anhand der unterschiedlichen Argumente Bartolus' von Saxoferrato und Innocenz' IV. ab, die seit dem 14. Jahrhundert zum Standardargumentarium gehören. Zur Unterscheidung der universitas von ihren Mitgliedern zitiert Oldendorp D. 3,4,7 („Si quid universitati debetur, singulis non debetur"). Zudem verändert sich die universitas auch bei Mitgliederwechsel nicht, woraus Oldendorp mit Bartolus schließt, daß die universitas von ihren Mitgliedern verschieden ist. Den universitas-Begriff verwendet Oldendorp sehr unspezifisch; das zeigt sich an dem Zitat von Antoninus Florentinus, das Oldendorp anführt, um die eigene Rechtspersönlichkeit der universitas zu untermauern, und in dem municipium, curia, societas und sogar die haereditas (die mit den Personengemeinschaften nur gemein hat, daß sie einen Rechtsvertreter braucht) in einem Atemzug genannt werden. Trotz solchen Unklarheiten wird die Lehre von der universitas als eigener Rechtspersönlichkeit offenbar als konstituierender Bestandteil der Gesellschaftsordnung angesehen: Wer bestreitet, daß die univer-
Bearbeitung von Entscheiden des Reichskammergerichts; Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen ( w i e A n m . 15), 355 f.; Hugo Burckhard, Andreas Gaill. Würzburg 1887. 114 ) Andreas Gaill, Practicae observationes [ . . . ] . 1587, stellt die beim Reichskammergericht praktizierten Grundsätze des Verfahrens- und materiellen Rechtes dar. D a s Werk wurde bis 1771 regelmäßig neu aufgelegt. Gaill ( 1 5 2 6 - 1 5 8 7 ) war A s s e s s o r am Reichskammergericht, Reichshofrat und zuletzt Kanzler des Erzstifts Köln; Kleinheyer/Schröder, D e u t s c h e Juristen ( w i e A n m . 15), 339; Burckhard, Gaill (wie A n m . 113), 2 0 f . ; Karl v. Kempis, Andreas Gaill ( 1 5 2 6 - 1 5 8 7 ) . Frankfurt am Main 1988. 115
) Johann Oldendorp, D e iure et aequitate disputatio forensis (erste lateinische A u s g a b e 1541; eine kürzere, deutsche Fassung - „Wat byllich und recht ys, e y n e körte erklaring, allen Stenden denstlick" - erschien bereits 1529), tit.14, „civitas, corpus, seu universitas hominum, an & quatenus possit puniri per sententiam iudicis" (hier zitiert nach einer A u s gabe von 1611). Oldendorp ( 1 4 8 8 - 1 5 6 7 ) wurde als Reformer des juristischen Studiums bekannt und gilt w e g e n seines Konzeptes der Billigkeit als M a ß für Recht als Vorläufer neuer Naturrechtler w i e Grotius.
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sitas juristisch gesehen von ihren Mitgliedern verschieden ist, „is evertit totam humanae societatis politicam ordinationem" 116 ). Die universitas ist zwar gemäß Innocenz IV. nur „nomen iuris, neque habet animum, ergo nec delictum" 117 ). Juristisch gesehen kann sie aber doch unter bestimmten Voraussetzungen delinquieren. Sie kann einerseits Mord und Raub begehen, sofern die Mehrheit der ordentlich versammelten Mitglieder diese Tat beschlossen hat; anderseits kann sie auch Delikte begehen, die nur einer universitas - nicht aber natürlichen Personen - möglich sind, indem sie durch ihre Verwalter Gesetze nicht vollziehen läßt oder durch ihre Statutargesetzgebung, ihre Rechtsprechung oder als Partei in einem Prozeß gegen geltendes Recht verstößt 118 ). In der Frage der Strafbarkeit der universitas schließt sich Oldendorp Bartolus an. Die Ansicht Innocenz' IV., man könne die universitas unter keinen Umständen strafen, da man sonst immer auch Unschuldige treffen würde und „satius est mille nocentes servare, quam unum innocentem perdere" 119 ), hat schon Bartolus modifiziert, indem er Strafen für die gesamte universitas für das crimen laesae majestatis als zulässig erklärt, weil in diesem Fall auch die Bestrafung der Familie eines Täters möglich ist. So kann eine universitas für Rebellion durch die völlige Zerstörung bestraft werden. In allen anderen Fällen sind die Strafen in Geldbußen umzuwandeln, die nur von den schuldigen Gemeindemitgliedern zu bezahlen sind. Sofern kein rechtsgültiger Gemeindebeschluß vorliegt, können die Mitglieder der universitas überhaupt nur als einzelne verurteilt werden, selbst wenn sie alle am Delikt, etwa der seditio, beteiligt gewesen wären. Der universitas erwächst aus den Handlungen ihrer Mitglieder kein Schaden, das heißt, ihre Organisation und vor allem die Rechte bleiben intakt 120 ). In dieser Form wird die Lehre von der Deliktfähigkeit der universitas auch von den Kameralisten übernommen.
" 6 ) Ebd., tit. 14, s u m m a der Diskussion zur ersten Frage. 117 ) Ebd., erstes Argument zur zweiten Frage. 118 ) Ebd., Diskussion der zweiten Frage. u9 ) Zu ganz anderen Schlüssen kam Tiberius Decianus ( 1 5 0 9 - 1 5 8 2 ) , der in Padua die Rechte lehrte und zu seiner Zeit ein berühmter Jurist mit grossem Zulauf war: Werden von der Mehrheit einer G e m e i n d e („civitas, Castrum, villa, & quaelibet universitas") häretische B e s c h l ü s s e gefaßt (beispielsweise alle Mitglieder wiederzutaufen oder die Bilder abzuschaffen), so ist sie zu vernichten (und der Herr wird die seinen schon erkennen). D a s Urteil der Zerstörung und des Entzugs der Rechte kann nur v o m princeps oder v o m Papst gefällt werden. Für ihre Häresie kann die universitas nicht exkommuniziert werden (weil sie keine S e e l e hat), wohl aber die priores und die einzelnen Mitglieder. (Tiberius Decianus, Tractatus criminalis. Frankfurt 1613, lib.5, c.50, §§ 1 - 9 ) . I20
) Oldendorp,
D e iure et aequitate (wie A n m . 115), tit. 14, Diskussion der dritten Frage.
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2.5.2. Gemeinden und Herrschaften bedrohen den Landfrieden Joachim Mynsinger widmet vier seiner vierhundert Observationes den Gemeinden. Drei davon beschäftigen sich mit strafrechtlichen Fragen: „In causa universitatis criminali, an admittatur procurator" 121 ); „Civitas vel universitas an possit delinquere" 122 ); und „Civitas vel universitas quando obligetur ex delicto" 123 ). Die Deliktfähigkeit der Gemeinde ist für die Juristen ein Problem, weil die „universitas" nur ein juristischer Begriff ist und sie demzufolge auch keinen eigenen Willen hat. Wie Bartolus entscheidet sich das Reichskammergericht und damit Mynsinger für die Deliktfähigkeit der universitas. Das Gericht argumentiert, daß eine Gemeinschaft, die selber statuieren, Recht sprechen und Steuern erheben kann, auch fähig ist, Delikte zu begehen, etwa durch ihre Regenten oder durch Mehrheitsbeschluß der Mitglieder. Der Beschluß, ein Delikt zu begehen, entsteht wie jeder andere Beschluß der universitas auch: gemäß Observatio 79 ist eine vorangegangene Beratung und ein ordentlicher Beschluß Voraussetzung für ein Delikt der universitas (dazu wird Bartolus zitiert). Das heißt auch, daß (wie schon Baldus sagt) die universitas nicht für die Missetaten bestraft werden kann, die ihre Mitglieder als einzelne begehen, es sei denn, sie sieht dem Treiben ihrer Mitglieder tatenlos zu. Diese Haltung wird als stillschweigendes Einverständnis gewertet, was wiederum einem Beschluß gleichkommt und die universitas strafbar macht. Bei Andreas Gaill entsteht daraus die Lehre, daß die universitas sowohl durch einen formellen Beschluß 124 ) als auch durch langedauernde Praxis (durch systematischen Verstoß gegen bestimmte Bestimmungen wie zum Beispiel durch die Verweigerung einer bestimmten Abgabe) die Voraussetzung als Delinquentin erfüllt 125 ). Hier wird die Parallele zwischen Statuten und consue-
,21 ) Anders als Private kann sich die universitas in Strafverfahren, die unter die Hochgerichtsbarkeit fallen, durch einen Syndicus mit speziellem Mandat vertreten lassen (Joachim Mynsinger a Frundeck, Singularium Observationum Iudicii Imperialis camerae centuriae quatuor. Basel 1565, cent.4, Obs.76). >22) Ebd., Obs.78. I23 ) Ebd., Obs.79. Die vierte, cent.l, Obs.76, „Mandatum communitatis procuratorium" hält in einem Satz fest, „quando ad alicuius instantiam citatur aliqua civitas, seu communitas, ad comparendum in iudicio, non sufficit consulem & senatum constiuere procuratorem pro se, & communitate sua, sed requiritur ut etiam ipsi tribui plebis secundum cuiusque loci consuetudinem simul constituât." m ) Andreas Gaill, De pace publica. Köln 1690, lib.2, c.9 (de banno communitatis, sive universitatis, & ejus effectu), § 14, definiert die universitas als ordentlich einberufene Gemeinde- oder Ratsversammlung oder deren Mehrheit. Damit stellt Gaill die willens- und handlungsfähige Gemeinde in den Vordergrund. ,25 ) Ebd., §§ 31/32. Das fortgesetzte, in aller Öffentlichkeit auch als solches erkennbare Delinquieren gilt mindestens ebensoviel wie ein formeller Gemeindebeschluß, „quia hominis voluntas magis factis quam verbis ostenditur".
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tudo einerseits und Delikt aufgrund eines formellen Beschlusses oder einer fortgesetzten Handlung andererseits besonders deutlich. Die analoge Behandlung von rechtmäßigen und ungesetzlichen Beschlüssen der universitas zeigt, daß die Gemeinde als eigenständige Einheit wahrgenommen wird, die nicht von der Obrigkeit geschaffen wurde, sondern durch die obrigkeitlichen Gesetze gebändigt werden muß. Dabei stehen sowohl für Mynsinger als auch für Gaill die Gemeinden mit iurisdictio im Vordergrund; allerdings beschäftigt sich Gaill ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern, das er analog zu demjenigen zwischen den partikularen Gewalten und dem princeps behandelt. In seiner Sorge um den Landfrieden legt Gaill besonderen Wert auf den ordentlichen Prozeß. Dazu gehört, daß die universitas durch ihren Syndicus vertreten wird; hat eine Gemeinde keinen Syndicus, bestimmt der Richter einen Vertreter 126 ). Laut Gaill kann die universitas für Landfriedensbruch gebannt werden. Damit die Strafe aber nur die Verursacher und nicht etwa Unschuldige trifft, wird sie normalerweise in eine Geldbuße umgewandelt. Allerdings können besonders schwere Vergehen wie etwa die Rebellion gegen den princeps mit der Zerstörung der universitas geahndet werden. Damit verliert die Korporation auch alle Privilegien 127 ) und deren Mitglieder ihren Stand und sämtliche damit verbundenen Rechte 128 ). Werden hingegen nur einzelne Mitglieder wegen Rebellion verurteilt, bleibt die Gemeinde mit all ihren Rechten bestehen 129 ). Zur Verurteilung einer universitas oder eines anderen Delinquenten ist ein ordentlicher Prozeß vor dem zuständigen Richter nötig 130 ). Im Zusammenhang mit dem Strafprozeß werden auch allgemeinere Fragen zum Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertanen, sowie zwischen der universitas und ihren Mitgliedern erörtert, wobei Herrschaft und universitas weit126 ) Ebd., § 3 . Gaill zitiert dazu Mynsinger, Observationes (wie Anm. 121), cent.l, obs.76. 127 ) Gaill, De pace publica (wie Anm. 124), §§ 1 , 1 7 , 2 7 - 3 0 . Auch diese Strafe kann in eine Bestrafung der Rädelsführer an Leib und Gut sowie eine Steuer für den Rest der Gemeinde umgewandelt werden (§§ 3 3 - 3 6 ) . Vermutlich kam die Vernichtung einer Gemeinde in der Praxis eher selten vor, führen doch alle Autoren immer dieselben Beispiele an. Außerdem weist Gaill in seiner praktischen Art darauf hin, daß die Vernichtung einer ganzen Stadt „multitudinis ratione" kaum durchführbar wäre (§ 36). 128 ) Gaill, Observationes (wie Anm. 37), obs.61, § 2: „Quando Ecclesia, vel Civitas, vel alia loca sacra, vel prophana, superioris auctoritate, ob eorum delictum demoliuntur, de caetero nullus vocari debet clericus illius Ecclesiae, vel municeps illius loci, hoc est, canonici desinunt esse, & habere nomen canonicorum, amittuntque praebendas suas: & cives desinunt esse cives." Verlieren kann die universitas ihre Rechte auch bei einer „unio", bei der die einverleibte universitas das Recht der übergeordneten Korporation übernimmt - im Gegensatz zur incorporatio, bei der die inkorporierte universitas ihre Rechte behält (ebd., obs.61, §§ 10 und 11). 129 ) Gaill, De arrestis Imperii (wie Anm. 38), c.10, § 24. 13 °) Ebd., c.10, § 18.
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gehend analog behandelt werden. Das ergibt sich so, weil Gaill Herrschaft nach dem mittelalterlichen Muster von Nähr- und Wehrstand funktional erklärt: Subditi sind diejenigen, die den Boden zu bebauen und Steuern zu zahlen haben, und die (außer in Notfällen) nicht zu militärischen Pflichten herangezogen werden können 131 ); dagegen ist der Herr für die Wahrung des Friedens durch die Verteidigung des Territoriums und der Rechte seiner Untertanen gegen außen und durch Rechtsprechung innerhalb seiner Herrschaft (iurisdictio) zuständig 132 ). Dieselben Funktionen haben auch Städte. Überhaupt nicht zu trennen sind Herrschaft und Korporation im Falle der provincia und des Castrum, die Gaill klar als Adelsherrschaften sieht, ohne sie jedoch aus der Kategorie der universitates zu lösen. Diese funktionale Definition spiegelt sich direkt in den Beweismitteln, mit denen Herrschaftsansprüche vor Gericht durchgesetzt werden können: Gemäß ius gentium gilt die praesumptio libertatism). Außer Kraft gesetzt wird die Freiheitsvermutung einerseits durch Rechtstitel - wenn der Herr einen Vertrag als Beweis für ein Herrschaftsverhältnis beibringen kann 134 ), oder wenn die Untertanen einen Huldigungseid leisten - , anderseits aber auch durch die Praxis, wenn wiederholte Handlungen wie etwa den Landesgesetzen gehorchen, Rat und Hilfe (Steuern) leisten, landesherrliche Gerichte benutzen auf subiectio schließen lassen. Eine Mischung aus beidem ist der Beweis durch das Herkommen 135 ). Die Frage der persönlichen Untertänigkeit berührt das Privateigentum nicht: Abgesehen vom Recht auf Abgaben hat die Herrschaft keinerlei Eingriffsmöglichkeiten in die Privatangelegenheiten ihrer Untertanen 136 ). Dasselbe gilt auch für die Beziehung der universitas zu ihrer Herrschaft einerseits und zu ihren Mitgliedern anderseits. So liegt die Beweislast für das Eigentumsrecht an Gemeindegütern beim Herrn 137 ). Das Privateigentum der einzel131
) Ebd., c.10, § § 4 und 6. ) Ebd., c.10, § 6, c.8, § 12 und c.8, § 2. In eigenen Angelegenheiten kann die Obrigkeit allerdings nicht über ihre unmittelbaren Untertanen richten - das betrifft sowohl die einfache Gerichtsherrschaft (c.8, § 17) als auch den Landesherrn; Observationes (wie Anm. 37), lib.l, o b s . l , § 18 u.a. - Gaill kann dabei auf Reichskammergerichtsbeschlüsse zurückgreifen, die schon von Mynsinger kommentiert worden sind. 133 ) „Regulariter jure gentium quilibet praesumitur liber, donec contrarium probetur"; Gaill, D e arrestis Imperii (wie Anm. 38), c . 7 , § 5. 134 ) Dabei kann im Einzelfall auf den Beweis verzichtet werden, wenn die consuetudo oder die Statuten eines Territoriums (provincia) vorsehen, daß ein Gut nur durch einen Unterwerfungsvertrag (cum onere subjectionis) zu erlangen ist (ebd., c. 7, § 7). ,35 ) Ebd., c.7, § § 6 - 1 6 . 136 ) „Nam licet dominorum intersit, subditos pacate & quiete vivere, tarnen.. .nulla domino sine expresso mandato competit actio pro rebus subditorum", denn „privata subditorum commoda, vel incommoda ad dominum non pertineant" (ebd., c.8, § 3). Dasselbe in Observationes (wie Anm. 37), lib.2, obs.62, § 9. 137 ) Explizit in obs.62, § 9, w o Gaill die von dieser Bestimmung betroffenen Untertanen aufzählt: „vasalli, oppida, praefecturae, villae, pagi". 132
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nen Mitglieder wird durch die Bestimmung geschützt, daß eine Korporation keine Statuten erlassen darf, die im Widerspruch zum ius privatum stehen 138 ). Zu dieser Regel nennt Gaill zwei Ausnahmen: So kann der Syndicus einer Reichsstadt die Bürger verpflichten, für die Schulden der Stadt aufzukommen, sofern dies der publica utilitas dient. Landstädte ohne ius statuendi brauchen für eine solche Bestimmung die Konzession des superior. Wurde das Darlehen nicht der publica utilitas wegen aufgenommen, können die Bürger weder aufgrund allgemeingültiger Statuten (die ja das ius privatum nicht verletzen dürfen) noch durch Einzelprivileg gezwungen werden, zu bezahlen 139 ). Zweitens kann die civitas aus Notwendigkeit (necessitas) Steuern erheben. Aus Notwendigkeit kann auch der superior die Landstände einberufen, damit sie über die Steuern und ihre Verteilung beraten 140 ). Im Vergleich zur anderen hier behandelten Literatur fällt an Gaills Abhandlungen auf, daß weder zwischen den Rechten der Korporationen und denen der Herrschaften unterschieden wird, noch zwischen der Ebene der Gerichtsherrschaft und derjenigen der Landesherrschaft. Offenbar konnten in all diesen Bereichen dieselben Rechtsprinzipien - die des Korporationsrechts - angewendet werden. Obwohl Unbotmäßigkeit von Korporationen oder Teilen davon im 16. Jahrhundert ein wichtiges Thema war, scheint sich die Angst vor unbewilligten Versammlungen, welche sich in der Literatur des späten 17. Jahrhunderts spiegelt, noch in Grenzen gehalten zu haben: So sind in Tiberius Decianus' Tractatus criminalis nicht nur confederationes zwischen Städten, sondern auch conventícula unter Freunden und Verwandten sogar mit Waffen erlaubt, wenn sie zur Verteidigung der eigenen Rechte nötig sind 141 ). Hingegen wird der bewaffneten Rebellion bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts viel Platz eingeräumt. So widmet Rudolf Gottfried Knichen den ganzen dritten Teil seines Opus Politicus der „eversio Reipublicae". Hier behandelt Knichen unter anderem die seditio, „quae est partís alicuius ex tota multitudine subitus & violentus in magistratum motus, ob iniquiam aliquam postulationem aut oppressionem", die meist entsteht, nachdem mündliche Beschwerden abgewiesen wurden. Als Beispiel führt Knichen den „tumultus rusticorum & subditorum" von 1525 an. Obwohl hier nicht die Gemeinde, sondern die einzelnen Untertanen als Delinquenten erscheinen, so verhalten sie sich gemäß Knichens Beschreibung doch wie Mitglieder einer (illegalen) 138 ) Gaill, De arrestis Imperii (wie Anm. 38), c.9, §§ 8 und 9: „neque Princeps, ñeque Respublica in bonis singularium personarum quicquam juris habent: quia quod meum est, Communitatis non est [...]" und (Bartolus sagt, daß) „Civitatem non posse facere statutum, per quod auferatur jus privati" (etwas anderes sind allerdings allgemeine Gesetze, die alle Bürger verpflichten). I3 «) Ebd., c.9, §§ 8 , 9 , 1, 1 0 u n d 6 f f . 140 ) Ebd., § 19. 141 ) Tiberius Decianus, Tractatus criminalis (wie Anm. 119), lib.7, c. 19, de seditionis.
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Gemeinde und kopieren dabei teilweise die ordentliche Gemeindeversammlung 142 ). Anderseits hat laut Knichen (der sich unter anderem auf Grotius stützt) das Volk unter Umständen auch legale Möglichkeiten, eine politische Ordnung zu verändern: Sofern der Magistrat durch Verträge mit dem Volk gebunden ist, kann dieses bei einer Verletzung des Vertrags die Regierung (auch die Regierungsform) ändern. Wo die Obrigkeit periodisch neu gewählt wird, sind außerdem Änderungen durch Wahlen möglich. Allerdings braucht der Staat in diesem Fall ein starkes Gesetz, wenn er stabil bleiben soll. Als Beispiel führt Knichen die Niederlande und die Schweiz (zitiert nach Simler) an 143 ). Aussagen wie die Knichens wurden bei den Juristen allerdings erst üblich, nachdem Althusius, Grotius und andere Naturrechtler um 1600 ihre Vertragslehren publiziert hatten. Jetzt standen auch nicht mehr aufständische Gemeinden, sondern der religiös motivierte Bürgerkrieg im Vordergrund, wenn es um Unordnung ging. So ist etwa für Bodin 144 ) das soziale Leben im Dorf sogar der erste Schritt zu Ruhe und Ordnung 145 ). Für die Garantie der Ordnung braucht Bodin allerdings übergeordnete Organisationen.
2.6. Das Standardwerk: Nicolaus Losaeus' Tractatus de iure universitatum Kurz nach 1600 faßte Nicolaus Losaeus 146 ) die verstreuten Kommentare von Azo über Bartolus und Baldus bis Mynsinger und Gaill in einer systematischen Abhandlung De jure universitatum zusammen. In fünf Teilen behandelt Losaeus die verschiedenen Typen mit ihren jeweiligen Verfassungen, die uni-
142 ) Rudophus Gothofredus Knichen, Opus politicus. Frankfurt 1682, üb.3, c.2, th.4 und 9. Zum Ablauf einer seditio gehört nach Knichen unter anderem, daß „auctores seditionis clam inter se coëunt, & de illa conficienda consultant, [...] posthac Ducem sibi eligunt, [...]"• 143 ) Ebd., lib.3, c.4, th.3. In der Literatur, die sich eingehender mit dem Verhältnis zwischen Dorf und Obrigkeit beschäftigt, bleibt allerdings die Klage auf „saevitia" auch im 17. Jahrhundert das einzige Mittel, eine Herrschaft, die das Recht (hier meist: das Herkommen) mißachtet, abzusetzen (ausführlich etwa in Johannes Eucharius Erhard, Tractatus de operibus rusticorum. Gissae 1663). 144 ) Jean Bodin, Les six livres de la République. Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583, Aalen 1961, insbesondere Buch 3, Kapitel 7, „Des Corps & Colleges, Estats, & Communautés". 145 ) Ebd., 475, 477. Vgl. Hodler, Doléances (wie Anm. 12), in diesem Band. 146 ) Der Turiner Jurist Nicolaus Losaeus (1574—1642) war unter anderem 1599 Staatsrat Karls Emanuel von Savoyen, 1624 Vizegouverneur von Chieri und 1632 Senatspräsident von Nizza. Sein „Tractatus de jure universitatum" erschien erstmals 1601 in Venedig und wurde in Italien, Frankreich und Deutschland bis 1727 wiederholt neu aufgelegt; Rujfini, Nicolö Losa (wie Anm. 4).
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versitas im privatrechtlichen Verfahren, das Gemeindeeigentum, die Steuern und Statuten 147 ), die Gemeinde im Strafrecht und im Erbrecht.
2.6.1. Dorf und Stadt Zu der als „corpus mysticum" definierten universitas 148 ) gehören gemäß der von Bartolus begründeten Tradition die provinciae (universitas larga), die civitates (universitas minus larga), castra oder villae (universitas minima) sowie Korporationen (simplex collegium), die nicht ihrerseits aus verschiedenen Korporationen zusammengesetzt sind 149 ). Wie Bartolus unterscheidet auch Losaeus innerhalb der universitas minus larga, die etwa den Stadtstaaten entspricht, zwischen der civitas maxima, der andere civitates mit merum imperium quasi als Kolonien Untertan sind, der civitas magna, die das merum imperium hat, und der civitas parva, die nicht mehr das merum imperium, sondern nur noch die iurisdictio hat. Die universitates minimaei5°) unterteilt Losaeus in solche ohne eigene Jurisdiktion, die einer civitas Untertan sind, und solche, die ihre eigene Jurisdiktion haben - entweder aus dem merum vel mixtum imperium (aus eigenen Herrschaftsrechten), oder aufgrund eines Privilegs, des Herkommens oder de facto 151 ): Bei ersteren wird die Verwaltung von der Obrigkeit eingesetzt, letztere haben ihren eigenen Magistrat und Richter. Andere Regelungen sind aufgrund von Herkommen, Konzessionen oder Privilegien möglich 152 ). Alle universitates sind rechtmäßig, wenn sie bei ihrer Entstehung keine anderen Kommunen bedrängen 153 ), und sie dürfen sich selber Statuten geben: das gilt unbeschränkt für solche, die keinen superior anerkennen. Die Statuten der übrigen Gemeinden müssen vom superior bestätigt werden, sofern sie l47 ) Die Rechte einer Korporation werden zu den immateriellen Gemeindegütern gezählt (gemäß Inst. tit. de divisione rerum). ,48 ) Losaeus' corpus mysticum oder persona ficta ist als Idee („quod universale est") unsterblich und braucht kein materielles Substrat, sondern kann ohne Menschen und Güter weiterleben; Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P. 1, c. I, § 34. 149 ) Ebd., P . l , c . 2 . I5 °) Bei Bartolus auch bisweilen „universitas parva". 151 ) „Si [ . . . ] ista castra, seu villae subsunt alicui civitati, vel alten Castro magno, nullam hoc casu iurisdictionem habent, sed civitas cui subsunt habet iurisdictionem in eis [ . . . ] nam civitas de iure communi habet plenam iurisdictionem in locis sibi subjectis [ . . . ] Quandoque talia castra, seu villae nulli civitati subsunt, sed soli Praesidi provinciae, [ . . . ] illa ergo castra quae utuntur mero vel mixto Imperio, aut hoc habent ex privilegio, aut ex consuetudine, seu praescriptione, aut de facto hoc faciunt"; Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.l,c.2, §49. 152 ) Ebd., P.l, c.2, § 49. 153 ) Eine Bestätigung durch den superior ist nicht erforderlich, da die Entstehung von universitates im ius gentium verankert ist: „Sciendum [ . . . ] est universitatem, & congregationem cuiuscunque castri, civitatis, vel villae esse permissam, & approbatam, de iure gentium" (ebd., P. 1, c.2, § 68).
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nicht die Verwaltung der Gemeindegüter oder andere interne Angelegenheiten der Gemeinde betreffen 154 ). In diesem Zusammenhang wendet sich Losaeus mit der „Mehrheit der Doctores" gegen Bartolus' Auffassung, das ius statuendi hänge an der iurisdictio 155 ). Doch gleich wie für Bartolus verläuft für Losaeus die juristisch relevante Grenze nicht unbedingt zwischen Stadt und Land, sondern vor allem zwischen den universitates superiorem recognoscentes und superiorem non recognoscentes. Das zeigen auch Sammelbegriffe wie „municipium" oder „communitas", die sowohl civitates als auch castra und villae bezeichnen 156 ). Wie bei Bartolus wird diese Grenze durch die unterschiedlichen Rechtstitel der Korporationen verwischt. Dagegen wird die mittelalterliche Grenze zwischen universitates ohne, respektive mit superior bestätigt und durch die Einordnung der letzteren in den Fürstenstaat aktualisiert 157 ). Bestehendes Statutarrecht geht vor Landes- oder gemeinem Recht. Wenn die Dörfer einer Stadt eigene Statuten haben, gehen diese den städtischen Statuten vor 158 ). Dasselbe gilt für die consuetudo159), deren Einführung überdies nicht nur jeder universitas, sondern auch Teilen davon zusteht 160 ). Weitergehende Rechte - etwa das Recht, Bündnisse zu schließen - sind möglich, wenn eine entsprechende consuetudo besteht 161 ). Zölle erheben können jedoch nur freie Kommunitäten 162 ). Ein Konflikt mit den übergeordneten Gesetzen ist dabei 154 ) Ebd., P.3, c. 15, § 29. Der „bewilligungsfreie" Raum für Statuten von Korporationen ohne jurisdictio ist recht groß: „Etiamsi iurisdictione careant, possunt condere statuta circa ea, quae pertinent ad administrationem rerum suarum, & super illis, quae pertinent ad artem, & professionem suam, & de iis, quae habent simul facere, & quae concernunt privata negotia ipsius universitatis, ut pro expendenda pecunia, & huiusmodi alii rebus concernentibus administrationem ipsius reipublicae, de aliis vero non" (ebd., § 3.) Strafen kann eine universitas ohne iurisdictio nur festsetzen, wenn sich das aus ihrer consuetudo ergibt (ebd.,
§6). 155 ) Ebd., P.3., c.15, § 2. - Allerdings bezieht sich Bartolus' Verbindung von iurisdictio und ius statuendi nur auf Statuten mit „Außenwirkung" - Losaeus sagt also dasselbe. 156 ) Ebd. P. 1, c.2, § § 3 1 und 33. Auch „respublica" kann für alle territorialen Einheiten verwendet werden - für „civitates, castra, & municipia subdita" allerdings nur „improprie". Auch hier wird wieder nach universitates superiorem recognoscentes vel non unterschieden, nicht aber nach Stadt oder Dorf. (P. 1, c.2, § 34) 157 ) Ruffini, Nicolö Losa (wie Anm. 4) zeigt, wie Losaeus' „Tractatus" den Autonomieverlust der piemontesischen Städte im absolutistischen Staat spiegelt. Er stellt allerdings auch fest, daß die von Losaeus zitierten Kameralisten in der Schlechterstellung von Munizipalstädten gegenüber Reichsstädten noch wesentlich weiter gehen und schließt daraus, daß sich Losaeus' Städte noch weitgehende Freiheiten bewahren konnten; diese werden nun allerdings nicht mehr als autogene Rechte der Kommune verstanden, sondern als vom princeps delegierte Privilegien (17-22). ,58 ) Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.3, c.15. I59 ) Ebd., P.3, c. 14. '60) Ebd., P.3, c. 14, § 1. 161 ) Ebd., P.3, c.15, § 2 8 . 162 ) Ebd., P.l,c.8, § 3 .
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zumindest, soweit es um Statuten geht - theoretisch ausgeschlossen, da ja die Statuten der universitates superiorem recognoscentes bei ihrer Entstehung von der Obrigkeit bestätigt und dabei gleich auch Widersprüche ausgemerzt werden sollten. Und was den Vorrang lokalen Rechts vor gemeinem Recht sowie lokalen Gewohnheitsrechts (consuetudo) vor allgemeineren Gesetzen überhaupt angeht, können sich die Gemeinden auf das römische Recht berufen 163 ).
2.6.2. „Gemeinde" heißt Selbstverwaltung Als Sammelbegriff für sämtliche Gemeinden verwendet Losaeus „communitas". Definiert wird communitas hauptsächlich über das Regiment der Gemeindemitglieder: „Communitas [...] est nomen generale pertinens ad universitatem civitatis, castri, & villae, & cuiuslibet municipii, eo quod ab ipsa hominum communitate principaliter regatur" 164 ). Für die Verwaltung in den Städten sind die Räte als Repräsentanten des populus und die Beamten zuständig, in den kleineren Dörfern die Gemeindeversammlung. Völksversammlungen sind in kleinen Gemeinden technisch durchführbar, und da hier meist keine ausgebildeten Fachleute zur Hand sind, gibt die demokratische Beteiligung aller am Entscheid eine gewisse Sicherheit 165 ). Aus der juristischen Unbedarftheit der Landbevölkerung wird hier ein ganz anderer Schluß gezogen als in der Bauernrechtsliteratur, die etwa um dieselbe Zeit einsetzt und die aus der (in die Nähe von Unmündigkeit gerückten) Unwissenheit der Bauern einen anderen Rechtsstatus ableitet 166 ). Losaeus' Argument, die Beteiligung möglichst vieler mache einen Irrtum weniger wahrscheinlich (das an den allerdings nicht zitierten Marsilius von Padua erinnert) liegt implizit wohl auch dem an dieser Stelle zitierten Bartolus-Kommentar zugrunde, daß selbst in Städten besonders schwerwiegende Beschlüsse wie etwa die Veräußerung von Gemeindeliegenschaften nicht vom Rat, sondern von der Versammlung aller Gemeindemitglieder gefaßt werden müssen 167 ). Losaeus zitiert allerdings auch andere Meinungen, die dem Rat oder dem Rat und den besitzenden Gemeindemitgliedern die Entscheidungskompetenz zusprechen; um eine eigene Stellungnahme drückt er sich mit der Bemerkung,
163 ) D. 1,4 („de consuetudine"). Der Vorrang der consuetudo als Interpretationsinstrument ist insbesondere im Gebots-Bereich unbestritten und dient deswegen den Juristen auch noch in der frühen Neuzeit zur Verteidigung kommunaler Rechte; vgl. auch Storti-Storchi, Potestas condendi statuta (wie Anm. 72), 269. Im 17. Jahrhundert wurde bisweilen auch auf die Kompatibilität von Gewohnheit und Vernunft hingewiesen (so etwa Claude de Fernere, Nouvelle Institution Coutumiere. 1. Bd. Paris 1692, tit. 1, Anm. zu § 3). 164 ) Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P I , c.2, § 33. 165 ) Ebd., P.3, c.5, § 5. 166 ) So etwa Renatus Choppinus, Tractatus de privilegia rusticorum. Köln 1582. 167 ) Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.3, c.5, § 4.
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daß sich jede universitas (hier: im Falle eines Güterverkaufs) nach ihren Statuten richten solle 168 ). Nachdrücklich verweist Losaeus darauf, daß den Räten ihr Recht, Statuten zu machen, Beamte zu wählen und Legaten zu ernennen, durch Statuten oder consuetudo vom populus übertragen wurde 169 ). Das Gesetzgebungsrecht des populus wiederum ist im ius commune verankert - wobei „populus" nicht nur eine abstrakte Größe wie etwa das Reichsvolk meint, sondern ein auch quantitativ klar definierter Terminus ist: er bezeichnet einen Personenverband mit mindestens zehn Mitgliedern. Zur Not reichen für ein populus auch fünf Personen - normalerweise die Mindestgröße für eine „gens" 170 ). Beamte haben in besonders wichtigen Geschäften wie etwa der Veräußerung von Gemeindegütern ein klar definiertes Mandat; in allen Geschäften sind sie an das Stadtrecht gebunden 171 ). Generell muß sich jede wesentliche Verwaltungshandlung auf einen Rechtstitel oder einen rechtskräftigen Gemeinde- oder Ratsbeschluß stützen, sonst gilt sie als von einem „Tyrannen" begangen und ist hinfällig 172 ). - Gegen nachteilige Folgen solcher Geschäfte ist die Gemeinde durch die restitutio in integrum geschützt, die Losaeus mit Baldus allen Gemeinden zugesteht, während Bartolus kleinen, selbstverwalteten Dörfern mit weniger als zehn Mitgliedern dieses Rechtsmittel vorenthalten möchte, weil hier unmöglich ein Mitglied übergangen werden kann. Losaeus weist aber darauf hin, daß es in jeder Gemeinde Witwen oder Minderjährige ohne Stimmrecht gibt und daß jeder persona ficta die restitutio in integrum zukommt 173 ). Die Diskussion ist allerdings über weite Strecken nur von akademischem Interesse, setzen doch in vielen Fällen Gemeindebeschlüsse die restitutio in integrum außer Kraft. Die Voraussetzungen für gültige Beschlüsse - ordentliche Einberufung der Rats- oder Gemeindeversammlung, deutlich bezeichneter Versammlungsort, Anwesenheit aller oder mindestens zweier Drittel aller Mitglieder, Mehrheitsprinzip und Ungültigkeit der Stimmen Abwesender - werden durch Losaeus unverändert von den mittelalterlichen Kommentatoren auf die Nachwelt übertragen 174 ). Die Bestimmungen sind an sich für alle Korporationen dieselben; allerdings versammeln sich die Bauern der villae nur „cum auctoritate magistratus", um 168
) Ebd., P.3, c.5, §§ 4 und 18. ) Ebd., P. 1, c.3, §§ 49ff. 170 ) Ebd., P. 1, c.2, § 63. Losaeus beruft sich hier auf Bartolus, der für ein „Castrum" mindestens fünf Personen verlangt und damit auch populi unter zehn Personen anerkennt. Der Passus zeigt ähnlich wie der Abschnitt zu „communitas", daß „Castrum" eine Gemeinde (und nicht etwa eine Herrschaft) bezeichnet. m ) Ebd., P.3, c.5, § 20, und P.l, c.3, § 97. ,72 ) Ebd., P.3, c.5, § 19. Zu Bartolus' Definition von „tyrannus" vgl. Anm. 79. 173 ) Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.3, c.18. 174 )Ebd„ P.l, c.3, § § 6 6 - 8 4 . 169
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die öffentlichen Angelegenheiten zu verhandeln 175 ), eine Bestimmung, an die später die Dorf- und Bauernrechte anknüpfen. Im Unterschied zu diesen policeyrechtlichen Schriften betont Losaeus aber, daß ein Dorf (Castrum) nicht notwendig einer civitas - andere Herrschaft kommt sowieso nicht vor - Untertan sein muß, „maxime cum quaelibet res praesumatur libera" 176 ). Von der auf Mehrheitsbeschlüssen beruhenden Verwaltung der iustitia und der bona universitatis unterscheidet sich der Teil der Verwaltung, der in die Eigentumsrechte der einzelnen Korporationsmitglieder eingreift und der auf dem Prinzip quod omnes tangit ab omnibus approbari debet beruht. Besonders deutlich kommt dies im Kapitel über die Steuern zum Ausdruck: Für die Erhebung von Steuern ist die Einwilligung aller besitzenden, das heißt besteuerbaren, Gemeindemitglieder erforderlich. Steuern können grundsätzlich aus Notwendigkeit (necessitas) - dazu gehört vor allem das Bezahlen von Gemeindeschulden - oder zur Mehrung des Nutzens (utilitas) erhoben werden. Im zweiten Fall ist für Korpora, die unter einer Herrschaft stehen, die Bewilligung des superior nötig, im ersten Fall entscheiden allein die steuerfähigen Gemeindemitglieder 177 ). Einmal beschlossene Steuern gelten grundsätzlich für sämtliche Einwohner eines Rechtskreises, also auch für die Bewohner der castra und villae, die einer civitas unterstehen 178 ). Allerdings kann jeder nur für die Schulden oder für die Bezahlung der Strafen besteuert werden, die er mitverursacht hat. So sind Neuzuzüger von alten Steuern befreit, und Gemeindemitglieder, die nicht an strafbaren Gemeindebeschlüssen beteiligt waren, von der Besteuerung ausgenommen 179 ). Während die Armen, die nur über das Lebensnotwendige verfügen, von Steuern befreit sind, dürfen zahlungsfähige Einwohner nicht willkürlich von der Steuerpflicht ausgenommen werden, da sonst die Lasten aller andern unnötig vergrößert würden 180 ). Dasselbe gilt für alle immunitates: Sie können nur von der Völksversammlung verliehen werden oder aber vom Rat im Rah-
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) Ebd., P.l,c.3, § 7 3 . 6) Ebd., P. 1, c.2, §§ 51 und 52. 177 ) Ebd., P.3, c.9, §§ 1 und 2. Vermutlich ist im Falle der necessitas die obrigkeitliche Bewilligung hinfallig, weil es sich hier eher um die Umlage vorgegebener Kosten handelt, und Steuerumlage wird praktisch immer zu den internen Angelegenheiten einer Korporation gezählt. Allerdings bietet das Prinzip den Gemeinden so, wie es Losaeus formuliert, Gelegenheit zur Ausdehnung ihrer Kompetenzen in Sachen Steuererhebung auf Kosten der obrigkeitlichen Interessen. 178 ) Ebd., P.3, c.9, § 22. 179 ) Ebd., P.3, c.9, §§ 25 und 26. Losaeus folgt Bartolus, der einen ordentlichen Mehrheitsbeschluß zur Voraussetzung für Gemeindedelikte und die Bestrafung der Gemeinde macht. Die Strafen sind dieselben wie bei den Kameralisten; vgl. Anm. 127 ff. Losaeus, De iure universitatum (wie Anm. 42), P.4 und P.l, c2, §§ 87 und 88. 180 ) Ebd., P.3, c.9, § 24. I?
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men der Statuten 181 )- Der Princeps kann Immunitäten zwar bestätigen, aber nicht von sich aus gewähren: „quod nullum est confirmari nequit" 182 ). Insgesamt zeichnet Losaeus ein recht konsequentes Bild der Sicherung von Billigkeit auf kommunaler und auf „interkommunaler" Ebene: Auf der Ebene der selbstverwalteten Communitas wird die Billigkeit (aequitas 183 ) am Prinzip quod omnes tangit festgemacht. Im Gegensatz dazu diskutieren etwa die deutschen Juristen im 17. Jahrhundert nur noch, ob die Anwendung von aequitas allein dem Gesetzgeber oder auch den Richtern zukommt 184 ). Auf überkommunaler Ebene wird die aequitas nach bekanntem Muster vom superior überwacht, der für alle wichtigen Beschlüsse - Veräußerung von Gemeindegut, Statuten, Steuern für die Mehrung des Nutzens, Immunitätenerteilung, etc. - Bewilligungsinstanz ist 185 ). Allerdings hat er keinen Zugriff auf die inneren Angelegenheiten der universitas und auf das, was sie aus Notwendigkeit tun muß - sozusagen auf das „Haus" und die „Hausnotdurft" der universitas. Außerdem ist die Rolle des Fürsten in der Gestaltung der Gesellschaft passiv: er kann zwar etwas verbieten, aber er kann auch nur bewilligen, was von der universitas vorgegeben wird, und nicht mehr („quod nullum est confirmari nequit"). Die universitas hingegen kann aktiv neue Regeln schaffen, um ihren Zweck, den Nutzen zu mehren, zu erfüllen. Voraussetzung dafür ist erstens die Vorstellung, daß die Gemeinde als Ganzes über eigene materielle und immaterielle Ressourcen verfügt und rechts-, willens- und handlungsfähig ist, damit sie einen Raum schaffen kann, in dem
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) Ebd., P.3, c.10, §§ 1 und 6. ) Ebd., P.3, c.10, §§ 1 und 15-18. Außerdem sind immunitates restriktiv auszulegen: So kann nicht von einer Steuerbefreiung auf die Befreiung von anderen Lasten geschlossen werden (P.3, c . l l ) . Damit sichert Losaeus die Kontrolle der Gemeinden gegen Einbrüche von außen in ihre Kompetenz, Immunitäten zu erteilen. 183 ) Ebd., P.3, c.9, § 24: Die willkürliche Steuerbefreiung von zahlungsfähigen Einwohnern ist nicht „aequum". 184 ) Clausdieter Schott, „Rechtsgrundsätze" und Gesetzeskorrektur. Berlin 1975, 59-73. 185) offenbar behandelt Losaeus auch Privilegien als ein Recht aus dieser Kategorie (schließlich handelt es sich dabei auch um eine Bewilligung oder die Gewährung eines Rechts, um das sehr wahrscheinlich die universitas ersucht hat): Wie das Herkommen und die Steuern gelten auch Privilegien für das ganze Territorium einer Stadt; Losaeus, De iure Universitatum (wie Anm. 42), P.3, c.13, §§ 3-11. Davon ausgenommen sind Privilegien, die der universitas nicht „pro personis", sondern „ipsi loco" erteilt worden sind. Letztere dazu gehört etwa das Stadtrecht - gelten nur für den Ort selber und nicht für den ganzen Rechtskreis (z.B. nur für die Stadt innerhalb der Mauern) (§§ 20/21). Alle Privilegien können vom Princeps widerrufen werden, sofern sie nicht „propter bene merita, & sie ex causa remunerationis" erteilt wurden (wohlerworbene Rechte) (§ 22). Zwischen Städten und Dörfern besteht die Differenz, daß „lebenslange" Privilegien wie etwa das Privilegium praescriptionis für eine Stadt auf eine Geltungsdauer von hundert Jahren, für das Dorf auf zehn Jahre begrenzt sind (§ 18). 182
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die eigenen Regeln gelten 186 ). Zweite Voraussetzung ist die Vorstellung, daß die Mehrheit der Mitglieder in den meisten Fällen zum Nutzen der Allgemeinheit entscheiden 187 ). Und schließlich braucht es die Überzeugung (oder Erfahrung), daß der einzelne seinen Nutzen nur mehren kann, wenn er einen Teil seiner absolut geschützten Eigentumsrechte an die communitas abgibt, damit so ein Raum entsteht, in dem ein besserer Schutz oder ein „gutes Leben" möglich wird.
2.7. Frühe deutsche Monographien zum Korporationsrecht Losaeus' Handbuch über die universitas wird auch nördlich der Alpen schnell rezipiert. Bereits 1609 zitiert der Bremer Jurist und Ratsherr Heinrich Brüning in seiner Dissertation De variis universitatum speciebus, earumque juribus wesentliche Stellen aus Losaeus, beispielsweise zur Unterscheidung von Beschlüssen über Gemeindeeigentum von denjenigen über das Eigentum einzelner Mitglieder 188 ) und zu Fragen im Zusammenhang mit Steuererhebung und der Erteilung von Immunitäten 189 ). Auch in der späteren Literatur des usus modernus - von Besold über Lauterbach bis Kreittmayr - kommt Losaeus ausführlich zu Wort. Der Tractatus de jure universitatum bleibt bis in die Zeit der grossen Landrechtskodifikationen der Aufklärung die Standardmonographie des Korporationsrechts. Doch während in Losaeus' Tractatus externe Herrschaft über die universitas nur sehr abstrakt und am Rande erscheint 190 ), gerät bei seinen deutschen
186 ) Zur Willens- und Handlungsfähigkeit vgl. Abschnitt 2.6.1., Statutargesetzgebung, Deliktfähigkeit und Verwaltung nach Mehrheitsprinzip. Zur Rechtsfähigkeit und den materiellen Ressourcen: Losaeus' universitas kann wie eine natürliche Person Güter besitzen und ihre Bewirtschaftung in eigener Kompetenz regeln (P.3, c. 1). Entsprechende Verträge kann sie auch ohne Syndicus und obrigkeitliche Bewilligung abschließen (P.3, c.2). So kann sie etwa aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen ihre Güter verpachten (c.7) oder ihr Vermögen nutzbringend anlegen (c.6). Eine universitas kann auch die Nutznießung von Gütern erhalten sowie Objekt oder Subjekt von Schenkungen und Verschreibungen sein, sofern sie dadurch keinen Schaden nimmt (P.3, c.12, 16 und 17). 187 ) Losaeus erwähnt beispielsweise als eine mögliche Voraussetzung für den Verkauf von Gemeindegütern, daß die Räte und der „maior pars honoratorum & possessorum, id est eorum, qui in civitate bona possident" auf den heiligen Evangelien ihre Überzeugung beschwören, der Verkauf sei für die Stadt von Nutzen (P.3, c.5, § 4). Hier liegt also die Verantwortung für das Gemeinwohl - analog zur Wahrung der aequitas - auch formell bei der Gemeinde selbst, während diese Verantwortung im späten 17. Jahrhundert weitgehend der Obrigkeit übertagen wird. 188 ) Henricus Bruningus, Disputatio de variis universitatum speciebus, earumque juribus. Marburg 1609, Thesis 65. 189 ) Ebd., th. 65-67. I9 °) Bei Losaeus erscheint die Obrigkeit (sofern es sich dabei nicht um eine civitas handelt) meist in Formulierungen wie „principis/superioris confirmatio", die etwa für die Gültigkeit
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Nachfolgern der Fürstenstaat als solcher und als limitierender Faktor für communitas stärker ins Blickfeld. Das neue Interesse für das Verhältnis zwischen Gemeinde und Staat zeigt sich schon im Aufbau von Brünings Dissertation 191 ) und in den Autoritäten, auf die er sich beruft. Die Schrift beginnt mit zehn ausführlich kommentierten Thesen zu Kaiser, Reich und Kurfürsten; weitere 26 Thesen befassen sich mit dem Verhältnis von Stadt und Herrschaft - vor allem von Reichsstadt und Reich - , bevor in den Thesen 39 bis 100 die Rechte der universitates nach traditionellem Muster abgehandelt werden. Dabei zitiert Brüning neben dem römischen und kanonischen Recht, den mittelalterlichen italienischen Juristen und den Kameralisten des 16. Jahrhunderts (der schon von Losaeus verwendeten Literatur) auch ausführlich „deutschrechtliche" Juristen wie Paurmeister 192 ) sowie französische Juristen und Staatsrechtler wie Bodin, Cujas oder Gregorius Tholosanus. Häufig verwendet Brüning auch Bibelzitate und die gängigen antiken Autoren. In der für den usus modernus typischen Literatursammlung ist eine gewisse funktionale „Arbeitsteilung" auszumachen: Römische, privat- und verfahrensrechtliche Sätze und auf die Verhältnisse im Reich zugeschnittene „Verfassungsgrundsätze" decken den anwendungsorientierten Bereich ab, die antike Literatur sowie Bodin und Gregorius Tholosanus (die sich in ihrer Behandlung der universitas weitgehend an Aristoteles, Cicero und anderen griechischen und römischen Klassikern orientieren) liefern den theologisch-philosophischen Rahmen, mit dem die Rechtssätze legitimiert werden.
von Statuten erforderlich ist - also als Attribut, das zur Definition des jeweiligen Rechtsgeschäftes gehört. 191 ) Bruningus, Disputatio (wie Anm. 188). Da Brüning bei seiner Arbeit vermutlich vor allem seine Heimatstadt Bremen vor Augen hat, deren Status um 1609 noch zwischen Reichs- und Munizipalstadt schwankt, nimmt hier über weite Strecken noch das Reich den Platz der „Obrigkeit" ein. Ich zähle die Dissertation trotzdem zu den neueren Werken, in denen die territorial- und policeystaatliche Sicht auf die Reichsebene „abgefärbt" hat und in denen das Verhältnis Reich-Reichsstädte meist analog zu dem zwischen Territorialstaat und Munizipalstädten abgehandelt wird (später auch in separaten Monographien zu den Reichs-, respektive Munizipalstädten - so etwa Philipp Knipschild, Tractatus de civitatum Imperialium iuribus et privilegiis. Ulm 1657, oder Balthasar Conrad Zahn, Ichnographia Municipalis. Frankfurt 1650). 192 ) Tobias Paurmeister von Köchstedt (1555-1616), Kanzler des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel, verfaßte mit „De jurisdictione imperii Romani libri duo" 1608 eines der ersten Staatsrechtslehrbücher, das nicht römischrechtliche Grundsätze wiedergibt, sondern die tatsächlichen Rechtsverhältnisse in Deutschland darstellt; Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen (wie Anm. 15), 357.
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2.7.1. Gemeinderechte als ökonomische
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Ebenso wie die mittelalterlichen Naturrechtler oder wie Althusius, der ein paar Jahre zuvor die erste Fassung seiner Politica193) veröffentlicht hatte, greift Brüning auf Aristoteles Entstehungsmodell des Staates zurück: Die Gesellschaft beruht auf Familien, die wiederum vici und civitates bilden, die Kolonien gründen und sich zu Provinciae zusammenschließen, bis der Erdkreis gefüllt ist. Diese Einleitung belegt Brüning mit Stellen aus der Genesis, um zu unterstreichen, daß es sich dabei um die göttliche Ordnung handelt. Anders als Althusius interessiert es Brüning allerdings nicht, ob mit Hilfe der verschiedenen Korpora eine neue Art, den Staat zu regieren, konstruiert werden könnte die traditionellen Regierungsformen der respublicae werden eher beiläufig gegen Ende der Einleitung genannt 194 ). Vielmehr referiert Brüning die Theorie von der translatio imperii, nach welcher der deutsche Kaiser der Stellvertreter Gottes auf Erden und als Gesetzgeber und Quelle von Privilegien und Immunitäten (sowie von Krieg, Frieden und neuen Steuern) legibus civilibus solutus sei 195 ). Den mediaten Gewalten kommt in diesem System vor allem die Rolle zu, den Imperator in seiner Aufgabe als Mehrer des gemeinen Nutzens zu unterstützen 196 ). Brünings Gemeinden sind also gleich wie die Bodins zunächst einmal für den gesamten Staat nützlich. Doch während Bodin die Nützlichkeit zwar soziologisch und verwaltungstechnisch ausführlich begründet und einen Monarchen, der Korpora verbietet, als Tyrannen bezeichnet 197 ), daraus jedoch keine praktische Einschränkung der Souveränität folgen läßt, kopiert ihn Brüning zwar in seinen Thesen über imperator und imperium weitgehend 198 ), 193 ) Johannes Althusius, Politica, methodice digesta. 1. Aufl. 1603, 3., stark überarbeitete Aufl. 1614. 194 ) Bruningus, Disputatio (wie Anm. 188), th. 1 : „Non tarnen omnibus populis eadem arrisit gubernandi ratio: His Monarchia, ¡Iiis Aristocratia, aliis Democratia potior visa est." (hierzu wird Herodot zitiert) - Damit ist für Brüning das Thema erledigt. 195 ) Ebd., th.2, 3 und 5. 196 ) Ebd., th.6 und 8: Die Hilfe der Untertanen besteht in der Informationsbeschaffung (via Beschwerden) und in der Mitarbeit beim Regieren. ,97 ) Bodin, République (wie Anm. 144), lib.3, c.7, 495 ff. I98 ) Bodin zählt in lib.l, c.10 fünf „vrayes marques de la souveraineté" auf: Der Souverän erläßt allgemeingültige Gesetze, bestimmt über Krieg und Frieden, setzt die obersten Beamten ein, ist oberste Appellations- und einzige Supplikationsinstanz. Davon übernimmt Brüning in th.5 die ersten beiden Kompetenzen (einschließlich des Rechts, Steuern zu erheben und Privilegien oder Immunitäten zu verleihen); in th.93 anerkennt er den Kaiser implizit als höchste Gerichtsinstanz (nur der Kaiser darf in eigener Sache urteilen), und in th.28-30 spricht er allen Städten nur das Recht zu, gültige Urteile umzuwandeln, nicht aber, sie aufzuheben (weil dies gegen die „publica utilitas" verstieße). Als Grenzen für die potestas des Imperators nennt Brüning in th.4 das göttliche Recht oder das ius gentium (die der Kaiser nicht selber machen kann) sowie die Verpflichtung, Verträge einzuhalten (der Kaiser darf nicht willkürlich von Verträgen zurücktreten). Das entspricht Bodins Einschränkungen der Souveränität in lib. 1, c. 8 „de la souveraineté"; Bodin, République (wie Anm. 144), 149 und 152.
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greift darauf aber in der Behandlung des Verhältnisses zwischen Städten und ihrer Herrschaft unbekümmert zugunsten der Reichsstände in die Kompetenzen des Kaisers ein. Dabei ist Brüning allerdings weniger mit der Kontrolle der Regierenden durch unterstellte Korpora beschäftigt, sondern vielmehr damit, daß die Rechte der Korpora - vor allem der Reichsstädte und der civitates mixtaem) - von Kaiser und Fürsten nicht angetastet werden. So ist vor allem die Verwaltung der Korporationsgüter völlig vor obrigkeitlichen Eingriffen geschützt. Selbst universitates, die über keine iurisdictio verfügen, können über ihre Verwaltung statuieren 200 ). Eingeschränkt wird die universitas beim Statuieren über ihre Güter nur durch allgemeine Grundsätze. Statuten der untergebenen civitas dürfen denen der übergeordneten civitas nicht widersprechen; sie dürfen nicht gegen die Billigkeit (aequitas) verstoßen und nicht zu Monopolen führen. Schließlich dürfen die Statuten der civitas auch nicht die Appellation an höhere Instanzen versperren, weil dies einen Eingriff in die Rechte des princeps bedeuten würde. Werden all diese Bedingungen erfüllt, sind die Statuten gültig und brechen das ius civile 201 )Über ihre Geschäfte sind die Verwalter allein der Gemeinde Rechenschaft schuldig. Der Princeps hat auf Rechenschaftsberichte nur Anspruch, sofern er selbst Grundeigentümer in der Gemeinde ist. Diese Bestimmung begründet Brüning mit dem Umstand, daß alle, also auch untergebene Gemeinden, Gemeindegüter und eine gemeinsame Kasse haben, für welche sie Verwalter einsetzen müssen - und die sind nur denjenigen Rechenschaft schuldig, die sie eingesetzt haben 202 ). Auch für Gemeinde- und Ratsversammlungen ist die Erlaubnis des superior nur dort erforderlich, wo dieser selbst Mitglied der universitas ist. Eine universitas, die ihre Angelegenheiten selber verwalten darf, darf sich zu diesem Zweck auch selbst versammeln 203 ). Generell hängen für Brüning die Rechte, sich an den Geschäften der universitas zu beteiligen, noch ausgeprägter am Eigentum - vor allem am Eigentum in der Gemeinde - als bei Losaeus. So sind in wichtigen Geschäften nicht nur die Stimmen aller besitzenden Gemeindemitglieder nötig, sondern das Mehr-
' " ) Bremen ist seit 1358 Mitglied der Hanse und wird 1646 freie Reichsstadt. Die Hansestädte werden im usus modernus normalerweise als ein Kreuzung zwischen Reichs- und Munizipalstädten („civitates mixtae") behandelt. Die Kreuzung bringt eine große Bandbreite verschiedener Phänotypen hervor - hier wiederholt sich auf einer anderen Ebene (staatsrechtlich und im Grad der begrifflichen Generalisierung) die graduelle Abstufung, die auch für den Übergang zwischen Dorf und Stadt typisch ist. 20 °) Bruningus, Disputatio (wie Anm. 188), th.51: „Ewig" gültige Statuten werden auf Vorschlag des praeses von der Volksversammlung erlassen. Räte können nur Statuten für ein Jahr erlassen. 201) Ebd., th. 5 2 - 5 7 . 202 ) Ebd., th. 89. 203 ) Ebd., th.45.
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heitsprinzip wird zudem durch ein „Wiegen" der Stimmen nach dignitas und mit Schiedsspruch des caput der Korporation modifiziert 204 ). Wer die meisten Lasten und das größte Risiko in der Gemeinde trägt, soll auch mehr als die anderen zu sagen haben 205 ). Das System der Stimmberechtigten ist relativ geschlossen. Über die Mitgliederaufnahme bestimmt der Rat. Dieser ergänzt sich zum Teil selber durch Kooptation, zum Teil wird er von den Zünften beschickt 206 ). Dem Magistrat obliegt die Friedewahrung und die Sorge für den gemeinen Nutzen; er legitimiert sein Regiment also gleich wie der imperator 207 ). Folgerichtig bestimmen die Städte auch selbständig über ihre Befestigungen, können zu ihrem Schutz, oder sofern es das bonum publicum erfordert, Bündnisse schließen und sich auch einen neuen Herrn suchen, wenn der alte diese Aufgabe nicht erfüllen kann 208 ). Die Thesen über die Zusammensetzung des Rates und die Verteidigung beziehen sich nur auf Städte. Diese haben grundsätzlich dieselben Rechte und Pflichten wie die anderen Reichs-, respektive Landstände auch: Sie werden mit den andern Ständen einberufen, um „mit und neben allen andern Ständen Helffen handeln/ rathschlagen/ und schließen &c." Vor allem müssen die Städte einberufen werden, wenn es um Steuerfragen geht, zumal sie ja auch einen wesentlichen Teil der Steuerlast zu tragen haben. Dies gilt nicht nur für die Landstädte (deren Sitz in den Landtagen Brüning als gegeben voraussetzt), sondern auch für die Reichsstädte 209 ). Hier nimmt die Wahrung der eigenen Interessen (gemäß dem Prinzip quod omnes tangit) notgedrungen die Form einer Kontrolle des princeps durch die Stände an. Da das ius regale getrennt von seiner Quelle, der dignitas regalis, existieren kann 210 ), findet Brüning nichts dabei, wenn auch Städte oder andere Korpora Regalien oder Monopole verwalten 21 ')• Keinen Unterschied zwischen Dorf und Stadt macht Brüning in allen Bereichen, in denen die Handlungen der universitas auf Gemeindebeschlüssen ba204
) Ebd., th.47. ) Ebd., th.42 : „In concilium autem publicum cives potius, quam incolae cooptandi sunt: Aequitatis enim dictat ratio, ut qui maiori arctiorique vinculo Reipubl. obstricti sunt, in bonorum quoque participatione, aliisque commodis illis qui minora sustinent onera praeserantur,..." 206 ) Ebd., th. 4 1 , 4 2 und 50. 207 ) Ebd., th.42 und 48. 208 ) Ebd., th.49, 17 und 16. Die letzte Bestimmung bringt Brüning mit der integritas des Reichs unter einen Hut, indem er erklärt, durch den Wechsel zu einem andern Schutzherrn ändere sich nichts an der Verteilung der iürisdictio. 209 ) Ebd., th. 18. 21 °) Ebd., th. 19. 2 " ) Ebd., th.20-27. Nur Reichsstädten vorbehalten ist das Recht, die eigene Religion zu bestimmen. Das Recht auf Befestigungen (mit den entsprechenden Steuern), den Heimfall erbenloser Güter, das Münzrecht, Salz- und andere Monopole sowie Derivate aus dem merum und mixtum imperium sind hingegen auch für andere Städte erreichbar, und öffentliche Angelegenheiten wie etwa der Straßenunterhalt können sogar „vicinitates" unterstellt werden. 205
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sieren. Dazu gehört die oben erwähnte Verwaltung der Gemeindegüter samt zugehörigem ius statuendi ebenso wie das Strafrecht, in dem Brüning vor allem Gaill und Losaeus folgt 212 ), und das Privatrecht, in dem sich Brüning überall und meistens sogar wörtlich Losaeus anschließt 213 ). Unterschiede ergeben sich einzig auf der Ebene der Privilegien. Während Städte für ihr Handwerk und den Handel auf Privilegien angewiesen sind (und sie so von den für die Mehrung des gemeinen Nutzens veranwortlichen Fürsten leicht erlangen können), dürfen die benachbarten Dörfer (pagi) diese Privilegien nicht usurpieren, damit den städtischen Handwerkern nicht die Nahrung entzogen wird 214 ). Anders als Statuten, die vor allem korporationsinterne Angelegenheiten regeln und die zur Sicherheit auch der grundsätzlichen Zulassungsbedingung unterliegen, die Billigkeit nicht zu verletzen, ist das Privilegienwesen aus der Perspektive der Korporationen ein Kampf um ökonomische Vorteile, den Brüning so beschreibt: Alle Städte und Zünfte streben nach Privilegien; die Städte drängen zum Handel, weil er ihnen Annehmlichkeiten und Nutzen bringt. Damit aber auch in diesem Bereich nicht das Faustrecht gilt, wird eine übergeordnete Instanz - nach gängiger politischer Theorie und auch bei Brüning der princeps - mit der Verwaltung der Privilegien betraut 215 ). Anders als bei Losaeus ist es bei Brüning auch allein der princeps, der Immunitäten wie zum Beispiel Steuerbefreiungen verleihen kann, obwohl die gemeindeinterne Steuerumlage eigentlich nach dem Prinzip quod omnes tangit betrieben wird 216 ). Im Gegenzug wird dem princeps jede Kontrolle über einmal gewährte Privilegien entzogen: Privilegien haben nämlich die Kraft eines Vertrags und binden so den princeps und seine Nachfolger gleich wie Private. Auch über die Interpretation kann der Fürst nicht mehr eingreifen. Wer einen Vertrag nicht auflösen kann, kann ihn auch nicht interpretieren 217 ). Privilegien sind für Brüning ein Instrument der guten Policey, das der Fürst auf Initiative der Korporationen (die hier als Vertreter wirtschaftlicher Interessen handeln) einsetzt. Die Dörfer werden von diesem politischen Kampf um 212
) Ebd., t h . 9 1 - 1 0 0 . Für die Möglichkeit des Widerstandes von Gemeinden gegen ihre Herrschaft ist th.93 von Bedeutung: Brüning sagt wie Gaill, daß Abgabenverweigerung unter dem Vorwand eines Exemtionsprivilegs vom Princeps nicht als Rebellion ausgelegt werden kann (weil er nicht in eigener Sache urteilen darf), sondern daß der Kaiser angerufen werden muß. 213 ) Ebd., th. 71—88. Einzig im Artikel über die restitutio in integrum widerspricht Brüning Losaeus - aber nur, weil er ihn hier falsch zitiert: Tatsächlich sind sich beide darin einig, daß die restitutio in integrum sowohl Städten als auch Dörfern zusteht. 214 ) Ebd., th.58. 215 ) Ebd., th.58: Städte und Zünfte können Privilegien nicht aus eigenem Recht, sondern nur vom princeps erlangen. 216 ) Ebd., th.67. 217 ) Ebd., th.60. Brüning begründet die bindende Kraft des Vertrags mit der in th.4 zitierten Theorie Bodins über die Grenzen der Souveränität.
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wirtschaftliche Vorteile mit der Begründung ausgeschlossen, daß sie für die Sicherung ihrer Nahrung nicht auf Privilegien angewiesen sind 218 ).
2.7.2. Besold: Gemeindeeigentum
als Basis für
Gemeindeautonomie
Christoph Besold folgt in seinem Opus politicum219) Althusius, insofern er den Menschen als ein Wesen beschreibt, das von Natur aus und für das Überleben von Leib und Seele auf die Gesellschaft angewiesen ist. Auf der Vergesellschaftung aufgrund von Konsens und zum Nutzen aller basiert der Staat 220 ). Anders als Althusius 221 ) baut Besold diesen Staat aber nicht ausgehend von der Familie von unten über verschiedene Stufen der Vergesellschaftung auf. Vielmehr folgt er Bodin, der die Entstehung des Staates zwar (wie Aristoteles) als einen Zusammenschluß von Familien zu Dörfern und von Dörfern zu Städten und Staaten beschreibt, der aber den Korporationen, die zwischen der Familie und dem Staat stehen, in der Gegenwart keine konstitutive Funktion mehr zuweist 222 ). Freilich ist der oberste Magistrat im Staat auf diese Korporationen angewiesen, wenn er seine Aufgabe - bei Besold geht es vor allem um die Aufrechterhaltung der Rechtsgewähr 223 ) - richtig erfüllen will. Wie Bodin wertet Besold eine korporationsfeindliche Haltung als ein Zeichen von Tyrannei 224 ). Sieht man diese Aussage im Zusammenhang mit der Dissertation De republica curanda, in der unter anderem das Widerstandsrecht gegen Tyrannen diskutiert wird 225 ), so erscheint eine tyrannische Regie2
'8) Implizit in th.58. ) Christoph Besold (1577-1638) trug wesentlich dazu bei, daß die Universität Tübingen, an der er seit 1610 lehrte, zu einem der Zentren des usus modernus wurde. Zu seinen wichtigsten juristischen Publikationen gehören staatsrechtliche Schriften, Consiliensammlungen, sowie der „Thesaurus Practicus", ein Nachschlagewerk, das noch im 18. Jahrhundert von den Juristen eifrig benutzt wurde; Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen (wie Anm. 15), 36-38; Meyer, Besold (wie Anm. 4); Barbara Zeller-Lorenz, Christoph Besold und die Klosterfrage. Tübingen 1986. 22 °) Besold, Dissertatio philologica, c.3, in: Opus politicum (wie Anm. 49). 221 ) Althusius, Politica (wie Anm. 193). 222 ) Während die einzelnen Korporationen zum Schutz der Interessen der Individuen nötig sind, ist die menschliche Gesellschaft, die als Ganzes das Gemeinwohl anstrebt, auf den Staat angewiesen; Meyer, Besold (wie Anm. 4), 42 ff. 223 ) Der Staatszweck ist die „salus publica", die Besold mit der „suprema lex" oder auch dem Naturrecht gleichsetzt (Diss. philologica [wie Anm. 220], c.4). Die Verwaltung ist die Seele des Staates, die sich mit ihrer Ordnung der Anarchie und damit der Zerstörung des auf Gerechtigkeit basierenden Gemeinwohls entgegenstellt (ebd., c. 5). 224 ) Besold, Diss. de jure collegiorum, in: Opus Politicum (wie Anm. 49), c.l. 225 ) Besold, Diss. de republica curanda, in: Opus Politicum (wie Anm. 49), c.l. Besold spricht sich nach einer ausführlichen Beschreibung der verschiedenen Theorien, die von der Absetzung durch die Stände über die göttliche Strafe (an deren Effizienz Besold in diesem Zusammenhang zweifelt) bis zum Tyrannenmord mittels Gift reichen, für ein „Verfassungsgericht" („supremum justitiae tribunal") aus, vor dem sich zumindest die Fürsten zu verantworten haben. Vor der ausführlichen Behandlung des Widerstandsrechts stellt Besold 2I9
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rung nicht nur als ein bedauerlicher Zwischenfall, sondern als nicht legitim. Damit werden die Korporationen nicht nur zu wünschbaren, sondern zu notwendigen Bestandteilen des Staates. Besold erklärt allerdings nicht die Korporationen direkt für unangreifbar, sondern ihre Güter: Wenn schon, heißt es in der Dissertation De iure et divisione rerum, das Privateigentum einzelner vom Princeps nicht angetastet werden dürfe, dann dürfe er sich schon gar nicht am Gemeindeeigentum, etwa der „Allmende", vergreifen 226 ). Nachdem Besold auch festgehalten hat, daß jede universitas für ihren dauerhaften Bestand gemeinsame Güter braucht 227 ), und daß damit „Gemeinde" das Vorhandensein von „Gemeindegütern" einschließt, demonstriert er in der Dissertation De jure universitatum228), wieviel Autonomie sich aus der Verfügungsgewalt der universitas über ihre Güter entwickeln läßt. Für alle Gemeinden - Formulierungen wie „jede beliebige Gemeinde" oder Aufzählungen lassen keinen Zweifel daran, wann sowohl Städte als auch Dörfer gemeint sind - knüpft Besold neben der unbeschränkten privatrechtlichen Handlungsfähigkeit die freie Wahl des Rechtsvertreters (syndicus), die autonome Verwaltung mit zugehörigem ius statuendi und eigenen Steuern sowie die Mitgliederaufnahme an das vor äußeren Eingriffen geschützte Gemeindeeigentum. Besold definiert jede Gemeinde, soweit sie von mindestens drei Mitgliedern gegründet wurde, als eine lokale Vereinigung von Familien und Korporationen mit einem gemeinsamen Recht, die im Unterschied zum corpus oder collegium über ein Territorium verfügt 229 ). Alles innerhalb dieser Stadt- oder Dorfgrenzen gehört der Gemeinde (ihren Mitgliedern einzeln oder gesamthaft) und nicht irgendeiner Obrigkeit 230 ). Alle Gemeinden sind als voll rechtsfähige personae fictae zu betrachten, sofern die Mitglieder „legitime congregata atque convocata" sind 231 ) und der Zustimmung des superior gegeben ist. Das - im Vergleich zum verbrieften Stadtrecht weniger klar definierte - ius klar, daß er nichts von der (unter anderem von Gaill, Practicae observationes [wie Anm. 37], 2,55 vertretenen) Ansicht hält, über die Befugnisse des princeps dürfe nicht diskutiert werden. 226 ) Besold, Diss. de jure & divisione rerum, in: Opus Politicum (wie Anm. 49), c.3. Selbst Nutzungsrechte der Gemeinden sind besonders geschützt: So darf der princeps seinen Grund und Boden nicht einfach bebauen oder verkaufen, wenn eine Gemeinde darauf Weiderechte hat (ebd.). 227 ) Ebd., c.3. 228 ) In der Einleitung zur Dissertation de jure universitatum (wie Anm. 49) legt Besold fest, daß es in dieser Arbeit nur um die Gemeinden („ein Gemaindt" oder „communitas") geht, nicht aber um nicht-territoriale corpora oder collegia (c.l, § 1), die in einer separaten Dissertation behandelt werden. 2 » ) Ebd., c.l, § 1. 230 ) Ders., Diss. de jure & divisione rerum (wie Anm. 226), c.3. 231 ) Ders., De jure universitatum (wie Anm. 49), c.3.
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universitatis läßt sich etwa daran erkennen, daß der Gemeinde ihr Baugrund und ihre Rechtsvertretung zugestanden wird und daß der superior sie als universitas anspricht 232 ). Schweigende Zustimmung gilt also wie bei den mittelalterlichen italienischen Juristen immer noch als ausreichende Konzession für eine Gemeindegründung 233 ). Durch ihre Gemeindegüter ist die Gemeinde in privatrechtlichen Angelegenheiten (Erbschaft, Kauf, Schenkungen etc.) voll handlungsfähig 234 ). Dazu gehört auch, das die Gemeindeversammlung oder der Rat Verträge abschließen kann, vorausgesetzt, es liegt ein Mehrheitsbeschluß vor 235 ). Für die Verwaltung ihrer Güter 236 ) braucht die Gemeinde aus praktischen Gründen Repräsentanten, die für die Gesamtheit handeln können und für das Wohl der Gemeinde die Verantwortung tragen. Hier unterscheidet Besold zwischen „Schöpffen", die er mit den römischen Dekurionen gleichsetzt, und „defensores plebis", die den römischen Völkstribunen entsprechen und die in den Dörfern „Heimbürgen" genannt werden. Dem Rat stehen die Bürgermeister oder „civium magistrati" vor. Der Rat jeder beliebigen Gemeinde repräsentiert das ganze Volk und hat so dieselben Kompetenzen wie die Gemeindeversammlung. Besold möchte nicht entscheiden, ob die Wahl der Räte dem Volk, dem Rat oder dem dominus loci zusteht. Sicher ist Besold aber, daß der princeps gewählte Räte nicht entfernen kann, solange sie kein Verbrechen begangen haben. Denn jeder Gemeinde steht die freie potestas in der Administration ihrer Angelegenheiten zu, selbst wenn sie keine Jurisdiktion hat 237 ). Ihren Rechtsvertreter kann jede Gemeinde ohne Autorisation der Obrigkeit wählen 238 ), und auch die Aufnahme neuer Bürger steht grundsätzlich dem Rat zu 239 ). Schließlich sieht Besold auch keinen Grund, warum eine Gemeinde, die Eigentum haben kann, nicht auch Steuern 240 ) für den Eigenbedarf erheben sollte. Diese Art Steuererhebung zu Verwaltungszwecken gehört nach Besold nicht zu den Regalien und braucht auch keine obrigkeitliche Zustimmung 241 ). Der princeps hat nur über die iurisdictio Zugriff auf die universitas: Die Jurisdiktion für das ganze Territorium liegt normalerweise beim princeps. Doch 232
) Ebd., c . l , § 1. ) Ebd., c . l , § 2. Dagegen muß das Stadtrecht vom princeps verliehen werden; einzig das Stadtrecht der italienischen Städte beruht auf Gewohnheitsrecht. 234 ) Ebd., c.5, § 5. 235 ) Ebd., c.6. Mit Mehrheitsbeschluß kann allerdings ebensowenig wie mit allgemeinen Gesetzen auf die privatrechtlich geschützten Güter oder Nutzungsrechte einzelner Gemeindemitglieder zurückgegriffen werden. 236 ) Ebd., c.4. 237 ) Ebd., c.4, § 4. 238 ) Ebd., c.4, § 5. 239 ) Ebd., c.8, § 3. 240 ) „Collectas, gabellas, Umbgelt, Marcktgelt, etc." (ebd., c.5, § 1). 24 ' ) Ebd. 233
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können auch Städte die iurisdictio durch usurpatio, Vertrag, Privileg oder aufgrund der Verfassung des Ortes haben und soweit selber statuieren; in diesem Fall folgen die untergebenen Dörfer dem Recht der Stadt 242 ). Die iursidictio ist also bei Besold das Element, das Herrschaft und auch eine hierarchische Abstufung zwischen Stadt und Dorf begründet. Allerdings sind die an Untertanen verteilten Privilegien so vielfaltig, daß sie die Grenzen zwischen verschiedenen Untertanenkategorien wieder verwischen: „Omnes fere subditi privilegiati sunt: nullus enim vicus existit, privilegiis non profulgens" 243 ). In den genossenschaftlich organisierten Verwaltungsbereich kann die Landesherrschaft nur über die Billigkeitsrechtsprechung eingreifen: So darf sie sich nur einmischen, wenn die Gemeindegüter schlecht verwaltet werden und deswegen beispielsweise eine Hungersnot droht 244 ). Die Zustimmung des princeps ist auch für die Aufteilung von Gemeindegütern unter die einzelnen Mitglieder oder für den Verkauf von Gemeindegütern erforderlich 245 ). Und schließlich darf der princeps eingreifen, wenn eine Gemeinde mißbräuchlich mit der Erteilung des Bürgerrechts umgeht 246 ). Für den Landesherrn reserviert ist die Regelung der interkommunalen Beziehungen: Der princeps erteilt oder widerruft Privilegien, sofern es der gemeine Nutzen erfordert 247 ), und er ist generell legibus solutus, damit er Gesetze zum Wohl der Gesamtheit erlassen und ändern kann 248 ). Besold beschreibt den größten Teil der europäischen Staaten als respublicae mixtae, als Monarchien oder (im Fall der Stadtstaaten) Aristokratien mit aristokratischen, respektive demokratischen Elementen 249 ). Doch herrscht auch in den Staaten, in denen sich nicht mehrere Gruppen in die oberste Gewalt teilen, eine Art Gleichgewicht zwischen princeps und Untertanen (die wahlweise als „subditi" oder „communitates" bezeichnet werden). Zwar ist in einer reinen Monarchie der Fürst 250 ) legibus solutus; das heißt aber nur, daß er die Freiheit hat, zur Wahrung der salus publica Rechtsbesserung zu betreiben, 2 « ) Ebd., c.8. 243 ) Ders., Diss. singularis de statu reipublicae mixto, in: Opus Politicum (wie Anm. 49), c.4, § 4. 244
) Ders., De jure universitatum (wie Anm. 49), c.5, § 2.
2 « ) Ebd., c.5, § 3, und c.6, § 2. 24 6) Ebd., c.8, § 3. 247 ) Ebd., c.8, § 4. Nicht widerrufen werden können vertraglich verankerte Privilegien zum Beispiel solche, die gekauft wurden. Unter gar keinen Umständen widerrufen werden können Verträge, die den fundamentalen Gesetzen eines Staates zugerechnet werden (zum Beispiel Wahlkapitulationen); Besold, De statu reipublicae mixto (wie Anm. 243), c.4, § 4. 248 ) Ders., Diss. de politica majestate in genere tractans, in: Opus Politicum (wie Anm. 49), c.7, § 12. 249 ) Ders., D e statu reipublicae mixto (wie Anm. 243), c. 1. Mit dieser Einschätzung wendet sich Besold explizit gegen Bodin, der im Zweifelsfall eher für „reine Typen" entscheidet (und beispielsweise das Reich als Aristokratie bezeichnet). 25 °) Analoges gilt für den Senat oder das Volk in einer reinen Aristokratie, respektive Demokratie.
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nicht aber, bewährte Gesetze zu mißachten 251 )- Denn darin unterscheidet sich der gute Herrscher vom Tyrannen, daß er seine absoluta potestas nicht gebraucht, wo er nicht muß 252 ), und das Herkommen seiner Untertanen respektiert. Die Gemeinden können nun allerdings kein Herkommen „machen", das den obrigkeitlichen Gesetzen widerspräche, es sei denn, die consuetudo wäre älter als die Gesetze. Anderseits hat aber der princeps auch nicht das Recht, Statuten gegen eine communitas durchzusetzen 253 ). Zusammenfassend stellt Besold fest, daß die Initiative für Gesetze sowohl vom princeps als auch vom Volk ausgehen kann, daß aber billiges Recht den Konses des Volkes voraussetzt: „Justum est, ut Princeps consensu subditorum faciat leges [...] Ac illae imprimis leges valent, quas populus petit" 254 ).
2.8. Lauterbach: Je autonomer das Dorf, desto exklusiver die Mitgliedschaft Wie Christoph Besold lehrte auch Wolfgang Adam Lauterbach (1618-1678) in Tübingen - allerdings war seine Wirkungszeit von der seines Vorgängers durch den Westfälische Frieden getrennt, nach dem endgültig feststand, daß die Reichsstände in ihren Territorien dieselben Kompetenzen hatten wie der Kaiser im Reich 255 ). Die nun verfassungsrechtlich bestätigte Souveränität der Reichsstände war aber für die Privatrechtler offensichtlich kein Grund, sogleich eine Theorie von einem geschlossenen, zentralistisch regierten Territorium zu entwickeln. Schon bezüglich der Gesetzgebung stellt Lauterbach fest, daß die Territorien ebenso wie das Reich ständisch organisiert und die Territorialherrschaften zwar legibus solutus seien 256 ), aber nur mit Zustimmung der Landstände legiferieren können 257 ). Dazu kommt die Existenz verschiedener Arten von leges, durch die sich die Gesetzgebungskompetenz aufsplittert. Neben sanctiones und constitutiones principis - die wiederum motu proprio oder motu alieno (auf Initiative von
25
>) Besold, De politica majestate (wie Anm. 248), c.7, § 12. ) Ebd., § 13. 253 ) Ebd., sectio 3, c.2. Besold weist hier auch darauf hin, daß beispielsweise in „Germania" keine Gesetzgebung möglich ist ohne die Zustimmung der Ständeversammlung. 254 ) Ebd., sectio 3, c.2, § 3. 255 ) Lauterbach, Collegium Theorico-Practicum (wie Anm. 27), Hb. 1, tit.3 (de legibus, senatusconsultus, et longa consuetudine), § 6. Lauterbachs Kollegienhefte wurden postum von seinen Schülern herausgegeben und gehörten bis ins 18. Jahrhundert zu den meistzitierten Werken des usus modernus. 256 ) Ebd., tit.3, § 13. 257 ) Ebd., tit.3, §§ 4, 5 und 12. 252
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Privaten oder universitates) Zustandekommen können 258 ), nennt Lauterbach plebiscitum (das vom Volk zu bestätigende Gesetz), senatusconsultum, ius praetorium (die Rechtsschöpfung, die beispielsweise ein Richter durch Gesetzesinterpretation betreibt) und responsa prudentium259). Außerdem gelten all diese Bestimmungen nur für die geschriebenen Gesetze, die sich auf Gesetzgebungskompetenz stützen. Daneben existiert die auf Gebrauch gestützte consuetudo, die in der Rechtshierarchie im selben Rang wie das Gesetz steht 260 ). Diese wird vom Volk, das eine bestimmte Regelung in der Praxis beachtet, eingeführt 261 ). Eine consuetudo ist gültig, wenn sich die Mehrheit einer Gemeinschaft bewußt daran hält; sie unterliegt also demselben Prinzip wie Gemeindebeschlüsse 262 ). Geschriebene leges wie ungeschriebene consuetudines legitimieren sich aus necessitas 263 ) sowie usus und sind nur gültig, wenn sie den göttlichen und den angeborenen natürlichen Gesetzen nicht widersprechen 264 ). Auf der Ebene der Statutargesetzgebung, wo korporatives Sonderrecht neu gesetzt wird und es sich nicht wie im Fall der consuetudo um bewährte Praxis handelt, kommt wieder die bekannte Formel zum Zug, daß jede universitas für ihre internen Angelegenheiten jederzeit statuieren kann 265 ), während weiterreichende Statuten nur von den municipia erlassen werden können, die über ein entsprechendes Privileg verfügen 266 ). Die Erteilung, Suspendierung oder der Widerruf von Privilegien ist Sache des princeps, der sich dabei an der salus reipublicae zu orientieren hat 267 ). Die Rechte der universitates handelt Lauterbach in seinen Erläuterungen zum Digestentitel quod cuiusque universitatis268) sowie in den Dissertationen 258
) Ebd., lib.l, tit.4 (de constitutionibus principum), §§ 5 ff. Zu den constitutiones, die motu alieno entstehen, gehören die rescripta (Reaktionen auf Suppliken) und die pragmaticae sanctiones (Reaktionen auf Gemeindebitten). 259 ) Ebd., tit.3, § 24. 260 ) Ebd., tit.3, § 21. 261) Ebd., tit.3, § 33. 262 ) Ebd., tit.3, § 29. 263 ) Gesetze sind legitim, wenn sie den obersten Zweck der Gesetzgebung erfüllen: „finis legum ultimus est salus Reipublicae" (ebd., tit.3, § 19). 264 ) Ebd., tit.3, § 13 (leges) und § 46 (consuetudo). Lauterbach unterscheidet lex divina und humana und unterteilt letztere wiederum in die „lex naturalis, quae nobiscum nata" und die „lex positiva sive civilis, quae usu atque necessitate ita exigente ab hominibus introducta est." (Wolfgang Adam Lauterbach, Diss. 165, de legibus th. 16, in: Ulrich Thomas Lauterbach [Hrsg.], Dissertationes academicae. 3. Bd. Tübingen 1728.) 265 ) Ders., Collegium theorico-practicum (wie Anm. 27), tit.3, § 8, und De legibus (wie Anm. 264), th. 89. Lauterbach betont an beiden Stellen, daß diese Statutargesetzgebungskompetenz auch universitates ohne iurisdictio zukommt. 266) D e r s . , Collegium theorico-practicum (wie Anm. 27), tit.3, § 7. 267 ) Ebd., tit.4, §§ 25 ff. Der princeps kann beispielsweise ein Privileg suspendieren, wenn das im öffentlichen Interesse ist (§ 49), oder er kann es einer delinquierenden universitas als Strafe entziehen (§ 56). 268 ) Ebd., lib.3, tit.4.
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De syndicis und De legibus weitgehend gleich wie die auch häufig zitierten „Gemeinderechtsautoritäten" Losaeus, Brüning und Besold samt der dort zitierten Literatur bis Bartolus und Baldus ab. Anders als Besold begründet Lauterbach aber die Autonomie der universitas in Verwaltungsangelegenheiten 269 ) nicht mit der Unverletzlichkeit des Eigentums, sondern damit, daß sie als Teil der societas civilis eigene Rechte habe 270 ). Dabei konstruiert er die universitas als Rechtskreis in Analogie zum staatlichen Recht und der Wahrung der salus reipublicae: So kann die Gemeinde oder das collegium einen Syndicus beauftragen, „ut iustitia administretur, & universitatis salus defendatur". Das Verfahren der syndicus-Wahl richtet sich nach der jeweiligen Gemeindeverfassung, gleich wie sich die Nachfolge des princeps nach dem Recht der königlichen Sukzession richtet271). Einen syndicus können nach gemeinem Recht alle universitates „iure licitae & approbatae" ohne obrigkeitliche Bestätigung wählen 272 ). Auch in anderen Bereichen weist Lauterbach darauf hin, daß landesherrliche Bewilligungen nicht nötig sind für Dinge, die schon von allgemeingültigen Gesetzen geregelt werden. Das gilt für Statuten, die von Rechts wegen erlaubt sind 273 ), ebenso wie für Gemeinde- oder Ratsversammlungen 274 ). Das gilt ohne Unterschied für alle Korporationen, ebenso wie auch alle Korporationen in internen Angelegenheiten eine gewisse Zwangsgewalt (iurisdictio) ausüben 275 ). In der Dissertation über den Digestentitel de rebus creditis, in der Lauterbach die Aufnahme von Darlehen durch Gemeinden behandelt und dabei wie schon die Glossatoren oder Zasius 276 ) auf die Frage eingeht, ob ein Dorf als universitas haften kann, wird als aktuelles und allgemeingültiges Kriterium für die Unterscheidung von Stadt und Dorf nur das Stadtrecht anerkannt: „inter pagum & civitatem differentia hodie in nostra Germania ab authoritate superioris, volentis aliquam universitatem civitatem esse, dependet" 277 ). Nach politischer oder zivilrechtlicher Theorie hingegen kann Lauterbach zumindest
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) Ders., De legibus (wie Anm. 264), th.89. °) Ders., De syndicis, in: Ders., Dissertationes academicae (wie Anm. 264), th.l und 2. 27 ' ) Ebd., th.16 und 17. 272 ) Ebd., th.42 und 34, sowie ders., Collegium Theorico-Practicum (wie Anm. 27), lib.3, tit.4, § § 2 1 und 16. 273 ) Ders., De legibus (wie Anm. 264), th.90. 274 ) Ders., De syndicis (wie Anm. 270), th.21. 275 ) Lauterbach sagt mit dem sächsischen Juristen Benedikt Carpzov ( 1 5 9 5 - 1 6 6 6 ) : „Habent enim & ipsa speciem quandam Jurisdictionis, in causis ad se pertinentibus." Dies gilt für alle universitates einschließlich der „pagi"; Lauterbach, Collegium Theorico-Practicum (wie Anm. 27), lib.3, tit.4, § 21. 276) Vgl. Michaud-Quantin, Universitas (wie Anm. 9), 126, und Anm. 210. 277 ) Lauterbach, Diss. 103 „ad L.civitatis XXVII Dig. de rebus creditis" (1653), in: Dissertationes academicae, 3. Bd. (wie Anm. 264), c.3, th.3. 27
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in Württemberg keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Dörfern 278 ) und Städten feststellen. So sind die württembergischen Dörfer durch Landwirtschaft und Gewerbe wirtschaftlich autonom und ermöglichen nicht nur das bloße Überleben, sondern das freie Leben, das Aristoteles nur den Stadtbürgem zuspricht. Folgerichtig werden die Einwohner dieser Dörfer „Bürger" genannt. Außerdem verfügen die Döfer über ein eigenes Regiment und Gericht. Augenfällige Wahrzeichen dieser Autonomie sind die eigene Kirche und oft auch ein Markt 279 ). Ganz anders steht es allerdings um die sächsischen Dörfer, deren Schultheißen gemäß Lauterbach reine Verwaltungsbeamten der Gerichtsherrschaft sind und deren Einwohnern jegliche Art von Handel oder Gewerbe verboten ist2«0). Für die Dörfer in Württemberg kommt Lauterbach jedoch zum klaren Schluß, sie seien „recte civitatibus annumerari" 281 ). Doch ist die Nähe des württembergischen Dorfs zur Stadt nicht umsonst zu haben. Denn Voraussetzungen für die Aufnahme neuer Mitglieder „in Stätten oder in Dörffern" sind persönliche Freiheit, ein gewisses Vermögen und die Leistung des Bürgereides 282 ). Sowohl die häufigen Hinweise auf allgemeine Gesetze an Stellen, wo frühere Autoren eine obrigkeitliche Bewilligung verlangen, als auch der Vergleich zwischen der rechtlichen Stellung von Gemeinden in verschiedenen Territorien deutet darauf hin, daß sich Lauterbach schon mit relativ flächendeckenden territorialen Rechtssystemen befaßt. Allerdings scheinen diese territorialen Rechte die Gemeindeautonomie nicht wesentlich zu beeinträchtigen. 278
) Durch die Übersetzung „pagi/Dörffer" beseitigt Lauterbach alle terminologischen Zweifel (ebd. c.3, th.2, § 3.) 279 ) „Pagos, quos hodie, praesertim in hoc nostro Ducatu habemus, si consideramus, quin multi ex Ulis civitatis quoque digni sint, & secundum Politicorum doctrinam, ac Juris civilis usum, civitatis vocabulo comprehendantur, nulli dubitamus. Quot enim reperiuntur Pagi, qui sufficientiam, hoc est, res ad vitam necessariam fere omnes habent? [...] Quam multi sunt, qui praeter agricolas, suos quoque habent fabros, sutores, sartores, & alios opifices, qui ad vitam sustenendam necessarii." In vielen anderen findet man Kirchen und Märkte „& alia, quae sunt urbium insignia." Damit noch nicht genug, „habent illi [Wirtembergicis pagi] suos scultetos, consules & scabinos, ,Schultheissen, Burgermeister und Gerichtsmannen'; qui aliquam jurisdictionis speciem exercent, ac de causis civilibus jus dicunt." Und die, die in den Dörfern leben, „cives,,Burgere' vocantur; jusque civitatis specialiter a sculteto, consulibus & scabinis ,von Schultheiss, Bürgermeister und Gericht' impetrare tenentur; adeoque cum civibus in civitate degentibus, etiam quoad commercia fere communiuntur jure" (ebd., c.3, th.2, §§ 3 und 4). 28
°) „[In Saxonia] Sculteti in Pagis nullam omnino habent Jurisdictionem; sed sunt nudi ministri eorum, quibus Jurisdictio competit [ . . . ] Nec Rusticis & Incolis in Pagis cerevisiam coquere, ac vendere, alique civium commercia exercere permissum est [ . . . ] nec artifices & mechanici in pagis adjacentibus habitare possint" (ebd., c.3, th.2, § 5). 281 ) Ebd., c.3, th.3, § 5. 282 ) Lauterbach, Collegium theorico-practicum (wie Anm. 27), tit.5, § 20.
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2.9. Nettelbladt: Die universitas im naturrechtlichen Gewand Daniel Nettelbladt 283 ) behandelt in seinem Werk nach dem Vorbild seines Lehrers Christian Wolff 284 ) sämtliche Zweige des Rechts nach einem System, das streng deduktiv von den allgemeinsten zu den besonderen Sätzen fortschreitet. Wie Wolff definiert er die „iurisprudentia naturalis" als Teil der „philosophia practica, [...] quae continet veritates naturales de iuribus et obligationibus" 285 ). Die iurisprudentia naturalis wird unterteilt in die iurisprudentia naturalis generalis, die sich mit generellen, nicht auf spezielle Teilgebiete bezogenen Wahrheiten befaßt, und die iurisprudentia naturalis specialis. Letztere besteht wiederum aus der iurisprudentia naturalis stricte sie dicta, die sich auf das ius naturae des Menschen im Naturzustand bezieht, und der iurisprudentia naturalis civilis oder socialis, die das ius naturae des vergesellschafteten, „in república seu civitate" lebenden Menschen beschreibt 286 ). Die societates, zu denen Nettelbladt jede Gemeinschaft von der Familie bis zum Staat zählt, werden in der iurisprudentia naturalis civilis abgehandelt. Im allgemeinen Teil definiert Nettelbladt die societas als Zusammenschluß (consociatio) von mindestens zwei Personen mit denselben Absichten für einen gemeinsamen, dauernden Zweck 287 ). Erst durch diesen Zusammenschluß
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) Daniel Nettelbladt (1719-1791), Professor in Halle. Seine beiden Lehrbücher zum Naturrecht und zum gemeinen Recht im deutschen Reich wurden bis Ende des 18. Jahrhunderts verwendet: Sowohl das „Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis" als auch das „Systema elementare universae iurisprudentiae positivae communis imperii Romanae Germanici" (1. Aufl. Halle/Magdeburg 1749) wurde 1785 bereits zum fünften Mal aufgelegt. Auf Nettelbladts Forderung nach strikten Definitionen und der systematisch richtigen Anordnung des Allgemeinen vor dem Besonderen gehen die Anfänge des Pandektensystems, besonders der allgemeine Teil, und damit eines der Charakteristika der neueren deutschen Privatrechtstheorie zurück (Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967, 321). 284 ) Zu Wolffs „ius naturae" vgl. Stig Strömholm, Kurze Geschichte der abendländischen Rechtsphilosophie. Göttingen 1991, 183. 285 ) Daniel Nettelbladt, Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis. Halle/ Magdeburg 1785, Introductio § 3. Sowohl diese Definition als auch der folgende Überblick über die verschiedenen Teilgebiete der iurisprudentia naturalis machen deutlich, daß das Naturrecht hier nicht dazu dient, eine alternative Staats- oder Gesellschaftsform (nach Althusius oder Rousseau) zu entwerfen, sondern zur Erklärung und Systematisierung bestehenden Rechts benützt wird. - So sind denn auch die beiden Werke über das Naturrecht und über das gemeine Recht weitgehend parallel aufgebaut. 286 ) Ebd., Introductio §§ 4ff. Die Analogie zum positiven Recht geht soweit, daß es neben der iurisprudentia naturalis civilis auch eine iurisprudentia naturalis ecclesiastica, criminalis und sogar feudalis gibt. 287 ) Ebd., §§ 328 und 329. Dieselbe Bestimmung gilt auch für „societates compositae", die nicht aus natürlichen Personen, sondern aus personae morales bestehen (ebd., § 351). Die Mindestzahl von zwei Gründungsmitgliedern gilt in der traditionellen gemeinrechtlichen Theorie nur für die auf obligatorischen Verpflichtungen beruhenden Gesellschaften (socie-
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entsteht eine Zwangsgewalt (imperium) - denn im Naturzustand hat kein Mensch das imperium über einen anderen. Das imperium reicht so weit wie die obligatio der socii, die sich wiederum aus dem Zweck der consociatio ergibt 288 ). Wie auch für die herkömmliche universitas üblich, unterscheidet Nettelbladt in seiner Theorie der societas zwischen den Rechten der einzelnen Mitglieder und den iura societatis. Zu den Rechten der einzelnen gehören besonders auch die „politischen" Rechte (Teilnahme an der Gemeindeversammlung und Stimmrecht) und die Nutzungsrechte an Gemeindegütern. Die Befugnisse der societas umfassen die Aufnahme neuer Mitglieder oder den Ausschluß von Mitgliedern, die Verfügung über die gemeinsamen Güter, das Aufstellen einer eigenen Verfassung („definiendi modum tractandi negotia societatis"), die Umlage von Schulden 289 ), und schließlich den Vollzug der Rechte der societas 290 ). Über diesbezügliche Beschlüsse stimmen die versammelten Mitglieder oder ihre Repräsentanten ab 291 ). Im speziellen Teil der iurisprudentia naturalis civilis werden, angefangen beim Staat über die verschiedenen öffentlich- und privatrechtlichen Gemeinschaften bis zur Familie die verschiedenen Arten von societas behandelt. Der Staat entsteht durch Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag 292 ). Hier wie in jeder anderen societas geben die Mitglieder ihre Rechte nur in dem Maße preis, wie das für den Zweck der Gemeinschaft nötig ist. Das gilt nicht nur für natürliche Personen, sondern auch für societates. So bleibt etwa in einer respublica composita die potestas untergeordneter societates soweit erhalten, wie sie nicht per Vertrag zugunsten des Staates aufgegeben wurde 293 ). Der Staat kann auch wie jede andere Gesellschaft societas aequalis (Demokratie, ohne Delegation der potestas) oder inaequalis (Aristokratie und Monarchie) oder aber eine Mischform sein, in der beispielsweise der princeps die summa potestas mit einer Ständevertretung teilt 294 ). Aus den verschiedenen Vertragsformen leitet Nettelbladt fünf Kategorien von „personae morales seu societates" ab. In die erste gehören die Staaten mit ihrer summa potestas.
tates), also für ein reines Vertragsverhältnis, während zur Gründung einer Korporation (universitas) mindestens drei Mitglieder nötig sind. 288) Ebd., § 342. 289 ) Ebd., § 407: „Imponendi membris societatis praestationes, quae sunt praestationes ad finem societatis obtinendum necessariae, licet singulorum res et facta concemant" - das entspricht in etwa dem Besteuerungsrecht aus necessitas. 290) Ebd. 29!) Ebd., §§ 374 und 375. Zusammen mit den in § 407 aufgezählten Rechten entspricht das den iura universitatis im usus modernus pandectarum. 292 ) Ebd., § 1181. 2 » ) Ebd., §§ 1183 und 1177. 294) Ebd., §§ 354 und 1168ff. (insbesondere 1171), sowie §§ 1210ff.
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Die zweite und dritte Kategorie unterscheiden sich darin, daß die eine (societates quae sunt magistratus) vom Staat geschaffen, die andere (societates publicae stricte sie dictae) aber nur genehmigt wurde 295 ). Diese dritte Kategorie kann zusätzlich zu ihren Funktionen im Staat auch private Zwecke verfolgen 2 9 6 ). Die societates der vierten Kategorie, „quae sub universitatem personarum seu communitatum (Gemeinheiten, Gemeinden, Communen) nomine veniunt", sind zur Förderung des Gemeinwohls „a superiore reipublicae constitutae", verfügen also über keine autogenen Rechte und sind eigentlich nur Verwaltungseinheiten 297 ); dagegen sind die societates privatae der fünften Kategorie aus eigener Initiative, ohne staatliche Einmischung, entstanden. Wie die gemeinrechtliche universitas konstituieren sie sich selber und brauchen, solange sie keine ungesetzlichen Ziele verfolgen, keine Approbation des superior. In diesem Rahmen können sich die privaten Gesellschaften auch die speziellen iura geben, die für ihren Zweck nötig sind 298 ). Während sich die societates bei der Schaffung neuen partikularen Rechts nach den staatlichen Gesetzen richten müssen, die sich wiederum am Naturrecht zu orientieren haben, setzt Nettelbladt die Prioritäten für geltendes Recht umgekehrt: Richterrecht bricht Willkür, Willkür bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht, das wiederum gemeines Recht bricht 299 ). Dieses Prinzip, bei geltendem Recht die nähere (lokale, partikulare) Regel vor die fernerliegende allgemeine Bestimmung zu setzen, in der Gesetzgebung hingegen die Billigkeit der allgemeineren Ebene dem spezielleren vorzuziehen, entspricht der Tradition des usus modernus. Dieser zunächst für das positive Recht festge295
) Ebd., § 1226 (Zitat: § 1236). Diese Unterscheidung entspricht dem usus modernus und ist beispielsweise auch bei Besold, De statu reipublicae mixto (wie Anm. 243), c.4, § 2 zu finden: Wer einen Teil seiner Rechte durch pacta abgegeben hat, ist nicht eigentlich ein Untertan. 296) Nettelbladt, Iurisprudentia naturalis (wie Anm. 285), § 1237. 297 ) Ebd., § 1238. Diesem Bild einer reinen Verwaltungseinheit widerspricht zumindest teilweise die Definition im „Systema elementare universae iurisprudentiae positivae communis Imperii Romanae Germanici" (Halae Magdeburgicae 1749) im Teil über die „iurisprudentia positiva generalis": „Universitas personarum est coetus hominum in república, qui ad certum & stabilem finem in perpetuum consociati." (§ 655). Diese universitas entspricht derjenigen im usus modernus: „Ad majores universitates referri solent munieipia, pagi, academiae, etc., ad minores vero collegia mercatorum, opificum & similia" (§ 658). Diese universitates brauchen verschiedene Beamte, „quae negotia sua expediunt": Dazu gehören die „Administratores rerum universitatis, qui curam rerum universitatis gerunt" (die also von der universitas beauftragt sind), „Syndici, qui ad expediendos actus iuridicos universitatis nomine, praeeipue ad tractandas lites eorum, constitui", und „Directores universitatum, qui ordinant ea quae ordinanda sunt, ut negotia universitatis expediri possint" (§ 659). (Die Einteilung der Beamten entspricht derjenigen der „generalia potestatis societatis iura" in der Iurisprudentia naturalis [wie Anm. 285, § 346] in potestas rectoría, inspectoría und executoria.) 29g ) Oers., Iurisprudentia naturalis (wie Anm. 285), §§ 1241-1250. 2 ") Ders., Iurisprudentia positiva (wie Anm. 297), § 141.
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stellte Sachverhalt wird in der jurisprudentia naturalis mit einer Argumentationsreihe aus Pufendorfs Ethik mit ihren Pflichten gegen Gott, sich selbst und andere und aus Wolfis Axiom der Selbstvervollkommnungs-Pflicht hergeleitet: Die Pflichten gegen Gott haben Vorrang vor den Pflichten gegen sich selbst, und diese gehen wiederum den Pflichten gegen andere vor, vorausgesetzt, in allen drei Bereichen entsteht durch die fragliche Regelung derselbe Nutzen, respektive Schaden. Damit wird das Prinzip „Näheres vor Fernerem" (hier: die eigene Seele vor der Gesellschaft) begründet. Wenn eine Bestimmung einem Teil mehr Nutzen bringt, als sie dem andern schadet, ist eine Veränderung dieser Reihenfolge möglich. Mit diesem Prinzip wird es möglich, über einen „objektiven" gemeinen Nutzen oder über Billigkeit zu reden. Schließlich geht bestehender Nutzen vor neuen Nutzen. Für diesen Grundsatz, der eine „Unterwanderung" des geltenden Rechts durch die Gesetzgebungsregeln verhindert, greift Nettelbladt auf das römische Recht zurück 300 ). Das Streben nach dem größtmöglichen Nutzen für das Individuum und für die Gesellschaft begründet Nettelbladt mit Wolffs Axiom, der Mensch sei verpflichtet, seine Talente gut zu gebrauchen. Verletzungen dieser Grundsätze lassen sich immer mit der necessitas begründen - auch in diesem Punkt folgt Nettelbladt inhaltlich dem usus modernus 301 )Von Nettelbladts naturrechtlicher Begründung des gemeinen Rechts profitiert die societas privata gleich zweimal: einerseits werden alte Korporationsrechte auf freie vertragliche Zusammenschlüsse mit frei wählbarem Zweck übertragen, die so einen eigenen Rechtskreis mit eigener potestas aufbauen können und sich dabei nur um den gesetzlichen Rahmen, nicht aber um spezielle Konzessionen kümmern müssen 302 ). Zugleich werden diese societates durch den Vorrang des Partikularrechts vor allgemeinem Recht vor äußeren Eingriffen geschützt. Der Unterschied zwischen Dörfern und Städten ist für Nettelbladt überhaupt kein Thema mehr. Sowohl im positiven wie im Naturrecht behandelt er sämtliche Gemeinden einheitlich 303 ) und schließt damit eine Entwicklung ab, die von der grundsätzlichen Unterscheidung der rechtsfähigen civitas und dem nicht rechtsfähigen vicus der Glossatoren über die Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Dörfern bei den Kommentatoren und im usus modernus bis zum 30
°) D. 1,4: bewährte consuetudo bricht neue lex. 301) Für Nettelbladts Argumente: Iurisprudentia naturalis (wie Anm. 285), Introductio §§ 2 4 5 - 2 5 5 und 169-172. 302 ) Wie Coing, Europäisches Privatrecht (wie Anm. 10), 521 ff. zeigt, wurde das Korporationsrecht schon im Spätmittelalter in Italien und verstärkt im 17. und 18. Jahrhundert verschiedentlich auf Handelsgesellschaften (Kapitalgesellschaften, Banken, Kolonialgesellschaften) angewendet. 303 ) Daß tatsächlich Dörfer und Städte gemeint sind, zeigt Nettelbladt in der Iurisprudentia positiva (wie Anm. 297), § 658.
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Desinteresse vieler Naturrechtler im 18. Jahrhundert führt. Doch handelt es sich dabei weder um eine lineare Weiterentwicklung einer theoretischen Frage (die Juristen hatten offenbar daran kein wissenschaftliches Interesse, sondern reagierten eher auf die aktuellen Umstände), noch ist der Unterschied zwischen Stadt und Dorf im 18. Jahrhundert aus der juristischen Diskussion verschwunden. Die Diskussion hat sich nur auf eine andere Ebene verlagert und findet nun, teilweise äußerst lebhaft, in der policeyrechtlichen Spezialliteratur zum Dorf- und Bauernrecht statt.
3. Die ländliche Gemeinde der „Dorf- und Bauernrechte" Im späten 17. und im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine spezielle juristische Literaturgattung, die sich ausschließlich mit bäuerlichen Rechtsfragen beschäftigte 304 ). Die Wurzeln dieses von Nettelbladt als eines der „Nebentheile der positiven Rechtsgelahrtheit" 305 ) bezeichneten Bereichs der Rechtstheorie reichen bis ins Ende des 16. Jahrhunderts, als im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Landesfürsten und mediaten Gewalten um bäuerliches Besitzrecht verschiedene juristische Abhandlungen zu den mit dem Status der Bauern verknüpften Rechten und Pflichten publiziert wurden. Frühe Werke aus diesem Themenkreis sind Johann Friedrich Husanus' Traktat De hominibus propriis von 1590 und Renatus Choppinus' Tractatus de privilegiis rusticorum von 1582. Der Begriff des „Dorf- und Bauernrechts" oder „ius georgicum" ist schon in der „Hausväterliteratur" des 16. und 17. Jahrhunderts geläufig und taucht Ende des 17. Jahrhunderts auch in juristischen Werken auf 306 ).
3.1. Die Norm: Selbstverwaltung und „ein Schatten von Jurisdiktion" Zu den bekannteren Vertretern der umfangreichen Dorf- und Bauernrechtsliteratur 307 ) gehören Ahasver Fritschs 308 ) Tractatus de statu ac jure pagorum Germaniae von 1673 und Gottfried Christian Leisers Jus georgicum von 1698 304 ) Winfried Schulze, Die Entwicklung des „teutschen Bauernrechts" in der Frühen Neuzeit, in: ZNR 12 (1990), 127-163. 305 ) Zitiert nach ebd., 128. 306) Ebd., 129. 307 ) Schulze geht von mehreren hundert Publikationen zu diesem Thema aus (ebd., 138). 308 ) Ahasver Fritsch (1629-1701) wurde in Jena von Georg Adam Struv gefördert und las über die Institutionen und über Rechtsgeschichte. 1657 wurde er Hofmeister des Grafen Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt, 1661 Hof- und Justizrat und 1687 Kanzler. Neben zahlreichen juristischen Arbeiten verfaßte Fritsch auch theologische und erbauliche Schriften.
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sowie Christoph Lorenz Bilderbecks 309 ) Neu vermehrtes Dorff- und LandRecht, das zwischen 1704 und 1739 fünfmal aufgelegt und laufend erweitert wurde 310 ). Alle drei Autoren beschäftigen sich zum einen mit dem Status der Bauern und den damit verknüpften privilegia favorabilia und odiosa, die grundsätzlich für alle Bauern gelten, und den Diensten und Abgaben, die nach persönlichem Rechtsstatus und nach dem Status des Gutes des einzelnen Bauern unterschiedlich sind. Zum andern werden die Organisation des Dorfes und die Kompetenzen von Dorfgemeinde, Dorfherrschaft und Landesobrigkeit beschrieben. Dabei wird die obrigkeitliche Kontrolle über die Dorfverwaltung wesentlich stärker betont als in den Abhandlungen zum gemeinen Recht. Zunächst stellen alle drei Autoren fest, daß Dörfer gleich wie Städte Güter haben, über die die Gemeinde als Ganzes verfügt. Diese Güter sowie die Einkünfte daraus und die Gemeindekasse werden von speziell dazu eingesetzten Gemeindemitgliedern verwaltet. Allerdings „ist aber hiebey zu beachten, daß nicht denen Bauren 311 ) die Verwaltung solcher Gemeinschaftlichen Güter auff ihre Discretion überlassen werde. Dann der Ausgang offt erwiesen, daß dieselben durch sauffen und schwelgen durchgebracht, oder übel angewandt seyn, dannhero an sich billig, auch an vielen Orten durch die Landes-Ordnung eingeführet, daß von solchen Gütern deren Ausgabe und Einnahme jährlich denen Beamten 312 ) oder Gerichtherrn Rechnung gethan werde" 313 ). „Die Macht einen Schultzen oder Bauermeister zu erwehlen und zu setzen kommt regulariter dem, der die Gerichte hat, zu, dafern aber die Gemeine das Recht hat einen Bauermeister, Vogt oder Schultzen zu erwehlen, ist doch dem Gerichts-Herrn oder Beamten dessen Confirmation und Beeydigung vorbehalten" 314 )
309
) Christoph Lorenz Bilderbeck (1682-1740) war unter anderem Landsyndicus der Stände des Fürstenturas Lüneburg. Bekannt sind vor allem seine Zusätze zu Deneckens Dorf- und Landrecht, das seit der 2. Auflage unter Bilderbecks Namen erschien. 3I °) Christoph Lorenz Bilderbeck, Neu vermehrtes Dorff- und Land-Recht. 3. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1719. 31 ') Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 47 spricht hier von der „communitas rusticana". 312 ) In Amtsdörfern nehmen Beamte der Landesherrschaft die Funktionen der Gerichtsherren in den „Junckern-Dörffern" wahr. 313 ) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), Kapitel 10, § 49. Ebenso: Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.17, § 7 , und Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, §§ 45 f., sagen dasselbe in Latein, erwähnen jedoch in diesem Zusammenhang explizit, daß auch vor der Gemeinde Rechenschaft abgelegt werden muß. Dabei beziehen sich Fritsch und Bilderbeck auf konkrete Dorf- respektive Landesordnungen, und Leiser zitiert Fritsch. 314 ) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), Kapitel 8, § 38. Dasselbe bei Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.l 1, und Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, §§ 23 und 24. Leiser fügt hinzu, daß die iurisdictio ohne Schultheißen und Schöffen nicht ausgeübt werden kann.
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Der Schulze beruft die Gemeinde ein, leitet die Befehle der Obrigkeit weiter, verwaltet die Zivilgerichtsbarkeit, hat die Aufsicht über die Verwaltung der Gemeindegüter und verteilt die Contributionen auf die Gemeindemitglieder 315 ). Dazu kommt ein eng begrenztes Recht, Urkunden auszustellen: Dem Schulzen wird zugestanden, daß er Testamente der Bauern siegeln darf 316 ). Die Jurisdiktion liegt normalerweise bei der Gerichtsherrschaft, ausgenommen die Rügegerichtsbarkeit, die als „etwas von der Jurisdiction" 317 ) oder als „umbra Jurisdictionis" 318 ) bezeichnet wird, welche den Repräsentanten der Gemeinde geblieben sei 319 ). Dem Schulzen stehen Schöffen (oder scabini) und die als „Volksvertreter" bezeichneten Heimbürgen zur Seite 320 ). Bilderbeck weist speziell auf das mancherorts noch existierende Meyerding oder Holzgericht hin, bei denen die Gemeindemitglieder unter Vorsitz der Obrigkeit periodisch Recht weisen. Sehr ausführlich und detailliert behandelt Bilderbeck das Pfändungsrecht, das den Gemeindemitgliedern Selbsthilfe in kleinen Rechtshändeln erlaubt, zum Beispiel, wenn einem Bauern das Vieh des Nachbarn ins Getreidefeld läuft. Solche Händel werden erst vor Gericht gezogen, wenn sich die Beteiligten selber nicht über die Wiedergutmachung einigen können und wenn auch ein Schiedsspruch nichts fruchtet 321 ). Die Verwaltung der Kirchengüter und die Besetzung der Ämter (mit Ausnahme des Pfarramtes) besorgt die Gemeinde unter obrigkeitlicher Aufsicht 322 ). Bilderbeck merkt an, daß die Gemeinde auch selber das Patronatsrecht haben kann. In diesem Fall kann sie „sich einen Prediger und Schulmei-
315
) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310) Kapitel 8, § 39. Ähnlich bei Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 29. Auch Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.12 beschreibt den Schulzen vor allem als obrigkeitlichen Verwaltungsbeamten; zusätzlich betont er, daß das Dorf gemäß Bestimmungen verwaltet wird, die von der Verwaltung des Territoriums (und nicht etwa vom Dorf oder der Dorfherrschaft) erlassen oder zumindest bestätigt sind (ebd., c. 17). 316 ) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), c.8, § 40; Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 40. Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c. 24, behandelt die Frage der Testamente im Zusammenhang mit der Reduktion der juristischen Formalitäten, die den Bauern in kleinen, abgelegenen Dörfern zustehen. 317 ) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), c.8, § 40. 318 ) Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 37 - „umbra iurisdictionis" wird auch in der gemeinrechtlichen Literatur verwendet, so z.B. von Lauterbach (dessen Pandektenkommentar Schulze unter den von den „Bauernjuristen" häufig zitierten Werken aufführt; Schulze, Bauemrecht [wie Anm. 304], 135). Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c. 23, spricht von „Rügegericht" oder „iudicium censorium". 319 ) Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 33. 320) Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.13; Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, §§ 32ff. 32 >) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), c.16. 322 ) Ebd., c.13 und 14; Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.20.
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ster nach ihrem Gutbefinden" wählen und ist „an eines andern Gutdünken nicht verbunden" 323 ). Dorfordnungen werden vom Landesherrn erlassen oder, sollten sie doch von der Gemeinde gemacht worden sein, bestätigt. Sie regeln die Abgaben an die Gerichtsbeamten, den Bierausschank, die Formalien der Gemeindeversammlung, die Organisation der Feldarbeiten auf Gemeindegebiet, die Wahrung von Ruhe und Frieden zwischen Nachbarn und die Bussen bei Verstößen gegen die Ordnung. Diese Strafen werden vom Schulzen und seinen Beisitzern verhängt und normalerweise „in der Gemeinde oder in Gerichten vertruncken" 324 ). Weitergehende eigene Statuten können Dörfer als Privileg erlangen. Für dieses Thema interessiert sich allerdings eher Riccius in seinem Werk über die Statuten der Landstädte: „Man wundere sich nicht, daß man denen MarckFlecken Statuta mitgetheilet: es finden sich wol Dörffer, die ein oder das andere Statutum aufzuweisen haben" 325 ). Schließlich weisen alle drei Autoren darauf hin, daß in den Dörfern außer Handwerk für den Eigenbedarf kein Gewerbe betrieben werden darf 326 ). Jeder Stand soll bei seinem Beruf bleiben, „damit zwischen denen von der Ritterschafft, Bürgern und Bauern ein Unterschied zu finden sey, und also ein Stand neben dem andern seine Nahrung haben und in seinen Würden und Wesen bleiben und erhalten werden möge" 327 ). Das Insistieren auf funktional offensichtlich nicht mehr zwingenden Ständedifferenzen dürfte wohl der Hauptgrund für die in der weitgehend policeyrechtlich (und damit auch ökonomisch) motivierten Dorf- und Bauernrechtsliteratur betonte Unterscheidung zwischen Dorf und Stadt sein.
3.2. Die Bauern „allzuklug machen" Wie heikel das Thema im 18. Jahrhundert werden konnte, zeigen die Angriffe auf den „Bauernjuristen" Johann Gottlob Klingner 328 ). Dieser veröffentlichte 323
) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), c.15, § 74. 324) Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c.14, und Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, §§ 41 ff. (Zitat § 44). 325 ) Christian Gottlieb Riccius, Zuverlässiger Entwurff von Stadt-Gesetzen, oder Statutis, vornehmlich der Land-Städte. Frankfurt/Leipzig 1740, lib. I, c.l, § 10. Riccius' Beispiele zeigen, daß diese Statuten auf Initiative der Dörfer verliehen wurden. 326) Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), c. 19; Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), Teil 1, c.12; Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, §§ 53ff. 327 ) Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.3, c.5, § 55. 328 ) Johann Gottlob Klingner (1699-1768) wurde 1730 an der Universität Erfurt promoviert. Sowohl in der Praxis als auch in seinen juristischen Schriften bewies Klingner große Ausdauer im Engagement für sozial Benachteiligte (Christoph Weidlich, Zuverlässige Nachrichten von denen jetzt lebenden Rechtsgelehrten. l . B d . 1757).
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1749 die erste seiner vier Sammlungen zum Dorf- und Bauernrechte als praxisbezogene Ergänzung zu Leisers Jus georgicum. Die Publikation wurde in der Vierteljahresschrift Unpartheyische Critick über Juristische Schriften innund außerhalb Deutschland nach Strich und Faden verrissen. Der anonyme Rezensent stößt sich offenbar vor allem daran, daß Klingner durch offene Information die Bauern „allzuklug machen" will und damit die „Nahrung" von Advokaten und Gerichtsherren bedroht 329 ). An der allgemeinen Einleitung, die sich über weite Strecken kaum von anderen Dorf- und Bauernrechten unterscheidet 330 ), stören den Rezensenten vor allem die Kapitel über die Dienste. Klingner betont, daß in Gegenden, in denen die Leibeigenschaft unüblich ist, die praesumptio pro libertate gilt, mithin die Herrschaft notfalls vor Gericht und am besten mit einer Urkunde beweisen können muß, daß die Bauern bestimmte Dienste und Abgaben zu leisten haben. Klingner wendet dieses Prinzip für die Dienste allgemein und insbesondere für Baudienste, den Gesindedienstzwang, für die Bringschuld, für Spann- und für Leibdienste an. Für „seltsame Dienste und Abgaben" (z.B. der Herrschaft jeden Morgen die Flöhe aus dem Bett suchen und wegschaffen) liegt die Beweislast in jedem Fall bei der Herrschaft - auch in den Gegenden, in denen die Leibeigenschaft verbreitet ist 331 )- Generell macht Klingner darauf aufmerksam, daß keine ungemessenen Dienste mehr zulässig sind und rät den Bauern darauf zu achten, daß die herrschaftlichen Verwalter schriftliche
329
) „[Man sollte meinen], es würden ihm die Rittergutsbesitzer nicht eben allzusehr verbunden seyn, wenn sie sehen, daß diejenigen Urkunden und Beweise ihrer Gerechtsamen, welche sie bisher mit vieler Sorgfalt in verschlossenen Archiven, und als secreta domus aufbehalten haben, nunmehro ungefragt, mit Benennung derer Namen, in öffentlichem Drucke erscheinen [...] Die Sachwalter aber werden schwerlich mit Herrn D. Klinglern zufrieden seyn, daß er die Bauern allzuklug zu machen sucht, und hierdurch denen Advocaten ihren Bissen Brodt aus dem Munde nimmt." Außerdem können sich die Bauern selber ernähren, während die Gerichtsherren auf die Dienste angewiesen sind und „vom bloßen herrschaftlichen Titul nicht leben" können (Unpartheyische Critick. 1. Bd. Leipzig 1750, 207 f. und 213). 33 °) Johann Gottlob Klingner, Sammlungen zum Dorf- und Bauernrechte. 1. Bd. Leipzig 1749: Die Bauern bilden den Nährstand (Kapitel 2), müssen die anderen Stände unter anderem mit verschiedenen Diensten unterhalten (Kapitel 3) und dürfen die Städte nicht durch Gewerbe konkurrenzieren (Kapitel 10). Die Dorfrichter, Bauermeister und Schöffen müssen zwar „Schaden verhüten und [...] der Gemeinde treulich vorstehen", haben aber ihre Gewalt von der Gerichtsherrschaft - die Rechnungsablage erfolgt allerdings nur vor der Gemeinde (Kapitel 4). Die Gemeinde („Mitnachbarn") wählt auch den Gemeinde-Syndicus (Kapitel 5). Gemeindeversammlungen werden vom Richter oder Schultheißen einberufen und dürfen (gemäß eines Gutachtens der Leipziger Juristenfakultät) von der Gerichtsherrschaft nur verboten werden, wenn Unruhen zu befürchten sind (Kapitel 6). Die Verwaltung der Kirchengüter besorgen vom Kirchenpatron gewählte Gemeindemitglieder (Kapitel 7). Festtage und die an diesen Tagen zu beachtenden Sitten werden von der Obrigkeit festgelegt (Kapitel 9). 331 ) Ebd., Kapitel 11-16 und 18.
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Register über die geleisteten Dienste führen und darüber Auskunft geben können 332 ). Ungelegen kommt offenbar auch, daß Klingner die Dorfgemeinden ermuntert, sich beispielsweise bezüglich der besonders beschwerlichen Baudienste ruhig einmal über die Chancen eines Prozesses zu erkundigen 333 ).
3.3. Die Ausnahme von der Regel: Reichsdörfer Eine ähnliche Angst vor dem Verlust ständischer Differenz zeigt sich auch in den Prozessen, welche die Reichsdörfer im 18. Jahrhundert gegen die Ansprüche benachbarter Herrschaften führten, und die unter anderem Gottlob August Jenichen veranlaßten, eine Abhandlung über die Reichsdörfer zu schreiben 334 ). Offenbar wird die Souveränität der Reichsdörfer angezweifelt mit dem Argument, die Bauern seien niederen Standes und damit nicht regimentsfähig, was implizit wohl auch heißt, daß sie dem Herrenstand seine Aufgaben wegnehmen, wenn sie sich selber regieren 335 ). Jenichen bestreitet das nicht grundsätzlich, zitiert aber ein aktuelles Rechtsgutachen im Fall der fränkischen Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld, das den Stand der Bauern nicht als Hinderungsgrund betrachtet, zumal ja die Territorialgewalt nicht ein personales, sondern ein reales Recht sei und so an den Reichsdörfern und ihren Rechten und nicht an den Bauern hänge 336 ). Offenbar können Juristen im 18. Jahrhundert das Dorf durchaus als „Sache" betrachten, an der sich politische und rechtliche Autonomie festmachen lassen 337 ). 332
) Ebd., besonders ausführlich in Kapitel 15. ) Ebd., Kapitel 12; Critick (wie Anm. 329), 213. 334 ) Gottlob August Jenichen, Abhandlung von Reichs-Dörffern und Reichs-freyen Leuten. Leipzig 1747. 335 ) Bedroht wird wohl nicht nur ein Stand, sondern auch der Policeystaat, der sich über die Erhaltung der (alten) „Ordnung", in der jeder Stand seine Nahrung findet, legitimiert (Dietmar Willoweit, Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Ancien Régime, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem. Berlin 1978,25 ff.). Dagegen ist auch aus Sicht der Staatsrechtler gegen eine einheitliche Behandlung von Bauern und Bürgern als Untertanen im Territorialstaat erwartungsgemäß nichts einzuwenden. So stellt Johann Jakob Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen. Hildesheim/Ncw York 1977, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt/Leipzig 1769, „von dem Baurenstand", § 2, 929 nüchtern fest, daß Bauern zwar grundsätzlich Untertanen, aber „daß in manchen Ländern die Bürger und Bauren [...] in Ansehung derer Gerechtsamen wenig oder gar nicht voneinander unterschiden seynd." 336 ) Jenichen, Reichsdörfer (wie Anm. 334), 3-5. 337 ) Von Souveränität wird in diesem Zusammenhang nicht gesprochen. Das liegt vermutlich daran, daß viele Autoren die Vorstellung hatten, ein souveräner Staat müsse eine Mindestgröße und ein Mindestmaß an hierarchischer Gliederung aufweisen; vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz, der im „Tractatus de jure suprematus" Liechtenstein aus diesem Grund keine Souveränität zugestehen will (Gustav Hartmann, Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Nova Methodus discendae docendaeque iurispruden333
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Jenichen selber spricht sich klar zugunsten der Reichsdörfer aus: Sie haben dieselben Kompetenzen wie andere Landesobrigkeiten, was auch im Westfälischen Frieden erwähnt wird. Einzig der Sitz im Reichstag fehle, wäre aber rein hypothetisch möglich; in diesem Fall wären die Dörfer der Kurie der Städte zuzuordnen. Im Allgemeinen wird in der Dorf- und Bauernrechtsliteratur des späten 17. und des 18. Jahrhunderts die Existenz reichsfreier Dörfer und Bauern konstatiert, ohne ihre Rechte in Frage zu stellen. Hier werden überhaupt neben den „gewöhnlichen" Dörfern, die vielleicht auch über einzelne Privilegien verfügen, verschiedene Kategorien von rechtlich bessergestellten Dörfern behandelt. Dabei kommt zwar regelmäßig der Status der Bauern ins Spiel, wobei in der obersten Rechtsstufe immer die reichsfreien, zuweilen auch landständische Bauern (Ostfriesland, Schweden) erwähnt werden, aber eine kausale Verbindung von persönlichem Rechtsstatus und Dorfrecht ist nicht festzustellen. Vermutlich setzte sich trotz der stärkeren Kategorisierung der verschiedenen Gemeindetypen und trotz der Zementierung der ständischen Rechte bis ins 18. Jahrhundert praxisbedingt die Haltung des Bartolus durch, daß im Einzelfall die Kompetenzen einer Gemeinde oder jeder anderen Person soweit reichen wie ihre Rechtstitel.
3.4. Riccius: Balance zwischen Statuten und allgemein gültigen Gesetzen Einen weiteren Hinweis darauf, daß der persönliche Status der Gemeindemitglieder auch im standesbewußten 18. Jahrhundert nicht auf die juristischen Möglichkeiten der Gemeinde „abfärbt", gibt der Vergleich der Dorfrechtsliteratur mit Riccius' Standardwerk über die Statuten der Landstädte 338 ), das über weite Strecken keinen prinzipiellen Unterschied zwischen mediaten Dörfern und mediaten Städten mehr erkennen läßt. Wie in Bilderbecks Dorf- und Landrecht und in Leisers Jus georgicum auch die reichsfreien und landständischen Bauern und die immediaten Dörfer erwähnt werden 339 ), aber nur als oberster gradus einer langen Reihe von juristischen Varianten innerhalb des Bauernstandes - respektive der Gemeinden ohne Stadtrecht - erscheinen, zeigt Riccius, daß auch innerhalb der Kategorie tiae. Glashütten im Taunus 1974, Einleitung, 56). Das Argumentieren mit der Größe eines Gemeinwesens ist den Juristen seit dem Rückgriff auf Aristoteles' Politik im Mittelalter vertraut. 338 ) Christian Gottlieb Riccius (1697-1784) publizierte zum deutschen Privat- und Staatsrecht und lehrte von 1744 an in Göttingen. 339 ) Bilderbeck, Dorfrecht (wie Anm. 310), lib.l, Teil 1, c.5 („von der heutigen Bauren Beschaffenheit": reichsfreie Bauern) und lib.2, c.9 („von Bauer-Gütern": Erwähnung der landständischen Bauern); Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39), lib.l, c.27, §§ 11 ff.
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„Stadt" praktisch beliebig viele Abstufungen von den Reichsstädten über die privilegierten Landstädte bis zu denjenigen, die sich kaum noch von Märkten und Dörfern unterscheiden, existieren. Doch ist allen Städten gemein, daß sie eigene Statuten besitzen: Jede Stadt braucht sie, da sich jede von der andern unterscheidet und so mit Hilfe dieser „allerspeciellsten Teutschen Gesetze" ihren eigenen Weg zu Wohlfahrt suchen muß 340 ). Eigene Statuten haben allerdings auch viele Märkte und Dörfer 341 ). Märkte und Städte werden auch nicht in allen Teilen des Reichs gleich deutlich unterschieden, nicht einmal terminologisch: „Marck-Recht hat man auch vermuthlich in den ältern Zeiten das Stadt-Recht zuweilen benahmset, weil viele Flecken und Dörffer, ehe sie in würckliche Städte verwandelt worden, nur das bloße Marck-Recht anfänglich genossen." Die Bezeichnung „MarckRecht" für diese alten Statuten war auch inhaltlich gerechtfertigt, insofern sie meistens nur die interne Verwaltung betrafen und sich so nicht wesentlich von den Ordnungen anderer Gemeinden unterschieden 342 ). Entstehungsgeschichtlich sind Statuten und Dorfordnungen sowieso kaum zu unterscheiden. So wie Bodin die Entstehung der Dörfer als Selbsthilfe in einer anarchischen Zeit erklärt, meint Riccius, daß Städte und andere Gemeinschaften im 10. Jahrhundert, als in Deutschland noch das Faustrecht galt, sich selber helfen und sich ihre eigenen Rechte machen mußten, zumal sich die „Landesherren" nicht darum kümmerten 343 ). In beiden Fällen handelte es sich also nach dem Verständnis der Juristen ursprünglich um rechtlich geordnete Inseln, deren Recht keine überregionale Wirkung haben konnte, weil sie in einem Meer der Anarchie lagen. Eine überkommunale Wirkung konnten diese Statuten nur entwikkeln, nachdem auch allgemeingültige Gesetze eine rechtliche Ordnung in den Territorien geschaffen hatten. Allerdings bedeuteten die neuen allgemeingültigen Gesetze, die in Form des römischen Rechts erschienen, auch eine Bedrohung für die nunmehr „partikularen" Rechtsbereiche, so daß sich die Bürger gegen die Vereinnahmung durch das neue Recht mit der Verschriftlichung ihres Herkommens und ihrer Gebräuche zur Wehr setzten 344 ). Sie schufen eigentliche „Statuten", wobei Schriftlichkeit jedoch kein notwendiges Definitionsmerkmal ist 345 ). Im Territorialstaat des 18. Jahrhunderts allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Dorf und Stadt. Während die obrigkeitliche Kontrolle beim Dorf mit der Genehmigungspflicht für Dorfordnungen schon auf 340
) Riccius, Statuten (wie Anm. 325), lib. I, c.l, §§ 1 und 3. 341) Vgl. Anm. 325. 342 ) Riccius, Statuten (wie Anm. 325), lib. I, c.l, § 10. 3«) Ebd., lib. I, c.l, § 3. 3«) Ebd. 345 ) Für die Gültigkeit von Statuten ist der explizite Konsens des princeps und die Publikation (damit alle betroffenen Einwohner sie kennen) nötig, nicht jedoch die Schriftlichkeit (ebd., lib. II, c.l, § § 5 und 6).
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der Ebene der Verwaltung einsetzt, ist die Landstadt in diesem Bereich frei und führt damit die Tradition weiter, die seit dem Mittelalter für sämtliche mediaten Gemeinden Geltung hatte. Allerdings gibt es in dieser Frage bezüglich der Dörfer regionale Unterschiede: Riccius übernimmt die Gleichstellung von Dörfern und Landstädten für Schwaben und für einen Teil der Dörfer in Niedersachsen 346 ).
3.4.1. Statutargesetzgebungsrecht
der Landstädte
Die Landstädte, die vom Landesherrn oder aus Gewohnheit das ius statuendi haben, sind die Ausnahme. In der Regel erhalten sie ihre Statuten vom Landesherrn oder müssen sie zumindest bestätigen lassen 347 ). Selbst die consuetudo bedarf jetzt landesherrlicher Bestätigung 348 ). Hat ein Landesherr Herkommen und Statuten erst einmal bewilligt, so bindet diese Bewilligung - sofern dadurch nicht „die Grentzen einer löblichen Landes-Regierung" überschritten wurden - auch seine Nachfolger, „denn wenn ein Landes-Herr die Statuta einer Stadt bestättiget; so thut er das im Nahmen des Staats und der Republ. welche unsterblich" 349 ). In der Abstraktion der Gesetzgebungskompetenz 350 ) von der Person des Landesherrn ebenso wie in der Tendenz, sämtliches Partikularrecht „sicherheitshalber" von der zentralen Regierung bestätigen zu lassen, zeigt sich die Entwicklung hin zum flächendeckenden und einheitlichen Recht, das zeitgenössische Naturrechtler wie Wolff mit der Formel ausdrücken, jede societas könne sich eigene Statuten geben, sofern diese gesetzeskonform seien. Allzu sicher ist Riccius seiner Sache aber nicht, rät er doch den mediaten Gemeinden, auch ihre „billigen" Statuten und consuetudines sicherheitshalber vom neuen Landesherrn bestätigen zu lassen, zumal in der Praxis beides vorkomme 351 )Den Balanceakt, den die Juristen schon seit dem Mittelalter zwischen Partikularrecht und einer im ius commune zu findenden allgemeingültigen Gerechtigkeit vollziehen müssen 352 ), und der im 18. Jahrhundert zwischen dem alten, heterogenen und fragmentarischen Rechtssystem und der neuen Idee vom umfassend kodifizierbaren Recht stattfindet, bringt Riccius auf die Formel: Territoriales Recht gilt nur subsidiär zu den Statuten, doch dürfen die Statuten 346
) Vgl. Anm. 358-360. ) Riccius, Statuten (wie Anm. 325), lib I, c. 1, § 1; Hb. II, c.4, § 1. 348 ) Ebd., lib. II, c.l, §§ 3 und 4 sowie c.2, § 1. 349 ) Ebd., lib. II, c.4, § 5. 35 °) Die Kompetenz, Statuten zu bewilligen, wird von der Gesetzgebungskompetenz abgeleitet, da es in beiden Fällen um die Suche nach einem Interessenausgleich im ganzen Land geht. 35 ') Üblicherweise werden bestehende Partikularrechte anläßlich der Landeshuldigung bestätigt; Riccius, Statuten (wie Anm. 325), lib. II, c.4, § 5. 352 ) Bellomo, Common Legal Past (wie Anm. 3), 149 ff. 347
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ihrerseits nicht gegen überkommunales Recht und gegen die Wohlfahrt des Landes und der übrigen Untertanen verstoßen 353 ). Wo aber der Landesherr die Wohlfahrt seiner Untertanen nicht mehr nur durch das Überwachen der Billigkeit - mittels Bestätigungsrecht für Statuten - fördert, sondern auch mit eigener Policeygesetzgebung, kann er auch auf der bisher immer der Gemeinde vorbehaltenen Verwaltungsebene in Konkurrenz zur Gemeindegesetzgebung treten. Das kann sogar soweit gehen, daß etwa die städtische Policeygesetzgebung nur noch als Ergänzung zu landesherrlichen Gesetzen verstanden wird. Zwar bedürfen nach Riccius Statuten, die mit der „Administration der Jurisdiction und Policey" zusammenhängen, keiner landesherrlichen Bewilligung und fallen allein in die Gesetzgebungskompetenz des Stadtrates. Hat jedoch der Landesherr schon genügend wohltätige Policeyordnungen erlassen, „so ist der Stadt-Rath dergleichen Vorsorge überhoben" 354 ). Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Zentralisierung des Rechtes im Territorium, indem man künftig nicht nur verlangt, die Statutargesetzgebung müsse geltendes Landrecht berücksichtigen, sondern eine laufende Anpassung von lokalem an territoriales Recht fordert. Gegen solcherlei Eingriffe immun erweist sich aber nach wie vor der Teil der internen Verwaltung, der die Interessen der einzelnen Gemeindemitglieder tangiert. Geht es um die Verwaltung der Gemeindegüter oder um die Verteilung von Kontributionen (Steuerumlage), spricht Riccius von Statuten, die auf Verträgen zwischen dem Stadtmagistrat und der Bürgerschaft beruhen. Diese statuta pactitiae qualitatis werden klar von den Statuten unterschieden, die als Gesetze gelten 355 ). Für die pacta, die Gemeindemitglieder als einzelne betreffen, ist das Prinzip quod omnes tangit356) zu beachten, wobei Riccius keine konsenspflichtigen Geschäfte mehr kennt, sondern nur noch den Mehrheitsbeschluß in der ordentlich einberufenen Versammlung von mindestens zwei Dritteln der besteuerbaren Bürger respektive der Vormünder von Frauen mit Besitz beschreibt 357 ). Dieselben Bestimmungen gelten für die schwäbischen Dörfer35**). Nachdem Riccius festgehalten hat, daß sich statuta pactitiae qualitatis ebenso wie andere Statuten weder gegen Landes-Gesetze noch gegen gemeine
353
) Riccius, Statuten (wie Anm. 325), lib. II, c.3, § 10. ) Ebd., lib. II, c.5, §§ 1-3. 355 ) Ebd., lib. II, c.6, §§ 1 und 2. 356 ) Ebd., lib. II, c.6, Anmerkung zu § 3. 357 ) Ebd., lib. II, c.6, § 3 . 358 ) „In dem Schwäbischen Land-Rechte wird im Capitul vom Dorfgericht p.m. dieses auch als eine Satzung angegeben: und ist ein Dorff, darinnen ein Richter ist; was der setzet mit der mehrern mennige des Dorffs frommen, das mag der minder Theil der Bawren nichts Widerreden dasselb Recht soll man auch haben in den Stetten" (ebd., lib. II, c.6, 2. Anmerkung zu § 3). 354
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Reichs-Gesetze richten dürfen 359 ), erwähnt er schließlich, daß es auch in Niedersachsen Dörfer gibt, die sich solche Ordnungen errichten können: „Es wird mir nicht als etwas ungereimtes ausgeleget werden, wenn ich hier derer in Nieder-Sachsen an verschiedenen Oertern und Dörffern annoch üblichen Bauer-Köhre mit Erwehnung thue. Es pflegen nemlich die Bauern und Nachbarn eines Dorffs gewisse Zusammenkünffte anzustellen, auf welchen sie ihre Gemein-Sachen, wegen Annehmung des Dorff-Hirtens, Nachtwächters, Gemein-Dieners, Theilung des Gemein-Grasses oder Holtzes, Verpachtung ihrer Gemein-Güther, Teiche, Wiesen etc. beratschlagen, und desshalben eine benöthigte Ordnung unter sich errichten: wie sie dann auch diejenigen, so in dem Gemeinde-Holtze, Grasse oder Felde, Schaden gethan und sich vergangen haben, bestraffen, und das etwan von der Straffe eingekommene Geld nach ihrer durstigen Art untereinander vertrincken" 360 ). Auch Mitte des 18. Jahrhunderts werden also Dörfer und Städte bezüglich Regelung ihrer inneren Angelegenheiten immer noch als vergleichbare Organisationen wahrgenommen. Am geringsten sind die Unterschiede dort, wo es um die Verwaltung des Gemeindegutes geht.
3.4.2.
Retorsionsmaßnahmen
Daß sich die neue Vorstellung vom territorial einheitlichen Recht nicht nur bezüglich der inneren Gemeindeangelegenheiten, sondern auch im überkommunalen Bereich politisch gar nicht so einfach durchsetzen ließ, zeigt das Kapitel über die Retorsionsmaßnahmen. Retorsion definiert Riccius als „proportionierte Nachahmung eines von der andern Stadt würcklich unternommenen und unser Stadt beschwerlichen actus" mit dem Ziel, diesen Zustand - in dem eine Stadt Fremde gegenüber ihren eigenen Bürgern in „unbilliger" Weise benachteiligt - aufzuheben 361 ). Das ius retorsionis, das nur vom Stadtmagistrat, nicht aber von einzelnen Bürgern ausgeübt werden darf 362 ), gilt sowohl innerhalb eines Territoriums als auch über die Landesgrenzen hinweg. Riccius ist bewußt, daß innerhalb des Territoriums der Landesfürst eigentlich die Möglichkeit hätte, dergleichen Konflikten über sein Bestätigungsrecht für Statuten vorzubeugen. Er verzichtet jedoch auf theoretische Erörterungen und beschränkt sich auf eine trockene Beschreibung der politischen Realität: „[...] es haben auch die Fürsten die einmahl in einer Stadt üblichen und durch die Länge der Zeit derselben sehr angenehm gewordene Gesetze lieber ferner359
) Ebd., Iib. II, c.6, § 7. °) Ebd., Iib. II, c.6, § 9. Riccius beruft sich dabei auf die Braunschweig-Wolfenbüttelische Landes-Ordnung von 1647, die Bauern-Köhren zugesteht, unter obrigkeitlicher Aufsicht Ordnungen zu machen und Strafen auszusprechen. 361) Ebd., Iib. II, c.19, §§ 1 und 2. 362 ) Ebd., § 7. 36
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hin verstatten als abschaffen und den Bürgern dadurch wehe thun wollen; doch solcher Gestalt, daß die andern Städte sich gegen dergleichen Satzungen eines gleichen Rechts in gleichen Fällen gebrauchen möchten" 363 ). Zugleich wird darauf hingewiesen, daß sich die einzelnen Städte gütlich einigen können, indem sie entsprechende Verträge abschließen, und daß auch Retorsionsmaßnahmen nicht gegen die Landesgesetze verstoßen dürfen 364 ). Selbst im nach außen hin geschlossen auftretenden Territorialstaat haben also die Landstädte immer noch die Möglichkeit, Rechtskonflikte autonom zu lösen. Im Unterschied zur Stadt kommt dem Dorf dieses Recht nicht zu. Im Dorf wird die rechtliche Selbsthilfe mit dem Pfändungsrecht unter Nachbarn 365 ) nur dem einzelnen Gemeindemitglied zugestanden. Hier ist also nicht wie in der Stadt der einzelne, sondern die Gemeinde vom autonomen Entscheid über die Wahrung der Billigkeit ausgeschlossen.
4. Schluß Die ländliche Gemeinde blieb bis zu den naturrechlichen Landrechtskodifikationen ein Thema der juristischen Literatur. Wie gut sich das von der gemeinrechtlichen Korporationslehre und der Dorfrechtsliteratur vermittelte Bild der Landgemeinde erhalten hat, zeigt der fünfte Band der Anmerkungen, mit denen Wiguläus Xaver Aloys von Kreittmayr 1756 seinen bayerischen Zivilkodex 366 ) kommentierte und in denen die beiden Traditionen des gemeinrechtlichen Korporationsrechts und des Dorfrechts zusammenlaufen 367 ). Deutlicher noch als bei Nettelbladt dient bei Kreittmayr das Naturrecht nur als zeitgemäße Legitimation der gemeinrechtlichen Korporationslehre 368 ), die hier ein weiteres Mal ihre Dauerhaftigkeit beweist. 363
) Ebd., § 9. ) Ebd., §§ 9 und 10. 365 ) Vgl. Anm. 321. 366 ) Der „Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis" von 1756 wurde vom nachmaligen Kanzler des geheimen Rates Wiguläus Xaver Aloys von Kreittmayr ( 1 7 0 5 - 1 7 9 0 ) verfaßt und blieb in Bayern bis 1900 in Kraft. In der Rechtsgeschichte wird er je nach Standpunkt als Vorläufer der naturrechtlichen Kodifikationen oder als traditionelle Rechtsreformation behandelt. 367 ) Kapitel 30, „Von dem Gemeinderechte", handelt die Korporationslehre nach dem Schema des usus modernus ab. Kapitel 28, „Vom Dorf- und Bauernrechte", folgt der Tradition der Dorf- und Bauernrechtsliteratur, die bis zurück zu Fritsch, De jure pagorum (wie Anm. 53), und Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 39) auch ausführlich zitiert wird. Es ist, ebenso wie etwa ein Kapitel über das städtische Bürgertum, Teil einer Darstellung der ständischen Sonderrechte; Wiguläus Xaver Aloys Kreittmayr, Anmerkungen ad Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem. Ausgabe München 1821, 5. Bd., 1 0 7 0 - 1 0 8 0 und 1049-1060. 368 ) Kreittmayr übernimmt von Samuel Pufendorf, respektive dessen Schüler Johann Nico364
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Wie die Stichproben aus der juristischen Literatur zeigen, besteht vom 13. bis 18. Jahrhundert bei den gemeinrechtlichen Juristen aus dem städtereichen Südwesten des Reichs ein Konsens, daß Gemeinden für die Organisation ihrer innerkommunalen Angelegenheiten selber zuständig sind. Die Gemeindemitglieder oder ihre Repräsentanten haben das Recht und die Pflicht, regelmäßig nach einem bestimmten Modus Versammlungen abzuhalten, an denen normalerweise nach Mehrheitsprinzip Beschlüsse über die Verwaltung der materiellen und immateriellen Gemeindegüter (Liegenschaften, Infrastruktur, Kasse, Rechte) gefaßt und die Rechenschaftsberichte der Verwaltung geprüft werden. Dazu kommt eine entsprechende Statutargesetzgebung, die Besetzung der Gemeindeämter vom Hirten bis zum Schulzen und die Aufnahme, seltener auch der Ausschluß von Mitgliedern. Keine Einigkeit herrscht in der Frage, ob diese Gemeindebeschlüsse der Bestätigung durch eine gemeindeexterne Obrigkeit bedürfen. Verneint wird dies meist von den Autoren aus Gebieten mit politisch besonders starken Stadt- und Landgemeinden (Oberitalien, Schwaben) 369 ), wobei die ökonomische Eigenständigkeit, die in Verbindung gebracht wird mit sozialer Differenzierung in einer Gemeinde, sich positiv auf ihre rechtliche und politische Autonomie auswirkt 370 ). Zur Durchsetzung des eigenen Rechts hat die Gemeinde eine beschränkte Zwangsgewalt, die soweit reicht wie die Rechtsetzungskompetenz. Für die Dörfer, die mit Hilfe des Rügegerichts ihre Dorfordnungen durchsetzen können, spricht Leiser im Jus georgicum von einem „Schatten von Jurisdiktion", Kreittmayr in den Anmerkungen von einer gewissen „Gattung von Jurisdiction, welche sich jedoch nur auf der Mitglieder Privathändel, soweit sie mit laus Hert, die Theorie der durch Gesellschaftsvertrag entstandenen „persona moralis". Diese wird durch explizite oder stillschweigende landesherrliche Bewilligung zur rechtsfähigen „persona ficta", die im folgenden nach gemeinrechtlichem Schema mit Zitaten von Losaeus, Lauterbach und anderen Autoritäten des usus modernus abgehandelt wird; Usadel, Korporation (wie Anm. 4), insbesondere 79-94. 369 ) Das heißt allerdings nicht, daß ein starkes kommunales Element in einer Region notwendig auch das Dorf stärken muß. So schreibt etwa der Zürcher Jurist Hans Jacob Leu in seinem Eydgenössischen Stadt- und Land Recht (Teil 1: Personenrecht. Zürich 1727): „Obgleich auch in Teutschland jede Marck-Flecken bald eigene Halss-Gericht/ Stock und Galgen haben/ Besold Thesaur.Pract. voc. Marck-Flecken/ so ist doch solches in der Eydgenosschafft nicht Übung/ sondern die Criminal-Jurisdiction bleibt daselbst meistens allein bey denen Städten" (Tit.30, § 9). Die schärfere Unterscheidung, die Leu (und auch reichsstädtische Juristen wie Brüning) zwischen Stadt und Dorf machen, ist aus der Position der freien Städte zu erklären, die sich spätestens nach dem Westfälischen Frieden als Landesherrschaft verstehen. Leu macht das auch im Kapitel über die Gesetze deutlich: Hier zählt er das „bürgerliche Stadt- und Landrecht" zur allgemeinen, das „Dorf-Recht/ sogenannte Offnungen und andere Ordnungen" zur Patikulargesetzgebung (Tit. 1, §§ 6 und 8). Als „personae mysticae" haben aber alle Gemeinden auch bei Leu dieselbe Grundausstattung (Tit.30, § 7). 37 °) Besonders deutlich wird diese Tendenz, die einerseits auf praktische Anschauung, andererseits auf die aristotelische Definition autonomer Gemeinwesen zurückzuführen sein dürfte, in Lauterbachs Vergleich der schwäbischen und sächsischen Dörfer (Abschnitt 2.8.).
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gemeinschaftlichen Sachen eine Conexion haben, erstreckt" 371 ). Eine prinzipielle Unterscheidung von Städten und Dörfern ist in diesem Verwaltungsbereich nicht erkennbar, sofern Stadt und Dorf nicht in einem Herrschaftsverhältnis stehen. Nach außen sind die Gemeinden durch ebenfalls von der Gemeindeversammlung oder vom Rat bestimmte Rechtsvertreter im privatrechtlichen Bereich voll handlungsfähig. Der einzige Unterschied zu natürlichen Personen besteht darin, daß die Gemeinde bei Verfehlungen ihres Rechtsvertreters gleich wie Unmündige durch die restitutio in integrum geschützt ist. Auch hier ist kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Dörfern und Städten zu erkennen 372 ). Wo die Gemeindeverfassung die politische Partizipation der Gemeindemitglieder vorsieht und die Gemeindebeschlüsse nicht nur einem kleinen Kollegium vorbehält, das sich womöglich durch Kooptation ergänzt, ist auch garantiert, daß die politische Tätigkeit der Mitglieder wirksam wird, sind doch Gemeindebeschlüsse gegen außen geschützt durch den Vorrang der Statuten und des ebenfalls auf Mehrheitsprinzip basierenden Gewohnheitsrechts vor den allgemeineren Landesrechten und dem gemeinen Recht. Die politische Verantwortung der Gemeindemitglieder zeigt sich auch in der Deliktfähigkeit der Gemeinde, wobei ein solches Delikt nach denselben Mechanismen - Mehrheitsbeschluß der versammelten Mitglieder oder lange Praxis einer Mehrheit zustandekommt wie die Gemeindeordnung. Eingriffsmöglichkeiten der Obrigkeit können zunächst nur mit der Wahrung von Recht und Billigkeit begründet werden. Später kommt dazu, daß sich die Obrigkeit um die Förderung der Wohlfahrt kümmern soll. Dieses Argument führen vor allem die Dorf- und Bauernrechte an, die mit Ausnahme des Dorfrechts von Ahasver Fritsch alle aus Sachsen stammen - einem Gebiet, in dem die Dörfer sowieso schlechter gestellt sind als in Süddeutschland 373 ). Die sich daraus ergebende Konkurrenz zwischen obrigkeitlicher Policeygesetzgebung und Gemeindeordnungen wird allerdings nur von Riccius und hier in bezug auf die Landstädte erwähnt 374 ). Wo es um die Garantie der Einhaltung von Recht und Billigkeit geht, kann die Obrigkeit durch die Bestätigung von Statuten und Wahlen, in der Dorf371
) Leiser, Jus georgicum (wie Anm. 318), und Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 367), 5. Bd., c.30, § 5. 372 ) Eine Ausnahme machen manche Glossatoren (vgl. Abschnitt 2.1.). 373 ) Ein expliziter Vergleich ist beispielsweise bei Lauterbach zu finden (vgl. Abschnitt
2.8.). 374 ) Abschnitt 3.4.1. Dagegen erklärt Kreittmayr Angelegenheiten wie etwa die Erhaltung der Gemeindegüter zwar auch zur „Polizeysache"; „die nächste und meiste Obsorge" für diese Policeysache liege jedoch bei den von der Gemeindeversammlung gewählten Gemeindevorstehern; Kreittmayr, Anmerkungen (wie Anm. 367), 2. Bd., c.l, § 6, und 5. Bd., c.28, § 1.
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rechtsliteratur auch durch die Abnahme von Rechenschaftsberichten, Kontrolle ausüben. Bei der Mitgliederaufnahme kann sie nicht rechtskonforme Beschlüsse anfechten oder aufheben, und schließlich hat die Obrigkeit die Strafgewalt. Der Einfluß der Obrigkeit ist also in diesem Bereich auf die Genehmigung oder das Verbot von Beschlüssen und Handlungen der Gemeinden beschränkt. Eine aktive Rolle spielt die Herrschaft gemäß Korporationstheorie dort, wo sie gemeindeintern ist: als Grundherr im Castrum, als Rat oder Stadtherr in der Stadt. Hier treffen Gemeinde- und Herrschaftselemente aufeinander, und eine Zuordnung ist nur teilweise möglich - wenn etwa Gaill einerseits von den „nobiles" spricht, denen ein „Castrum" gehört, und anderseits von den „subditi" des Castrum 375 ); oder wenn Besold Heimbürgen und Zünfte die Vertreter des Volks gegenüber Rat und Schultheiß nennt 376 ). Klar ist die Unterscheidung zwischen Gemeinde und Herrschaft aber immer, wo es um Dörfer geht. Hier werden die Interessengegensätze nicht durch diffuse corpus-caput-Metaphern verschleiert; eine politische Organisation Gleichgestellter ist als eigene Interessengruppe gegenüber der Herrschaft legitimiert und nach außen sichtbar. Allerdings hat auch die „genossenschaftlich" organisierte Gemeinde zwei Gesichter: Nach außen hin ist sie vor allem eine privatrechtliche Person, die die „privaten" Sonderinteressen einer Gruppe gegenüber dem Rest der Gemeinschaft vertritt. Nach innen hat sie die Gewalt, den Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder herzustellen. Hier gilt einerseits der Mehrheitsbeschluß und anderseits das Prinzip quod omnes tangit, das die einzelnen Mitglieder oder Minderheiten vor unbilligen Beschlüssen schützt. Dieses Muster von der Dorfgemeinde, in der die einzelnen Mitglieder ihre Zustimmung zu einem Beschluß geben müssen, ist auch auf die nächsthöhere Ebene - zum Beispiel auf den Territorialstaat - übertragbar, da dieser als „provincia" ebenfalls als „universitas" behandelt wird und damit nach denselben Prinzipien funktioniert wie die Gemeinde. Allerdings sind hier nicht mehr die Gemeindemitglieder, sondern die Stände als Mitglieder der provincia stimmberechtigt. Wie weit die Vertreter der Stände den Korporationen, die sie vertreten, Rechenschaft schuldig sind, wird - abgesehen etwa von Althusius' Modell - nicht klar. Zwar wird immer von der Rechenschaftspflicht der Gemeindeverwalter gegenüber der Gemeindeversammlung oder dem Rat oder auch von bindenden Verträgen zwischen Fürst und Ständen gesprochen, aber da nicht alle Gemeinden Landstandschaft besitzen und somit Verwalter von Gemeinden und Ständevertreter nicht identisch sind, bleibt es bei einer Analogie der Strukturen, aus der sich nicht automatisch eine Rechenschaftspflicht
375
) Abschnitt 2.5.2. ) Abschnitt 2.7.2. Dieselbe funktionale Aufteilung macht auch Leiser, Jus georgicum, Abschnitt 3.1. 376
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der Stände gegenüber den Untertanen ableiten läßt. Und auch diese Analogie tritt mit der Entstehung des Territorialstaates und der damit einhergehenden Spezialisierung der juristischen Literatur immer mehr in den Hintergrund 377 ). In der Gemeinde allerdings ordnen die Stimmberechtigten ihren Alltag selber, wobei sie von funktional (über ihren Beruf) definierten „subditi" zu politisch tätigen „cives" 378 ) werden 379 ). Die Gemeinden werden zum „politischen Übungsfeld für den gemeinen Mann", analog zu den Vereinen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert 380 ). Wie diese entlasten auch sie den Staat durch selbständige Regelung verschiedener Aufgaben, wodurch zugleich die Grenze zwischen privater und staatlicher Sphäre verschoben wird. Das wird auch so wahrgenommen, sprechen doch praktisch alle Juristen in der frühen Neuzeit von Richter in der stark spezialisierten Dissertation über die Korporation bis Bodin in seinem Staatsrecht - von der Notwendigkeit der Korporationen für die Regelung gesellschaftlicher und ökonomischer Belange. Illustriert wird die Aussage von den Aufzählungen der Kompetenzen von Stadt- und Landgemeinden bei den Autoren des usus modernus von Losaeus bis Kreittmayr, vor allem aber in den Dorfrechten. Während die Gemeinde ihre Kompetenzen über die „Satzung" wahren, vielleicht sogar ausdehnen kann, hat die Obrigkeit auf sie Zugriff über das Gesetz - über das Recht, das an die iurisdictio geknüpft ist 381 )- Da dieses Recht überkommunal gilt - es muß sich am ius commune orientieren und damit auch gerecht zwischen allen Interessen vermitteln - nimmt seine Bedeutung und sein Umfang zu, je stärker die Gemeinde in größere wirtschaftliche und politische Systeme eingebunden wird. Hier scheiden sich nun die Wege zwischen den Städten, denen mit dem Stadtrecht auch die iurisdictio verliehen wurde, und den Dörfern, die nur Ausnahmsweise über ein Gericht verfügen. Allerdings ist mit der iurisdictio noch nicht der obrigkeitliche Eingriff in den Bereich der kommunalen Ordnungen zu legitimieren. Zunächst produzieren die Städte und Obrigkeiten mehr Gesetze, weil der Bereich, über den legiferiert werden kann, größer wird. Eine Verschiebung der Grenze zwischen 377
) So wird die „provincia" bei Losaeus zwar noch als eine universitas aufgezählt, taucht aber später kaum mehr auf; Ruffini, Nicolö Losa (wie Anm. 4), 16. Andererseits behandelt Bilderbeck noch im 18. Jahrhundert das Dorf- und das Landrecht (nicht aber das Recht der Stadt oder anderer Korporationen) in einem Band. 378 ) Lauterbach nennt auch die Einwohner der württembergischen Dörfer explizit „cives" und „Mitbürger" (vgl. Abschnitt 2.8.). 379 ) Wenn die Gemeinde aufgelöst wird, ist der Bürger auch kein Bürger mehr - vgl. Gaill, Abschnitt 2.5.2. 38 °) Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hartmut Bookmann u.a. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1972, 1-44. 381 ) Zu Satzung als Regelung des Alltags und Recht als Recht für den Richter: Dietmar Willoweit, Stadt und Territorium im Heiligen Römischen Reich, in: Chittolini/Willoweit (Hrsg.), Statuten (wie Anm. 3), 41 f.
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Kompetenzen der Gemeinde und der Obrigkeit ist erst über das Argument der guten Policey möglich. Der Eingriff in die Satzungskompetenzen der Gemeinden via gute Policey betrifft sowohl Städte als auch Dörfer. Lediglich die Reichsstädte sind davon ausgenommen. Mit dem zunehmenden Gewicht aufklärerischer Argumente wird die Legitimation der Policeygesetzgebung aber zunehmend schwierig, weil man die Definition des Gemeinwohls nicht mehr nur vom Fürsten und seiner Bürokratie, sondern zunehmend vom Staatsbürger selbst erwartet. Zukunftsträchtig ist dagegen das kommunale Modell, das auf die neuen Vereine und Gesellschaften übertragen wird 382 ), zusammen mit der herrschaftlichen aequitas-Verwaltung, die weiterexistieren kann, nachdem sie sich wieder von der Policey getrennt hat 383 ). Die Korporationstheorie des ius commune wurde nicht primär für die ländliche Gemeinde, sondern für die Stadt entwickelt 384 ), und Aussagen, die sich ausdrücklich auf die Landgemeinde beziehen, machen nur einen bescheidenen Teil dieser Korporationslehre aus 385 ). Vermutlich hat die Landgemeinde auch von der relativ unspezifischen Behandlung der verschiedenen Korporationstypen im gemeinen Recht und damit von der Übertragbarkeit städtischer Argumentationsmuster auf andere Korporationen profitiert 386 ). Das heißt aber nicht, daß die Juristen die ländliche Gemeinde nur per Zufall erwähnt hätten: Die Landgemeinde wird vom 13. bis ins 18. Jahrhundert in allen Texten zur Gemeinde explizit genannt. Dabei handelt es sich nicht nur um einmalige Erwähnungen bei der Aufzählung der Korporationstypen wie in den Kurzfassungen der Korporationstheorie in der Summa Azonis, in Speidels Wörterbuch oder in Nettelbladts Naturrechtssystem. Vielmehr werden auch zu allen Zeiten Fragen behandelt, die sich ausschließlich auf die ländliche Gemeinde beziehen, so etwa die Rechtsfähigkeit der vici bei den Glossatoren, die Deliktfähigkeit der Gemeinde (und damit die Zugriffsmöglichkeiten auf Bauern, die den Landfrieden brechen) bei den Kameralisten oder die Vergleichbarkeit von Dorf und Stadt im Obligationenrecht bei Lauterbach. Daneben werden einzelne Teile der Korporationstheorie wie etwa die Mitgliederversammlung beinahe ausschließlich am Beispiel der kleineren, nichtstädtischen Gemeinden abgehandelt. Das bedeutet nicht, daß dieser Teil der Theorie anhand der ländlichen Gemeinde entwickelt worden ist, aber es zeigt zumindest, daß die Landgemeinde den Juristen gegenwärtig war, wenn sie über die Korporation nachdachten, und daß sie nicht nur als Anhängsel betrachtet wurde.
382
) ) ) 385 ) 386 ) 383 384
Zum Beispiel von Nettelbladt, Abschnitt 2.9. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. 2. Aufl. München 1980. Schreiner, Teilhabe, Konsens und Autonomie (wie Anm. 7), 59. Bader, Dorf und Dorfgemeinde (wie Anm. 7), 79. Ebd., 80; Schreiner, Teilhabe, Konsens und Autonomie (wie Anm. 7), 59.
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Für die Aktualität des Themas selbst noch im „absolutistischen" 17. und 18. Jahrhundert spricht schließlich auch die Dorfrechtsliteratur, die zwar vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt betrachtet nicht besonders originell sein mag, deren beachtliche Rezeption aber doch auf ein hohes Interesse an der Landgemeinde schließen läßt.
Abkürzungen AHR AJSoc AlemJb ArchHessG ARG CEH BlldtLG EconHR EHR GG HessJbLG HJ HZ JbFränkLF JbGMOD JbWLG JEcclH JModH MIÖG MOHessGV PER P&P RHDFE SocH Spec TRG VSWG ZAA ZBLG ZGO ZHF ZNR ZRG GA ZRGKA ZWLG
The American Historical Review American Journal of Sociology Alemannisches Jahrbuch Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde Archiv für Reformationsgeschichte Central European History Blätter für deutsche Landesgeschichte Economic History Review English Historical Review Geschichte und Gesellschaft Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte The Historical Journal Historische Zeitschrift Jahrbuch für Fränkische Landesforschung Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte The Journal of Ecclesiastical History The Journal of Modern History Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Parliaments, Estates and Representation Past and Present Revue historique de droit français et étranger Social History Speculum Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte
Register von Sibylle
Hunziker
Bei den Verweisen ist zwischen seitenübergreifenden Bezügen (z.B. 398f.) und sachlich unterbrochenen Bezügen (z.B. 398, 399) unterschieden. Personennamen erscheinen kursiv.
A Abbeville 62 Abgaben als Gegenstand von Gemeindesuppliken 315 Abgabenerhebung und politische Erfahrung von Gemeindemitgliedern 214 Abgabenverweigerung 246, 438 - als Protest gegen Oligarchisierungstendenzen in der Gemeinde 234 Absolutismus 25 - und der Einfluß der Untertanen auf die „gute Policey" 350 - und Gemeinde 168 - und Gesetzgebung 153-160 - Theorie 65 Accursius 402 Act of Uniformity 218 action of trespass 225 acts 280 Gesetzgebung Adel - als Gegenstand von Gravamina 130 - als Gegenstand königlicher Gesetzgebung 41 f. - als Gegenstand kommunaler Doléances 40 ff. Adelberg (Württemberg) 109, 127 Adler, Michael (Supplikant) 335, 344 Ämterumfragen 112-119 - Befragung der Flecken und Dörfer 114f. - und Beschwerderecht 144 - und Gemeindebeschwerden 115 - als juristisches Instrument 144 - durch Landschaftsausschüsse 113 - politische Bedeutung 115 - durch Vögte des Landesherrn 113 Ämterversammlungen 5, 70 - Instruktion von Landtagsabgeordneten 110 - als Vorbereitung von Verhandlungen und Beschlüssen 110 Aequitas Billigkeit Agrarverfassungsvertrag 11
- und bäuerliche Besitzrechte lOf. - und persönliche Rechtsstellung von Bauern 10 f. Agreement of the People (for a firme and present Peace) 366, 367, 368, 369, 381 Aibling (Bayern) 256 Allendorf (Hessen) 193, 271, 319 Altensteig (Württemberg) 103 Althusius, Johannes 435,439, 447 Altomünster (Bayern) 256 Amboise 63 Amiens 30, 58 Ammergauer Bauernschaft 241,245 - Auseinandersetzung mit dem Kloster Ettal 249-253 - Schiedssprüche 250, 252 f. Amsterdam 15, 17 Amt 4 f., 122 f. - als Adressat von Suppliken 351 - und Amtsstadt 69, 101, 102ff„ 104 - Anspruch auf außergerichtliche Rechtsprechung 146 f. - Ausstellung eigener Gewälte 102 f. - Beschwerderecht 109 - Einfluß auf Land und Regiment 75 - als Einung 123 - Freiheiten und Rechte 83, 101, 105 f., 122 - und Huldigung 77 - Interessenkonflikt mit Amtsstädten 126 - als Korporation von Dorfgemeinden oder Niedergerichten 69, 123 f. - Landstandschaft 69,78, 102, 129, 160f., 206 - und Landtagsausschüsse 106-111 - onus und honor 75, 101 - politisches Gewicht 7 4 , 8 3 , 101,143 - politische Vertretung durch die Stadt 126, 206, 272 - und Repräsentation 7 0 , 9 7 , 9 9 , 1 0 0 - 1 0 5 , 106-111 - Schutz vor Willkür 122
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Register
- als Vermittler zwischen Dorfgemeinden und Landschaft 69 f. - und Widerstand 77 f. Amtleute als Absender von Suppliken 341 ff. Amtsbeschwerden 74, 113, 119-126, 127, 128 - Entstehung 27f., 114f. - und Gemeindebeschwerden 115 - und Gesetzgebung 114, 116 - und Landtagsbeschwerden 115,117 f. - und politisches Gewicht der Landschaft 79 - und Schutz lokalen Rechts 135 Amtsgravamina, Amtssuppliken Amtsbürgermeister 102 Amtseid in Dorfversammlungen und an Landsgemeinden 9 Amtsgravamina 111 ff. - und Landtagsbeschlüsse 122 Amtsschadensordnung 140 Amtssuppliken 315 Amtsversammlung -»• Ämterversammlungen Amtszeitbeschränkung 380 Antibes 55 Antoninus Florentinus 420 Appellation 39, 223, 243 f. Aristokratie 18 - als Regierungsform für populi maiori 414 Aristoteles 18,406,419,434,435,439, 446,457, 463 Arles 55, 56 Armenfürsorge 395 - in der Pfarrei 218 Armengesetzgebung - als Gegenstand kommunaler Suppliken 284 - lokale Finanzierung 221 - Umsetzung in der Pfarrei 220 Armensteuer - und lokale Interessen 224 Armenwesen - Bedeutung für die Politisierung der Pfarrei 217 - als Gegenstand von Suppliken 339 Armer Konrad 79, 116, 136 Arpentigny (Bailliage von Chartres) 37
Arsendi -*Rainerius de Forlivio Asch (Württemberg) 120,121,122 Asperg (Württemberg) 100 Aston, Thomas 374, 383 Aufklärung und Reformprojekte 189 Augenschein 114f. - als gerichtliches Beweismittel 115 - im Supplikationsverfahren 297 Auggen (Baden-Durlach) 330, 338, 340 Augsburger Religionsfriede 139 Augustinus 19 Auskömmlichkeit 10 - und Gemeinnutz 9 ->• „Nahrung" Ausschreiben - an Amtleute 132 - Einfluß der Landschaft 132, 179 -»• Reskript Ausschüsse 79, 112 - für Gemeindeaufgaben 215 - gesetzgebende Arbeit 90, 105 - und Gewälte 105, 108 - und Gravamina 105, 107 - Kommunikation mit der Regierung 113 - und Repräsentation 79, 99 - als ständige Einrichtung 80 - als ständige politische Vertretung des Landes 81, 105, 112 - Verwaltung des Kammergutes 80 - Wahl durch die Gemeindeversammlung 215 - Zuständigkeit für Beschwerden aus Ämtern und Gemeinden 80, 111 ff. -*• Gemeinde - Ausschüsse, großer und kleiner Ausschuß, Landschaftsausschüsse Ausschußabschiede und Grundrechte 142 Ausschußarbeit - Beteiligung von Gemeinden und anderen Korporationen llOf. - und Herrschafts vertrag llOf. Ausschußtage 116 außergerichtliches Klagerecht 300 Austrägalgericht 145 f. autonome Konfliktbewältigung -»• Pfändungsrecht, Retorsionen, Vergleichung Axbridge (Somerset) 278 Azo Portius 408, 411 f., 426,467
Register B Baddeley (Cheshire) 284 Baden 79 Baden(-Durlach) - Friedrich Magnus 347 - Karl Friedrich 325, 327, 328, 330 Badenweiler 327,329,330,331,338,340, 344, 349, 353 bäuerliche Beschwerden 15,189 - Vertretung durch Ritter und Städte 190 - Wirkung 189 f. bäuerliche Ehrbarkeit und Landtag 87 bäuerliche Rechtsansprüche und das moderne Supplikationsverfahren 299 Baillettre (Bailliage von Chartres) 37 Bailliage Amt Baldus de Ubaldis 422, 426, 430, 445 Balingen (Württemberg) 103, 127 Ball, William 368, 389 Banbury 366 Bancroft, Richard 377 Banngewalt 134-139, 142,464 f. -*• Gebots- und Strafgewalt, imperium, iurisdictio, ius statuendi, Statutargesetzgebung Baptisten 372 - Gemeindemodell 376 ff. - Glaubensbekenntnis 375, 377 Barber, Edward 378 Barker, Mathew (Pfarrer von St James) 391 Bartolus von Saxoferrato 407,408,413417,419,420,421,422,426,427, 428, 429,430,431,445,457 - Korporationslehre 413 f. Basel 331 Basse Guyenne 28 Bauer, Johann Georg (Förster) 316f. Bauermeister Schulze Bauern 2, 4ff„ 455,456,457 - und Agrarverfassung lOf. - Besitzrechte 10 f. - Emanzipation zu Staatsbürgern 2 - und Friedenssicherung 4, 10 - als Geschworene an Grafschaftsgerichten 210 - und Gesetzgebung 64, llOf. - Gesetzgebungskompetenz 413 - und Grundherrschaft 423 - Interessenvertretung über Gerichte 16 f.
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- Interessenvertretung im Staat 12 - Landstandschaft 14, 160f„ 243, 457 - Mitsprache in Landesangelegenheiten 70 f. - als Nährstand 455 - und Rechtsetzung 5 - Rechtsstellung 5f„ 10f., 429, 452, 457 - und Rechtstitel der Gemeinde 457 - und Rechtswahrung 4 - Regimentsfähigkeit 456 - reichsfreie Bauern 457 - Selbstverwaltung 5f. - und Supplikationen 14f., 252 - und die Verwaltung von Gemeindegütem 452 Bauernkrieg (1525) - als christliche Reformbewegung 381 - in der juristischen Literatur 425 Bawtry 280 Bayern 14 f. - Albrecht III. 251, 254, 260 f. - Albrecht IV. 247, 248 f., 252, 261, 262 - Emst 246, 250, 251, 253, 254, 261 - Johann 245,250 - Maximilian I. (Herzog und Kurfürst) 251 - Sigmund 247, 261 - Wilhelm III. 245 f., 250, 256, 261 - Wilhelm IV. 255 - Wolfgang 253 - Gerichts- und Verwaltungssystem 259 - Landrecht (1616) 266 - Regiment 259 Bayersoyen 241 Beamte - als Absender von Suppliken 335 f. - auf Gemeindeebene 338 Beauce 64 Beauvais 59 Beiningen (Württemberg) 122 Berghülen (Württemberg) 120, 121, 122 Bernard, Robert 225 Berre 55 Beschwerden 242 - Absender 120 f., 127 - Adressaten 121, 124 - von Ämtern und Gemeinden 79, 80,91, 95 f., 104, 109f., 118, 126 - Anhörungspflicht des Landesherm 261
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Register
- Behandlung außerhalb der Landtage durch Ausschüsse 80 - Beweise für Ansprüche 128 - von Dörfern und Höfen 120 - Entscheid als Ausgangspunkt für Gerichtsverfahren 254 - als Gegenforderungen für Rat und Hilfe 72 - und Gegenklage 248, 252 - von Gemeindemitgliedern gegen ihre Repräsentanten 234 - als Gravamen 302 - und hergebrachtes Recht 95 f. - gegen die Herrschaft 302 - und die Interzessionsgewalt der Landschaft 79, 118 - von Korporationen und Untertanen 121 - gegen den Landesherrn und seine Verwaltung 260 f. - der Landschaft 93 - und „Laufen gen H o f 242 - als petitio 302 - und Prävention gegen Übergriffe auf Gemeindeprivilegien 79 - gegen Privilegierung der Städte ohne Anhörung der Ämter 126 - über Rechtsverweigerung 93 - und Repräsentation 104, 109 f. - im römischen Recht 302 - und Schiedsverfahren 254 - von Städten 152 f. - über Strafen 136 f. - und Überarbeitung des Landrechts 91 - Vergleich mit Landesordnungen und Mandaten 13 - und Vergleichung 95 f. - Verhandlungsarten 254, 264 - über Zehnt- und Patronatsherren 283 Desideria, Doléances, Gravamina, petition, Petition, Spezialgravamina, Supplik Beschwerderecht 60, 77, 81, 82, 109, 120, 290 - und Billigkeit 263 - als Definitionsgewalt über den Gemeinnutz 78 - als einklagbares Recht 290 - als Gegenstand kommunaler Doléances
60 - und Justizgewährungspflicht 258
- und Petitionsrecht 81, 82, 144 - politische Nutzung durch die Landschaft 143 - als Privileg einzelner Korporationen 81 - und Repräsentation 83, 104 - als Schutz vor einer herrschaftlichen Instrumentalisierung des Landrechts 146 - als Schutz vor landesherrlichen Übergriffen auf Nutzungsrechte 124 f. - und Vergleichung 124 f. Beschwerdeschriften als Muster für Gesetze 25 Cahiers de Doléances Beschwerdeverfahren - gütlich-rechtliche Einigung 248 f. - Häufigkeit 255 f. - und ordentlicher Gerichtsweg 247 f. - Spruchbrief 249 Beschwerdewesen 259 - und Institutionenbildung 263 f. Besitzfähigkeit - von Gemeinden 211 - von Kirchgemeinden 214 Besold, Christoph 4 3 3 , 4 3 9 ^ 4 3 , 4 4 5 , 4 4 9 , 465 Beutelsbach (Württemberg) 94, 135 Beza, Theodor 379 Bietigheim (Württemberg) 100,127 Bilderbeck, Christoph Lorenz 452 ff., 457, 466 Billigkeit 380, 420, 443 - und Eingriffe des Landesherrn in lokales Recht 442, 464 - Garantie auf kommunaler und überkommunaler Ebene 432 - als Gegenstand von Beschwerden 130, 224 f. - der Gerichtsverfahren 380 - und kommunale Selbstverwaltung 432 - als Legitimation für Gesetzgebung 413 - im usus modernus pandectarum 449 - Wahrung der Billigkeit durch den Landesherrn 130,467 bills 280 bills of complaint 277 f. ->• Petition, Supplik Bilstein (Amtsverweser) 315 f. Bitte - und Hilfspflicht 303 - Ritual und Symbolik 301
Register Bittschriften von Gemeinden an den König 54 - fiktive Bittschriften 54 Requêtes, Supplik Blank (Soldat) 337 Blaubeuren (Württemberg) 101, 103, 109, 114, 119, 120-123, 124, 125, 126, 135, 139, 143 Bleury (Bailliage von Chartres) 37, 60 Bodin, Jean 65 f., 1 5 4 , 4 2 6 , 4 3 4 , 4 3 5 , 4 3 8 , 439,442,458,466 Böblingen (Württemberg) 100, 102, 127 Böhler, Jacob (Wirt) 343 Böhringen (Württemberg) 114 Boll (Württemberg) 125 Bologna 402 f. Boncé (Bailliage von Chartres) 37 Bordeaux 54 Borken (Hessen) 175,315 borough 211,389 - Vertretung in der Ständeversartimlung 211 Borroughes, Jeremiah 381,382 Bossuet, Jacques-Benigne 19 Bottwar (Württemberg) 103 Bouglainval (Bailliage von Chartres) 37 Le Boullay d'Aschères (Bailliage von Chartres) 37 Bourgogne 58, 66 Boxford (Suffolk) 214,217,218,219,220, 221, 222, 224, 226, 227, 235 Brackenheim (Württemberg) 103,127 Brändlin, Anna Maria (Krämerin) 341 Bramston, John (Richter) 224 Brand, John 221 f. Braunschweig-Wolfenbüttel 461 Bretagne 66 Bréval (Bailliage von Chartres) 37, 44 Briançon 63 Bristol, Pfarreien - All Saints 2 1 3 , 2 1 4 , 2 1 5 - St Stephen 229 f. - St Thomas 230 Brüning, Heinrich 4 3 3 ^ 3 9 , 4 4 5 , 463 Buckingham 367 Buckinghamshire 284, 369 Bündnerwirren und Leveller-Literatur 368 Bürger - Begriff 446 - Emanzipation zu Staatsbürgern 2
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- Interessenvertretung im Staat 12 - von Städten und Landgemeinden 446 - als Untertanen 2 ci vis Bürgerausschüsse 206 Bürgermeister - Amtszeit 166 - in den Dörfern 446 - als Vertreter der Städte an Landtagen 168 - Wahl 166 f., 271 Bürgerrecht als Gegenstand von Suppliken 313, 316f., 351,353 Bürgerschaft - politische Partizipation 206 - Repräsentation in Stadtrat und Landtagen 167 f. Bürgin, Barbara (Schumacherin) 341 Buggingen (Baden-Durlach) 330 Burghausen (Bayern) 265 Burgund 54, 265 burgus 4 0 7 , 4 0 9 Burton (Cheshire) 284 Bury St Edmunds (Suffolk) 223 Buße und Strafe 94, 138 f. C Caen 30 Cahiers de Doléances 13, 25 f. - von Dörfern 36, 47 - des Dritten Standes 35 - und kommunale Wertvorstellungen 37 - und Ordonnances 32-46 - Redaktion 27, 3 3 f „ 38 - Wirkung 38 -•Beschwerden, Beschwerdeschriften, Doléances, Gemeindebeschwerden, ständische Beschwerden Calvin, Johann 379 Calw (Württemberg) 97, 102 Cambridge 281 f. Cambridge, Pfarreien - St Andrew 225 f. - St Giles 225 f. - Great St Mary 219, 220, 224, 225, 227, 235,237 - St Mary's 209 - St Trinity 225 f. Cambridgeshire 284 Cannstatt (Württemberg) 97
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Register
Canterbury 275, 276, 372 Carlton (Yorkshire) 275 Carpzov, Benedikt 445 Cartwright, Thomas 371 f., 377, 379 Castle Combe (Wiltshire) 278 Castrum 407 f., 427, 430 - als Adelsherrschaft 424 - Autonomie 415 - Begriff 407, 408 f. - Besteuerung 431 - und civitas 414 - als communitas 429 - als Dorf 413 - Genossenschaft und Herrschaft 431 - Gesetzgebungskompetenz 413 - und iurisdictio 408,427 - Regiment 429 - Selbstverwaltung 413 - Verhältnis zur civitas 431 ->• Landgemeinde, universitas Châlons sur Marne 52 Chancery - Kompetenzen 277 - und das Supplikenwesen 16 Chartrainvilliers (Bailliage von Chartres) 37 Chartres 35,36,39,42 Chatwell (Staffordshire) 284 Chaudon (Bailliage von Chartres) 37 Chaudonet, Anton 340 Le Chêne Doré (Bailliage von Chartres) 37, 42 Cheshire 284 Chester 235, 273, 282, 285, 287, 387 Chidley, Katherine 366 Chidley, Samuel 366, 378, 390 Choppinus, Renatus 429,451 church rates 215 churchwardens 213 Cicero, Marcus Tullius 434 Cinque Ports 279 - als Absender von Petitionen 283 - als Adressaten von Gemeindesuppliken 286 Cinus von Pistoia 414 civis 446, 466 -»• Bürger civitas 427 - Autonomie 415 - Begriff in der juristischen Literatur 406 - und Castrum 4 1 4
- als communitas 429 - als corpus 411 f. - und iurisdictio 427 - und merum imperium 427 - und polis 406 - Rechtsfähigkeit 450 - Regiment 429 - im römischen Recht 411 -» Staat, Stadt Code civil 51 Code Michau (Ordonnance von 1629) 49 Codex Juris Bavarici Judiciarii (1753) 266 Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis 406,462 Colchester 281 Collège 28 - als Bestandteil einer Republik 66 - und Police 65 -•collegium Colleges als Adressaten kommunaler Suppliken 274 collegia tenuiorum 411 collegium - Legitimation 418 - Organisation 418 - Rechtsfähigkeit 418 - im römischen Recht 411 - Zweck 418 Collège, Korporation, Zunft Collyer, Richard (Tuchhändler) 223 colonia im römischen Recht 411 Comminges 47 Commissaires 51 common law 209 f. - Weiterentwicklung durch die Levellers 362 common man als souveräne Haushaltsvorstände 394 commons im Pfarreiausschuß 233 Commun - und Etats Généraux 26 f. - und Etats Provinciaux 47 - steuerliche Belastung 64 -* Gemeiner Mann, Haushaltsvorstände Commun-Ordnung (von 1760, Markgrafschaft Baden) 325 Communauté - ländliche 47 - als „petite république" 31 - als politische Organisationsform 30 f.
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Register - städtische 47 - Verfassung 30 f. - Versammlung der Haushaltsvorstände 31 - und Verwaltung 47 ->• Dorf, Gemeinde, Korporation, Landgemeinde Commune 30 communitas 6,428 - Definition 429 - Legitimation 6 - als Sammelbegriff für alle GemeindeKategorien 429 - und Staat 434 - Verbreitung 6 - Verhältnis zu Grundherrschaften 6 ->• Gemeinde „community opinion" 387 Congregationalism 372 - Machtverteilung 374 - als Verstärker kommunaler Prinzipien 396 coniuratio 9 consilium (gelehrter Juristen) 144 constitutio pricipis 443 f. consuetudo - Einführung durch das Volk 444 - Geltungsbereich 428,444 - und Gemeindebeschlüsse 444 - und Gesetz 412,428,429 - der Landstädte 459 - im römischen Recht 429 - und Statuten 422 f., 444 - Verhältnis zum geschriebenen Recht 444 - und die Verteidigung kommunaler Rechte 429 ->• Coutume, Herkommen contrat social 20 -*• Gesellschaftsvertrag Convention Parliament 277 Cook, Thomas (Parlamentsabgeordneter) 281 Corbeil (bei Paris) 35 Corkbush Field 367 Corporation Korporation Corps - und Bekämpfung der Tyrannie 66 - als Bestandteil einer Republik 66 - und Police 65 -•corpus, Korporation, universitas
corpus 411 f. corpus iuris 402, 404 Cotton, John 374 county 389 ->• Amt Coutume 48-52 - Einfluß der Kommunen 61 - Einfluß der Stände 51 f. - als Gegenstand kommunaler Doléances
60 - Geltungsbereich 50 - und königliche Gesetze 48,51 - kommunales Recht 52 - Redaktion 50ff., 61 - Unterschied zur Ordonnance 52 -» consuetudo Cromwell, Oliver 16, 366, 367, 371, 375, 382, 384, 392, 396 Crooke, George (Richter) 224 Croquants 47 Cujas, Jacques 434 Cumberland 278 D Dammarie (Bailliage von Chartres) 37 Dauphiné 48, 63,66 Decianus, Tiberius 421,425 Decretum Gratiani 403 Demokratie als Regierungsform für kleine populi 414 Denkendorf (Württemberg) 109 Denne, Henry 378 Descartes, René 405 Desideria - und Bestätigung des Herkommens 173 f. - und Bestätigung von Privilegien 172 f. - Erfolg 172-177, 179f„ 182f„ 184, 186189 - und Konflikte zwischen den Ständen 189 - und Landesordnungen 179 ff., 203 ff. - der Landschaft bzw. der Städte 172176, 179 f. 182 f. - und Landtagsabschied 171-179 - und Policeygesetzgebung 173-179 - und Resolutionen 182 f. - als Revoltenprävention 207 - der Ritterschaft 172, 179f„ 182 - und Suppliken 196,204,206,207 - und Vollzug geltender Gesetze 174
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- als „Vorschläge zum gemeinen Besten" 182 - als Wunsch nach Ordnung 203-206, 207 Beschwerde, Desideria communia, generalia und specialia, Gravamina, städtische Desideria Desideria communia (einer Kurie) 171 f. - der Ritterschaft 179 - der Städte 178, 193 Desideria generalia (aller Stände) 171 f., 176 f., 179 f., 182 f., 193 - Einfluß der Städte 176 f. - Entstehung 175 ff. Desideria specialia 177 ff., 188 f. - Parallelen zu Desideria generalia 178 - von Städten 177 ff. - und Suppliken 317 Desize 55 Détroit 50 Dettingen (Württemberg) 114 Deutsches Reich 16, 17, 403 - Friedrich II. 268 - Friedrich III. 268 - Ludwig der Bayer 249 - Maximilian I. 265, 403 Deventer 4 Dezentralisierung - als Leveller-Forderung 395 - bei der Redaktion von Coutumes 51 Diemelstädte (Hessen) 175,178,182 Dienste - und Gerichtsverfahren von Dorfgemeinden 456 - Rechenschaftspflicht der herrschaftlichen Verwaltung 455 - ungemessene Dienste 455 f. Dienstboten, politische Rechte 386 Diessen (Bayern) 256 Digesten 402 Dilationsgesuche 307 f. dingliche Rechte, politische Relevanz 140 Doggett, John 2 2 1 , 2 2 2 Doggett, William 222 Doléances - bei Bodin 66 - ländlicher Gemeinden 60 - Wirkung 61 - Zweck 61
Beschwerden, Cahiers de Doléances, Desideria, Gravamina Dombes (Fürstentum) 63 Dorf 19, 30f., 139, 152f„ 210, 399, 446, 463 - Ämterbesetzung 3 0 8 , 4 5 3 , 4 6 1 - und Amt 6 9 , 7 1 - Armenwesen als Gegenstand von Suppliken 277 - Ausschluß von städtischen Privilegien 438, 454 ff. - und Autonomie 446, 456 - Begriff 4 0 6 - 4 1 0 , 4 1 9 , 4 4 6 - Beschwerden und Repräsentation 128 - als civitas 446 - Einfluß auf die Gesetzgebung 27 - Einfluß auf die Redaktion von Cahiers de Doléances 27, 52 - und Friedenssicherung 426 - Gemeindebeschlüsse 437 - und Gemeindegüter 452 - Gemeindeversammlung 210, 387, 430f., 467 - Gericht 446,461 - als Grundeinheit der politischen Organisation 389 - und Handwerk 173 ff., 352 - und honor 74 f. - als Interessenvertretung der Bauern 456 - und iurisdictio 442 - Kirche 275, 446 - im Korporationsrecht 139,405 - und Landstandschaft 69, 70, 139 - als lokale Verwaltungseinheit 363 - und Markt 406,446, 458 - Mitgliederaufnahme 446 - und „Nahrung" 439, 454 ff. - obrigkeitliche Kontrolle 452 - Ökonomie 419 - und onus 75 - Patronatsrecht 453 - und politische Ungleichheit 7 - politische Ziele 71 - und Privilegien 454, 457 - Rechtsetzung 2 1 0 , 4 1 3 , 4 1 8 , 4 5 4 , 4 5 8 - und Regiment 7 1 , 4 0 9 , 4 4 6 - und Repräsentation 70, 100-105 - Selbsthilfe 458 - Siedlungsformen 30 - und Staat 212, 453
Register - und Stadt 30, 149, 152 f., 4 3 6 , 4 3 7 , 4 4 0 , 4 4 2 , 4 4 5 , 4 4 6 , 4 5 0 f „ 4 5 2 , 4 5 4 ff., 457 ff., 461,463,466,467 - Statuten 4 5 4 , 4 5 8 - und Supplikation 275, 308 - Verwaltung 429, 452, 453, 460 f. - und Weiler 406 - • Castrum, Gemeinde, Landgemeinde, pagus, vicus, villa Dorfbeamte - periodische Ablösung 388 - Rechenschaftspflicht gegenüber der Gemeinde 388 - und Supplikationsverfahren 308 - Wahl 308, 388 -»• Gemeinde - Ämter, Schulze Dorfgemeinde -»Dorf, Landgemeinde Dorfordnung 210, 454, 458 ->• Dorf Rechtsetzung Dorf- und Bauemrechte 4 0 9 , 4 5 1 - 4 5 7 , 466, 468 Dorfstatuten und übergeordnetes Recht 413 - • D o r f - Rechtsetzung Dornhan (Württemberg) 100 Dornstetten (Württemberg) 1 0 3 , 1 0 4 Dover 286 Downham (Cambridgeshire) 285 Dreux (Bailliage von Chartres) 42 DritterStand 4 7 - a l s Souverän 2 - • Tiers Etat Droue (Bailliage von Chartres) 37 Duppelin, Ludwig (Schultheiß) 115 f. Durham 282 E The earnest Petition of many Free-born P e o p l e o f t h i s Nation 3 6 6 , 3 6 8 , 3 7 0 , 381,388 E a s t A n g l i a 285 edit 48 - • Gesetz Edward, Thomas 390 Edwardstone (Suffolk) 222 Eglin (Gärtner und Wirt) 338 Ehrbarkeit 73 - und gemeiner Nutzen 142 - Herkunft der Privilegien 73 f. - Interzessionsgewalt 77 - Mitwirkung bei der Durchsetzung von Ordnungen 138
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- und Rat und Hilfe 73 Ehre - und Gemeinde 271 - lehens- und ständerechtliche Relevanz des Begriffs 73 - • honor Eibensbach (Württemberg) 115 Eichen (Baden-Durlach) 327, 328 Eid - • coniuratio Eigenbrodt (Advocatus fisci) 272, 304 Eigentumsrecht - an Gemeindegütern 424 - und Selbstschutz 124 - • Schutz Einzelsuppliken 191, 196, 199 - von Frauen 3 3 6 , 3 4 1 , 3 5 1 - von Männern 3 1 4 , 3 3 6 Elliston, Nicholas (Pfarreiausschußmitglied) 228 Ely - Bischof von 275 - Pfarrei St Mary 219, 235 Emmendingen (Baden-Durlach) 330, 344 Emneth (Cambridgeshire) 275 enclosures 388 enfeoffment 214 England 7, 11, 16, 18, 152 - Edward!. 276 - Edward II. 278 - Edward 111. 286 - Heinrich VIII. 2 1 6 , 2 8 5 - Jakob I. 276 - Karl I. 277, 279 - Mary 2 1 6 , 2 2 3 , 2 7 9 , 3 7 1 - Richard II. 276 - William the Conqueror 389 - Petitionskultur 15 - Tudordynastie 2 1 1 , 2 1 6 , 2 3 7 England's Birthright 367, 393 Eningen (Württemberg) 1 0 9 , 1 1 4 , 1 1 5 Enquête par turbe -* Rechtsfindung Entrevaux (Provence) 55 Epernay (Champangne) 27 equity jurisdiction 214 - und Suppliken 277 -•Billigkeit Erb, Lorenz (Supplikant) 338 Erbrecht - Approbation durch die Landschaft 9 0 - als Gegenstand des Landrechtes 8 9 - 9 2
480
Register
- als Gegenstand von Suppliken 254 Erhard, Johannes Eucharius 426 Erlaß-Suppliken 283, 307f., 311, 313f. Ermenonville la Petite (Bailliage von Chartres) 3 7 , 4 2 Eschwege (Hessen) 166,167 Essex 283,364 Essonnes 35 Etats Généraux 24, 26, 65, 66 - bei Bodin 66 - als Gegenstand kommunaler Doléances 61 - und kommunaler Einfluß auf Gesetzgebung 45 f., 61 - Kontrolle der Regierung 49 - und der Status von Ordonnances 48 Generalstände Etats Provinciaux - Bedeutung für die französische Verfassungsgeschichte 46 ff. - bei Bodin 66 - und kommunaler Einfluß auf Gesetzgebung 46, 47' - und Revolution 47 - Vertretung der ländlichen Bevölkerung 47 -*• Landstände, Landtag, Ständeversammlung Ettal (Bayern) 245, 249-253 Exeter, Synode von 209 Expeditionen im Supplikationsverfahren 298
F Fairfax, Thomas 366, 367 The Faith and Practise of thirty Congrégations (1651) 377 Farnworth (Cheshire) 285 Favyn, André 53 Feldberg (Baden-Durlach) 331 Fellbach (Württemberg) 80 Fernere, Claude de 429 Feuerbach (Baden-Durlach) 343 Finnland 6 Fish, Simon 321 Flandern - Louis 65 Flecken, Gesetzgebung 418 -* Dorf, Landgemeinde, Marktflecken Florenz 15, 17,414
Folkstone 286 Fontenay le Comte 62 Fontenay sur Eure (Bailliage von Chartres) 37 The Form of Presbyterial Church Government (1646) 375 Fountains 282 Frankenberg (Hessen) 165, 167, 168, 177, 178, 182, 195,271 Frankreich 6 , 7 , 10, 11, 13, 16, 17 - Charles V 49 - Charles VIII 5 1 , 5 3 - Charles IX 56 - François I 45 - Henri III 53 - Henri IV 47, 49 - Jean 24 - Louis XI 43 - Louis XII 4 5 , 4 9 - Louis XIV 53 - als Konglomerat von Korporationen 28 f. - als konstitutionelle Monarchie 24 Französische Revolution 17,25 Frauen - Aufnahme ins Bürgerrecht 351 - Erwerbstätigkeit 341 - in der Leveller-Bewegung 366 - politische Rechte 386, 460 - und Suppliken 28, 339ff„ 351 Freeman (grand juryman) 228 Freiburg 417 Freiheiten - Abzugsfreiheit von Erbschaften 89 - von Ämtern 105 f. - Eingriffe durch die Verwaltung 132 - freier Zug 89, 105 f., 124, 146 - des Landes und der Gemeinde 96, 112f. - und Steuern 89, 106, 146 - von Untertanen 132 - Vergleichung 88 f. ->• Recht auf freien Zug Freudenstadt (Württemberg) 103 Frevel 141 Frevelgerichtsbarkeit 94 Friedensrichter 217f. Friedenssicherung - im Dorf 10,454 - und Gemeinde 9f. - und Gemeinnutz 9
Register - durch kommunale Organisationen von Bauern 4f. - durch Städte 4 - und Summarischer Prozeß 266 Friedewahrung Friedenssicherung Friesenheim (Baden-Durlach) 338 Fritsch, Ahasver 409, 4 5 1 ^ 5 4 , 462, 464 Fronde 54 Frost, Walter 366 Fürstenberg 119, 122 Fulmer (Buckinghamshire) 282 G Gächingen (Württemberg) 117 Gaill, Andreas 408, 409, 419, 4 2 2 ^ 2 5 , 4 2 6 , 4 3 8 , 4 4 0 , 465, 466 Gaillon 57 Galtton (Huntingdonshire) 387 Gartach (Württemberg) 102 Gebot des Herrschers 156,157 Gebots- und Strafgewalt 86f., 94 - • B a n n gewalt, imperium, iurisdictio, ius statuendi, Statutargesetzgebungsrecht Gechingen (Württemberg) 127 Geisa (Hessen) 315 Gemeinde 3f., 8, 20, 2 0 9 f „ 363, 376ff„ 383, 389, 418, 440f., 463 - Abgabenverweigerung 438 - Ämter 226, 377, 430, 463 - Amtsträger und Suppliken 284, 339 - Analogie zum Staat 394, 465 - Anspruch auf außergerichtliche Rechtsprechung 146 f. - Auflösung 416 - Ausschüsse 166, 167, 168 - Beschlußfähigkeit 416 - und Beteiligung der Bürger an Politik 4, 213 - Beteiligung an Gesetzgebung llOf. - bewilligungspflichtige Geschäfte 326 - als coniuratio 9, 19 - und contrat social 6 - Deliktfähigkeit 4 1 9 , 4 3 1 , 4 4 4 - demokratische Strukturen 372 - und Ehre 271 - Einfluß der Zentralgewalt 2 1 2 , 3 2 6 , 4 4 2 - Einflußmöglichkeiten 3, 33, 36, 39, 48, 45, 64 f., 70, 84, 206, 350, 376 ff. - Entscheidungsträger 229, 236
481
- Entstehung 6 , 9 , 1 9 , 4 1 5 , 4 1 6 , 4 2 7 , 440 f. - und Friedewahrung 9f., 18,437 - und Gemeinnutz 437, 445, 449 - Gemeinsamkeiten von städtischen und ländlichen Gemeinden 8-12 - und Gesetzgebung 12, 444, 445, 466 - Größe und Regierungsform 414 - und Haftung 271 - Handlungs-und Willensfähigkeit 271, 432f.,440f.,464 - Herkommen 84, 443 - und Herrschaft 18,465 - und Herrschaftsvertrag 110 f. - als Interessenvertretung der Untertanen 12-18 - und iurisdictio 4 3 6 , 4 4 1 , 4 4 5 - Konfliktregelung 2 1 2 , 2 1 5 , 2 2 5 , 2 2 7 - als Korporation 2 1 1 , 4 0 5 , 4 6 5 - Kreditfähigkeit 271 - Legitimation 8 - 1 2 , 4 1 8 , 4 2 7 , 4 4 1 - bei den Levellers 378 - Lobbying im Parlament 280 - und Magistrat 4 - Mitgliederaufnahme 333, 340, 344 ff., 350 f., 373,437, 440 f., 442 - Mitwirkung bei der Ausstellung von Gewalten 100 - Modellfunktion für Leveller-Programme 385-396 - und Obrigkeit 212, 464 f. - mit obrigkeitlichen Wahl- und Kontrollrechten 223 - Oligarchisierung 230 - als Organisationsform der Bauern und Bürger 3, 6, 7 - als persona Acta 411, 440 - politische Berechtigung der Mitglieder 386,429 f., 464 - und privatrechtliche Körperschaften 449 - Rechenschaftspflicht der Amtsträger 4, 376 ff. - Rechtsfähigkeit 4 1 8 . 4 3 2 f., 440 f., 464 - und Rechtsprechung 19, 33 - Rechtstitel der Gemeinde und Status der Mitglieder 457 - Rechtsvertreter 416 - Repräsentation 12, 96 f., 100, 104, 149
482
Register
- Selbstverwaltung 19,321,433,436, 440f., 444f., 463, 466 - als societas 449 - und Staat 3, 18 ff., 3 3 , 3 6 , 3 9 , 4 5 , 4 8 , 5 5 , 61, 149, 184ff., 206, 209f., 237f„ 326, 361, 363, 394, 434, 435 f., 442 f., 465, 466 - und Ständeversammlungen 7 -»• Amt, Beschwerden - Statuten 19,427,436 - Steuern 4 , 3 3 , 4 3 1 , 4 4 1 - Unterhalt der Pastoren 376 ff. - und Verein 466 - Verfassung 165-168,211,394,411,464 - und Vergleichung 95 f. - Verhältnis zu den Mitgliedern und zu deren Eigentum 416,425, 441, 465 - Verhältnis zu weltlichen Instanzen 376 ff. - als Verwaltungseinheit 449 - und Widerstand 77 f., 438 Communauté, Commune, communitas, Dorf, Korporation, Landgemeinde, pagus, Pfarrei, Stadt, universitas, vicus, villa Gemeindeautonomie 96 f. - in der juristischen Literatur 463 - und Kirchenorganisation 372 - in religiösen Auseinandersetzungen 374 - in der presbyterianischen Praxis 375 - und die Unantastbarkeit der Gemeindegüter 440 - Voraussetzungen 415 Gemeindebeschluß 4 1 3 , 4 2 2 , 4 3 0 , 4 6 5 - in Dorf und Stadt 437 - über Gemeindeeigentum 433 - als Grundlage für Prozesse, Suppliken und Widerstand 18 - Gültigkeit 416,430 - und Herkommen 444 - in der juristischen Literatur 463 - Öffentlichkeit 422 - und politische Partizipation der Gemeindemitglieder 464 - über Privateigentum 433 - und restitutio in integrum 430 - und Steuererhebung 431 Gemeindeversammlung Gemeindebeschwerden 4, 27, 32-46, 61, 104, 127
- Einfluß auf Gesetzgebung 27, 3 2 ^ 6 - und die Position des Dritten Standes 61 Amtsbeschwerden, Cahiers de Doléances, Gemeindesuppliken Gemeindebildung 237 - und kirchliche Verfassung 236, 237, 371-385 - und kommunale Steuerhoheit 237 - als Reaktion auf Anarchie 458 Gemeindefinanzen 213, 333 - als Gegenstand von Suppliken 326 f., 339 - und „gute Policey" 326 - landesherrliche Aufsicht 25 f., 325 f. - Rechungsablage vor der Gemeinde 214, 229 f., 233, 455 - Rechnungsprüfung durch den Staat 326 Gemeindegüter 125 f., 216, 222,416,441, 452 - von Dörfern und Städten 438,461 - und Eigentumsrecht 424 - in der Korporationslehre 433 - Nutzungsrecht der Mitglieder 448 - Rechenschaftspflicht der Verwalter 452 - und Rechtsstatus eines Gemeinwesens 419,440 - und Selbstverwaltung 441 - Verkauf 4, 429, 442 - Verwaltung 226, 431, 436, 452f., 461 Gemeindekirche 5 Gemeindemitglieder - und Gemeinderegiment 429 - politische Partizipation und Eigentum 436 - Rechte 448, 453 - Stimmrecht 415 Gemeindesuppliken 55-60, 94 ff.,149, 252, 267-323, 337f., 339, 350f. - Absender 273 - Adressaten 273 f., 276-287 - Begriff 270 ff. - Behandlung 298,311 - Einfluß auf die Gesetzgebung 280, 320, 357 - Entstehung 252, 271 f. - Gravamina in Supplikenform 290 - Haftung 271 - und hergebrachte Rechte 94 f. - und Individualsuppliken 60, 252
Register -
Legitimation 271 Redaktion 252 und Repräsentation 252 gegen Sonderpersonen 298 und Suppliken-Kampagnen 281 als Ursache für Amtshandlungen 285 Wirkung 3 1 4 - 3 1 9 Beschwerden, kommunale Bittschriften, pétition, Requêtes, Supplik Gemeindeversammlung 2 1 4 f . , 2 2 9 f . , 4 3 6 , 445,455 - Beschlüsse 2 1 5 , 2 3 2 , 4 1 3 , 4 1 5 , 4 3 0 - Beteiligung 4 2 9 , 4 4 8 - in Dörfern und Städten 6, 430 f. - Einberufung 232, 430, 436, 4 4 0 , 4 5 3 , 455 - Einstimmigkeit 215 - Entscheide 429 - Ersatz durch eine Exekutive 231 - Gesetzgebungskompetenz 436 - und Gleichheit von Bürgern und Bauern 7 - Kompetenzen 2 1 4 , 4 2 9 - Mehrheitsprinzip 430 - Periodizität 214 - Präsenzpflicht 2 1 4 f „ 232, 233 - und Rat 231 f., 429 - und Rechnungskontrolle 229 f., 233, 455 - und Repräsentation 2 3 2 , 4 4 0 - Wahl des Amtmanns 230 Gemeindebeschluß Gemeindevertreter - Einfluß auf Gesetzgebung 194 - Immunität 441 - Wahl 441 Gemeindeverwaltung 2 3 4 , 4 3 6 - durch Ausschüsse 231 - in Dörfern und Städten 460 - durch die Gemeindeversammlung 232 - durch Gemeindeversammlung und Rat 231 - durch den Rat 231 - und Statuten 460 Gemeiner Mann - als mittelständischer Haushaltsvorstand 392 - Rechte und Pflichten gemäß LevellerProgramm 393
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common man, Commun, Haushaltsvorstand Gemeiner Nutzen 438 - und Eingriffe in herrschaftliche und korporati ve Rechte 140 f. - als Gegenbegriff zum Herrennutz 9 - und Gerechtigkeit 439 - und königliche Gesetzgebung 48 - und korporativer Nutzen 140 - und Legitimation von Gemeindesatzungen 8f. - und Legitimation politischer Macht 19 f. - als praktische Erfahrung in der Gemeindeökonomie 388 - und Selbstverwaltung von Gemeinden 433 - als Staatsaufgabe 439 - und Steuerkraft des Landes 141 f. gemeines Recht -» ius commune Gemeinnutz Gemeiner Nutzen Gemünden (Hessen) 167, 168, 177, 178, 182, 271 général vestry 232 General stände 24 Etats Généraux Genossenschaft - und Herrschaft 20 - und Lokal Verwaltung 210 - Recht 399 gens 430 Gent 65 f. Genua 9 Georg (Probst des Stifts Rottenbuch) 247 f. Gerhausen (Württemberg) 120, 121, 122 Gericht - und Ausrichtung 258 - im Dorf 446 - als Gegenstand kommunaler Doléances 39 - Justizgewährungspflicht 258 - und Regiment 257 f. - und Schutz der Verfassung 439 Niedergerichte Gerichtsbarkeit 117,138 - Beteiligung des Volkes 374 - kommunaler Einfluß bei Levellers und Sekten 381 - und Supplikation 289 Banngewalt, imperium, iurisdictio, ius statuendi, Statutargesetzgebung Gerichtsreform 380
484
Register
Gerichtsverfahren, Mündlichkeit 244 Gerstlacher, Carl Friedrich 325, 350, 356 Geschworenengerichte 388 f., 392 Gesellschaftsvertrag 448 - unter freien Haushaltsvorständen 394 - als Grundlage des Staates 439 - und die persona moralis 463 Gesetz 1 5 6 , 1 5 7 , 4 1 2 - Legitimation 4 1 3 , 4 4 4 - neues und geltendes Recht 449 f. - Öffentlichkeit 381 - und private Verträge 418 - Publikation als Geltungsvoraussetzung 157 - Publikation in der Muttersprache 369, 380 - und Statuten 418 - Wirkung 49, 157, 159, 223 Ordonnance Gesetzesinitiative von Korporationen 444 Gesetzesvorlagen als Gegenstand von Suppliken 279 f. Gesetzgebung 48, 412f. - und Akzeptanz 320 - Analogien zwischen Land- und Stadtgemeinden 416 - und bestehendes Recht 48, 443 - und Billigkeit 449 f. - Einfluß von Gemeinden auf staatliche Gesetzgebung 45 f., 110, 149, 168 f., 207, 320, 466 - Einfluß von Untertanen 6 1 , 3 2 0 - und Erweiterung des politischen Aktionsfeldes der Landschaft 142 - und Etats Généraux 26, 45 f. - zur Gemeindeverwaltung 416 - und Gemeinnutz 450 - Gesetzgebungskompetenz 179, 204, 206, 412f., 417, 422, 427f., 443f., 466 - Grade ständischer Mitwirkung und Gesetzgebungstypologie 48, 155 f., 179, 203 f. - und Herrschaftsvertrag l l O f . - von Land-und Stadtgemeinden 416 - durch Landschaftsausschüsse 110 - an Landtagen 168 f. - durch Landtagsausschüsse 107 f. - Legitimation 108,110,450 - und die lex omnes populi 412 - und lokale Rechte 112,221
-
Mitwirkungsformen 158, 168 f. als Nachvollzug lokaler Politik 222, 223 Norm und Ausnahme 318, 446, 450 zur Pfarrei 219 und das Prinzip quod omnes tangit 412 quantitative Zunahme 466 als Rechtsvereinheitlichung 142 ständische Mitwirkung 4 8 , 8 5 - 9 7 , 155160, 168 f., 179, 303 f. - und Suppliken 15, 168f., 279f., 320 - in überkommunalen Belangen 416,442 - und Vergleichung 85-94 - Vollzug 207 imperium, iurisdictio, ius statuendi, Statutargesetzgebung Gewälte 97-105, 135 - von Ämtern und Gemeinden 100 f. - für Ausschüsse 105 - und die Erhaltung alter Rechte 135 - und Gravamina 104 - und Haftung der Korporationen 97 - und Repräsentation 97, 9 9 f „ 101, 104 - Übertragung 97, 100, 104 Repräsentation Gewaltenteilung 19 Gewohnheitsrecht 401 - Bestätigung durch den Kaiser 418 - und Gesetzgebung 221 - als Schutz politischer Entscheide der Gemeinde 464 - und Vereinheitlichung des Rechts 51 - Verschriftlichung 50 f. -* Coutume Gibsoti, Edmund 377 Gierke, Otto von 8, 20, 398 f., 4 0 0 , 4 1 5 Gleichheit - aller Menschen 383 - vor dem Gesetz 368 glossa ordinaria 402 Glossatoren 406f., 464, 467 Gnadenbitte 302,334 Gneist, Rudolf 212 Gochsheim (Reichsdorf, Franken) 456 Göppingen (Württemberg) 97, 119, 125, 126, 128 Göttingen 457 Göttliches Recht 4 8 , 4 3 5 Goodwin, John 378 Goodwin, Thomas 374 Gothofredus, Dionysius 402, 403
Register Gräßlin, Emanuel (Supplikant) 340 Grafschaftsgerichte 209, 210 Grafschaftspetitionen 283 Gravamina 13, 120f„ 128, 149, 162, 163 f., 186, 302 - von Ämtern 120 - als Auslöser fürstlicher Gesetzgebung 170 - als Auslöser für die Veränderung rechtlicher Normen 317 - Behandlung an Landtagen 111, 122, 185 f., 165, 169, 185 f. - Beschwerde gegen die Herrschaft 302 - von Dörfern 120 - des dritten Standes 14, 19 f., 120 - Entstehung 120 - und die Erhaltung alter Rechte 135 - Erledigung als Bedingung für rechtskräftige Vereinbarungen 83 - Frist für die Einreichung 118 - Gültigkeit 118 - und Konsentierung 130,206 - und Legitimation politischer Macht 19 - und Repräsentation 104 f., 118 f. - und ihre Resolution 129-146 - von Stadt und Amt 126-129 - und Steuerbewilligung 92 - und Supplikationen 14, 128, 196,303, 320 - und Vergleichung 85, 112 Amtsgravamina, Desideria, petition, ständische Beschwerden Great Remonstrance 279 Grebenstein (Hessen) 167, 175, 178,204, 316,317 Gregorius (Tholosanus), Petrus 409 f., 434 Gret Neston (Cheshire) 284 Grether, Wilhelm Jacob (Nadler aus Lörrach) 346 Grimmel (Student aus Marburg) 309 Grötzingen (Württemberg) 79, 127 großer Ausschuß 109 f. - Petitionsrecht 82 - und das Prinzip quod omnes tangit 110 - Repräsentation und Konsens 108, 109 - verfassungsrechtliche Funktion 108 -•Ausschüsse Grotius, Hugo 404, 420, 426 Groton (Suffolk) 221 Gruibingen (Württemberg) 125
485
Gruppensuppliken 28, 330, 337 f. Gudensberg (Hessen) 167 Güteversuch als juristische Voraussetzung für Supplikation 293 f. Güttin (Wirt aus Haltingen) 343 Guildford 280 - Pfarrei St Nicholas 224, 276 Gundelfingen, Jörg von (Hofmeister) 251 Gutach (Württemberg) 123 H Häfnerhaslach (Württemberg) 115 Halle 447 Haltingen (Baden-Durlach) 341,343 Haiton (Buckinghamshire) 286 Hanau (Hessen) 151 Harfleur 55 Harle (Hessen) 318 Harmuthsachsen (Hessen) 315 Haughton (grand juryman) 228 Haugstett (Württemberg) 117,127 Hausen (Württemberg) 127 Haushaltsvorstände 392 -
als Gemeindemitglieder 214 Mitspracherecht in der Kirche 372 Souveränität 393 f. Verfügungsfreiheit über Eigen und Zugewinn 89 - Wahlrecht 369 Hausnotdurft 10 Heidenheim (Württemberg) 128 Heimbürgen 453, 465 Heinrich (Probst des Stifts Rottenbuch) 245 Helmarshausen (Hessen) 166, 175, 178, 204,314,319 Helwys, Thomas 372 Heppe, Theodor von 165,166 Herkommen 90, 444 - als Begründung für Landstandschaft 161 - als Beschränkung von Herrschaft 119, 123, 155, 236 - in Gemeinden 236,443 - und Strafen 136 f. - und Supplikation 272, 277, 278, 299, 321 - und übergeordnetes Recht 443 - als verglichenes Recht 122 - Verschriftlichung 458
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Register
Herleshausen (Hessen) 197 Herrenberg (Württemberg) 101, 103, 109, 127,128 Herrschaft - in frühneuzeitlichen Theorien 3 , 4 2 4 - Verbürgerlichung 73 f. - Zweck 362, 439 f. Herrschaftsvertrag 426,448, 465 - und Gesetzgebung llOf. Hersfeld (Hessen) 166, 167, 168, 204, 318 Hert, Johann Nicolaus 462 f. Hertford 367 Hertingen (Baden-Durlach) 332 Herz, Jacob (Supplikant) 318 Heß, Martin (Wirt) 343 Hessen 7, 11, 13, 14 - Amalie Elisabeth 183 - Friedrich 1. (schwedischer König) 159, 169f„ 176, 192, 304,310 - Friedrich II. 1 5 2 , 1 8 9 , 2 0 2 - Karl 166, 176, 180, 205, 304, 316 - Moritz 183 - Philipp der Großmütige 151, 161, 174 - Wilhelm V. 183 - Wilhelm VI. 184, 186 - Wilhelm VIII. 152, 159, 170, 304, 310, 313 - Wilhelm IX. 188 Hessen-Darmstadt 183 Hessigheim (Württemberg) 103 Hintergang und Spruchentscheid 251 Hochberg (Baden-Durlach) 351 Hof (Württemberg) 103 Hofgeismar (Hessen) 166,175,178 Hofgericht 243 f., 256, 258 - Arbeitsweise 261 f. - Periodizität 262 - Vollmachten 262 f. - Zusammensetzung 261 f. Hofrat 261 ff. Hoheitsrechte - als Gegenstand von Suppliken 296 - und Regalientheorie 132 f. Hohenberg (Württemberg) 119 Hoheneck (Württemberg) 79, 97 Holzelfingen (Württemberg) 115 Holzen (Baden-Durlach) 340 Holzgericht 453 Holzheim (Hessen) 204
Homberg (Hessen) 167, 176, 177, 204 Homburg 319 Hönau (Württemberg) 115 honor 74 Ehre, Stand Horkheim (Württemberg) 101 Hornberg (Württemberg) 101, 115, 119, 123, 124, 126, 128 Horsham (Sussex) 223 Huber, Ulricus 409 Hügelheim (Baden-Durlach) 331, 337, 340 Huldigung - als Anlaß, Beschwerden zu formulieren 305 - Recht auf Verweigerung 76 f. The Humble Petition 367, 368, 369, 388 hundred 363, 389 Husanus, Johann Friedrich 451 Hussitenaufstände 381 Hynde Cotton, John (Parlamentsabgeordneter) 281 I Illiers (Bailliage von Chartres) 37 Ilsfeld (Württemberg) 101 Immenhausen (Hessen) 175, 178, 271 Immunitäten 431 imperium - Entstehung 448 - und obligatio 448 incorporatio • Inkorporation Independente - und die Anwendung weltlicher Verwaltungsmodelle auf die Kirche 382 - Gemeindemodell 376 ff. - Glaubensbekenntnis 375 - Verfassungs- und Reformvorstellungen 380 Indersdorf (Bayern) 256 individuelle Entscheidungsprozesse bei den Levellers und in Sekten 381 Inkorporation 98, 106,423 - von Ämtern und Klosterämtern in die württembergische Landschaft 106 f. - von boroughs 211 - von Kirchen 140 Institutionenbildung - als Folge gesellschaftlicher Erfordernisse 265
Register - als Folge der Supplikenflut 14f., 16, 259, 263, 321 Interzession 302 - Ausbau zu einem politischen Instrument 79 - und Beschwerden von Ämtern und Gemeinden 79, 80, 128 - der Ehrbarkeit 77 - und der Einfluß der Landschaft auf Rechtsprechung 146 f . - und Klage- und Beschwerderecht der Landschaft 77 - Konkurrenz durch Suppliken 145 - von Korporationen 7 7 , 7 8 , 8 1 , 128 - der Landschaft 77, 78, 79, 81, 145 - als Merkmal von Frauensuppliken 339 f. - und Repräsentation 128 Ireton, Henry 371, 381, 392, 396 Island 6 Italien 3 , 4 , 6 , 9 iurisdictio 399,424 - und administratio 92 - Ausübung im Dorf 452 f. - und Deliktfähigkeit 422 - der Gemeinde 442, 444, 445, 453, 463 - und Gesetzgebungskompetenz 428, 442 - und Privilegien 442 - als Unterscheidungsmerkmal verschiedener Gemeinde-Kategorien 414 - Unterschiede zwischen Land- und Stadtgemeinden 416 - als Voraussetzung für das ius statuendi 413 ius statuendi, Statutargesetzgebung iurisprudentia naturalis, System 447 ius archivi 162 ius civile 407 ius commune 399,401, 403-406 - undaequitas 413 - und ius proprium 413 ius gentium 404 - als Begrenzung der Herrschersouveränität 435 ius metrocomiae 188 f., 316 f. ius patronatus und der Einfluß der Landschaft auf das Regiment 75 ius praetorium 444 ius proprium und ius commune 413 ius recipiendi Judaeos 186 ius retorsionis 461
487
ius statuendi - Herleitung in der mittelalterlichen Rechtslehre 412 f. - von villae und castra 413 - des Volkes 412 f. - Voraussetzungen 413 ->• Banngewalt, Statutargesetzgebung ius universitatis und Stadtrecht 441 Ives, Jeremiah 378
J Jarrold, John (Tuchhändler) 220 Jena 451 Jenichen, Gottlob August 456 f. Jenkins (Pfarreiausschußmitglied) 228 Johannes (Abt des Klosters Ettal) 252 Johannes (Abt des Klosters Steingaden) 254 Juden - als Absender von Suppliken 318,327, 332 f., 341 ff. - Ausschluß von Gewerben 317 f. - Umsiedlung 187 f. Judenpolitik - als Gegenstand von Desideria 178,184, 186 ff., 205 - und Supplik 312, 317 f. Judenschutz 312, 336, 341, 344 ff., 353 Junkemdörfer und Amtsdörfer 452 jurisdictio - • iurisdictio Juristen - und Ämterbeschwerden 131 - politischer Einfluß 131,299 - und das Supplikenwesen 289, 299 Justices of the Peace 209 f. Justinian 402 Justizgewährungspflicht des Landesherrn 257 f. Justiznutzung 330 Justizopfer-Entschädigung 380 Juxon, William 230, 234
K Kaiserstuhl 330 Kammergericht 417, 419f. Kandern (Baden-Durlach) 330, 337 Kanonisches Recht 403 - Beitrag zur Korporationslehre 411 - und gemeines Recht 411 Karlshagen (Hessen) 166
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Register
Karlsruhe 330, 344, 349 Kassel 169, 171, 177, 178, 182, 183, 192, 193, 204, 272, 307, 309, 310, 315 Kastilien 13 Kent 283 f. Kiffin, William 378, 384 Kirchen (Baden-Durlach) 327, 328 Kirchengut - als Gegenstand von Gemeindesuppliken 276, 278 - Verwaltung 453, 455 Kirchenpfleger 209, 219, 222 - Amtspflicht 225 f. - Haftung für Steuern 225 - Rechnungsablage 233 - Wahl durch die Gemeindeversammlung 215 Kirchgemeinde 209 - Güterverwaltung 214 - Kompetenzen der Gemeindemitglieder 374 - und Lokalverwaltung in England 209 - Oligarchisierung 215 - Steuererhebung 215 Pfarrei Kirchhain (Hessen) 166, 167, 168, 177, 178, 182, 183, 195, 271, 315, 318, 319 Kirchhausen (Baden-Durlach) 343 Kirchheim (Württemberg) 1 0 9 , 1 2 7 Kirnbach (Württemberg) 123 Kleinaspach (Württemberg) 103 Kleineislingen (Württemberg) 125 kleiner Ausschuß 80 f. - Kooptation 81 - Petitionsrecht 80 - als Repräsentant der Landschaft 82 f., 117 - Wahl 81 - Weisungsberechtigung gegenüber Amtleuten 117 Ausschüsse Klosterämter in Württemberg 106 f. - Beschwerden 127 - und Landschaft 81, 106 f. - minderprivilegierte Ehrbarkeit 106 f. Knicken, Rudolf Gottfried 425 f. Knight, Thomas (Dorfpolizist) 220 Knipschild, Philipp 434 Knittlingen (Württemberg) 107,131
Köckel, Johann (Bürger von Grebenstein) 316 Körperschaft ->• Korporation Körperschaftsrecht -»• Korporationsrecht kommunale Amtsträger Gemeinde Amtsträger kommunale Beschwerden -»• Gemeindebeschwerden kommunale Bittschriften 54, 57, 58 Bittschriften, Gemeindesuppliken, Supplik kommunale Suppliken -•Gemeindesuppliken Kommunalismus 23 Kongregationalismus -> Congregationalism Konrad (Abt des Klosters Ettal) 250 Konsens 1 4 4 , 2 7 2 - von Herrschaft im Namen der Untertanen 161 - der Landstände zu Landesordnungen 158 - der Rechtsgenossen 156, 157 Vergleichung Konsilien (Rechtsgutachten) 402 Konstitutionen, Kaiser-Konstitutionen 402 Konsultation -> Rat (und Hilfe) Korporation 28f., 66, 4 1 9 , 4 2 8 , 4 3 8 f . -
Autonomie 135 Banngewalt 86f., 134-139 Behörden 29 Beschlüsse 421 Beschwerden und Bitten 57 f., 122, 146, 256 Deliktfähigkeit 421 Einfluß auf den Vollzug der Policeygesetzgebung 350 Entstehung 4 1 1 , 4 1 5 Funktion im Staat 439 f. gesellschaftliche Funktion 466 und Handelsgesellschaften 450 Interzessionsgewalt, Legitimation 128 „Körperschaften höherer Stufe" 399 Konfliktregelung 225, 227, 289 Mitgliederaufnahme 29 Mitgliederversammlung 2 9 , 4 2 1 und Policey 29 Rechte 29, 112 f., 74, 1 2 5 , 4 4 0 Rechtsvertreter 4 1 5 , 4 1 9 Repräsentation 98ff., 122
Register - Schutz der Rechte vor herrschaftlichen Eingriffen 4 3 6 , 4 3 9 - und die societas privata 450 - und Staat 2 1 0 , 4 3 9 - Suppliken 289 f. - und Territorium 411 - Verhältnis zu den Mitgliedern 415 - Verteidigungspolitik 29 - Vertretung auf Landtagen 9 7 - 1 0 5 , 1 6 3 - Wahlen 29 - • A m t , Corps, corpus, Gemeinde, Landschaft, Pfarrei, universitas, Zunft Korporationslehre 19, 20, 3 9 9 , 4 0 5 , 410, 4 1 1 , 4 2 5 , 4 6 5 ff. - und altes Recht 139 - gemeinrechtliche 405 - juristische Handlungsfähigkeit 410 - der Kanonisten 415 - Rechtsvertretung 410 - Repräsentation 98 f. - und Staatstheorie 19 - und Vereinsrecht 467 Korporationstheorie ->• Korporationslehre Kreittmayr, Wiguläus Xaver Aloys 433, 462, 464, 4 6 6 Kriegslasten als Gegenstand kommunaler Doléances 42 ff. Kriminalgerichtsbarkeit 334
L ländliche Gemeinde Landgemeinde Lagerbuchrecht - und Vergleichung 137 f. - und Widerstand gegen die Verschärfung der Strafpraxis 136 f. Lagerbücher 94 ff. Lambe, Thomas 378 Lancashire 210 Landesherr - als Partei 90, 172 - als Richter 257 f. Landesordnungen 142 - Berufung auf Landtagsbeschlüsse 87, 179-181 - als Einschränkung der landesherrlichen libéra potestas 131,142 - kommunaler Einfluß 149, 159 f. - und Konsensrecht der Landschaft 94, 96 f. - Publikation 87, 157
489
- als Rechtsgebot 156, 158 - ständischer Einfluß 158 - Verbesserung 91 - Vergleich mit Beschwerden 13 - und Vergleichung 85, 8 7 , 9 1 , 142 Landes Verbesserungspunkte 191-196, 204 - und Enqueten als Informationsbeschaffung 192 f. - Ursprung 194 f. - Vergleich mit ständischen Desideria 192, 193, 195 Supplik Landgemeinde 19, 31, 32, 394, 398 f. - Beschlußfähigkeit 31 - als Corps 2 9 - 3 2 - als Einwohnerverband 31 - gemeinsame Interessen mit dem Staat 65 - und Kirchgemeinde 31 - in Landrechtskodifikationen 462 - Mitgliederversammlung 387 - Organisation 31 - und „police rurale" 31 - politischer Einfluß 30 ff., 65 - und Privilegien 417 - in der Rechtswissenschaft 4 0 6 - 4 1 0 , 411—417 - Regiment 235 f., 4 0 9 - und Stadtgemeinde 5 , 6 , 4 1 6 , 4 2 8 - und Statuten 19 - Stellung im Staat 325 - Verhältnis zur Gerichtsherrschaft 452 ->• Castrum, communitas, Dorf, Gemeinde, pagus, Pfarrei, universitas, vicus, villa Landkommunikationstag von 1731 (Hessen-Kassel) 169-183 Landrat (Hessen) 197 f. Landrecht 9 0 f f „ 158 f., 4 4 9 - und Approbation der Landschaft 90 - und Beschwerden 91 - Entstehung 89 f. - Kodifikationen 4 3 3 , 4 6 2 Landesordnungen Landsberg (Bayern) 246, 253 Landschaft 80 f., 146, 198 - und Bescliwerden 79, 145, 303 - Einfluß auf die Gesetzgebung 85-97, 129,171-179 - Einfluß auf das Regiment 75 f., 80
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Register
- und hergebrachtes Recht der Ämter, Gerichte und Gemeinden 83 - Interzessionsgewalt 77 f., 80, 107, 118, 146 - als Konkurrenz zur landesherrlichen Verwaltung 107 - als Korporation 77, 78 f. - Legitimation 75 - Petitionsrecht und lokale korporative Rechte 146 - politisches Gewicht 7 9 , 8 3 , 8 4 , 113,
206 - und Repräsentation 107, 118 - in der Staatsrechtstheorie 154 - und Vergleichung 85, 89 - Verwaltung des Kammergutes 80 Landschaftsadvokat 83, 84, 104 Landschaftsausschüsse - und Ämterrepräsentation 106-113 - Entwicklung 79 - als Ersatz für Landtage 105 Ausschüsse Landschaftsrechte 10 Landshut 264,265 Landstadt - und consuetudo 459 - und Retorsionsmaßnahmen 461 f. - und Statutargesetzgebung 459 ff. - Stellung im Staat 428 Landstände 149-153 - Archiv 162 - und Aufklärung 189 - Bitten und Beschwerden, Desideria 188, 204 - und Einschränkung von Fürstensouveränität 155 - und Gesetzgebung 151 f., 153, 155, 159, 163 ff., 168, 170 f., 179 ff., 185, 203 ff., 206,443 - Gutachten zu Landesordnungen 185 - Initiativrecht 158 f., 164 - Interessengegensätze innerhalb der Landstände 174-179 - Kanzlei 162 - Kasse 162 - politisches Gewicht von Landschaft und Ritterschaft 174-179, 198 - Rat und Hilfe 437 - Regierungsbeteiligung 151
- Steuerbewilligung 151, 152, 162, 168, 176, 205 f.,437 - Steuererhebung 425 - Syndicus 162 -*• Etats Provinciaux landständischer Deputationstag ständische Versammlung vor Landtagen Landstandschaft 160 f. - von Ämtern und Städten 69 f. - von Dorfgemeinden 69, 70 - und Hochgerichtsbarkeit 106 f. - von Korporationen 98 - der Landbevölkerung 243 Landtag 71, 72f., 76, 87,96f., 105, 163f„ 168, 169, 183, 201,206,243 - und Absicherung der Landesfreiheiten durch Anbringen 111 - Ausschreiben 117, 158, 162 - und bäuerliche Klagen 189 f. - Bitte und Gegenbitte 73 - Erfolg 170-191 - als Institution 160-168, 183 - Kurien 160, 162 f. - und Landschaftsausschüsse 105 - Landtagspflicht 97 - Mandat der Deputierten 97-105, 162 - Periodizität 152 - politisches Gewicht der Kurien 107, 171,206 - Präsidium 162 - Repräsentation von Korporationen 70, 96f., 98, 106f. - und „Staat" 108 - staatsrechtliche Grundlage 158 - und Steuerbewilligung 140 - und Suppliken 192 f. - Tagungshäufigkeit 163 - a l s Verstärker des Protestes von Untertanen 201 - Wahl und Konsentierung der Delegierten 97, 100, 110, 168 - Zuständigkeit 164 Landtagsabschiede 85 f., 90, 163 - Adressaten 175 f. - und Amtsgravamina 122 - Entstehungsprozeß 90 f., 164 - Gegenstände 164 f. - und Grundrechte 142 - als Landesgesetze 13 - Publikation 165, 170, 171, 175, 179
Register - Verbindlichkeit 164 f., 171, 175, 181 ->• Tübinger Vertrag Landtagsbesch werden 115-119 - Beweispflicht 116 f., 125 f. - Einfluß auf die Gesetzgebung 318 - Konkurrenz durch Suppliken 318 - und Landesfreiheiten 125 f. - und lokale Forderungen 125 f. - Verfahren 118 Landtagsverordnung Verordnung über die Abhaltung der Landtage Langes Parlament 280 Languedoc 4 6 , 4 7 , 58, 59, 6 3 , 4 0 7 Laon 30 Laud, William 235, 373 Laufen gen Hof 241 f., 244 f., 249, 255 f., 331 - Anrufung des Landesherrn in seiner Funktion als Vogt 258 - als Beschwerde verfahren 256 f. - und institutionelle Zentralisierung des Staates 259, 263 - Regulierung durch die Obrigkeit 263 f. - als Schlichtungsverfahren 256 f. - Unterschiede zum Schiedsverfahren 256 f. Lauterbach, Wolfgang Adam 400, 409, 433, 4 4 3 ^ 4 6 , 453, 463, 464,466, 467 Ledderhose, C.W. 151, 158, 159, 160, 162, 163, 164 Lehrlinge, politische Rechte 386 Leibniz, Gottfried Wilhelm 405, 456 Leighton (Cheshire) 284 Leiser, Gottfried Christian 408,451-454, 455, 457, 4 6 2 , 4 6 4 , 4 6 5 Lembach (Württemberg) 103 Leonberg (Württemberg) 101,103,127, 128 Leu, Hans Jacob 463 Levainville (Bailliage von Chartres) 37 Levellers 234, 238, 362, 382, 385 - Abgrenzung zu den Calvinisten und zu Sekten 3 6 3 , 3 7 1 , 3 8 4 - Agitation in der Armee 366 f. - als christliche Reformbewegung 381 - Demonstrationen 366 - und Diggers 370 - Forderungen 361 ff., 367-370,371,386, 394 - und Independente 371
491
- individuelle und korporative Rechte 389 - kommunales Bewußtsein 385, 388, 389 f. - konservative und revolutionäre Elemente 386, 387, 395 - Legitimation von Macht 379, 385 - Mobilisierung der Massen 365 f. - naturrechtliche Impulse 385, 392, 396 - personelle Bezüge zu Sekten 378 - politisches Engagement von Frauen 366 - politische Literatur 368 - politisches Programm und kommunale Erfahrung 362 f., 367 f., 371, 382, 386, 389, 390, 392, 394, 395, 396 - als politische Bewegung 362, 366 - und Presbyterianer 370 - Reaktion der Machthaber 365 f. - religiöse Motive 362 - und Royalisten 370 - und self-governing communities 363 - soziale Herkunft 368 - Traktate 364 f. - Unterscheidung von Kirche und Staat 383 - Verbindung von kommunaler und nationaler Reform 392 ff. - Verfassungsentwürfe 366 - verfassungstheoretische Grundlagen 383 - Verfassungs- und Reformvorstellungen 379-385, 394 - weltlich-pragmatische Motivation 384 Levi, Perez (Supplikant) 318 Levi, Siemon (Supplikant) 318 lex divina 444 lex humana 444 lex naturalis 444 lex positiva 444 lex omnes populi 415 Lichtenau (Hessen) 166, 177, 178, 182 Liebenau (Hessen) 175, 178, 204 Liebenzell (Württemberg) 103 Lilburne, Elizabeth 366 Lilburne, John 362, 366, 367, 368, 369, 378, 379, 383, 386, 387, 390, 393, 394, 395, 396 Limoges 55, 59 Liplanté Lyplanté
492
Register
Lisieux 55 local government 212 -> self government Loches 62 Locke, John 18 Löchgau (Württemberg) 103 Lörrach (Baden-Durlach) 327, 330, 331, 344, 346, 351 Lokal Verwaltung 211 - Beteiligung der Bevölkerung 388 - Eingriffsmöglichkeiten der Obrigkeit 221 - Einfluß auf die Forderungen der Levellers 3 6 3 , 3 7 1 - als Vorbild für staatliche Organisation und Gesetzgebung 222 London 236, 280, 282, 286, 366, 379, 386 - Petitionsrecht der City 281 - Verfassungsverhältnisse 387 Londoner Pfarreien 230 - All Hallows Lombard Street 232 - Holy Trinity Minories 2 2 9 , 2 3 1 - Old Jewry 378 - St Agnes and Anne 233 - St Alban Wood Street 232 - St Andrew Holborn 231 - St Andrew Hubbard 215 - St Anne Blackfriars 231 - St Austin 224 - St Bartholomew Exchange 232 - St Botolph Aldersgate 2 1 4 , 2 1 8 , 2 2 0 , 221, 223 f., 226, 227, 228f., 232f., 234, 392 - St Botolph Billingsgate 231 - St Clement Eastcheap 231 - St George Botolph Lane 231 - St Giles-in-the-Fields 232 - St James Garlickhithe 3 9 0 , 3 9 1 , 3 9 2 - St ¡Catherine Cree 235 - St Lawrence Jewry 235 - St Lawrence Pountney 235 - St Magnus Martyr 231 - St Margaret Lothbury 232 - St Margaret Moses 231 - St Martin-in-the-Fields 231 - St Mary Aldermanbury 232 - St Mary Magdalene Fish Street 231 - St Michael Wood Street 231 - St Olave Hart Street 232 - St Peter Poor 231 - St Saviour Southwark 234
- St Stephen Coleman Street 2 3 1 , 3 7 8 , 392 Long Melford (Suffolk) 2 1 7 , 2 1 8 , 2 2 0 , 223, 275 Losaeus, Nicolaus 400, 408, 410, 4 2 6 4 3 3 , 4 3 6 , 438, 445, 463, 466 Lothar-Legende 3 9 7 , 4 1 7 La Loupe (Bailliage von Chartres) 37, 61 Loyseau, Charles 397, 398, 417 Luther, Martin 379 Lyndwood, William 377 Lyon 54, 55, 56 - Erzbischof von 66 Lyplante (Bailliage von Chartres) 37, 39 M Märzordonnanz (von 1357) 49 Mahlberg (Oberamt; Baden-Durlach) 330 Mahlsburg, Otto von der 184 Malblank, Julius Friedich 4 Malpas (Cheshire) 284 Malsburg (Baden-Durlach) 340 A Manifestation 3 6 2 , 3 8 4 manor 387 manor court 210, 387 - und königliche Gerichtsbarkeit 210 - und lokale Selbstverwaltung 210 Mansfield, Ann (Witwe) 220 Manumissionsgesuche 352 Marbach (Württemberg) 97 Marburg 167 f., 177, 182, 1 9 2 , 2 0 4 Marbury (Cheshire) 284 Marbury, Edward (Pfarrer von St James) 391 Marktflecken - und iurisdictio 463 - Selbstverwaltung 211 ->• Flecken Marsilius von Padua 429 Marx, Karl 20 Maulbronn (Württemberg) 98, 107, 109, 127, 131, 135 Maurer, Martin (Supplikant) 340 Mazarinades 54 Mehrheitsprinzip - bei Abstimmungen im Landtag 163 - Anwendungen 415 - in Bürgermeisterwahlen 166 f. - Legitimation 433 - und das Wiegen von Stimmen 437
Register Meier, Elias (Judenvorsteher von Müllheim) 327 Meier, Israel 327 Meier, Jacob (Alt-Judenvorsteher von Müllheim) 327, 344 Melsungen (Hessen) 167,318 Menesse, Thomas (solicitor der Cinque Ports) 279 Merklingen (Klosteramt) 117, 126, 127 Metzingen (Württemberg) 86, 95 f., 114, 144 Metzler, Friedrich (Ratsschöffe) 166 f. Meyerding 453 Mildenhall (Suffolk) 235 Millau 5 5 , 5 6 Mirepoix 55 Mitglieder der societas, Rechte 448 Mitgliederaufnahme bei den Kongregationalisten 374 mittelalterliches Recht 401 Mittelitalien 10 - Städte 4 moderner Staat lf., 18 Modernisierung 2 Monarchie 18 - als Regierungsform für große populi 414 Monopole 369,380 More, Thomas 321 Moser, Johann Jacob 77, 85, 90, 91, 92, 93, 119, 129, 131, 133, 134, 154, 155, 456 Moulins 57 The mournefull Cryes of many thousand Tradesmen 366 Moutiers en Beauce (Bailliage von Chartres) 37 Müller, Sebastian (Metzger) 355 Müllheim (Baden-Durlach) 327, 330,332, 344 München 241, 245-255, 259, 262, 264 f. Münsingen (Württemberg) 114,115 municipium 428 - Begriff 407 - als Korporations-Kategorie 449 - im römischen Recht 411 Murnau (Bayern) 251,256 Murrhardt (Württemberg) 131 Mynsinger, Joachim 417,419, 422 f., 424
493
N Nagold (Württemberg) 103, 104 „Nahrung" - als Argument für den Ausschluß der Dörfer von städtischen Privilegien 438 - als Argument zur Wahrung der Interessen einzelner Stände 173ff., 187, 354, 454,456 - als Argument gegen einen direkten Zugang zum Recht für Nichtjuristen 349 - und landesherrliche Wirtschaftspolitik 354 - und die Legitimation des Policeystaates 456 Nantes 59 Naturrecht 396,447 - deutsches, im Unterschied zum französischen und englischen 405 - und Dorf- und Bauernrechte 462 - Einfluß auf Levellers 362 - und die Korporationslehre des usus modernus 462 - als Legitimation des gemeinen Rechts 405, 462 - und die Systematisierung geltenden Rechts 447 Neidlingen (Württemberg) 103 neighbourhood 389 Nellenburg (Württemberg) 119 Neothomismus 362 Nettelbladt, Daniel 405, 447^*50, 451, 462, 467 Neuenbürg (Württemberg) 101,108 Neuenstadt (Württemberg) 127,128 Neuenweg (Baden-Durlach) 340 Neuffen (Württemberg) 127,128 Neukirchen (Hessen) 166, 175, 193, 194, 195 Neu weiler (Württemberg) 102 Nevers, Nivernais 27, 55 Niedenstein (Hessen) 204,271 Niederbayern 260, 264 - Georg 264, 265 - Ludwig 261 Niedergerichte - Beschwerderecht 120 - hergebrachte Rechte 83 - honor und onus 74 f. - und württembergische Ämter 69 Niederhofen (Württemberg) 102
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Register
Niederlande 3, 4, 152, 374,426 Niederthalhausen (Hessen) 318 Niederweiler (Baden-Durlach) 330 Nogent 54 Nordfrankreich 27, 10 Norris, J. 365 Norwegen 6, 15 Norwich 217 Novellen 402 Noyon 52 Nürtingen (Württemberg) 79, 101, 103, 109, 127, 128 Nuisement (Bailliage von Chartres) 37 Nutton, Edward (Tuchhändler, PfarreiTreuhänder) 222 Nutton, Samuel 222 Nye, Philip 374 O Oates, Samuel 378 Oberammergau (Bayern) 249 Oberaula (Hessen) 198 Oberbayern 260 f., 263 Oberbeisheim (Hessen) 204 Oberelsungen (Hessen) 204 Obergeis (Hessen) 193 Oberhausen (Württemberg) 115 Oberitalien 463 Obermeier (Vogt und Wirt aus Hertingen) 332 Obernkirchen (Hessen) 198 Oberschwaben 10 Oberthalhausen (Hessen) 318 Oldendorf (Hessen) 196, 204, 317 Oldendorp, Johann 420 f. onus und Dorfgemeinden 75 open vestry 235 oppidum 406, 409 Ordonnance 48, 50 - Änderungen durch Gerichte 50 - und Beschwerden des Dritten Standes 26, 52 - undCoutumes 52,61 - Publikation 50 - in der Rechtslehre 48 - Status 48 - und das Verhältnis von Gemeinde und Staat 61 - Widerruf 49 -»• Gesetz
Ordonnance von Amboise (von 1498) 51 Ordonnance von Blois (von 1579) 50, 64 f. - als édit 48 - und kommunale Doléances 36-46 - und Suppliken 53 - Wirkung 49 Ordonnance Cabochienne (von 1415) 49 Ordonnance von Montil-lez-Tours (von 1456) 50 Ordonnance von Moulins 57 Ordonnance von Villers-Cotterêts (von 1539) 55, 56 Orléans 3 3 , 3 5 , 5 4 , 5 5 Ormoy (Bailliage von Chartres) 37, 42 An orthodox Creed (1679) 377 Overton (vestry-Mitglied von St Stephen Coleman Street) 392 Overton, Mary 366 Overton, Richard 362, 368, 370, 378, 379, 384, 385, 389, (392), 393
P Päpste - Clemens IV. 275 - Innocenz IV. 415, 420, 421 - Julius II. 275 Pagington, Anne 221 pagus - in Dorf- und Bauernrechten 409 - Gemeindegüter, Rechtsanspruch 424 - als Korporations-Typ 449 - im usus modernus 4 0 9 , 4 4 6 Dorf, Landgemeinde Pandekten 402 Pandektensystem 447 Pappelau (Württemberg) 125,139 Paris 2 7 , 5 7 parish Pfarrei Parlament 364 f. - als Absender von Suppliken 279 - als Adressat von Bittschriften 269,277, 279 f. - Einberufung als Gegenstand von Petitionen 283 - Periodizität 369, 380 - Verhandlungsmechanismen 13 - Wahlen 364, 387 - Zugang 12
Register -*• Ständeversammlungen parlamentum als repräsentatives Organ der Gemeinde 9 Parlement von Paris - und Coutumes 51 - und Eigentumsansprüche und Freiheitsvorstellungen von Bauern 16 f. - und königliche Gesetzgebung 48 Parlement von Rennes 62 Passauer Vertrag 105 Paurmeister, Tobias 434 pax rusticorum 10 Pays d'Etats und Pays d'Election 66 Pays de Lalleu 63 Penrith 286 Perigord 47 Peronne 30 persona ficta 411,463 persona moralis 447,463 Perugia 414 Petita Desideria, Gravamina Petition 301,302,303,321,322 Petition 13,224,276,277 - und Appellation an den Staatsrat 223 - als Auslöser von Reformen 282 - Behandlung durch Ausschüsse städtischer Korporationen 225 - und das Bild vom gerechten König 276 - und Bürokratisierung 281 - Formalisierung 276 - gesetzliche Regelung 280 f. - und Institutionenbildung 277 - und politische Öffentlichkeit 269,283 - Publikation 283 - an städtische Behörden 285 - Unterschriftensammlungen 283 -* Grafschaftspetitionen, Gravamina, ständische Beschwerden, Supplik Petition of right - in juristischen Verfahren 279 - als politisches Instrument 279 Petitionsrecht 81, 82, 144, 273, 281, 322 - der Ausschüsse 82 - und Gesetzesinitiative 80 - verfassungsrechtliche Bedeutung 82 Petty, Maximilian 390 Pfändungsrecht 453,462 Pfarrei 4, 5, 7f„ 211, 226, 363, 377, 385, 389, 391 f., 393, 395
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- und andere Lokalverwaltungseinheiten 227 - als Auftraggeberin von Rechtsgutachten 225 - Ausschuß 221,223,228, 229f.,232ff„ 391-»select vestry - Einfluß auf die Steuerumlage 226 - Einflüsse der Zentralgewalt 212f„ 219 - und equity Jurisdiction 214 - und Friedensrichter 216,220,224 - und Gemeindeautonomie 218 - als Gemeindeform 211,213,216 - in der Gesetzgebung 219 - als Grundeinheit der politischen Organisation 216,238,389 - herrschaftliche Einflüsse 218 - Institutionalisierung 236 - und Institutionenbildung 7 - als Instrument herrschaftlicher Verwaltung 211 - und kirchliche Gerichtsbarkeit 377 - und korporative Rechte 216 - Laienämter 213 - und liberale Demokratie 211 - als „miniature kingdom of ist own" 229 - ökonomische Basis 216 - Oligarchisierung 230, 234 f., 386 - und parlamentarische Gesetzgebung 230 - pétitions 223 f., 278 - Pflichten der Pfarrgenossen 213 - Politisierung 212,216,236 - Rechenschaftspflicht der Kirchenpfleger 377 - Rechtspersönlichkeit 214, 225 - Rechtsvertreter 223 f., 225 - und Reformation 212,213 - und Schulwesen 222 f. - Selbstverwaltung 211,214,227 - Siegelrecht 214 - und Staat 229 - staatliche Aufgaben 214,237 - und Statutargesetzgebung 226 - und die traditionelle politische Führungsschicht 216 - Umsetzung von Gesetzen in der Praxis 218,219, 226 - Vermögensfähigkeit 213,214 - Verwaltung 214,217,227 - Wahlen 228, 377
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Register
- und Widerstand 225 f., 234 f. Gemeinde, Kirchenpfleger, Kirchgemeinde Pfarrgemeinde Pfarrei Pfeiffer, Burckhard Wilhelm 150,152,159, 184, 188, 191 Pfullingen (Württemberg) 114,115 Pittington (Grafschaft Durham) 230 plebiscitum 444 plena potestas des Landesherm - Begriff 300 - Förderung durch das Supplikationswesen 145 Plympton 283 Poitiers 30 Policey 180 f., 460, 464 - Beeinflussung durch Desideria 173-179 - Beeinflussung durch Supplikation 201, 206 f., 350 - im Dorf und in der Stadt 466 f. - als Gegenstand lokaler Doléances 39 - und Gravamina von Bürgern und Bauern 14 - Grundlagen 138 - Legitimation 467 - Mitgestaltung durch die Untertanen 330 - als Mittel frühmoderner Staatsbildung 14 - als Reaktion auf Desideria 190 f., 206 f. - und Staat 456 Polizeiordnung - als Ergänzung zu kommunalen Satzungen 14 - und Forderungen von Städten und Dörfern 19 f. - als Rechtsgebote 156 - als redaktionell überarbeitete Gravamina 14 populus 430 Postglossatoren 402 f. praesumptio libertatis 424, 455 pragmaticae sanctiones als constitutiones motu alieno 444 precinct 228 Presbyterianer 374, 375 - Anwendung weltlicher Verwaltungsmodelle auf die Kirche 382 - Gemeindemodell 376 ff.
- Verfassungs- und Reformvorstellungen 380 Prestbury 276 f. Preußen 152 Prince, Thomas 362, 366, 379 Privateigentum 424, 425 Privatrecht - und Coutumes 52 - in Stadt und Dorf 438 privilegia rusticorum 452, 453 Privilegien 73 f., 401,432, 435, 438 - und Auskömmlichkeit 438 - und Besitz 73 - Bestätigung durch den Kaiser 418 - und Billigkeit 130,438 - von Dörfern 432, 438, 454 - als Einschränkung der Fürstensouveränität 155 - Entzug 4 2 3 , 4 4 3 - Erteilung 442 - als Gegenstand von Beschwerden 130, 131 - von Gemeinden 131,423,427 - und Gemeinnutz 438 - als Instrument der guten Policey 438 - von Korporationen 142, 438 - Legitimation 444 - als Maßstab allgemein gültigen Rechts 142 - und Repräsentation 142 - Schutz 172 - von Städten 432, 438 - Suspension 444 - als Vertrag 438 - Widerruf 4 3 2 , 4 4 2 - und Wirtschaftspolitik 438 f. - und Zugehörigkeit zu einer Korporation 73 f. Procureur 52 Proposition 128 The Propositions of the Houses sent to the King at Newcastle (1646) 379 Protestation 93 ff. - auf Ebene der Ämter und Gemeinden 94 f. - als Einleitung weitergehender Maßnahmen 93 - als Instrument friedlicher Konfliktlösung 93 - auf Landesebene 93 f.
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Register - als Verfahren zur Aushandlung von Recht und Rechtsnormen 93 ff. - und Vergleichung 93 ff. Provence 28, 30 - Beschwerdeschriften 58 - Justizreform 56 Province 47 provincia und Herrschaft 424 Provinzen, Forderung nach Vertretung im königlichen Rat 61 Provinzialstände, Beschwerdeschriften 58 ->• Etats Provinciaux Prunay le Gillon (Bailliage von Chartres) 37 Pütter, Johann Stephan 155 Pufendorf, Samuel 5, 4 0 5 , 4 5 0 , 462 Putney 385
Q quarter sessions 278, 282, 284 Quartierversammlungen, Kompetenzen 228 f. quod omnes tangit - und Billigkeit 432 - und Kirchenorganisation 372 - und die Kontrolle des Landesherrn durch die Landstände 437 - und die Legitimation wichtiger Gemeindeentscheide 429 f. - als Prinzip der Korporationslehre 110 - Umsetzung durch Landschaftsausschüsse 110 - und die Verwaltung von Gemeindegütern 431 R Rabelais, François 42 Radnage (Buckinghamshire) 278 Räuber, Fritz (Stabhalter aus Eichen ) 327 Rahm, Friedrich David (Bergmann) 327 f. Rainerius de Forlivio (de Arsendis) 4 1 2 f f . Rat und Hilfe 4 8 , 7 2 , 7 3 , 7 6 , 106, 111, 164, 168 - und Gegenleistungen des Landesherrn 74 - Gelegenheit zu legitimen korporativen Zusammenschlüssen 71 - und Steuerbewilligung nach dem Prinzip quod omnes tangit 437
- Verweigerung 93 - Zumutbarkeit 74 Rats Versammlung 4 1 8 , 4 3 6 , 4 4 5 Rauschenberg (Hessen) 166, 177, 178, 182 Raven, John (Pfarreiausschußmitglied) 228 Rebellion 4 2 1 , 4 2 5 Rechenschaftspflicht - der Beamten 361 ff., 369, 380, 465 - als Forderung kommunaler Suppliken 62 - der Gemeinde gegenüber der Obrigkeit 452 - der Gemeindeverwaltung 4 3 6 , 4 5 2 - der Kirchenpfleger 377 - des Magistrats 62, 380 - der Parlamentsabgeordneten gegenüber den Wählern 364 Rechnungslegung - vor der Gemeindeversammlung 229 f., 233, 455 - der Kirchenpfleger 233 - Rechnungskontrolle 1 6 6 , 2 1 4 Recht auf freien Zug 89 Freiheiten Recht weisen 453 rechtliche Streiterledigung, Mehrgleisigkeit 244 Rechtsfähigkeit - Analogien zwischen Land- und Stadtgemeinden 416 - der Gemeinde 211, 432, 464 - von Kirchgemeinden 214 Rechtsfindung 5 0 , 2 5 7 Rechtsgewohnheiten von Korporationen - undProtestation 94 ff. - und Vergleichung 94 ff. Rechtshilfe als Gegenstand von Suppliken 333, 344 ff. Rechtslehre, deduktive Systeme 447 Rechtspflege - als Gegenstand kommunaler Doléances
60 - als prophylaktische Friedewahrung 260 Rechtsprechung zwischen Gericht und Regiment 257 Rechtsreformationen 49 f . , 5 1 , 6 1 Rechtsstatus, Garantie 249 Rechtssupplik 322 Rechtstitel
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Register
- Bedeutung bei Bartolus 414 - und Gemeinde-Kategorien 414 - als Legitimation für Gesetzgebung 413 Rechtsvereinheitlichung 143, 146,459 - als Bedrohung kommunaler Werte 143 - und Gerechtigkeit 134 - und Herrschaftstheorien 143 - als Landschaftsinteresse 134 - und partikulares Recht 143 - und Supplikation 288, 299 Redlich, Josef 212 Reformpublizistik, Rezeption 189 Regierungsformen 442, 448 - und Gemeindegröße 414 Regiment - der Gemeindemitglieder 4 0 9 , 4 2 9 - Veränderung durch periodische Wahlen 426 Règlement municipal 30 f. Reichenbach (Württemberg) 123,125 Reichenhall (Bayern) 256 Reichsdörfer 456 f. reichsfreie Bauern 457 Reichskammergericht 4 0 3 , 4 1 7 , 4 2 0 Reichsstädte 4 - und Munizipalstädte 436 Reichsstände - Souveränität 443 Reims 52 Religion als vergleichungswürdiger Gegenstand 88 Religionsfreiheit 373, 384 A Remonstrance against Presbytery 374, 383 A Remonstrance of many thousand Citizens 366 Rennes 55, 62 Replin, Gret (Supplikantin) 241 f., 252 Repräsentation 111 - und Autonomie 96 - der Ämter 103 f., 106-111 - und Beschwerderecht 83, 118f. - und Delegation 430 - aus eigenem Recht 82 - der Gemeindeversammlung 232 - undGewälte 97-105 - und Konsens 99 - der Korporation 82,96, 142,441
- und Landtage 71, 106-111 - und die Legitimation von Gesetzgebung 110 - und Legitimation von Steuerumlagen 103 f. - als Leveller-Forderung 361 ff. - mediater Korporationen 98 f. - nicht korporativ verfaßter Gruppen und Individuen llOf. - als Privileg 82, 142 - und Spezialgravamina von Ämtern und Dörfern 103 f. -* Gewälte Repräsentationslehre - und das Prinzip quod omnes tangit 110 - und das Verhältnis von Ausschüssen und Landschaft 82 - Vormundschafts- und Identitätsrepräsentation 98 f. Requêtes 5 3 - 6 0 - politische Bedeutung 61 f. - und politische Satire 54 -»• Supplik res publica im römischen Recht 411 Reservatrechte und Regalientherorie 132 f. Residenzpflicht 37 f., 60, 62 - des Magistrats 62 - von Pfarrern 37f., 60 Reskript - als constitutio motu alieno 444 - zur Regelung des Supplikenwesens 347 Ausschreiben Resolution 130-143, 144,146,311, 315 f., 345 f. - Adressaten 182 - und Aufsicht über Beamte 132 - und Beschränkung landesherrlicher potestas 130 ff. - und einklagbare herrschaftliche Pflichten 129 f. - als Entscheidung im Supplikationsverfahren 344 - als herrschaftliche Reaktion auf Gravamina der Untertanen 129-146, 171, 182 f. - als Hoheitsakt 129 - als Informationsauftrag an die Verwaltung 344 - und Landesfreiheiten 140
Register ~ -
und neues Recht 142 f. und Ordnungen 140 und partikulare Nutzungsrechte 140 als rechtliche Lösung 143-146 Umsetzung 144 und Vergleichung 129 und die Verhandlung über alte Rechte 135 - und Verwaltungsgesetzgebung 132 responsa prudentium 444 respublica 428 respublica mixta 442 restitutio in integrum 4 1 9 , 4 6 4 - für Dörfer 4 1 9 , 4 3 0 - für Dörfer und Städte 438 - und Gemeindebeschlüsse 430 - für Korporationen 419 - für personae fictae 430 Retorsionsmaßnahmen von Städten 461 f. Riccius, Christian Gottlieb 454, 457-560, 464 Richardson, Samuel 378, 384 Richter, Christoph Philipp 4 0 9 , 4 6 6 Richterrecht 449 Rieger (Landchirurg) 333 Rinteln (Hessen) 2 0 4 , 2 7 1 , 2 7 2 , 3 1 8 La Rochelle 28 Rodenberg (Hessen) 204 römisches Recht 402 f. - Rezeption 8 4 , 2 9 1 , 3 9 9 , 4 0 1 , 4 0 3 , 4 0 4 , 417,434 Römisches Reich - Antike 402 Deutsches Reich Rösch, Johann Christian (Sattlermeister) 327 f., 344 Rötteln (Oberamt; Baden-Durlach) 327, 330, 338, 344, 351 Rosenfeld (Württemberg) 100, 101, 103, 127 Rosenthal (Hessen) 178 Rottenbuch (Stift, Bayern) 2 4 1 , 2 4 4 249 Rouen 54, 58, 59 Rousseau, Jean Jacques 20, 447 Ruckinge (Kent) 275 Rügegerichtsbarkeit im Dorf 453,461 Rügepflicht 210 Rye (Sussex) 279
499
S Sachsenhagen (Hessen) 166,204 Sachsenheim (Württemberg) 127 Sadler (grandjuryman) 228 saevitia 426 St. Laurent en Gastine (Bailliage von Chartres) 37 St. Loup (Bailliage von Chartres) 37 St. Maur des Fossez 57 St. Quentin (Vermandois) 52 St. Symphorien (Bailliage von Chartres) 37 salus populi 362 Sandershausen (Hessen) 177,183 Sandwich 286 St. Alban (Basel) 9 St. Gallen 9 St. Georgen (Württemberg) 99, 116 Satzung 6,8-12, 156-»Gesetz Sauger (Stabhalter aus Kandern) 337 Saulgrub (Ammergau) 241 Sausenberg (Baden-Durlach) 351 Schellenberg, Marquard von (Hofmeister) 256 Schenklengsfeld (Hessen) 204 Schiedspruch 250f.-»Schiedsvertrag Schiedsverfahren 2 4 5 , 2 5 1 , 2 5 4 , 2 5 7 Schiedsvertrag 245 f., 247, 249, 257 - als Überleitung vom Schlichtungs- zum Schiedsverfahren 256 - Verbindlichkeit 252 f. - Verhandlungsablauf 254 f. Schiedspruch, Spruchentscheid Schiltach (Württemberg) 101,123,124 Schlauch, Peter (Bauer) 253 f. Schlözer, August Ludwig 16 Schmid, Heinz (Supplikant) 252 Schnait (Württemberg) 94 Schneider, Beat (Supplikant) 340 Schöffen im Dorf 441, 452, 453 Schönstein (Hessen) 193 Schopfheim (Baden-Durlach) 355 Schorndorf (Württemberg) 103,109,117, 125, 127, 128 Schultheiß im Dorf 446 -»Schulze Schulze 4 5 2 , 4 5 3 Schuster, Hans 241 Schuttern (Baden-Durlach) 338 Schutz (der Person und der Eigentumsrechte)
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Register
- und die Beschränkung landesherrlicher Abgabe- und Nutzungsrechte 140 - als Gegenstand von Gravamina 130 f. - und die Kontrolle herrschaftlicher Justiz 140 - durch den Landesherrn 130 f., 304 - und Supplikation 304 -»• Eigentumsrecht Schwaben 463 Schwäbische Alb 116 Schwalmstädte (Hessen) 175, 182, 193, 194, 195 Schwarzenfels (Hessen) 271 Schweden 5, 10, 18, 152, 192 - Reichstag 5, 13 Schweiz 18 - als Beispiel für republikanische Zustände 374 - als Beispiel für Verfassungsmodelle 368,426 - Städte 4 - als Vorbild für Volksrechte 368 f. Seckendorf, Veit Ludwig von 154, 155 Seefelden (Baden-Durlach) 331 Selbsthilfe - und Beschwerderecht 124 - von Dörfern und Städten 462 - und Pfändungsrecht 453 - durch Retorsionsmaßnahmen 461 f. - durch Statutargesetzgebung 458 Selbstverwaltung - von castra und villae 413 - Garantie der Wahrung von Billigkeit durch das Prinzip quod omnes tangit 432 - der Gemeinde 6, 463 - und Gemeinnutz 433 - in der juristischen Literatur 463 - von Kirchgemeinden 214, 219 - in der ländlichen Gesellschaft 236 f. - und staatliche Gesetzgebung 219 - der Städte 4, 236 f. seif government Selby (Yorkshire) 275 select vestry 229, 230 f. - Abschaffung 232 - Kompetenzen 230 f., 233 f. - als Rationalisierung von Selbstverwaltung 233 - und Wahlen 230
Pfarrei-Ausschuß seif government 212 - Integration der Kirchspiele 211 locai government, Selbstverwaltung semperfreie Landschaft 89 senatusconsultum 444 Sénéchaussée 47 Sennfeld (Reichsdorf, Franken) 456 Sens 62 Sexby, Edward 390 Sheriff 209 f. Simler, Josias 426 Simmozheim (Württemberg) 127 Sindelfingen (Württemberg) 102,103 Sittengerichtsbarkeit 138 Sittengesetzgebung 455 Sizilien - gesetzliche Regelung des Supplikenwesens 268 Skandinavien 5f., 17 - a l s von Bauern und Landschaften geprägte Region 3 - Recht 5, 10 Sklavenrecht 403 Smith (Vizekanzler der Universität Cambridge) 225 Smith, Edward (Weber-Lehrling) 220 Smith, Thomas 216 Smyth, John 372 sociabilité (der europäischen Bauern) 19 societas 448 - Aufstellung einer Verfassung 448 - Begriff 447 - Entstehung 447 f. - Güterverwaltung 448 - Mitgliederaufnahme 448 - und partikulares Recht 449 - im römischen Recht 410f. - und staatliche Gesetze 449 - Steuerumlage 448 - und universitas 447 f. - Verhältnis zum Staat 448 - Versammlungen 448 - Verwaltung 448 societas aequalis 448 societas civilis cum imperio 7 societas inaequalis 448 societas privata 449, 450 Société des Corps 28 f., 64 f. Sontra (Hessen) 177,271
Register Southwark, Pfarrei St Olave 225 Souveränität 130, 207, 380, 435,443, 448 - Einschränkungen 154,435 - des Fürsten 65, 130, 154, 442 f. - und Gesetzgebung 65, 154,207 - des Kaisers 435 - Voraussetzungen 456 Haushaltsvorstände, Volkssouveränität Spangenberg (Hessen) 167,204,271 Spanien 6, 10,17 - Philipp II. 13 Speidel, Johann Jacob 410, 467 Speßhardt (Württemberg) 102 Spezialgravamina 84 - und Herkommen 119 - und Repräsentation 104, 119 - und Selbsthilferecht 124 - und Supplikation 143 ff., 305 - als Umgehung des Landtages 144 - und Vergleichung 96, 144 Desideria specialia, Gravamina Spittler, Ludwig Timotheus 108 Spotin, Anna Maria (Supplikantin) 337, 340 Spruchentscheid und Hintergang 251 Staat 439 - Aufbau 439 - Begriff If., 18 - Entstehung 439 - und Gemeinden 18 f. - als Institution zum Schutz des Gemeinnutzes 439 - Kontrolle durch Korporationen 435 f. - und Landtag 108 - und societas 448 - als societas 448 ->civitas, universitas Stadt 3 , 4 , 7, 6 9 f „ 152f„ 160f., 437, 458 - Bündnisfreiheit 437 - und Dorf 152 f., 196 f., 440, 466 - Einfluß auf das Regiment 75 - Gesetzgebungsrecht 417 - als Grundeinheit der politischen Organisation 389 - herrschaftliche Funktionen 424 - und Huldigung 77 - als Keimform des modernen Staates 20 - und Korporationen in der Stadt 228 - im Korporationsrecht 405 - und Landtag 97, 109, 160 f.
-
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als moralische Person 19 onus und honor 75 politisches Gewicht 101, 174-179,206 Privilegien 126 und Reich 434 und Repräsentation 99, 100-105 und Retorsionsmaßnahmen 462 Statuten, Legitimation 458 Steuerbewilligung 437 und Universität 225, 227f. Verhältnis zum platten Land 101, 126, 196 f. - Verhältnis zum Staat 54 f. - Verwaltung 429,437 ->civitas, municipium, Gemeinde, Korporation, Landstadt, Stadtgemeinde Stadtgemeinde 398, 399 - als Corps 29-32 - Einfluß auf Gesetzgebung 27, 52 - Einfluß auf staatliche Geschäfte 65 Stadtrat - als Adressat kommunaler Suppliken 274,282 - Kompetenzverteilung zwischen Rat und Gemeindeversammlung 429 - Legitimation des städtischen Regiments 429, 437 - Wahl 437 Stadtrecht 4, 1 5 3 , 4 1 4 , 4 4 9 , 4 4 5 - als Bedingung für Landstandschaft 161 - als Gegenstand von Suppliken 279, 285 städtische Desideria und fürstliche Landesordnungen 183-191 städtische Gesetzgebungsverfahren als Muster für die königliche Verwaltung 29 f. Stände - und der Anspruch auf Vergleichung 85 - Anteil an großen Kodifikationen 14 - Einfluß auf das Regiment 260 - votum decisivum 85 - Wahlen der Ständevertreter 24, 97 f. Landschaft, Landstände, Parlament Ständestaat 417 Ständeversammlung - und Gemeinden 7 - und Gesetzgebung 443 - Periodizität 46 - und die politische Repräsentation von Untertanen 12
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Register
- und die Redaktion von Coutumes 51 f. - Vertretung von ländlichen und städtischen Gemeinden 47, 52 -*• Etats généraux, Etats provinciaux, Landtag Ständevertretung 448 ständische Beschwerden 13 -»Beschwerden, Desideria, Doléances, Gravamina, pétition ständisches Regiment 76 ständische Versammlungen vor Landtagen 176 f. Stärklos (Hessen) 204 Standes-Ehre - und Interzessionsgewalt 78 - der Landschaft 73 honor Star Chamber 234 Starnberg (Bayern) 250 f. Statutargesetzgebung - von Dörfern 418 - als Gegenstand von Petitionen 282 - von Gemeinden 282 - und iurisdictio 418 - und das ius civile 418 - in der juristischen Literatur 463 - der Landstädte 459 ff. - und private Verträge 418 - durch Repräsentanten des Volkes 418 Banngewalt, iurisdictio, ius statuendi Statuten 401,413,418 - Anwendung, Prioritäten 428 - Autorisierung durch die Herrschaft 407, 413 - Autorisierung durch den Kaiser 413 - Bestätigung durch den Kaiser 418 - Bestätigung durch den Landesherrn 459 f. - Bestätigung durch die Obrigkeit 427 - und Billigkeit 438 - und consuetudo 422 f. - und Dorfordnungen 458 - und Gemeindeverwaltung 460 - und Gemeinnutz 459 f. - und die Gesetzgebungskompetenz des populus 413,436 - Konkurrenz zur Policeygesetzgebung 460 - Legitimation 458
- von Märkten und Dörfern 413,458 - als „Ordonnances" 65 - und das Prinzip quod omnes tangit 460 - und Privilegien 438 - privilegierter Dörfer 454 - als Schutz politischer Entscheide der Gemeinde 464 - und Selbsthilfe 458 - und übergeordnetes Recht 425, 459f. - Verbesserungen 418 - Verleihung auf Initiative von Dörfern 454 - als Vertrag 460 Stein (Baden-Durlach) 351 Steingaden (Kloster und Gemeinde, Bayern) 9, 245 - Konflikt zwischen Bauernschaft und Herrschaft 253 ff. Stetten unter Heuchelberg (Württemberg) 102 Steuern - besitzorientierte Steuern 380 - als Gegenstand von Beschwerden 44 ff., 58 ff., 169, 175 ff., 194,203,283,308, 314 - Konflikt zwischen Adel und Städten 184, 189 - und Rechenschaftspflicht von Beamten 45 - und Repräsentation 232 - als Strafe für Gemeinden 423 Steuerbewilligung 5, 164, 168, 180f.,203, 320 - und die Beschränkung landesherrlicher Rechte 140 - und Gesetzgebung 13,49 - und Gravamina 92, 198 - und die Kontrolle landesherrlicher Politik 84, 112 f. Steuererhebung 4 6 f „ 284, 316, 416, 431, 448 - Analogie zwischen Gemeinde und Staat 425 - durch die Gemeinde 416,431 - in der Gemeinde 212,222 - zum Gemeinwohl 416,431 - aus Notwendigkeit 416,425,431 - und die Politisierung der Pfarrei 212
Register Steuererhebungskompetenz und Deliktfähigkeit 422 Steuerexemption 183,431 - und Billigkeit 432 - als Gegenstand kommunaler Beschwerden 44f., 56, 62 ff. Steuergerechtigkeit als zentrale politische Forderung 63 f., 184, 314, 369, 380 Steuerhoheit 278,380 Steuerrevolten 45 Steuerumlage 140 - als Gegenstand von Petitionen 225 - in der Gemeinde 438, 453 - in der Korporation 431 - und korporative Freiheiten 105 f. - nach dem Prinzip quod omnes tangit 438 Steuerverweigerung 141 Steuer- und Schuldenwesen als vergleichungswürdiger Gegenstand 88 Stiftungen - als Ersatz für Steuern 222 - und Gemeinde 2 1 3 , 2 2 1 , 2 3 7 Stockholm 15, 169 Strafrecht - und Beschwerderecht der Landschaft 137 - in Dorf und Stadt 438 - als Gegenstand von Beschwerden 136 f., 339, 344ff. - und Herkommen 136 - Verhältnismäßigkeit von Strafen 136 Straubing (Bayern) 265 Strombezirk (Hessen) 161,168 Struv, Georg Adam 451 Stuttgart 7 9 , 8 1 , 9 1 , 9 7 , 1 0 1 , 1 0 9 , 116,128, 135 Stuttgarter Städtetag 76 Südsee-Handelsgesellschaft 281, 282 Sulz (Württemberg) 101 Sulzburg (Baden-Durlach) 330,341 Suppingen (Württemberg) 120 supplicatio Supplik Supplik 28, 52, 55, 242, 243, 244 f. 252, 267 f., 2 6 9 , 2 8 8 , 2 8 9 , 2 9 0 , 2 9 3 - 2 9 6 , 3 0 0 , 301, 305, 311 ff., 317, 319, 320f., 322f., 326, 328, 331,353, 357 - Absender 28, 57f., 252, 269, 332-339, 339-344, 351 - und die administrative Kommunikation
-
503 zwischen Landesherrn und Untertanen 327 Adressaten 191, 267 f., 273, 276-287, 293, 305, 319 f. und ältere Verfahren des Bittens und Beschwerens 302 um Almosen und in Gnadensachen 307 als Alternative zur gerichtlichen Klage 294 als Antrag auf einen Rechts- oder Verwaltungsbescheid 353 und Appellation 268, 296, 298, 308 f. und die Ausdehnung landesherrlicher Gerichtsbarkeit 289 als Ausdruck von „Landesanliegen" 203 als Ausdruck von Partikularinteressen 203 als Ausdruck für den Wunsch nach Ordnung 203-206,207 als Auslöser von Reformen 317, 320 und die Außerkraftsetzung geltender Ordnungen in Einzelfällen 318 als Bedrohung für die Aequitas 145 als Bedrohung für das Petitionsrecht 144 Begriff 242,252,265f., 267,268,287f., 300, 303,312, 322 Behandlung im Parlament 279 f. als Bestandteil der Verwaltung 310f., 312 f. Bestrafung von Mißbräuchen 308 f. und das Bild vom guten König 53 und Billigkeitsrechtsprechung 293 und die Definition territorialer Herrschaft 301 und Desideria 204 von Dörfern 196 f., 278 und Doléances 55 f. Einfluß auf Theorie der guten Policey 201 und der Einfluß der Untertanen auf die Gesetzgebung 330 und der Einfluß der Untertanen auf die „gute Policey" 350 Einfluß auf Verwaltung 199f. Einschränkungen und Alternativen 298 Entscheidung des Landesherrn 252, 253,311
504
Register
- Entwicklung im kirchlichen und weltlichen Recht 268 - Erfolg 335, 344 ff. - als Ersatz für formelle Rechtsansprüche 321 - als Ersatz für Landstandschaft 14 - und die Flexibilisierung allgemein gültigen Rechts 313 - Form 309 f., 331,347, 348 - und der freie Zugang der Untertanen zum Landesherrn 346 - und der Fürst als oberster Vogt 246 - Gebühren 306 f. - und Gegenklage 247, 253 - und Gegensupplikation 145 - und Gesetzgebung 15, 291 ff., 321, 349 f., 356, 357 - undGravamen 14, 108 f., 128,290,320 - als Grundlage für die Politik der Stände 196, 198 f., 200 - als Informationskanal für die Verwaltung 305, 320 - Inhalt 55, 293, 332-339, 339-344 - und innerkommunale Konflikte 270, 272 f. - und Institutionenbildung 14f., 16,321 - und Integration der Gemeinden 56 - in Justizsachen 308 - als Kanal politischer Kommunikation 206, 267 - und Klage 290 - und kommunale Gravamina 290 - und die Kommunikation zwische Untertanen und Obrigkeit 305 - und Konfliktvermeidung 294, 321 - konkurrierende Suppliken 317 f. - und Konsentierungsverfahren 206 - und die Kontrolle der Verwaltung 320 - von Korporationen 57 f. - und landesherrliche Gewalt 289, 295 f., 304, 347 - gegen die landesherrliche Verwaltung 308 f., 318 - und Landesordnungen 196-203 - und Landtagsgravamina 290 - als Legitimation landesherrlicher Politik 19, 202 f. - und Machtverteilung 319f. - Menge 273, 304, 331 f. - und ökonomische Innovation 319
- als ordentliches, auf ein Klagerecht gestütztes Verfahren 303 - und Parallelen zwischen Städten und Dörfern 197 - und Petition 301,322 - und plena potestas 145,300 - und politische Forderungen 56 - und politische Öffentlichkeit 198 f., 269, 273 - politische Wirkung 15 f. - und das Recht auf Beantwortung durch die Obrigkeit 269 - als Rechtsbegriff 349 - als Rechtsfigur 243 - als Rechtshilfe für nicht rechtsfähige Gemeinden 278 - als Rechtsmittel 268 - und Rechtsvereinheitlichung 288, 297 - und Resolution 311 - als Revoltenersatz 203, 207 - und die Rezeption des römischen Rechts 291 - im römischen Zivilprozeß 267 f. - und die Schaffung einer einheitlichen Untertanenschaft 288 f. - und Sozialdisziplinierung 278 - und Sozialpolitik 320, 356 - Sozialprofil der Supplizierenden 339344 - und Spezialgravamina 143 ff., 305 - von Städten 54 f., 196 f. - und Steuerumlage 145 - und der Summarische Prozeß 266 - und Territorialisierung von Herrschaft 288 - als untertänige Bitte 349 - Verfahren 247, 265 f., 268, 296 f., 304, 344ff., 348, 349 - als Verfahrenselement der Policeygesetzgebung 350 - und Verhandlungsmöglichkeiten für Kommunen und Untertanen 357 - und die Verknüpfung von landesherrlicher Schirmgewalt und Gerichtsbarkeit 295 - Voraussetzungen für einen Erfolg 306 - als Widerstand gegen staatliche Eingriffe in lokales Recht 199, 204, 277 - Wirkung 15, 317 f., 320
Register -> Beschwerden, Bittschriften, Einzelsuppliken, Gemeindesuppliken, Korporation, Supplik, Landesverbesserungspunkte, pétition, Requêtes, Untertanensuppliken Supplikation Supplik Supplikationsordnung 132f., 201, 268, 290-293, 294, 300, 347 - Attestierpflicht 313 f. - als bürokratische Eindämmung der Bittgesuche 312 - und die Entstehung eines neuen Instanzenweges 312 - als Handhabe für Dienstbeschwerden 297 - und die politischen Interessen der Landschaft 297 - Publikation 291,310 - und Rechtsvereinheitlichung 299 - und Supplikationsverfahren 306-313 - und Unterstellung des Beschwerdenrechts unter die landesherrliche Schirmherrschaft 300 - als Verfahrensrecht 299 - als verglichenes Recht 300 - als Vorläuferin einer territorialen Zivilprozeßordnung 291 Supplikationspflicht 352, 357 Supplikationsrecht 304 - Bedingungen 294 - gesetzliche Bestimmungen 346 f. - als Instrument der guten Polizei 300 - als Landesfreiheit 300 - als Petitionsrecht auf Landesebene 303 Supplikationsverfahren 296-303, 349 - und Administration 299 - Beiberichte der Amtsleute 347 f. - Beweismittelaufnahme 296 f., 298,299, 307 f., 347 f. - Erleichterungen für Arme 309 - politisches Interesse von Gemeinden und Landesherrschaft 299 - und die politischen Interssen der Landschaft 297 - und Urteilsfindung 298 - Zugänglichkeit des Verfahrens 297 Suppliken-Kampagnen 281 f. Supplikenordnung Supplikationsordnung Supplikenschreiber 306
505
Surrey 388 syndic des villages 47 syndicus 4 1 9 , 4 4 5 , 4 4 9 , 4 5 5 Synode als Korporation 28
T Tädigung und Ausrichtung 257 Tailfingen (Württemberg) 79 Taille 64 Steuern Tailor (Pfarreiausschußmitglied) 228 Tannenkirch (Baden-Durlach) 340 Teck (Württemberg) 127 Tenzlingen (Württemberg) 79 Tiers Etat 25 f. Tocqueville, Alexis de 46 f. Toleranz 361 ff., 372 ff., 380, 395 Toulouse 50, 54, 55, 56, 58, 59 Tours 59 Trendelburg (Hessen) 175,178,204 Treswell (Pfarreiausschußmitglied) 228 Treysa (Hessen) 193 trial by peers 369 Troyes 56 Tudor-Reformen 213 Tübingen 81, 109, 116, 128,439,443 Tübinger Landtag 79 Tübinger Vertrag (von 1514) 11, 69 f., 76, 77 f., 96, U l f . , 117, 119, 131, 133, 134, 140, 144, 147 - Einsichtsrecht der Untertanen 112 - und Freiheiten von Gemeinden 115 - Konfirmation 93 - Nebenabschied 76, 121, 131 - Publikation 112 - Vereidigung der Amtleute 107, 112 - als Vergleichsurkunde 76, 85, 90 Tumultuous Petitioning Act 280 Tuttlingen 103, 115, 119f., 126, 131 Tyrannei 3 7 4 , 4 1 4 , 4 3 5 , 4 3 9 , 4 4 3 - und Gemeinde 435 - und Widerstandsrecht 439 U Uchte (Hessen) 204 Ulm 10 Umpeau (Bailliage von Chartres) 37 universitas 6, 400,420, 4 2 3 , 4 2 7 , 4 4 9 - Auflösung 423 - Beamte 449 - Begriff 407 ff., 420, 440, 449
506
Register
- als corpus 411,427 - Deliktfähigkeit 421^125 - Einfluß der Größe auf die Verfassung 457 - als juristischer Begriff 422 - als juristische Person 411 - als „nomen iuris" 421 - als „persona ficta" 415 - Rechtsvertretung 4 2 2 , 4 2 3 - Regiment 449 - im römischen Recht 410f. - Schutz der Rechte gegen herrschaftliche Eingriffe 412 - undsocietas 410f., 447f. - und Statutargesetzgebung 421 - Strafbarkeit 4 2 1 , 4 2 3 - im usus modernus und im Naturrecht 448 - Verhältnis zum Landesherrn 432 - Verhältnis zu den Mitgliedern 411,415, 420,422 - Verwaltung 421 - Willensfähigkeit 422 Gemeinde, Korporation universitas minima 399,407, 408 universitas superiorem non recognoscens 413 Unterensingen (Württemberg) 79 Unterhaus als Adressat von Suppliken 280, 281 Unterhausen (Württemberg) 115 Untertanen - Anspruch auf obrigkeitliche Gnade 269 - Begriff 2, 6f„ 424 - Beziehung zur Obrigkeit 2f. - Einfluß auf die „gute Policey" 350 - Informations- und Einflußpotential 367 - Interessenvertretung durch Gemeinde und Gericht 16ff., 243 - Klagen gegen Korporationen, Verwaltung und Landesherrn 133 - Politik in europäischen Parlamenten 13 f. - politische Handlungsmöglichkeiten 242 - politische Repräsentation durch Ständeversammlungen 12 - und Privateigentum 424 - Status 7 Untertanensuppliken als Mittel politischer Einflußnahme 191 - 2 0 3 -> Supplik
Untertürkheim (Württemberg) 80 Urach (Württemberg) 76, 95 f., 103, 109, 114, 115, 116, 119, 120, 127, 128, 135, 141,302 Uracher Landtag 98 des Ursins, Jean Juvenal 53 usus modernus pandectarum, usus modernus 403, 406, 407, 408f., 434, 439 V Vacha (Hessen) 314 Vaihingen (Württemberg) 109 Vendöme 32, 34, 35 Venedig 414 Verfassung 155 - als Grundlage eines Staates 426 - Konsentierung 395 - Legitimation 380 - und politische Praxis 361 - und Widerstand 17 Vergleichung 132 f. - von Abgaben und das Recht auf freien Zug 89 - und Abschiede der Reichstage 85 - Auslegung 247 - durch Ausschüsse 108 - Bestätigung durch den Landesherrn 90, 251 - auf der Ebene der Ämter und Gemeinden 94 f., 127 - Erneuerung 96 - zwischen Gemeinde und Herrschaft 96 - und Gerichtsverfahren 257 - als Gesetzgebung 90, 92 f., 115 f. - undGravamina 85,96, 105, 128 - als Grundlage der Amtsverfassung 123 - auf der Grundlage der Landesfreiheiten 111 - und hergebrachte Rechte der Korporationen 94 ff. - und Hoheitsrechte 132 - als Konfliktprävention 129 - auf Landesebene 90, 93 f. - und landesherrliche Entscheide über partikulare Beschwerden 139 f. - auf und außerhalb von Landtagen 86, 108 - und Landtagsabschiede 85 - und die Legitimation herrschaftlicher Gebote 87, 139 f.
507
Register -
Mitwirkung von Amtsflecken 115 f. und Protestation 93 ff. von Rechtsänderungen 144 als rechtstiftende vertragliche Abklärung von Interessen 85, 93 f. - und Reichsrecht 108 - und Repräsentation 105 - und Resolution 129 f. - und Schiedsvertrag 257, 266 - und Strafen 94 - und Verbesserung 91 - Verbindlichkeit 91 - von Verfahren 129 - verfassungsrechtliche Relevanz 85, 88 f., 93 - Vermittlung durch Nachbarn 251 - und Verwaltung 132 - Vollzug 90 - und das votum decisivum der Landschaft 85,89 Konsens Vergleichungspflicht 132 f. Verhandlungsvollmachten - von Landtagsabgeordneten 97, 99 f. - Übertragung auf andere Stände 97 - Vertretung von Landtagsabgeordneten 97, 99 f. Gewälte Verordnung über die Abhaltung der Landtage, Landtagsverordnung (Württemberg, 1515) 69 f., 72, 77,80,98, 100, 106 - und die Einschränkung landesherrlicher Abgabe- und Nutzungsrechte 140 - als Vergleichung 93 Verrechtlichung der Beziehung zwischen Landschaft und Landesherrn 111 Versammlung 374 - der Hausväter und Witwen 31, 65 - ohne obrigkeitliche Bewilligung 425 Gemeindeversammlung Versammlungsrecht 399 - der corpora 412 - der Landgemeinden 31 - der Landstände 162, 183 Selbstversammlungsrecht Versammlungsverbot 455 Vertrag 442,455 - und Begrenzung der Herrschersouveränität 435 - in der Korporationslehre 433
- in der Staatsrechtslehre 154 -*• Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag Vertragslehre 4 2 6 , 4 3 8 Verwaltung 211 - durch Ämter 5 - als Gegenstand kommunaler Doléances 39,60 - Kontrolle durch Ständeversammlungen
66 -
Kontrolle und Supplikation 320 und Oligarchisierung 230 und Rechtsprechung 92 Zentralisierung 259, 263 Zugang der Gemeindemitglieder zu Ämtern 387 -»• Lokalverwaltung Vestry Ordinances 229 vicinitas 437 vicus - Begriff 407, 409 - als corpus 411 f. - Rechtsfähigkeit 450 Vierkirchen (Bayern) 256 Vigelius, Nikolaus 93 villa 407, 427 - Begriff 407,408f., 413, 419 - Besteuerung 431 - als collegium 419 - als communitas 429 - Gemeindegüter 424 - Gesetzgebungskompetenz 413 - und iurisdictio 427 - Selbstverwaltung 413 - Verhältnis zur civitas 431 village constable 388 Villefranche 55 Visitationsordnungen 133 f. Volkssouveränität - als Forderung der Levellers 361 ff., 368 f. - bei Levellers und Sekten 381 Volksversammlung - und Abstimmungen über Statuten 413 - in kleinen Gemeinden 429 Gemeindeversammlung, Versammlung Vollgraff, Karl Friedrich 150, 159 Vollmacht -»Gewälte, Verhandlungsvollmacht Voltaire 53 Vorarlberg 12
508
Register
W Wagnerin, Anna 340 Wahl 214, 228, 230, 252, 374, 369, 380, 394 - von Beamten 3 3 , 3 9 , 6 0 , 6 1 , 3 6 9 - des Bürgermeisters 166 f., 271 - von Delegierten in Ständeversammlungen 5, 13, 24, 103, 161 - von Dorfbeamten 308, 388 - als Gegenstand kommunaler Doléances 33,39,60,61 - als Gegenstand von Suppliken 28, 62, 271 - der Geistlichen 33, 370, 377 - in der Gemeinde 2 1 0 , 2 1 2 , 2 3 0 , 4 1 6 - der Gemeindeexekutive 2 1 2 , 2 3 0 - durch die Gemeindeversammlung 230 - von Gemeindevertretern 441 - von Kirchenpflegern 215, 221, 2 2 7 f „ 233 f., 377 - des Magistrats 62 - von Parlamentsabgeordneten 210 - Periodizität 395,426 - des Schulzen 452 - durch die select vestry 230 - städtischer Räte 166,228 - der Vertreter von Korporationen 28 - Wählbarkeit 210 Wahlmänner 65 Wahlprinzip 395 Wahlrecht 1 3 , 3 6 4 , 3 8 0 - aller Haushaltsvorstände 361 ff., 369, 387, 395 - im ius commune 415 - bei Levellers und Sekten 361 ff., 368f., 381, 387 Waiblingen (Württemberg) 127, 128 Waies, Jasper (Weber) 220 Waldenburg (Baden-Durlach) 351 Waldkappel (Hessen) 167, 180, 188, 197, 317 Walheim (Württemberg) 103 Walwyn, Anne 390 Walwyn, Edward 390 Walwyn, Herbert 390 Walwyn, Herbert (II) 390 Walwyn, Margaret 390 Walwyn, William (Vater) 362, 366, 368, 369, 370, 390, 391 f., 393, 396 Walwyn, William (Sohn) 390
Wanfried (Hessen) 1 6 8 , 1 7 7 , 1 7 8 Wanner, Sigmundt (Forstmeister) 143 Ward (Master von Sydney Sussex) 225 ward 228 Weber, Max 3 , 4 , 20 Weberin, Maria 340 Weidlich, Christoph 454 Weiler (Württemberg) 122 Weistum als eine Grundform des Gesetzes 156 Wells (grand juryman) 228 Wembury 283 Westfälischer Friede 443,457 The Westminster Confession of Faith 375 Westwood (grand juryman) 228 Wetter (Hessen) 166, 177, 178, 182, 193, 195, 204,318 Whitgift, John 372 Wickstead (Alderman von Cambridge) 225 Widerstand - von Ämtern und Gemeinden 77 f. - von Bauern und Bürgern 17f. - und Gemeindeeigentum 224 - und Interessenvertretung der Untertanen 243 - als Konflikt um die Definitionshoheit des Politischen 17 - und Lobbying 224 - und moderne Demokratie 17 - gegen Oligarchisierungstendenzen in der Gemeinde 234 - durch Verweigerung 224 Wielandt, Friedrich August 328 f. Wildbad (Württemberg) 100 Wildberg (Württemberg) 100,128 Wildman, John 365, 385, 393 Williams, Griffith 383 Willmandingen (Württemberg) 114 Wilson (grand juryman) 228 Winchester 278 Winnenden (Württemberg) 127 Wippingen (Württemberg) 121 Witzenhausen (Hessen) 167, 204 Wohlfahrt 460, 464 Wolff, Christian 447, 450,459 Wolff, Conrad Georg (Ratsschöffe) 166 Wolfhagen (Hessen) 175, 178, 204 Wolfschlungen (Württemberg) 79 Worcester 210 Worcestershire 390
Register Wrenbury (Cheshire) 284 Württemberg 7, 11, 13, 80, 85, 106, 288, 446 - Christoph 80, 82, 86, 105, 111, 133, 137, 146, 292, 298 - Eberhard im Bart (Graf) 136 - Eberhard der Jüngere 293 - Friedrich 83,92, 113,118, 135,296 - Johann Friedrich 93, 118 - Ludwig 92, 105, 117, 118, 130, 145, 298 - Ulrich (Graf) 74, 75 - Ulrich 76 f., 93, 111, 112, 114, 115, 130, 131, 133,291,298, 302 württembergische Wildererordnung - Auseinandersetzung um Strafen wegen Bannbruchs 86 ff. - verfassungsrechtliche Relevanz 87 f. Y Yarmouth 287 Yatton (Somerset) 218, 2 2 0 f „ 227, 235 York 217, 236, 275, 276, 280 Z Zahn, Balthasar Conrad 434 Zasius, Ulrich 417—419, 445
509
Zavelstein (Württemberg) 100, 101, 102, 127 Zehnt, Abschaffung 369, 380 Ziegenhain (Hessen) 166, 178 Zierenberg (Hessen) 175,178,204 Zivilisation 2 Zürich 463 Zunft 4, 399 - als Absender von Suppliken 282 - als Adressat kommunaler Suppliken 274, 286 - Beteiligung an Gesetzgebung 110f. - Interessengegensatz zur landesherrlichen Gewerbepolitik 354 - und Klageschriften 192 f. - im Korporationsrecht 405 - Mitgliederaufnahme 352 -
politische Partizipation 206 Privilegien 438 Repräsentation im Stadtrat 166 ff. und Supplikation 57, 278f., 317f„ 352 - als Volksvertretung 465 -•collegium, Korporation Zunzingen (Baden-Durlach) 337