Geld - Geschenke - Politik: Korruption im neuzeitlichen Europa 9783110650792, 9783486588477

Der Sammelband untersucht - in Deutschland erstmalig - die Entwicklung von Korruptionspraktiken und -debatten von der Fr

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German Pages 313 Year 2009

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Methodik und Theorie
Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen
Korruption als Problem und Element politischer Ordnung. Zu der Geschichtlichkeit eines Skandalons und methodologischen Aspekten historischer Komparatistik
Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung
II. Frühe Neuzeit
Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert
„Serenissima corrupta“ – Geld, Politik und Klientelismus in der späten venezianischen Adelsrepublik
III. Neuzeit
Revolution und Panama. Korruptionsdebatten als Systemkritik in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik
In Defence of the Taxpayers: Korruptionspraktiken und -wahrnehmungen im edwardianischen Großbritannien
Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren. Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert
IV. Zeitgeschichte
Korruption in der NS-Zeit als Spiegel des nationalsozialistischen Herrschaftssystems
Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus
Korruption als europäisches Erbe? Klientelismus, Kolonialismus und Kleptokratie in Afrika
Autorenverzeichnis
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Geld - Geschenke - Politik: Korruption im neuzeitlichen Europa
 9783110650792, 9783486588477

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Geld – Geschenke – Politik

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21.01.2009 14:13:48 Uhr

HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 48

R. Oldenbourg Verlag München 2009

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21.01.2009 14:13:49 Uhr

Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir, Alexander Nützenadel (Hrsg.)

Geld – Geschenke – Politik Korruption im neuzeitlichen Europa

R. Oldenbourg Verlag München 2009

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21.01.2009 14:13:49 Uhr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck und Bindung: Kösel, Krugzell ISBN: 978-3-486-58847-7

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Inhalt Einleitung. Von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir und Alexander Nützenadel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Methodik und Theorie Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen. Von Werner Plumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Korruption als Problem und Element politischer Ordnung. Zu der Geschichtlichkeit eines Skandalons und methodologischen Aspekten historischer Komparatistik. Von Karsten Fischer . . . . . . . . .

49

Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung. Von Andreas Fahrmeir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Frühe Neuzeit Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert. Von Hillard von Thiessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

„Serenissima corrupta“ – Geld, Politik und Klientelismus in der späten venezianischen Adelsrepublik. Von Alexander Nützenadel . . .

121

III. Neuzeit Revolution und Panama. Korruptionsdebatten als Systemkritik in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik. Von Jens Ivo Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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In Defence of the Taxpayers: Korruptionspraktiken und -wahrnehmungen im edwardianischen Großbritannien. Von Frank Bösch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren. Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert. Von Susanne Schattenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Zeitgeschichte Korruption in der NS-Zeit als Spiegel des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Von Frank Bajohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus. Von André Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Korruption als europäisches Erbe? Klientelismus, Kolonialismus und Kleptokratie in Afrika. Von Axel T. Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Von

Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir und Alexander Nützenadel Schon seit einigen Jahren beschäftigen sich die Medien in Deutschland wie auch in anderen Ländern verstärkt und regelmäßig mit dem Phänomen der Korruption. Der Logik der medialen Berichterstattung folgend, stehen die großen Skandale und Affären – etwa der Kölner „Müll-Skandal“, die Bestechungsvorwürfe in sächsischen Justiz- und Polizeikreisen oder die Affären bei Volkswagen und Siemens – im Zentrum des öffentlichen Interesses. Einerseits ist die Debatte also gewohnt kurzatmig, andererseits sorgen wiederkehrende Ereignisse wie die alljährliche Präsentation des internationalen Korruptions-Index durch die Organisation Transparency International1 für eine stete Präsenz des Themas. Offensichtlich existiert zur Zeit ein gestiegenes Bedürfnis nach Reflexionen über die Rolle von Korruption in unserer Gesellschaft. Dabei kommt es vielfach zu einer verzerrten Wahrnehmung, welche das tatsächliche Ausmaß von Korruption überzeichnet und nicht selten in eine moralische Verfallsdiagnose mündet. Viel spricht dafür, daß in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Korruption ein generelles Unbehagen an bestimmten Erscheinungen der Gegenwart zum Ausdruck kommt. Im Zentrum der Debatte steht eine tiefe Skepsis über die moralische Verfassung unserer Gesellschaft. Trotz des häufig pauschalen Charakters der Korruptionsvorwürfe stehen freilich bestimmte Akteursgruppen besonders im Verdacht, moralische Standards – insbesondere in der Wahrnehmung verantwortungsvoller Mandate und Ämter – zu verletzen; traditionell gilt der Korruptionsvorwurf den politischen Eliten und Amtsträgern, die sich in der gegenwärtigen Diskussion nicht selten einem Generalverdacht ausgesetzt sehen. Fast immer verbirgt sich hinter dem Ordnungsruf „Korruption!“ das Bestreben, private Motive hinter öffentlichen Handlungen aufzudecken. Korruptionskritik ist in aller Regel auf die Kontrolle staatlicher Amts- und Mandatsträger gerichtet. In der jüngsten Debatte ist daneben eine bemerkenswerte Erweiterung des Spektrums zu beobachten: Zunehmend geraten daneben auch Führungskräfte von Privatunternehmen unter den Korruptionsvorwurf – und zwar nicht mehr nur als Korrumpierende, sondern als Korrumpierte. Dies legt nahe, daß auch von privaten Unternehmen und ih1

Eine Selbstdarstellung findet sich etwa bei Peter Eigen, Im Netz der Korruption – eine globale Bewegung kämpft gegen die weltweite Bestechung, in: Universitas 58, 2003, 1293–1302.

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Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir und Alexander Nützenadel

ren Repräsentanten erwartet wird, sie agierten nach der Maßgabe von Normensystemen, die sich bisher hauptsächlich auf staatliche Akteure erstreckten. Zu diesem Bild der „Entstaatlichung“ der Korruptionsdiskussion gehört auch die neuerdings zu beobachtende Tendenz, daß neben der strafrechtlichen Verfolgung durch die nationalen Justizbehörden zunehmend private oder international agierende Einrichtungen in der Korruptionsbekämpfung tätig werden. Nichtstaatliche Organisationen wie Transparency International oder die Aktiengesellschaften aus vielen Ländern regulierende amerikanische Börsenaufsicht spielen in diesem Feld inzwischen eine herausragende Rolle. Sie verfügen durch ihre Medienpräsenz bzw. durch die Möglichkeit, finanzielle Strafen anzudrohen und durchzusetzen, über erheblichen Einfluß in der Korruptionsbekämpfung. Ihre Sanktionen treffen private Unternehmen oft härter als die Verfolgung durch Gerichte und Staatsanwälte. Ein dritter Kreis von Schuldigen wird in der Debatte freilich nicht im mächtigen Zentrum, sondern in der Peripherie ausgemacht. Vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelten als Hochburgen der Korruption – dies ergibt bereits ein flüchtiger Blick auf Neuerscheinungen zu diesem Thema. Korruption erklärt (scheinbar), warum die Entwicklungshilfe an diese Länder in „dunklen Kanälen“ „versickert“, warum Entwicklung nicht stattfindet, oder, im Falle erfolgreicher Aufholgesellschaften wie China, warum mächtige Industriekonzerne in der Lage sind, ihre Interessen gegenüber der Bevölkerung oder gegenüber westlichen Mitbewerbern durchzusetzen.2 Korruption steht in diesem Zusammenhang also für Opazität, erklärt die offenbar nur schwer durchschaubaren Verhältnisse in fremden und oft sehr dynamischen Gesellschaften – und zwar als Abweichung von der moralisch anerkannten Norm. Diese eher essayistische Einstimmung beansprucht nicht, die gegenwärtigen Debatten umfassend zu analysieren. Sie möchte vielmehr den Kontext der in diesem Band versammelten historischen und sozialwissenschaftlichen Beiträge abstecken und darauf hinweisen, daß die Debatten über Korruption sowohl gesellschaftlich hochrelevant als auch oft von abziehbildartigen Motiven geprägt sind. Im Gegensatz zu Juristen, Politikwissenschaftlern und Soziologen haben sich Historikerinnen und Historiker bislang nur spärlich in der Korruptionsdebatte zu Wort gemeldet. Für die deutsche Geschichtswissenschaft stellt der vorliegende Band in dieser Hinsicht einen wichtigen Schritt dar, allerdings im Sinne eines konsequent fachwissenschaftlichen Austausches. Nichtsdestoweniger haben die Reflexionen und Erträge der hier präsentierten Arbeiten aktuelle Relevanz, gerade weil sie viele der

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Zur Entwicklungszusammenarbeit etwa Michael Johnston, Syndromes of Corruption. Wealth, Power, and Democracy. Cambridge 2006 und der Beitrag von Axel Paul in diesem Band.

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Einleitung

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musterbildartigen Annahmen der öffentlichen Debatte mittels historischer Analyse hinterfragen oder ihre Genese beleuchten.

Literaturlage Die sozial-, rechts- und politikwissenschaftliche sowie ethnologische Forschung hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema Korruption befaßt.3 Neben empirischen Studien liegt eine fast unübersehbare Anzahl von Definitionen und konzeptionellen Ansätzen vor.4 Demgegenüber hat sich die Geschichtswissenschaft nur sehr zögerlich mit diesem Themenfeld befaßt. Schwerpunkte der deutschsprachigen Literatur liegen vor allem im Bereich des römischen Stimmen- und Ämterkaufs, wo insbesondere die Arbeiten von Wolfgang Schuller Maßstäbe gesetzt haben.5 Bereits 1981 hat Paul Veyne in einem vielzitierten Aufsatz auf die Funktionalität von korrupten Beziehungen in der Spätantike verwiesen, damit allerdings auch die Verwendung des Begriffs selbst in Frage gestellt. Veyne macht dabei auf einen Umstand aufmerksam, der wohl für die gesamte Korruptionsgeschichte gelten darf, nämlich die Tatsache, daß zwischen den kodifizierten Normen und 3

James C. Scott, Comparative Political Corruption. Englewood Cliffs 1972; Sabine Ruß, Die Republik der Amtsinhaber. Politikfinanzierung als Herausforderung liberaler Demokratien am Beispiel Frankreichs und seiner Reformen von 1988 und 1990. BadenBaden 1993; Hilary Appel, Corruption and the Collapse of the Czech Transition Miracle, in: East European Politics and Societies 15, 2001, 528–553; Christian Höffling, Korruption als soziale Beziehung. Opladen 2002; Ralph Angermund, Helmut Kohl ist wohl doch kein Wassangri. Neue und alte Thesen zum Thema Korruption, in: Neue politische Literatur 47, 2002, 380–389; Hans Herbert von Arnim/Britta Bannenberg (Hrsg.), Korruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft. München 2003; Thomas Herzfeld, Corruption Begets Corruption. Zur Dynamik und Persistenz der Korruption. Frankfurt am Main 2004; Martin Kreutner (Hrsg.), The Corruption Monster. Ethik, Politik und Korruption. Wien 2006. 4 Ernst-Heinrich Ahlf, Zum Korruptionsbegriff, in: Kriminalistik 50, 1996, 154–158; Arnold Heidenheimer/Michael Johnston (Eds.), Political Corruption. Concepts & Contexts. 3. Aufl. New Brunswick 2002; Harald Bluhm/Karsten Fischer (Hrsg.), Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht. Theorien politischer Korruption. Baden-Baden 2002; Herbert H. Werlin, Secondary Corruption. The Concept of Political Illness, in: The Journal of Social, Political and Economic Studies 27, 2002, 341–362; Ingo Techmeier, Immer und überall Marktprozesse? Korruption und ökonomische Theorie, in: Forum Recht 20, Nr. 4, 2002, 128–131; Oskar Kurer (Hrsg.), Korruption und Governance aus interdisziplinärer Sicht. Neustadt an der Aisch 2003; Ulrich von Alemann, Politische Korruption. Ein Wegweiser zum Stand der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Wiesbaden 2005, 13–49. 5 Wolfgang Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, 372–392; ders. (Hrsg.), Korruption im Altertum. München 1982; ders., Ambitus in der späten römischen Republik. Wahlbestechung oder Entscheidungshilfe?, in: Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 3, 1999, 185–197; ders., Korruption in der Antike, in: von Alemann (Hrsg.), Dimensionen (wie Anm. 4), 50–58.

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Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir und Alexander Nützenadel

den Praktiken unterschieden werden muß.6 In vormodernen Gesellschaften gehörten Ämter- und Stimmenkauf bis hin zur Patronage zur sozialen Realität. Sie waren zwar häufig formal verboten, doch galten sie in den meisten Situationen als alternativlos, ja sogar als legitim. Entscheidend für die Beurteilung der Praktiken waren also die sozialen Kontexte. Auf diesen Zusammenhang weist auch die Studie von Valentin Groebner hin, die sich mit den Bestechungspraktiken in spätmittelalterlichen Städten befaßt. Groebner unterstreicht, daß Geschenke zum Umgang mit öffentlichen Amtsträgern selbstverständlich dazugehörten. Allerdings machte es einen wichtigen Unterschied, ob Geschenke öffentlich überreicht oder heimlich gemacht wurden. Letzteres galt in der Regel als illegitim und korrupt.7 Lange Zeit war die Beschreibung frühneuzeitlicher Gesellschaften durch Jakob van Klaveren sehr einflußreich. Klaveren zufolge bestand das Wesen vormoderner Amtsführung darin, daß die Amtsinhaber ihre Stellung als „Betrieb“ nutzten, den sie gewinnorientiert auszubeuten trachteten.8 Diese Ansicht wird mittlerweile allerdings kaum noch vertreten, zumal jüngere Arbeiten zeigen, daß es auch in der Frühen Neuzeit ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Unterschiede zwischen individuellem Nutzen, klientel- oder familienspezifischen Interessen und einem überindividuellen Gemeinwohl gab. Allerdings standen diese Normensysteme in einer Konkurrenz zueinander, die sich gewissermaßen nicht auflösen ließ. Daher ist Korruption in der Frühneuzeit weniger als Praxis, sondern vielmehr als (An-)Klage von Interesse. Korruptionskritik kann somit als situative Strategie verstanden werden, die vor allem von den Personengruppen aufgegriffen wurde, die aus bestimmten Begünstigungssystemen ausgeschlossen waren. Der klassische Fall sind offenbar Korruptionsklagen kurz vor oder nach dem Fall eines Günstlings bei Hofe.9 Verhältnismäßig gut sind wir über die Geschichte der Korruption im 6

Paul Veyne, Clientèle et corruption au service de l’État. La vénalité des offices dans le Bas-Empire romain, in: Annales Économies, Sociétés, Civilisations 36, 1981, 339–360. 7 Valentin Groebner, Angebote, die man nicht ablehnen kann. Institution, Verwaltung und die Definition von Korruption am Ende des Mittelalters, in: Reinhard Blänkner (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998, 163–184; ders., Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000; ders., The City Guard’s Salute. Legal and Illegal, Public and Private Gifts in the Swiss Confederation around 1500, in: Gadi Algazi (Ed.), Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003, 247– 267. 8 Jacob van Klaveren, Die historische Erscheinung der Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289–324. 9 Kritik an van Klaveren bereits bei Schuller, Probleme (wie Anm. 5). Zur Frühneuzeit neben dem Klassiker von Jean-Claude Waquet, De la corruption. Morale et pouvoir à Florence aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1984, jüngst vor allem mehrere Beiträge in Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaf-

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Einleitung

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frühneuzeitlichen England informiert. Hier hat die besondere Stellung des Parlaments der Kritik an Korruption eine herausragende Bedeutung beschert. Die Möglichkeit des Parlaments, gegen Amtsträger Gerichtsverfahren anzustrengen, war häufig ein Mittel, korrupte Verhaltensweisen an den Pranger zu stellen und damit zugleich politische Gegner in Bedrängnis zu bringen – ein Verfahren, das vor allem zwischen dem frühen 17. und späten 18. Jahrhundert verbreitet war. Auch der Einsatz von Patronageressourcen zur Beeinflussung der Zusammensetzung des Parlaments ist in der historischen Literatur untersucht worden – nicht zuletzt, weil auch dies schon von den Zeitgenossen diskutiert wurde, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert.10 Damit einher ging eine ausgedehnte Debatte über Bürgertugenden, in der die Ächtung von korruptem Verhalten bei Amtsträgern eine zentrale Rolle spielte. Diese Debatte wurde im übrigen auch in den nordamerikanischen Kolonien rezipiert und trug zur Ausbildung jener politischen Kultur bei, welche die Grundlage für die Unabhängigkeitsbewegung darstellte.11 ten. Göttingen 2006; vgl. auch Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313–350, hier 321–327. 10 Peter J. Marshall, The Impeachment of Warren Hastings. London 1965; Joel Hurstfield, Political Corruption in Modern England. The Historian’s Problem, in: History 52, 1967, 16–34; ders., Freedom, Corruption and Government in Elizabethan England. Cambridge 1973; Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 234, 1981, 33–62; Linda Levy Peck, Corruption at the Court of James I. The Undermining of Legitimacy, in: Barbara C. Malament (Ed.), After the Reformation. Essays in Honor of J. H. Hexter. Manchester 1980, 75–93; dies., Court Patronage and Corruption in Early Stuart England. Boston 1990; Wilfrid Prest, Judicial Corruption in Early Modern England, in: Past and Present 133, 1991, 67–95; ferner J. S. Cockburn, The Spoils of Law. The Trial of Sir John Hele, 1604, in: DeLloyd J. Guth/J. W. McKenna (Eds.), Tudor Rule and Revolution. Cambridge 1982, 309–343; Geoffrey Elton, How Corrupt was Thomas Cromwell?, in: The Historical Journal 36, 1993, 905–908; Joseph S. Block, Political Corruption in Henrician England, in: Charles Hope Carlton et al. (Eds.), State, Sovereigns & Society in Early Modern England. New York 1998, 45–57; Eckhart Hellmuth, Why Does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Proceedings of the British Academy 100, 1999, 5–23; David D. Hebb, Profiting from Misfortune. Corruption and the Admiralty under the Early Stuarts, in: Thomas Cogswell/Richard Cust/Peter Lake (Eds.), Politics, Religion and Popularity in Early Stuart Britain. Cambridge 2002, 103–123; Joanna Bath, County Keeping, Corruption, and the Courts in the Early-Eighteenth-Century Borders: The Feud of William Charlton and William Lowes, in: Northern History 2003, 40, 113–127. 11 John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975; Richard K. Matthews (Ed.), Virtue, Corruption, and Self-Interest: Political Values in the Eighteenth Century. Bethlehem/London 1994; James D. Savage, Corruption and Virtue at the Constitutional Convention, in: Journal of Politics 56, 1994, 174–186; vgl. auch Malcolm Jack, Corruption & Progress. The Eighteenth-Century Debate. New York 1989.

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Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir und Alexander Nützenadel

Auffällig ist, daß die Geschichte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Korruptionsforschung so gut wie nicht vorkommt, sieht man von wenigen neueren Beiträgen ab, die häufig nur erste Bestandsaufnahmen von verstreut vorliegenden Informationen liefern.12 Die Korruptionsproblematik findet sich darüber hinaus fast ausschließlich in Beiträgen behandelt, deren eigentliches Erkenntnisinteresse anderen Themen gilt.13 In den Studien zur Verwaltungsgeschichte wird die Korruptionsfrage, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Die meisten Autoren gehen davon aus, daß korrupte Praktiken infolge der Verwaltungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts weitgehend verschwinden.14 Die Bedeutung von Korruption für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts ist somit kaum mehr als in Umrissen zu erkennen. Eines der wichtigsten Desiderate besteht darin, diese für die Entstehung der aktuellen Korruptionsauffassung so entscheidende Epoche gründlich zu untersuchen, zumal sich der Korruptionsdiskurs im letzten Drittel des Jahrhunderts stark ausdifferenzierte. Die Literatur zu Großbritannien im gleichen Jahrhundert ist weitaus reichhaltiger. Hier existiert eine ganze Reihe von Studien, insbesondere zu den Praktiken der „Old Corruption“, die im Zuge der politischen Reformdebatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts heftig kritisiert wurden. Vor allem standen

12 Frank Bösch, Die Veröffentlichung des Geheimen. Skandale, Öffentlichkeiten und Massenmedien im imperialen Deutschland und Großbritannien (im Druck), vgl. auch ders., Krupps „Kornwalzer“. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 281, 2005, 337–379; Engels, Korruption (wie Anm. 9). 13 Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890–1914. Cambridge 1977; Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurt am Main 1978; Joachim Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. München 1991; Raimund Waibel, Frühliberalismus und Gemeindewahlen in Württemberg (1817–1855). Das Beispiel Stuttgart. Stuttgart 1992, hier kurze Angaben 147 und 150; Gerhard Finkbeiner, Der Seelbacher Wahlskandal von 1842. Bestechung von Urwählern bei der Seelbacher Wahlmänner-Wahl im März 1842 durch die Lahrer Parteien die „Blauen“ und die „Gelben“, in: Die Ortenau 80, 2000, 411–432. Zur Käuflichkeit des bayerischen Königs Ludwig II. im Zusammenhang mit der Reichsgründung Hans Rall, Bismarcks Reichsgründung und die Geldwünsche aus Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 22, 1959, 396–497; Hans Philippi, König Ludwig II. von Bayern und der Welfenfonds, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 23, 1960, 66–89; Eberhard Weis, Vom Kriegsausbruch zur Reichsgründung. Zur Politik des bayerischen Außenministers Graf Bray-Steinburg im Jahr 1870, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33, 1970, 787–810; Dieter Albrecht, König Ludwig II. von Bayern und Bismarck, in: Historische Zeitschrift 270, 2000, 39–64. 14 Vgl. etwa Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens. Frankfurt am Main 1994; Bernd Wunder, Die badische Beamtenschaft zwischen Rheinbund und Reichsgründung (1806–1871). Dienstrecht, Pension, Ausbildung, Karriere, soziales Profil und politische Haltung. Stuttgart 1998; ferner ders., Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfurt am Main 1986; etwas ausführlicher Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830). Göttingen 1999.

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politische Patronage, die ausufernde Wirtschaftstätigkeit des Staates und das ungerechte Wahlsystem am Pranger.15 Insgesamt gibt es kaum ein Feld der historischen Korruptionsforschung, das so intensiv bearbeitet worden ist wie die Bestechungspraxis bei britischen Unterhauswahlen des 19. Jahrhunderts.16 Ferner liegen Studien zur Polizeikorruption, zu Machenschaften von Eisenbahnunternehmen, zum politischen Lobbyismus, zum Titelhandel sowie zu den Korruptionsskandalen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor.17 Etwas weniger ausdifferenziert ist die Forschung zu Frankreich.18 Wichtige Arbeiten existieren inzwischen zur Begriffsgeschichte in der Frühen Neu15 W[illiam] D[avid] Rubinstein, The End of „Old Corruption“ in Britain, 1780–1860, in: Past and Present 101, 1983, 55–86; Philip Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846. Oxford 1996; ders., Rethinking Old Corruption, in: Past and Present 147, 1995, 127–158; ders., Parliament, the State, and „Old Corruption“. Conceptualising Reform, c. 1790–1832, in: Arthur Burns/Joanna Innes (Eds.), Rethinking the Age of Reform. Britain 1780–1850. Cambridge 2003, 98–113. 16 Charles Seymour, Electoral Reform in England and Wales. The Development and Operation of the Parliamentary Franchise 1832–1885. New Haven 1915; W. L. Burn, Electoral Corruption in the Nineteenth Century, in: Parliamentary Affairs 4, 1951, 437–442; Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1868–1911. Oxford 1962; William B. Gwyn, Democracy and the Cost of Politics in Britain. London 1962; J. J. Sack, The House of Lords and Parliamentary Patronage in Great Britain, 1802–32, in: The Historical Journal 23, 1980, 913–937; A. P. V. Whitehead, Petitions, Parliament and the Public: An Analysis of the Changing Nature of Electoral Corruption 1868–1883. PhD University of Southampton 1984; K. Theodore Hoppen, Roads to Democracy: Electioneering and Corruption in Nineteenth-Century England and Ireland, in: History 81, 1996, 553–571. Stellvertrend für eine große Zahl von Lokalstudien E. A. Smith, Bribery and Disfranchisement. Wallingford Elections, 1820–32, in: English Historical Review 75, 1960, 618–630; J. R. Howe, Corruption in the British Elections in the Early Twentieth Century. Some Examples form Gloucestershire, in: Midland History 5, 1979/80, 63–77; M. A. Manai, Influence, Corruption and Electoral Behaviour in the Mid Nineteenth Century. A Case Study of Lancaster, 1847–1865, in: Northern History 29, 1993, 154–164. 17 Polizeikorruption: David Dixon, From Prohibition to Regulation. Bookmaking, AntiGambling, and the Law. Oxford 1991; James Morton, Bent Coppers. A Survey of Police Corruption. London 1993. Eisenbahnen: Geoffrey Alderman, The Railway Interest. Leicester 1973; A. J. Arnold/S. McCartney, George Hudson. The Rise and Fall of the Railway King. A Study in Victorian Entrepreneurship. London 2004. Lobbyismus: D. L. Rydz, The Parliamentary Agents: A History. London 1979; Frans Coetzee, Pressure Groups, Tory Businessmen and the Aura of Political Corruption Before the First World War, in: The Historical Journal 29, 1986, 833–852. Titelhandel: Harold J. Hanham, The Sale of Honours in Late Victorian England, in: Victorian Studies 3, 1960, 277–289. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Tom Cullen, Maundy Gregory, Purveyor of Honours. London 1974. Politische Korruption und Skandale: Alan Doig, Corruption and Misconduct in Contemporary British Politics. Harmondsworth 1984; G. R. Searle, Corruption in British Politics 1895–1930. Oxford 1987; Bentley B. Gilbert, David Lloyd George and the Great Marconi Scandal, in: Historical Research 62, 1989, 295–317; Mark Roodhouse, The 1948 Belcher Affair and Lynskey Tribunal, in: Twentieth-Century British History 13, 2002, 384–411. 18 Maryvonne Génaux, Early Modern Corruption in English and French Fields of Vision, in: Heidenheimer/Johnston (Eds.), Political Corruption (wie Anm. 4), 107–122.

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zeit19 sowie zur Korruption in der Revolutionszeit20 und in der napoleonischen Verwaltung21. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert dominieren Arbeiten über einzelne Korruptions- oder Finanzskandale, insbesondere in der JuliMonarchie und in der Dritten Republik.22 Allerdings ist auffällig, daß die meisten Arbeiten keine systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Korruption versuchen. Hinzu kommen auch für Frankreich Studien, die Stimmenkauf im Kontext von Wahlmanipulationen behandeln.23 Eine außergewöhnlich gute Literaturlage ist für die nordamerikanische Geschichte festzustellen, mit einem klaren Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Ein wichtiges Thema stellt die normative Funktion des Antikorruptionsdiskurses in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten bis Anfang des Jahrhunderts dar. Das alles dominierende Sujet sind jedoch die Finanzierungsund Funktionsmechanismen der politischen Parteien und ihre Korruptionsanfälligkeit sowie das sogenannte „Boss-System“ vor allem in den Großstädten des „Gilded Age“ und der „Progressive Era“.24 19

Maryvonne Génaux, Les mots de la corruption. La déviance publique dans les dictionnaires d’Ancien Régime, in: Histoire, Économie et Société 21, 2002, 513–530; dies., La „corruption“: Les fondements classiques et bibliques du discours politique dans la France moderne, in: Rivista di storia et letteratura religiosa 39, 2003, 227–247; Dieter Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hrsg. v. Rolf Reichardt. Bd. 14/15. München 1994, 7–54. Zur Verwaltungsgeschichte vgl. das Kapitel „De la corruption: officiers, fonctionnaires et idéal administratif“, in: Marcel Pinet (Éd.), Histoire de la fonction publique en France. Vol. 2: Du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1993, 389–407. 20 Olivier Blanc, La Corruption sous la Terreur (1792–1794). Paris 1992; Michel Bruguière, Gestionnaires et profiteurs de la Révolution. L’administration des finances françaises de Louis XVIII à Bonaparte. Paris 1986; Valérie Goutal-Arnal, Réalité et imaginaire de la corruption à l’époque de la Révolution française, in: Revue française de finances publiques 69, 2000, 95–114. 21 Gavin Daly, Inside Napoleonic France. State and Society in Rouen, 1800–1815. Aldershot 2001. 22 Adrien Dansette, L’Affaire Wilson et la chute du Président Grévy. Paris 1936; Jacques Chabannes, Les scandales de la „Troisième“. De Panama à Stavisky. Paris 1972; Gilbert Guilleminault/Yvonne Singer-Lecocq, La France des gogos. Trois siècles de scandales financiers. Paris 1975; Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama. Paris 1991; Jean-Marie Thiveaud, Crises et scandales financiers en France sous la Troisième République, in: Revue d’économie financière 41, 1997, 25–53; Paul F. Jankowski, Cette vilaine affaire Stavisky. Histoire d’un scandale politique. Paris 2000; William Fortescue, Morality and Monarchy. Corruption and the Fall of the Regime of Louis-Philippe in 1848, in: French History 16, 2002, 83–100; Jean Garrigues, Les scandales de la République. De Panama à l’affaire ELF. Paris 2003. 23 Jean-Paul Charnay, Les scrutins politiques en France de 1815 à 1962. Contestations et invalidations. Paris 1964; Alain Garrigou, Le vote et la vertu. Comment les Français sont devenus électeurs. Paris 1992; sehr knapp Raymond Huard, Le suffrage universel en France, 1848–1946. Paris 1991. 24 Der Klassiker ist ohne Zweifel Abraham S. Eisenstadt/Ari Hoogenboom/Hans L. Trefousse (Eds.), Before Watergate. Problems of Corruption in American Society. Brooklyn 1978. Humbert S. Nelli, John Powers and the Italians. Politics in a Chicago Ward, 1896–

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Die großen Korruptionsfälle der Weimarer Republik sind inzwischen gut erforscht, nicht zuletzt wegen ihrer verheerenden Folgen für die Entwicklung der ersten deutschen Demokratie. Sie dienten der rechtsnationalen Presse als Beleg für die Verkommenheit des parlamentarischen Systems und wurden von der NSDAP für ihre antisemitischen Hetzkampagnen instrumentalisiert.25 Umfassende Studien liegen auch zum Bestechungs- und Patronagesystem des Nationalsozialismus vor. Hierbei steht in der Regel die Frage im Mittelpunkt, inwieweit Korruption zu den Strukturmerkmalen der Diktatur gehörte. Offensichtlich gründete sich Hitlers Herrschaft nicht allein auf die charismatische Bindung zwischen Führer und Gefolgschaft, sondern bedurfte zusätzlicher materieller Anreize. Der „Führerstaat“ war daher besonders anfällig für Korruption.26 1921, in: The Journal of American History 57, 1970, 67–84; John Allswang, Bosses, Machines, and Urban Voters. 2. Aufl. Baltimore 1986; Marc W. Summers, The Plundering Generation. Corruption and the Crisis of the Union, 1849–1861. New York 1987; ders., The Spoils of War, in: North & South 2003, 82–89; ders., Party Games: Getting, Keeping, and Using Power in Gilded Age Politics. Chapel Hill 2004; Richard C. Lindberg, To Serve and Collect: Chicago Politics and Policy Corruption from the Lager Beer Riot to the Summerdale Scandal, 1855–1960. Carbondale 1998; Abraham S. Eisenstadt, Political Corruption in American History, in: Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston/Victor T. LeVine (Eds.), Political Corruption. A Handbook. New Brunswick 1990, 537–556; Raimund Lammersdorf, Chester A. Arthur (1881–1885): Der Sumpf von Patronage und Korruption, in: Jürgen Heideking (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten. München 1995, 222–228; Gil Troy, Money and Politics. The Oldest Connection, in: Wilson Quarterly 21, Nr. 3, 1997, 14–32; Michael A. Morrison, Distribution or Dissolution: Western Land Policy, Economic Development, and the Language of Corruption, 1837–41, in: American Nineteenth-Century History 1, 2000, 1–33; Hélène Harter, Des villes américaines entre corruption et réforme à la fin du XIXe siècle. L’exemple de la gestion des travaux publics à Baltimore, in: Histoire urbaine 6, 2002, 115–130; Peri E. Arnold, Democracy and Corruption in the 19th-Century United States: Parties, „Spoils“ and Political Participation, in: Seppo Tiihonen (Ed.), The History of Corruption in Central Government. Amsterdam 2003, 197–211; Mark S. Grossmann, Political Corruption in America. An Encyclopedia of Scandals, Power and Greed. Santa Barbara 2003; Richard White, Information, Markets, and Corruption: Transcontinental Railroads in the Gilded Age, in: Journal of American History 90, 2003, 19–43; Kurt A. Hohenstein, Coining Corruption: Deliberative Democracy, the Constitution, and the Making of the American Campaign Finance System, 1876– 1976. University of Virginia 2004. 25 Dagmar Reese, Skandal und Ressentiment. Das Beispiel des Berliner Sklarek-Skandals, in: Rolf Ebbinghausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt am Main 1989, 374–395; Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5, 1996, 46–65; Cordula Ludwig, Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924–1934. Frankfurt am Main 1998. 26 Lothar Gruchmann, Korruption im Dritten Reich. Zur „Lebensmittelversorgung“ der NS-Führerschaft, in: VfZ 42, 1994, 571–593; Ralph Angermund, Korruption im Nationalsozialismus. Eine Skizze, in: Christian Jansen (Hrsg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1995, 371–383; Cordula Ludwig, Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924–1934.

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Zur westdeutschen Geschichte nach 1945 liegen dagegen kaum umfassende Studien mit wissenschaftlichem Anspruch vor, sieht man von verstreuten Beiträgen zur Parteienfinanzierung ab.27 Insbesondere fehlt es an tiefergehenden Analysen zur Korruption in der Bundesrepublik.28 Nach wie vor in den Kinderschuhen steckt die Geschichte der Korruption in der DDR.29 Den ersten Versuch, für ein Land die historischen Tiefenstrukturen epochenübergreifend zu analysieren, bildet das 2006 angelaufene Forschungsprojekt „Under Construction. The Genesis of Public Value Systems“ an der Vrije Universiteit Amsterdam. Dieses Projekt untersucht am Beispiel von Korruptionsskandalen in den Niederlanden zwischen 1650 und 1950 die Entstehung und Veränderung von Wertesystemen, auf denen legitimes Verwaltungshandeln aufbaute.30 Zu den großen Desideraten der Forschung gehören länderübergreifende und vergleichende Studien sowie übergreifende Synthesen, die das Phänomen in langfristiger Perspektive analysieren. Erste Ansätze dazu finden sich

Frankfurt am Main 1998; Gerd R. Ueberschär/Winfried Vogel, Dienen und verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten. Frankfurt am Main 1999; Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2001; ders., Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus, in: Martin Sabrow (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen 2004, 59–76; ders., The Holocaust and Corruption, in: Gerald D. Feldman (Ed.), Networks of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business, and the Organization of the Holocaust. New York/Oxford 2005, 118–138; Birgit Bernard, Korruption im Rundfunk der NSZeit, in: Rundfunk und Geschichte 28, 2002, 60–67; Christian Rohrer, War Gauleiter Koch korrupt?, in: Karsten/von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke (wie Anm. 9), 46–69. 27 Bernd Wunder, La corruption dans l’administration allemande, in: Tiihonen (Ed.), History (wie Anm. 24), 119–144; Christine Landfried, Parteifinanzen und politische Macht. Eine vergleichende Studie zur Bundesrepublik Deutschland, zu Italien und den USA. 2. Aufl. Baden-Baden 1994; Frank Bösch, Die Entstehung des CDU-Spendensystems, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49, 2001, 695–711. 28 Paul Noack, Korruption. Die andere Seite der Macht. München 1985; Jürgen Roth, Der Sumpf. Korruption in Deutschland. München 1995; Dieter Huge/Regina Schmidt/ Dietrich Thränhardt, Politische Korruptionsskandale auf Bundesebene 1949–1986, in: Jürgen Bellers (Hrsg.), Politische Korruption – vergleichende Untersuchungen. Münster 1989, 38–59. 29 Matthias Kehr, Aus den Ermittlungen der Untersuchungskommission zur Bearbeitung von Korruption, Amts- und Machtmißbrauch in der DDR, in: Archiv für Polizeigeschichte 10, 1999, 15–26; Willi Fahnenschmidt, DDR-Funktionäre vor Gericht. Die Strafverfahren wegen Amtsmißbrauch und Korruption im letzten Jahr der DDR und nach der Vereinigung. Berlin 2000; Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 3: Amtsmissbrauch und Korruption. Berlin 2002. 30 Vgl. dazu Pieter Wagenaar/Otto van der Meij/Manon van der Heijden, Corruptie in de Nederlanden, 1400–1800, in: Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis 2, 2005, 3–21; Pieter Wagenaar/Otto van der Meij, Een Schout in de Fout? Fred Rigg’s prismatische Model toegepast op de Zak von Banchem, in: Tijdschrift voor Sociale en Economische Geschiedenis 2, 2005, 22–46.

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in einigen verstreuten Aufsätzen zum Parlamentarismus und zu spätfrühneuzeitlichen Reformen sowie in einigen Kapiteln des Standardwerks zur politischen Korruption von Arnold Heidenheimer und Michael Johnston, sowie in einem Sammelband zur Verwaltungskorruption aus dem Jahr 2003.31

Chancen und Risiken der Korruptionsgeschichte Ein lohnenswertes Objekt der Geschichtsschreibung ist die Korruption indes nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff als nahezu universell erscheint. In den europäisch-westlichen Gesellschaften ist Korruption seit der klassischen Antike bekannt und in unterschiedlicher Intensität fast durchgängig bis zur Gegenwart debattiert worden. Spätestens mit der europäischen Expansion gewann die Korruptionsthematik auch für die außereuropäische Welt Relevanz. Angesichts des derzeitigen Booms der Welt-, Global- und Universalgeschichte sowie der Verbindung von Transfer- und Vergleichsforschung bietet ein solches Thema mit nahezu universaler Bedeutung daher vielfältige Anknüpfungspunkte für die historische Forschung. Allerdings muß einschränkend hinzugefügt werden, daß diese Universalität begrenzt ist. So verbreitet der Begriff der Korruption war, so unterschiedlich sind doch die sozialen Phänomene, die er beschreibt. Daher lehnen die Autoren dieses Bandes die Vorstellung einer überzeitlichen Praxis der Korruption als Konstante menschlichen Verhaltens auch ab. Universale Gültigkeit kann allenfalls der Begriff der Korruption als Benennung für moralisches Fehlverhalten und Machtmißbrauch beanspruchen. Der historischen Wandelbarkeit des Korruptionsverständnisses entspricht die bereits hervorgehobene Tatsache, daß eine kaum übersehbare Zahl unterschiedlicher Begriffsbestimmungen existiert. Ausgangspunkt ist häufig die knappe, klassische und oft als Standarddefinition betrachtete Formel Korruption ist der Mißbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Nutzen. Viele Definitionsversuche fallen jedoch wesentlich umfangreicher aus und enthalten eine Vielzahl von Komponenten. Verstöße gegen öffentliche Normen, gegen das Gemeinwohl, ökonomische Funktionalität und Dysfunktionalität, Intransparenz und ähnliche Gesichtspunkte spielen dabei häufig eine Rolle. Auch die Autoren dieses Bandes arbeiten mit unterschiedlichen Ansätzen

31 Zu den wenigen Ausnahmen gehören: Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in der Geschichte des Parlamentarismus, in: Rolf Ebbinghausen (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt am Main 1989, 130–148; Hellmuth, Corruption (wie Anm. 10); James C. Scott, Handling Historical Comparisons Cross-Nationally, in: Heidenheimer/Johnston (Eds.), Political Corruption (wie Anm. 4), 123–136; vgl. Scott, Corruption (wie Anm. 3); Seppo Tiihonen (Ed.), The History of Corruption in Central Government. Amsterdam 2003.

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und reflektieren auf diese Weise die Wandelbarkeit der Korruptionsauffassungen. Zu den großen methodischen Herausforderungen der Forschung gehört ein zweiter Aspekt, der ebenfalls in vielen Beiträgen explizit oder implizit betrachtet wird. Gemeint ist die Tatsache, daß sich der Korruptionsdiskurs nur schwer von seiner normativen Grundlage lösen läßt: Das Wort „Korruption“ ist immer negativ konnotiert, mit ihm assoziieren sich Bilder von Unmoral, Verfall und Zersetzung. Es handelt sich somit um einen Begriff, dessen normative Aufladung eine besonders eingehende historische Reflexion der zeitgenössischen Semantik erfordert. Weder ist es statthaft, sich den negativen Urteilen zeitgenössischer Korruptionskritiker bedenkenlos anzuschließen, noch macht es Sinn, historische Phänomene mit dem Instrumentarium aktueller Korruptionsauffassungen gleichsam „richterlich“ zu würdigen. Zu uneindeutig sind in den meisten Fällen die zeitgenössischen Normensysteme – und die Übertragung gegenwärtiger Konzepte bedeutete schlichtweg einen Anachronismus. Ähnliche Umsicht erfordert auch das Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken (vgl. den Beitrag von Andreas Fahrmeir). Formal mag es befriedigend sein, Korruption als reinen Quellenbegriff zu betrachten und die Praktiken ausschließlich im Lichte der zeitgenössischen Begriffsbildung zu analysieren. Allerdings gibt es Gesellschaften, in denen Arenen für öffentliche Korruptionsdebatten nicht existierten. Dieses Problem stellt sich vor allem bei der historischen Analyse von Diktaturen und totalitären Regimen (vgl. die Beiträge von Frank Bajohr und André Steiner). Man könnte sich damit behelfen, die Praktiken auf der Grundlage alternativer Begriffe zu analysieren.32 Freilich kann auf den Begriff der Korruption nicht verzichten, wer Korruptionsforschung zu betreiben beansprucht. Auch wenn das angesprochene Dilemma nicht ohne weiteres lösbar ist, steht doch fest, daß die Korruptionsforschung vor allem an den Punkten interessant scheint, wo sie die Beziehungen zwischen abstrakten Normsystemen und Debatten über Normen einerseits und tatsächlich geübten Handlungsweisen andererseits in den Blick nimmt. Die Korruptionsgeschichte ermöglicht somit, das Spannungsfeld zwischen „gedachten“ und „gelebten“ Normen zu vermessen und das für moderne Gesellschaften virulente Problem der Normenkonkurrenz zu analysieren. Sie kann dafür sensibilisieren, daß Normensysteme vielschichtige historische Konstrukte darstellen, die soziales Handeln ermöglichen, ohne es zu determinieren. Man wird der Komplexität des Themas kaum gerecht, wenn man lediglich nach der Fähigkeit von Gesellschaften fragt, ihre (Korruption verurteilenden) Normen durchzusetzen. Vielmehr ist eine Konkurrenz unterschiedlicher Normen offensichtlich ein charakteristisches Element moderner Gesellschaften. 32

Vgl. die knappen Überlegungen bei Engels, Korruption (wie Anm. 9).

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Die Untersuchung der normativen Grundlagen von Korruption ist ohne historische Reflexion schlechterdings nicht möglich. So ist nicht zu verkennen, daß das heutige Verständnis von Korruption eng mit Normen und gesellschaftlichen Realitäten verbunden ist, die aus der europäischen Sattelzeit stammen. Unser Korruptionsbegriff ist folglich ein Produkt der europäischen und nordamerikanischen Geschichte der letzten zweihundertfünfzig Jahre. Viel spricht dafür, daß im Kampf gegen Korruption letztlich über die Geltung einer ganzen Reihe von Bauprinzipien moderner Gesellschaften „verhandelt“ wurde und wird. Dazu gehört die Vorstellung, daß vormoderne oder noch nicht moderne, etwa indigene Gesellschaften strukturell zu Korruption neigen, während moderne Gesellschaften zumindest gegen Korruption ankämpfen. Modern sind auch die dem heutigen Korruptionsbegriff zugrunde liegende Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit sowie die Auffassung guter bürokratischer Praxis als Gegenbild zur korrupten Verwaltung (vgl. unter anderem die Beiträge von Axel Paul, Susanne Schattenberg und Jens Ivo Engels). Beschäftigung mit Korruption verspricht daher wertvolle Einblicke in die Geschichte der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Dieser Befund bedeutet allerdings nicht, daß die Erforschung von Korruption auf die europäische Moderne beschränkt bleiben muß. Im Gegenteil: Gerade der Vergleich zwischen vormodernen und modernen Praktiken ermöglicht einen wichtigen Erkenntnisgewinn und verweist nicht zuletzt auf die Kontinuität vormoderner Klientelstrukturen (vgl. die Beiträge von Alexander Nützenadel und Hillard von Thiessen). Indem Grundannahmen hinter dem modernen Korruptionskonzept als epochen- und kulturspezifisch und eben nicht als universal erkannt werden, entgeht man dabei auch der teleologischen Engführung (vgl. den Beitrag von Karsten Fischer). Möglicherweise deuten die eingangs beschriebenen Motive der aktuellen Korruptionsdebatte ja darauf hin, daß einige „moderne“ Prinzipien wie die strikte Gegenüberstellung von Öffentlichkeit und Privatsphäre an Relevanz verlieren und einem neuen post-modernen Verständnis weichen, das diese Sphären weniger trennscharf beschreibt. Korruptionsgeschichte ist kein neues, methodisch oder theoretisch fundiertes Paradigma, das etwa beanspruchen könnte, historische Erkenntnis auf neue Grundlagen zu stellen. Freilich handelt es sich auch um mehr als nur eine zusätzliche Sachgeschichte, die den Fächer der Kriminalhistorie um ein weiteres Delikt bereichert. Vielmehr zeigen die hier versammelten Beiträge, daß die Geschichte der Korruption einen multiperspektivischen Zugang zu unterschiedlichen Gesellschaften bietet. Wer sich mit Korruptionsgeschichte beschäftigt, erhält nicht nur, wie bereits angedeutet, einen Einblick in dominierende und gegebenenfalls auch marginalisierte Normensysteme und Moralvorstellungen. Die mit dem Korruptionsvorwurf häufig verbundenen Vorstellungen vom Niedergang einer

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Gesellschaft können Auskunft über ihr Zeitempfinden geben. Vor allem im Kontext der politischen Korruption – aber nicht nur ihr – geht es stets auch um Fragen der Machtausübung, ihrer Kontrolle oder auch ihrer Manipulation durch berechtigte wie unberechtigte Akteure. Dabei stehen Fragen sozialer Ausschlußmechanismen ebenso zur Debatte wie Versuche, diese zu umgehen oder zu verändern. Korruptionsgeschichte sollte sich stets eines methodischen Pluralismus befleißigen. Ohne eine zumindest ansatzweise betriebene Begriffsgeschichte wird man sich in den oben erwähnten Fallstricken verheddern (vgl. den Beitrag von Werner Plumpe). Mit Blick auf die Praktiken der „Korruption“ ist es außerdem sinnvoll, sich mit den Ansätzen der in den letzten Jahren boomenden Verflechtungsforschung zu beschäftigen, die insbesondere mit den zentralen Begriffen Patronage und Gabentausch versucht, informelle und personale Bindungen zu analysieren.33 Noch allgemeiner formuliert verlangt die Korruptionsforschung, so sie sich auf Praktiken bezieht, nach einem akteurs- und handlungsorientierten Ansatz, der sich im Sinne einer qualitativen Sozialgeschichte den Verhaltensweisen und Soziabilitätsformen widmet. Da Korruptionsdebatten und -skandale nicht selten hohe Aufmerksamkeit beanspruchen, liegt die Nähe zur Mediengeschichte und zur Geschichte der Öffentlichkeit auf der Hand (vgl. den Beitrag von Frank Bösch). Vor allem die Geschichte der politischen Korruption kann sich getrost im weiteren Kontext der derzeit dominanten kultur- und sozialgeschichtlich informierten Politikgeschichte verorten, wobei sie die Chance hat, besonders konsequent zwischen Mikro- und Makroperspektive zu vermitteln. Als wichtiges Desiderat erscheint uns allerdings die Verbindung dieser Ansätze mit der Wirtschaftsgeschichte, zumal die Frage vollkommen offen ist, welche Rolle „korrupte“ Beziehungen für die Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie hatten. Hierbei steht insbesondere das Verhältnis zwischen regulierenden (meist staatlichen) Instanzen und den „regulierten“ Marktteilnehmern im Mittelpunkt. Gerade vor dem Hintergrund einer aktuell sehr korruptionskritischen Wirtschaftswissenschaft scheint die Klärung dieser Frage alles andere als ein irrelevantes Glasperlenspiel. Dies bedeutet aber auch, die informellen, weitgehend im Verborgenen wirkenden „Institutionen“ politisch-wirtschaftlicher Soziabilität besonders ernst zu nehmen. Daneben bleiben die „klassischen“ Untersuchungsfelder der Korruption, insbesondere die Verwaltungs- und die Justizgeschichte, weiterhin von Relevanz. Zu den ganz großen Desideraten der Korruptionsgeschichte gehören schließlich international und epochenübergreifend vergleichende Studien sowie Synthesen, die auch für einzelne Länder noch weitgehend fehlen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die anderen europäischen 33 Zahlreiche Verweise auf die Literatur bei Karsten/von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke (wie Anm. 9).

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Länder. Aber gerade die deutschsprachige Korruptionsgeschichte bietet derzeit ein Bild disparater Einzelstudien und isolierter Zugänge, die (noch) in keinem gemeinsamen Diskussionszusammenhang stehen. Der vorliegende Band kann die großen Lücken selbstverständlich nicht schließen, soll aber am Beginn einer disziplinären Debatte über Korruption stehen und kann möglicherweise entsprechende Studien anregen. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die am 30. Juni und 1. Juli 2006 am Zentrum für Europäische Studien der Universität zu Köln stattfand und die von der Fritz Thyssen Stiftung großzügig unterstützt wurde, der die Herausgeber an dieser Stelle nochmals herzlich danken. Für die Möglichkeit, die Ergebnisse in Form eines Beiheftes der Historischen Zeitschrift zu veröffentlichen, sind wir deren Herausgeber, Lothar Gall, zu großem Dank verpflichtet. Unser Dank gilt außerdem den Hilfskräften, die an drei Standorten zum Gelingen von Tagung und Buch beigetragen haben, namentlich Anna Bremen und Annika Klein in Köln, Andrea Bargon in Frankfurt am Main sowie Robert Bernsee und Kata Kottra in Freiburg. Alle Beiträge wurden für den Druck grundlegend überarbeitet, ferner wurden einige Aufsätze zusätzlich für die Publikation aufgenommen, so daß das vorliegende Buch die Bandbreite der aktuellen deutschsprachigen Forschung zur Geschichte der Korruption seit der Frühen Neuzeit präsentiert.

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I. Methodik und Theorie

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Korruption Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen Von

Werner Plumpe I. Korruption ist – folgt man den derzeitigen Nachrichten in der Presse – ein verbreitetes, ja um sich greifendes Phänomen. Zwar ist häufig nicht recht klar, worauf das Wort genau referiert und ob es jeweils etwa mit einem klaren Straftatbestand verbunden ist; doch scheint ganz allgemein Vorteilsnahme und Bestechung um sich zu greifen, und zwar in einem historisch ganz präzedenzlosen Ausmaß und auch dort, wo man es bislang kaum vermutet hatte. Die vermeintliche Sicherheit, in entwickelten, rechtsstaatlich verfaßten, demokratischen Marktwirtschaften sei Korruption bestenfalls eine gelegentliche Randerscheinung, ist jedenfalls der Gewißheit gewichen, daß auch in den entwickelten Staaten Vorteilsnahme und -gewährung offensichtlich alltäglich geworden sind. Bei Google findet man rund 3,2 Millionen einschlägige Einträge; der erste davon ist ein umfangreicher Artikel der Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Dort ist zur Begriffsbestimmung vom „Mißbrauch einer Vertrauensstellung“, um einen materiellen oder nichtmateriellen Vorteil zu erzielen, bzw. in Anlehnung an Harold D. Lasswell von der Verletzung eines öffentlichen Interesses zugunsten eines persönlichen Vorteils die Rede. Diese Begriffsbestimmungen ließen sich beliebig verlängern; sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie außerordentlich vage sind und häufig weitere Überlegungen benötigen, um zu einem zumeist nicht einmal einheitlichen Befund zu kommen, da Korruption in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft etwas ganz Unterschiedliches bezeichnen kann. Die Frage stellt sich daher, was eigentlich gemeint ist, wenn von Korruption die Rede ist. Gibt es wirklich einen klaren Begriffsinhalt und eindeutige Tatbestände, worauf damit referiert wird? Oder öffnet das Wort Korruption nicht unter Umständen ein ganzes semantisches Verweisungs- und Anschlußfeld, das viel mehr umfaßt als lediglich eine Bezeichnung für Bestechung oder Vorteilsnahme? Die Verwirrung wird noch dadurch größer, daß Korruption sowohl in deskriptiver wie in normativer Weise verwendet wird und überdies selbst ein Quellenbegriff ist, dessen Bedeutung historischem Wandel

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unterlag und unterliegt.1 Es ist daher insofern durchaus angebracht zu fragen, ob es sich bei dem Begriff Korruption überhaupt um eine angemessene Kategorie zur Plausibilisierung historischer Phänomene handelt. Mit dieser Frage beschäftigen sich die nachfolgenden Überlegungen und Thesen. In diesem Text geht es nicht um Korruption im Sinne des empirischen Nachweises zu- oder abnehmender Bestechung/Bestechlichkeit in der Geschichte und insofern auch nicht um die Aufdeckung anthropologischer oder historischer Gründe für in diesem Sinne korruptes Verhalten und deren eventuellen Wandel. Ob Bestechung und Bestechlichkeit in den unterschiedlichen historischen Konstellationen empirisch nachweisbar sind und welchen Umfang sie jeweils hatten, ist zwar keineswegs irrelevant; der Befund dürfte jedoch eng mit der jeweiligen Kommunikation über Korruption zusammenhängen.2 Hier interessiert aber vor allem das Letztere: Wann und wie wurde historisch über Korruption gesprochen und welche Folgen hatte diese Art der Kommunikation für das gesellschaftliche Selbstverständnis? Diese Perspektivierung schiebt den Blick weg von der Frage nach den Ereignissen, die mit Korruption bezeichnet werden, hin zu der Frage, wie der Begriff Korruption verwendet wurde und wird und welche semantischen Zusammenhänge sich damit stellen.3 Denn bei näherem Hinsehen zeigen sich zunächst ganz erstaunliche Phänomene in der Verwendung des Begriffs. Obwohl zumeist auf zumindest gegenwärtig strafrechtlich relevante Tatbestände referiert wird, handelt es sich bei ihm nicht um einen Rechtsbegriff. Auch historisch drang der Begriff nicht in ältere Gesetzestexte ein, selbst wenn zu deren Begründung gelegentlich von Korruption und Korruptionsbekämpfung gesprochen wurde. Für das Recht ist der Begriff offensichtlich zu unbestimmt und – vielleicht – zu sehr moralisch geladen. Man hält sich dort folgerichtig an eindeutigere Begriffe wie eben Bestechung und Bestechlichkeit, Vorteilsnahme, Unterschlagung oder Betrug. In der Soziologie hingegen findet sich der Begriff zumindest gegenwärtig vergleichsweise häufig in der 1

Eine Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Texte zur Korruption findet sich bei Christian Fleck/Helmut Kuzmics (Hrsg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens. Königstein 1985. Hier finden sich Texte u. a. von Honoré de Balzac, Raymond Chandler oder Heinrich Böll, aber eben auch die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Autoren, die im engeren oder weiteren Sinn zu Korruption gearbeitet haben. 2 Interessant sind hier die vermuteten engen Beziehungen zwischen Korruption als Thema der Medien und faktischen Ereignissen, die Glaeser und Goldin berichten; vgl. Edward L. Glaeser/Claudia Goldin, Corruption and Reform: Introduction, in: dies. (Eds.), Corruption and Reform. Lessons from America’s Economic History. Chicago/London 2006, 12−18. Zum Umfang der Korruption und ihrer jeweiligen zeitgenössischen Wahrnehmung siehe Jens-Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313−350. 3 Werner Betz, „Korruption“. Synonymik, Justiz und Lexikon, in: Semasia. Beiträge zur germanisch-romanischen Sprachforschung 2, 1975, 15−30.

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Literatur.4 Zumeist wird er dabei freilich nicht definiert, sondern vorausgesetzt. Der Soziologe Sighard Neckel etwa hält sich beim Problem der Korruption selbst gar nicht lange auf, sondern setzt gleich bei der Frage ein, warum Menschen sich korrupt verhalten. Bei ihm gibt es „moralischen Tausch“, bei dem in etwa Äquivalententausch vorherrscht, und „unmoralischen Tausch“, bei dem entweder etwas moralisch Sakrosanktes gleichwohl getauscht wird, oder der eine den anderen über den Tisch zieht. Damit ist der Korruptionsbegriff unterderhand ins Unendliche geöffnet – und der Autor bekommt die Möglichkeit, sich mit der Frage der Moral der handelnden Personen zu befassen. Denn eigentlich sollte man so etwas nicht tun – und tut es doch. Korruption ist mithin „unmoralischer Tausch“ und der Grund hierfür die Verführbarkeit des Menschen, die er sich allerdings nicht eingesteht. So passen für Neckel das gleichzeitige Beklagen und das Für-normal-Halten der Korruption zusammen.5 Nicht ganz so moralisch argumentiert der Ethnologe Bernhard Streck, der sich vielmehr bestätigt sieht: „Wer in den Tiefen der Menschheit gründelt, in den abgestandenen und abgelagerten Sedimenten historischer Erfahrung, nimmt leicht selbst Modergeruch an und muß dann im künstlich beleuchteten Zukunftsdiskurs über die weitere Rationalisierung der Gesellschaft beiseite stehen. So geht es der Ethnologie seit ihrer akademischen Mannbarkeit vor knapp hundert Jahren, und der auf ihr lastende Vorwurf, eher in Ausscheidungen als im Fundament der Geschichte herumzustochern, ist nicht weniger drückend geworden, seitdem ihr die Erkenntnis, keine historische Wissenschaft zu sein, sondern höchst lebendige Gesellschaften zu studieren, Gewißheit geworden ist. Dabei haben ihr diese in der Ethnologie selbst oft verkannten ‚Primitiven‘ entscheidend geholfen: Sie sind noch immer da – späte Beweise für die Fekundität von Bachofens ‚Sumpfzeugung‘? Neuerdings aber kommt der Ethnologie auch die Moderne selbst zu Hilfe, zwischen deren sicher noch glänzenden Fassadenteilen immer häufiger Schlamm sichtbar wird. Schlamm von meinem Schlamm, sagt der Ethnologe und freut sich, auch unter den verkabelten Hochhausgebirgen mit ihren synthetischen Verpackungen heimischen Boden zu spüren.“6 Für Streck kommt die Korruption aus dem „gesellschaftlichen Urschlamm“, der nicht abgewaschen werden kann: „C. G. Jung hat 1931 geschrieben, daß der Mensch nur äußerlich modern werden könne, innerlich bleibe er ‚primitiv‘. Das war nicht unbedingt abwertend gemeint. Jung konnte im Gegensatz zu Freud ethnologisch denken. Dazu gehört das Gespür für Differenzen, auch

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Vgl. für die ältere Literatur die Textzusammenstellung von Arnold J. Heidenheimer (Ed.), Political Corruption. Readings in Comparative Analysis. New York u. a. 1970. 5 Sighard Neckel, Der unmoralische Tausch. Eine Soziologie der Käuflichkeit, in: Kursbuch 120, 1995, 9−16. 6 Bernhard Streck, Geben und Nehmen. Oder die Korruption in den Tiefen der Menschheit, in: Kursbuch 120, 1995, 1−8, hier Anm. 1.

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für die eigene Differenz, und dann erscheint die Korruption weniger als Erbsünde denn als Menschheitserbe. Corrumpo ergo sum – Ich gebe mit Absicht, und vorm Verstimmtsein mag die Ehrfurcht vor der ältesten Regel des zwischenmenschlichen Überlebens bewahren.“7 Auch hier also wird Korruption als Begriff gar nicht problematisiert, sondern ein mit dem Begriff korrespondierendes Verhalten unterstellt, das dann wiederum zum Gegenstand anthropologischer Reflexionen wird. Wenn auch nicht mit „gesellschaftlichem Urschlamm“, so argumentiert doch auch die moderne Institutionenökonomik mit gleichsam feststehenden, anthropologischen Annahmen, die das Phänomen der Vorteilsnahme erklären sollen, ohne freilich ähnlich ausufernd mit dem Begriff der Korruption zu arbeiten. Die Begriffe hier sind „moral hazard“ und „Opportunismus“; mit ihnen wird ein spezifisches Verhalten von Menschen unterstellt, das bei äußerlicher Akzeptanz institutioneller Regeln doch auf deren einseitige Ausnutzung abzielt.8 In der Ökonomie ist es in der Regel das Problem der Informationsasymmetrie, das zu solchen Verhaltensweisen verleitet: Der Beschäftigte kennt die Bedingungen des Geschäftsablaufes besser als der Chef oder als der Kunde, und macht sich genau dies zunutze. Das Feld der möglichen „Korruption“ ist in der Ökonomie damit noch sehr viel weiter eröffnet. Es geht hier nicht allein um Bestechung oder Bestechlichkeit, sondern der gesamte Bereich der Vorteilsnahme außerhalb und innerhalb vertraglicher Regelungen fällt in dieses Gebiet. Dagegen hilft – aus ökonomischer Sicht – zwar auch Kontrolle. Und die Unternehmensorganisation soll durch ihre Vertragsgestaltung zumindest die interne Ausnutzung von Informationsasymmetrien unterbinden. Aber kein Vertrag kann so genau sein, daß er „moral hazard“ und Opportunismus ausschließt. Nein: Vertrauen heißt hier das Zauberwort, mit dem erreicht werden soll, daß Menschen sich trotz alternativer Möglichkeiten berechenbar und ehrlich verhalten – gegenüber Chefs, Kunden, Mitarbeitern, Auftraggebern etc. Vertragsgestaltung und Vertrauensbildung sind gefragt, im Zweifelsfall aber eben auch der Staatsanwalt, da es Menschen gibt, die aus moralischen Gründen sich eben korrupt verhalten.9 7

Ebd. 7. Klassisch Oliver E. Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus: Unternehmen, Märkte, Kooperationen. Tübingen 1990, der zwar den Begriff der Korruption nicht benutzt, faktisch aber nahelegt, die gesamte Unternehmensorganisation sei nichts anderes als der Versuch, korruptes Verhalten auszuschließen oder zumindest zu minimieren. Zum Ansatz der hier in Frage stehenden Neuen Institutionenökonomik vgl. Rudolf Richter/Eirik Furubotn, Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung. Tübingen 1996. 9 „Vertrauen“ ist in der Zwischenzeit zum geradezu inflationären Konzept zur Bekämpfung von abweichendem Verhalten geworden, wie eine Überprüfung des Begriffs bei Google leicht veranschaulichen kann. Ob man „Vertrauen“ vertrauen kann, ist damit freilich nicht beantwortet.

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In ökonomischer Hinsicht ist der Selbstschutz von Unternehmen gegenüber interner Vorteilsnahme indes nur ein Aspekt. Gegenüber dem Markt oder gegenüber Mitbewerbern werden Bestechung und Bestechlichkeit bereits ganz anders kommuniziert; Bestechung im Ausland war auch in der Bundesrepublik Deutschland bis vor kurzem legal – und steuerabzugsfähig. Aber auch ganz generell tut sich das ökonomische Denken mit dem Problem, das sich gemeinhin mit „Korruption“ verbindet, schwer. Einerseits geht die moderne Ökonomie von der Erwerbsneigung und der Nutzenrationalität des Individuums aus – und plausibilisiert damit im Grunde abweichendes Verhalten im Sinne der Korruption als erwartbar, ja geradezu naheliegend. Zudem zählt es zur eigenen Fachtradition, derart inkriminiertes Verhalten nicht rundweg abzulehnen. Im Gegenteil findet sich bei Bernard Mandeville die scharfsinnige Beobachtung, daß es gerade die kaum gezügelte Bereicherungsgier des einzelnen ist, die maßgeblich zur gesamtwirtschaftlichen Blüte beiträgt. In seiner Bienenfabel, die den bezeichnenden Untertitel „Private Laster – öffentliche Vorteile“ trägt, geht er zum Entsetzen seiner Zeitgenossen zu Beginn des 18. Jahrhunderts so weit, zu behaupten, daß Ehrlichkeit zu ökonomischem Stillstand führe, eine Beobachtung, die noch bei Karl Marx auf Zustimmung traf.10 Im Gegensatz zu Adam Smith, der später auf freilich anderer sozialphilosophischer und ethischer Grundlage die Sozialdisziplinierung des Menschen durch gesellschaftlichen Verkehr und menschliche Konstitution postulieren wird, ist Mandeville nicht derart optimistisch: Ungezügelten Eigennutz wird es immer geben; der Staat muß dafür sorgen, dieses Verhalten in für die Gesellschaft nützliche Bahnen zu lenken. Smith hingegen glaubte, daß sich derartiges Verhalten im gesellschaftlichen Verkehr selbst disqualifiziere.11 In der freien Konkurrenz offener Märkte würde sich Betrug nicht behaupten können, da die Menschen ein derartiges Verhalten abstraften. Nach Smith ist es daher vernünftig, sich gerade nicht absolut vorteilssuchend zu verhalten, sondern auf die gegenseitige Interessenbefriedigung zu achten.12 Für Smith war mithin ein Verhalten, das man später als 10 Bernard Mandeville, Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Einleitung versehen von Walter Euchner. Frankfurt am Main 1980 (folgt dem Text der 3. Aufl. von 1724). Obwohl er sich mit ganz einschlägigen Fragen befaßt, taucht der Begriff Korruption bei Mandeville nicht auf. 11 Eine Auffassung, die noch Werner Sombart teilte und die in gewisser Weise bis heute gilt, aber bei entsprechenden Gewinnerwartungen opportunistisches Verhalten wohl nicht zu verhindern mag. Für Sombart war jedenfalls noch klar, daß allein der Geruch der Korruption geschäftsschädigend sein mußte: Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. Berlin 1913, 162f. 12 Zur Grundlage Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern hrsg. v. Walther Eckstein. Hamburg 2004. Die entsprechende Passage aus dem ,Wohlstand der Nationen‘ (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und Ursachen. 3. Aufl. München 1983, 17) lautet: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers

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Korruption bezeichnen sollte, Folge nichtfunktionierender Märkte; eine unter liberalen Marktbedingungen funktionierende Ökonomie konnte daher Korruption bestenfalls als Randerscheinung kennen. Exakt so argumentierte auch der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Jakob van Klaveren, einer der wenigen Wirtschaftshistoriker, die sich explizit mit dem Thema der Korruption beschäftigten. Van Klaveren begriff Korruption als Aneignung von Amts-Renten auf Kosten einer Organisation oder der Allgemeinheit. Korruption konnte für van Klaveren allerdings nur unter der Bedingung der legalen Benutzung von Ämtern zur Einkommensmaximierung vorkommen, war also im Kern an den vormodernen Ämterkauf gebunden. Unter den Bedingungen des modernen bürokratischen Staates und einer modernen Marktwirtschaft hielt er Bestechung/Bestechlichkeit für eine Unehrlichkeit ohne größere Bedeutung, für die der Begriff der Korruption ganz unzutreffend sei. Bei der Korruption gehe es um die Ausnutzung eines Amtes zur Einkommensmaximierung, wobei die erzielten Renten nicht dem Preis der erbrachten Leistung entsprächen.13 Volkswirtschaftlich gesehen stellt „Korruption“ mithin für moderne Marktwirtschaften kein wirkliches Problem dar, auch wenn derzeit über Schattenwirtschaft viel geredet wird. Aber die Schattenwirtschaft wird gerade als ein Phänomen infolge politisch verursachten Marktversagens gesehen: Funktionierten die Märkte frei, gäbe es auch keine Schattenwirtschaft. Korruption ist in makroökonomischer Hinsicht mithin Ausdruck eines politisch zu verantwortenden Marktversagens.14 Aus mikroökonomischer und Unternehmenssicht ist die Lage – wie zuvor gezeigt – anders. Insofern stellt „Korruption“ in Organisationen gegenwärtig auch dann ein großes Problem dar, gegen das mit Kontrolle, Strafe und Vertrauensbilund Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“ Diese Eigenliebe unterscheidet Smith scharf von hündischer Gier. Das „Interesse“ konditioniert das eigene wirtschaftliche Verhalten an den Handlungsweisen und Bedürfnissen der Tauschpartner, die Handlungsbeschränkung setzt sich durch, weil sie vernünftig ist. Generell hierzu Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen: Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt am Main 1980. 13 Jakob van Klaveren, Die historische Erscheinung der Korruption in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289−324. 14 Vgl. hierzu insgesamt Kurt Schmidt/Christine Garschagen, Art. „Korruption“, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Bd. 4. Tübingen 1988, 565−573, die sich im übrigen vorwiegend mit politischer Korruption befassen und das Geschehen in Unternehmen faktisch nicht thematisieren. Die von ihnen angesprochenen Korruptionsmerkmale Tausch, Normenverstoß, Mißbrauch einer Vertrauensstellung und Heimlichkeit sind auch so allgemein, daß sie keineswegs allein auf ökonomische Phänomene passen. Die ökonomische Bedeutung der Korruption wird von ihnen je nach allokativer oder distributiver Perspektive ganz unterschiedlich beurteilt. Generell, so scheint es, ist Korruption jedenfalls wirtschaftlich nicht notwendig von negativer Wirkung.

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dung anzugehen ist, wenn es aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht wirklich im Zentrum der Überlegungen steht. Spätestens hier wird klar, daß der Begriff Korruption offensichtlich einen stark schwankenden Gehalt besitzt. Zwar geht es stets um einseitige und nichtlegitime Vorteilnahme zu Lasten Dritter; wie dieses Verhalten indes zu qualifizieren ist und welche Bezeichnungen hierfür sinnvoll sind, ist ganz offen. Während einerseits Vorteilsnahme als Erbsünde und Menschheitserbe konstruiert wird, erscheint sie andererseits als Phänomen vormoderner Gesellschaften. Dieses Bild klärt sich auch nicht wirklich auf, wenn man die alles in allem nicht sonderlich umfangreiche historische Literatur zum Thema „Korruption“ zu Rate zieht.15 Dabei ergibt sich insofern ein eigenartiges Bild, als einerseits entsprechendes Verhalten für ein geradezu klassisches Phänomen Alteuropas und der alten Welt gehalten wird, andererseits sich aber die Frage aufdrängt, ob zur Bezeichnung von Phänomenen wie Ämterkauf und Bereicherung im Amt der Begriff der Korruption überhaupt nützlich sei, da diese Verhaltensweisen ja mehr oder weniger zugelassen, wenn nicht geradezu legal gewesen seien.16 Ausführlich hat sich vor allem Wolfgang Schuller mit diesen Problemen befaßt, der Ende der 1970er Jahre vor allem den schlechten Forschungsstand in Deutschland beklagte, dafür allerdings eine heute vielleicht überraschende Erklärung bei der Hand hatte: „Für Deutschland ist die Sache im Augenblick nur so zu erklären, daß in seiner Geschichte die Korruption und korruptionsähnliche Zustände nicht so und nicht in dem Ausmaß anzutreffen sind wie anderswo.“17 Schuller war sich offenbar bewußt, daß die Lage im Grunde paradox ist, da man zur Erforschung der Korruption eine Definition benötigte, die man aber erst als Ergebnis der Forschung erwarten durfte. Seine Definitionsversuche sind daher noch sehr allgemein, aber im Grunde gehe es bei Korruption darum, daß es „immer, wenn auch von Fall zu Fall unterschiedliche, soziale Standards auch in bezug auf öffentliches Verhalten gibt, von denen man in sachfremder oder korrupter Weise abweichen kann, sowie daß der immanente Zweck öffentlichen Verhaltens hier gewisse allgemein gültige, sozusagen Kernstandards vorgibt“.18 Damit ist freilich klar, daß Korruption entsprechend der sich wandelnden Sozialstandards stets etwas ganz Unterschiedliches bedeuten kann. Diese 15

Derzeit die umfassendste Information bei Engels, Politische Korruption (wie Anm. 2), passim. 16 Das war im übrigen der springende Punkt von van Klaverens Argumentation: Ämterkauf war in seinen Augen nicht korrupt, aber die Ausnutzung des Amtes zur Erzielung von Einnahmen, die über den Gegenwert der zu erbringenden Dienstleistung hinausgingen, das war für ihn der Kern der Korruption. 17 Wolfgang Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, 373−392, hier 376. 18 Ebd. 377.

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Offenheit suchte Schuller durch die Benennung von Grundtypen der Korruption wieder einzufangen, und zwar einerseits eine Art innere Korruption, die sich auf Unehrlichkeit in der Amtsführung bezieht, andererseits eine Art äußere Korruption, womit vor allem Erpressung einzelner Angehöriger der Gesellschaft gemeint ist. Diese beiden Typen illustrierte Schuller an zahlreichen historischen Beispielen, wobei unehrliche Amtsführung ein weit verbreitetes, zum Glück in Preußen aber seltenes Phänomen gewesen sei. Bei der Kolonisierung Lateinamerikas sei es aber ebenso an der Tagesordnung gewesen wie bei den englischen und niederländischen Handelskompanien. Die Bestechung und Bestechlichkeit von Politikern, Richtern und Beamten sei ein geradezu ubiquitäres Phänomen, wobei die Anlässe fast beliebig gewesen seien. Sie reichten vom Streben nach Vergünstigungen, von der Bevorzugung bei der Auftragsvergabe, vom „Schmieren“ bis hin zum Geschenk, damit überhaupt gearbeitet wurde. Historisch wichtig sei auch die Wahlbestechung etwa im England des 17. und 18. Jahrhunderts, aber auch in Frankreich unter Napoleon III. oder in den USA im 19. und 20. Jahrhundert. Auch Nepotismus und Simonie fielen in diese Kategorie. In der zweiten Kategorie verzeichnete Schuller jene Phänomene, die für van Klaveren den Kern der Korruption bestimmten, nämlich die Selbstfinanzierung der Ämter durch überhöhte Gebühren und Sporteln, eine durch das Tagebuch des Samuel Pepys geradezu klassisch gewordene Form der illegitimen Bereicherung, die es aber auch noch hundert Jahre später in Preußen noch häufig gab. In Frankreich war das System der entsprechenden Refinanzierung des Ämterkaufes derart lukrativ, daß der höhere Adel sich um diese Posten riß – und schließlich dem Hof korruptes Verhalten vorwarf, als dieser die Ämter nicht mehr an den Adel, sondern zunehmend an potente Bürger verkaufte.19 Bei der Erklärung dieser Phänomene war Schuller unentschieden, neigte letztlich aber doch zu einem modernisierungstheoretischen Design, in dem als Korruption zu bezeichnende Regelverletzungen an ältere Formen gesellschaftlicher Entwicklung gebunden werden. Dieses Modell entspreche einer historisch-soziologischen Erklärung von Korruption. Danach sei Korruption in Alteuropa noch ganz selbstverständlich gewesen, da das Amt persönliche Einnahmequelle gewesen sei und niemand dies als anstößig empfunden habe. Erst mit der Aufklärung und der Französischen Revolution sei das anders geworden. Nun habe man die alte Ordnung abgelöst „zugunsten einer rationalen, durchsichtigen Staats- und Gesellschaftsordnung, welche auf viel größerer Informiertheit der Bevölkerung beruhe. Damit sei auch der Korruption der Nährboden entzogen worden, die nunmehr bloß noch als akzidentielle individuelle Verfehlung auftrete. Es ist deutlich: Das ist 19

Siehe die Hinweise bei Sombart, Der Bourgeois (wie Anm. 11), 180, zur Attraktivität dieser Ämter. Zum Korruptionsvorwurf gegen den Hof siehe unten.

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eine Auffassung, die in den Umkreis der Modernisierungstheorien gehört, wobei der Gedanke der ist, daß die Korruption während der Modernisierungsphase als einer Phase starken Wandels besonders kräftig, mit abgeschlossener Modernisierung aber im wesentlichen verschwunden sei.“20 Angesichts verbreiteter Phänomene von Vorteilsnahme in modernen Gesellschaften möchte Schuller das Phänomen nicht ausschließlich an Modernisierungsprobleme ankoppeln. Zu Korruption komme es offensichtlich immer dann, wenn Bedürfnisse auf legale Weise nicht zu befriedigen seien; sie sei damit in gewisser Hinsicht auch ein systematisches Phänomen.21 Ihre jeweilige Erklärung sage überdies nichts darüber aus, welche Wirkungen von Korruption ausgingen. Hier sieht Schuller die Lage ganz differenziert; Korruption habe durchaus stabilisierende Funktionen, ja, ohne Mandeville zu zitieren, gesteht auch Schuller ihr positive ökonomische Effekte zu. Es sei eben alles eine Frage der Dosis. Schuller teilt damit schließlich das im Kern modernisierungstheoretische Argument, daß Korruption im Grunde eine vormoderne beziehungsweise Modernisierungserscheinung und in diesem Rahmen unter Umständen sogar funktional sei, in der Moderne an Boden verliere, wenn sie auch weiterhin vorkomme. Schuller sieht freilich das offene Problem, ob Korruption nicht gerade mit der Neuzeit überhaupt erst ein scharfes Profil erhalte. Zu fragen sei auf jeden Fall, „ob die Korruption in ihrer vollen begrifflichen Schärfe in der nachantiken Geschichte – mit der in mehrfacher Hinsicht bezeichnenden Ausnahme der Kirche und ihrem Ämterwesen – überhaupt erst mit der Herausbildung des (früh-)modernen Staates und des neuzeitlichen Staatsbegriffs als einer von der Gesellschaft abgehobenen Abstraktion mit eigener, rationaler innerer Gesetzlichkeit sich hat herausbilden können“.22 Entsprechend relativiert er wiederum den Begriff bei der Betrachtung des „spätrömischen Staates“: „Wie überall auf dem Gebiet der Erforschung der spätantiken Korruption ist hier noch sehr viel sammelnde und unterscheidende Arbeit nötig, aber zunächst darf doch überschlagsweise gesagt werden, daß die Korruption außerordentlich stark verbreitet war, in allen Rängen der Beamtenhierarchie und auch dem Ausmaß nach.“23 Er ist sich allerdings unsicher, ob der Begriff „Korruption“ wirklich zutrifft. Denn bei der Suche nach den Gründen der verbreiteten Bereicherung im Amte stößt er neben einfachen Tatsachen (niedrige Besoldung, Verschuldung durch Ämterkauf, Widerstand et cetera) auch auf einen Komplex von Verhaltensweisen, die der modernen Korruptionsvorstellung doch nicht so einfach zuzuordnen sind. Schullers 20

Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung (wie Anm. 17), 382. Ebd. 384−387. 22 Ebd. 389. 23 Wolfgang Schuller, Korruption und Staatspolizei im spätrömischen Staat, in: Fleck/ Kuzmics (Hrsg.), Korruption (wie Anm. 1), 72−91, hier 81.

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Plädoyer für einen gleichsam universalen Korruptionsbegriff mit freilich wechselnden empirischen Gehalten hat daher etwas durchaus Vorläufiges.24 Schullers Argumentation ist stark von der seinerzeit dominierenden Modernisierungstheorie geprägt, die dazu neigte, insbesondere der politischen Korruption einen spezifischen historischen Platz zuzuweisen.25 Der Strukturfunktionalismus (Parsons, Deutsch, Merton, Smelser et cetera) sah hierin ein (durchaus sinnvolles) Phänomen sich modernisierender Gesellschaften, in denen zwischen den Ansprüchen an die Politik und den realen sozialen Unterschieden und damit auch den jeweils vom Staat verteilten Begünstigungen ein starker Widerspruch bestehe.26 In diesem Kontext könne Korruption zum Abbau von Spannungen beitragen. In modernen Gesellschaften sei Korruption folgerichtig nur mehr ein peripheres Phänomen gelegentlicher Unehrlichkeit. „Korruption wird hier am ehesten als temporäres Desorganisationsphänomen gesehen, sozusagen als besonderer Kostenfaktor der Modernisierung, der in stabilen gesellschaftlichen Phasen kaum ins Gewicht fällt.“27 Diese modernisierungstheoretischen Positionen gerieten aber schnell unter Druck, da sich zeigte, daß die modernen politischen Systeme keineswegs so korruptionsresistent waren wie angenommen. Die Soziologie insbesondere der politischen Korruption ging daher zu einem anderen Verständnis über, das vor allem von James Cameron Scott formuliert wurde und für historiographische Fragestellungen in hohem Maße anschlußfähig ist.28 Korruption weist nach Scott drei bestimmende Merkmale auf, und zwar einmal die Vorteilsnahme selbst, sodann eine öffentliche Debatte über angemessenes beziehungsweise nichtangemessenes Verhalten sowie schließlich die Existenz einschlägiger, insoweit verletzbarer Rechtsregeln. Scott bezog sein Konzept – der Eindeutigkeit halber – insbesondere auf die Existenz von Rechtsregeln, womit er auch Anregungen des symbolischen Interaktionismus entgegenkam, dessen Vorstellung von abweichendem Verhalten als sozialer Konstruktion seinerzeit einflußreich wurde.29 Korruption liegt für Scott 24

Die generelle Verwendung des Begriffs der Korruption wird von zahlreichen Historikern daher auch eher skeptisch betrachtet; vgl. Peter Moraw, Über Patrone und Klienten im Heiligen Römischen Reich des Späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Antoni Mączak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. München 1988, 1−18, insbes. 6. 25 Die folgende Argumentation nach Helmut Kuzmics, Politische Korruption und strukturfunktionalistische Theorie der Modernisierung, in: Kriminalsoziologische Bibliographie 9, 1982, 17−34. 26 Die verschiedenen Gesichtspunkte jeweils ausführlich in Textauszügen dargestellt bei Heidenheimer (Ed.), Political Corruption (wie Anm. 4). 27 Kuzmics, Politische Korruption (wie Anm. 25), 25f. 28 James Cameron Scott, Comparative Political Corruption. Englewood Cliffs 1972, bes. 36−55: Proto-Corruption in Early Stuart England. 29 Siehe Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt am Main 1973, 8: „Abweichendes Verhalten wird von der Gesellschaft geschaf-

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folgerichtig dann vor, wenn aus Gründen der Vorteilsnahme gegen Rechtsregeln verstoßen und diese Verstöße auch öffentlich so gesehen werden. Entsprechend definierte Scott Korruption so: „Subject to further clarification, we may define corruption as: ‚behaviour which deviates from the formal duties of a public role (elective or appointive) because of private-regarding (personal, close family, private clique) wealth or status gains: or violates rules against the exercise of certain types of private-regarding influence.‘“30 Spätestens mit Scott wurde daher klar, daß Korruption ein historisch sich wandelndes Phänomen ist, ja zugespitzt, daß Korruption und Moderne koevolutiv angelegt sind, da nur in der Moderne in umfassender Weise Rechtsregeln aufgestellt wurden, die in gewisser Hinsicht Korruption erst ermöglichten, ja geradezu notwendig hervorbrachten! Definitionen, die Korruption auf menschliche Eigenschaften verrechnen und hinter wechselnden Phänomenen gleichsam eine Art metaphysisches Wesen der Korruption vermuten, sind zwar im einzelnen nicht ohne Interesse, aber für eine historische Betrachtung offensichtlich untauglich, da historisch selbst scheinbar gleiche Phänomene (wie eben Vorteilsnahme) offensichtlich nicht die gleiche Bedeutung haben (müssen). Aber auch Scotts Definition blieb in gewisser Hinsicht unzureichend, da der Begriff Korruption selbst nicht problematisiert wurde. Zwar war nun klar, daß der Begriff Korruption offensichtlich historisch sehr verschiedene Phänomene bezeichnen konnte und seine Verwendung daher nach bestimmten Kriterien eingeschränkt werden sollte, um eine gewisse Klarheit in der Sprache zu erreichen. Neben der so zugleich eingeschränkten wie analytisch präzisierten Kategorie besitzt der Begriff aber auch ein historisches Eigenleben, das keineswegs trivial ist. Denn der Begriff Korruption selbst ist alt und er spielte in der theologischen und politischen Semantik eine große, allerdings wechselnde Rolle. Auffällig an den bisher vorgestellten verschiedenen Definitionen und Begriffsbestimmungen ist nun aber, daß dieser sich wanfen. Ich meine dies nicht in der Weise, wie es gewöhnlich verstanden wird, daß nämlich die Gründe abweichenden Verhaltens in der sozialen Situation des in seinem Verhalten abweichenden Menschen oder in den ‚Sozialfaktoren‘ liegen, die seine Haltung auslösen. Ich meine vielmehr, daß gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem ‚Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.“ Ebd. 13: „Abweichendes Verhalten ist keine Qualität, die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der eine Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren.“ 30 Scott, Comparative Political Corruption (wie Anm. 28), 3.

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delnde Bedeutungsgehalt des Begriffes keine Rolle spielte, sondern daß er gleichsam neutral genutzt wurde und wird; nur sein jeweiliger empirischer Gehalt wandelt sich – und auch dessen historische und soziologische Beurteilung. Die Frage aber, ob der Begriff der Korruption und sein Wandel sowie das damit markierte semantische Feld selbst von Bedeutung sind, wird in der Literatur nicht gestellt. Hier scheint mir – in aller Vorsicht gesagt − ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis zu liegen, denn die Kommunikation über Korruption steht selbst an der Wiege der modernen Gesellschaft und begleitet sie seither im Sinne einer Art kommunikativen Selbsterregungsschema. Man könnte gar geneigt sein zu behaupten, daß ein spezifisches Verständnis von Korruption erst zur Etablierung von Regeln geführt hat, die ihrerseits dann wiederum geradezu zwangsläufig Kommunikation über Korruption (und im Sinne Scotts: faktische Korruption) hervorbrachten und – je schärfer diese Regeln gegenwärtig gefaßt werden – um so mehr hervorbringen. Damit sind der Begriff der Korruption und seine semantische Füllung in der Tat ein Teil der sich durchsetzenden modernen Welt – und eben gerade deshalb auch keine universale Kategorie zur Qualifizierung menschlichen Verhaltens.

II. Eine Begriffsgeschichte der Korruption, gar eine Rekonstruktion ihrer historischen Semantik gibt es derzeit noch nicht.31 Die folgenden, wenigen Belegstellen zur historischen Semantik der Korruption können daher nur erste Hinweise geben, die sich gleichwohl zu einem gewissen Eindruck verdichten lassen. Das Wort corruptio hat im Lateinischen die doppelte Bedeutung von Verderbtheit einerseits, Bestechung andererseits; mit corruptor wird der Verderber, der Bestecher, aber auch der Verführer bezeichnet. Das Verb corrumpere schließlich umfaßt eine Vielzahl von möglichen Bedeutungen, und zwar offensichtlich einerseits im ganz handfesten Sinne des Zusammenbrechens, des Verderbens und des Zugrundegehens, dann aber auch im Sinne von schlecht werden, schlechtmachen, verunstalten. Andererseits wird es metaphorisch verwandt für verderben, verführen, bestechen und verleiten.32 Dieser metaphorische Bedeutungsstrang spielt offensichtlich auch in älteren 31

Ein Eintrag in den Geschichtlichen Grundbegriffen existiert nicht, der Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie ist kurz und für die Begriffsgeschichte unbrauchbar; Art. „Korruption“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 1143. Knappe Hinweise bei Werner Betz, „Korruption“. Synonymik, Justiz, Lexikon, in: Semasia. Beiträge zur germanisch-romanischen Sprachforschung 2, 1975, 15–30. Hinweise bei Engels, Politische Korruption (wie Anm. 2), 327–329. 32 Zur lateinischen Wortbedeutung siehe die entsprechenden Einträge in: Stowassers Lateinisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. 7. Aufl. Leipzig 1923, 187f.

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theologischen und ethischen Diskussionen eine große Rolle33; in der Vulgata findet sich das semantische Feld corruptio, depravatio, degeneratio mit dem Gegenbegriff regeneratio.34 Von hier aus wandert der Begriff dann nach einer Beobachtung Niklas Luhmanns im Mittelalter in die politische Kommunikation ein35, und zwar als Unterscheidung korrupt/perfekt (auch korrupt/natürlich), womit Korruption zu einem wichtigen Begriff der politischen Kritik wird, der auf das Abweichen vom oder auf das (schuldhafte) Nichterreichen eines an sich möglichen Zustandes der Perfektion referiert. Die Unterscheidung korrupt/perfekt ist dabei nicht allein auf die „Politik“ beschränkt. Sie taucht noch bei Johannes Medina in der spanischen Spätscholastik auf, in der der „natürliche“ oder perfekte Preis vom korrupten, also etwa durch Monopolpraktiken bestimmten Preis unterschieden wird.36 Die Natur oder der Kosmos lassen in sich mithin die Unterscheidung von Korruption und Perfektion in dem Sinne zu, daß der perfekte Zustand zugleich derjenige ist, der als natürlich oder als mit der kosmischen Ordnung übereinstimmend angesehen werden muß; Korruption enthält daher stets ein Moment der Verfehlung des eigentlich Möglichen und Gesollten. Diese Art der Differenzierung findet sich auch im deutschen Sprachgebrauch. Seit dem 15. Jahrhundert läßt sich der Begriff „korrupt“ im Deutschen nachweisen. Im Zedler aus der Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich eine gewisse Engführung des Begriffs: „Corruptio, eine Verderbung, es mag gesagt werden, wovon es wolle. Diese aber ist eine Wiederauflösung eines natürlichen Körpers in seine kleinsten Teile, wird in der Physis der Generation entgegen gesetzet, und gemeiniglich in naturalem und violentam eingetheilet. Man pflegt auch nicht unbillig zu sagen: Unius corruptionem esse alterius generationem. Denn wenn etwas corrumpieret wird, wird es nicht gänzlich vernichtet, sondern allzeit in etwas anderes verwandelt.“37 Die Unterscheidung Korruption/Generation eines natürlichen Zustandes, die in gewisser 33 Siehe den Bedeutungsnachweis zu „corrumpere“ im Thesaurus Linguae Latinae. Bd. 4. Leipzig 1909, 1049–1060. 34 Dieter Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“, in: Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Bd. 14/15. München 1993, 3–54. 35 „Seit Johannes von Salisbury’s Policraticus gibt es eine auf Selbsterkenntnis der eigenen Natur abstellende Version, die in der Form einer Organismus-Analogie gearbeitet ist und die Ursprungsfrage als Angelegenheit der Schöpfung behandelt. Das erlaubt es, die Unterscheidung eines natürlichen (perfekten) und eines korrupten Zustandes der Natur auf den politischen Körper zu übertragen und zur Bestätigung bzw. Kritik politischer Herrschaft zu verwenden.“ Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, 915. 36 Wolf-Hagen Krauth, Wirtschaftsstruktur und Semantik. Wissenssoziologische Studien zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert. Berlin 1984, 48. 37 Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges Universallexikon. Bd. 6. Leipzig 1733, Ndr. Graz 1994, Sp. 1373.

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Weise noch auf die ältere Unterscheidung Korruption/Perfektion verweist, verschwindet im 19. Jahrhundert aus den Lexika, auch wenn die andere Seite der Korruption stillschweigend noch mitgeführt wird. Nun aber wird Korruption klar auf regelverletzendes Verhalten aus persönlichen Bereicherungsmotiven, insbesondere in Politik und Verwaltung bezogen. Im „Meyer“ von 1877 handelt es bei Korruption um „Verdorbenheit, Sittenverderbnis, besonders Bestechlichkeit“; 1931 notiert der Große Brockhaus „Sittenverderbnis, Bestechlichkeit“, und schließlich findet sich 1970 in der BrockhausEnzyklopädie folgender Eintrag: „Korruption, seit dem 17. Jahrhundert Bezeichnung für Sittenverfall, Bestechlichkeit, häufig angewandt auf Amtsträger eines Staates. K. trifft man meist an als Folge der unzureichenden wirtschaftlichen Versorgung, gelegentlich auch der Politisierung des Beamtentums.“38 In dieser relativ jungen Bedeutungszuweisung findet sich mithin eine Engführung des Begriffes auf „politische Korruption“, was auch den großen Trends in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung entspricht. Auch wenn hier gleichsam soziologisches Verständnis für das Phänomen der Korruption angedeutet wird, bleibt ihre moralische Verurteilung konstitutiv. Gegenwärtig bezeichnet der Begriff Korruption daher ein verderbliches Verhalten aus moralischer Verkommenheit, obwohl – und dies ist stets stillschweigend mitgeführt – perfektes Verhalten möglich und moralisch auch erwartbar gewesen wäre. Eine begriffsgeschichtliche Aufbereitung für den semantischen Komplex Dekadenz und Korruption liegt für Frankreich vor, die – so denke ich – auch für den deutschen Bereich aufschlußreich sein dürfte.39 Die Kommunikation über Dekadenz und Korruption intensivierte sich in Anlehnung an antike Vorbilder in der Renaissance, wurde aber Gegenstand der Zensur, als die entsprechenden Schemata auch in der Kritik des entstehenden Absolutismus Verwendung fanden. Die Unterdrückung des Wortgebrauchs lockerte sich erst zu Ende des 17. Jahrhunderts, als die Begriffe Korruption und Dekadenz in die politische Sprache zurückkehrten, auch wenn sie am Hofe diskriminiert blieben. Die Begriffe blieben indes nicht auf die „Politik“ beschränkt, sondern fanden sich auch in den zunehmend politisierten kunsttheoretischen Debatten der Öffentlichkeit, in denen die Unterscheidung von progrès und décadence zum Kritikschema avancierte. Ähnliche Schemata fanden sich danach auch in der politischen Debatte, insbesondere bei der Thematisierung des Niedergangs des Römischen Reiches, wobei Montesquieu geradezu zum Klassiker der Kritik avancierte: „Corruption und insbesondere décadence sind … unersetzbare Kategorien als moralischer Maßstab und in der histori-

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Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 10. 17. Aufl. Wiesbaden 1970, 526. Die folgende Argumentation nach Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“ (wie Anm. 34). 39

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schen Kritik.“40 Und gerade über Montesquieus Darstellung des römischen Niedergangs gingen die entsprechenden semantischen Schemata direkt in die politische Sprache der Aufklärung ein: „Der Begriff décadence, bislang als Neologismus abgetan, wenn nicht politisch diskreditiert, hat seit Montesquieu wieder ein Bürgerrecht in der gebildeten Welt. Mehr noch, die Considérations sind in Schule und Salon ein Klassiker, unentbehrlich. Mehr als jedes andere Werk eines modernen Autors haben die Considérations den Zeitgeist gefaßt und geprägt.“41 Décadence wurde nach Gembicki seit 1750 regelrecht zum Modewort, die Unterscheidung progrès/décadence zum Inbegriff der Aufklärung. „Allerdings bleibt in diesem Bild genaugenommen ein drittes Element ausgespart, nämlich der notwendige Scheitelpunkt. Dieser ist die perfection, welche in jedem Fall, gleichgültig ob wir den ekklesiologischen, kunsttheoretischen oder moralistischen Ansatz untersuchen, die Bedingung für die Möglichkeit eines Verfallsdenkens darstellt.“42 Seit den 1770er Jahren wandelte sich allerdings das gesellschaftliche Klima, der Optimismus der Aufklärung verblaßte und wurde von einer pessimistischen Sicht auf die gegenwärtigen Zustände abgelöst, in der die Aufklärer selbst zum Gegenstand von Dekadenzund Korruptionsvorwürfen werden. Dabei scheint sich der Korruptionsbegriff zulasten des Dekadenzkonzepts auszubreiten, ein Phänomen, das auch für England feststellbar sei, so Gembicki; dort bekomme der Korruptionsvorwurf, den es seit dem Spätmittelalter gebe, nun außerordentlich ernste Konsequenzen, nicht zuletzt wegen der stark zunehmenden moralischen Ladung des Begriffes. Bei Rousseau fallen Korruption und Dekadenz dann bereits ganz auseinander; hier erscheint der Mensch als durch eigenes Zutun korrumpiert (Künste, Wissenschaft, Luxus et cetera). Der Dekadenzbegriff kann noch als Beschreibung des Niedergangs dienen, aber der hierdurch erreichte Zustand wird als corruption, dégradation, dépravation einer harschen moralischen Kritik ausgesetzt. Im radikalen politischen Denken nimmt die „moralische“ Kategorie der Korruption eine zentrale Rolle ein; sie wird zum Ausgangspunkt einer Besserung durch „Regeneration“; die aber nur gegen den absolutistischen Staat, nicht mehr in ihm für möglich gehalten wird. Das pessimistische Lebensgefühl der Spätaufklärung präferiert mithin die „Korruption“; der Begriff der Dekadenz erscheint abgenutzt, während das moralische Denken siegt, das sich aus der Enttäuschung über das Versagen der Aufklärung gegenüber dem Bösen speist. Dieses Denken, so Gembicki weiter, gilt nicht nur für die potentiellen Revolutionäre; auch der reformbereite Hochadel stimmt ein: „Ungeachtet aller ideologischen Polarisierung läßt sich im Verfallsdenken der Hoch- und Spätaufklärung eine Gemeinsam40 41 42

Ebd. 26. Ebd. 28f. Ebd. 30.

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keit feststellen, da sowohl die Vertreter der Aufklärung als auch ihre Gegner am ästhetisch vermittelten Perfektionsschema festhalten. Außerdem stehen zwei Generationen ganz im Banne Montesquieus, seine Ideen und Begrifflichkeit bilden bis zu den Montagnards den Ausgangspunkt jeder Reflexion über décadence/corruption.“43 Diese Art der Kommunikation findet ihren End- und Höhepunkt offensichtlich in der Französischen Revolution, die an das spätabsolutistische Korruptionsschema anschließt, es aber im Sinne der Schaffung einer zukünftigen, nichtkorrupten Welt gleichsam für die Moderne ausbuchstabiert. Noch einmal Gembicki: „Das Korruptionsdenken der radikalen Revolution ist kein völliger Bruch mit der Tradition, da es an Bestrebungen der Spätaufklärung unmittelbar anknüpft. Neu ist die Kodifizierung und Fixierung als parteipolitisches Schlagwort. Die systematische Erweiterung der Metapher im Sinne einer Allegorie bedeutet die äußerste Entfaltung des säkularisierten Korruptionsdenkens.“ Erst vor diesem Hintergrund wird dann der Gedanke einer grundlegenden Regeneration vorstellbar. Die völlige Korrumpiertheit „signalisiert eine weitverbreitete Hoffnung auf Besserung der politischen Zustände. Sie ist greifbar bis zur Terreur, kommt aber erst mit den Ideologen und dank der Verbrüderung von Gegenaufklärung und Illuminismus voll zum Tragen im Korruptionsdenken, in dem sich für die Dauer eines weltgeschichtlichen Moments christliche und säkulare Heilserwartungen weitgehend decken.“44 Nimmt man die hier referierten Bruchstücke der Begriffsgeschichte in Deutschland, die begriffsgeschichtlichen Analysen von Gembicki und verstreute Hinweise auf den Sprachgebrauch in England45, dann scheint sich folgendes Wortfeld historisch seit der Frühen Neuzeit durchzusetzen: Offensichtlich existiert ein semantisches Schema, in dem zwischen Korruption und Perfektion (älter auch: Natur) als Gegenbegriffen unterschieden wird. Zwischen Korruption und Perfektion ist ein Kreuzen möglich, das bei der Bewegung von Perfektion nach Korruption als Verfall/Degeneration/Verdüsterung beschrieben wird, bei der umgekehrten Richtung als Fortschritt/Regeneration/Aufklärung. Dieses semantische Schema wird dabei zusehends ausgearbeitet und auf die weltlichen Zustände und deren Änderung/Änderbarkeit bezogen, weniger auf die Bestätigung oder Ablehnung einer natürlichen Ordnung. Entsprechend war die Wortfüllung zunächst stärker theologisch und praktisch-philosophisch und wurde dann zunehmend politisch. Bereits die ältere Kritik am Absolutismus, die ihm als Korruption vorwarf, willkürlich die alte Ordnung zu Lasten des traditionellen Adels zu verletzen, wenn etwa Ämter an Nichtadlige vergeben wurden, enthielt neben der Berufung 43

Ebd. 49. Ebd. 54f. 45 Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 234, 1982, 33–62. 44

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auf die alte Ordnung ein Moment politischer Kritik, die dann in der Kritik am Ancien Régime wiederaufgegriffen werden konnte, wobei nunmehr freilich nicht mehr die Verletzung der traditionellen Ordnung, sondern die Verheerung der menschlichen Natur im Vordergrund stand, die durch eine neue Gesellschaft zu beenden war. Auf diese Weise entstand gleichsam eine Art semantisches Dynamisierungsschema, das die gesellschaftlichen Zustände stets mit der Differenz Korruption/Perfektion zum Gegenstand der nunmehr zukunftsgerichteten Kritik machte. Mit der so gefaßten Unterscheidung Korruption/Perfektion stand mithin spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein probates Mittel der Kritik und deren gleichzeitiger Moralisierung zur Verfügung46, das unter Umständen ein erhebliches Eskalationspotential entfalten konnte47. Diese allgemeine Betrachtung erfaßt indes die Bedeutung von Korruption für die moderne Gesellschaft nur in einer groben Hinsicht. Entscheidend scheint zu sein, daß seit der Durchsetzung funktionaler Differenzierung als vorherrschendem gesellschaftlichen Differenzierungsmuster auch die Korruptionskommunikation entsprechend ausdifferenziert wird. Hierauf sei im folgenden ein kurzer Blick geworfen.

III. „Korruption“ ist eine Unterscheidung von Perfektion, die die Kommunikation allein auf der markierten Seite weiterführt und das so Bezeichnete zugleich zum Gegenstand moralischer Kritik macht. Der Korrupte ist eben nicht nur kriminell, sofern es entsprechende Gesetze gibt, gegen die er verstößt; er ist immer auch schlecht. Dabei ist das Ausmaß der Moralisierung offensichtlich unterschiedlich je nachdem, ob Geld im Spiel ist oder nicht. Korruptes Handeln aus Bereicherungsabsicht führt stets, so bemerkte bereits Werner Sombart, zu starkem Ansehensverlust, der unter Umständen im Ruin eines Geschäftsmannes enden kann.48 Und ganz entsprechend lassen sich auch die zahlreichen Traktate Benjamin Franklins über erfolgreiches Handeln im Geschäft lesen, in denen er jungen Menschen perfektes Verhalten allein deshalb empfahl, weil dieses sie im Ansehen ihrer Geschäftspartner nur heben könne. Korruption führt zu Ansehensverlust; perfektes Verhalten zu Ansehensgewinn.49 Einen ähnlichen Ansehensverlust wie das Fehl46

Für den englischen Fall, die Korruptionsvorwürfe von Bolingbroke gegen Walpole, siehe Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, 201f. 47 Zum Eskalationspotential moralischer Kommunikation siehe Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt am Main 1989. 48 Sombart, Der Bourgeois (wie Anm. 11), 162f. 49 Beispielhaft Benjamin Franklin, Lebenserinnerungen. Hrsg. v. Manfred Pütz. München 1983.

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verhalten aus Gründen der unberechtigten Vorteilsnahme in Geschäftsbeziehungen scheint der Wechsel der politischen Gesinnung aus entsprechenden Motiven nach sich zu ziehen.50 Als korrupt bezeichnete Geschäftsleute und Politiker können in der Öffentlichkeit mithin kaum mit Nachsicht rechnen, während ein Fehlverhalten aus anderen Motiven (etwa Liebe51, Dummheit et cetera) offensichtlich milder betrachtet wird. Diese Beispiele zeigen aber bereits einen ganz wesentlichen Punkt, der nun ins Kalkül zu ziehen ist. Korruptionskommunikation in den hier vorliegenden Fällen referiert bereits auf die Verletzung expliziter Regeln, die im einzelnen perfektes Verhalten definieren, gegen das eben etwa aus Bereicherungsmotiven verstoßen wird. Nun stellt sich fast zwangsläufig die Frage nach der Herkunft dieser Regeln. Offensichtlich reagiert die Regelerstellung auf die Kommunikation über Korruption, denn diese Kommunikation ist älter als das Regelwerk. Regeln sind mithin – im strikten historischen Sinne – keine Ursache für Korruption, sondern, wie vermittelt auch immer, deren Folge, durch welche dann allerdings Korruptionskommunikation mit der Konsequenz intensiviert wird, das in Frage stehende Regelwerk zu verbessern, ja korruptionsresistent zu machen. Auf diese Weise kommt es zu einer eigenartigen „Dialektik“ zwischen Korruptionskommunikation und Institutionenbildung. Diese Umstellungen in den Regeln oder Institutionen hängen freilich nicht allein mit der Kommunikation über Korruption zusammen, mit der sie offensichtlich koevoluieren, sondern folgen generell bestimmten Umstellungen in der Struktur der Gesellschaft, die hier im einzelnen nicht besprochen werden können. Sie haben vor allem – in Anlehnung an Niklas Luhmann – mit der Umstellung auf Organisation zu tun: „Die moderne Gesellschaft“, so Luhmann, „verzichtet darauf, selbst Organisation (Korporation) zu sein. Sie ist das geschlossene und dadurch offene System aller Kommunikationen. Und im gleichen Zuge richtet sie in sich selbst autopoietische Systeme ein, deren Operation im sich selbst reproduzierenden Entscheiden besteht, also Organisationen in einem Sinne, der sowohl von Interaktion als auch von Gesellschaft zu unterscheiden ist. Organisationen können riesige Mengen von Interaktionen aufeinander abstimmen. Sie schaffen das Wunder, Interaktionen, obwohl sie stets und zwangsläufig gleichzeitig geschehen, trotzdem in ihren Vergangenheiten und Zukünften zu synchronisieren. Eben das geschieht durch jene Technik des Entscheidens über Entscheidungsprämissen auf der Grundlage einer Akzeptanzbereitschaft in einer ‚zone of difference‘, die 50

Am Beispiel einer Bemerkung von Willy Brandt über abtrünnige Parlamentarier diskutiert das Phänomen Betz, „Korruption“ (wie Anm. 3). 51 Aber auch hier ist stets der Gesichtspunkt der Vorteilsnahme zu bedenken; so stehen Politiker, die ihren Ehefrauen/Geliebten Vorteile verschaffen, ebenso im Zentrum moralischer Kritik wie „gewöhnliche“ Korrupte. Interessant, wenn auch hier nicht durchführbar, wäre die Diskussion der an Universitäten nicht so seltenen Fälle der wohlwollenden Benotung, bei der es sich im strikten Sinne ebenfalls um korruptes Verhalten handelt!

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durch die Mitgliedschaft sichergestellt ist. Nur: Organisation kostet Geld. Und sie erfordert völlige Unabhängigkeit der Mitglieder vom Bindungsinstrument der alten Welt, von den eigenen anderen Rollen. Wo solche Bindungen fortbestehen, erscheinen sie jetzt als Korruption.“52 Die Umstellung auf Organisation erfolgt in teilsystemspezifischer Weise, etwa durch die Ausdifferenzierung bürokratischer Formen im Bereich der Politik oder durch die Entstehung von Unternehmen im Bereich der Wirtschaft, die dann ihrerseits wiederum Selbstorganisationsregeln erstellen, auf die bezogen sie konformes, also nicht eigeninteressiertes Verhalten erwarten, ja im Zweifelsfall erzwingen. Erst jetzt kann im modernen Sinne gegen Regeln definitiv verstoßen werden, während zuvor der Begriff der Korruption auf einen anderen Horizont referierte, nämlich auf die göttliche beziehungsweise natürliche Ordnung (entspricht ein Adeliger seiner Natur oder verfehlt er sie; bringt ein Künstler Gottes Schöpfung perfekt zum Ausdruck oder nicht, ist der König ein guter christlicher König?). In diesem Zusammenhang war auch das Bereicherungsmotiv53 uneindeutig; Bereicherung konnte eine Rolle spielen, war aber stets nur ein möglicher Bereich im Sündhaften schlechthin, das wiederum als Abfall von oder Verleugnung der göttlichen/natürlichen Ordnung begriffen wurde.54 Diese Ordnung, die nun nicht mehr unbestritten ist, spielt in der Korruptionskommunikation eine zunehmend blassere Rolle, obwohl Momente der traditionellen Redeweisen durchaus noch länger erhalten bleiben. Vor allem geraten jetzt Verhaltensweisen in den Fokus der Kritik, die zuvor als durchaus angemessen, ja geradezu erwünscht angesehen wurden, etwa die Unterstützung und Hilfe für Familienmitglieder (im weiteren Sinne des Begriffes Familie). Die über lange Zeit fest etablierten Momente von Patron-Klientel-Beziehungen erscheinen nunmehr als problematisch, da die Vergabe von Ämtern nach Regeln der sozialen Zugehörigkeit als sachlich ungerechtfertigt erscheint.55 In diesem Fall 52

Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 35), 836f. Siehe hierzu Jacques LeGoff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 1988. Noch bei Martin Luther sind diese traditionellen Vorstellungen prägend; vgl. Ricardo Rieth, „Habsucht“ bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale Wirklichkeit im Zeitalter der Reformation. Weimar 1996. 54 Zum weiteren Zusammenhang Remi Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken. München 2006, 257–277, insbes. 277. 55 Zur Debatte über Patron-Klientel-Verhältnisse und Patronage in der frühen Neuzeit Heiko Droste, Patronage in der Frühen Neuzeit – Institution und Kulturform, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30, 2003, 555–590. Kritisch hierzu Birgit Emich/Nicole Reinhardt/Hillard von Thiessen/Christian Wieland, Stand und Perspektiven der Patronageforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32, 2005, 233–265, die zugleich eine gewisse Persistenz von sowie einen Wandel der Kommunikation über Patronage konstatieren, wobei deren Beschreibung als „Korruption“ offensichtlich eher in reformatorischen Semantiken wahrscheinlich war. 53

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kreuzen sich die ältere und die jüngere Art der Korruptionskommunikation, da – wie Gembicki berichtet – den traditionellen Führungsschichten nicht die herkömmliche Praxis als korrupt erschien, sondern das Abweichen hiervon durch den sich langsam etablierenden Staat, der nach neuen Kriterien entschied (etwa Ertrag bei Ämterverkauf, der seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch im weltlichen Bereich rasch um sich griff)56, ein Verhalten, das auch in der Gegenwart freilich aus ganz anderen Motiven heraus für korrupt angesehen wird57. Mit der Etablierung der Öffentlichkeit58 entsteht zugleich ein Medium, das diesen Prozeß reflektiert (ja in gewisser Weise erst schafft), so daß die Art und Weise der Organisation der Gesellschaft zum fortlaufenden Gegenstand öffentlichen Räsonierens wird, wobei Korruptionsüberlegungen stets auch dann wichtig sind, wenn ihre Äußerung durch die Obrigkeit unterdrückt wird: Dann nämlich erscheint das Verhalten der Obrigkeit erst recht korrupt zu sein, da sie ja eine Thematisierung ihres Verhaltens in dieser Beziehung gerade verhindern will.59 Die hier vertretene These ist nun, daß im Zuge der Ausdifferenzierung der Organisationen einer modernen Gesellschaft Korruptionskommunikation deshalb eine so große Bedeutung erhält, weil mit ihr die Standards „perfekten“ Verhaltens, also Organisationsregeln diskutiert und fixiert werden, Perfektion (als andere Seite der Korruption) als erreichbare Möglichkeit erscheint und eingefordert wird.60 Dieser Prozeß der Definition von Regeln perfekten Verhaltens aus der Überzeugung heraus, Korruption verhindern zu müssen, läßt sich exemplarisch am Beispiel der Entstehung bürokratischer Organisationen zur Führung der Geschäfte der Obrigkeit seit dem 16. Jahrhundert zeigen, insbeson56 Zum historischen Hintergrund Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2000, 183–195, der für den Ämterkauf die Bezeichnung Korruption im übrigen zurückweist, 190. 57 Wegen dieser Bedeutungsüberschneidungen hält Peter Moraw den Korruptionsbegriff daher auch für analytisch wenig nützlich. Siehe Moraw, Über Patrone und Klienten (wie Anm. 24). 58 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000, 274–318; Tim C. W. Blanning, Das Alte Europa. Kultur der Macht und Macht der Kultur. Darmstadt 2006, insbes. 105–176. 59 Zur Bedeutung der Zensur allgemein Blanning, Das Alte Europa (wie Anm. 58), 350– 375, der sehr schön zeigt, daß die Zensur faktisch fehlschlug, zugleich aber die Kommunikation über die Korruption bei Hofe nur anheizte. Zum Aufstieg einer Art Truppe professioneller Kommunikanten in diesem Milieu siehe auch Kirill Abrosimow, Die Genese der Intellektuellen im Prozeß der Kommunikation, in: Geschichte und Gesellschaft 33, 2007, 163–197. 60 Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechtes. Frankfurt am Main 1990; Otto Hintze, Beamtentum und Bürokratie. Hrsg. u. eingel. v. Kersten Krüger. Göttingen 1981; ders., Der Beamtenstand. Darmstadt 1963; ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens. Göttingen 1967.

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dere an der Ausdifferenzierung einer gepflegten Semantik des richtigen Verhaltens der Beamtenschaft. Michael Stolleis hat diese wohl gemeineuropäische Semantik, die in ein spezifisches Beamtenethos mündete, anhand einer umfangreichen Auswahl von Ratgebertexten des 16. bis zum 18. Jahrhundert dargestellt.61 Im Gegensatz zur älteren lehenbegründeten Vasallität lasse sich bei den neuen Bürokratien eine Tendenz zur Versachlichung und Verrechtlichung feststellen, für die auch ein bewußter Umgang mit der Auswahl der einzustellenden Kandidaten festzustellen sei: „Durch zunehmende Versachlichung und Verrechtlichung schwand allmählich das Moment der ursprünglich lehenrechtlich begründeten personalen Bindung; die ‚Beamtentreue‘ trat an ihre Stelle. Aus der ‚Gefolgschaft‘ wurde die Wahrnehmung einer Funktion, abgeleitet aus einer möglichst eindeutigen Rechtsgrundlage. Dies drückte sich darin aus, daß die Beamten von den Schriftstellern ermahnt wurden, sie sollten an den Höfen nicht mehr auf ‚Gnade‘, sondern auf Grund einer ordentlichen Bestallung mit fest umrissenen Kompetenzen dienen. Dazu gehöre auch die allmähliche Regulierung und Versachlichung der Beförderungen und die Zahlung einer Besoldung. Beides diente der Abkoppelung des Beamtenstabes von den Verlockungen anderer Karrieren und materieller Chancen. Alle Faktoren wirkten zusammen zur Entstehung der für die Moderne so entscheidenden ‚Bürokratie‘.“62 Die Vermischung von unterschiedlichen Interessen im Verhalten der entstehenden Beamtenschaft wurde jetzt geradezu zum Einfallstor für Korruption, so daß es, so referiert Stolleis die Ratgeberliteratur, gerade darauf ankomme, die richtigen Kandidaten zu finden. In den Texten seien drei Auswahlkriterien hervorgehoben worden, und zwar zunächst objektive Merkmale (Herkunft, Alter, Konfession), sodann erwerbbare Merkmale (Qualifikation, ethisch-religiöse Haltung, Integrität des Lebenswandels, Unbescholtenheit, Unbestechlichkeit) und schließlich subjektive Merkmale (Aufrichtigkeit als Ausdruck auch der Kritik der Autoren am höfischen Verhalten, Verschwiegenheit und Treue). Unbestechlichkeit als erwerbbares Merkmal spielte dabei nach Stolleis eine ganz zentrale Rolle bei der semantischen Ermöglichung der Ausdifferenzierung moderner bürokratischer Organisationsformen: „Die Anklagen gegen Eigennutz, Habgier und Bestechlichkeit und alle Vorschläge, wie man die privaten von den öffentlichen Interessen trennen könne, setzen eine lange, in die Antike zurückreichende Diskussion fort. […] Der Absolutismus hat das Problem des bestechlichen Beamten bis zu seinem Ende nicht zu lösen vermocht. Noch im späten 18. Jahrhundert ist die Klage über die niedrige Beamtenbesoldung, die zur Erschließung von Nebeneinkünften nötige, allgemein. Höhe der Besoldung und Korruption bedingen sich gegenseitig. Geldman61 Michael Stolleis, Grundzüge der Beamtenethik (1550–1650), in: ders., Staat und Staatsräson (wie Anm. 60), 197–231 (zuerst 1980). 62 Ebd. 203.

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gel, ein allenthalben defektes Kontrollsystem und eine ebenso lückenhaft verinnerlichte Beamtenethik machen die persönliche Bereicherung der Amtsträger zur Geißel der armen Leute und zum Quell ständiger Unzufriedenheit im Lande. Dies erklärt die Intensität, mit der immer wieder gefordert wird, der fürstliche Rat müsse von der Bestallung an auf privaten Vorteil verzichten, und mit der die in Frankreich praktizierte Käuflichkeit der Ämter verworfen wird. […] Weil die Autoren wissen, daß die einfache Mahnung zur Unbestechlichkeit wenig Erfolg verspricht, stellen sie meist auch Überlegungen an, wie dem Übel der Korruption begegnet werden könne. Am naheliegendsten sind häufige Kontrollen der Amtstätigkeit. So wird empfohlen, die Obrigkeit solle wenigstens einmal jährlich visitieren, […] Aber Kontrollen genügen offenbar nicht, wenn das materielle Problem ungelöst bleibt. Deshalb drängen viele Autoren auf eine genaue Bestallung (Stellenbeschreibung) als Grundlage eines Besoldungsanspruchs. […] Um das kostbare Gut der Unbestechlichkeit noch weiter abzusichern, legen die Autoren großen Wert auf den Amtseid [Hervorhebung im Original, W. P.], den sie, wenn möglich, auch vom Fürsten persönlich abgenommen wissen wollen.“ Kurz, so Stolleis resümierend, „Kontrollen, Stellenbeschreibung, ausreichende Besoldung und Amtseid, signalisieren sämtlich den Übergang von der patriarchalisch geführten ‚Hausverwaltung‘ des Gemeinwesens im Lehen- und Ständestaat zur straff zentralisierten und im Umfang vervielfachten bürokratischen Herrschaftsform des Absolutismus. Allmählich bildete sich in diesem Übergang ein ‚Typus‘ aus. Es ist der seinem Fürsten treu ergebene Rat, umfassend gebildet, vor allem aber ein solider Praktiker, persönlich fromm, integer, fleißig, bescheiden und unbestechlich.“63 Der Kampf gegen die Korruption ist mithin eine Art Geburtshelfer der modernen Bürokratie, freilich keineswegs in einer besonders gradlinigen, sondern eher in einer verschlungenen Weise, wodurch die Vermutung, Korruptionskommunikation sei auch ein Dynamisierungsschema in der Moderne ihre Bestätigung findet, zumal die spezifischen Organisationsformen der Bürokratie ihrerseits wiederum neue Korruptionschancen und entsprechende Kritik generieren. Nach Otto Hintze64 wurde der wachsende Bedarf an „Staatsdienern“ zunächst weitgehend aus bürgerlichen Kreisen rekrutiert, was Stolleis bestätigt, nach dessen Beobachtung die soziale Herkunft der Kandidaten faktisch keine Rolle für ihre Karrierechancen gespielt habe.65 Dieses Avancement der bürgerlichen Räte veranlaßte den alten Adel bereits dazu, dem Hof korruptes Verhalten vorzuwerfen, da diese Art der Personalrekrutierung gegen die natürliche Ordnung verstoße. Im Zuge des 63

Ebd. 217–220. Otto Hintze, Der Beamtenstand, in: ders. Beamtentum und Bürokratie (wie Anm. 60), 16–77. 65 Stolleis, Beamtenethik (wie Anm. 61), 209f. 64

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16. Jahrhunderts, vor allem dann im 17. Jahrhundert, akzeptierte der Adel die neuen Regeln der Personalrekrutierung, erwarb die nötigen Qualifikationen und verdrängte sukzessive die bürgerlichen Räte, ein Prozeß, der in Frankreich vor allem unter Ludwig XV. Platz griff, während in Preußen unter dem Soldatenkönig noch durchweg bürgerliche Kandidaten bevorzugt wurden. Erst unter Friedrich dem Großen eroberte der Adel die höheren Positionen der Verwaltung fast durchweg zurück. Die Tendenz der adligen Bürokraten, sich mit dem Landadel zur Verteidigung der herkömmlichen Privilegien zu verbünden, rief dann wiederum die bürgerliche Korruptionskritik auf den Plan und veranlaßte auch die Höfe, mit unmittelbaren Kommissaren gegen die regionalen Bündnisse von Landadel und adliger Bürokratie vorzugehen. Auf diese Weise entstand eine geradezu undurchschaubare Gemengelage gegenseitiger Korruptionsvorwürfe, die zudem noch durch die vielfältigen Praktiken des Ämterkaufes und des Sportelwesens massiv verstärkt wurden.66 Die Bürokratiereformen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts reagierten auf diese Kritik, wobei es vor allem der Hofadel und die zentrale, zumeist adlige Bürokratie waren, die derartige Reformprojekte vorantrieben.67 Die Ergebnisse dieser Reformen brachten ein für Europa hochgradig divergierendes Bürokratiebild hervor, das seinerseits wiederum zum Gegenstand der Korruptionskritik wurde, die nun aber offensichtlich sehr viel stärker entlang jeweils nationaler Linien und entsprechender politischer Institutionen ausfiel. Während sich in Deutschland, insbesondere in Bayern und Preußen das Ideal einer unpolitischen, allerdings zugleich hochgradig gesicherten Beamtenschaft analog zur vorkonstitutionellen Rechtsstaatlichkeit durchsetzte, die aufgrund ihrer relativen sozialen Sicherheit wenig anfällig für Korruption schien, dominierte in Frankreich, den USA und in gewisser Hinsicht auch in Großbritannien, zumindest nach Hintzes Befund, im Gefolge der politischparlamentarischen Strukturen eine politische Beamtenschaft, die in starker Weise mit den jeweils regierenden Parteien verbunden war und insofern einem weit höheren sozialen Risiko ausgesetzt war. „Noch verhängnisvoller aber sind die Folgen, die diese Unsicherheit der amtlichen Stellung für die Amtsführung selbst und den Geist des Beamtenstandes, namentlich auch in den höheren Ämtern, mit sich bringt. Von völliger Hingabe an das Amt kann hier nur selten die Rede sein; mit der amtlichen Tätigkeit verbindet sich vielmehr oft ein bedenklicher Nebenerwerb, der manchmal geradezu auf einer geschäftlichen Ausnützung der amtlichen Stellung und des amtlichen Einflusses beruht; man braucht nur an die Panamaaffäre zu erinnern.“68 Am 66

Darstellung in Anlehnung an Hintze, Beamtenstand (wie Anm. 64), passim. Beispielhaft für Preußen Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Stuttgart 1987. 68 Hintze, Beamtenstand (wie Anm. 64), 47.

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schlimmsten seien die Verhältnisse in den USA, wo die soziale Existenz der höheren Beamten ganz an der jeweiligen Präsidentschaft hänge. Die Beobachtung Tocquevilles, Demokraten seien anfälliger für Korruption als Aristokraten, mag hierin zumindest einen Anhaltspunkt finden, doch auch die gerühmte preußische Bürokratie benötigte lange, bis es zu der Reibungslosigkeit des Funktionierens kam, die zu Zeiten von Hintzes Vortrag (1911) geherrscht haben mochte. Auch in Preußen waren klare Qualifikationsregeln erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden, und die sogenannten Konduitenlisten über sachgerechtes Verhalten beziehungsweise über Fehlverhalten entstammten gar der Mitte des 19. Jahrhunderts.69 Und selbst Bismarck äußerte sich noch in bekannt sarkastischer Weise überaus kritisch über die eigene Beamtenschaft: „Um eine Staatsverwaltung in tüchtigem Gange zu halten, müßten alle drei Jahre einige Minister, einige Generale und ein Dutzend Räte füsiliert werden; man müßte alle Beamten mit dem 50. Lebensjahr wegjagen“.70 Gleichwohl hatte er einen höllischen Respekt vor der (perfekten) preußischen Oberrechenkammer, deren Urteil nach Auffassung Bismarcks unmittelbar nach dem Verdikt des jüngsten Gerichtes komme. Die Ausdifferenzierung der Bürokratie als Organisationsform der Politik folgte mithin von Anfang an einem spezifischen kommunikativen Schema, das von der Unterscheidung Korruption/Perfektion maßgeblich geprägt wurde, wobei diese Unterscheidung sich selbst im Zeitablauf änderte, insofern Perfektion nicht mehr auf eine gegebene natürliche Ordnung beziehungsweise Gottes Offenbarung referierte, sondern auf selbstgeschaffene Organisationsregeln entsprechend den Funktionserfordernissen der jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereiche und ihrer Organisationen. Historisch umfaßte dieser Wandel jeweils Gemengelagen von Kritiken und sozialer Betroffenheit, wobei sich das Kommunikationsschema Korruption/Perfektion als außerordentlich anpassungsfähig erwies, diente es doch sowohl dem adligen Konservatismus wie dem bürgerlichen Fortschrittsdenken vor der Wende zum 19. Jahrhundert, um danach als kommunikative „Waffe“ in Politik und Öffentlichkeit gleichsam generalisiert zu werden. Das bedeutete, daß mit den Bürokratiereformen auch die Korruptionskommunikation nicht nur nicht aufhörte, sondern durch die schärfere Fassung der Regeln vielmehr intensiver wurde, zumal das Medium der Öffentlichkeit in zunehmendem Maße für derartige Thematisierungen zur Verfügung stand. Auf diese Weise wurde eine Selbstdynamisierung der Politik über die Kritik ihrer Organisationsstrukturen in die Wege geleitet, die bis in die Gegenwart, ja in die Zukunft reicht, da jeder Versuch der Politik, ihre eigene Organisation durch Regeln 69

Ebd. 39f. Zit. nach Wolfgang Stenke, Staatsdiener. Über die Entstehung der Beamtenmoral, in: Kursbuch 120, 1995, 29–35, hier 29.

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korruptionsfest zu machen, Korruptionskritik durch die Ausdehnung der Regeln geradezu hervorruft. In der Ökonomie ist das Reden über Korruption bis heute nicht eindeutig. Schon die Sozialtheoretiker und Ethiker des 18. Jahrhunderts waren sich über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Korruption beziehungsweise eines entsprechenden Verhaltens alles andere als einig. Auch die Klassik schwankte zwischen der Hoffnung, daß die „unsichtbare Hand“ des Marktes aus eigeninteressiertem Verhalten schon das gemeinsame Beste machen würde, und der Überzeugung von der egoistischen Natur des Menschen, die nicht unbedingt und immer zu zähmen sei, auch wenn man hoffte, das wohlverstandene Eigeninteresse bringe die Menschen schon auf den rechten Weg. In gewisser Weise verfolgte die klassische Ökonomie daher das gleiche kommunikative Schema von Korruption und Perfektion; nur hoffte sie eben darauf, daß die Perfektion durch den Markt beziehungsweise die disziplinierende Kraft des Eigeninteresses gleichsam von selbst eintreten würde, eine Hoffnung, die in der Wolle gefärbte Wirtschaftsliberale bis heute nicht aufgegeben haben. Diese Ambivalenz der Debatte reicht bis in die Gegenwart; auch heute ist man nicht sicher, ob Korruption nicht unter Umständen durchaus gut für das Geschäft sein kann. Und auch das Beklagen der Regelverletzung etwa durch Schwarzarbeit argumentiert nicht ökonomisch, sondern über die entgangenen Einnahmen und die Schädigung des Staates letztlich politisch. Anders sieht die Sache innerhalb von Organisationen, also in Unternehmen aus, da Regelverletzung hier in der Regel mit einer materiellen Schädigung der Eigentümer des Unternehmens verbunden ist. Insofern müssen Eigentümer ein Interesse daran haben, daß die von ihnen beauftragten Angestellten sich an die Regeln halten. Hierzu existiert eine reichhaltige mikroökonomische Literatur, die indes den Begriff der Korruption nicht oder doch nur selten verwendet. Auch in der Ökonomie scheint es vor allem die öffentliche Meinung zu sein, die gegebenenfalls von Korruption redet, wobei aber auch hier immer dann die entsprechende Kommunikation intensiver wird, wenn sich Unternehmen durch Korruption Vorteile verschaffen und das öffentliche Interesse schädigen. Aber auch hier handelt es sich letztlich um Phänomene politischer Korruption. Regelwidriges Verhalten in Unternehmen (das analog wäre zum regelwidrigen Verhalten eines Beamten) ist hingegen bestenfalls Gegenstand zivil- beziehungsweise strafrechtlicher Auseinandersetzungen; man würde einen Arbeitnehmer, der systematisch die Zeiterfassung in seinem Unternehmen zu umgehen versucht, wahrscheinlich nicht als korrupt bezeichnen, obwohl er es im strengen Sinne mit Sicherheit ist. In der mikroökonomischen Theorie – ganz analog zur öffentlichen Meinung – spricht man statt dessen von „moral hazard“ und „Opportunismus“, mit dem Agenten (also Beauftragte der Eigentümer) ihre Auftraggeber (also Prinzipale) zu schädigen versuchen. Dabei werden „moral hazard“ und „Opportunismus“ nicht als moralische Kategorien konstruiert; derartiges

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Verhalten wird hingegen als normal unterstellt, so daß die Organisation gerade als jene Institution erscheint, mit der die Kosten von „moral hazard“ und „Opportunismus“ niedrig gehalten werden sollen. Wahrscheinlich wegen der fehlenden moralischen Kodierung des entsprechenden Verhaltens wird der Begriff der Korruption hier nicht verwendet. Der für unser Thema konstitutive Zusammenhang ist aber gerade hier offensichtlich: Eigeninteressiertes Verhalten erscheint unter Organisationsgesichtspunkten als riskant und muß entsprechend durch Regeln (Kontrolle, Anreizsysteme, Vertrauensbildung) gebändigt werden, die ihrerseits wiederum erst den Spielraum für „moral hazard“ und „Opportunismus“ schaffen. Anders als im politischen Kontext kommt es in der Wirtschaft aber nicht zu einer Moralisierung der Verhaltensweisen und damit wohl auch nicht zur Verwendung des Begriffes Korruption, der eben – wie in der begriffsgeschichtlichen Skizze gezeigt – eine semantische Kombination aus inkriminierender Bezeichnung und moralischer Attribution darstellt.

IV. Abschließend ist auf einen weiteren Punkt kurz hinzuweisen, der für die Erforschung von Korruption und der Art, über sie zu reden, von zentraler Bedeutung sein dürfte, ohne daß hierzu bereits eine Forschung vorläge, die hier referiert werden könnte. Ganz offensichtlich zeigen die wenigen empirischen Befunde, daß in den unterschiedlichen Territorien Europas zumindest nicht in gleicher Weise Korruption zum Thema der Öffentlichkeit und anderer Bereiche gesellschaftlicher Selbstbeschreibung wurde. Vor allen Dingen seit dem 19. Jahrhundert scheint es zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen gekommen zu sein. Dabei spricht viel dafür, daß sich ganz ähnlich etwa zur Risikokommunikation, über die Mary Douglas ausführlich geforscht hat71, nationale Kulturen der Korruptionskommunikation entsprechend den jeweiligen politischen Institutionen ausgebildet haben, die in wahrscheinlich zentraler Weise Momente der Selbst- und der Fremdbeschreibung miteinander verbanden. Daß sich Preußen und Deutschland lange (bis in die jüngste Vergangenheit hinein) selbst als kaum korrupt wahrnahmen, war eben nicht nur, wie Wolfgang Schuller meint, eine Folge der hier durchgesetzten strikten Beamtendisziplin, sondern auch ein Selbstbeschreibungsstereotyp vor dem Hintergrund spezifischer bürokratischer Strukturen72, mit dem zumal, so 71

Mary Douglas/Aaron Wildafsky, Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. Berkeley 2001 (Ndr. der Ausgabe von 1983). 72 Daß solche Selbstbeschreibungsstereotype ihrerseits wiederum für die Durchsetzung spezifischer Verhaltensstandards und praktischer Verhaltensweisen wichtig sein können, ist hiervon gar nicht berührt. Überhaupt haben Stereotype ja nicht unbedingt einen Ver-

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könnte man vermuten, Abgrenzungen zu anderen Kulturen möglich wurden. Als sicher kann zumindest gelten, daß die Kommunikationsschemata historisch kontingent und nationalkulturell spezifisch angelegt waren und sind, und daher auch ganz unterschiedliche Anschlußkommunikationen hervorgerufen haben dürften. Eine vergleichende Korruptionsforschung, die hier ein wesentliches Licht werfen dürfte, fehlt aber offensichtlich noch weitgehend.73 Für Deutschland lassen sich immerhin bestimmte Vermutungen über die historische Korruptionskommunikation anstellen. Während die ältere Fürstenwelt noch häufig Gegenstand der Kritik war, setzte sich seit dem 19. Jahrhundert immer stärker die Vorstellung durch, in einer Tradition des perfekten Rechts- und Verwaltungsstaates mit einer nichtkorrupten Bürokratie zu stehen, von der aus auch deshalb Mißtrauen gegenüber der Politik, insbesondere der Demokratie angebracht schien, weil in ihr geradezu das Einfallstor der Korruption vermutet werden konnte. Die populäre Behauptung, Politik sei ein schmutziges Geschäft, brachte dieses Mißtrauen treffend auf den Punkt, indem (demokratische) Politik und Korruption geradezu miteinander identifiziert wurden. Diese Identifizierung von Politik und Korruption scheint für die deutsche Kommunikationstradition zumindest zeitweise typisch gewesen zu sein, während in anderen Kontexten innerhalb der Politik zwischen korruptem und angemessenem Verhalten unterschieden wurde. Zwar war auch in Deutschland eine Unterscheidung innerhalb der Politik vorstellbar, aber letztlich war das Ideal die bürokratisch perfekte Verwaltung, die durch die Politik bestenfalls irritiert, meistens aber gestört wurde. Der Erste Weltkrieg, die Revolution und die politische Demokratie der Weimarer Republik mußten in dieser Perspektive daher geradezu als Degeneration wahrgenommen werden, als ein Niedergang zur Korruption. Die Weimarer Republik hatte es von daher schwer, nicht zuletzt deshalb, weil auch ganz faktisch die wirtschaftlichen Verhältnisse zunächst in der Inflation und später in der Großen Krise Korruptionsvermutungen begünstigten und in der Öffentlichkeit entsprechend viel von Korruptionsskandalen die Rede war, wogegen sich eine demokratische Republik mit freier Meinungsbildung faktisch kaum wehren konnte. Der Nationalsozialismus hatte es da leichter, da er völlig unabhängig vom stark zunehmenden realen kriminellen Geschehen die bisherige Korruptionskommunikation durch Zensur nicht nur unterband, sondern das Korruptionsschema gleichsam regionalisierte beziehungsweise rassisch auflud: Korrupt waren entweder das feindselige Ausland und/oder die Juden, eine Externalisierung der Korruptionsvorwürfe, die in ganz ähnlicher Weise auch von den Kommunisten in der schleierungscharakter. Sie sind vielmehr – mit Reinhart Koselleck gesprochen – Indikatoren wie Faktoren eines historischen Komplexes. 73 Erste Hinweise für einen Vergleich von Deutschland und Großbritannien bei Engels, Politische Korruption (wie Anm. 2), 329–345.

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Sowjetunion genutzt wurde, für die Korruption und politische/soziale Gegnerschaft ebenfalls in eins fielen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg scheint sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Normalisierung insofern ergeben zu haben, als man nach und nach bereit war, die Sauberkeits- beziehungsweise Perfektheitsstereotype aufzugeben, freilich um den Preis, daß sie nun auch nicht mehr im Sinne der Herbeiführung eines gewünschten Verhaltens wirksam wurden. Doch sind das alles nur mehr oder weniger begründete Spekulationen. Erst eine kulturvergleichende Erforschung von Korruption und Korruptionskommunikation wird hier zu tieferen Einsichten führen können. Festgehalten werden kann immerhin: Wie zu Beginn angedeutet, hat der Begriff Korruption zwei Bedeutungen, die beide für historische Fragestellungen von großer Bedeutung sind. Einerseits geht es um eine analytische Kategorie der Erfassung einer bestimmten Art abweichenden Verhaltens, das zwar in bestimmten Ausprägungen ubiquitär (Vorteilsname, Bestechung) ist, von denen im strengen Sinne allerdings nur „moderne“ Phänomene präzise als Korruption zu bezeichnen sind, da nur in der Moderne eindeutige Regeln existieren, gegen die verstoßen werden kann, und da auch nur in der Moderne eine Öffentlichkeit existiert, die in ethischer Hinsicht auf der Einhaltung von Verhaltensmaßstäben besteht und abweichendes Verhalten hiervon moralisch indiziert. Diese „analytische“ Kategorie erschöpft gleichwohl das historische Phänomen nicht, denn auch die sich verändernde Bedeutung des Begriffes Korruption selbst muß als historisch relevant in die Überlegungen einbezogen werden. Der Bedeutungswandel des Begriffes Korruption legt dabei ebenfalls nahe, eine enge Verbindung zur Entstehung und Konsolidierung moderner Gesellschaften zu sehen. Zwar ist der Begriff der Korruption älter, und seine semantische Fassung als Abweichung von der möglichen und zugleich als moralisch geforderten Erfüllung einer auf den kosmischen beziehungsweise den Naturzustand bezogenen Perfektionsvorstellung eine wichtige Voraussetzung für ihre spätere Nutzung. Entscheidend scheint aber zu sein, daß dieses semantische Schema Korruption/Perfektion mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft einerseits zum Kritikschema im Medium der öffentlichen Meinung wurde, mit dem bestimmten Verhaltensweisen moralische Qualitäten zugeschrieben werden können; andererseits wurde dieses Schema in den einzelnen Teilbereichen der Gesellschaft jeweils spezifisch verwandt, insbesondere trug es maßgeblich zur Aufstellung von Organisationsregeln (insbesondere in der Politik und bedingt auch in der Wirtschaft) bei, die Perfektion garantieren und Korruption verhindern sollen, womit fast zwangsläufig die Möglichkeit von Korruption erweitert wurde, da die Erwartung perfekten (den Organisationsregeln entsprechenden) Verhaltens laufend zunimmt. Zwischen teilsystemspezifischen Überlegungen etwa zu politischer Korruption, die wiederum als wissenschaftliches Phänomen oder politischer Skandal thematisiert werden kann, und öffentlicher

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Korruptionskommunikation, die vor allem im moralisierten Kritikschema erfolgt, bestehen Irritationspotentiale, die sich historisch kumulieren können (etwa in der Französischen Revolution, im Vorwurf des Nationalsozialismus gegen die Weimarer Republik oder der Sowjetunion gegen den Kapitalismus) und dann das semantische Terrain für Tugenddiktaturen vorbereiten. Kommunikation über Korruption ist daher für moderne Gesellschaften ebenso konstitutiv wie in ihrer historischen Dynamik, zurückhaltend formuliert, offen – sie enthält aber ohne Frage ein diabolisches Moment.

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Korruption als Problem und Element politischer Ordnung Zu der Geschichtlichkeit eines Skandalons und methodologischen Aspekten historischer Komparatistik Von

Karsten Fischer Durch alle Zeiten hindurch und über alle unterschiedlichen Regimeformen hinweg ist Korruption ein Begriff von schier unvergleichlicher moralischer Eindeutigkeit, und zwar gerade aufgrund historisch sehr unterschiedlicher inhaltlicher Verständnisse.1 Dies zeigt sich daran, daß keine konkreten negativen Folgen dargestellt werden müssen, um Korruption zu inkriminieren – ihr Tatbestand ist per se ein Skandalon, anders als sogar im Fall von Gewalt, die sich als Mittel der Wahl jederzeit auf legitime Zwecke zu berufen wußte. Folgerichtig hat Korruption noch niemals als Selbstbeschreibung sozialen Verhaltens fungiert, sondern allzeit nur als pejorative Fremdbeschreibung. Nimmt man eine systemische Makroperspektive ein, kann man Korruption gleichwohl nicht mit purer Zerstörung, Anarchie und Anomie gleichsetzen. Zwar ist Korruption für politische Ordnung immer ein Problem, zumal für eine demokratische politische Ordnung, und allein schon aufgrund ihrer makroökonomischen Ineffizienz auch für alle anderen.2 Stets ist Korruption jedoch ebenso ein Element politischer Ordnung, insofern sie keineswegs anomisch ist, sondern ein subversives, inverses Normensystem ans Werk setzt3, das zu Lasten der offiziellen Ordnung arbeitet, diese aber mitnichten zerstören möchte, sondern für seine parasitäre Existenz vital auf sie angewiesen ist. Korrupte und korrumpierende Akteure haben folglich kein Interesse an der Universalität ihres Handelns, sondern sie sind um so erfolgreicher, je vereinzelter und dadurch zumeist unbemerkter sie innerhalb der herrschenden Ordnung deviant agieren können. Demzufolge ist von einer Inkongruenz auszugehen: Korruption ist ein Problem für politische Ordnung, aber politi-

1

Vgl. den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. Die immer wieder einmal geäußerte Ansicht, Korruption könne ökonomische Effizienzvorteile haben, kann – von höchst außergewöhnlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abgesehen – als widerlegt betrachtet werden, vgl. hierzu Susan Rose-Ackerman, Corruption. A Study in Political Economy. New York 1978; dies., Corruption and Government. Causes, Consequences, and Reform. Cambridge 1999. 3 Donatella della Porta/Alberto Vannucci, Corrupt Exchanges. Actors, Resources, and Mechanisms of Political Corruption. New York 1999, 255f. 2

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sche Ordnung ist kein Problem für Korruption, die sich als deren Element etablieren möchte. Diese Eigenarten des Skandalons Korruption machen es erforderlich, aus der zwangsläufigen Vielfalt von Begriffsbestimmungen zunächst ein analytisch fruchtbares Verständnis von politischer Korruption (um die es nachfolgend geht, auch wenn abkürzend generell von „Korruption“ gesprochen wird) zu destillieren (I.). Von hieraus gilt es, der eingangs festgestellten Geschichtlichkeit der Korruptionssemantik Rechnung zu tragen. Dies erfolgt durch die Nutzbarmachung der Systemtheorie Niklas Luhmanns, die es ermöglicht, entgegen der undifferenzierten, populären Rede von Korruption als einem schlechthin transhistorisch universellen Phänomen, sozialstrukturelle und -evolutionäre Determinanten korrupter Praktiken festzustellen (II.).4 Diese systemtheoretische Historisierung wirft indessen die methodologische Frage nach einer epochenübergreifenden Verwendbarkeit des Korruptionsbegriffs und damit nach einer diachronen Vergleichbarkeit von Korruptionsfällen auf, die abschließend zu reflektieren bleibt (III.).

I. Probleme einer Begriffsbestimmung Man findet nur wenige andere politische Begriffe, bei denen es eine solch große Verständnisvielfalt gibt wie beim Korruptionsbegriff. Dies hat maßgeblich mit dem eingangs genannten Umstand zu tun, daß die Semantik dieses Begriffs von vornherein pejorativ und normativ skandalisierend und daher als Selbstbeschreibung des Handelns politischer Akteure untauglich ist, denn naheliegenderweise erschwert eine solch starke normative Aufladung eine nüchterne Begriffsbildung. Eine Vielzahl prominenter Bestimmungen von politischer Korruption bezieht sich auf den Gemeinwohlbegriff und definiert, Korruption sei ein Sym4 Zum geschichtswissenschaftlichen Potential der Systemtheorie vgl. Rudolf Schlögl, „Aufgeklärter Unglaube“ oder „mentale Säkularisierung“? Die Frömmigkeit katholischer Stadtbürger in systemtheoretischer Hinsicht (ca. 1700–1840), in: Thomas Mergel/ Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, 95–121; ders., Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann. Zum schwierigen (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Systemtheorie, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie 7, 2001, 23–45; Frank Becker/Elke Reinhardt-Becker, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2001; und Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main/New York 2004; sowie speziell für die Ideengeschichte Andreas Göbel, Die Selbstbeschreibungen des politischen Systems. Eine systemtheoretische Perspektive auf die politische Ideengeschichte, in: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm (Hrsg.), Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie. Wiesbaden 2003, 213–235.

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ptom dafür, daß das politische System mit wenig Rücksicht auf das öffentliche Interesse operiert.5 Folgerichtig steht bei einer solchen Definition von politischer Korruption die private, materielle Vorteilsnahme eines politischen Funktionsträgers im Vordergrund. Ohne dessen Korrumpierung, so die stillschweigende Annahme, wären andere hoheitliche Entscheidungen getroffen worden. Nach diesem Verständnis bildet politische Korruption eine von verschiedenen möglichen Formen politischer Interessendurchsetzung qua Austausch von politischen und ökonomischen Ressourcen, wobei mindestens einer der Tauschpartner Inhaber eines öffentlichen Amtes ist und Zuwendungen mit dem Ziel erhält, durch Aktivität oder Unterlassung eine politische Entscheidung herbeizuführen, die ohne diese Zuwendungen nicht oder anders getroffen würde.6 Diese in der Korruptionsforschung mehrheitsfähige Definition stellt ab auf die private, materielle Vorteilsnahme, die Unterscheidung zwischen öffentlichem Amt und privaten Interessen sowie die Beeinflussung politischer Entscheidungen. Dieses Begriffsverständnis ist allerdings nicht sehr komplex und scheint mehr Probleme aufzuwerfen als es löst. Denn in der heutigen politischen Landschaft wird man, so sehr man dies auch bedauern mag, wohl kaum mehr so klar zwischen privat und öffentlich unterscheiden können, wie es die Definition suggeriert, nehmen doch die Einflüsse privatwirtschaftlicher Akteure auf hoheitliche Entscheidungen ebenso zu wie privatwirtschaftliche Aktivitäten von Inhabern öffentlicher Ämter. Die Beeinflussung politischer Entscheidungen ist als entscheidendes Merkmal einer wissenschaftlichen Definition von politischer Korruption nicht minder problematisch, und zwar nicht nur aufgrund der generellen Schwierigkeiten wissenschaftlich haltbarer Kausalattributionen. Vielmehr ist unter demokratischen Bedingungen jedwede Einflußnahme auf politische Prozesse jenseits der dafür vorgesehenen, institutionalisierten Wege problematisch, nicht nur eine durch Zuwendungen motivierte. 5

Vgl. nur Christian Brünner, Zur Analyse individueller und sozialer Bedingungen von Korruption, in: ders. (Hrsg.), Korruption und Kontrolle. Wien u. a. 1991, 677–705, 678f.; J. Peter Euben, Corruption, in: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Eds.), Political Innovation and Conceptual Change. Cambridge 1989, 220–246, 223; della Porta/Vannucci, Corrupt Exchanges (wie Anm. 3), 109ff.; Arnold A. Rogow/Harold D. Lasswell, The Definition of Corruption, in: Arnold J. Heidenheimer (Ed.), Political Corruption. Readings in Comparative Analysis. 2. Aufl. New Brunswick 1978, 54f.; Rose-Ackerman, Corruption and Government (wie Anm. 2), 226. 6 Verena Blechinger, Auf dem Weg zu „sauberer Politik“ und transparenten Strukturen? Korruption und Selbstreinigung in der japanischen Politik, in: Jens Borchert/Sigrid Leitner/Klaus Stolz (Red.), Politische Korruption. Hrsg. v. Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien. (Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien, Bd. 3.) Opladen 2000, 145–184, 148; vgl. Ulrich von Alemann/Ralf Kleinfeld, Begriff und Bedeutung der politischen Korruption aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Arthur Benz/Wolfgang Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption. Abweichendes Verhalten in der Verwaltung. Baden-Baden 1992, 259–282, 279f.

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Zwei Voraussetzungen für die Feststellung von Korruption können aber festgehalten werden: Ein „Mindestniveau der strukturellen Differenzierung eines politischen Apparats“ und ein normativer Rahmen in Gestalt des Öffentlichen Interesses, das von privaten Interessen unterschieden werden kann.7 Politische Korruption stellt demnach kein Symptom für institutionelle Dysfunktionalität dar, das primär in gering differenzierten Gesellschaften auftritt, sondern sie indiziert das sich mit steigender gesellschaftlicher Komplexität verschärfende Problem des Systemvertrauens: Korruption dient als „Mittel, in die Beziehung zwischen einem unpersönlichen Autoritätssystem und einer Allgemeinheit, die diesem System weder Verständnis noch Loyalität entgegenbringen mag, Vertrauen einzuführen und eine konkrete Form zu verleihen“.8 Mit ihren fließenden Übergängen zu Nepotismus, Klientelismus, (Ämter-)Patronage, Protektionismus und Lobbyismus ist Korruption mithin vor allem für sozial hochdifferenzierte, demokratische Ordnungen eine Gefährdung, und zwar aufgrund ihrer eingangs angesprochenen Eigenschaft zur Ausbildung eines konkurrierenden, subversiven Normensystems. Konkret besteht diese subversive Gefährlichkeit für demokratische Strukturen darin, eine im gemeinsamen, bewußten Regelverstoß liegende Alternative zu dem abstrakten, aber für eine Republik unverzichtbaren Erfordernis der Identifikation mit formalen Organisationen und Institutionen zu bieten. Wenn solchermaßen die Vertrauensbildung in dem gemeinschaftsstiftenden Akt bewußter Regelübertretung liegt, muß man von der Vorstellung Abstand nehmen, daß Korruption auf die Zerstörung jener etablierten gesellschaftlichen Normensysteme abzielt, derer sie ja zur korrupten Vertrauensbildung bedarf, wie sie sich beispielsweise im gegenseitigen Versprechen dauerhaften Schweigens dokumentiert. Nur einseitig ist Korruption ein Problem für jedes demokratische System, insofern sie ein subversives Normen-System und ein Netzwerk erzeugt, das keinerlei Orientierung an öffentlichen Problemen benötigt und die öffentliche Ordnung erodiert. In diesem Sinne kann man von Korruptionspolitik sprechen und damit, in Anknüpfung an den Begriff „governing by corruption“, den Lord Bolingbroke zu Beginn des 18. Jahrhunderts geprägt hat9, deren eigene Logik als einer devianten policy beziehungsweise 7

Neil J. Smelser, Stabilität, Instabilität und die Analyse der politischen Korruption, in: Christian Fleck/Helmut Kuzmics (Hrsg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens. Königstein im Taunus 1985, 202–228, 210; vgl. hierzu Karsten Fischer, Das öffentliche Interesse am Privatinteresse und die „ausgefranste Gemeinnützigkeit“. Konjunkturzyklen politischer Semantik, in: Gunnar Folke Schuppert/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz. (WZB-Jahrbuch 2002.) Berlin 2002, 65–86. 8 Smelser, Stabilität (wie Anm. 7), 215; vgl. Ulrich von Alemann, Korruption ist Vertrauenssache, in: Capital, H. 4, 1993, 113f. 9 A Dissertation upon Parties, in: The Works of Lord Bolingbroke. Philadelphia 1841 [1733], Vol. 2, 5–172, 160: „As the means then of influencing by prerogative, and of governing by force, were considered to be increased formerly, upon every increase of power

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governance betonen.10 Korruptionspolitik ist der Übergang von individueller zu institutioneller Korruption, welche sich dadurch auszeichnet, daß sie unter bestimmten Bedingungen als „notwendiger oder sogar wünschenswerter Teil institutioneller Pflichten“ angesehen wird.11 Das bedeutet, daß Korruption eine politische Strategie sein kann, die keineswegs der privaten Bereicherung dient. Dies unterscheidet den Korruptionspolitiker auch vom materiellen Privatnutzen suchenden „Geschäftspolitiker“12 – auch wenn man sich durch diese Unterscheidung in die griechische Antike zurückversetzt fühlt, als der demos in Aristophanes’ „Rittern“ zu Kleon sprach: „Oh du Schurke, betrogen hast du mich und all das gestohlen? Ich aber hab dir Kränze aufgesetzt und dich beschenkt“, worauf Kleon kühl repliziert: „Wenn ich gestohlen habe, dann zum Wohl der Stadt.“13 Hiermit ist als noch nicht systematisch untersuchter, zentraler Aspekt politischer Korruption auf den Punkt gebracht, daß der Korruptionsbefund vom Beobachtungsstandpunkt abhängig ist und, wie eingangs bereits betont, bloß als Fremdbeschreibung, niemals aber als Selbstbeschreibung fungiert. Besonders bedeutsam sind hieran die Eigendynamiken, die durch die Feststellung von Korruption in bestimmten sozialen Kontexten freigesetzt werden. Die in Wissenschaft und Öffentlichkeit heterogenen Auffassungen dieses Phänomens entscheiden also nicht bloß darüber, unter welchen Bedingungen Verhalten als korrupt empfunden wird. Erfolgt ein Korruptionsbefund, hat dies vielmehr Rückwirkungen auf das Begriffsverständnis, das sich auszuweiten vermag und so wiederum immer mehr vermeintliche Korruption wahrnehmbar macht. Diese Spirale kann einen von Jens Borchert so genannten, „paradoxen Effekt von Korruption“ zeitigen: Wird immer mehr Korruption wahrgenommen, droht ein sich selbst verstärkender „Prozeß der Delegitimierung demokratischer Institutionen“. Bei den Bürgern kann dann zunehmend der Eindruck entstehen, zu den „von gewitzten Zeitgenossen to the crown, so are the means of influencing by money, and of governing by corruption, to be considered as increased now, upon that increase of power which hath accrued to the crown by the new constitution of the revenue since the revolution.“ 10 Karsten Fischer, Wege der Korruptionspolitik, in: Politische Vierteljahresschrift 41, 2000, 128–134, in Anspielung auf Michael Levi/David Nelken (Eds.), The Corruption of Politics and the Politics of Corruption. (Journal of Law and Society, Vol. 23, No. 1.) Oxford/Cambridge 1996. 11 Dennis F. Thompson, Ethics in Congress. From Individual to Institutional Corruption. Washington 1995, 7. 12 Alessandro Pizzorno/Donatella della Porta, „Geschäftspolitiker“ in Italien. Überlegungen im Anschluß an eine Studie über politische Korruption, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45, 1993, 439–464. 13 Aristophanes, Die Ritter, in: ders., Die elf erhaltenen Komödien. Wien 1989, 85; vgl. Herfried Münkler/Harald Bluhm/Karsten Fischer, Das Ende einer semantischen Karriere? Zur Gegenbegrifflichkeit von Gemeinwohl und politischer Korruption, in: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften: Berichte und Abhandlungen. Bd. 8. Berlin 2000, 425–440.

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Übervorteilten zu gehören. Die naheliegende Lösung ist dann der Versuch, sich ebenfalls auf illegalem Wege das zu verschaffen, was man als gerechten Anteil an gesellschaftlichem Reichtum und staatlichen Leistungen empfindet. Der durch Korruption erzeugte Verlust an Vertrauen begünstigt also seinerseits wiederum die Verbreitung der Korruption.“14 Dabei wird Bestechlichkeit als Verhaltensmaxime keineswegs moralisch positiv bewertet – man will nur nicht als der – im Sinne populärer Publikationen – vermeintlich einzig Ehrliche der Dumme sein. Dieses Problem ist auch für Demokratisierungsprozesse in sich entwickelnden Ländern relevant, während derer vormals korrupte Zustände enthüllt werden, was in breiteren Schichten quasi zu einer nachholenden Korruption führen kann. In seinem „Asian Drama“ hat Gunnar Myrdal dies auf die Formel gebracht: „If everybody seems corrupt, why shouldn’t I be corrupt?“15 Treffend hat daher der Staatsrechtslehrer und Parteienstaatskritiker Hans Herbert von Arnim metaphorisch formuliert, Korruption sei „ansteckend“.16 Dieser Mechanismus kollektiven Verhaltens deutet darauf hin, daß eine Enttäuschung der trotz der vielzitierten Politik- bzw. Politikerverdrossenheit stets vorhandenen Vorbildfunktion politischer Repräsentanten in eine quasi negative Vorbildlichkeit umschlagen kann. So unverzichtbar die Aufklärung politischer Korruptionsfälle ist, so gefährlich können ihre medial spektakulär inszenierten Skandalisierungen daher gleichwohl sein – ein Umstand, der sich, cum grano salis, geradezu als Dialektik der Aufklärung von Korruptionsfällen bezeichnen läßt. Angesichts dessen hat es für das in Demokratien vital bedeutsame Vertrauen in das politische System durchaus positive Seiten, wenn die Öffentlichkeit sich, wie im Fall der Spendenaffäre um den ehemaligen Bundeskanzler Kohl, zufrieden gibt mit einem Zustand, den man sprachspielerisch als Intransparenztransparenz beschreiben kann: Man begnügt sich damit, Intransparenzen in der Parteienfinanzierung als solche erkannt zu haben und moralisch wie juristisch inkriminieren zu können und beruhigt sich darüber hinaus mit dem Wissen, daß die Verhältnisse so nebulös sind und bleiben, wie man es immer schon vermutet hat.17 Der paradoxe Effekt von Korruption, daß der durch politische Korruption erzeugte Verlust an Vertrauen in der Bevölkerung die gesellschaftliche Verbreitung der Kor14

Jens Borchert, Von Berufskölnern, alten Römern und paradoxen Konsequenzen, in: Borchert/Leitner/Stolz (Red.), Politische Korruption (wie Anm. 6), 7–17, 9. 15 Gunnar Myrdal, Asian Drama. An Enquiry into the Poverty of Nations. New York 1968, 409; vgl. auch della Porta/Vannucci, Corrupt Exchanges (wie Anm. 3), 12, 19. 16 Hans Herbert von Arnim, Das System. Die Machenschaften der Macht. München 2001, 182f. 17 Vgl. Karsten Fischer, Selbstkorrumpierung des Parteienstaates. Versuch über einen Gestaltwandel politischer Korruption, in: Harald Bluhm/Karsten Fischer (Hrsg.), Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht. Theorien politischer Korruption. Baden-Baden 2002, 67–86.

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ruption begünstigt, findet gleichzeitig in dieser Intransparenztransparenz seine Rückkopplung dergestalt, daß mangelndes politisches Vertrauen der Bürger auch die paradoxe Voraussetzung der Korruptionspolitik bildet. Denn infolge der Politik(er)verdrossenheit wird der demokratische Prozeß für die politische Klasse immer unkalkulierbarer, weswegen seine verdeckte Steuerung auf korruptionspolitischem Wege verlockend ist. Wenn mittels Etablierung intransparenter Vertrauensnetzwerke auf jene Vertrauensverluste in der Bevölkerung reagiert wird, die durch solche Vernetzungsprozesse erst erzeugt und weiter forciert werden, verschärft sich freilich das Problem korruptiver Eigendynamik zu einem Teufelskreis.18 Jedenfalls machen diese Überlegungen klar, daß Korruption als ein durch seine politisch-rhetorischen Thematisierungen und Skandalisierungen mitgeprägtes Phänomen verstanden werden muß19, das losgelöst von diesem Diskurskontext nicht hinreichend zu begreifen ist. Zieht man an dieser Stelle eine Zwischenbilanz, so bieten die Unzulänglichkeiten herkömmlicher Definitionsversuche politischer Korruption sowie die für ein angemessenes Verständnis dieses Skandalons unverzichtbare Bedeutung sozialer Differenzierung und ihrer semantischen Korrelate Anlaß, mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns einen bislang unzureichend genutzten Theorieansatz einzubeziehen.

II. Systemtheoretische Perspektiven Luhmann zufolge lassen sich Gesellschaften hinsichtlich der Form ihrer primären Systemdifferenzierung, also hinsichtlich der Art und Weise, wie sich die Teilsysteme im Gesellschaftssystem zueinander verhalten, unterscheiden. Die moderne Gesellschaft ist dabei durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet, das heißt jedes Teilsystem ist an einer eigenen, spezifischen Funktion orientiert, die von einer binären Codierung angeleitet wird. So hat das politische System die Funktion, die Kapazität für kollektiv verbindliche Entscheidungen herzustellen, und operiert unter demokratischen Bedin18 Zur Vernetzungsproblematik vgl. auch Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Korruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft. München 2003; Peter Eigen, Das Netz der Korruption. Wie eine weltweite Bewegung gegen Bestechung kämpft. Frankfurt am Main 2003; Karsten Fischer, Die jüngste Versuchung der Demokratie. Zum Diskurs über „Postdemokratie“ und Politik-Netzwerke, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 19, 2006, 47–57. 19 Frank Marcinkowski/Barbara Pfetsch, Die Öffentlichkeit der Korruption – Zur Rolle der Massenmedien zwischen Wächteramt, Skandalisierung und Instrumentalisierbarkeit, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. (Politische Vierteljahresschrift, Sonderh. 35.) Wiesbaden 2005, 287–308; vgl. die Feststellung, das Schema Korruption/Perfektion sei „diabolisch“, bei Plumpe, Korruption (wie Anm. 1).

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gungen mit der binären Codierung Regierung/Opposition. Dieser Code ist das Ergebnis politischer Evolution, denn der basale Code des politischen Systems lautet Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit. Die Eigenart politischer Macht besteht aber darin, auf ihre Nichtbenutzung angewiesen zu sein: Macht muß ihre Mittel zeigen und zugleich vermeiden, daß sie sie anzuwenden hat. Eine stabile Codierung politischer Macht erfordert daher die evolutionäre Errungenschaft von Ämtern, an denen politische Macht ohne Anwendung ihrer Mittel sichtbar wird. Diese Evolution des politischen Codes von Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit zu Amtsbesitz/Amtsunterworfenheit kulminiert schließlich in der demokratischen Recodierung politischer Macht mittels des Codes Regierung/Opposition, mit der die Kontingenz des Entscheidens codiert wird.20 Die binäre Beschränkung auf die Reproduktion seiner Operationen garantiert die Autopoiesis des solchermaßen operativ geschlossenen Funktionssystems Politik, dessen Beziehungen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt die Form struktureller Kopplungen annehmen. So dient beispielsweise die Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Politik und Recht dazu, andere Kopplungsmöglichkeiten zwischen diesen Funktionssystemen, wie wirtschaftliche Pressionsmacht, Terror und Korruption wirksam auszuschließen21, denn strukturdeterminierende Abhängigkeiten, wie Korruption sie herbeiführt, sind unvereinbar mit funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung. Folglich ist Korruption in der systemtheoretischen Perspektive Luhmanns ein Anzeichen gestörter Autopoiesis und insoweit als Hemmnis sozialer Komplexität und Differenzierung, wenn nicht gar als devolutive soziale Entdifferenzierung zu betrachten. Luhmann hat diesbezüglich von einem Angriff auf den politischen Code gesprochen und das Theorem der strukturellen Kopplung im Zusammenhang mit politischer Korruption verwendet.22 Der differenzierungstheoretische Befund läßt sich demnach dahin gehend resümieren, daß man von Korruption sprechen kann, wenn im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander ein zu hohes Maß an Integration erreicht wird, bei dem die jeweiligen teilsystemspezifischen Freiheitsgrade vorausgesetzt und die Entscheidungsspielräume von Organisationen unterstellt, aber gleichzeitig so gebunden werden, „daß sie als Ressourcen der Reproduktion von ‚linkages‘ dienen“ und dadurch an der Entfaltung ihrer Eigenrationalität 20 Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000; Kai-Uwe Hellmann, Demokratie und Evolution, in: ders./Fischer/Bluhm (Hrsg.), Das System der Politik (wie Anm. 4), 179–212. 21 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1997, 470f. 22 Niklas Luhmann, Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik, in: Peter Kemper (Hrsg.), Opfer der Macht. Müssen Politiker ehrlich sein? Frankfurt am Main 1994, 27–41, 39; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, 810f.

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gehindert werden.23 Eine solch übermäßige Integration der Funktionssysteme gefährdet die gesellschaftliche Komplexität und erfordert daher eine – gemeinhin eher für sozialpathologisch gehaltene – „Desintegration“.24 Infolge dieses Verständnisses von Korruption als komplexitätsreduktionistischer, übermäßiger Integration von Funktionssystemen drängt sich die Frage nach Vertrauen als „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“25 auf. Hierzu muß man noch einmal gesellschaftsgeschichtlich und -theoretisch weiter ausholen: Die vormoderne, stratifikatorische Gesellschaft beruhte auf Familienstrukturen und Patron-Klient-Verhältnissen, denen auch politische Funktionen zukamen. Diese Ordnung verschwand jedoch mit dem Übergang zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft, die eine Übertragung von Aufgaben auf Organisationen in den einzelnen Funktionssystemen vorsieht.26 Dadurch können Entscheidungen nicht mehr unter Berufung auf persönliche Beziehungen „oder auf dem Tauschwege beeinflußt werden, sondern nur noch durch Übernahme einer Rolle im Verfahren selbst. Jede andere Einwirkung wird als Korruption diskreditiert.“27 Dadurch jedoch taucht ein absurdes, weil anachronistisches Problem auf: „Wie soll man Organisationen trauen, wenn man niemanden kennt, der sie beeinflussen kann?“28 Im Rahmen der Funktionslogik moderner Gesellschaft ist diese Besorgnis schlichtweg paradox, da die Übertragung von Aufgaben auf Organisationen ja gerade eine Alternative zur persönlichen Einflußnahme bilden soll. Als Modernisierungsfolge ist dieses Problem hingegen äußerst plausibel, und seine im wahrsten Sinne des Wortes bestechende Lösung lautet: Die Familie wird „als Ressourcenquelle ersetzt durch die legalen/illegalen Einflußmöglichkeiten, die Positionen in Organisationen bieten“.29 Auf diese Weise wird genau dasjenige informelle Prinzip in die formalen Organisationen reintegriert, zu dessen Ersetzung sie dienen sollen. Daß dies rechtlich sanktioniert ist und als Korruption kommuniziert wird, ist dabei nicht nur kein Hinderungsgrund, sondern eine zusätzliche Triebfeder, denn „wenn es rechtliche Schranken des Erlaubten gibt, bietet das Beiseiteschieben der damit gegebenen Hindernisse um so mehr Gelegenheiten, guten Willen und 23 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, 257. 24 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (wie Anm. 22), 604. Zum politischen Interesse am Topos sozialer (Des-)Integration beziehungsweise Kohäsion vgl. Karsten Fischer, Moralkommunikation der Macht. Politische Konstruktion sozialer Kohäsion im Wohlfahrtsstaat. Wiesbaden 2006. 25 Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 1989. 26 Niklas Luhmann, Kausalität im Süden, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie 1, 1995, 7–28, 21f. 27 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1997, 64. 28 Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 (wie Anm. 23), 251. 29 Ebd.

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Hilfsbereitschaft zu demonstrieren.“30 Schließlich kann man Freundschaft und zugleich Macht durch nichts besser beweisen „als durch Eröffnung eines Zugangs zum Geld“.31 Insoweit hat Sighard Neckel richtig beobachtet, daß Eberhard von Brauchitsch im Zuge des Flick-Skandals „seine natürliche Begabung für Soziologie“ bewiesen hat, „als er in einer Fernsehsendung den Vorwurf der aktiven Bestechung mit dem Hinweis gekontert hat, daß er für die sozialen Folgen seiner Freigebigkeit nicht haftbar gemacht werden könne“, denn wenn „aus Dankbarkeit beim Empfänger ein Abhängigkeitsgefühl“ entstehe, sei „dies das Problem des Empfängers, nicht des Spenders“.32 Auch die gesellschaftstheoretische Perspektive bestätigt also die anfängliche Feststellung, daß hinter korrupten Akten keineswegs systemoppositionelle Absichten stehen. Vielmehr ist die Existenz und mehrheitliche Akzeptanz der geltenden Rechts- und Sozialordnung eine unabdingbare Voraussetzung der Etablierung korrupter Praktiken, die geradezu als nachhaltige Nutzung des offiziellen Systems funktionieren: Das Netzwerk der Gunsterweise und Vorteilsverschiebungen differenziert sich gegen die tragende Sozialordnung und „beginnt, parasitär zu operieren“.33 Diese Überlegungen Luhmanns legen die für Historiker bedeutsame Konsequenz nahe, politische Korruption nicht als modernisierungsbedürftige Relikte einer vergangenen Ordnung zu verstehen, sondern als Reaktionen auf Modernisierungsprozesse34, so daß man – wie zu betonen Historiker zu Recht nicht müde werden – den Kontrast zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften nicht überspitzen darf. Informelle Netzwerke von einander durch Geldgeschäfte und Ehrenkodizes reziprok verpflichteten Personen sind nun gerade nicht durch funktionssystemspezifische Logiken gekennzeichnet, sondern durch die Logik von Inklusion und Exklusion, wobei sich die Alternative, mitzumachen oder herauszufallen, um so schärfer stellt, je deutlicher die Teilnahmebedingungen sind. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Teilnahmebedingungen ist der gemeinsame Regelverstoß, der stillschweigendem Konsens unterliegen muß. Dieser Konsens ist Bedingung der Inklusion, so daß das Netzwerk einer permanenten internen Kontrolle unterliegt.35 Folglich steigt die Bedeutung und Schärfe der Alternative Inklusion/Exklusion, je stärker „Normen ‚offizieller‘ Provenienz und vor allem Fragen der Geltung und Durchsetzbarkeit des Rechts den Bedingungen persönlicher Interaktionen unter30

Luhmann, Kausalität im Süden (wie Anm. 26), 23. Ebd. 25. 32 Sighard Neckel, Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main/New York 2000, 88. 33 Luhmann, Kausalität im Süden (wie Anm. 26), 25. 34 Ebd. 19; Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 (wie Anm. 23), 257. 35 Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 (wie Anm. 23), 252f.

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worfen werden“.36 Mit anderen Worten: Die gemeinsame Übertretung rechtlicher Normen befördert als Inklusionsmechanismus den Aufbau von Vertrauen und reziproken Verpflichtungen. Dieses als Don Corleone-Prinzip bekannte Muster37 hat Luhmann treffend als joint venture von Politik und Kriminalität bezeichnet: Illegale Akte werden gleichsam zum „Eintrittsbillett in die Organisation“.38 Bezieht man diese Überlegung nun zurück auf das Vertrauensproblem, so kann man einige Formen politischen Vertrauens und ihre jeweilige Signalfunktion für den Zustand moderner, das heißt mit hoher Komplexität operierender und die entsprechende Kontingenz aushaltender Demokratien unterscheiden: Die vormoderne Gesellschaft basiert in hohem Maße auf personalen Beziehungen, beruht folglich auf einem großen Maß an Vertrauen in Personen und hat die oben erläuterten Probleme mit der Umstellung auf die mit formalen Organisationen operierende funktionale Gesellschaftsdifferenzierung. Deswegen sucht sie systemisch parasitäre, informelle Einflußmöglichkeiten zu etablieren, die sich Vertrauensbeziehungen verdanken, welche durch gemeinsamen Regelverstoß gestärkt werden.39 In einer intakten modernen Demokratie sieht es genau umgekehrt aus: Das Vertrauen in Personen ist begrenzt, das heißt, es ist weniger bedeutsam als das gemeinsame Systemvertrauen der Bürger40, das im Idealfall hoch ist, so daß es kein breites Bedürfnis nach informellen Netzwerken gibt. Kommt es in der modernen Demokratie hingegen zu einer Vertrauenskrise, steigt das Vertrauen in Personen und mit ihm das Vertrauen in informelle Netzwerke auf Kosten des abstrakten, zumal politischen Institutionen geltenden Systemvertrauens. Eine systemgefährdende Vertrauenskrise der modernen Demokratie ist erreicht, wenn das Systemvertrauen durch hochgradig informelle und intransparente, personale Vertrauensbeziehungen ersetzt wird, die auf der Basis äußerlich fortbestehender, funktional differenzierter, formaler Organisationen parasitäre Netzwerke etablieren. Der Rekurs auf die Systemtheorie Luhmanns plausibilisiert also den oben geäußerten Verdacht, daß politische Korruption unter Bedingungen funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung auch und gerade für politische Eliten attraktiv ist, weil sie Kontingenzreduktion ermöglicht und an die Stelle transparenter, kontingenter Verfahren intransparente, kontrollierbare Netzwerke mit hoher Inklusionskraft aufgrund starker Exklusionsdrohung setzt. 36

Luhmann, Kausalität im Süden (wie Anm. 26), 24. Neckel, Die Macht der Unterscheidung (wie Anm. 32), 88. 38 Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 (wie Anm. 23), 256; vgl. Luhmann, Kausalität im Süden (wie Anm. 26), 23; Arnim, Das System (wie Anm. 16), 172ff., spricht von Korruption als der „Seele des Systems“. 39 Vgl. Christian Höffling, Korruption als soziale Beziehung. Opladen 2002. 40 Seymour Martin Lipset/William Schneider, The Confidence Gap. Business, Labor, and Government in the Public Mind. Baltimore 1987, 378f. 37

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Hinsichtlich des Problems einer Begriffsbestimmung politischer Korruption, von dem die hier angestellten Überlegungen ja ihren Ausgang genommen hatten, läßt sich infolge des systemtheoretischen Rekurses nun mit Martin Morlok feststellen, daß Korruption „eine ‚Entdifferenzierungspathologie‘“ darstellt, das heißt „ein partielles Aufgehen der eigenen Handlungsmaßstäbe zugunsten extern verankerter Kriterien“. Werden hierdurch „systemfremde Kriterien mindestens partiell entscheidungsrelevant“, so erlangt Korruption „tendenziell systemzerstörerische Konsequenzen“.41 Man sieht daran, so kann man augenzwinkernd schließen, die dunkle Seite der politischen Evolution: Als Politik noch mit der Unterscheidung zwischen Amtsinhabern und Amtsunterworfenen funktionierte und der Ämterkauf noch ein legales Mittel der Erlangung politischen Einflusses bildete, war die Verlockung zur Korruption geringer. Dies hat sich geändert, seit man nur noch illegalerweise Amtsinhaber kaufen kann, nicht aber mehr legalerweise das Amt. Ernsthaft läßt sich folgern, daß Ausdifferenzierung der Politik eine notwendige Voraussetzung politischer Korruption bildet42 und daß Korruption insofern als Modernisierungsindikator anzusehen ist. Wohlgemerkt nicht als Modernitätsindikator, sondern als Modernisierungsindikator in dem Sinne, daß das Auftreten politischer Korruption einen – wertneutral verstandenen – Modernisierungsprozeß anzeigt, der Widerstände provoziert, Spielräume verändert oder einfach semantische Reaktionen hervorruft. Dies lehrt insbesondere der Blick auf diktatorische Regime wie das Dritte Reich und die DDR.43 So läßt sich das Auftreten von korrupter Schattenwirtschaft in der DDR-Planwirtschaft als Zeichen dafür deuten, daß die zweite deutsche Diktatur weit von den erträumten und mit allen Zwangsmitteln angestrebten Laborbedingungen für das sozialistische Experiment entfernt war.44 Und der Nationalsozialismus, der bekanntlich beträchtliche Modernisierungswirkungen auf die deutsche Gesellschaft gehabt hat45, ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung des semantischen Aspekts. Denn die Skandalisierung von Korruptionsdelikten aus der Weimarer Republik diente dem Nationalsozialis-

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Martin Morlok, Politische Korruption als Entdifferenzierungsphänomen, in: von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption (wie Anm. 19), 135–152, 137. 42 Ebd. 43 Vgl. Plumpe, Korruption (wie Anm. 1), der dem Korruptionsvorwurf seit der Französischen Revolution eine wesentliche Rolle bei der „semantischen Mobilisierung für diktatorisches Vorgehen“ attestiert, mit der Wirkung eines „mörderischen Zwang[s] zur Perfektion“. 44 Vgl. André Steiner, Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus, in diesem Band. 45 So erstmalig und bis heute maßgeblich Ralf Dahrendorf, Demokratie und Gesellschaft in Deutschland. München 1965.

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mus zur Selbstdarstellung als epochale Erneuerungsbewegung und erschöpfte sich zugleich darin.46 Wenn „Korruptionskommunikation“ maßgeblich durch funktionale Gesellschaftsdifferenzierung und der durch sie etablierten, Skandalisierungsprozesse begünstigenden Öffentlichkeit entfesselt wird47, stellt sich indessen die abschließend anzugehende Frage, inwieweit sich dann noch von einem interepochal vergleichbaren Phänomen sprechen läßt.48 Falls Korruption „unvergleichlich“ sein sollte, tangierte dies nämlich die für Geschichtswissenschaft wie Sozialwissenschaften gleichermaßen bedeutsame Möglichkeit, Zubeziehungsweise Abnahmen von Korruption, unterschiedliche Korruptionsanfälligkeiten verschiedener Regimetypen beziehungsweise religiöser Orientierungen49 und ähnliche, nur in komparativer Perspektive zu gewinnende Einsichten zu ermitteln. Entsprechend grundsätzlich ist das methodologische Problem historischer Vergleichspraxis zu reflektieren.

III. Methodologische Aspekte historischer Komparatistik Der historische Vergleich ermittelt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen geschichtlichen Phänomenen und macht auf diese Weise deren Besonderheit und historische Bedeutung bestimmbar. Sein Reiz ebenso wie seine Schwierigkeit liegt dabei in seiner diachronischen Perspektive, die sich nicht nur auf zeitlich auseinanderliegende Erscheinungen richtet, sondern auf solche, deren zu vergleichende Merkmale innerhalb des Vergleichszeitraums historischen Veränderungen unterliegen, also prozessualer Natur sind. 46 Vgl. Frank Bajohr, Korruption in der NS-Zeit als Spiegel des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, in diesem Band sowie ausführlich Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure: Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2001. Zur nationalsozialistischen Epochenkonstruktion vgl. Karsten Fischer, „Systemzeit“ und Weltgeschichte. Zum Motiv der Epochenwende in der NS-Ideologie, in: ders. (Hrsg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende. Frankfurt am Main 1999, 184–202. 47 Plumpe, Korruption (wie Anm. 1). 48 Vgl. für diesen Ansatz vor allem Konrad Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, 373–392; ders., Geschichte und Sozialwissenschaft. Zur historischen und vergleichenden Korruptionsforschung, in: Heinrich Mäding (Hrsg.), Grenzen der Sozialwissenschaften. Konstanz 1988, 74–87; ders., Korruption in der Antike, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. Wiesbaden 2005, 50–58. Zum komparatistischen Problem der Korruption vgl. James C. Scott, Handling Historical Comparisons CrossNationally, in: Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston (Eds.), Political Corruption. Concepts and Contexts. New Brunswick 2002, 123-136. 49 Vgl. hierzu instruktiv Ulrich von Alemann, Konfession und Korruption. Protestanten an die Macht!, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 42, H. 2, 2006, 13.

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Dieser methodologischen Herausforderung ist die Geschichtswissenschaft nicht immer gerecht geworden. Für den Historismus ist komparative Geschichte ohnehin ein Oxymoron50, und die sogar von einigen der bedeutendsten Fachvertreter falsch angesetzte und irrig den auf Generalisierung abzielenden Sozialwissenschaften entgegengesetzte Betonung historischer Individualität tat ein übriges.51 Selbst Theodor Schieders Harmonisierungsversuch, einen „synthetischen Vergleich als eine Verbindung individualisierender und generalisierender Vergleichsmethoden“ zu begründen52, entkam nicht dieser Logik. Ihr Fehler besteht in einer falschen Auffassung von Theorie und Generalisierung. Denn entgegen landläufiger Annahme zeichnet sich ein komparatives Vorgehen nicht dadurch aus, „erst zu vergleichen und dann zu verallgemeinern“, sondern die Verallgemeinerung konstituiert den Vergleich: „Angesichts einer Vielzahl von Befunden beginnt man damit zu untersuchen, welchen Standort man einzunehmen hat, damit die beobachteten und beschriebenen Fakten wechselseitig konvertibel werden können“, und erst diese Generalisierung begründet und ermöglicht den Vergleich.53 Theorien sind demnach das „strukturelle Gehäuse“ des diachron ansetzenden, geschichtlichen Vergleichs54 und erfüllen als solches ihrerseits schon 50

Edgar Kiser/Michael Hechter, The Role of General Theory in Comparative-historical Sociology, in: American Journal of Sociology 97, 1991, 1–30, 12. Zur Geschichte historischer Komparatistik vgl. Fritz Redlich, Toward Comparative Historiography. Background and Problems, in: Kyklos 11, 1958, 362–389; Reinhold Bichler, Die theoretische Einschätzung des Vergleichens in der Geschichtswissenschaft, in: Franz Hampl/Ingomar Weiler (Hrsg.), Vergleichende Geschichtswissenschaft. Methode, Ertrag und ihr Beitrag zur Universalgeschichte. Darmstadt 1978, 1–87; ders., Das Diktum von der historischen Singularität und der Anspruch des historischen Vergleichs. Bemerkungen zum Thema Individuelles versus Allgemeines und zur langen Geschichte deutschen Historikerstreits, in: Karl Acham/Winfried Schulze (Hrsg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzelund Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 6.) München 1990, 169–192, 171ff. 51 Vgl. nur Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12.September 1949, in: Historische Zeitschrift 170, 1950, 1–22; Josef Engel, Analogie und Geschichte, in: Studium Generale 9, 1956, 96–107, 99, meint gar, der Historiker könne auch das Allgemeine immer „nur als höhere geschichtliche Individualität ansehen“ und so sei etwa Machiavelli für den Historiker nicht interessant als Politiktheoretiker, sondern auch im ideengeschichtlichen Kontext nur erfaßbar „als einmalige geschichtliche Erscheinung“. 52 Theodor Schieder, Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Methoden in der Geschichtswissenschaft, in: ders., Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München/ Wien 1965, 187–211, 209; vgl. ders., Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode, in: ders./Kurt Grübig (Hrsg.), Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft. Darmstadt 1977, 352–384. 53 Claude Lévi-Strauss/Didier Eribon, Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen. Frankfurt am Main 1989, 187. 54 Hans-Jürgen Puhle, Theorien in der Praxis des vergleichenden Historikers, in: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 3.) München 1979, 119–136, 123.

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eine „komparative Funktion“.55 Begründet liegt dies in der prozessualen Eigenart historischer Komparatistik, denn wenn Prozesse mit anderen Prozessen untereinander verglichen werden, ist der entscheidende Faktor die Zeitlichkeit im Sinne der temporalen Ablaufstrukturen geschichtlicher Verläufe: „Zeitlichkeit ist prozeßwesentlich“.56 Als „Reihenfolgen von Ereignissen“57, bei denen „die Selektion eines Ereignisses die Selektion eines anderen mitbestimmt“58, ist Prozessen mithin „eine immanente Historizität“ zu eigen59, die gleichwohl ihrerseits historisch ist, denn gemäß Kosellecks Einsicht wurde Geschichte als Prozeß erst innerhalb des neuzeitlichen Erfahrungsraums denkbar60. Hiermit differenziert und löst sich das methodologische Problem eines diachronen Vergleichs von Korruptionsphänomenen. Einerseits nämlich garantiert gerade das für historische Komparatistik kennzeichnende, prozessuale Geschichtsverständnis eine Perspektive auf lange Zeiträume und damit die Möglichkeit, durchaus Feststellungen zu treffen wie diejenige, daß es zu verschiedenen Zeiten zu Versuchen gekommen ist, politisch-sozialen Modernisierungsprozessen durch intransparente Einflußnahmen zu begegnen, die als Korruption beschreibbar sind und zeitgenössisch wie resümierend auch so beschrieben worden sind, so daß sie schon darob untereinander vergleichbar sind. Solche Feststellungen dürfen bloß nicht verwechselt werden mit einer Komparatistik allenfalls prätendierenden, negativen Geschichtsphilosophie, die, gleichzeitig dramatisierend und relativierend, eine transhistorisch 55 Jörn Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986, 76f.; vgl. ders., Historische Methode, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Methode. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 5.) München 1988, 62–80. 56 Niklas Luhmann, Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hrsg.), Historische Prozesse. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 2.) München 1978, 413-440, 429; vgl. Redlich, Toward Comparative Historiography (wie Anm. 50), 379f.; Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Hans Michael Baumgartner/Jörn Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Frankfurt am Main 1976, 17–35, 31f.; ders., Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, 144–157, 146; Christian Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: Faber/Meier (Hrsg.), Historische Prozesse (wie weiter oben in dieser Anmerkung), 11–66, 50ff.; Neil J. Smelser, The Methodology of Comparative Analysis, in: Donald P. Warwick/Samuel Osherson (Eds.), Comparative Research Methods. Englewood Cliffs 1973, 42–86, 63f. 57 Luhmann, Geschichte als Prozeß (wie Anm. 56), 429. 58 Niklas Luhmann, Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1980, 235–300, 250. 59 Luhmann, Geschichte als Prozeß (wie Anm. 56), 429. 60 Reinhart Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders./ Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 5.) München 1973, 211–222, 221.

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periodische Universalität korrupter Praktiken behauptet.61 Denn während periodisches Denken den Kontinuitätsannahmen einer individualisierenden Historiographie verhaftet bleibt, ist das prozessuale Verständnis offen für den im Sinne des Strukturwandels komplexer Gesellschaftssysteme zu verstehenden „Rhythmus einer Evolution, die nunmehr meßbar, vergleichbar und doppelt differenzierbar“ wird.62 „Prozesse pausieren“63; als Indikator von Modernisierungsprozessen ist politische Korruption folglich nur in ihrem intermittierenden Auftreten und relativ zum Status quo verstehbar. Politische Korruption ist demnach keine unausweichliche, nicht einmal eine folgerichtige Begleiterscheinung politischer Macht, sondern eine spezifische Reaktionsmöglichkeit auf die Evolution politischer Macht. Diese ist ihrerseits in einen umfassenderen sozialen Evolutionsprozeß eingebettet, wie an der erheblichen Komplexitätszunahme und den Modernisierungswirkungen abzulesen ist, die mit dem Übergang von der für stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften einschlägigen Codierung Amtsbesitz/Amtsunterworfenheit hin zur für funktional differenzierte Gesellschaften kennzeichnenden Codierung Regierung/Opposition einhergingen. Alle diese Aspekte eignen sich in geradezu idealer Weise für eine diachron ansetzende historische Komparatistik. Eine zwischen Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften kooperativ anzusetzende Theorie politischer Korruption muß derweil ihr besonderes Augenmerk auf die historische Semantik von Korruptionskommunikation und deren vorstehend problematisierte Eigendynamik richten, und zwar aufgrund der Untrennbarkeit von Semantik und Sozialstruktur und ihren methodologischen Konsequenzen. Vergleiche setzen nämlich naturgemäß einen Vergleichsgesichtspunkt voraus, der seinerseits nicht mitverglichen wird (oder, falls doch, hierzu einen weiteren Vergleichsgesichtspunkt voraussetzt, so daß sich das Problem gegebenenfalls bis zum regressus ad infinitum reproduziert), und dieser Vergleichsgesichtspunkt ist der Beobachter.64 Korruptionsphänomene sind also nicht unmittelbar vergleichbar, sondern stets 61

Vgl. etwa Alfred Sturminger, Die Korruption in der Weltgeschichte. München 1982; Hans-Wolff Graf, Korruption: Die Entschlüsselung eines universellen Phänomens. Frankfurt am Main u. a. 2000. 62 François Furet, Die quantitative Geschichte und die Konstruktion der geschichtlichen Tatsache, in: Baumgartner/Rüsen (Hrsg.), Seminar (wie Anm. 56), 97–117, 109; vgl. Luhmann, Geschichte als Prozeß (wie Anm. 56), 435. 63 Ebd. 430; vgl. Niklas Luhmann, Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt am Main 1985, 11–33. 64 Niklas Luhmann, Religion als Kultur, in: Otto Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Frankfurt am Main 1996, 291–315, 300f.; vgl. Niklas Luhmann, The Paradoxy of Observing Systems, in: Cultural Critique 31, 1995, 37–55.

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Korruption als Problem und Element politischer Ordnung

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handelt es sich um eine Beobachtung von Korruptionsbeobachtern, und diese Beobachtung zweiter Ordnung vollzieht sich in aller Regel in Form von Texten, mithin auf semantischer Ebene, so daß Strukturen insoweit auch als eine semantische Form zu betrachten sind.65 Auf jeden Fall aber ergibt sich hieraus mit der diachron vergleichenden Analyse verschiedener Korruptionskommunikationen ein noch weitgehend unbestelltes, fruchtbares Arbeitsfeld historischer Semantologie.

65 Vgl. Rudolf Stichweh, Semantik und Sozialstruktur: Zur Logik einer systemtheoretischen Unterscheidung, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie 6, 2000, 237–250, 240.

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Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung Von

Andreas Fahrmeir I. Einführung Bislang nimmt das Thema Korruption in der politischen Geschichte1 einen eher marginalen Platz ein, der zudem durch Fallstudien zu Großbritannien dominiert wird2. Dafür lassen sich viele Gründe anführen. Trotz aller Kritik an Spielarten einer „Whig history“, welche eine Meistererzählung der Modernisierung und des Fortschritts für einzelne Länder, Europa, „den Westen“ oder gar die Welt formuliert, bleibt die Annahme einer engen Verbindung von Modernisierung, Parlamentarisierung und Demokratisierung in Historiographie und politischem Diskurs weit verbreitet. So erscheint Korruption (allzu) leicht als archaischer Rest ‚vormoderner‘ Praktiken oder als von außen aus weniger ‚modernen‘ Staaten importiertes3 Phänomen. So richtet sich der Blick in der EU des frühen 21. Jahrhunderts zumindest im breiten öffentlichen Diskurs vor allem auf die neuen Beitrittsländer, Wirtschaftsbeziehungen nach Asien, Afrika und Osteuropa oder auf die in den Augen ihrer Kritiker überlebte Praxis organisierter betrieblicher Mitbestimmung. 1 Als jüngsten Überblick: Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006. 2 Bislang, jeweils mit weiteren Literaturüberblicken: Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne: Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313−350; Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“: Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 281, 2005, 337−379; Philip Harling, The Waning of ‚Old Corruption‘: The Politics of Electoral Reform in Britain, 1779−1846. Oxford 1996; Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006; zum Stand der französischen Debatte exemplarisch Philippe Bourdin/Jean-Claude Caron/Mathias Bernard (Eds.), L’incident éléctoral. De la Révolution française à la Ve République. Clermont-Ferrand 2002. Vgl. ferner den ausführlicheren Literaturbericht in der Einleitung. 3 Ein Beispiel: die Debatte um die politischen Folgen der „neuen“ Einwanderung in die USA: Peter H. Argersinger, New Perspectives on Election Fraud in the Gilded Age, in: Political Science Quarterly 100, 1985/86, 669−687; als differenzierte Lokalstudie Philip J. Ethington, The Public City: The Political Construction of Urban Life in San Francisco, 1850−1900. Cambridge 1994, bes. 226f.

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Geschichten politischer Systeme beschrieben ferner vor allem die Entwicklung der expliziten Regelung von Wahlmodi und Wahlpraktiken, während deren Manipulation durch Techniken, die bereits nach den Maßstäben der fortschrittlichsten Regelungen der jeweiligen Epoche als illegitim galten, nur für bestimmte Zeiten und Regionen (etwa den amerikanischen Süden zwischen Reconstruction und Bürgerrechtsbewegung) besonders hervorgehoben wurde.4 Als Bewertungsmaßstab für Erfolg oder Mißerfolg eines politischen Systems galten vor allem die parteipolitischen Ergebnisse (wobei die Sympathien der Betrachterinnen und Betrachter eine Rolle spielten) und der Grad der vom Regelwerk vorgesehenen Integration der Bewohner eines Territoriums in dessen formalisierte politische Entscheidungsprozesse. Neben der Vergabe des Wahlrechts galt vor allem der Vergleich zwischen der sozialen Zusammensetzung von Parlamenten und Bevölkerung als entscheidende Größe.5 Dieses optimistische Bild beginnt sich in jüngster Zeit in dem Maße zu differenzieren, in dem die Beschreibung formalisierter politischer Prozesse offenbar immer weniger dazu taugt, reale Prozesse politischer Entscheidungsfindung adäquat zu beschreiben, denn diese werden in entscheidendem Maße durch juristische, wirtschafts- oder naturwissenschaftliche Expertengruppen, „Lobbying“ oder gar Bestechung gestaltet, also durch Instanzen, welche in der normativen Selbstbeschreibung demokratischer politischer Systeme nicht vorgesehen sind – der Verweis auf solche Institutionen würde etwa in dem politischen Teil eines Einbürgerungstests nicht akzeptiert werden.6 Standen in den 1960er Jahren vor allem Parteiorganisationen und Medien im Verdacht, alternative Machtzentren zu bilden7, so gilt dies nun für große Unternehmen oder einzelne Unternehmer, denen unterstellt wird, im politischen Bereich eine Verdrängung von Wahl- durch Marktmechanismen zu betreiben. Diese könnten es in einer „Post-Demokratie“8 ermöglichen, politischen Einfluß käuflich zu erwerben. Die Skandale um Rüstungsgeschäfte, 4

Vgl. zum deutschem Kaiserreich die demnächst abgeschlossene Dissertation von Christian Müller, Die Wahlrechtsdiskussionen im Deutschen Bund/Deutschen Reich und in den deutschen Einzelstaaten zwischen 1848 und 1890 im Vergleich. Diss. phil. Heidelberg; ferner Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universelle en France. Paris 1992; Alexander Keyssar, The Right to Vote. The Contested History of Democracy in the United States. 2. Aufl. New York 2000; Ian Machin, The Rise of Democracy in Britain, 1830−1918. Basingstoke 2001. 5 Vgl. den souveränen Überblick bei Heinrich Best/Maurizio Cotta (Eds.), Parliamentary Representatives in Europe 1848−2000: Legislative Recruitment and Careers in Eleven European Countries. Oxford 2000. 6 Vgl. http://www.uscis.gov/portal/site/uscis/menuitem.5af9bb95919f35e66f614176543f6d1a/ ?vgnextoid=dcf5e1df53b2f010VgnVCM1000000ecd190aRCRD (14. 8. 2007). 7 Vgl. Aldous Huxley, Brave New World Revisited. London 1958, bes. 35f., 56f. 8 Colin Crouch, Post-Democracy. Cambridge 2004.

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Elf-Aquitaine, VW, Siemens, die Privatisierung der britischen Eisenbahn, die Geldquellen deutscher Parteien, die Vergabe von Sitzen im englischen Oberhaus liefern dafür aktuelle Beispiele. Harold James hat jüngst – neben der Neuordnung von Eigentumsverhältnissen durch Privatisierung, der Suche nach einer moralischen Außenpolitik, der Umweltprobleme und dem regionalen Nationalismus – Korruption als eines der fünf zentralen politischen Themen des beginnenden 21. Jahrhunderts identifiziert.9 Diese mutige Aussage ist freilich historisch schwer zu bewerten. Bislang läßt der Forschungsstand keine verläßlichen vergleichenden Aussagen über politische Korruption zu, welche es erlauben würde, Skandale der Gegenwart in längerfristige Tendenzen einzuordnen und somit einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, wann politische Korruption Symptom einer ernsten Krise demokratischer Staaten ist, welche dringende Reformen erfordert, und wann es sich um unvermeidliche, ja notwendige Abweichungen von einer allenfalls theoretisch erreichbaren „Perfektion“ handelt.10 Im folgenden soll nicht der Versuch unternommen werden, eine solche Einordnung vorzunehmen; es soll lediglich drei Fragen nachgegangen werden: Gibt es Möglichkeiten, das Ausmaß politischer Korruption so zu bestimmen, daß diachrone wie internationale Vergleiche möglich werden (II.)? Lassen sich aus dem bestehenden Forschungsstand erste Hypothesen über mögliche Entwicklungen ableiten (III.)? Welche weiteren Forschungen wären denkbar und wünschenswert (IV.)?

II. Probleme des Vergleichs Nach Ansicht von Organisationen wie Transparency International ist politische Korruption im internationalen Vergleich quantifizierbar, so daß Ranglisten der Korruptionsanfälligkeit erstellt werden können.11 Die dabei angewandte Methodik läßt sich allerdings kaum in die Vergangenheit zurückprojizieren. Es ist daher ebensogut möglich, daß Korruption sich im Moment im historischen Vergleich im rasanten Aufwind befindet12, wie, daß sie trotz hohen Medieninteresses auf einem eher moderaten Niveau verharrt. Es kann sein, daß das Ende der Konkurrenz politischer Zukunftsentwürfe zur öffentlichen Identifikation korrupter Beziehungen beiträgt, weil Moralisierung 9

Harold James, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914−2001. München 2004, 466−474. 10 Vgl. zu dem Gegensatz zwischen „Korruption“ und „Perfektion“ den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. 11 Transparency International, Jahrbuch Korruption 2005. Schwerpunkt: Bau und Wiederaufbau. Berlin 2006. 12 Vgl. Britta Bannenberg/Wolfgang J. Schaupensteiner, Korruption in Deutschland. Porträt einer Wachstumsbranche. München 2004.

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und Diffamierung an die Stelle politischer Programmatik treten – so läßt sich eine Facette von James’ These zuspitzen.13 Es kann aber auch stimmen, daß Korruption in Zeiten geringer ideologischer Auseinandersetzung tatsächlich zunimmt. So suchte Lewis Namier am englischen politischen System Mitte des 18. Jahrhunderts zu demonstrieren, daß Politiker, die sich nicht an einem kohärenten Wertesystem, aus dem sich richtige oder falsche Antworten auf politische Fragen ergeben, orientieren können, vorwiegend nach persönlichem Schaden oder Nutzen entscheiden.14 Zu der Schwierigkeit, auf der Grundlage der bislang vorliegenden punktuellen Studien zwischen den hier skizzierten, auf den ersten Blick gleichermaßen plausiblen Thesen zu entscheiden, tritt ein moralisches Problem. Es ist klar, daß Korruptionskritik besonders gut in liberalen politischen Systemen artikuliert werden kann; daher sehen sich die politischen Eliten liberal-demokratisch verfaßter Staaten leicht massivsten Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Solche öffentlichen Anklagen in Pamphleten, Zeitungen und Zeitschriften sind nur schwer zu widerlegen. Das gilt vor allem dann, wenn sie durch Einbettung in umfassendere Verschwörungstheorien gegen jede Kritik beinahe immunisiert sind.15 Die Annahme, daß solche Verschwörungen existieren könnten, ist selbst durchaus plausibel: Angesichts des Entdeckungsrisikos sehen sich korrupte Akteure gezwungen, ihre Spuren zu verwischen, plausible Ausreden für verdächtige Zahlungen zur Hand zu haben und Entscheidungsträger in Polizei und Justiz von sich abhängig zu machen, um sich gegen eine Strafverfolgung abzusichern. Unter diesen Bedingungen muß ein gerichtlicher Freispruch – aus Mangel an Beweisen, wegen langer Prozeßdauer, in Ermangelung eines geeigneten Straftatbestands, wegen beeinflußter Geschworener oder Richter – in der Tat nicht viel über die Existenz oder Nichtexistenz von Korruption aussagen; der Stavisky-Skandal in Frankreich

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James, Geschichte Europas (wie Anm. 9), 474. Der Kernthese von Lewis Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III. 2. Aufl. London 1957, 16f., ist für diese Epoche kaum ernsthaft widersprochen worden. Kritiker seiner Sicht der britischen Politik der Mitte des 18. Jahrhunderts versuchten vornehmlich nachzuweisen, der Grad der ideologischen Polarisierung und die Kontrolle von Parlamentariern durch Wähler seien ausgeprägter gewesen, als Namier angenommen habe; seine Aussagen zur Verbindung zwischen parteipolitischer Harmonie und Korruptionsanfälligkeit haben dagegen Bestand. Vgl. etwa Frank O’Gorman, Voters, Patrons and Parties. The Unreformed Electoral System of Hanoverian England 1734−1832. Oxford 1989; ders., The Long Eighteenth Century. British Political and Social History 1688–1832. London 1997, 201. 15 Zu Beispielen aus dem Ersten Weltkrieg vgl. Karina Urbach, Das schwarze Buch: Kollektive Paranoia im Ersten Weltkrieg, in: Andreas Fahrmeir/Sabine Freitag (Hrsg.), Mord und andere Kleinigkeiten. Ungewöhnliche Kriminalfälle aus sechs Jahrhunderten. 2. Aufl. München 2001, 169−183, 278; Jean-Jacques Becker/Serge Berstein, Victoire et frustrations 1914−1929. Paris 1990, 104−121; Ute Kaumanns (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück 2001. 14

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193416 machte das exemplarisch deutlich. Ebensogut kann es sich bei veröffentlichten Anschuldigungen aber um den Versuch handeln, legale oder nicht existente Zahlungen oder Beziehungen in ein schiefes Licht zu rücken und auf diese Weise politische Gegner zu verleumden. Das galt nach gegenwärtigem Forschungsstand für manche der ‚großen‘ Korruptionsskandale der Weimarer Republik.17 Korruptionsvorwürfe haben somit unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt das Potential, politische Systeme zu destabilisieren. Im Extremfall können sie entscheidend dazu beitragen, den Weg in einen autoritären Staat oder eine Diktatur zu ebnen. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge nicht ganz unberechtigt, der Fokus auf Korruption in liberalen Demokratien könnte solche Argumentationsstrategien aufnehmen und vielleicht sogar rückblickend rechtfertigen. Diese Überlegung mag dafür verantwortlich sein, daß bei der historischen Untersuchung politischer Korruption in krisenanfälligen Demokratien wie Frankreich oder Deutschland bislang eher die Betrachtung der Inszenierung von Korruptionsskandalen im Vordergrund steht, während sich in stabilen Demokratien wie Großbritannien eine breitere Literatur zur Realität von Korruption finden läßt, die zwar in ihren Anfängen eine „Whig history“ des Fortschritts von der ‚alten Korruption‘ zur ‚neuen Redlichkeit’ postulierte18, diesen Pfad aber schon länger verlassen hat19. Die Diskussion auf der diesem Band zugrundeliegenden Tagung folgte weitgehend diesem Muster: in den Beiträgen zu Diktaturen wurde die Korruption behandelt, in den Beiträgen zu Demokratien die Inszenierung von Korruption. Die paradoxe Folge der Zurückhaltung kann allerdings sein, daß (legitime) Korruptionskritiker in der Rückschau problematischer gezeichnet werden als tatsächlich in Korruptionsskandale verwickelte Personen, was wiederum einer langfristig schädlichen übertriebenen Duldsamkeit ebenso Vorschub leisten könnte wie falschen Schuldzuweisungen. Bei der Beschäftigung mit autoritären Systemen fehlen diese Bedenken, zumal sich in ihnen Korruption leichter quantifizieren läßt. Hier fehlt die Sorge vor öffentlicher Kontrolle und Sanktion fast ganz, da es keine freien Medien gibt, welche Skandale aufdecken und veröffentlichen könnten. Die 16 Paul F. Jankowski, Stavisky, A Confidence Man in the Republic of Virtue. Ithaca 2002. 17 Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie: Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5, 1999, 46−65; vgl. auch den Beitrag von Frank Bajohr in diesem Band. 18 Etwa Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1868−1911. Oxford 1962; zum Forschungsstand Ian Machin, The Rise of Democracy in Britain, 1830−1918. Basingstoke 2001. Die Formulierung lehnt sich an an: Anthony C. Howe, From „Old Corruption“ to „New Probity“: The Bank of England and its Directors in the Age of Reform, in: Financial History Review 1, 1994, 23−42. 19 Exemplarisch James Vernon, Politics and the People. A Study in English Political Culture, c. 1815−1867. Cambridge 1993.

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weitgehende Überwachung der Bevölkerung wie der Funktionäre sorgt zudem dafür, daß Korruption toleriert wird oder doch vermutlich dokumentiert wird, vielleicht sogar, um Material für künftige Säuberungen zu sammeln. Weiterhin scheint es leichter, sich in diesem Forschungskontext auf operationalisierbare Definitionen von Korruption (etwa Zahlungen aus öffentlichen Kassen ohne gesetzliche Grundlagen) zu einigen. Das höfliche Umkreisen von Korruption in sympathischen Epochen führt selbstverständlich zu Erkenntnislücken, die vor allem dann problematisch werden, wenn es darum geht, Korruptionsanfälligkeit und die durch sie entstehenden Kosten abzuschätzen, etwa, um die Probleme der Gegenwart besser einschätzen zu können. Wenn man sich nicht der Position anschließen will, Korruption sei weder rekonstruier- noch bewertbar (und daher auch in der Gegenwart letztlich kein sinnvoller Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung), sind dafür empirische Befunde notwendig, die zumindest Aussagen über Tendenzen erlauben. Trotz des immensen empirischen Forschungsbedarfs sollen im folgenden für das lange 19. Jahrhundert einige Thesen darüber formuliert werden, welche Tendenzen sich aus dem bisherigen Forschungsstand zu ergeben scheinen.

III. Tendenzen der Entwicklung politischer Korruption im langen 19. Jahrhundert Eine Frage, von der eine Geschichte politischer Korruption ausgehen könnte, ist die, welche Gruppen aus bestimmten strukturellen Gründen besonders anfällig für Korruption waren. Wer befand sich zu unterschiedlichen Zeiten überhaupt in einer Position, politischen Akteuren – von Wählern bis Ministern – Vergünstigungen zu gewähren, welche geeignet waren, ihre Handlungsweise stärker zu beeinflussen, als politische Ideen und Ziele oder Vorstellungen von Ehrbarkeit, Sittlichkeit und Selbstachtung? Vor Beginn der Erzählung sind freilich gleich Einschränkungen notwendig. Für Bestechlichkeit ist nicht immer ein großer Anreiz erforderlich; ein Anreiz muß auch in keinem angemessenen Verhältnis zum Risiko des Bestochenen oder zum Vorteil, den der Bestechende erwartet, stehen. ‚Große‘ Korruptionsskandale führen bisweilen zu der Erkenntnis, daß die Kosten (etwa zerstörte Karrieren) kaum mit dem Nutzen (etwa einige warme Mittagessen) korrespondieren – der „Kornwalzer“-Skandal dürfte dafür das jüngst am besten aufgearbeitete Beispiel darstellen.20 Dennoch ist die etwa in den Tagebüchern Alan Clarks zu findende Behauptung, Politiker seien dann besonders leicht durch Luxusreisen, Immobilienfinanzierung oder Geldgeschenke zu beeinflussen, wenn sie sich diese 20

Bösch, Kornwalzer (wie Anm. 2).

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Dinge selbst nicht leisten können, vermögende Politiker seien dagegen sowohl gegenüber ihrer Partei als auch gegenüber Verlockungen von außen unabhängiger, nicht einfach von der Hand zu weisen. Sie kann zumindest als Ausgangshypothese nützlich sein. (Clark argumentierte freilich pro domo, denn der implizite Verweis auf sein Vermögen machte ihn damit zugleich zum besseren, da im Konfliktfall rücktrittsbereiteren Parlamentarier oder Minister. Das war parteiintern angesichts der zahlreichen Korruptionsskandale der Thatcher-Ära eine kluge Strategie, vom impliziten Vergleich zwischen den im Schnitt besser gestellten Konservativen und Labour ganz zu schweigen.21) Die relative Vermögensverschiebung zwischen politischer Elite, Unternehmern und Wählern ist somit ein zentraler Grund für die Verschiebung des Fokus von Korruptionsdiskursen und -praktiken seit dem Ende der Frühen Neuzeit, die hier kurz skizziert werden soll. Waren etwa im 19. Jahrhundert noch die Wähler das Sorgenkind, so sind inzwischen die Beziehungen zwischen Politikern und Unternehmern an ihre Stelle getreten. Als die Karriere des Bischofs von Luçon, Richelieu, in den 1620er Jahren ihren Aufschwung nahm, war dieser mit einem Jahreseinkommen von etwas unter 25 000 livres bereits außerordentlich wohlhabend. Als führender Berater der Krone setzte er freilich den Wert seiner Dienste erheblich höher an: Als Richelieu 1642 starb, hatte sich sein Einkommen auf rund 1 Million livres pro Jahr vergrößert; dazu kam, wie Joseph Bergin akribisch berechnet hat, ein Vermögen von mindestens 22 Millionen livres.22 Zwar sind so genaue Zahlen relativ selten, aber die Tendenz scheint für das 17. und 18. Jahrhundert insgesamt typisch. Erfolg in der Politik setzte erheblichen Besitz voraus. Ohne eine entsprechende materielle Basis konnte man kaum hoffen, eine Beziehung zu Fürsten oder aristokratischen Patronagenetzwerken aufzubauen, welche meist die Grundlage für die Vergabe wichtiger Ämter darstellte.23 (Die spektakulären Karrieren eines Casanova oder Cagliostro im ausgehenden 18. Jahrhundert stellen Ausnahmephänomene dar, die bezeichnenderweise eng mit dem Ende der öffentlichen Akzeptanz eines Regierungssystems, in dem Monarchen Minister nach Gutdünken auswählten, zusammenfielen.24) Sobald der bisweilen erhebliche Investitionen in Beziehungsmakler erfordernde25 Sprung in ein (führendes) politisches Amt geschafft war, folgte in aller Regel eine dramatische Verbesserung 21

Alan Clark, Diaries. London 1993, z. B. 21, 151. Joseph Bergin, Cardinal Richelieu. Power and the Pursuit of Wealth. New Haven 1985, 40, 248, 255. 23 Etwa Louis XIV, Mémoires et réflexions. Ndr. Paris 2001, 22. 24 Iain McCalman, The Last Alchemist: Count Cagliostro, Master of Magic in the Age of Reason. London 2003. 25 Sharon Kettering, Brokerage at the Court of Louis XIV, in: Historical Journal 36, 1993, 69−87. 22

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der eigenen materiellen Verhältnisse. An die Stelle eines Lebens jenseits materieller Sorgen trat eine für mehrere Generationen ausreichende materielle Absicherung auf höchstem Niveau – vorausgesetzt, die Karriere endete nicht im persönlichen wie finanziellen Desaster der Ungnade. Für England ließen sich John Churchill, der erste Herzog von Marlborough, ebenso nennen wie Horace Walpole oder sogar der radikale Oppositionspolitiker John Wilkes, dem nur seine politische Stellung erlaubte, seine Gläubiger zunächst zu vertrösten und dann seine Schulden mit Hilfe des Einkommens aus politischen Ämtern allmählich abzubauen.26 Obgleich die finanzielle Seite der ‚Günstlingswirtschaft‘ bereits von Zeitgenossen heftig kritisiert wurde, kann man sie kaum in einem Sinne als korrupt bezeichnen, der über moralische Kritik hinausgeht. Die an Amtsträger gezahlten Summen stammten aus Vermögen, über das Monarchen oder Räte weitgehend ohne Rücksicht auf konkrete Richtlinien verfügen konnten, da es sich in gewissem Sinne um den Privatbesitz des Herrschers handelte, in dessen Person öffentliche und private Funktionen zusammenfielen. Der Zweck der Zahlungen war außerdem gerade nicht die Perversion der Loyalität des Fürstendieners, sondern ihre Sicherung durch eine Entlohnung, die es leicht machte, Verlockungen von anderer Seite zu widerstehen. Als problematisch galten vor allem Geschenke von anderen Höfen oder Parteien: Hier verlief die von Fall zu Fall variierende Grenze zwischen legitimer, wenn auch anrüchiger Bereicherung und illegitimer Korruption.27 Auch auf diesem Gebiet markierte die „Sattelzeit“ mit ihrer Institutionalisierung öffentlicher Staatshaushalte und dem Aufbruch zu sparsamer, gerechter und effizienter Staatlichkeit eine erste, freilich in der Praxis umkämpfte Wende. Die beinahe gesamteuropäische Erfahrung der Besatzung durch die Truppen einer vermeintlich frugalen, rechtschaffenen und sparsam mit öffentlichem Vermögen umgehenden Republik war ein Erlebnis, das erhebliche Zweifel am Grad der Deckung von Rhetorik und Realität aufkommen ließ; die Karrieren Napoleons und seiner Familie selbst waren Musterbeispiele für persönliche Bereicherung durch den Zugriff auf öffentliche Mittel. Ganz ähnliches galt für seine Generäle; Kriege und Vermögenstransfers zwischen 1792 und 1815 boten überhaupt allenthalben Amtsträgern die mehr oder weniger intensiv genutzte Gelegenheit, die Grenze 26

James Rees Jones, Marlborough. Cambridge 1993; J. H. Plumb, Sir Robert Walpole. The Making of a Statesman. London 1956; ders., Sir Robert Walpole. The King’s Minister. London 1960; Edward Pearce, The Great Man. Sir Robert Walpole – Scoundrel, Genius and Britain’s First Prime Minister. London 2007; John Sainsbury, John Wilkes: The Lives of a Libertine. Aldershot 2006, 213−240; Arthur H. Cash, John Wilkes: The Scandalous Father of Modern Liberty. New Haven 2006. 27 Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000.

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zwischen öffentlichem und privatem Besitz zu verschieben oder schlicht zu ignorieren.28 Das Modell einer sparsamen, durch eine strenge Amtsethik geprägten Politik und Verwaltung hatte seine historischen Wurzeln nicht nur im Rückbezug der Revolutionäre auf die Werte einer idealisierten römischen Republik, sondern auch im sorgsam erschaffenen öffentlichen Bild der auf Effizienz (und die Verteidigung der protestantischen Religion) setzenden Monarchien wie Preußen, Hannover und Großbritannien29 oder im Programm der theresianischen und josephinischen Reformen der Habsburgermonarchie30. Anfang des 19. Jahrhunderts trat ein neues, in gewissem Grad mit beiden Modellen kompatibles Bild hinzu: die liberale Vision des Staates als „Aktiengesellschaft mit dem Grundbesitz als Aktie“31, in der das Ausmaß privaten Vermögens entscheidend für den legitimen Grad der politischen Partizipation sein sollte. Diese Vorstellung wurde durch Zensuswahlsysteme realisiert, die sich nicht nur vom theoretisch allgemeinen Männerwahlrecht der späteren Revolutionsphasen, sondern auch von den individuellen Wahlrechten des englischen Parlaments und anderer Ständeversammlungen deutlich unterschieden. Im Rahmen dieser Logik konnte der Einsatz eigenen Vermögens zur Erringung politischen Einflusses kaum prinzipiell als illegitim gelten; das traf allenfalls auf andere Beziehungsarten, etwa Nepotismus, zu.32 Illegitim war vor allem – naturgemäß vornehmlich aus Sicht der politischen Opposition – der Einsatz staatlicher Gelder, um Wähler oder Parlamentarier zur Unterstützung der Regierung anzuhalten und somit davon abzubringen, ihrem eigenen Urteil zu folgen. Dies galt es durch entsprechende Sicherungssysteme zu verhindern: durch die parlamentarische Aufsicht auf den Haushalt, durch Kürzungen der Zivillisten und Militärausgaben (welche durch entsprechen28

Johannes Willms, Napoleon. Eine Biographie. München 2005; Gilbert Bodinier, Du soldat républicain à l’officier impérial. Convergences et divergences entre l’armée et la société, in: André Corvisier (Ed.), Histoire militaire de la France 2: de 1715 à 1871. Paris 1992 (Ndr. 1997), 281−304, 297; Michael Rowe, From Reich to State: The Rhineland in the Revolutionary Age 1780−1830. Cambridge 2003, 87–212; Gabriele Clemens, Immobilienhändler und Spekulanten: Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung der Großkäufer bei den Nationalgüterversteigerungen in den rheinischen Depatements (1803−1813). Boppard 1995; Timothy C. W. Blanning, Reform and Revolution in Mainz 1743−1803. Cambridge 1974, 303−334. 29 Hannah Smith, Georgian Monarchy: Politics and Culture, 1714−1760. Cambridge 2006, 21−31, 52−121. 30 Derek Beales, Enlightenment and Reform in Eighteenth-Century Europe. London 2005; Derek Edward Dawson Beales, Joseph II. 1: In the Shadow of Maria Theresa 1741−1780. Cambridge 1987; T. C. W. Blanning, Joseph II. London 1994. 31 Manfred Hörner, Die Wahlen zur badischen zweiten Kammer im Vormärz (1819−1847). Göttingen 1987, 50. 32 Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 283, 2006, 31−77.

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de Rüstungsaufträge indirekte finanzielle Anreize bereitstellten) oder sogar durch explizite Hürden wie die in Großbritannien übliche Neuwahl von Abgeordneten nach der Übernahme von Regierungsämtern. Voraussetzung dieser politischen Praxis war einerseits die Betonung der Unabhängigkeit von Wählern und Abgeordneten als eigentlichem Kern repräsentativer politischer Systeme. Dies stand im Gegensatz zu den vielfältigen formellen und informellen Abhängigkeitsverhältnissen des Ancien Régime. Andererseits wurde von aktiven Politikern gefordert, daß sie bereit waren, (eigenes) Vermögen in Karrieren zu investieren, mit denen sich kaum noch die Aussicht auf fürstliche Entlohnung aus den nun als ‚öffentlich‘ definierten Staatsgeldern verbinden konnte. Ein Beispiel für den Wandel ist die Geschichte der Familie Pitt, die im 17. und 18. Jahrhundert in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik, welche der Ostindienhandel darstellte, ein beträchtliches Vermögen erwarb und diesen Besitz im Sinne der Normen der „old corruption“ partiell in sozialen Rang und politischen Einfluß konvertierte.33 Der Aufstieg der Familie gipfelte in der Ernennung William Pitts des Älteren zum Premierminister und später als Earl of Chatham zum Mitglied des Oberhauses. Im Gegensatz zu seinem Vater beendete William Pitt der Jüngere seine politische Karriere, die ebenfalls bis zum Premierministeramt führte, bei seinem Tod 1806 mit Schulden in der enormen Höhe von £ 40 000, so daß er einem Armenbegräbnis nur durch die Gnade des Parlaments entging. Ebensowenig profitabel war zur gleichen Zeit die politische Karriere von Edmund Burke.34 Unter diesen Umständen verwandelten sich Ausgaben für Wahlkämpfe, die vorher durchaus als sinnvolle Investition betrachtet werden konnten, in Spenden zum politischen Wohle der Allgemeinheit. Politik wurde zwar nicht unbedingt zum Verlustgeschäft, aber die Klagen darüber, daß Saläre für hohe öffentliche Ämter noch nicht einmal den Aufwand für damit verbundene gesellschaftliche Verpflichtungen deckten (von den Kosten der Ausbildung und der Wartezeiten ganz zu schweigen) füllten im 19. Jahrhundert viele Seiten Briefpapier. Solche Klagen belegten vor allem, daß das System funktionierte. Zwar galten die hier beschriebenen Grundsätze vor allem für Angehörige liberaler politischer Richtungen, deren Position in der Opposition sich besonders gut mit einer prinzipiellen Ablehnung staatlicher Alimentation verbinden konnte, aber sie beschränkten sich keineswegs auf diese Gruppe. Die 33

Søren Mentz, The English Gentleman Merchant at Work: Madras and the City of London 1660−1740. Copenhagen 2005, bes. 66f.; Perry Gauci, Art. „Pitt, Thomas (1653–1726)“, in: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/ view/article/22333, Zugriff 2. April 2007]. 34 P. W. Ehrman/Anthony Smith, Art. „Pitt, William (1759–1806)“, in: Oxford Dictionary of National Biography [http://www.oxforddnb.com/view/article/22338, Zugriff 2. April 2007]; F. P. Lock, Edmund Burke. 1784−1797. Oxford 2006, 503−506.

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Abgeordneten der Ständeversammlung des Königreichs Bayern stimmten 1831 mehrheitlich dafür, ihre Diäten um ein Fünftel zu kürzen, um nicht als Günstlinge des Königs zu erscheinen; um den öffentlichen Eindruck von den Ständen nicht zu positiv werden zu lassen, ließ der Monarch die hohen Tagessätze bewußt in Kraft.35 Konservative Figuren wie Bismarck sahen die Dinge insoweit großzügiger, als sie Sonderzahlungen, durch die Monarchen und/ oder Parlamente ihre Dankbarkeit für besondere Leistungen ausdrückten, ohne große Skrupel annahmen. Allerdings unternahmen auch sie darüber hinaus offenbar keinen Versuch, aus ihrem öffentlichen Amt privaten Nutzen zu ziehen.36 Napoleons III. Präfekt Georges Eugène Haussmann glaubte, selbst private Geschenke des Monarchen zurückweisen zu müssen, um sein öffentliches Ansehen gegen Korruptionsvorwürfe, die im Zuge des Umbaus von Paris aufkamen, zu schützen.37 Bislang bleibt das Gesamtbild allerdings von Widersprüchen geprägt. Die Ehrbarkeit führender Politiker ging einher mit weitverbreitetem Trinkgeldnehmen auf seiten unterer Beamter, das in Reiseführern immer wieder und für alle Länder thematisiert wird, wenn auch in aller Regel nur das jeweilige Ausland als korruptionsanfällig geschildert wird.38 Sie verhinderte auch nicht einzelne Verstöße gegen die Trennung privater und öffentlicher pekuniärer Interessen. Selbst nach dem Ende der Epoche der „old corruption“ hielt es etwa der eine oder andere Stadtverordnete Londons für sinnvoll, sein Amt für dubiose Aktienspekulationen, Kreditgeschäfte oder Betrugspläne zu verwenden – das konnte bis zum regelrechten Verkauf begehrter Schulplätze reichen, die eigentlich für bedürftige Bewerber reserviert waren. Allerdings wurden die Reaktionen auf solche Mißbräuche schärfer. Während es Anfang des 19. Jahrhunderts noch möglich war, aus der Schuldhaft zu amtieren oder einen Fall von verkauften Stipendienplätzen politisch zu überleben, war seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Rücktritt unvermeidbar.39 Staatliche Sparsamkeit im Vertrauen darauf, daß vermögende Personen uneigennützig zugunsten des Gemeinwohls agieren würden, als Grundlage eines Systems politischer Kontrolle der Regierung: das führte nach den Re35

Dirk Götschmann, Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz: Die Ständeversammlung des Königreichs Bayern 1819−1848. Düsseldorf 2002, 179. 36 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. 5. Aufl. Berlin 1981, 461f. 37 Patrice de Moncan/Claude Heurteux, Le Paris d’Haussmann. Paris 2002, 358−360. 38 Vgl. z. B. [John Murray,] A Hand-Book for Travellers on the Continent, Being a Guide through Holland, Belgium, Prussia and Northern Germany and along the Rhine, from Holland to Switzerland […]. 7. Aufl. London 1850, 237; J[adocus] D. H. Temme, Augenzeugenberichte der deutschen Revolution 1848/49. Ein preußischer Richter als Vorkämpfer der Demokratie. Darmstadt 1996, 95f.; Eight Weeks in Germany. Comprising Narratives, Descriptions, and Directions for Economical Tourists. By the Pedestrian. Edinburgh 1842, 47. 39 Andreas Fahrmeir, Ehrbare Spekulanten. Stadtverfassung, Wirtschaft und Politik in der City of London (1688−1900). München 2003, 311, 332f., 339, 421f.

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volutionskriegen in der Tat zu einer Begrenzung staatlicher Aktivitäten, was sich vor allem in sinkenden Staatsquoten niederschlug. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schienen aber die Nachteile des Systems die Vorteile zu überwiegen. Die Praxis, politische Partizipationsrechte an die Existenz privaten Vermögens (oder mindestens eines vermögenden Sponsors) zu koppeln, geriet zunehmend in die Kritik. Das Argument, Vermögen sei notwendige Bedingung politischer Partizipation, überzeugte nicht mehr. Die Furcht, allgemeines oder fast allgemeines Männerwahlrecht führe automatisch zur Usurpation des Staatsapparates durch die unteren Schichten und zu einem Angriff auf bürgerliche Vermögenswerte, erwies sich angesichts der Entwicklungen im Frankreich Napoleons III. als unbegründet. Vermögensschranken erschienen nun linken wie konservativen Politikern als Barriere gegen die Partizipation vermögensloser Staatsbürger am politischen System, welche liberale Politiker und Parteien unverhältnismäßig begünstigte. Die hergebrachte Praxis diente also nicht mehr dem Allgemeinwohl, sondern einer klar erkennbaren Schicht von „Bürgern“, die sich angesichts der sozialen und ökonomischen Entwicklungen nicht mehr auf das Argument verlassen konnte, daß sie im Begriff war, zum allgemeinen Stand zu werden. Um die Kontrolle des politischen Systems durch die bourgeoisie zu konterkarieren, bildeten sich, ausgehend von der Pionierleistung der deutschen Sozialdemokratie, unter den Bedingungen eines ebenso oft in konservativer wie in reformerischer Absicht eingeführten breiten Männerwahlrechts immer mehr Arbeiterparteien mit einer großen Zahl von Mitgliedern aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Diese Bewegungen waren in der Lage, durch bescheidene Subskriptionen Kandidaturen, Wahlkämpfe und die Anwesenheit ihrer Vertreter in Hauptstädten zu finanzieren.40 In konservativen und liberalen ‚Parteien‘ blieb es dagegen üblich, daß Kandidaten die Kosten ihrer Kandidatur zumindest zum guten Teil selbst trugen. Zumindest in England wurde eine Spende des Kandidaten für die Kasse des lokalen Parteivereins erwartet, die selbst größere Vermögen wie die Winston Spencer Churchills oder Nathaniel Curzons strapazierte.41 Vor allem in den USA nutzten Parteien zudem ihre Rolle als Mittler zwischen Anhängern und staatlicher Bürokratie dazu, durch die Gewährung von Vergünstigungen die Bindung von ‚Klienten‘ an ihre politischen Patrone zu stabilisieren.42 In dem Maße, in dem durch die Folgen des Ersten Weltkriegs große Vermögen wie Schnee in der Sonne zusammenschmolzen, eine breitere Wähler-

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Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy: Elections and Political Culture in Imperial Germany. Princeton 2000, bes. 356−358. 41 Peter Alter, Winston Churchill (1875−1965). Leben und Überleben. Stuttgart 2006, 55−60; David Gilmour, Curzon. London 1994, bes. 53−64. 42 Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Origins of Social Welfare in the United States. Cambridge 1992, 71−87.

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und Wählerinnenschaft und die Massenpresse die Kosten von Wahlkämpfen vergrößerten, setzte sich auch auf der Rechten des Parteienspektrums das Modell des professionellen Politikers durch, der sich nicht mehr – oder zumindest nicht mehr nur – auf eigenes Vermögen stützen konnte, das Max Weber in klassischer Form geschildert hat.43 Die relative Sparsamkeit des Staates gegenüber seinen Dienern und der Wandel der Sozial- und Vermögensstruktur politischer Eliten führte dazu, daß sich die Beziehung zwischen Geld und Macht im Laufe des 19. Jahrhunderts grundlegend veränderte. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich Vermögenselite und politische Elite in großen Teilen überschnitten, auch wenn sie nie identisch waren. Inhaber hoher Staatsämter befanden sich vor wie nach ihrer Wahl häufig in den oberen Schichten der Einkommenspyramide. Zwar traf es zu, daß einige prominente Politiker aus Baden vor 1848 an den normalen Vermögensanforderungen für die Wahl scheiterten und sich durch den Erwerb eines Weinhandelspatents eine Hintertür ins politische Geschehen eröffnen mußten (das galt 1837 für knapp ein Fünftel, 1842 allerdings nur noch für ein Zehntel der gewählten Deputierten44), aber in aller Regel setzte die aktive Partizipation an politischen Gremien ein größeres eigenes Vermögen voraus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die politische und die wirtschaftliche Elite weit auseinanderentwickelt. Das plutokratisch angelegte preußische Dreiklassenwahlrecht dokumentierte das besonders deutlich. Die Reichskanzler Caprivi und Bülow sowie manche preußische Minister fanden sich in der dritten Wählerklasse wieder, während der Inhaber einer Wurstfabrik alleine die erste Klasse eines Wahlbezirks in der Hauptstadt Berlin bilden konnte.45 Diese Verschiebung war ein Grund dafür, daß Korruption im ausgehenden 19. Jahrhundert erneut zum großen Thema wurde – so spielte etwa die Verführbarkeit verarmter Adeliger in der Romanliteratur eine besondere Rolle.46 Im Panama- und Marconi-Skandal, aber auch in weniger bekannten Episoden wie der Frühgeschichte des FC Liverpool47 zeigte sich, wie Abgeordnete und Minister versuchten, an den möglichen enormen Gewinnen in der „Wirtschaft“ zu partizipieren, während Unternehmer für politische Ämter kandidierten, um wirtschaftliche Ziele (etwa den Ausschank 43

Max Weber, Politik als Beruf. München 1919. Hörner, Wahlen (wie Anm. 31), 249f. 45 Franz J. Bauer, Wie ‚bürgerlich‘ war der Nationalstaat in Deutschland und Italien, in: Christof Dipper (Hrsg.), Deutschland und Italien 1860−1960. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 52.) München 2005, 107−120, 114. 46 Vgl. Anthony Trollope, The Way We Live Now. Ndr. Oxford 1991; John Galsworthy, A Modern Comedy. The Forsyte Chronicles. Ndr. London 1980, Vol. 2. 47 David Kennedy/Michael Collins, Community Politics in Liverpool and the Governance of Professional Football in the Late Nineteenth Century, in: Historical Journal 49, 2006, 761−788. 44

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von Alkohol in Fußballstadien) zu erreichen. Solche Korruptionsepisoden lieferten wiederum Belege für allgemeinere politische Theorien, die Regierungshandeln als Ausdruck der geheimen Wünsche einer je nach Position des Autors unterschiedlich zusammengesetzten Plutokratie interpretierten, die mittels vorgeschobener parlamentarischer Verfahren agierte.48 Nach dem Ersten Weltkrieg verdrängte die Furcht, Politiker könnten durch Unternehmer und Unternehmen korrumpiert werden, völlig die Sorge, der nach dem Ende vieler Monarchien zudem entpersonalisierte „Staat“ könne Politiker an der wirksamen Kontrolle seiner Instanzen hindern. Die Furcht vor Bestechung, den Initiativen von Interessenverbänden und dem Einfluß der von ihnen kontrollierten Medien spiegelt sich auch in der Selbstdarstellung der mit Demokratien konkurrierenden politischen Systeme, die in ihrer Propaganda ihre Korruptionsresistenz hervorhoben, was zugleich belegen sollte, daß (nur) sie die Interessen der ‚kleinen Leute‘ vertraten. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Neigung, politische Korruption zu skandalisieren, in westlichen Demokratien zunächst zurückgegangen zu sein49 – trotz aller legitimen oder illegitimen Fragen etwa zur Bedeutung des ‚militärisch-industriellen Komplexes‘ in den USA. Die finanzielle Abhängigkeit des Kriegspremiers Winston Churchill, der im Gegensatz zum Herzog von Marlborough nicht aus öffentlichen Kassen belohnt wurde, von Sponsoren und seine engen Beziehungen zur Vermögenselite, die etwa durch seine Kreuzfahrten auf Onassis’ Yacht publik wurden, ist ein Beispiel für den Wandel der Politikerentlohnung, aber auch ein Beleg für das Fehlen einer großen öffentlichen Resonanz auf solche noch als persönlich betrachtete Beziehungen.50 Der Rückgang der Korruptionsfurcht mag auch damit zusammengehangen haben, daß die Angleichung von Einkommen und Lebensstandards in der werdenden Konsumgesellschaft des Wohlfahrtsstaates das Vermögensgefälle zwischen Wirtschaft und Politik zumindest zeitweise reduzierte. Umstritten ist, ob das neuerliche Auseinanderdriften von Verdienstmöglichkeiten in Politik und Wirtschaft seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Integrität politischer Prozesse erneut gefährdet, sei es, weil die unterschiedlich starken Anreize zu einem Talentgefälle zum Nachteil der Politik führen, sei es, weil sich die Möglichkeiten des Einflusses durch Beraterverträge, Aufsichtsratsposten und spätere Anstellungen vervielfacht haben, sei es, weil die Umverteilung von Unternehmensgewinnen zugunsten des Managements und der Mitgliederschwund bei Gewerkschaften in Verbindung mit dem stei48

G. H. Searle, Corruption in British Politics, 1895−1930. Oxford 1987; exemplarisch: John Atkinson Hobson, Imperialism. A Study. Ndr. London 1988. 49 Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945−1969. Stuttgart 2001, 195−235. 50 Alter, Churchill (wie Anm. 41), 276f.

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genden Finanzbedarf von Parteien und Politikern den Einfluß spendenwilliger Arbeitgeber tendenziell steigen, den Einfluß der organisierten Arbeitnehmer dagegen sinken läßt.

IV. Forschungsperspektiven Angesichts der oben vorgestellten großen Entwicklungslinien, die sich vor allem auf individuelle Beispiele stützen, bleibt die Frage, ob man durch eine andere Auswahl von Personen, Konstellationen und Ländern nicht zu einer ganz anderen Periodisierung gelangen und gegenläufige Trends konstatieren könnte. Das verweist auf die ebenso legitime Frage, wie politische Korruption überhaupt systematisch erforschbar ist – denn nur, wenn es gelingt, über eine Aufzählung von Episoden hinauszugehen, ist eine vergleichende europäische Geschichte politischer Korruption in der jüngeren Vergangenheit denkbar. Ein möglicher Zugang führt über die Analyse öffentlicher Diskurse. Der bewährten Methodik der politischen Sprachgeschichte folgend51, könnte ein solcher Ansatz aufzeigen, welche Praktiken von welchen politischen, sozialen oder lokalen Gruppen als politische Korruption angesehen werden, welche Argumentationsstrategien zu bestimmten Zeiten besondere öffentliche Resonanz finden und wann sie zu einem Wandel innerhalb des politischen Diskurses führen, der gegebenenfalls Folgen für die politische Praxis hat. Somit ließen sich durch die diskursive Identifikation und sprachliche Inszenierung der Korruption zugleich Konzeptionen von Respektabilität, Ehrlichkeit und Perfektion erfassen. Solche Untersuchungen würden erlauben, den Stellenwert finanzieller Unregelmäßigkeiten im Verhältnis zu anderen Verfehlungen, etwa sexuellen Normverstößen52, im diachronen Vergleich zu bestimmen und damit die Bedeutung des Komplexes von Bestechlichkeit und Bestechung im Rahmen politischer Debatten genauer zu verorten. Ein solcher Ansatz hat freilich Grenzen. Der Korruptionsdiskurs wird ebenso wie andere Formen der Kritik an politischen Systemen stark von Rahmenbedingungen wie präventiver Zensur, der Möglichkeit, Kritik als Verleumdung gerichtlich zu verfolgen oder der Verteilung des Besitzes von Druckerpressen oder Zeitungen bestimmt. Somit dürfte ein diachroner Vergleich leichter durchzuführen sein als ein transnationaler Vergleich, da das 51 Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780−1867. Stuttgart 1993; Dror Wahrman, Imagining the Middle Class. The Political Representation of Class in Britain, c. 1780−1840. Cambridge 1995; David Cannadine, Class in Britain. New Haven 1998. 52 Vgl. Angus McLaren, Sexual Blackmail. A Modern History. Cambridge, Mass. 2002; Anna Clark, Scandal. The Sexual Politics of the British Constitution. Princeton 2003; Mary Lindemann, Liaisons Dangereuses. Sex, Law, and Diplomacy in the Age of Frederick the Great. Baltimore 2006.

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Risiko besteht, Länder mit effektiver Pressezensur oder politische Systeme, in denen der Besitz von Massenmedien stark konzentriert ist, in einem positiveren Licht erscheinen zu lassen als Länder mit einer freieren Presse, dynamischeren Zivilgesellschaft und aktiverer parlamentarischer Konkurrenz. Bei den Konjunkturen der von Jens Ivo Engels in mustergültiger Weise analysierten Korruptionsdiskurse in Frankreich fällt zumindest auf, daß Phasen besonders scharfer Kritik mit offenen politischen Systemen mit wenig oder zumindest dysfunktionaler Zensur zusammenfielen (Ende der absoluten Monarchie und Revolution, Ende der Julimonarchie, Dritte Republik, später Fünfte und Sechste Republik), während es auf dem Höhepunkt des Ancien Régime, unter der Restauration und im Zweiten Kaiserreich weniger Korruptionsvorwürfe, aber nicht unbedingt weniger Korruption gab.53 Ferner steht – wie der Beitrag von Frank Bajohr in diesem Band deutlich macht – keinesfalls fest, daß ein Wandel der politischen Debatten tatsächlich Veränderungen der Praxis markiert. Nach Ausweis der kontrollierten Presse stellte das NS-Regime einen dramatischen Übergang von einer korrupten Republik zu einer unkorrupten Diktatur dar; hinter dem Schleier des öffentlichen Selbstlobs nahmen sich die Dinge dagegen umgekehrt aus. Es scheint daher unverzichtbar, die Geschichte der öffentlichen Debatten zur Korruption durch Zugänge zu ergänzen, die sich mit dem Umfang von Zahlungen, ihrer Häufigkeit und ihren Folgen beschäftigen. Dabei bieten sich insbesondere drei Beziehungen für eine genauere Untersuchung an: die zwischen Kandidaten und Wählern; die zwischen Parlamentariern, Ministern, Bürokraten und Individuen oder Interessengruppen außerhalb der Politik; schließlich die zwischen Repräsentanten und Regierungen. Entscheidender Fokus der Untersuchung des korrumpierenden Einflusses, der von Kandidaten auf Wähler ausgehen kann, dürften Wahlkämpfe sein – auch wenn andere Mechanismen, durch die längerfristige Patron-Klient-Beziehungen aufgebaut werden, ebenfalls Aufmerksamkeit beanspruchen müssen. Die Kosten von Wahlkämpfen sind in unterschiedlichen Zusammenhängen mal umfassend, mal exemplarisch dokumentiert. Finanzielle Hürden für angehende Politiker bilden in aller Regel einen Schwerpunkt politischer Reformdebatten, in deren Zusammenhang auch Beschreibungen der bestehenden Praxis zu finden sind; die Frage der Finanzierung von Politik spielt in aller Regel auch in der privaten Korrespondenz eine Rolle. In diesem Zusammenhang entscheidend dürften weniger die Gesamtkosten von Wahlkämpfen als die Zusammensetzung der Ausgaben sein – welche Rolle beispielsweise Geschenke für Wähler oder potentielle Multiplikatoren (etwa durch Anzeigen gewogen zu stimmende Zeitungsverleger) im Verhältnis zu Ausgaben für die Verbreitung des eigenen Wahlprogramms oder die Finanzierung der allgemeinen Wahllogistik in Form von Stimmzet53

Vgl. dazu den Beitrag von Jens Ivo Engels in diesem Band.

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teln, Wahlbeobachtern, Prozessen über die Zulassung von Wählern und die Auszählungsergebnisse spielten, wäre eine sinnvolle Frage. Das Problem der Anzeigen in Zeitungen macht aber bereits deutlich, daß die Grenze zwischen Information und Begünstigung nicht einfach zu ziehen sein dürfte: Anzeigen können der Verbreitung eines Programms ebenso gedient haben wie der Subvention bestimmter Verleger. Ein ähnliches Abgrenzungsproblem bestimmt ja auch die heutige Diskussion darüber, wo die Grenze zwischen dem legitimen Einsatz von Regierungsgeldern für Öffentlichkeitsarbeit und der Finanzierung von Wahlkampfpropaganda aus öffentlichen Kassen durch inhaltlich vage allgemeine Verweise auf die ausgezeichnete Arbeit von Regierungen oder Ministerien verläuft. Das quellenkritische Problem wird in dem Maße zunehmen, in dem die Ausgaben von Kandidaten in Wahlkämpfen strikteren Bedingungen unterliegen. Kandidaten, denen mehr Mittel zur Verfügung stehen, als sie legitimerweise ausgeben dürfen, werden in dieser Situation versucht sein, Lücken auszunutzen, dies aber zu verschleiern suchen. Freilich entsteht mit der Möglichkeit der Beschwerde gegen illegitime Wahlsiege, den Akten der entsprechenden Untersuchungen und eventuell darauf bezug nehmender parlamentarischer Debatten eine neue Quellengruppe, deren Inhalte wegen unterschiedlicher Regeln und Instanzen international zwar nicht direkt vergleichbar sind, die aber dennoch behutsame Aussagen über Trends gestatten.54 Nachlässe von Politikern dürften ebenso Aussagen über die Kosten von Wahlkämpfen enthalten wie die Überlieferungen organisierter Parteien, zumal dann, wenn sie gegenüber Mitgliedern Rechenschaft über Ausgaben und Einnahmen ablegen müssen. Erst die Betrachtung der realen Verhältnisse im Vergleich mit der Diskursanalyse erlaubt einigermaßen gesicherte Aussagen über Konjunkturen der Akzeptanz oder Ablehnung von Korruption, über die Mechanismen, durch die Wahlergebnisse zustande kommen und mithin letztlich darüber, was sie genau bedeuten. Beispielsweise gehörte es spätestens seit dem 18. Jahrhundert zur Rhetorik jedes Bewerbers um ein englisches Unterhausmandat, seine Unabhängigkeit, seine Loyalität gegenüber seinem Wahlkreis und seine Bereitschaft zur Kontrolle der Regierung zu betonen.55 Diese Rhetorik konnte durchaus Wahlkämpfe begleiten, welche in der Praxis durch den Einsatz von etwa £ 30 000 des Vermögens eines Patrons des Kandidaten für Wahlagenten, Speisen und Getränke entschieden wurden. Im frühen 19. Jahrhundert änderte sich das: Die Wähler des bislang nach genau diesem Muster gewonnenen und verlorenen Wahlkreises Westminister waren – aus noch genauer zu analysierenden Gründen – nun nicht mehr bereit, über diesen Widerspruch hinwegzusehen. Sie strebten vielmehr danach, 54

Vgl. Anderson, Practicing (wie Anm. 40), 22−34. Rosemary Sweet, Freemen and Independence in English Borough Politics, c. 1770−1830, in: Past and Present 161, 1998, 84−115.

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ihre Unabhängigkeit praktisch zu demonstrieren, und sorgten so dafür, daß fortan etwa £ 1550 reichten, um einen Sitz zu gewinnen.56 Es ist sicher richtig, daß Wahlkampfausgaben in Deutschland oder Frankreich angesichts der Wahlmännersysteme erst später im gleichen Maße relevant wurden wie in Großbritannien oder in den USA. Die Existenz von Wahlmännern verkürzte die Phase des heißen Wahlkampfs auf die Zeit, nachdem die Wahlmänner feststanden, mithin im Extremfall auf wenige Stunden. Die hohen Vermögensanforderungen für Wahlmänner und Kandidaten machten es unwahrscheinlich, daß unmittelbare moderate finanzielle Anreize (etwa Transport zur Wahlurne, Mittagessen oder einige Gläser Bier) im Wahlkampf eine große Rolle spielen würden. Sie unterwarfen den Wahlkampf zudem den gesellschaftlichen Konventionen der Mittel- und Oberschichten, in denen der direkte Tausch von Leistungen gegen Stimmen kaum akzeptabel war. Dennoch wäre es keineswegs überraschend, wenn die bisherigen Einsichten in Wahlen und Wahlkämpfe des 19. Jahrhunderts (wie darüber hinaus)57 durch eine detailliertere Analyse der finanziellen Dimension deutlich bereichert werden könnten, zumal mit der (Wieder-)Einführung des allgemeinen, aber nicht oder nur bedingt geheimen Wahlrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sorge wieder zunahm, Wähler oder Wahlkreise könnten durch finanzielle Anreize zur (vor allem konservativen) Stimmabgabe verführt werden. Eine längerfristige Betrachtung könnte so dazu beitragen, die Rolle von Interessengruppen und Verbänden bei der Herbeiführung von Wahlergebnissen genauer zu beleuchten und die vielfältigen Antworten auf die Frage, ob und in welchem Maße finanzielle Anreize Wählerentscheidungen beeinflußten, präziser zu begründen. 56

Marc Baer, From ‚First Constituency of the Empire‘ to ‚Citadel of Reaction‘: Westminster, 1800−1900, in: Matthew Cragoe/Anthony Taylor (Eds.), London Politics, 1760−1914. Basingstoke 2006, 144−165, 149. 57 Das Thema taucht in den vorliegenden Untersuchungen kaum auf. Zum 19. Jahrhundert vgl. Hörner, Wahlen (wie Anm. 31); Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818−1845). 2 Bde. Göttingen 1996; Götschmann, Parlamentarismus (wie Anm. 35); Peter Steinbach, Die Zähmung des politischen Massenmarktes. Wahlen und Wahlkämpfe im Bismarckreich im Spiegel der Hauptstadt- und Gesinnungspresse. Passau 1990; Bourdin/Caron/Bernard (Eds.), Incident (wie Anm. 2). Eine etwas größere Rolle spielt das Thema für Frankreich in P. M. Jones, Politics and Rural Society. The Southern Massif Central c. 1750−1880. Cambridge 1985, bes. 231. Selbst für die Weimarer Republik, in der Verbände eine weithin sichtbare politische Rolle spielten, finden sich im Moment kaum Studien, die über die Frage der Finanzierung des NS-Regimes hinausgehen – hierzu zuletzt Rainer F. Schmidt, „Millionen stehen hinter mir“: Der wahre Sinn des Hitlergrußes. Zur Finanzierung der NSDAP vor 1933, in: Historische Mitteilungen 16, 2003, 140−154. Selbst eine jüngst erschienene, differenziert argumentierende Untersuchung, die sich explizit mit den politischen Ursachen des Wandels des Parteienspektrums und des Niedergangs des Liberalismus in Deutschland auseinandersetzt, blendet die Frage der Finanzierung aus: Eric Kurlander, The Price of Exclusion. Ethnicity, National Identity, and the Decline of German Liberalism, 1898−1933. New York 2006.

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Die Beziehungen zwischen Politikern und außerpolitischen Interessen, die von Individuen und Organisationen ausgehen, sind in Einzelfällen intensiver untersucht worden. Politikerbiographien enthalten immer Angaben zu ihrem gesellschaftlichen Umgang. Vielfach ergeben sich aus ihnen auch konkrete Interessen, denen Politiker möglicherweise nachgingen. Ein frühes Beispiel ist die Frage, ob George Washingtons Präferenz für die Errichtung einer Hauptstadt in Washington von der Lage seines eigenen Landbesitzes beeinflußt war, denn dieser gewann dadurch enorm an Wert.58 Allerdings ist dies, unabhängig vom Stand der Forschung, der dies eher verneint, ein Beispiel für Interessen, die nicht im engeren Sinne in den Bereich der Korruption fallen. Die Lage von Washingtons Gütern war kein Geheimnis; die Frage, ob man seine Präferenz als von eher persönlichen oder eher sachlichen Erwägungen beeinflußt ansehen würde, war mithin eine nach dem allgemeinen Vertrauen in seine persönliche Integrität. Man kann gewiß bezweifeln, ob korrupte Beziehungen, die nicht aufgedeckt werden, im Nachlaß der Betroffenen Spuren hinterlassen. Unabhängig von einer eventuellen strafrechtlichen Relevanz entsprechen sie kaum dem Bild, das Politiker der Nachwelt gegenüber anstreben. Gegen die Annahme, solche Spuren würden generell getilgt, spricht freilich ihre Allgegenwart in anderen Bereichen. So findet sich selbst in von fürsorglichen Witwen gereinigten Gelehrtennachlässen des 19. Jahrhunderts eine Überfülle von Hinweisen auf zum mindesten anrüchige Intrigen beim Kampf um Einfluß und Stellen.59 Offenbar erweisen sich Spuren problematischer Beziehungen als hartnäckig. Lücken in den Nachlässen der Politiker selbst lassen sich zudem durch einen Blick in die Überlieferung auf der Geberseite und allgemeine Fragen nach dem Verhältnis der Beziehung zwischen beruflichem Lebensweg und Vermögensentwicklung zumindest begrenzen. Daher ist es ein allgemeines Desiderat, die Untersuchung des sozialen Ursprungs politischer Eliten um die Schilderung ihrer finanziellen Lage und einer Beschreibung ihrer Vermögensentwicklung im Karriereverlauf zu ergänzen. W. D. Rubinstein hat dies im Zuge seiner Untersuchungen der britischen Vermögenselite im 19. und 20. Jahrhundert vor vielen Jahren thematisiert. Einer seiner Aufsätze diskutierte die Vermögensentwicklung anhand einer vergleichenden Analyse des Nachlasses der Väter von Premierministern, Bischöfen und Bürgermeistern großer Städte vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre. Rubinstein, dessen Ansatz bislang kaum aufgegriffen wurde, dokumentierte einen rasanten Abfall des Vermögens, das angehenden Mitgliedern der poli58 Jürgen Heideking, George Washington 1789−1797. Schöpfer der amerikanischen Präsidentschaft, in: ders. (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten. 42 historische Portraits von George Washington bis George W. Bush. 3. Aufl. München 2002, 49−64, 425f., 56. 59 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.

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tischen Elite zur Verfügung stand. Das belegte zwar den Grad der sozialen Öffnung des politischen Systems, kontrastierte aber – da sich die finanzielle Lage von Spitzenpolitikern in der Regel allenfalls moderat verbesserte – mit dem an anderer Stelle von Rubinstein dokumentierten enormen Wachstum der bei unternehmerischen Tätigkeiten zu erwerbenden Vermögen. (Freilich blieb unklar, wie eine solche Untersuchung der offiziellen Nachlaßschätzung dem Anreiz, Vermögen angesichts zeitweise extrem hoher Erbschaftssteuern in andere Rechtsformen zu überführen oder bereits vor dem Tod zu übertragen, Rechnung tragen konnte.)60 Die Erhebung solcher Daten ist freilich in anderen Lebensphasen als zum Todeszeitpunkt weniger leicht möglich, obgleich Steuererklärungen (sofern sie aufbewahrt wurden und zugänglich sind) oder (etwa in Preußen) die Einordnung in eine Wählerklasse Anhaltspunkte liefern. Außerdem sollte es möglich sein, zumindest in ausgewählten Einzelfällen die Zusammensetzung von Politikereinkommen aus privatem Vermögen, privater Berufstätigkeit und Ämtern abzuschätzen; in Einzelfällen könnte man auch mögliche Korrelationen zwischen finanziellen Bindungen und Abstimmungsverhalten, der Teilnahme an Sitzungen und dem Einsatz zugunsten privater Interessen erforschen. Nur eine solche Untersuchung würde es erlauben, die Frage nach den Mechanismen der Korruption über die im öffentlichen Raum diskutierten Fälle hinaus zu erweitern. Empirisch am schwierigsten dürfte der Mißbrauch staatlicher Ämter zu privatem Nutzen, der im Rahmen der normalen Amtstätigkeit und mit öffentlicher Billigung geschieht, zu verfolgen sein. Noch relativ leicht zu beschreiben sind die finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Politikern. In groben Zügen ist es meist möglich, das Verhältnis zwischen Investitionen in eine politische Karriere und dem zu erwartenden finanziellen Gewinn zu bestimmen.61 Auch ist es sicherlich möglich, nach den Auswirkungen einer politischen Karriere auf die persönliche Einkommens- und Vermögensentwicklung von Politikern in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten zu fragen, und diese mit anderen plausiblen Karrierepfaden (etwa einer Lehrerstelle, einer florierenden Anwaltspraxis oder einer Unternehmertätigkeit) zu vergleichen. Eine solche grobe Perspektive würde es erlauben, abzuschätzen, ob die politische Laufbahn eher ein finanzielles Opfer oder finanziellen Gewinn mit sich brachte und zugleich ermöglichen, spektakuläre „Ausreißer“ in die eine wie die andere Richtung zu identifizieren. Allerdings gehört die Berücksichtigung der Folgen politischer Handlungen für die eigene Person zum Alltagsgeschäft demokratischer Politiker und demokratisch legitimierter Regierungen, so daß die Unterscheidung zwi60 W. D. Rubinstein, Education and the Social Origins of British Elites, 1880−1970, in: ders., Elites and the Wealthy in Modern British History. Essays in Social and Economic History. Brighton 1987, 172−221. 61 Exemplarisch Fahrmeir, Spekulanten (wie Anm. 39), 173−176, 338f.

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Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition?

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schen Korruption und normaler Amtsführung nicht ganz einfach sein dürfte. Es ist eine Frage der elementaren politischen Klugheit, bei politischen Entscheidungen auch ihre Folgen für die nächsten Wahlen zu erwägen, was zugleich die Vorbereitung einer privaten Vorteilsnahme darstellen kann. Ist eine (‚eigentlich‘ nicht zu rechtfertigende) Steuersenkung vor einem Wahltermin ein Mißbrauch des öffentlichen Amts zu privaten Zwecken (der Bestätigung der eigenen Regierung, was zugleich den fortgesetzten Bezug des Salärs eines Regierungsvorsitzenden bedeutet)? Ähnliche strukturelle Schwierigkeiten gelten für wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Auswirkungen auf die finanzielle Lage eines Familienbetriebs haben, ohne durch diese ursächlich bestimmt sein zu müssen. Freilich halten sich private Vergünstigungen aus öffentlichen Ämtern seit dem 19. Jahrhundert in bescheidenem Rahmen; weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Demokratien den siegreichen Heerführern großzügige Geschenke im Umfang eines Palastes, einer kleinen Provinz oder einer attraktiven Stadt gemacht. Die Debatten beim Ausscheiden Präsident Clintons aus dem Amt machten ebenso deutlich, daß solche Zurückhaltung im zwischenstaatlichen Bereich weniger stark ausgeprägt ist, als daß die Summen selbst hier im Verhältnis zum Vorschuß für die Autobiographie und zum Einkommen aus Vorträgen gering blieben. Dennoch: Korruption im Bereich der Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Institutionen und Politikern bezieht sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist auf die Abweichung von eigentlich vorgesehenen, Neutralität garantierenden Verfahren, um beispielsweise Angehörigen der eigenen Familie lukrative Aufträge zuzuspielen. Die Untersuchung dieser Abweichungen setzt zunächst die Untersuchung der Norm voraus: der verschiedenen Varianten von Konkurrenzverfahren, welche ‚objektive‘ Maßstäbe für die Vergabe öffentlicher Ämter, Aufträge und Privilegien setzten. Erst bei Kenntnis der Praxis lassen sich Abweichungen nicht nur unter dem Aspekt der öffentlichen Reaktion auf einzelne Fälle kontextualisieren.62 Eines ist freilich von vornherein klar: Die Untersuchung politischer Korruption, Wahlmanipulation und Bereicherung wird nur eine – wenn auch wichtige – Facette zur Bewertung politischer Systeme beitragen können. Das macht beispielsweise die Debatte um Margaret Andersons Bild eines relativ demokratischen Kaiserreichs deutlich.63 Anderson beschreibt auf der Grundlage einer differenzierten Untersuchung von Wahlanfechtungen einen Staat, 62

Zur Praxis der Vergabe öffentlicher Ämter am Beispiel Großbritanniens Richard Chapman, Leadership in the British Civil Service. A Study of Sir Percival Waterfield and the Creation of the Civil Service Selection Board. London 1984; Emmeline W. Cohen, The Growth of the British Civil Service, 1780−1939. London 1965; Clive Dewey. The Making of an English Ruling Caste. The Indian Civil Service in the Era of Competitive Examination, in: English Historical Review 88, 1973, 262−285. 63 Anderson, Practicing (wie Anm. 40), passim.

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in dem die bürokratische Rechtsaufsicht Manipulationen engere Grenzen setzte als in den USA oder Großbritannien, wo die Anfechtung von Wahlen entweder sehr großen finanziellen Einsatz des unterlegenen Kandidaten erforderte oder von parteipolitisch dominierten Gremien nach Opportunitätsgesichtspunkten entschieden wurde. Für Anderson erscheint das Kaiserreich – im Sinne der fortgesetzten Kritik an der These vom „deutschen Sonderweg“ – als ein demokratischer, nicht als ein autoritärer Staat.64 Volker Berghahn hielt dem jüngst entgegen, diese Perspektive übersehe den ‚Elefanten im Zimmer‘, nämlich die Frage nach den strukturellen Ursachen der durch Deutschland maßgeblich bzw. allein herbeigeführten Weltkriege.65 Solche kontroversen Fragen können durch die Konzentration auf politische Korruption allein selbstverständlich nicht gelöst werden. Dennoch lohnt die intensive, zeit- und ressourcenaufwendige Beschäftigung mit politischer Korruption. Die Korruption politischer Systeme ist vermutlich eine für die Bewertung ihrer Stabilität und Zukunftsfähigkeit entscheidende, aber der komplexen Interpretation bedürftige Variable. Die Kontrolle von Parlaments- und Regierungshandeln durch finanzielle Zuwendungen kann dazu führen, daß immer größere Teile der Bevölkerung sich durch ihre Repräsentanten nicht mehr vertreten fühlen und somit eine Legitimitätskrise der existierenden Institutionen entsteht, die bis zur revolutionären Situation reicht.66 Korruption kann als zugkräftiges Argument gegen liberale und pluralistische Verfassungsstrukturen eingesetzt werden; die aktuelle politische Entwicklung Rußlands scheint in diese Richtung zu deuten. Dagegen macht die Untersuchung Englands im Zeitalter der ‚old corruption‘ deutlich, daß Korruptionsnetzwerke, welche die Wähler einbezogen, als gesamtgesellschaftliches stabilisierendes Beziehungsgeflecht fungieren können, das sich zudem selbst entwirren kann. Welche Probleme und Lösungsmöglichkeiten in anderen Epochen identifiziert und mit mehr oder weniger Erfolg praktiziert wurden, muß die künftige Forschung freilich im Detail zeigen, bevor allgemeinere Aussagen möglich werden.

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Ein ähnliches Bild findet sich bei Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600−1947. Cambridge 2006, 596−603. 65 Anderson, Practicing (wie Anm. 40); vgl. kritisch Volker R. Berghahn, The German Empire, 1871–1914. Reflections on the Direction of Recent Research, in: Central European History 35, 2002, 75−81; Margaret Lavinia Anderson, Reply to Volker Berghahn, in: ebd. 83−90. 66 So jüngst Michael Sonenscher, Before the Deluge. Public Debt, Inequality, and the Intellectual Origins of the French Revolution. Princeton 2007.

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II. Frühe Neuzeit

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Korruption und Normenkonkurrenz Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert Von

Hillard von Thiessen I. Ob es Korruption in der Frühen Neuzeit gegeben habe beziehungsweise habe geben können, wird höchst unterschiedlich bewertet. Korruption ist zum einen als Strukturmerkmal vor- und frühmoderner Gesellschaften beschrieben worden. Erst der absolutistische Fürstenstaat habe die vorher weit verbreitete Bereicherung von seiten der Amtleute unterbunden, da er nicht habe akzeptieren können, daß deren Einkommensmaximierung seine Bindung an ihn gelockert habe. In „verwirklichter Volkssouveränität“ sei Korruption größeren Umfangs strukturell ausgeschlossen und komme nur noch als „gelegentliche Unehrlichkeit“ vor.1 Eine Variante dieser sozialevolutionären Sichtweise betrachtet Korruption in Bürokratien hingegen als ein Übergangsphänomen im Modernisierungsprozeß: Korruption steige dann sichtbar an, wenn strengere moralisch-bürokratische Standards angelegt werden würden, die aber erst nach und nach durchgesetzt werden könnten. Korruption ist demnach also der Ausdruck eines kulturellen Adaptionsproblems, das sich sowohl in europäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit zeige als auch in postkolonialen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts.2 1

Jacob van Klaveren, Die historische Erscheinung von Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289−324, hier 294ff., Zitate 297. Vgl. auch die Wertung von Wilhelm Brauneder, der die These vertritt, daß der „absolute Staat“ im Zeichen der Aufklärung (und damit später als bei von Klaveren, der bereits mit Ludwig XIV. von Frankreich ansetzt) Bedingungen geschaffen habe, die Korruption in der Verwaltung zu überwinden. Allerdings sieht Brauneder hierin nicht die Überwindung von Korruption, sondern vielmehr den Übergang zu einer neuen Form: Beginnend mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik hätten sich die Verflechtungen zwischen Staat und Wirtschaft gesteigert und damit auch die Korruptionsmöglichkeiten. Vgl. Wilhelm Brauneder, Die Korruption als historisches Phänomen, in: Christian Brünner (Hrsg.), Korruption und Kontrolle. Wien/Köln/Graz 1981, 75−104, hier 94ff. 2 Werner Patzelt hat Korruption als Ergebnis der Trennung des Amtsverständnisses von der persönlichen Lebenswelt beschrieben: Korruption ist demnach „die Fortführung all-

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Hieraus läßt sich auch eine zur erstgenannten These gegenläufige Wertung ableiten, die als „Unschuldsthese“ bezeichnet werden könnte: Solange es noch keine nach rational-bürokratischen Kriterien arbeitenden Verwaltungen gegeben habe, hätten auch klare Vorstellungen von korruptem Verhalten gefehlt. Aufgrund der fehlenden Trennung der Sphäre des Öffentlichen von der des Privaten habe es folglich noch gar keine Korruption geben können.3 Deutlich wird damit, daß die zeitgenössische Wertung von Korruption in bezug zu den jeweils geltenden politischen, rechtlichen, sozialen und moralischen Normen zu setzen ist. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte der Korruption auch, daß sie im Übergang zur Moderne einen Bruch in der Wertung und Ausformung von Korruption sehen. Hieraus allerdings zu folgern, daß es unter vor- oder protostaatlichen Bedingungen keine Korruption gegeben habe, erscheint problematisch. Denn Korruptionsdebatten sind bereits seit der Antike belegt und wurden, wie noch zu zeigen sein wird, mit großer Intensität und mitunter einschneidenden politischen Folgen auch in der Frühen Neuzeit geführt.4 Um den Begriff der Korruption für die Frühe Neuzeit anwendbar zu machen, bedarf es daher einer Arbeitsdefinition, die nicht an das Vorhandensein moderner bürokratischer Strukturen gebunden ist. Denn eine vom Regelwerk konkreter gruppenbezogener Normen abgetrennte Sphäre, in der eigene, an sachgerechter Amtsausübung orientierte Normen galten, hatte sich noch nicht herausgebildet. Die Definition sollte weiterhin die Untersuchung von Handlungen unter dem Überbegriff der Korruption ermöglichen, die zwar von den Zeitgenossen nicht so bezeichnet, aber dennoch als Vorteilsnahme aus Eigeninteresse auf Kosten des Gemeinen Gutes oder der Regeln der politischen Ordnung gewertet wurden. Damit entfallen strikt amtsorientierte Definitionsansätze, welche Korruption als Verletzung von klar definierten Amtspflichten werten und sich am idealtypischen Bürokratietäglicher akzeptabler Verhaltensweisen selbst dann, wenn sich um sie herum ein neuartiger Handlungsrahmen entwickelt hat“. Werner J. Patzelt, Konkurrenz und Korruption als Kategorien des Politischen, in: Michael Matthiesen/Martial Straub (Hrsg.), Handeln zwischen ‚Virtù‘ und ‚Fortuna‘: Verfügbarkeit und Verantwortung. Göttingen 2004, 71−107, hier 84. Vgl. auch: Ernesto Garzón Valdés, Korruption. Zur systematischen Relativität eines universalen Phänomens, in: Harald Bluhm/Karsten Fischer (Hrsg.), Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht. Theorien politischer Korruption. Baden-Baden 2002, 115−138, hier 115; Jean-Claude Waquet, Corruption. Ethics and Power in Florence, 1600−1770. Cambridge 1991, 7ff. 3 James C. Scott, Comparative Political Corruption. Englewood Cliffs 1972. 4 Harald Bluhm, Zwischen invisibler und visibler Macht. Machttheoretische Verortungen politischer Korruption, in: ders./Fischer (Hrsg.), Sichtbarkeit (wie Anm. 2), 167−193, hier 169; Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313−350, hier 323f.

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modell von Max Weber5 orientieren. Sie können für die Untersuchung vorbürokratischer Korruption nur dann nutzbar gemacht werden, wenn sie in einer für die politische Kultur der Frühen Neuzeit angemessenen Weise erweitert werden. Ernesto Garzón Valdés schlägt vor, Korruption als eine Verletzung von Normensystemen zu begreifen. Korruption sei nicht zwingend ein politisches Phänomen und betreffe nicht unbedingt die Sphäre des Öffentlichen, sondern könne beispielsweise auch religiöse, rechtliche oder wirtschaftliche Normensysteme mißachten. Korruption liege vor, wenn ein Entscheidungsträger die aus seiner Position erwachsenen Pflichten („positionale Pflichten“) verletze; sie sei immer ein Akt der Illoyalität oder gar des Verrats gegenüber dem betreffenden Normensystem.6 Der Vorteil, aber ebenso das Problem dieses Definitionsansatzes liegt darin, daß er den Begriff Korruption an zeitgenössische Normen koppelt. Einerseits grenzt er damit den Begriff von modernen Korruptionsvorstellungen ab, andererseits aber vertritt er dennoch insoweit ein modernes Normenverständnis, als er grundsätzlich von der Eindeutigkeit von Normen ausgeht. Normen bilden demnach einen umsetzbaren Kriterienkatalog für menschliches Handeln und legitimieren es. Damit werden Verhaltenserwartungen normiert und eindeutig, Abweichungen davon hingegen markiert und kriminalisiert. Normenkonflikte sind damit nicht ausgeschlossen, aber sie stellen ein gesellschaftliches Problem dar, das eine weitgehend widerspruchsfreie Lösung erfordert, beziehungsweise sie werden als Phänomen des Übergangs 5 Vgl. Webers idealtypische Definition des Beamten in der modernen Bürokratie: „Seine Verwaltung ist Berufsarbeit kraft sachlicher Amtspflicht; ihr Ideal ist, ‚sine ira et studio‘, ohne allen Einfluß persönlicher Motive oder gefühlsmäßiger Einflüsse, frei von Willkür und Unberechenbarkeit, insbesondere ‚ohne Ansehen der Person‘ streng formalistisch nach rationalen Regeln und – wo diese versagen – nach ‚sachlichen‘ Zweckmäßigsgesichtspunkten zu verfügen.“ Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen 1968, 476. 6 Seine Definition, die letztlich doch nicht ohne den Begriff „privat“ auszukommen vermag, lautet vollständig: „Korruption ist die begrenzte Verletzung einer positionalen Pflicht durch einen Entscheidungsträger, zum Zweck des Erwerbs extra-positionaler privater Vorteile von einem Akteur, der entweder eine Bestechung anbietet oder aber erpreßt wird, und zwar im Tausch gegen Vorteile, die dem Bestechenden beziehungsweise dem Erpreßten gewährt werden und deren (subjektiver) Wert die (subjektiven) Kosten des angebotenen beziehungsweise erpreßten Betrages oder Dienstes übersteigt.“ Garzón Valdés, Korruption (wie Anm. 2), 117ff., Zitat 125. Auch die klassische Definition von Wolfgang Schuller („Mißbrauch einer öffentlichen Stellung in privatem Interesse“) erhebt den Anspruch, nicht nur für moderne westliche Gesellschaften zu gelten, indem „öffentlich“ sehr breit definiert wird als alle Institutionen betreffend, die ihr Handeln an überprivaten Normen orientieren. Schuller betrachtet in dieser Perspektive allerdings Nepotismus und Patronage als Ausdruck korrupten Verhaltens und sieht auch im Ämterkauf Ansätze zu Korruption. Damit allerdings verliert der Begriff seine Anwendbarkeit auf die frühneuzeitliche politische Kultur, denn der frühmoderne Fürstenstaat wäre bei Anlage dieses Definitionsrahmens per se korrupt. Wolfgang Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, 373−392.

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zwischen verschiedenen Normensystemen interpretiert. Das „Nicht-akzeptieren-wollen“ von Normenkonflikten und das Bemühen um die Eindeutigkeit und Anpassung von Normensystemen möchte ich aber als ein Phänomen der Moderne ansehen.7 Für die Frühe Neuzeit hingegen ist meines Erachtens die Parallelität von Normen, und damit Normenkonkurrenz der – nicht konfliktfreie – Normalfall. Einerseits hatte sich seit dem Spätmittelalter ein gemeinnutzorientiertes Verständnis von Herrschaft und Amtsführung herausgebildet. So, wie der Herrscher oder ein städtischer Rat verpflichtet war, die gute, gottgewollte Ordnung aufrechtzuerhalten, so hatte auch sein Personal in Verwaltung und Justiz gemeinwohlorientiert zu handeln und sich nicht in eigennütziger Weise zu bereichern. Erfüllte der Herrscher seine Rolle nicht, konnte seine Stellung als tyrannisch delegitimiert werden; folgten Amtleute dem Eigennutz, konnten sie als korrupt angeklagt werden. Gemeinnutz als Leitbegriff des Handelns und Eigennutz als sein perhorresziertes Gegenüber8 waren schon im spätmittelalterlichen Korruptionsdiskurs fest etabliert. Das Problem des Amtsmißbrauchs war den Zeitgenossen bewußt; in Predigten und in der Ikonographie finden wir häufig das Bild des gierig-korrupten Magistraten oder Richters.9 Zu diesen Vorstellungen im Widerspruch standen nicht weniger handlungsleitende Imperative. Verwandte, Klienten, Landsleute und Freunde zu bevorzugen, das heißt symbolisch und materiell zu begünstigen, war eine soziale Pflicht, die, verstanden als Ausdruck christlicher pietas, zudem religiösmoralisch aufgeladen war.10 Die primäre Sozialbindung des frühneuzeitli7

Der Autor bereitet derzeit ein Forschungsprojekt zu Normenkonkurrenz in der Frühen Neuzeit vor. Mit der Ersetzung konkurrierender legitimer Normensysteme durch ein einziges legitimes, am Gemeinwohlinteresse orientiertes System in der Moderne wird sich ein Forschungsvorhaben befassen, das Jens Ivo Engels konzipiert hat („Korruption in der europäischen Moderne. Korruptionskommunikation und ‚korrupte‘ Praktiken in Deutschland, Großbritannien und Frankreich von der Sattelzeit bis zur Hochmoderne“). Zum Verhältnis von Normen und Verhaltenserwartungen in der Moderne siehe auch den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. 8 Eigennutz war in der ständischen Gesellschaft „der verbreitetste Negativbegriff sozialen Verhaltens“. Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der städtischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243, 1986, 591−626, hier 600. 9 Moritz Isenmann, ‚Rector est raptor‘. Korruption und ihre Bekämpfung in den italienischen Kommunen des späten Mittelalters, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006, 208−230. 10 Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. ‚Verflechtung‘ als Konzept zur Erforschung frühneuzeitlicher Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979; zur pietas als handlungsleitender und christlich aufgeladener Norm in Verwandtschaftsbeziehungen am Beispiel der Päpste: ders., Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums, in: Remigius Bäumer (Hrsg.), Von Konstanz nach Trient. Beiträge zur Kirchengeschichte von den Reformkonzilien bis zum Tridentinum. Festgabe für August Franzen. Paderborn 1972, 261−299. Vgl. außerdem zur „Familiarisierung“ der

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chen Menschen bestand zu seinen Verwandten. Seine Ehre war wesentlich mit seiner Familienzugehörigkeit verknüpft.11 Verwandtschaft realisierte sich ebenso wie Patron-Klient-Beziehungen in fortlaufenden Handlungsketten, die nach dem Gabentauschprinzip funktionierten. Der stete Austausch von Gaben und Gefälligkeiten bildete die Beziehung ab und bestätigte sie. Begünstigung von Verwandten und Klienten war also nicht einfach nur die Verfolgung von Eigeninteresse, sondern die unerläßliche und allgemein erwartete Pflege von Sozialbeziehungen, von sozialem Kapital.12 Am Beispiel des frühneuzeitlichen Papsttums ist am intensivsten untersucht worden, was dies für die politische Praxis in einer Kultur bedeutete, in der Vertrauen in der Hauptsache auf bewährten sozialen Bindungen fußte. Der Papst delegierte die Leitung der weltlichen Geschäfte als Landesherr des Kirchenstaats an einen nahen Verwandten, zumeist einen Neffen, dem er zu Beginn seines Pontifikats den Purpur verlieh. Dieser Kardinalnepot hatte neben den Verwaltungsaufgaben, die er mitunter an Klienten der Papstfamilie oder Fachleute weiterdelegierte, noch zwei weitere Funktionen, die er aber stets selbst ausfüllen mußte. Zum einen ist die Bereicherungsfunktion zu nennen: Er und weitere weltliche Verwandte des Papstes wurden vom Pontifex Maximus mit zahlreichen materiellen und symbolischen Vergünstigungen bedacht. Auf diese Weise bereicherte sich die Papstfamilie aus den Ressourcen, die ihr für den Zeitraum eines Pontifikats zur Verfügung standen. Das Ziel war es, der Familie den Aufstieg in den römischen Hochadel zu ermöglichen. Schließlich fungierte der Kardinalnepot auch noch als Patronagemanager der Papstfamilie. In dieser Funktion vermittelte er weiteren Verwandten und den Klienten päpstliche Ressourcen. Dies alles geschah unter Aufrechterhaltung des Bildes des Papstes als padre comune, als dem Gemeinwohl verpflichteter Herrscher und Kirchenoberhaupt. Mehr noch: Diese Rollenverteilung förderte noch die Gemeinwohlfiktion, indem der Nepot dem Papst die Tätigkeiten abnahm, bei denen er zur Begünstigung einzelner auf Kosten der Allgemeinheit verpflichtet war. Daß der Nepot dies nichtsdestotrotz im Auftrag seines Onkels tat, war den Zeitgenossen durchaus bewußt, aber sie waren in der Regel bereit, die innerfamiliäre Rollenverteilung Gesellschaft im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit: Gerhard Vowinckel, Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Darmstadt 1995, 85ff. 11 David Cressy, Kinship and Kin Interaction in Early Modern New England, in: Past and Present 113, 1986, 38−69, hier 44ff. 12 Zur frühneuzeitlichen Geschenkkultur: Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. München 2002; Gadi Algazi/Bernhard Jussen/Valentin Groebner (Eds.), Negotiating the Gift. Göttingen 2003. Zur Abbildung und Bekräftigung von Sozialbeziehungen durch Handlungsketten: Hillard von Thiessen, Grenzüberschreitende Patronage und Diplomatie vom type ancien. Die spanisch-römischen Beziehungen im Pontifikat Pauls V. (1605−1621) in akteurszentrierter Perspektive. Habilitationsschrift Universität Bern 2007.

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zu akzeptieren und dem Papst trotz allem die Erfüllung der Rolle des padre comune abzunehmen.13 Normenkonkurrenz bedeutete nicht, daß, wie James Cameron Scott es dargestellt hat, verborgen hinter der offiziellen Fassade gewissermaßen ein zweites politisches System informeller Natur existiert habe.14 Statt dessen waren herrschaftsethisch-gemeinnutzorientierte und gruppenbezogene Normen und Verhaltenskodizes im politischen und sozialen Alltag miteinander verschränkt und sind daher nur idealtypisch zu trennen. Beide Normensysteme wurden öffentlich sichtbar befolgt, nicht selten in ostentativer Weise. Das bedeutet nicht, daß es keine Kritik gegen päpstliche Verwandtenförderung gegeben hat. Vielmehr verloren bestimmte Formen päpstlicher Verwandtenförderung, die mit der Rolle des Landesherrn oder der des Kirchenoberhaupts offenkundig unvereinbar waren, bereits im 16. Jahrhundert stark an Akzeptanz. Dazu gehört im Fall des Kirchenstaats etwa die letztmalig von Paul III. Farnese (1534−1549) praktizierte Abtrennung von Gebieten aus dem Kirchenstaat als Herzogtümer für seine Familie. Diese Praxis, die den Kirchenstaat langfristig aufgelöst hätte, wurde von einem späteren Papst, Pius V. Ghislieri (1566−1572), 1567 endgültig untersagt.15 Wann die Verfolgung familiärer Interessen als inkompatibel mit dem Gemeingut beziehungsweise dem Herrscherethos angesehen wurde, hing von den jeweiligen Umständen ab. Entscheidend für die Bewertung derartigen Handelns in der Frühen Neuzeit ist, daß es kaum klar definierte Grenzlinien gab, innerhalb derer Normenkonkurrenz akzeptabel war. Statt dessen handelten politische und soziale Akteure in einem großen Graubereich. Wer sich diesem Graubereich zu entziehen trachtete und allein einem normativen Rollenmuster folgte, mußte auf Kritik an seinem Verhalten gefaßt sein oder sich seine Rolle in einer exklusiven Nische der Gesellschaft einrichten. Wer 13

Neben den in Anm. 10 genannten Titeln von Wolfgang Reinhard sei hier zu den Rollen des Kardinalnepoten noch verwiesen auf: Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605−1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom. Stuttgart 2001. 14 Scott, Corruption (wie Anm. 3); vgl. auch die Ausführungen von Werner Plumpe in diesem Band. 15 Es handelt sich um die Herzogtümer Parma und Piacenza (für Pier Luigi Farnese, den Sohn des Papstes) und Castro (für den Papstneffen Ottavio Farnese). Vgl. Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat. Köln 2005, 72; Maria Teresa Fattori, Clemente VIII e il Sacro Collegio 1592−1605. Meccanismi istituzionali ed accentramento di governo. Stuttgart 2004, 97ff. Allerdings gab es unter dem Barberini-Papst Urban VIII. (1623−1644) nochmals entsprechende Versuche, welche sich aber nicht durchsetzen ließen und das Ansehen dieser Familie im Kirchenstaat stark beschädigten. Vgl. hierzu Georg Lutz, Rom und Europa während des Pontifikats Urbans VIII., in: Reinhard Elze/Heinrich Schmidinger/Hendrik Schulte Nordholt (Hrsg.), Rom in der Neuzeit. Politische, kirchliche und kulturelle Aspekte. Wien/Rom 1976, 72−167, hier 136; Wolfgang Reinhard, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86, 1975, 145−185, hier 166.

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sich allein auf abstrakte Normen wie das Gemeingut oder religiöse Verhaltensmaßregeln berief und seine konkreten gruppenbezogenen Verpflichtungen hintanstellte, gelangte leicht in den Ruf eines Eiferers, dem es an Verantwortung für die Seinen fehlte. Nur Heilige (im Katholizismus) oder Erwählte (im Calvinismus) konnten legitimerweise derart eindeutigen Rollenmustern folgen.16 Wer hingegen den umgekehrten Weg wählte und allein den gruppenbezogenen Normen gerecht wurde, lief Gefahr, sich Korruptionsvorwürfen auszusetzen. Die Begünstigung von Personen, denen man verpflichtet war beziehungsweise die man sich verpflichten wollte, war also durchaus eine kritisierbare Praxis, aber ebenso eine soziale Handlungsnorm.17 Die Verschränkung zwischen den Rollen des Amtsinhabers und des Familienmitglieds, Patrons oder Klienten verlangte von den meisten Amtsträgern schlichtweg, die verschiedenen Rollenanforderungen auszutarieren. Inwieweit sie dennoch mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert wurden, hing angesichts der Normenkonkurrenz von verschiedenen „weichen“, jedenfalls nicht klar meßbaren Kriterien ab: Ausschlaggebend für die Wahrnehmung bestimmter Verhaltensweisen als korrupt waren Kriterien wie Heimlichkeit, Ausmaß der Begünstigung und faktionelle Machtverhältnisse.18 Standards perfekten Verhaltens wurden in der Frühen Neuzeit, ja mindestens seit dem Spätmittelalter, intensiv diskutiert. Während aber, wie Werner Plumpe betont, Korruptionskommunikation in der Moderne der Bildung von Standards „perfekten“ Verhaltens dient und Perfektion somit erreichbar 16

Birgit Emich/Nicole Reinhardt/Hillard von Thiessen/Christian Wieland, Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32, 2005, 233−265, hier 263ff. Tridentinische Reformer in der katholischen Kirche neigten zur starken Betonung konfessionell-kirchlicher auf Kosten von innerweltlich-sozialen Normen und wandten sich beispielsweise scharf gegen den Ehrdiskurs und das mit ihm verbundene Normengerüst; sie wurden vielfach als zelanti (Eiferer) bezeichnet. Gleichwohl sahen auch sie sich als Familienmitglied den gruppenbezogenen Normen unterworfen. Als Paradebeispiel für die komplexen Rollenkonflikte eines solchen zelante kann Kardinal Federico Borromeo gelten: Julia Zunckel, Handlungsspielräume eines Mailänder Erzbischofs. Federico Borromeo und Rom, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605−1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. Tübingen 2004, 427−567; dies., Das schwere Erbe San Carlos oder: Von der Übererfüllung der Norm. Der Mailänder Kardinalerzbischof Federico Borromeo (1564−1631), in: Arne Karsten (Hrsg.), Jagd nach dem roten Hut. Kardinalskarrieren im barocken Rom. Göttingen 2004, 69−87. 17 Alfred K. Treml, Korruption. ‚Moralischer Verfall‘ oder Dysfunktion?, in: Universitas 53, 1998, 251−262, hier 253. 18 Zur Frage der Bewertung der Geschenkpraxis im kommunal-städtischen Umfeld um 1500: Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000. Groebner betont, daß die heimliche, vor dem Gemeinwesen verborgene Annahme eines Geschenks durch eine Amtsperson oder einen Ratsherrn in seinem Untersuchungszeitraum zum entscheidenden Kriterium für die Bewertung des Schenkvorgangs als korrupt avancierte.

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erscheint19, sind die frühneuzeitlichen Korruptionsdebatten zumeist kasuistischer Natur. Das bedeutet, daß im Gegensatz zur Moderne Perfektion generell nicht als umsetzbare Möglichkeit erscheint. Perfektion – sei es als konfessionalisierter Christ, als Familienmitglied, als Herrscher oder als Amtsperson – war ein Ideal, dem der einzelne sich anzunähern aufgefordert war, das er aber mit seinen übrigen Rollenanforderungen abgleichen mußte. Standards der Perfektion konnten dementsprechend noch nicht verbindlich konkretisiert werden.20 Gerade dieser Mangel an konkreten Verhaltensvorgaben machte Korruptionsvorwürfe beziehungsweise Korruptionsdebatten zu einer politischen Waffe. Denn die Unklarheit der Grenze zwischen korruptem und akzeptablem Verhalten und der Tatbestand, daß praktisch alle Amtsinhaber auf die eine oder andere Weise ihren Verpflichtungen zur Verwandten- und Klientenbegünstigung Genüge taten, machte eben alle auch angreifbar. Hinzu kommt, daß im politischen Denken ein weites Korruptionsverständnis vorherrschte. Korruption wurde nicht nur als individuelles menschliches Fehlverhalten beziehungsweise als Sünde gedeutet, sondern als Symptom einer Krankheit des politischen Körpers.21 Korruption bedeutete in diesem Sinne Verfall und moralische Desintegration; im Frankreich des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde diese Vorstellung beispielsweise dahin gehend rezipiert, daß es einer umfassenden regeneratio bedürfe, um die kranke Gesellschaft wieder zu heilen. Derartige Verfallsdiagnosen boten sich für oppositionelle Gruppierungen als rhetorisch-polemische Kategorie an, um das politische System oder seine Vertreter zu delegitimieren.22 Als Arbeitsdefinition für den Begriff der Korruption soll im folgenden gelten: Die Verletzung der mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes verbundenen positionalen Pflichten durch eine als übermäßig empfundene Orientierung an gruppenbezogenen Normen, insbesondere der Förderung des eigenen Familienverbandes oder der eigenen Klientel zu Lasten des Gemeinwesens. Die Wertung einer Handlungsweise als korrupt hing dabei nicht von 19

Zum Gegensatzpaar Korruption – Perfektion und zur Bildung konkreter Verhaltenserwartungen in der Moderne siehe den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. 20 Zur Rollenvielfalt frühneuzeitlicher Botschafter: von Thiessen, Patronage (wie Anm. 12). 21 Harald Bluhm/Karsten Fischer, Einleitung: Korruption als Problem politischer Theorie, in: dies. (Hrsg.), Sichtbarkeit (wie Anm. 2), 9−22, hier 11f.; J. Peter Euben, Corruption, in: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Eds.), Political Innovation and Conceptual Change. Cambridge 1989, 220−246, hier 222ff.; Robert Harding, Corruption and the Moral Boundaries of Patronage in the Renaissance, in: Guy Fitch Little/Stephen Orgle (Eds.), Patronage in the Renaissance. Princeton 1981, 47−64, hier 57ff.; Waquet, Corruption (wie Anm. 2), 87ff. 22 Dieter Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“, in: Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680−1820. H. 14/15. München 1993, 7−60, hier 9ff.

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meßbaren Kriterien ab, doch unterlag ihr insoweit ein quantitativer Aspekt, als nicht die Bevorzugung von Verwandten und Klienten an und für sich, sondern zumeist deren Ausmaß als anstößig empfunden wurde. Korruption wurde darüber hinaus nicht nur als individuelles Fehlverhalten wahrgenommen, sondern auch als Ausdruck einer Degeneration des Gemeinwesens interpretiert. Die Untersuchung von Korruptionsdebatten ist geeignet, das Potential grundsätzlicher politischer Kritik und der Veränderbarkeit politischer Systeme überhaupt in der Frühen Neuzeit auszuloten. In einem grundsätzlich statisch gedachten, als gottgewollte Ordnung legitimierten politischen System ließ sich Veränderung nur als Wiederherstellung eines ursprünglichen, reinen und unverdorbenen Zustands legitim fordern. Korruptionsvorwürfe können somit verstanden werden als gezielte politische Kritik mit dem Ziel der Delegitimation der bestehenden Ordnung. Korruptionsdebatten legen einerseits das Normenverständnis einer Gesellschaft offen. Andererseits sind sie ein Indikator dafür, inwieweit Alternativen zur politischen Ordnung gedacht und gefordert werden konnten: Richtete sich die Korruptionskritik nur gegen einzelne Personen und Gruppen, oder delegitimierte sie ein politisches System und zielte somit auf dessen Ablösung oder doch wenigstens auf eine grundsätzliche Reform? Hierzu soll im folgenden an zwei Beispielen die Korruptionskritik an Günstling-Ministern untersucht werden. Im frühen 17. Jahrhundert gelangten an vielen europäischen Fürstenhöfen Günstling-Minister zu einer Machtstellung, die Vertraute von Fürsten vorher nicht zu erreichen vermocht hatten. Sie waren Vertrauenspersonen des Fürsten, die für ihren Herrn seine Verwaltung, seinen Hof und seine Patronage kontrollierten. Sie erlangten dabei eine Stellung, die es ihnen ermöglichte, die fürstlichen Ressourcen sich selbst, ihrem Verwandtschaftsverband und ihrer Klientel zukommen zu lassen. Im habsburgischen Spanien erlangte als erster Francisco de Sandoval y Rojas († 1625), seit 1599 Duque de Lerma, eine derartige Stellung an der Seite Philipps III. von Spanien (1598−1621). In England erreichte das „Zeitalter des Favoriten“23 seinen Höhepunkt mit dem Aufstieg von George Villiers (1592−1628), seit 1623 Duke of Buckingham. Er konnte von 1616 bis zu seiner Ermordung am 13. August 1628 die Position als Günstling-Minister der Könige Jakob I. (1603−1625) und Karl I. (1625−1649) halten. Die exklusive Stellung der beiden Favoriten wurde von den Zeitgenossen als exzeptionell gewertet und als Bruch in der politischen Praxis verstanden. 23

Ronald G. Asch, Schlußbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. 18 Thesen, in: Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hrsg.), Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. 8. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neuburg an der Donau, 21. bis 24. September 2002. Ostfildern 2004, 515−531, hier 530.

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Beide zogen Kritik an ihrer Amtsführung auf sich. Diese Kritik artikulierte sich zwar nur im englischen Fall über den Begriff „Korruption“, umfaßte aber in beiden Fällen sowohl Anstoß am Ausmaß der Machtstellung des jeweiligen Günstlings als auch den Vorwurf unmäßiger Bereicherung und der Begünstigung von Verwandten und Klienten. Während aber im spanischen Fall die Kritik an der Günstlingsherrschaft im wesentlichen auf die Person, den Familien- und Klientelverband und die außergewöhnliche Machtstellung Lermas zielte, zog sie in England weitere Kreise. Blieben die Person des Monarchen und das monarchische Regierungssystem in Spanien von der Korruptionskritik weitgehend unangetastet, war die entsprechende Debatte in England grundsätzlicher und geeignet, das monarchische Regierungssystem insgesamt zu delegitimieren. Sie bereitete damit einer Sichtweise den Weg, die sich England auch ohne den König vorstellen konnte. Während in Spanien die prinzipielle Akzeptanz von Normenkonkurrenz bestehen blieb, beeinträchtigte die englische Debatte auch die Toleranz gegenüber widersprüchlichen Normen. Allerdings vermochte sie, wie abschließend zu zeigen sein wird, längerfristig die sozialen Praktiken nicht grundlegend zu verändern und das Normengerüst nicht zu vereindeutlichen. Die konkret-gruppenbezogenen Rollenanforderungen blieben auch in England bis über das 18. Jahrhundert hinaus Normen, die neben gemeinwohlorientierten Vorstellungen handlungsleitend blieben.

II. Die Machtstellung des Duque de Lerma am spanischen Hof wurde von Zeitgenossen als geradezu königsgleich angesehen; dergleichen, so war man sich einig, habe es bis dahin noch nicht gegeben. Das galt auch für das Ausmaß der Bereicherung des Günstling-Ministers (span. valido). Tomé Pinheiro da Veiga, ein portugiesischer Höfling, notierte im Mai 1605: „Nie gab es einen Vasallen in Spanien, der derart reich war, noch sonst irgendwo. Und da er über alles verfügt und der König sich auf ihn stützt, kann er sagen: Er [Gott, H. v. T.] hat mich Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über all sein Haus und zum Fürsten über das ganze Land Ägypten.“24

24 „De manera que vasallo particular no le habría nunca tan rico en España, ni en otra parte, y como él lo dispone todo, y el rey descansa en él puede decir: qui constituit me quasi Patrem Pharaonis et dominium universae domus ejus, ac Principem in omni terra Aegipti.“ Tomé Pinheiro da Vega, Fastiginia. Vida cotidiana en la corte de Valladolid. Traducción y notas de Narciso Alonso Cortés. Valladolid 1989, 77. Das lateinische Zitat stammt aus dem Alten Testament (1. Mose 45, 8). Reisende wie Diplomaten berichteten häufig über die Machtfülle Lermas und stellten sie zumeist als einzigartig in Europa dar. Jacopo Sobieski, ein Reisender aus dem polnischen Adel, nannte Lerma 1611 gar einen „absoluten Herrscher“ und vergaß auch nicht zu erwähnen, daß der Günstling-Minister

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Pinheiro da Veiga betont die Neuartigkeit der Machtkonzentration in Händen einer nichtfürstlichen Person, ja er beschreibt den Günstling-Minister als eine Vaterfigur für den deutlich jüngeren König: 1605 zählte Lerma gut 50 Lebensjahre, Philipp III. hingegen erst 27. Veigas Formulierung läßt sich – wie viele ähnliche Kommentare – als vorsichtige Kritik an der herausgehobenen Machtposition des Günstling-Ministers lesen, der sogar den König in seinen Schatten stelle und zudem in nie gekanntem Ausmaß von seiner Position materiell und symbolisch profitierte. Lermas exzeptionelle Stellung25 basierte auf dem Vertrauen des jungen Königs. Sie kann als eine informelle, dominierende Machtposition über Hof und Verwaltung beschrieben werden. Hofämter sicherten ihm die Nähe zum Herrscher und erlaubten ihm auch, den Zugang zu diesem weitgehend zu kontrollieren. Darüber hinaus überwachte und lenkte er als faktischer Erster Minister26 den Verwaltungsapparat und führte die Regierungsgeschäfte. Die herausragende Stellung des Günstling-Ministers ist von der jüngeren Forschung als eine Antwort der Fürsten auf die Herausforderungen des Staatsbildungsprozesses interpretiert worden. Die stetig wachsenden Verwaltungsapparate und die Konzentration von Patronageressourcen in der Hand des Fürsten verlangten nach einer Person, welche die Verwaltung und die fürstliche Patronage kontrollierte. Machtausübung und Herrschaftspraxis stützten sich im 17. Jahrhundert auf personale Beziehungen, da ein abstraktes Amtsverständnis noch weitgehend fehlte. Der Günstling-Minister besetzte die von Geschenken und Aufmerksamkeiten des Königs überhäuft wurde: Jacobo Sobieski, Viaje desde el mes de marzo hasta julio de 1611. Traducción de polaca de principios del siglo XVII, in: Javier Liske (Ed.), Viajes de extranjeros por España y Portugal en los siglos XV, XVI y XVII. Madrid 1878, 233−267, hier 236f. 25 Bis etwa 1611/12 genoß er eine weitgehende, aber nie allumfassende Kontrolle über den Hof und die Verwaltung; die Zeit bis zu seinem Sturz im Oktober 1618 ist durch einen sukzessiven Kontrollverlust gekennzeichnet. Zu Lermas Günstlingsherrschaft siehe: Francesco Benigno, La sombra del rey. Validos y lucha política en la España del siglo XVII. Madrid 1994, 14ff.; Antonio Feros, Kingship and Favoritism in the Spain of Philip III, 1598−1621. Cambridge 2000; Magdalena S. Sánchez, The Empress, the Queen, and the Nun. Women and Power at the Court of Philip III of Spain. Baltimore/London 1998; Francisco Tomás y Valiente, Los validos en la monarquía española del siglo XVII. Estudio institucional. 3. Aufl. Madrid 1990, 6 u. 73ff.; Hillard von Thiessen, Herrschen mit Verwandten und Klienten. Aufstieg und Fall des Herzogs von Lerma, Günstling-Minister Philipps III. von Spanien, in: Karsten/von Thiessen (Hrsg.), Netzwerke (wie Anm. 9), 181−207; Patrick Williams, The Great Favourite. The Duke of Lerma and the Court and Government of Philip III of Spain, 1598−1621. Manchester/New York 2006. 26 Diese Bezeichnung ist allerdings erst seit Richelieu belegt, ohne bereits als offizieller Amtstitel zu gelten. Vgl. Alanson Lloyd Moote, Richelieu as Chief Minister. A Comparative Study of the Favorite in Early Seventeenth-Century Politics, in: Joseph Bergin/Laurence W. B. Brockliss (Eds.), Richelieu and his Age. Oxford 1992, 13−43, hier 13. In Spanien trug als erster der Conde de Haro, Günstling-Minister Philipps IV. ab 1643, diesen Titel. Vgl. José Antonio Escudero, Introducción: Privados, validos y primeros ministros, in: ders. (Ed.), Los validos. Madrid 2005, 15−33, hier 24.

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Schlüsselstellen am Hof und in der Verwaltung mit seinen Klienten und Verwandten. Auf diese Weise erhielt der Fürstenstaat eine loyal arbeitende, einigermaßen verläßliche Verwaltung. Zudem schirmte der Günstling-Minister den Fürsten von den Niederungen der Alltagspolitik ab; Kritik an Entscheidungen der Verwaltung lenkte er auf sich und stabilisierte damit die Rolle des Fürsten als gerechter Herrscher und Richter über seine Vasallen.27 Damit wird deutlich, daß der Günstling-Minister konkrete Funktionen für den Fürsten erfüllte und seine starke Stellung nicht unbedingt eine Beeinträchtigung der fürstlichen Würde darstellte. Der Aufstieg des Günstling-Ministers war allerdings weniger das Ergebnis einer bewußten fürstlichen Entscheidung, um dem aus der wachsenden Verwaltung resultierenden Problemdruck zu begegnen. Vielmehr ist er aus der Struktur des Hofs zu erklären: Diese war auf den Herrscher zentriert. Faktionen von Höflingen konkurrierten um seine Gunst. Der Günstling-Minister war der Kopf derjenigen Faktion, die sich in diesem Kampf für einen gewissen Zeitraum durchgesetzt hatte.28 Der Günstling-Minister mochte wichtige Funktionen für den Fürsten erfüllen, doch er stand immer vor einer Reihe von legitimatorischen Grundproblemen. Er übte eine Macht aus, die nicht die Seine war. Seine fürstennahe – wie wir gesehen haben: in der Wahrnehmung der Zeitgenossen nahezu fürstengleiche Stellung – war an sich nicht mit dem Selbstbild eines Hochadligen im Fürstendienst vereinbar und für seine Standesgenossen im Grunde unerträglich. Und schließlich war er bei der Vermittlung der fürstlichen Ressourcen gezwungen, seine Verwandten, Klienten und Freunde zu begünstigen, von deren Kooperation der Verbleib in seiner exklusiven Stellung ebenso abhing wie von der Gunst seines Herrn. Denn mittels dieser Gruppe kontrollierte er Hof und Verwaltung. Er tat dies nicht nur aus dem Kalkül heraus, daß er sich auf diesen Kreis von Vertrauenspersonen in besonderer 27

Zu Rolle und Funktion des Günstling-Ministers: Asch, Schlußbetrachtung (wie Anm. 23); ders., ‚Lumine solis‘. Der Favorit und die politische Kultur des Hofes in Westeuropa, in: Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 32.) Berlin 2003, 21−38, hier 24ff.; Benigno, Sombra (wie Anm. 25), 9ff.; Birgit Emich, Europäische Gemeinsamkeiten, römische Eigenheiten: Das Klientelsystem am Hof des Papstes, in: Klaus Malettke/Chantal Grell (Hrsg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.−18. Jh.). Münster 2001, 287−302, hier 289; I. A. A. Thompson, The Institutional Background of the Rise of the Minister-Favourite, in: John Huxtable Elliott/Laurence W. B. Brockliss (Eds.), The World of the Favourite. New Haven/London 1999, 13−25, Tomás y Valiente, Validos (wie Anm. 25), 39ff. 28 Aloys Winterling, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit. Forschungsprobleme und theoretische Konzeptionen, in: Roswitha Jacobsen (Hrsg.), Residenzkultur in Thüringen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Bucha 1999, 29−42; vgl. auch Jan Hirschbiegel, Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings, in: ders./Paravicini (Hrsg.), Der Fall des Günstlings (wie Anm. 23), 23–39, hier 34.

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Weise verlassen konnte. Vielmehr war er dieser Personengruppe gegenüber als Patron, Verwandter oder Freund verpflichtet. Sein Familienverband, seine Klientel und ihm nahestehende Hochadlige erwarteten vom GünstlingMinister, Ämter, Titel und materielle Vergünstigungen zu erhalten. Diesen Erwartungen Folge zu leisten, war seine soziale Pflicht, der er Genüge tun mußte, um sein Beziehungskapital zu erhalten und auszubauen. Damit wurde er aber auch angreifbar, denn idealerweise sollte der König die wichtigsten Hof- und Regierungsämter den Vertretern des Hochadels zukommen lassen, ohne Rücksicht auf deren faktionelle Zugehörigkeit oder personale Bindungen an mächtige Patrone. Der Herrscher als gerechter Richter sollte sich bei der Ämtervergabe unparteiisch verhalten, allein am Kriterium der Dienstbereitschaft seiner hochadligen Vasallen orientiert. Diese Vorstellung kollidierte freilich mit der oben beschriebenen Notwendigkeit, daß der Günstling-Minister mit Personen seines Vertrauens regieren mußte. Er hatte folglich eine Reihe von durchaus widersprüchlichen Rollen parallel zu erfüllen; Defizite bei ihrer Erfüllung würden unweigerlich seine Legitimation in der entsprechenden Rolle beschädigen.29 Die Legitimation des Günstling-Ministers anzugreifen gelang auf besonders effektive Weise über Vorwürfe, die sich auf korrupte Praktiken bezogen. Bereits wenige Jahre nach dem Beginn seiner Günstlingsherrschaft wurde Lerma dafür kritisiert, daß er sich auf Kosten der Krone bereichere und daß er seine Verwandten und Klienten einseitig begünstige. Tatsächlich hatte der Günstling-Minister binnen weniger Jahre das Personal bei Hof und teilweise auch in den Ratsgremien der Krone ausgewechselt. Seine Verwandten wurden mit Hof- und Regierungsämtern, darunter einträglichen Vizekönigsposten, ebenso bedacht wie mit materiellen und symbolischen Ressourcen der Krone.30 Auch kirchliche Würden vermochte Lerma seinen Verwandten zu vermitteln, denn die Krone konnte über deren Besetzung entscheiden. Am meisten profitierte davon sein Onkel zweiten Grades Bernardo de Rojas y Sandoval; er wurde 1599 zum Erzbischof von Toledo ernannt und verfügte 29

von Thiessen, Herrschen (wie Anm. 25). Ein eindrückliches Beispiel für Lermas Förderung der Verwandtschaft stellen die Condes de Lemos dar: Sie waren über die Heirat des Fernando Ruiz de Castro y Portugal, Conde de Lemos († 1601) mit Lermas Schwester Catalina mit dem Günstling-Minister verbunden. Lermas Schwager profitierte von dieser Verwandtschaftsverbindung bereits unmittelbar nach Beginn der Regierung Philipps III.: Er erhielt noch 1598 das Amt eines Vizekönigs in Neapel. Nach seinem Tod übernahm sein jüngerer Sohn Francisco, Conde de Castro den Posten interimistisch für einige Monate. Einige Jahre später, im Jahr 1609, sollte Lerma schließlich auch dessen älteren Bruder Pedro, Conde de Lemos zu diesem Amt verhelfen. Die eingangs erwähnte Schwester Lermas hingegen erhielt nach ihrer Rückkehr nach Spanien ein sehr bedeutendes Hofamt: Ihr Bruder setzte sie als Camarera Mayor der Königin Margarita ein, die aus dem österreichischen Zweig der Habsburger stammte. In diesem Amt löste sie die verstorbene Frau Lermas ab. von Thiessen, Herrschen (wie Anm. 25), 188. 30

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damit über die reichste Pfründe der Christenheit.31 Ergänzt und erweitert wurde das verwandtschaftliche Netzwerk des Günstling-Ministers durch Einheiraten der Kinder Lermas in die Spitzen des kastilischen Hochadels.32 Eine derart einseitige Begünstigung der Verwandten eines Favoriten hatte es vorher nicht gegeben – nicht geben können, weil Philipp II. seinen Günstlingen nie einen derart großen Spielraum bei Personalentscheidungen erlaubt hatte. Auch wenn Lermas Netzwerk – vor allem durch seine Heiratspolitik – einen relativ großen Umfang aufwies, hatte dennoch ein großer Teil des Hochadels nur eingeschränkten Zugang zu den Ressourcen der Krone. Nicht nur aus diesem Kreis, sondern auch aus der königlichen Familie selbst erwuchs Opposition gegen die Personalpolitik des valido. Vor allem die Königin sah sich zunehmend von Lerma umstellt; wiederholt hatten ihr ergebene Hofdamen Madrid verlassen müssen und waren durch Klientinnen oder Verwandte des Günstling-Ministers ersetzt worden.33 Auch hatte sie ihren Kandidaten für das Erzbistum Toledo, ihren Bruder Leopold, nicht gegen Lermas Onkel durchzusetzen vermocht.34 Derart vom Günstling des Königs zurückgesetzt und zudem in Sorge um die Kronfinanzen, wurde Königin Margarita zum gefährlichsten Gegner Lermas bei Hof. Ihre Kritik am valido setzte an zwei Punkten an, die beide in den Bereich der Korruption fielen: Sie warf ihm zum einen vor, die Krone zugunsten seines Verwandtschaftsverbandes auszuplündern, und konfrontierte ihn im Oktober 1606 mit dem Vorwurf, die aktuelle Krise der Kronfinanzen verschuldet zu haben.35 Dem König gab sie zu verstehen, daß sein Festhalten an Lerma die Krone ruiniere.36 Die Königin nutzte damit geschickt die seit dem Ausbleiben der Silberflotte im Jahr 1605 schwelende Finanzkrise der Monarchie aus.37 Allerdings ließ sich Philipp III. auf diese Weise nicht dazu bewegen, den Einfluß seines Günstling-Ministers zu beschneiden. Da Lerma an Stelle und 31

Hillard von Thiessen, Familienbande und Kreaturenlohn. Der (Kardinal-)Herzog von Lerma und die Kronkardinäle Philipps III. von Spanien, in: Karsten (Hrsg.), Jagd (wie Anm. 16), 105−125, hier 107ff. 32 Zum Aufbau dieses verwandtschaftlichen Netzwerks und zur Begünstigung seiner Angehörigen siehe: von Thiessen, Herrschen (wie Anm. 25), 187ff. 33 Die Königin verfügte über einen eigenen, von dem des Königs getrennten Haushalt. Vgl. Feros, Kingship (wie Anm. 25), 95. 34 Feros, Kingship (wie Anm. 25), 95ff.; María Jesús Pérez Martín, Margarita de Austria, Reina de España. Madrid 1961, 36, 99f., 102f. und 117; Sánchez, Empress (wie Anm. 25). 35 Über diese Vorgänge berichtete beispielsweise der päpstliche Nuntius in Madrid, Giangarzia Millini, nach Rom: Archivio Segreto Vaticano (künftig: ASV), Fondo Borghese II 272, fol. 58r–59r (Millini an Kardinalnepot Scipione Borghese, 19. 10. 1606). 36 Laut Millini beklagte sich die Königin zudem im Juni 1607 über die Kosten einer Reise, die der König zu dieser Zeit unternehmen wollte, um den vom Hof abwesenden Lerma zu besuchen. Wiederum verwendete sie das Argumentationsmuster vom Oktober 1606, daß Philipp III. die Krone ruiniere, wenn er an seinem Günstling festhalte: ASV, Fondo Borghese II 273, fol. 393r/v (Millini an Borghese, 28. 6. 1607). 37 Williams, Favourite (wie Anm. 25), 134f.

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im Auftrag des Königs handelte, bestand die Gefahr, daß der König Kritik an seinem valido auf sich beziehen würde. Die Königin wählte daher einen anderen Weg, der die Stellung Lermas effektiver delegitimierte: Sie zielte auf die Günstlinge des Günstlings. Lerma griff für die alltägliche Verwaltungsarbeit auf Vertraute niederadliger Herkunft zurück. Sie ermöglichten ihm, sich weitgehend vom politischen Tagesgeschäft fernzuhalten und statt dessen beständig in der Umgebung des Königs zu sein. Diese Personengruppe anzugreifen brachte einen entscheidenden Vorteil mit sich: Direkte Attacken auf den Günstling-Minister brachten auch dessen gesamten Verwandtschaftsverband auf. Die „Kreaturen“ (hechuras) Lermas der Korruption zu bezichtigen hatte hingegen einen ganz anderen Effekt: Dieser Personenkreis hatte bei der hochadligen Verwandtschaft des Günstling-Ministers einen ausnehmend schlechten Ruf. Denn Lerma war nicht nur seiner Verwandtschaft, sondern auch seinen Kreaturen gegenüber verpflichtet, sie an den Ressourcen, über die er verfügte, im Sinn des do ut des teilhaben zu lassen. Sie dienten ihm treu in der Verwaltung, weil er seiner Rolle als Patron entsprach und ihnen Güter, Pensionen und Titel zukommen ließ. Lermas Verwandtschaft sah sich also in einer Konkurrenzsituation zu sozialen Aufsteigern um die Ressourcen der Krone. Die Aufsteiger waren der alt-hochadligen Verwandtschaft des valido um so verhaßter, als sich ihr sozialer und materieller Aufstieg in rasantem Tempo vollzog und damit als illegitim wahrgenommen wurde. Das galt besonders für Pedro Franqueza, der dem späteren Duque de Lerma 1595 bis 1597 als Sekretär gedient hatte, während dieser Vizekönig in Valencia war. Franqueza erwarb das Vertrauen seines Herrn, der ihn 1598 mit dem Staatssekretariat betraute. Neben weiteren Ämtern sorgte der valido dafür, daß Franqueza binnen weniger Jahre mittels materieller und symbolischer Gnaden der Krone in den Hochadel aufsteigen konnte; seit 1602 trug er den Titel Conde de Villalonga und erfreute sich mehrerer Pensionen sowie der Mitgliedschaft und einer Kommende des Montesa-Ritterordens.38 Der Aufstieg vom Nieder- in den Hochadel als Auszeichnung für den Dienst an der Krone war im frühneuzeitlichen Spanien kein ungewöhnlicher Vorgang; auch dort zeichnete sich die Ständegesellschaft durch eine gewisse Mobilität aus. Doch der Umfang, in dem Franqueza mit königlichen Gnaden überschüttet wurde, und die Geschwindigkeit, mit der er in den Hochadel aufstieg, waren mit den auf Bewahrung angelegten Werten der ständischen Gesellschaft nicht mehr vereinbar. Franqueza wurde zum Symbol für ein aus den Fugen geratenes politisches System, in dem nicht mehr Bewährung im 38 Zu Franquezas Aufstieg: José Antonio Escudero, Los secretarios de Estado y del Despacho (1474−1724). Vol. 1. Madrid 1969, 227f.; Julián Juderías, Los favoritos de Felipe III. Don Pedro Franqueza, Conde de Villalonga, secretario de estado, in: Revista de Archivos, Bibliotecas y Museos 19, 1908, 309−327; 20, 1909, 16−27 u. 223−240; Sánchez, Empress (wie Anm. 25), 31f.

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Krondienst, sondern allein die Nähe zum valido zählte und in dem Bereicherung auf Kosten des Gemeinguts zur Regel zu werden schien. Lermas Kreaturen, so schien es, hatten einen Freibrief, Kronressourcen zusammenzuraffen. Dies wog um so schwerer, als nach allgemeiner Vorstellung finanzielle und symbolische Güter nur in begrenzter Menge vorhanden waren. Verteilte die Krone Ressourcen zu einseitig, konnte dies in einer derart begrenzten Ökonomie nur auf Kosten anderer gehen.39 Franqueza tat im Grunde nichts anderes als andere Aufsteiger: Er erwarb über seinen Patron so viele Ressourcen als möglich, die verschiedenen Zwecken dienten. Zum einen bekräftigte er seinen neuerworbenen hochadligen Stand durch Statuskonsum, zum anderen erwarb er Feudalgüter, damit er und seine Nachfahren standesgemäß leben konnten. Außerdem verwendete er seinen Reichtum dazu, um seinen Verwandten und Klienten den Anteil daran zu gewähren, der ihnen nach den Regeln der Patronage zustand. Was an weniger exponierter Stelle vermutlich Franquezas soziale Stellung stabilisiert hätte, wirkte in seiner Lage vollkommen kontraproduktiv und lud die negative Symbolwirkung seines Aufstiegs nur noch weiter auf. Die Rollenbalance zwischen Krondienst und Familien- und Klientenförderung vermochte Franqueza in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen praktisch vom Beginn seines Aufstiegs an nicht zu leisten. Selbst die nächsten Verwandten Lermas werteten die Begünstigung dieses Klienten als illegitim. Außerhalb des Lerma-Clans war die Wirkung nicht minder verheerend. Der venezianische Botschafter Contarini meinte, man könne mit Franqueza nicht mittels Sachargumenten verhandeln, weil dieser sich ohnehin nur von Bestechungsgeldern beeindrucken lasse.40 In der Person Franquezas vereinten sich die verschiedenen Konnotationen von Korruption: Auf ihn schien nicht nur der Korruptionsbegriff im engeren Sinne zuzutreffen – die Bereicherung auf Kosten des Gemeinguts –, sondern sein Aufstieg und sein ostentativer Statuskonsum galten auch als Symptom für die Krankheit des politischen Körpers.41 39

Allgemein zur Mobilität in der Ständegesellschaft: Winfried Schulze, Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als Problem von Statik und Dynamik, in: ders. (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und Mobilität. München 1988, 1−17. Zum spanischen Adel vgl. I. A. A. Thompson, The Nobility in Spain, 1600–1800, in: Hamish M. Scott (Ed.), The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Vol. 1. NewYork/ London 1995, 174−236; Bartolomé Yun Casalilla, The Castilian Aristocracy in the Seventeenth Century: Crisis, Refeudalisation, or Political Offensive?, in: I. A. A. Thompson/ Bartolomé Yun Casalilla (Eds.), The Castilian Crisis of the Seventeenth Century. New Perspectives on the Economic and Social History of Seventeenth-Century Spain. Cambridge 1994, 277−300. 40 Sánchez, Empress (wie Anm. 25), 32. 41 In aristotelischer Tradition sah man Korruption im weiteren Sinne als „the triumph of vice, passion and excess over virtue, reason and the golden mean“: Waquet, Corruption (wie Anm. 2), 87.

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Vermutlich veranlaßt durch die Königin und den Beichtvater Philipps III., Diego Mardones, erfolgte am 26. Dezember 1606 die Verhaftung von Alonso Ramírez de Prado, eines engen Vertrauten Franquezas, der auch zu den Klienten Lermas zu zählen war. Ramírez de Prado war Mitglied der Junta del Desempeño, deren Aufgabe es war, die Finanzkrise der Krone zu lösen. Zusammen mit Franqueza hatte er in diesem Gremium eine führende Stellung innegehabt; beide nutzten diese dazu, sich in erheblichem Umfang zu bereichern.42 Mit den Untersuchungen gegen Ramírez de Prado betraute der König Fernando Carillo, ein Mitglied des Kastilienrates, der die allgemeine Stimmung gegen die Kreaturen Lermas dazu nutzte, am 19. Januar 1607 auch Franqueza selbst festzusetzen.43 Daß der König zustimmte, daß Personen aus dem nächsten Umkreis seines Günstling-Ministers verhaftet wurden, überraschte viele Zeitgenossen.44 Indes war dem König schon seit dem Winter 1605/06 deutlich geworden, daß die Finanzkrise die Monarchie gefährdete. Der Präsident des Finanzrats, Juan de Acuña, hatte den Monarchen wiederholt auf die schwierige Lage nach dem Ausbleiben der Silberflotte hingewiesen. Der Beichtvater Mardones und die Königin selbst sekundierten ihn und kritisierten Franqueza öffentlich. Diese Vorgänge wurden als Schwäche Lermas gewertet. Tatsächlich hatte der Günstling-Minister es nie vermocht, sämtliche Ratsgremien vollständig mit seinen Klienten und Verwandten zu besetzen. Im Staatsrat, dessen Mitglieder auf Lebenszeit ernannt wurden, saßen gar erklärte Gegner des Günstling-Ministers.45 Der jeweilige Beichtvater Philipps III. schließlich bildete ebenfalls einen Anlaufpunkt für Gegner Lermas, denn er war einer der wenigen, die ungehinderten Zugang zum König genossen. Als Gewissensführer des Königs sah er sich zudem veranlaßt, diesen im Interesse seines Seelenheils auf die Wahrung des Gemeinen Besten zu verpflichten.46 In die42 Unter anderem führten sie Verhandlungen mit Bankiers, schlossen Kontrakte für die Krone und überwachten den Einzug der Steuern. Die Möglichkeiten der Bereicherung waren für Mitglieder der Junta del Desempeño nahezu grenzenlos. Vgl. Williams, Favourite (wie Anm. 25), 121. 43 Zu diesen Vorgängen: Juderías, Favoritos (wie Anm. 38), 23ff. u. 223ff.; Williams, Favourite (wie Anm. 25), 137f. 44 Vgl. die Wertung von Nuntius Millini, der am 26. 12. 1606 über die Verhaftung von Ramírez de Prado als caso di gran considerazione berichtet und bereits andeutet, daß auch Franqueza in dieser Sache Schaden erleiden könnte: ASV, Fondo Borghese II 271, fol. 438r (Millini an Borghese, 26. 12. 1606). 45 Die Eigenständigkeit des Staatsrats betont vor allem: Paul C. Allen, Philip III and the Pax Hispanica, 1598−1621. The Failure of Grand Strategy. New Haven 2000, 9. 46 Zu den Beichtvätern am Hof der Katholischen Könige: Carlos Javier de Carlos Morales, La participación en el gobierno a través de la conciencia regia. Fray Diego de Chaves, O. P., confesor de Felipe II, in: Flavio Rurale (Ed.), I Religiosi a Corte. Teologia, politica e diplomazia in antico regime. Atti del seminario di studi Georgetown University a Villa „Le Balze“ Fiesole, 20 ottobre 1995. Rom 1998, 131−157; Bernardo José García García, Fray Luis de Aliaga y la conciencia del Rey, in: ebd. 159−194. Allgemein zur Bedeutung

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ser Funktion wies er wiederholt auf Exzesse Lermas und seiner Verwandten und Klienten hin und verschärfte diese Kritik im Verlauf des Jahres 1606. Somit hatten verschiedene Gegner Lermas den Boden dafür bereitet, daß das Herrschaftssystem des Günstling-Ministers an seiner legitimatorischen Schwachstelle getroffen wurde, den Klienten niederadliger Herkunft. Der Untersuchungsrichter Carillo ließ Franquezas Einkommen und seinen Besitz inventarisieren, um das Ausmaß illegitimer Bereicherung zu ermitteln.47 Das Hauptproblem des Prozesses bestand darin, daß der Reichtum und der soziale Aufstieg Franquezas überwiegend auf „Gnaden“ des Königs basierten; diese anzunehmen war aber keineswegs illegal gewesen, es sei denn, man wollte die Rolle des Königs als Quell aller Gnaden in Frage stellen. Die Untersuchungen konzentrierten sich daher auf Verfehlungen Franquezas im Amt; insbesondere wurde ihm Bestechlichkeit vorgeworfen. So habe er in großem Umfang mit Ämtern und Titeln der Krone Handel getrieben. Großes Interesse zeigte der Untersuchungsrichter auch an Geschenken auswärtiger Fürsten an Franqueza. Mittels dieser Gaben konnte dem Beschuldigten einerseits Verrat an der Krone vorgeworfen werden; andererseits konnte die Aufmerksamkeit von den zahlreichen Gaben Philipps III. an Franqueza weggelenkt werden. Erst Ende 1609 erfolgte seine Verurteilung: er wurde aller seiner Titel für verlustig erklärt, und ein großer Teil seines Landbesitzes wurde eingezogen; außerdem hatte er der Krone die enorme Summe von 1 400 000 Dukaten zu zahlen.48 Die Vorwürfe gegen Franqueza waren überwiegend ambivalenter Natur: Letztlich wurden ihm Verbrechen vorgehalten, die auch als normales Verhalten im Amt gewertet werden konnten. Daß Amtsträger in der zentralen Verwaltung Geschenke auswärtiger Fürsten beziehungsweise von deren Gesandten annahmen, war übliche Praxis und innerhalb eines allerdings nicht definierten Rahmens erlaubt. Selbst die Geldzahlungen, die Gesandte Amtsträgern zukommen ließen, um bestimmte Anliegen durchzusetzen oder auch einfach nur die Absendung einer Depesche zu beschleunigen, konnten ebenso als Verehrungen in Anerkennung der Amtsperson gewertet werden wie als Bestechung. Die Vermittlung von Ämtern und Titeln gegen Gefälligkeiten oder Geldzahlungen war ebenfalls als Teil des do ut des zwischen dem Patron (der eine Ressource weitergab) und dem Klienten (der sich für diese Gabe erkenntlich zeigte) interpretierbar. Franqueza hatte allerdings nach allgemeiner Auffassung im Umfang der Bereicherung deutlich übertrieben. von Beichtvätern im Ancien Régime: Flavio Rurale, Il confessore e il governatore: teologi e moralisti tra casi di coscienza e questioni politiche, in: Elena Brambilla/Giovanni Muto (Eds.), La Lombardia spagnola. Nuovi indirizzi di ricerca. Jornadas de estudio celebrados en Milán, Septiembre de 1995. Mailand 1997, 343−370. 47 Der im folgenden geschilderte Prozeß wird detailliert beschrieben in: Juderías, Favoritos (wie Anm. 38), 223ff. 48 Ebd. 235ff.

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Sein Prozeß diente dazu, darüber hinaus das ganze Herrschaftssystem Lermas als eine Art parasitäre Krankheit des politischen Körpers darzustellen, ohne den Vertrauten des Königs selbst vor den Richter zitieren zu müssen. Lerma selbst verstand die Vorwürfe gegen Franqueza und andere durchaus als Angriff auf sich selbst. Wie gefährdet seine eigene Stellung war, zeigte sich im Mai 1607, als der zweite berüchtigte Klient des Günstling-Ministers, Rodrigo Calderón49, verhaftet und ihm ähnlich wie Franqueza zur Last gelegt wurde, daß er das Vertrauen des Königs mißbraucht habe. Philipp III. ordnete eine Untersuchung dieses Falles an, doch Lerma, zunehmend selbst bedroht, griff nun in das Verfahren ein, indem er selbst den König bat, das Verfahren gegen Calderón einzustellen. Sein Einfluß auf den König war noch groß genug, um zu erreichen, daß dieser den Angeklagten am 7. Juni 1607 für unschuldig erklärte. Lerma insistierte nichtsdestotrotz in den folgenden Monaten darauf, sich aus der Welt zurückzuziehen und in ein Hieronymitenkloster einzutreten. Mit diesem Verhalten kehrte er die Schuldlast gewissermaßen um: Er folgte mit den Rückzugsabsichten dem Lebensmodell des der Verderbtheit der Welt überdrüssig gewordenen Spätberufenen, der, um Frieden vor ungerechten Nachstellungen zu finden, nunmehr ein kontemplatives Leben als Ordensmann zu führen gedenke. Vor allem setzte er auf diese Weise den König unter Druck, durch ostentative Gnadengewährungen offenbar zu machen, daß er in dessen Gunst nicht gesunken war.50 Tatsächlich vermochte Lerma auf diese Weise die Gunst des Königs zu erhalten und die Krise seines valimiento zu überwinden. Sie blieb aber dennoch ein einschneidendes Ereignis mit langfristiger Wirkung: Im folgenden Jahr kursierten Flugschriften, die Lerma und seinen Sohn, den Duque de Cea, als Diebe am Krongut bezeichneten.51 Die zweite Hälfte der Zeit Lermas als Günstling an der Seite Philipps III. zeichnete sich durch eine permanent schwelende Legitimitätskrise der Stellung des Günstling-Ministers aus. Das Musterbild des gierigen valido, der seine Verwandten und Klienten auf 49 Calderón war bereits 1589 als Diener zum späteren Duque de Lerma gestoßen. Ähnlich wie Franqueza erhielt er ab 1598 zahlreiche Ämter und Vergünstigungen. Nach dem Sturz Franquezas übernahm er dessen Funktion als Überwacher der Verwaltung. Später als Franqueza verschaffte ihm Lerma auch den Aufstieg in den Hochadel: 1613 ernannte ihn Philipp III. zum Conde de la Oliva, ein Jahr später auch zum Marqués de Siete Iglesias. Calderóns soziale Herkunft entsprach der Franquezas; er war somit im Hochadel ebenso verhaßt. 1611 wurde er beschuldigt, die Königin vergiftet zu haben und mußte für einige Zeit den Hof verlassen. Lerma gelang es jedoch, ihn wieder zurückzuholen. Zu Calderón: Feros, Kingship (wie Anm. 25), 95; Julián Juderías, Un proceso político en tiempo de Felipe III. Don Rodrígo de Calderón, Marqués de Siete Iglesias. Su vida, su proceso y su muerte, in: Revista de Archivos, Bibliotecas y Museos 13, 1905, 334−365 u. 14, 1906, 1−31, hier 336ff.; Sánchez, Empress (wie Anm. 25), 33f. 50 Zu Lermas Melancholien als Mittel, die Gunst des Königs zu erhalten: Sánchez, Empress (wie Anm. 25), 6; von Thiessen, Patronage (wie Anm. 12). 51 Williams, Favourite (wie Anm. 25), 150f.

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Kosten der Krone begünstigte, blieb erhalten und konnte in politischen Krisensituationen stets aufs Neue gegen ihn vorgebracht werden. Ein zentrales Problem war, daß Lerma ein genuin politisches Projekt für die spanische Monarchie fehlte, das diesem Eindruck entgegenwirken konnte. Statt dessen wurde er als ein Günstling wahrgenommen, dessen Programm sich in der Bereicherung der Seinen erschöpfte. Seine auf Ausgleich mit den gegnerischen Mächten und Besitzstandswahrung ausgelegte Außenpolitik wurde von seinen Gegnern im Staatsrat als Schwäche und der 1609 geschlossene Waffenstillstand in den Niederlanden als Gefahr für die Reputation der spanischen Monarchie angesehen. Als der Marqués de Hinojosa, Gouverneur in Mailand und ein Klient Lermas, 1615 den Krieg mit dem Herzog von Savoyen mit einem Friedensabkommen beendete, der im wesentlichen den Status quo ante erhielt, gelang es Lermas Gegnern wiederum, das bewährte Musterbild zu aktivieren: Sie zwangen Lerma, sich von seinem als unfähig gebrandmarkten Klienten zu distanzieren und erreichten, daß dieser den Vertrag widerrufen mußte. Anschließend wurde er abberufen und eine Untersuchung gegen seine Amtsführung eingeleitet; zu seinem Nachfolger bestimmte der König Pedro Álvarez de Toledo, Conde de Villalonga, welcher zu den Gegnern Lermas und den Befürwortern einer aktivistischen Außenpolitik gehörte. Am Ende stand der Eindruck, Lerma sei gezwungen worden, eine seiner zahlreichen unfähigen und korrupten Kreaturen fallen zu lassen. Seine Ausgleichspolitik wurde als Resultat seiner korrupten Praktiken gesehen, welche die Kraft der Monarchie zunehmend aushöhlten. Lermas Sturz im Oktober 1618 ist allerdings in erster Linie nicht auf Korruptionsvorwürfe, sondern auf das Auseinanderbrechen seines Familienverbandes in rivalisierende Teilgruppen zurückzuführen. Doch war seine Vertrauensstellung bei Philipp III. auch deshalb unterhöhlt worden, weil der König Teile der Verwandtschaft und Klientel als Folge der gegen sie gerichteten Korruptionsvorwürfe mit zunehmendem Widerwillen betrachtete.52 Die Delegitimierung allzu ostentativer Verwandtenförderung wirkte zudem noch über den Sturz Lermas nach. Das bedeutete allerdings keineswegs, daß sich unter dem valido Philipps IV., dem Conde-Duque de Olivares, die Herrschaftsmittel grundsätzlich ändern würden. Olivares sah sich allerdings veranlaßt, sein valimiento dadurch zu legitimieren und zu stabilisieren, daß er es mit einem politischen Projekt verband: Er gehörte jenem Netzwerk an, das bereits unter Lerma eine aktivistischere Außenpolitik gefordert hatte. Die ersten Regierungsjahre des neuen Königs Philipps IV. und das valimiento seines Günstling-Ministers Olivares läßt sich bis zu einem gewissen Grad als ein Gegenmodell zu Lermas System verstehen: Eine aggressive, auf Steigerung der Reputation der Monarchie bedachte Außenpolitik wurde mit 52

Zu diesen Vorgängen: von Thiessen, Herrschen (wie Anm. 25), 191ff.

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einer breit angelegten inneren Reformpolitik, der Reduktion der Kosten der Hofhaltung und einer weniger ostentativen Verwandten- und Klientenförderung verbunden. Dennoch war mit der Thronfolge in erster Linie ein Verwandtschaftsverband – die Sandoval – von einem anderen – den Gúzman und Zúñiga – abgelöst worden. Das sollte sich alsbald an den Personalentscheidungen des Königs beziehungsweise seines valido zeigen.53 Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Günstling-Ministern lag nicht in der Art des Herrschens mittels personaler Netzwerke und der Vermittlung von Kronressourcen an die eigene Klientel. Olivares hatte aber aus dem Niedergang des Herrschaftssystems Lermas gelernt, daß er nicht den Eindruck erwecken durfte, seine Stellung allein für seine Klientel und seine Verwandten zu nutzen.54 Der Eindruck, seine Korruption schwäche die Monarchie, hatte Lermas System delegitimiert. Diese Delegitimation beschränkte sich aber weitgehend auf die Person Lermas beziehungsweise seinen Verwandtschaftsverband. Weder griffen die Gegner Lermas die Monarchie an und für sich an (bestenfalls beklagten sie die Passivität Philipps III.), noch erschien ihnen die vollkommene Aufgabe der gruppenbezogenen Verpflichtungen des valido praktikabel. Zur Monarchie sahen die Spanier des 17. Jahrhunderts offenkundig, so zeigt ihr Korruptionsdiskurs, keine Alternative.

III. In dieser Hinsicht unterschieden sich die englischen Korruptionsdebatten im frühen 17. Jahrhundert deutlich von denen in Spanien. Ihr Ausgangspunkt ist aber vergleichbar: Ähnlich wie im Falle Lermas galt das Herrschaftssystem des Duke of Buckingham vielen Zeitgenossen – und darüber hinaus auch vielen späteren Historikern55 – als korrupt. Mehr noch als im Fall Lermas richtete sich die Kritik an diesen Zuständen direkt gegen den Günstling-Minister. George Villiers’ Aufstieg – er war anders als Lerma nicht hochadliger Her53 John Huxtable Elliott, The Count-Duke of Olivares. The Statesman in an Age of Decline. New Haven 1986; Henry Kamen, Spain 1469−1714. A Society of Conflict. London/ New York 1983, 202. 54 Was keinesfalls bedeutet, daß Olivares in seinen politischen Projekten erfolgreich war: Sein Versuch, die Monarchie grundlegend von innen zu reformieren und unter Abschaffung der spezifischen Privilegien der einzelnen Teilkönigreiche zu zentralisieren, scheiterte ebenso wie seine aggressive Außenpolitik. Vgl. Elliott, Count-Duke (wie Anm. 53). 55 Die These, daß mit Buckingham die Korruption in der englischen Verwaltung und im Justizwesen überhand genommen habe, vertritt noch: John H. Barcroft, Carleton and Buckingham: The Quest for Office, in: H. S. Reinmuth (Ed.), Early Stuart Studies. Essays in Honour of David Harris Wilson. Minneapolis 1970, 122−136. Dagegen wertet die jüngere Forschung Buckinghams Patronage als zeitübliche und funktionale Herrschaftstechnik: Vgl. hierzu Robert Hill/Roger Lockyer‚ Carleton and Buckingham: The Quest for Office Revisited, in: History 88, 2003, 17−31.

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kunft – machte ihn auch in den Augen der älteren Historiographie zum „archetypal parasite on royal generosity“.56 Seine mindere Herkunft war ein entscheidendes legitimatorisches Manko. Sie trug dazu bei, daß er in weiten Teilen der englischen Gesellschaft zu einer Haßfigur wurde, vergleichbar am ehesten mit Pedro Franqueza oder Rodrígo Calderón, aber weniger mit seinem eigentlichen Pendant, dem Duque de Lerma. Dabei beschränkten sich die Vorwürfe der Zeitgenossen nicht auf Bereicherung, sondern er wurde gleichsam zu einem Fixpunkt ihrer Hofkritik und ihrer politisch-konfessionellen Ängste: „Buckingham was a ‚monster‘, an oppressor of the people, a perverter of justice and [...] the traitor who plotted to smuggle foreign idol worship into England’s Israel. Onto Buckingham were projected widespread anxieties about popery and misgovernment, effeminacy, degeneracy and political and military decay.“57

Wie in Spanien, so galt auch in England der König im frühen 17. Jahrhundert als Gnadenquell. Seit dem Spätmittelalter hatte die englische Krone ihre Patronageressourcen gezielt ausgebaut. Mittels Patronage sicherte sie sich die Loyalität des Adels in den Provinzen und die Treue ihrer Untertanen. Wie der spanische, so mußte auch der englische König als Patron Ressourcen verteilen; damit erfüllte er die fürstliche Tugend der Freigebigkeit. Königliche Patronage war außerdem – wiederum ganz ähnlich wie im spanischen Fall – vor allem ab dem 16. Jahrhundert ein Mittel, den Adel an den Hof zu ziehen und die Loyalität der Verwaltung sicherzustellen. Patronage strukturierte die Sozialbeziehungen in der englischen Gesellschaft und war das entscheidende Bindemittel zwischen Krone, Elite und Untertanen. Der höfische Hochadel vermittelte seinen niederadligen Klienten auf dem Land, der gentry, königliche Patronageressourcen. Dafür fungierte die gentry in den Provinzen als Vertreterin der Krone und der hochadligen Patrone.58

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G. E. Aylmer, Buckingham as an Administrative Reformer?, in: English Historical Review 105, 1990, 355−362, hier 362. Ein Beispiel für die negative Wertung von Buckinghams Patronage durch die ältere Forschung findet sich auch in der Überblicksdarstellung von Godfrey Davis: Buckinghams „pride could not endure the presence at court of any who did not owe their advancement to his influence“. Godfrey Davis, The Early Stuarts 1603−1660. Oxford 1937, 21. 57 Alastair Bellany, ‚The Brightness of the Noble Lieutenants Action‘: An Intellectual Ponders Buckingham’s Assassination, in: English Historical Review 118, 2003, 1242−1263, hier 1260f. 58 Felicity Heal/Clive Holmes, The Gentry in England and Wales, 1500−1700. Basingstoke 1994, 192; Linda Levy Peck, Court Patronage and Government Policy: The Jacobean Dilemma, in: Guy Fitch Little/Stephen Orgle (Eds.), Patronage in the Renaissance. Princeton 1981, 27−46. Der lange Zeit von der Historiographie postulierte Gegensatz zwischen Court und Country ist nach Derek Hirst zu früh angesetzt worden: Noch bis Ende der 1620er Jahre hätten Unterhausabgeordnete und lokale Adelsvertreter PatronKlient-Beziehungen zur Krone unterhalten: Derek Hirst, Court, Country and Politics before 1629; in: Kevin Sharpe (Ed.), Faction and Parliament: Essays on Early Stuart History. Oxford 1978, 105−137.

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Unter den Stuarts gelang auch am englischen Hof einzelnen Günstlingen der Aufstieg in eine ähnlich exklusive Stellung, wie Lerma sie bei Philipp III. genoß. Hatte Elisabeth I. (ähnlich wie Philipp II. von Spanien) noch stets darauf geachtet, daß sich mindestens zwei gegnerische Hoffaktionen in Schach hielten, so setzte mit Jakob I. ein Trend zur Konzentration der Vermittlung königlicher Patronage ein. 1616 wurde sein Favorit Robert Carr, Earl of Somerset (ca. 1590−1645), von George Villiers abgelöst. Der König ernannte ihn 1617 zum Earl, 1619 zum Marquis und 1623 schließlich zum Duke of Buckingham. Mit ihm fand der Aufstieg des Günstling-Ministers in England seinen vorläufigen Höhepunkt. Von 1616 bis zu seiner Ermordung im Jahr 1628 war er der mit Abstand mächtigste Patron am Hof. Neben Buckingham vermochten zwar durchaus auch weitere Patrone des Hochadels ihre Klientel zu halten oder gar auszubauen, ohne aber auch nur ansatzweise den Einfluß des Günstling-Ministers auf die Verteilung von Ämtern und Titeln zu erreichen.59 Insgesamt entstand im englischen Hochadel der Eindruck, daß die Patronage der Krone aus dem Gleichgewicht geraten war. Die Stellung eines hochadligen Patrons beruhte darauf, daß er Ressourcen an seine Klienten vermitteln konnte. Folglich bedeutete die Konzentration der Patronage in den Händen eines übermächtigen Vertrauten des Königs eine Gefahr für Ehre und Status von Teilen des Hochadels.60 Niederadlige Klienten in der Provinz sahen sich mitunter gezwungen, den Patron zu wechseln, um Zugang zu den Ressourcen der Krone zu erhalten oder diesen Zugang auszubauen; Einflußverlust bei Hof brachte also meist auch den Verlust von Klienten mit sich. Fanden Vertreter der gentry keinen neuen Patron und sahen sie sich somit von den Ressourcen der Zentrale abgeschlossen, litt darunter ihre Rolle als Vertreter königlicher Macht in der Provinz.61 Auch im England des frühen 17. Jahrhunderts war Patronage der Weg, über den Kronressourcen über das Land verteilt wurden. Patronage realisierte sich im Aufbau einer do ut des-Gabentauschkette zwischen Klient und Patron.62 Der daraus resultierende Austausch von Geschenken und Gefälligkeiten war ein erlaubtes, ja gefordertes soziales Handlungsmuster, das allerdings – wiederum wie im spanischen Fall – den Ausgeschlossenen und Zukurzgekommenen die Möglichkeit bot, Korruptionsvorwürfe zu lancieren. 59 Zu Buckinghams Aufstieg: Roger Lockyer, The Life and Political Career of George Villiers, First Duke of Buckingham 1592−1628. New York 1981; Graham Parry, The Golden Age Restor’d. The Culture of the Stuart Court, 1603−42. Manchester 1981. 60 „Early Stuart England failed to provide a political and social equilibrium, which would have given those who were out of favour at court an assurance that their social status and honour were not in jeopardy.“ Ronald G. Asch, Nobilities in Transition 1550−1700. Courtiers and Rebels in Britain and Europe. London 2003, 123. 61 Heal/Holmes, Gentry (wie Anm. 58), 190ff.; Hill/Lockyer, Carleton (wie Anm. 55), 18ff. 62 Vgl. Anm. 12.

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Die Krone reagierte auf deren Befürchtungen mit einer Ausweitung der Patronage; so vergab sie in inflationärer Weise immer mehr Titel. Noch unter Jakob I. verdoppelte sich die Zahl der peers und verdreifachten sich die knighthoods. Das Problem der Wahrnehmung einer zu einseitigen Verteilung der königlichen Patronageressourcen wurde auf diese Weise aber nicht gelöst, sondern vielmehr verschärft. Denn es war wiederum Buckingham (wie vor ihm schon Somerset), der nach Auffassung der Zeitgenossen überproportional hiervon profitierte. Die Veränderung der Patronagekanäle zugunsten eines sozialen Aufsteigers und ihre enorme Ausweitung beförderten nur weiter die Ängste der nicht zum Umfeld Buckinghams gehörenden großen Patrone des alten Hofadels, aber auch der gentry. Diese Entwicklung delegitimierte darüber hinaus das ganze Patronagesystem der Krone. Es entstand zunehmend der Eindruck, Ehre und Adel seien zu käuflichen Gütern herabgesunken.63 Die positive Funktion der Patronage – die Bindung von Eliten und Fachkräften an die Krone und ihre Verwaltung – wurde also zunehmend von dysfunktionalen Aspekten überlagert. Diese Wahrnehmung feuerte die Debatte über Korruption an, die in England bereits in der späten elisabethanischen Zeit an Schärfe zugenommen hatte. Um die Ursache der Vorwürfe gegen Buckingham zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der Korruptionsdebatten seit den 1590er Jahren nötig. Bereits in diesem Jahrzehnt warfen Unterhausabgeordnete der Krone vor, durch verschiedene Praktiken für eine generelle Zunahme von Korruption verantwortlich zu sein. Als sich nachfolgend die Beziehungen zwischen Parlament und Krone unter Jakob I. verschlechterten, wurden Korruptionsvorwürfe zu einer Waffe des Parlaments. Wie schon seine Vorgängerin betrachtete Jakob I. das Unterhaus, in dem die gentry dominierte, als eine lästige bis aufrührerische Körperschaft, die ihre Kompetenzen über das Steuerbewilligungsrecht hinaus zu überschreiten pflegte. Umgekehrt sah sich das Unterhaus, beunruhigt durch den Bedeutungsverlust ständischer Mitspracherechte in Kontinentaleuropa, als Garant der englischen Freiheiten, die sich in seinen von der Krone bedrohten Privilegien ausdrückten.64 In dieser Konstellation liegt der entscheidende Unterschied zum spanischen Beispiel: Dort gingen Korruptionsvorwürfe im wesentlichen von denen aus, die sich vom Günstling-Minister übergangen oder bedroht glaubten 63

Nach Beendigung des Bürgerkriegs faßte der Duke of Newcastle diesen Eindruck rückblickend wie folgt zusammen: Unter Jakob I. sei eine Faktion von „meane men“ ohne traditionellen Einfluß aufgestiegen, um Positionen am Hof und königliche Patronage „to Monopolise […] totalye to Themselves“. Zitiert nach Heal/Holmes, Gentry (wie Anm. 58), 192; vgl. auch Linda Levy Peck, Court Patronage and Corruption in Early Stuart England. London/Sydney/Wellington 1990, 11 u. 30. 64 David L. Smith, The Stuart Parliaments 1603−1689. London/New York/Sidney/Auckland 1999, 49ff. u. 101ff.

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und richteten sich nicht gegen das politische System, sondern gegen einzelne Personen und deren als Mißbräuche wahrgenommenen Praktiken. In England hingegen waren die Korruptionsdebatten darüber hinaus auch Teil eines an Schärfe zunehmenden Verfassungskonflikts. Es ging also nicht nur um einen Konflikt zwischen der Krone und Teilen des alten Hochadels, sondern es entwickelte sich eine Auseinandersetzung zwischen dem König beziehungsweise seinem Günstling-Minister und einer Institution, die sich als Verteidiger der Freiheiten der Nation und Wahrer der politischen Ordnung sah. Die Korruptionsdebatten des Parlaments konzentrierten sich ab Ende des 16. Jahrhunderts zunächst vor allem auf die Richterbestechung. Wiederholt debattierte das Unterhaus über neue Antikorruptionsgesetze. In diesem Zusammenhang wurde die Definition von Korruption immer weiter gezogen. Damit gerieten Praktiken der Richter ins Visier der Parlamentarier, die bis dahin als üblich galten und von den Zeitgenossen nicht unbedingt mit Korruption konnotiert worden waren. In England war es – wie auch in vielen anderen europäischen Ländern – üblich, daß Richter Geschenke von den Parteien annahmen. Außerdem bestand ihr Einkommen zu großen Teilen aus Gebühren, welche die Prozeßparteien zu entrichten hatten und welche die Richter direkt einzogen. Zwar mußten englische Richter bereits seit 1344 schwören, keine Geschenke außer Lebensmitteln in geringer Menge anzunehmen, doch war die soziale Praxis eine andere. Erst die Debatten um die Bestechlichkeit und Gier der Richter veränderten das Bild.65 Der neue Korruptionsdiskurs hatte eine durchschlagende Wirkung auf die Wahrnehmung der Justiz in weiten Teilen des Landes. Unter den frühen Stuarts ist eine wachsende Sensibilität gegenüber Bestechung daran zu erkennen, daß Klagen gegen und Beschwerden über Richter und andere Amtsträger massiv zunahmen. Die Krone sah sich gezwungen, zahlreiche Untersuchungen einzuleiten. Tatsächlich existierten schon zu Beginn der Herrschaft Jakobs I. Statuten, die Bestechung ebenso verboten wie den Ämterkauf. Sie verlangten darüber hinaus, daß Ämter nach dem Kriterium der Eignung und nicht als patronaler Gunsterweis zu vergeben waren. Ebenso aber waren die oben genannten richterlichen Praktiken üblich, wurden Kaufämter angeboten und bestimmte mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Patronage die Ämtervergabe. Hieran wurde kein Anstoß genommen, solange nicht der Eindruck entstand, eine kleine Gruppe am Hof versuche, die Patronage zu monopolisieren. Indem die daraus resultierenden Korruptionsvorwürfe die prinzipielle Debatte über die politische Ordnung des Landes befeuerten, sank die Akzeptanz der bis dahin üblichen Normenkonkurrenz. Die Parallelität verschiedener Regelsysteme erschien im Verlauf der Korruptionsdebat65 Wilfried Prest, Judicial Corruption in Early Modern England, in: Past and Present 133, 1991, 67−95.

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ten und der in ihrem Rahmen geforderten strengeren Standards nicht mehr akzeptabel.66 In diesem Zusammenhang hatte der Versuch Jakobs I., die wachsenden Finanzprobleme der Krone über eine Ausweitung des Ämterkaufs und die Vergabe von Monopolen zu lösen, verheerende Folgen für das Ansehen der Monarchie. Denn die Folge war, daß sich die wachsende Sensibilität gegenüber Bestechung und Käuflichkeit nun gegen die Krone selbst richtete, ganz ähnlich wie im Fall der Titelinflation. Die königliche Patronage wurde zunehmend mit Korruption gleichgesetzt und auch so bezeichnet. Korruption – verstanden auch im weiteren Sinne als Verfallserscheinung am politischen Körper – wurde so zum Instrument des Parlaments in der Auseinandersetzung mit der Krone, denn es sah sich als Sachwalter der Reinigung des Gemeinwesens.67 Linda Levy Peck68 hat dargestellt, daß das Parlament sich in dieser Auseinandersetzung ab den 1620er Jahren des Mittels des impeachment besann, um Amtsträger im Dienst der Krone anzuklagen und zu stürzen. Buckingham sah in diesen Korruptionsanklagen zunächst durchaus auch ein Mittel, Rivalen auszuschalten und die Aufmerksamkeit des Parlaments von sich zu lenken. Dies gelang ihm 1624, als er Bestechungsvorwürfe gegen den Lord Treasurer Lionel Cranfield streuen ließ. Der Beschuldigte verlor in der Folge sein Amt und mußte eine hohe Strafe zahlen. Indes hatte Buckingham die Eigendynamik des verschärften Korruptionsdiskurses unterschätzt. Längst ließ sich das Parlament nicht mehr mit den Mitteln der Patronage kontrollieren oder doch wenigstens zähmen. Zwei Jahre später strengte das Unterhaus ein Impeachment-Verfahren gegen Buckingham selbst an. Dieses kann als vorläufiger Höhepunkt der Korruptionsdebatten betrachtet werden. Die Anklagepunkte zielten nicht nur auf Vergehen des Günstling-Ministers, die strafbar waren wie der Verkauf von Ämtern oder die Erpressung von Amtspersonen. Vielmehr wurde auch der König selbst angegriffen: Er habe seinen Favoriten und dessen Verwandtschaft in ungebührlicher Weise mit Titeln überhäuft und in illegaler Weise in den Hochadel erhoben. Außerdem habe er Buckingham in einer Weise mit materiellen Gaben bedacht, daß von einer Zweckentfremdung der Kroneinnahmen gesprochen werden könne. Wiederum findet sich also das Kriterium der Maßlosigkeit. Zwar gab es gegen derlei Vergehen des Monarchen keine Gesetze, aber die Delegitimation königlicher Patronage war doch so weit fortgeschritten, daß John Pym im Parlament erklären konnte, der König habe gegen die suprema lex verstoßen, die salus populi. Das Ansehen des Königs sank also mit dem seines Günstlings. 66

Peck, Court Patronage and Corruption (wie Anm. 63), 10. Ebd. 11. 68 Die beiden folgenden Absätze beruhen im wesentlichen auf: Peck, Court Patronage and Corruption (wie Anm. 63), 185ff. 67

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Buckingham verwies in seiner Verteidigung darauf, daß er den Ämterkauf stets nur auf Anordnung des Königs veranlaßt habe. Auch könne man ihm – Lerma hätte kaum anders geantwortet – seine Vermittlung von Kronressourcen an Verwandte nicht zum Vorwurf machen, denn er habe damit nur jenen Imperativen gruppenbezogenen Rollenverhaltens Genüge getan, die er mit seinen Anklägern teile. Der Vorwurf an das Parlament, hier in scheinheiliger Weise Praktiken anzuklagen, die doch auch die Ankläger vollführten, zielte allerdings ins Leere. Wiederum unterschätzte Buckingham die Wucht, mit der die Korruptionsdebatten moralische Meßlatten verschoben hatten, Linda Levy Peck nennt den Fall des Unterhausabgeordneten Henry Sherfield, der an der Vorbereitung der Anklage gegen Buckingham beteiligt war. In seinen Tagebuchaufzeichnungen finden sich Hinweise auf seine Rezeption der strengeren Bewertung der Geschenkpraxis: Sherfield notierte, daß auch er Geschenke angenommen habe, gerade so, wie man es nun Buckingham vorwerfe. Er reagierte auf diesen Befund aber nicht, indem er seine Vorwürfe gegen den Günstling-Minister abmilderte. Vielmehr stellte er fest, daß er damit Schuld auf sich geladen habe und seine Verfehlungen nunmehr bereue.69 Damit ist einerseits belegt, daß die strengeren Maßstäbe rezipiert wurden und die Akzeptanz von Normenkonkurrenz nachließ. Unter dem Druck der politischen Auseinandersetzung zwischen Krone und Günstling-Minister auf der einen Seite und dem sich als Sachwalter der Nation verstehenden Parlament auf der anderen Seite kam es zu einer normativen Vereindeutlichung: Die mit den sozialen Beziehungen verbundenen Normen wurden in massiver Weise entwertet, als Mißbräuche und Gefahr für das Gemeinwesen wahrgenommen. Dies geschah, obwohl der konkrete definitorische Inhalt des Begriffs Korruption unklar und steter Wandlung ausgesetzt blieb. Das nahm ihm aber nichts von seiner Kraft, vielmehr machte es ihn als politischen Kampfbegriff gegen die Krone und ihre Vertreter um so attraktiver. Seine Wirkung wurde außerdem noch verstärkt, indem er mit konfessionell-religiösen Inhalten aufgeladen wurde. Der Krypto-Katholizismus, der Karl I. ebenso unterstellt wurde wie seinem Günstling Buckingham, wurde mit deren korrupten Praktiken assoziiert. Nach seiner Ermordung griffen Flugschriften Buckingham als katholischen Agenten an.70 In den elf Jahren ab 1629, in denen Karl I. ohne Parlament regierte, wanderte die Korruptionskritik zunehmend auf die Kanzeln ab. Insbesondere puritanische Predigten und Traktate wurden ein Medium der Hof- und Korruptionskritik. Die höfische Kultur, die schlechten Berater des Königs, die Toleranz gegen Katholiken, die Mißachtung des Parlaments, die Erhebung von Steuern, der Verkauf von 69

Ebd. 195. Thomas Cogswell, John Felton, Popular Political Culture, and the Assassination of the Duke of Buckingham, in: Historical Journal 49, 2006, 357−385, hier 369. 70

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Ämtern und eine spanienfreundliche Außenpolitik wurden als Ausdruck von Korruption und damit des politischen Verfalls betrachtet. Die Sprache der Korruption wurde, wie Peck feststellt, zur Sprache der Opposition.71

IV. Das bedeutet allerdings nicht, daß sich die neuen, niedrigeren Meßlatten für die Bewertung von Korruption tatsächlich dauerhaft durchzusetzen vermochten. Der Begriff behielt seine Schlagkraft in den Auseinandersetzungen zwischen dem Long Parliament und der Krone in den 1640er Jahren.72 Auch dürften die Korruptionsdebatten in ihrer delegitimatorischen Wirkung für die Monarchie der Rezeption republikanischer Ideen florentinischer Provenienz förderlich gewesen sein; diese beinhalteten eine klare Trennlinie zwischen öffentlicher Sphäre und Privatinteresse und verlangten, daß das Individuum gemeinwohlorientierten Tugenden folge.73 Gleichwohl überlebten die strengen Maßstäbe den Commonwealth nicht; sie wurden mit der Restauration der Stuarts als extreme Auffassungen radikalprotestantischer Minderheiten marginalisiert. Die Balance zwischen gruppenbezogenen und politisch-gemeinwohlorientierten Normen wurde wieder zum Normalfall. Nichtsdestotrotz blieb England das Land immer wieder aufflammender Korruptionsdebatten. Die Kombination aus konkreten Korruptionsvorwürfen und der Vorstellung, daß Korruption ein Gift sei, das den politischen Körper lähme, hatte im 18. Jahrhundert erneut Konjunktur. Die Vorwürfe richteten sich gegen den Premierminister Robert Walpole (1676−1745) und kamen überwiegend aus der alteingesessenen gentry, der country opposition. Diese sah ihre traditionell starke Stellung als Vertreterin der Krone in der Provinz und die Unabhängigkeit des Unterhauses durch die Patronage Walpoles bedroht. Er verdränge die alteingesessene gentry aus dem Unterhaus, indem er und seine neureichen Anhänger die Wähler durch Geschenke beeinflußten. Hinter der um 1730 in England geführte Debatte um Wahlkorruption stand einerseits ein Verfassungskonflikt (um die Unabhängigkeit des Unterhauses von der Krone). Andererseits reflektierte sie soziopolitische Veränderungen, indem sie die Bedrohung der gentry durch eine neue Mittelschicht thematisierte. Anders als unter den frühen Stuarts gelang es der Opposition diesmal aber nicht, ihre Gegner entscheidend zu schwächen. Diese

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Peck, Court Patronage and Corruption (wie Anm. 63), 206. Ebd. 204. 73 Pauline Croft, Patronage and Corruption, Parliament and Liberty in SeventeenthCentury England, in: Historical Journal 36, 1993, 415−421, hier 417; Harding, Corruption (wie Anm. 21), 49; J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Cambridge 1975. 72

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Korruptionsdebatte war eher der Schmerzensschrei einer absinkenden sozialen Schicht, die nicht mehr in der Lage war, als Vertreterin der Nation wahrgenommen zu werden.74 Ab den 1760er Jahren allerdings änderte sich das Bild erneut: Nun entstand das Musterbild der Old Corruption. Verschiedene reformorientierte Gruppen verstanden unter diesem Begriff „the archaic side of the English state“.75 Konkret wurden darunter staatliche Mißstände verstanden wie die Vergabe von Pensionen, Monopolen und Sinekuren, die nicht sachgerechte Besetzung von Regierungs- und Verwaltungsämtern, Verwandtenbegünstigung und auch wiederum Wahlkorruption. Anders als in den vorigen Debatten über Korruption gelang es den Kritikern nun, sich als Speerspitze des Fortschritts gegen ein in archaischen Strukturen verharrendes Staatswesen darzustellen. Dabei half ihnen, daß der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg wesentlich über diese Kritik am britischen Mutterland legitimiert worden war.76 Damit entwickelten sich die englischen Korruptionsdebatten nun zu einer Auseinandersetzung um die politische Ausgestaltung der Moderne. In dieser zählte nicht mehr die Bewahrung des Althergebrachten oder die Wiedererlangung eines verlorengegangenen Idealzustandes. Vielmehr ging es um die Ausgestaltung des modernen Staates durch Reform und das Abwerfen archaischen Ballasts. Nicht mehr das Ausbalancieren von Normen war unter dieser Maßgabe gefragt, sondern die Reformer forderten – wiederum in republikanisch-florentinischer Tradition – die Einheit von politischen und gruppenbezogenen Rollen mittels persönlicher Integrität und Gemeinwohlorientierung. Anders als die frühneuzeitlichen Korruptionsdebatten, die stets die Wiederherstellung eines als Folge von Degeneration verschwundenen Ursprungszustandes forderten, ging es nun um bewußt angestrebte gesellschaftliche Veränderung, um Fortschritt. Dieser mochte sich nach antiken Vorbildern richten, aber es ging nicht um die Wiederherstellung einer altbewährten soziopolitischen Ordnung, sondern um die Schaffung einer neuen Gesellschaft.77 Das war nie das Ziel frühneuzeitlicher Korruptionsdebatten gewesen – aber mitunter ihre nichtintendierte Wirkung. Die Eigendynamik, welche die englische Debatte entwickelte, zeigt das hohe Veränderungspotential auch frühneuzeitlicher Korruptionsdebatten. Diese Dynamik entwickelte sich al74 Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung, in: Historische Zeitschrift 234, 1982, 33−62. 75 Eckhart Hellmuth, Why Does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Proceedings of the British Academy 100, 1999, 5−23, hier 20. 76 Euben, Corruption (wie Anm. 21), 239; Pocock, Moment (wie Anm. 73). 77 Zu den Debatten um Old Corruption: Engels, Korruption (wie Anm. 4); Hellmuth, Corruption (wie Anm. 75); David Rubinstein, The End of „Old Corruption“ in Britain, 1780−1860, in: Past and Present 101, 1983, 55−63.

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lerdings vor allem aus der besonderen englischen Verfassungssituation heraus. Der Vergleich zwischen den Korruptionsvorwürfen gegen die GünstlingMinister in England und Spanien zeigt das unterschiedliche politische Veränderungspotential der beiden Länder auf. Frühneuzeitliche Korruptionsdebatten können als Gradmesser für die Legitimation politischer Systeme gelten und aufzeigen, inwieweit Alternativen zu ihnen denkbar waren. Sie sind ebenso ein Indikator für die Akzeptanz von Normenkonkurrenz. Eine Sphäre des Politischen, in der nur die gemeinwohlorientierten Normen zu gelten hatten, war im System personaler Herrschaft, in dem soziale wie politische Beziehungen über Patronage reguliert wurden, noch nicht durchsetzbar. Es fehlte den Korruptionsdebatten bis zum 18. Jahrhundert in der Regel der ideologische Charakter, der die Gültigkeit abstrakter politischer Normen gebieterisch vor gruppenbezogene Normen setzte. Wurde die Debatte durch die Vermengung gemeinwohlorientierter Normen mit konfessionellen Verhaltensmaßregeln und politischen Konflikten dennoch gleichsam präideologisch aufgeladen, vermochte sie kurzzeitig eine grundstürzende Wirkung entfalten. Auf lange Sicht allerdings, so zeigt das englische Beispiel, blieben bis weit in das 18. Jahrhundert hinein Normenkonkurrenz und das auf der Wahrung oder Wiedergewinnung des Altbewährten basierende Anciennitätsprinzip für die politische Kultur und den soziopolitischen Alltag bestimmend.

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„Serenissima corrupta“ Geld, Politik und Klientelismus in der späten venezianischen Adelsrepublik Von

Alexander Nützenadel Wer an die Geschichte der späten venezianischen Republik denkt, dem drängt sich das Bild eines maroden und korrupten Staatswesens auf, das nur noch vom Glanz vergangener Jahrhunderte lebte.1 Das ausgedehnte Kolonialreich im Mittelmeer war längst verloren, die einst blühende Handelsmetropole zu einer unbedeutenden Hafenstadt verkommen. Der Adel hatte sich aus Handel und Wirtschaft zurückgezogen und pflegte in seinen prächtigen Villen auf dem Festland einen dekadenten Lebensstil. Venedig war im 18. Jahrhundert berüchtigt als Stadt des frivolen Lebens und der leichten Komödie.2 Auch das politische Leben der Serenissima schien im 18. Jahrhundert ganz dem Verfall von Moral und Sitten anheimgefallen zu sein. Die ehedem als vorbildlich gepriesene Verfassung galt ausländischen Beobachtern als ein Relikt vergangener Zeiten, das den Anforderungen eines modernen Staatswesens nicht mehr gerecht wurde. So prangerte etwa Rousseau, der sich 1743 als Sekretär des französischen Botschafters in Venedig aufhielt, die oligarchische Herrschaft der Senatsaristokratie an, die den alten republikanischen Tugenden längst abgeschworen habe und ihre Ämter nur noch zu eigenem Vorteil nutze.3 Ähnlich kritische Äußerungen sind auch von Montesquieu überliefert, der 1728 die Lagunenstadt mehrere Wochen besucht hatte.4 Tatsächlich waren Korruption, Amtsmißbrauch und Bestechung an der Tagungsordnung, und zwar nicht nur in den entlegenen Provinzen der Terraferma und den verbliebenen Kolonien des Stato da Mar, in denen die vene1

Vgl. z. B. Guido Quazza, La decadenza italiana nella storia europea. Saggi sul SeiSettecento. Turin 1971, 35–51; Aspetti e cause della decadenza economica veneziana nel secolo 17. Atti del Convegno 27 luglio – 2 luglio 1957 a Venezia. Venedig/Rom 1961; Heinrich Kretschmayr, Geschichte von Venedig. Bd. 3: Der Niedergang. Stuttgart 1934. 2 Vgl. für eine besonders eindrückliche Darstellung Ekkehard Eickhoff, Venedig. Spätes Feuerwerk. Glanz und Untergang der Republik (1700–1797). Stuttgart 2006. 3 Zahlreiche Bemerkungen in Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762). Dt. Übers. v. Hermann Denhardt. Stuttgart 1975. 4 Charles-Louis de Montesquieu, De l’Esprit des lois. Genf 1748, Buch 11, Kap. 6; vgl. auch David W. Carrithers, Not so Virtuous Republics: Montesquieu, Venice, and the Theory of Aristocratic Republicanism, in: Journal of the History of Ideas 52, 1991, 245– 268.

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zianischen Amtsträger praktisch nach eigenem Gutdünken walteten5, sondern auch in der Hauptstadt selbst. Im komplizierten System von Ämtern, Magistraturen, Ausschüssen und politischen Gremien ließ sich in Venedig ohne Geld nichts bewegen. Es ist alles andere als ein Zufall, daß der im Italienischen heute gebräuchliche Begriff für politischen Wahlbetrug Broglio (beziehungsweise Broglio elettorale) aus dem Venezianischen stammt.6 Er leitet sich von dem mittellateinischen Wort brogilius ab, was in seiner ursprünglichen Wortbedeutung ein eingezäuntes Gartenareal oder Feld bezeichnet.7 Der Platz vor dem Dogenpalast wurde lange Zeit als Broglio bezeichnet, weil die Nonnen von San Zaccharia hier in früheren Zeiten einen Klostergarten angelegt hatten. Auf diesem Platz versammelten sich die venezianischen Patrizier vor den sonntäglichen Sitzungen des Großen Rates, um politische Strategien zu beraten, Bündnisse zu schmieden und um die für das komplizierte Wahlsystem erforderlichen Mehrheiten zu mobilisieren. Der Broglio war auch der soziale Raum, in dem politische Geschäfte abgeschlossen wurden, Informationen über Kandidaten und Wahlmänner zirkulierten und Geldgeschenke gegen Stimmen verteilt wurden.8 Denn wer ein politisches Amt oder einen der prestigeträchtigen Botschafterposten in London, Paris oder Wien anstrebte, wer ein Rektorenamt auf der Terraferma oder eine der zahlreichen Magistraturen und Richterämter in Venedig übernehmen wollte, der mußte dafür meist hohe Bestechungssummen aufwenden.9 Dabei handelte es sich nicht um jene Form des Ämter- und Pfründenhandels, der sich in Italien und anderswo in Europa schon im Mittelalter fest etabliert hatte und der im Zuge des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses noch einmal einen enormen Aufschwung erlebte.10 Diesen als Korruption zu bezeichnen wäre schon deshalb problematisch, weil es sich um eine zwar durchaus umstrittene, aber doch weitgehend verrechtlichte und meist staatlich organisierte Praxis der Ämtervergabe handelte. Auch in Venedig 5

Vgl. Andrea Zannini, Il ministro „assoluto dispositore“. Mediazione burocratica e corruzione nelle camere fiscali ionie nel Settecento, in: Massimo Costantini (Ed.), Il Mediterraneo centro-orientale tra vecchie e nuove egemonie. Trasformazioni economiche, sociali e istituzionali nelle Isole Ionie dal declino della Serenissima all’avvento delle potenze atlantiche (secc. XVII–XVIII). Rom 1998, 113–125. 6 Vgl. Art. „Broglio“, in: Marco Ferro (Ed.), Dizionario del diritto comune e veneto. Venedig 1845, 281; Art. „Brogiar“, in: Giuseppe Boerio (Ed.), Dizionario del dialetto veneziano. Venedig 1856, 101. 7 Art. „Brogilius“, in: Glossarium mediae et infimae latinitatis. Bd. 1. Graz 1954, 756. 8 Vgl. Antonino Colluraffi, Il nobile veneto. Venedig 1623, 190. 9 Vgl. die Beobachtungen des französischen Adligen und Diplomaten Casimir Freschot, Nouvelle relation de la ville et république de Venise. Utrecht 1709; sowie des venezianischen Adligen Leopoldo Curti, Historische und politische Memoiren über die Republik Venedig. Bd. 2/1. Hamburg 1796. 10 Vgl. Klaus Malettke (Hrsg.), Ämterkäuflichkeit: Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert). Berlin 1980.

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hat es, insbesondere in den Krisenzeiten des 16. und 17. Jahrhunderts, solche Formen des offiziellen Ämterverkaufs gegeben. Belegt sind sie in größerem Umfang erstmals nach der katastrophalen Niederlage von Agnadello gegen die Liga von Cambrai im Jahre 1509.11 Um die maroden Staatsfinanzen zu sanieren, wurden Wahlen in höhere Ämter von einer vorherigen Geldspende oder einem unverzinsten Darlehen an die Staatskasse abhängig gemacht. In den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts wurde dann erneut auf diese Praxis zurückgegriffen. Als besonders lukrativ erwies sich die Aufnahme neuer Familien in den Großen Rat, für die Summen von bis zu 100 000 Dukaten verlangt wurden.12 Einige Repräsentationsämter wie etwa die prestigereichen, aber machtlosen Procuratori di S. Marco wurden häufig ebenfalls an reiche Bürger verkauft.13 Der Ämter- und Titelhandel war jedoch politisch höchst umstritten, da er die Geburtsrechte des Adels in Frage stellte. Gerade die armen Adelsfamilien, die auf Sinekuren angewiesen waren, konnten an einer allgemeinen Käuflichkeit der Ämter nicht interessiert sein. Doch dieser Ämter- und Titelhandel soll hier nicht weiter betrachtet werden. Definiert man nämlich Korruption als „Mißbrauch öffentlicher Macht zu privaten Zwecken“14, so setzt dies zweierlei voraus. Zum einen muß eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre – oder genauer: zwischen Person und Amt – bestehen.15 Eine solche Trennung war für die politi11 Vgl. Roland Mousnier, Le trafic des offices à Venise, in: ders., La plume, la faucille et le marteau. Institutions et Société en France du Moyen Age à la Révolution. Paris 1970, 387–401. 12 Vgl. Roberto Sabbadini, L’acquisto della tradizione. Tradizione aristocratica e nuova nobiltà a Venezia (sec. XVII–XVIII). Udine 1995. 13 Peter Burke, Venedig und Amsterdam im 17. Jahrhundert. Göttingen 1993, 36. Im Falle der Prokuratoren wurden neben den regulär besetzten Ämtern außerordentliche Prokuratoren als reine Titularämter eingesetzt und für 20 000 bis 25 000 Dukaten verkauft. 14 Diese Definition ist zwar kritisch diskutiert worden, jedoch bis heute die am häufigsten anzutreffende Charakterisierung; vgl. Michael Johnston, The Search for Definitions: the Vitality of Politics and the Issue of Corruption, in: International Social Science Journal 149, 1996, 321–335; Daniel Kaufmann, Research on Corruption: Critical Empirical Issues, in: Arvind K. Jain (Ed.), Economics of Corruption. Boston 1998, 129–176; Wolfgang Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, 373– 392; zum historischen Begriffswandel in der Frühen Neuzeit vgl. Wilhelm Brauneder, Die Korruption als historisches Phänomen, in: Christian Brünner (Hrsg.), Korruption und Kontrolle. Wien/Köln/Graz 1981, 75–104. 15 Von solch einer Trennung kann in bezug auf den mittelalterlichen Amtsbegriff nur eingeschränkt gesprochen werden. Auch im Falle des staatlich organisierten Ämterverkaufs, wie er sich z. B. in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert herausgebildet hat, ist eine solche Unterscheidung problematisch, denn die Ämter wurden dem Käufer meist auf Lebenszeit verliehen und waren häufig sogar vererbbar; Roland Mousnier, La vénalité des offices sous Henri IV et Louis XIII. 2. Aufl. Paris 1971; Koenraad W. Swart, Sale of Offices in the Seventeenth Century. Den Haag 1949; zum Amtsbegriff: Anton Schindling, ‚Verwaltung‘, ‚Amt‘ und ‚Beamte‘ in der Frühen Neuzeit, in: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, 47–69.

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schen und administrativen Ämter Venedigs konstitutiv. Bis hinauf zum Dogen, der gewählt wurde, justiziabel war, keinerlei private Geschäfte tätigen durfte und feste Regeln der Amtsführung zu beachten hatte, existierte eine strikte Abgrenzung von öffentlicher und privater Funktion.16 Zum anderen kann von Korruption nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn ein Normenverstoß vorliegt, das heißt geltende rechtliche, moralische oder politische Standards eines Gemeinwesens verletzt werden. Auch dieses Kriterium kann für Venedig in der Frühen Neuzeit geltend gemacht werden. Wahlbestechung, Vorteilsnahme im Amt und andere Korruptionsvergehen waren nicht nur dem Gesetz nach verboten, sondern widersprachen auch dem jahrhundertealten venezianischen Staatsethos, das auf dem Ideal eines am Gemeinwohl orientierten buon governo gründete. Ein ausgeklügeltes System von checks and balances und eine durch ein kompliziertes Wahlverfahren garantierte Zirkulation von politischen und administrativen Ämtern sollte jede Art der Machtkonzentration und des Amtsmißbrauchs bereits im Ansatz verhindern.17 Das Beispiel Venedigs ist deshalb so interessant, weil sich hier eine spezifische Form der Normenkonkurrenz beobachten läßt, bei der ein hohes Maß an struktureller Korruption auf strenge Sanktionen gegen Machtmißbrauch und persönliche Bereicherung traf. Nun sind konkurrierende Normensysteme geradezu kennzeichnend für politische Gemeinwesen der Frühen Neuzeit.18 In Venedig wie auch in einigen anderen italienischen Stadtstaaten war diese Normenkonkurrenz jedoch besonders stark ausgeprägt. Eine verfassungsmäßige Begrenzung politischer Macht war in den monarchischen Fürstenstaaten Europas ebenso fremd wie die Trennung von öffentlicher und privater Funktion der Amtsträger. In der älteren sozialwissenschaftlichen wie auch historischen Korruptionsforschung ist vielfach die These aufgestellt worden, Korruption sei unter bestimmten Voraussetzungen konstitutiv für das Funktionieren politischer Systeme.19 So hat Paul Veyne in einem klassischen Beitrag zum spätantiken Beamtenwesen das römische Patronagesystem als notwendiges Element der politischen Ordnung angesehen. Die zahlreichen Antikorruptionsgesetze 16

Vgl. Ugo Tucci, I meccanismi dell’elezione dogale, in: Gino Benzoni (Ed.), I Dogi. Mailand 1982, 107–124; Åsa Boholm, The Doge of Venice. The Symbolism of State Power in the Renaissance. Göteborg 1990; Robert Finlay, Politics in Renaissance Venice. London 1980, 110. 17 Frederic C. Lane, Medieval Political Ideas and the Venetian Constitution, in: Venice and History. Collected Papers of Frederic C. Lane. Baltimore 1960, 172–187; Myron Gilmore, Myth and Reality in Venetian Political Theory, in: J. R. Hale (Ed.), Renaissance Venice. London 1973, 431–444. 18 Vgl. den Beitrag von Hillard von Thiessen in diesem Band. 19 Etwa im Falle starker Bürokratisierung oder mangelhafter Institutionen; vgl. als klassische Interpretation: Samuel P. Huntington, Modernization and Corruption, in: ders., Political Order in Changing Societies. New Haven 1968, 59–71.

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seien rein moralischer Natur gewesen und hätten für die politische Realität keine Bedeutung besessen.20 Das Argument des folgenden Beitrages ist, daß korrupte Praktiken nicht nur eine gewisse Systemfunktionalität besaßen, sondern das politische Handeln in einem Feld konkurrierender, aber zugleich nebeneinander bestehender Normensysteme nachhaltig prägten. In Anknüpfung an politikwissenschaftliche Modelle ließe sich Korruption somit als informelle Politik (oder Schattenpolitik) bezeichnen, was den Vorteil hat, nicht nur den degenerativen Aspekt, sondern auch die produktive Rolle korrupten Handelns herauszuarbeiten.21 Nur so läßt sich die strukturelle Verbreitung und hohe Persistenz solcher Praktiken erklären. Im folgenden soll zunächst ein kurzer Blick auf das venezianische Wahlund Ämtersystem geworfen werden, bevor in einem zweiten Schritt die Praxis und Funktionsweise der politischen Korruption analysiert wird. Im dritten Teil soll dieses Phänomen im Lichte neuerer sozialwissenschaftlicher Korruptionstheorien diskutiert werden.

I. Ämter, Wahlen und Patriziat Die Teilhabe an der politischen Macht und der Zugang zu den leitenden Staatsämtern waren in Venedig seit dem späten Mittelalter präzise definiert.22 Das entscheidende Kriterium hierfür war die Zugehörigkeit zum Großen Rat, die das aktive wie auch das passive Wahlrecht für alle Staatsämter gewährte. Dem Großen Rat gehörten nach seiner Erweiterung im 17. und frühen 18. Jahrhundert etwa 150 Familien mit rund 1800 ratsfähigen Mitgliedern an; das entsprach zwei bis drei Prozent der venezianischen Bevölkerung.23 Die Mitgliedschaft im Rat wurde über die männliche Linie vererbt und war gleichbedeutend mit dem Adelsstand. Das venezianische Patriziat 20 Paul Veyne, Clientèle et corruption au service de l’état: La vénalité des offices dans le Bas-Empire Romaine, in: Annales. Economies, Sociétés, Civilisations 36, 1981, 339–360. 21 Vgl. die Überlegungen von Ulrich von Alemann, Abgründe politischer Theorie. Gründe für eine mehrdimensionale Konzeption der Korruption, in: Dietmar Fricke/Jörg Meyer (Hrsg.), Sicherheit in einer neuen Weltära. Festschrift für Erhard Forndran zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main 2003, 273–283, hier 280–281. 22 Vgl. Giuseppe Maranini, La costituzione di Venezia dopo la serrata del Maggior Consiglio. 2. Aufl. Florenz 1931, 175. 23 Oliver Thomas Domzalski, Politische Karrieren und Machtverteilung im venezianischen Adel (1646–1797). Sigmaringen 1996, 36. Während des Kreta- und Morea-Krieges wurden insgesamt 126 neue Familien in den Großen Rat aufgenommen; Sabbadini, L’acquisto della tradizione (wie Anm. 12); Frederic C. Lane, The Enlargement of the Great Council of Venice, in: Florilegium Historiale. Toronto 1971, 237–274; Dorit Raines, Pouvoir ou privilèges nobiliaires: le dilemme du patriciat vénitien face aux agrégations du XVIIe siècle, in Annales. Economies, Sociétés, Civilisations 41, 1991, 827–847.

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war somit in erster Linie eine politische und keine soziale Elite. Viele reiche und bedeutende Kaufmannsfamilien Venedigs gehörten dem Rat nicht an, während es zahlreiche verarmte Adlige gab, die aufgrund ihrer Standeszugehörigkeit formal betrachtet die gleichen politischen Rechte besaßen wie alle anderen Nobili. Die unteren Adelsfamilien bekleideten in der Regel zwar nicht die höchsten Staatsämter und gehörten nur selten dem Senat an, der wichtige politische Entscheidung fällte. Doch da der Große Rat fast alle Gesetze und die meisten Ämterwahlen zumindest per Approbation bestätigen mußte, besaßen selbst die ärmsten Adligen einen gewissen politischen Einfluß.24 Man schätzt, daß es in Venedig im 17. und 18. Jahrhundert etwa 900 bis 960 politische und administrative Ämter gab, die allein dem Adel vorbehalten waren.25 Dazu zählten die hohen politischen Staatsämter wie der Doge, die Prokuratoren, die Savi Grandi und die Savi della Terraferma, die Mitglieder des Kleinen und des Zehnerrates, die militärischen Führungspositionen, ferner die zahlreichen Botschafter- und Gouverneursämter außerhalb Venedigs und nicht zuletzt die 160 Richterposten der vier Appellationskammern. Hinzu kamen die sogenannten Senatsämter, zahlreiche ad hoc geschaffene Kommissionen sowie Hunderte von Magistraturen, die zum Teil wirkliche Funktionen besaßen, zum Teil aber auch nur reine Sinekuren waren und vor allem zur Versorgung der armen Adelsfamilien dienten.26 Im Laufe der Jahrhunderte hatte die Zahl der Ämter kontinuierlich zugenommen. Vielfach wurden Einrichtungen geschaffen, ohne daß die bestehenden Institutionen mit ähnlichen Kompetenzen abgeschafft wurden.27 Dies galt etwa für die zahlreichen Senatsbehörden (Sovraprovedditori), die seit dem 15. Jahrhundert eingerichtet wurden, um bestimmte Politikbereiche unter die Kontrolle der Senatsaristokratie zu bringen. Die vom Großen Rat bestellten Magistraturen wurden jedoch häufig nicht aufgelöst, sondern blie24

Demgegenüber betonen Burke und Grendler, daß die politische Macht ausschließlich dem höheren Adel vorbehalten blieb; allerdings berücksichtigen sie in ihren prosopographischen Untersuchungen auch nur die bedeutenden Adelshäuser; vgl. Burke, Venedig (wie Anm. 13), 58; Paul F. Grendler, The Leaders of the Venetian State, 1540–1609: A Prosopographical Analysis, in: Studi Veneziani NS. 19, 1990, 35–85; demgegenüber bestreitet Davis, daß die venezianische Verfassung oligarchischen Charakter besessen habe: James C. Davis, The Decline of the Venetian Nobility as a Ruling Class. Baltimore 1962. 25 Der Adel stellte in der Regel nur die Leiter der Behörden, während die anderen Posten (Sekretäre, Notare, Schreiber etc.) von den Angehörigen des zweithöchsten Standes („cittadini originari“) bekleidet wurden; vgl. Andrea Zannini, Burocrazia e burocrati a Venezia in età moderna: i cittadini originari (sec. XVI–XVIII). Venedig 1993. 26 Vor allem die Mitgliedschaft in einer der Quarantie war bei den einfachen Adligen sehr beliebt, da sie gut bezahlt waren. Ende des 18. Jahrhunderts wurden sie mit rund 560 Dukaten pro Jahr vergütet, während die normalen Sinekuren in der Regel 10–15 Dukaten abwarfen; Vgl. Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 77–82. 27 Vgl. Giorgio Zordan, L’ordinamento giuridico veneziani. Padua 1980, 122.

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ben trotz weitgehender Entmachtung formal weiter bestehen. So gab es in Venedig ein für Außenstehende kaum zu durchschauendes Gestrüpp von Gremien, Ämtern und Magistraturen, deren Aufgaben sich häufig überschnitten.28 Die Unübersichtlichkeit wurde noch dadurch verstärkt, daß alle höheren Funktionen mit Ausnahme des Dogen und der Prokuratoren nur für einen befristeten Zeitraum von sechs bis 24 Monaten vergeben wurden. Die durchschnittliche Verweildauer lag jedoch weit darunter, da viele Adlige schon nach wenigen Monaten in eine neue Position gewählt wurden. Dies hatte zur Folge, daß jegliche personelle Kontinuität in den Führungspositionen fehlte und die Amtsinhaber nur selten über spezifische Fachkompetenz verfügten.29 Zugleich erwies es sich für die venezianische Aristokratie als außerordentlich schwierig, politische Karrieren zu planen.30 Die Ämterrotation war ein grundlegendes Element der venezianischen Verfassung. Sie sollte eine möglichst breite Beteiligung des Adels an den Aufgaben der Staatsführung gewährleisten und zugleich eine Konzentration von Macht in den Händen einzelner verhindern.31 Dazu trugen auch die sogenannten Contumaccia-Regeln bei, die eine Ämterhäufung ausschlossen, eine direkte Wiederwahl nach Ende der Amtszeit verboten und familiäre oder persönliche Interessenkonflikte der Kandidaten zu verhindern suchten.32 So durften Personen, die Grundbesitz auf der Terraferma besaßen, keine für diese Gebiete zuständigen Verwaltungsämter übernehmen. Grundsätzlich nicht zur Wahl zugelassen waren die Söhne des Dogen sowie verschuldete Adlige, bei denen eine persönliche Bereicherung im Amt zu befürchten war.33 Bei hohen Staatsämtern mußten sich die Kandidaten im Vorfeld der Wahl einem fachlichen und persönlichen Prüfungsverfahren durch eigens dafür gebildete Senatskommissionen unterziehen. Ferner sollte ein mehrstufiges Nominierungs-, Wahl- und Auslosungsverfahren jede Form von Stimmenmanipulation bereits im Ansatz verhindern. „Le elletiion se fano 28 Vgl. Giuseppe Capelletti, Relazione storica sulle magistrature venete. Venedig 1873; zum Ämterchaos Kretschmayr, Geschichte von Venedig (wie Anm. 1), Bd. 3, 79f. 29 Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 58; vgl. auch Paolo Frasson, Tra volgare e latino: Aspetti della ricerca di una propria identità da parte di magistrature e Cancelleria a Venezia (secc. XV–XVI), in: Gaetano Cozzi (Ed.), Stato società e giustizia nella Repubblica veneta (secc. XV–XVIII). Rom 1980, 577–615. 30 Darauf deutet auch die im 16. Jahrhundert verbreitete Praxis, bei Ämterwahlen Wetten auf einzelne Kandidaten abzuschließen; vgl. Burke, Venedig (wie Anm. 13), 104f. 31 Ähnliche Maßnahmen hatte es auch in anderen mittelalterlichen Stadtstaaten gegeben. Außergewöhnlich ist im Falle Venedigs die Kontinuität des Verfahrens bis zum Ende der Republik; vgl. Moritz Isenmann, Rector est Raptor. Sindacatoprozesse im spätmittelalterlichen Italien, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006, 9–30. 32 Dies galt allerdings nicht für Senat und Quarantie, wo eine Wiederwahl nicht nur möglich, sondern vielfach auch die Regel war. 33 Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 97–116.

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iuste e sincere, si che elegendosi le più merite persone“, hieß es in einem Senatsdekret vom 22. Juli 1553.34 Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Bestenauswahl – das sollten die leitenden Prinzipen des Wahl- und Ämtersystems sein.35 Doch wie war es um die Praxis bestellt? Ein Wahlsonntag des Großen Rates, an dem bis zu 20 neue Ämter zu besetzen waren, gestaltete sich in der Regel nach folgendem Verfahren36: Nachdem der Cancelliere Grande die zu besetzenden Ämter verkündet hatte, zog jeder anwesende Nobile eine Kugel aus einer der Urnen. 60 dieser Kugeln waren goldfarben, die übrigen silbern. Wer eine goldene Kugel gezogen hatte, griff in eine zweite Urne, in der sich 36 goldene und 24 silberne Kugeln befanden. Nur wer auch beim zweiten Mal eine goldene Kugel gezogen hatte, wurde in eine der vier Nominierungskommissionen mit je neun Mitgliedern entsandt, die nun in getrennte Räume eingeschlossen wurden und nach erneutem mehrstufigen Los- und Wahlverfahren die Kandidaten nominierten. Diese mußten anschließend vom Großen Rat mit einer Mehrheit von vier Fünftel der Stimmen gewählt werden. Da der Senat für die meisten Ämter einen eigenen Kandidaten im sogenannten Scrutinio-Verfahren vorschlagen durfte, standen dem Großen Rat theoretisch für jedes Amt fünf Kandidaten zur Wahl. Das gesamte Verfahren wurde vom Segretario alle Voci sowie von den Zensoren überwacht, die erstmals im 16. Jahrhundert eingesetzt worden waren und die für ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren zu sorgen hatten.37 Stimmenmanipulation und Bestechung konnten mit Geldstrafen, Ausschluß von politischen Ämtern oder gar mit Verbannung geahndet werden. Dem Gesetz nach war es sogar verboten, das Interesse an einem bestimmten Amt öffentlich zu bekunden oder gar andere Mitglieder des Großen Rates zu einer Nominierung zu bewegen. Jede Form der Parteibildung oder gar des politischen Wahlkampfes war in Venedig streng verpönt, da dies den Prinzipien einer konsensorientierten Entscheidungsfindung zuwiderlief.38 Um Absprachen zu verhindern, mußten die Mitglieder des Rates während der Abstimmung auf ihren Plätzen bleiben und durften nicht miteinander sprechen. Aus diesem Grund waren die Bänke in der Sala del Maggior Consiglio so ange34 Mario Sanuto, I Diarii. Vol. 58. Venedig 1903, 481; vgl. auch Donald E. Queller, Il patriziato veneziano. La realtà contro il mito. Rom 1987, 103. 35 Vgl. Brian Pullan, Service to the Venetian State: Aspects of Myths and Reality in the Early Seventeenth Century, in: Studi secenteschi 5, 1964, 96–147. 36 Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 93–97. 37 Das Amt der Zensoren war 1517 eingerichtet worden, um vor allem Unregelmäßigkeiten im Senat zu unterbinden; vgl. Finlay, Politics (wie Anm. 16), 208; vgl. auch Alessandra Schiavon, Munera ed officia nella Venezia del secolo XVI. I registri di elezione del Segretario alle Voci: tempi e modalità di elezione, in: Centro di elaborazione automatica di dati e documenti storico artistici (Ed.), Bollettino d’informazione 7, 1986, 49–63. 38 Donald E. Queller, The Civic Irresponsibility of the Venetian Nobility, in: Explorations in Economic History 7, 1969, 223–235.

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ordnet, daß die im Eingangsbereich sitzenden Aufsichtspersonen genauen Einblick in das Geschehen besaßen. Sympathiebekundungen wie Händeschütteln, Umarmungen oder Gratulationen nach einer Wahl waren untersagt.39 Insbesondere aber waren politische Versammlungen und Kundgebungen außerhalb des Großen Rates verboten, und dies erklärt auch, warum der Platz vor dem Eingang des Dogenpalastes eine so wichtige Funktion besaß: Denn nirgendwo anders konnten sich die Adligen unauffällig zum Gespräch versammeln, um Wahlstrategien zu beraten, Bündnisse zu schmieden und politische Tauschgeschäfte abzuschließen.

II. Stimmenkauf und Wahlmanipulation Man mag sich angesichts des ausgeklügelten Wahlsystems sowie strenger Kontrollen und Mißbrauchsgesetze fragen, wie jener eingangs beschriebene Handel mit Ämtern und Stimmen überhaupt entstehen konnte. Tatsächlich vollzogen sich Wahlmanipulation und illegale Ämtervergabe vielfach in einer rechtlichen Grauzone des gerade noch Erlaubten bzw. schon Verbotenen. In dieser Grauzone bewegten sich zahlreiche Akteure nach einem eingespielten Verfahren, deren Regeln und Informationskanäle nur Eingeweihten bekannt waren.40 Vor jedem Wahlsonntag zirkulierten inoffizielle Listen, in denen die vakanten Ämter und die möglichen Kandidaten aufgeführt waren. Diese Brogietti wurden wahrscheinlich heimlich von den Wahlprotokollanten angefertigt und konnten gegen eine Gebühr erworben werden.41 Eine wichtige Rolle für die diskrete Beschaffung von Informationen spielten offenbar die Wahlhelfer (Ballottini), welche die Wahlurnen bei der Abstimmung im Großen Rat herumreichten, die Stimmen auszählten, die Vorschlagslisten anfertigten und den Wahlmännern bei ihren Abstimmungen zur Seite standen. Zwar wurden die Ballottini sorgfältig ausgewählt und insbesondere darauf geachtet, daß sie in keinerlei persönlicher Verbindung zu einer Adelsfamilie standen. Es handelte sich seit dem 16. Jahrhundert um Jugendliche aus gut beleumundeten venezianischen Familien, die nicht älter als 15 Jahre sein durften. Trotz strenger Auswahl und Überwachungen waren die Ballottini allerdings regelmäßig in Bestechungsvorgänge verwickelt, ja offensichtlich zentrale Akteure im Netz der Korruption, die für ihre Leistungen natürlich eine ent39 Vgl. Antonio Gamba, La votazione per l’elezione dei membri del Maggior Consiglio della Repubblica di Venezia, in: Atti e memorie dell’Accademia di scienze, lettere ed arti di Padova 105, 1992/93, 43–46. 40 Der Verhaltenskodex von „Colluraffi“, Il nobile veneto, enthält zahlreiche Hinweise über die informellen Spielregeln des „Broglio“. 41 Vgl. ausführlich: Dorit Raines, Office Seeking, Broglio, and the Pocket Political Guidebooks in Cinquecento and Seicento Venice, in: Studi Veneziani 22, 1991, 137–194.

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sprechende Entschädigung verlangten.42 Sie gaben nicht nur Informationen über Kandidaten, Wahlmänner und Abstimmungsergebnisse in den Nominierungskommissionen preis, sondern manipulierten offenbar auch die Auslosung der Wahlmänner im Großen Rat.43 Schon im Vorfeld der Wahlen gab es hinter den Kulissen rege Aktivitäten, um Mehrheiten für einen Kandidaten zu sichern. Nun wäre es angesichts der mehr als 1000 Stimmberechtigten, die sich an einem normalen Wahltag im Großen Rat versammelten, äußerst schwierig gewesen, jedes Mal alle Adligen einzeln zur Stimmabgabe zu bewegen. Daher schlossen sich Gruppen von Adligen zusammen, um ihre Stimmen im Paket zu verkaufen.44 Diese Stimmenpakete konnten gegen die Zahlung von festen Summen erworben werden, wobei die Beträge je nach Bedeutung des Amtes allerdings stark variierten. Es ist bekannt, daß in Einzelfällen mehrere Tausend Dukaten für wichtige Staatsämter bezahlt wurden, während für die kleinen Sinekuren und Verwaltungspöstchen nur ein Bruchteil dieses Betrages aufgewendet werden mußte.45 Die Wahlgruppen, die in Anlehnung an die Schweizer Söldner des 16. und 17. Jahrhunderts als Sguizari bezeichnet wurden46, nominierten einen Sprecher, der vor den Abstimmungen die Verhandlungen mit potentiellen Kandidaten führte, Preise aushandelte, die Bestechungsgelder verwaltete und an die einzelnen Adligen verteilte. Die Bildung von Wahlblöcken führte zu einer erheblichen Senkung der Transaktionskosten, die mit der im verborgenen ablaufenden Bestechung verbunden war. Zugleich verhinderten die armen Adligen auf diesem Wege, daß die Stimmenkäufer die Preise zu drücken versuchten. Vor allem für die große Zahl der armen Adligen waren diese Wahlgelder ein willkommenes Zubrot. Mit besonders hohen Summen konnten die Glücklichen rechnen, die im Losverfahren als Wahlmänner bestimmt worden waren und die sich ihre Nominierungsrechte gut bezahlen ließen.47 Es muß allerdings hervorgehoben werden, daß bei diesen Vorgängen nicht immer nur Geld im Spiel war. Vielmehr kam es vor allem bei den Wahlen der Senatsämter, bei deren Besetzung der Große Rat nicht mitstimmen durfte und bei denen überwiegend die einflußreichen Adelsfamilien zum Zuge kamen, auch zu nichtmonetären Tauschgeschäften. Aus privaten Adelsarchiven wissen wir, 42

Curti, Memoiren (wie Anm. 9), Bd. 2/1, 43. Die Ballottini arbeiteten offenbar vielfach eng mit den Protokollanten zusammen; ebd. 149; vgl. auch Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 95. 44 Curti geht davon aus, daß etwa zwei Fünftel der Stimmen im Rat verkauft wurden; vgl. Curti, Memoiren (wie Anm. 9), Bd. 2/1, 34f. 45 Über die genauen Summen gibt es allerdings keine Informationen; vgl. auch Finlay, Politics (wie Anm. 16), 200. 46 Vgl. Arnold Esch, Mit Schweizer Söldnern auf dem Marsch nach Italien. Das Erlebnis der Mailänderkriege 1510–1515 nach bernischen Akten, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 70, 1990, 348–439. 47 Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 94. 43

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daß viele einflußreiche Patrizier Bücher mit den Namen derjenigen führten, die in der Vergangenheit für sie gestimmt hatten und denen sie einen Gefallen schuldeten.48 Über den Broglio entstanden also mitunter langfristige Tauschbeziehungen zwischen verschiedenen Adelshäusern, die sich über Jahre hinweg aufbauten und die für Außenstehende kaum zu durchschauen waren. Zwar hat es Unregelmäßigkeiten bei Wahlen und Ämterbesetzungen in Venedig schon seit dem späten Mittelalter gegeben. Einen ersten Höhepunkt erfuhr diese Praxis offenbar während der Krise des frühen 16. Jahrhunderts – darauf deuten jedenfalls die zahlreichen Antikorruptionsgesetze jener Zeit hin.49 Im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelte sich der Broglio dann zu einer dauerhaften Erscheinung, die fest zum politischen Leben Venedigs gehörte. Vor allem nach dem Verlust von Kreta 1669 nahmen Wahlbestechung und Ämterpatronage rasch zu. Die Aufnahme neuer Familien in den Rat und die Absenkung des aktiven und passiven Wahlrechts von 25 auf 18 Jahre verschärften die Konkurrenz um bestimmte Positionen erheblich.50 Gerade innerhalb der alten Patrizierhäuser gab es verstärkt Bemühungen, die neu nobilitierten Familien von den Schaltstellen der Macht fernzuhalten.51 Gerade die Nobili nuovi drängten jedoch auf einen raschen Aufstieg in prestigereiche Ämter und herausgehobene Führungspositionen, nachdem sie hohe Beträge für die Aufnahme in den Rat bezahlt hatten. Die Bereitschaft, sich für solche Positionen durch einen unter Umständen mehrere Generationen dauernden familiären Ämteraufstieg zu qualifizieren, war in dieser Gruppe nicht sehr ausgeprägt. Auf der anderen Seite hatte die – wenn nur vorübergehend geschaffene – Möglichkeit, Adelsprädikate und Staatsämter käuflich zu erwerben, zu einer Monetarisierung des politischen Marktes geführt. Hier liegen die Gründe für die allmähliche Erosion des republikanischen Amtsethos.52 Das venezianische Patriziat „was slowly drifting away from the mythical prerequisite of quality among its members and service to the state […]. Office seeking was consequently not a means to serve the Republic, but a time-consuming occupation in search of income and power“.53 48 Finlay, Politics (wie Anm. 16), 200; vgl. auch Doris Raines, L’arte di ben informarsi. Carriera politica e pratiche documentarie nell’archivio familiare di patrizi veneziani: I Molin di San Pantalon, in: Roberto Navarrini/Laura Casella (Eds.), Archivi nobiliari e domestici. Conservazione, metodologie di riordino e prospettive di ricerca storica. Udine 2000, 173–196. 49 Vgl. Gaetano Cozzi, Repubblica di Venezia e Stati italiani. Politica e giustizia dal secolo XVI al secolo XVIII. Turin 1982, 92–94. 50 Vgl. Raines, Office Seeking (wie Anm. 41), 179f. 51 Curti, Memoiren (wie Anm. 9), Bd. 2/1, 83–86; Vgl. auch Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 172. 52 Vgl. Antonio Pilot, Ammaestramenti sul Broglio a quattro nobili veneti del 600, in: Fanfulla della Domenica, 10. 10. 1909, 3; ders., La teoria del Broglie nella repubblica veneta, in: Ateneo Veneto 27, 1904, 176f. 53 Raines, Office Seeking (wie Anm. 41), 194.

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Es handelte sich folglich um ein Phänomen, das in der sozialwissenschaftlichen Literatur als systemische Korruption bezeichnet wird, daß heißt eine allgegenwärtige, auf eingeübten Verhaltensweisen, informellen Regeln und sozialen Netzwerken beruhende Form des politischen Handelns, in die eine große Zahl von Akteuren involviert ist. Alle Versuche, diese Praxis zu unterbinden, liefen letztlich ins Leere. Immer wieder hat es im 17. und 18. Jahrhundert Bemühungen gegeben, Wahlbestechung und Amtsmißbrauch einzudämmen, etwa durch eine personelle Verstärkung der Zensoren oder durch die strafrechtliche Verfolgung besonders eklatanter Korruptionsfälle durch die Staatsinquisition. Als strafrechtlich kodifiziertes Delikt galt freilich nur die Unterschlagung öffentlicher Gelder, während andere Formen der Korruption (Vorteilsnahme im Amt, Bestechung, Wahlbetrug) durch die Rechtsprechung der Gerichte geahndet wurden.54 Durch mehrere spektakuläre Prozesse, bei denen zahlreiche Patrizier zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, versuchte man in den 1630er Jahren die weit verbreitete Korruption im Justizapparat unter Kontrolle zu bekommen. Die Bestechung von Richtern konnte fortan mit Gefängnis, Verbannung, Ausschluß aus dem Großen Rat oder sogar der Todesstrafe geahndet werden.55 Selbst die mächtigsten Patrizier waren vor Strafverfolgung nicht gefeit. So wurde der große Feldherr in den Türkenkriegen und spätere Doge Franceso Morosini gleich zweimal (1663 und 1670) wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt.56 Leopoldo Curti, der aus einer neu nobilitierten Familie stammte, wurde im Jahre 1790 wegen abuso di potere aus dem Adel ausgeschlossen, weil er sich als Gouverneur von Vicenza rücksichtslos bereichert hatte.57 Auch wenn die meisten Korruptionsfälle nicht ans Tageslicht kamen und Unregelmäßigkeiten häufig stillschweigend geduldet wurden, dokumentieren diese Prozesse, daß Korruption auch in der Spätphase der Republik als illegales und staatsschädigendes Verhalten angesehen wurde. Ein weiterer Ansatz, der verbreiteten Korruption Herr zu werden, bezog sich auf die Kontrolle der öffentlichen Finanzen. Schon im späten 16. Jahrhundert hatte man die Bemühungen verstärkt, ein einheitliches Finanz- und Rechnungswesen für die über 200 öffentlichen Haushalte der Republik ein54 Ebd. 86–89; vgl. auch Hinweise bei Lorenzo Priori, Prattica criminale secondo il ritto delle leggi della Serenissima Repubblica di Venezia. Venedig 1678, 217f. 55 Vgl. Gaetano Cozzi, Giustizia „contaminata“. Vicende giudiziarie di nobili ed ebrei nella Venezia del seicento. Venedig 1996. 56 Burke, Venedig (wie Anm. 13), 82; Andrea Da Mosto, I dogi di Venezia. 2. Aufl. Mailand 1960, 435. 57 Curti floh daraufhin und wurde im Exil von den venezianischen Botschaftern und Gesandten beobachtet; seine Memoiren gelten als eine der wichtigsten Quellen zum politischen System der Republik in der Spätphase; vgl. Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 177; Davis, Decline (wie Anm. 24), 142f.

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zuführen. 1571 wurden vom Senat drei Provveditori sopra danari eingesetzt und vier Jahre später ein Rechnungshof mit umfassenden Kontrollbefugnissen gegründet (Revisori e regolatori della scritture).58 Hintergrund war nicht nur das hohe Haushaltsdefizit des venezianischen Staates, das auf über 5 Millionen Dukaten angelaufen war, sondern auch die zahlreichen Unregelmäßigkeiten in den Behörden und Ämtern.59 Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die venezianischen Repräsentanten in den Festlandprovinzen und Kolonien gerichtet, bei denen sich eine finanzielle Kontrolle in der Vergangenheit als besonders schwierig erwiesen hatte, da die Voraussetzungen für eine effiziente Strafverfolgung dort schlicht fehlten. Darüber hinaus mußten die Gouverneure und Botschafter erhebliche Summen für Repräsentationsaufgaben aufwenden, so daß der Anreiz, sich illegale Finanzquellen zu erschließen, besonders groß war. Eine anonyme Schrift aus dem späten 17. Jahrhundert stellte sogar eine Liste mit den illegalen Nebeneinnahmen bestimmter Auslandsposten auf. Demnach erwirtschaftete der Provveditore der Insel Korfu illegale Einkünfte in Höhe von 12 000 Dukaten pro Jahr, während ein Botschafter in Istanbul bis zu 30 000 Dukaten verbuchen konnte.60 Gegen Ende der Republik mehrte sich die Kritik an der Korruptionspraxis. Diese Kritik kam zum Teil aus reformorientierten Kreisen des Adels, vor allem aber aus der aufklärerischen Publizistik, die in Venedig und in den Hauptstädten der Festlandsprovinzen seit den 1760er Jahren enormen Auftrieb erhielt.61 In zahlreichen, meist anonym verfaßten Traktaten und Flugschriften wurde die Bestechlichkeit der politischen Führungsgruppen angeprangert und in einen moralisierenden Diskurs über Politik und Staat eingebettet.62 Bewußt rekurrierte man auf die mehrdeutige Semantik des Korruptionsbegriffs, mit dem nicht nur Bestechlichkeit und Amtsmißbrauch, sondern auch persönliche Verfehlung, sexuelle Verderbnis, soziale Verwahrlosung und kultureller Verfall assoziiert wurden.63 Hier finden sich zentrale 58 Vgl. Andrea Da Mosto, Magistrature contabili e di controllo della Repubblica di Venezia dalle origini al 1797. Rom 1953; Andrea Zannini, Il sistema di revisione contabile della Serenissima. Istituzioni, personale, procedure (secc. XVI–XVIII). Venedig 1994, 13–56. 59 Beispiele nennt Laura Megna, Ricchi e poveri al servizio dello Stato. L’esercizio della „distributiva“ nella Venezia del’ 700, in: Amelio Tagliaferri (Ed.), I ceti dirigenti in Italia in età moderna e contemporanea. Udine 1984, 365–380, bes. 366–368. 60 Burke, Venedig (wie Anm. 13), 82. 61 Vgl. Franco Venturi, Settecento riformatore. L’Italia dei lumi. La Repubblica di Venezia (1761–1797). Vol. 5/2. Turin 1990; Jean Georgelin, Venise au siècle des lumières. (Civilisations et Sociétés, 41.) Paris/Den Haag 1978. 62 Vgl. z. B. Discorsetto in propositione de’ Broglio (ohne Angabe von Verfasser, Ort und Datum). Zahlreiche Hinweise auch in den im Ausland publizierten Memoiren von Leopoldo Curti (wie Anm. 9). 63 Dieser weite Korruptionsbegriff war in Italien seit Machiavelli anzutreffen, der Korruption als Degeneration der „virtu“ betrachtete und vor allem für etablierte Staatswesen als bedrohliches Verfallssymptom ansah; vgl. Alfredo Bonadeo, Corruption, Conflict, and Power in the Works and Times of Niccolò Machiavelli. Berkeley/Los Angeles/London 1973.

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Argumente jener aufklärerischen Dekadenzrhetorik, welche die corrutela de’ costumi als wesentlichen Faktor für die innere und äußere Krise der Serenissima interpretierte.64 Sie richtete sich gegen den Venedig-Mythos der Renaissanceschriftsteller, welche die Republik als einen perfekten, gegen den natürlichen Verfallsprozeß immunen Staat idealisiert hatten. Die verbreitete Korruption schien dagegen zu beweisen, daß das venezianische Staatswesen ohne tiefgreifende Reformen dem Untergang geweiht war.65 Korruption war somit ein zentraler Topos der politischen Auseinandersetzung in der Spätphase der Republik.

III. Korruption, Konsens und Vertrauen Der Zusammenhang von Korruption, moralischer Dekadenz und staatlichem Verfall hat, wie bereits eingangs erwähnt, auch das Venedigbild der Geschichtswissenschaft lange Zeit geprägt. Nun hat die neuere Forschung das Dekadenzparadigma längst verworfen, da es die Geschichte der Republik zu sehr von ihrem Ende her betrachtet. Man fragt heute nicht mehr danach, warum die Republik 1797 unterging, sondern wie sie sich überhaupt so lange halten konnte. In der Tat hat die Forschung inzwischen gezeigt, daß sich Venedig nach der langen Krise des 17. Jahrhunderts nicht nur wirtschaftlich erholte, sondern auch eine neue politische und kulturelle Ausstrahlungskraft gewann.66 Innerhalb Italiens zählte die Republik im 18. Jahrhundert zu den

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Auch außerhalb Venedigs wurden „Korruption“ und „Dekadenz“ im 18. Jahrhundert vielfach synonym gebraucht; vgl. die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Dieter Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“, in: Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. H. 14./15. München 1993, 7–54; vgl. auch Maryvonne Génaux, Les mots de la corruption. La déviance publique dans les dictionnaires d’Ancien Régime; in: Histoire, Économie et Société 21, 2002, 513–530; Peter Burke, Tradition and Experience: The Ideal of Decline from Bruni to Gibbon, in: Daedalus, Sommer 1976, 137–152; vgl. auch den Beitrag von Jens Ivo Engels in diesem Band. 65 Zit. nach Piero del Negro, Venezia allo specchio: la crisi delle istituzioni repubblicane negli scritti del patriziato (1670–1797), in: Haydn Mason (Ed.), Transactions of the Fifth International Congress on the Enlightenment. Oxford 1980, 920–926, hier 924; vgl. zur Dekadenzrhetorik Piero del Negro, Proposte illuminate e conservazione nel dibattito sulla teoria e la prassi dello stato, in: Storia della cultura veneta. Vol. 5/2 (Il Settecento). Vicenza 1986, 124–145. 66 Vgl. Georgelin, Venise (wie Anm. 61); Luca De Biase, Amore di Stato. Venezia. Settecento. Palermo 1992; Alexander Nützenadel, Aufklärung und Physiokratie in Venedig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26, 1999, 557–577; ders., Coping with Decline. Commercial Networks, Merchants and the Regionalization of Trade in 18th Century Venice, in: Margit Schulte Beerbühl/Jörg Vögele (Eds.), Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants and Commercial Cities, 17th–20th Centuries. Frankfurt am Main 2004, 27–44.

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Zentren der Aufklärung, das Akademiewesen blühte, und gerade die Frage einer politischen Reform wurde intensiv diskutiert.67 Es ist daher an der Zeit, auch die Praxis des illegalen Stimmen- und Ämterhandels aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Die historische wie auch die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich längst von den globalen Erklärungsmodellen entfernt, welche Korruption als pathologische Erscheinung zerfallender Gesellschaften betrachten.68 Auch – meist auf Stereotypen beruhende – kulturelle oder nationale Verortungen dieses Phänomens spielen heute kaum noch eine Rolle, so etwa die These, romanische Länder seien aufgrund mangelnder Staatsgesinnung besonders anfällig für Korruption.69 Neuere Arbeiten konzentrieren sich dagegen stärker auf die institutionellen Voraussetzungen korrupten Handelns, nehmen die klientelaren Beziehungsgefüge und politischen Netzwerke in den Blick und fragen nach den Anreizstrukturen, welche Korruption begünstigen.70 Nimmt man diesen Paradigmenwechsel ernst, so muß auch die Praxis der Wahlbestechung in Venedig in neuem Licht betrachtet werden. Geht man davon aus, daß Korruption stets auf einem kooperativen Handeln mehrerer Akteure beruht, also eine soziale Beziehung konstituiert, dann muß man die Frage stellen, welche Rolle diese Beziehung für das Funktionieren von politischen Institutionen besitzt.71 Korrupte Praktiken wären dann nicht mehr als Abweichung von einem normativen Gesellschaftsmodell zu begreifen, sondern als konstitutives – wenngleich umstrittenes – Element der politischen und sozialen Ordnung. Angesichts einer nicht reformierbaren Verfassung und einer sozial zunehmend heterogenen Elite trugen Wahlbestechung und Korruption sogar in erheblichem Maße zur Stabilisierung der venezianischen Republik bei. Vier Aspekte sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig: 1. Der Broglio schuf ein informelles Regelsystem zur Verteilung der politischen Führungsämter. Wie bereits erwähnt, war die Zahl der zu besetzenden Ämter im Laufe der Jahrhunderte ständig angestiegen, so daß das im Mittel67

Franco Venturi, Venezia nel secondo settecento. Turin 1980. Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston (Eds.), Political Corruption. Concepts and Contexts, 3. Aufl. New Brunswick/London 2007; Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. Wiesbaden 2005; Politische Korruption, Schwerpunkt des Jahrbuchs für Europa- und Nordamerika-Studien 3, 2000. 69 Martin Göhring, Die Ämterkäuflichkeit im Ancien Regime. Berlin 1938. 70 Vgl. z. B. Wolfgang Reinhard, Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese 1605–1621 zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. Tübingen 2004; Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Korruption und politische Sprache am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000; Karsten/von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke (wie Anm. 31); vgl. auch Guido O. Kirner, Politik, Patronage und Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften, in: Berliner Debatte Initial 14, 2003, 168–183. 71 Christian Höffling, Korruption als soziale Beziehung. Opladen 2002. 68

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alter geschaffene komplizierte Ämtersystem mit seinem strengen Auswahlund Rotationsverfahren kaum noch funktionsfähig war. Etwa 900 Ämter mußten zum Teil in jährlichem Rhythmus neu besetzt werden. Aus den Studien von Oliver Domzalski über die Karrieren des venezianischen Adels ist bekannt, daß jeder Patrizier im Durchschnitt alle zwei Jahre in ein politisches Amt gewählt wurde. Nur ein Fünftel der venezianischen Adligen war im 18. Jahrhundert politisch abstinent, aktive Mitglieder des Großen Rates brachten es im Laufe ihres Lebens auf bis zu 100 Wahlen.72 Zugleich war der formale Egalitarismus der venezianischen Verfassung, der theoretisch jedem Adligen Zugang zu den höchsten Staatsämtern gewährte, längst zur Fiktion geworden. Es gab innerhalb des Adels nicht nur ein ausgeprägtes soziales Gefälle, sondern auch eine klare Hierarchie von Ämtern und politischen Funktionen.73 Gerade der Weg in die hohen Staatsämter setzte einen bestimmten cursus honorum voraus und bedurfte einer sorgfältigen Karriereplanung.74 Einige Ämter – wie etwa die Botschafterposten an den europäischen Höfen oder die Gouverneursämter in den Provinzstädten des Festlandes und in den Kolonien – waren, wie in den meisten frühneuzeitlichen Staaten üblich, mit hohen Repräsentationskosten für den Amtsinhaber verbunden. Folglich kamen nur wenige reiche Adlige dafür in Frage, diese Ämter angemessen auszuüben. Es ging nicht nur darum, zum richtigen Zeitpunkt in das richtige Amt gewählt zu werden, sondern auch darum, die Wahl in eine karriereschadende Position zu verhindern, denn eine Wahl abzulehnen war dem Gesetz nach verboten.75 Da ein politischer Markt mit Kandidaten und Wahlkämpfen offiziell nicht existierte, bildete sich über den Broglio gleichsam ein Ersatzmarkt heraus, der das erratische Wahl- und Rotationssystem steuerbar machte.76 2. Es gibt plausible Gründe für die Annahme, daß der Broglio zur Formierung stabiler Gruppenstrukturen innerhalb der politischen Elite Venedigs beitrug. Wie bereits erwähnt, war die Bildung von Parteien und Fraktionen in den politischen Gremien der Republik verboten. Natürlich hat es in der venezianischen Geschichte immer wieder politische Koalitionen gegeben, so etwa beim Konflikt zwischen den giovani und den vecchi, der im späten 16. Jahrhundert vor allem den Senat und den Zehnerrat in zwei Lager spalte72

Domzalski, Politische Karrieren (wie Anm. 23), 111–116 u. passim. Vgl. Alexander F. Cowan, Rich and Poor among the Patriciate in Early Modern Venice, in: Studi veneziani 6, 1982, 147–160; Piero del Negro, La distribuzione del potere all’interno del patriziato veneto del Settecento, in: Amelio Tagliaferri (Ed.), I ceti dirigenti in Italia in età moderna e contemporanea. Udine 1984, 311–335. 74 Vgl. Pierluigi Canali/Laura Curti, Nascita, matrimoni, „cursus honorum“ nel patriziato venezianio, in: Mélanges de l’École française de Rome 100, 1988, 137–146. 75 Vgl. Laura Megna, Riflessi pubblici della crisi del patriziato veneziano nel XVIII secolo: Il problema delle elezioni ai Reggimenti, in: Gaetano Cozzi (Ed.), Stato, società e giustizia nella republica veneta (sec. XV–XVIII). Rom 1981, 253–299, hier 275–277. 76 Zur Interpretation des Broglio als politischer Markt vgl. Burke, Venedig (wie Anm. 13), 104. 73

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te. Doch schon die Namen dieser Gruppierungen verraten, daß es sich hierbei um recht amorphe Gebilde handelte, die nicht von Dauer waren. Die Forschung hat bislang betont, daß sich politische Netzwerke und Klientelbeziehungen in Venedig vor allem auf der Basis einzelner Familien oder Familienverbände konstituierten.77 Der Zusammenschluß in Wählerblöcken, die Stimmenpakete verkauften und offenbar stabile Formationen innerhalb des Großen Rates und in anderen politischen Gremien bildeten, könnte hingegen ein Hinweis darauf sein, daß die familialen Klientelstrukturen im 18. Jahrhundert zugunsten größerer Verbände an Bedeutung verloren.78 3. Die starke Verbreitung der Wahlbestechung muß im Kontext der sozialen und demographischen Entwicklung des venezianischen Patriziats gesehen werden.79 Wie bereits erwähnt, tat sich eine breite Kluft auf zwischen der wohlhabenden Senatsaristokratie, zu der mächtige Familien wie die Contarini, die Babarigo oder die Querini gehörten, und der Masse der Adelsfamilien, die keine eigenen Einkommensquellen besaßen und die – wie es Volker Hunecke ausgedrückt hat – nicht „für den Staat, sondern auf seine Kosten“ lebten.80 Sie waren auf die Bestechungsgelder finanziell angewiesen, denn die im späten 17. Jahrhundert eingeführten Staatsrenten für notleidende Adlige (provvigioni patrizie) und die gelegentlichen Einnahmen aus Sinekuren reichten zur Lebenserhaltung einer Familie kaum aus. Das sogenannte Adelsproletariat hatte seit Ende des 17. Jahrhunderts zahlenmäßig stark an Gewicht gewonnen. Während nämlich die wohlhabenden Familien darum bemüht waren, ihren Nachwuchs zu begrenzen, um das Familienvermögen zusammenzuhalten, und überdies die nachgeborenen Söhne in geistlichen Ämtern unterbrachten – was bedeutete, daß diese aus dem Großen Rat ausscheiden mußten –, nahm die Zahl der Adligen aus ärmeren Familien kontinuierlich zu.81 Damit verschob sich das soziale Gleichgewicht innerhalb des 77 Vgl. James Cushman Davis, A Venetian Family and its Fortune (1500–1900). The Donà and the Conservation of their Wealth. Philadelphia 1975; Giuseppe Gullino, I Pisani dal banco e moretta. Storia di due famiglie veneziane in età moderna e delle loro vicende patrimoniali tra 1705 e 1836. Rom 1984. 78 Vgl. auch Jean Georgelin, Ordres et classes à Venise aux XVIIe et XVIIIe siècle, in: Ordres et classes, Colloque d’histoire sociale, Saint-Cloude 24–25 mai 1967. Paris/Den Haag 1973, 193–197. 79 Vgl. Maria-Teresa Tedesco, Andamento demografico della Nobiltà veneziana allo specchio delle votazioni nel Maggior Consiglio, in: Ateneo Veneto NS. 27, 1898, 119–164; allgemein zur demographischen Entwicklung Daniele Berltrami, Storia della popolazione di Venezia dalla fine del secolo XVI alla caduta della Repubblica. Padua 1954. 80 Volker Hunecke, Der venezianische Adel am Ende der Republik. Demographie, Familie, Haushalt 1646–1797. Tübingen 1995; vgl. auch Giovanni Ricci, L’allarme di Marco Molin. Note sulla povertà nobiliare a Venezia fra la caduta della Repubblica e la Restaurazione, in: Studi Veneziani NS. 6, 1982, 297–314. 81 Vgl. Hunecke, Der venezianische Adel (wie Anm. 80); Davis, Decline (wie Anm. 24); vgl. auch (mit Vorbehalten) Ernst Rodenwaldt, Untersuchungen über die Biologie des venezianischen Adels, in: Homo. Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen 8, 1957, 1–26.

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Patriziats immer mehr zugunsten der mittellosen Adelshäuser, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast zwei Drittel der Ratsmitglieder stellten und damit in Abstimmungen über eine starke Vetomacht verfügten.82 Dies trug dazu bei, daß die Beschaffung von Mehrheiten nicht mehr möglich war, ohne einen erheblichen Teil der Ratsmitglieder zu bestechen. Zugleich erfüllte der Broglio offenbar die Funktion eines sozialen Transfersystems zwischen den reichen und den armen Adelsfamilien.83 4. Schließlich etablierten sich über den Broglio neue Muster der sozialen Interaktion, die über den materiellen Aspekt des Tauschaktes hinausgingen. Besonders im Falle Venedigs, wo sich der Broglio über Jahrhunderte hinweg institutionalisiert hatte, beruhte die Korruption auf gewachsenen sozialen und familialen Netzwerken mit hoher Beziehungsstabilität. Gerade weil sich korrupte Transaktionen in einem illegalen oder zumindest rechtsfreien Raum abspielten, besaßen weiche Interaktionsformen wie reziprokes Vertrauen, soziales Lernen und das Wissen um informelle Spielregeln eine so große Bedeutung. Obgleich die Praxis des Broglio innerhalb des Patriziats im 18. Jahrhundert weitgehend akzeptiert war, handelte es sich doch um einen substantiellen Verstoß gegen geltendes Recht, der auch noch gelegentlich strafrechtlich verfolgt wurde. Vertraulichkeit nach innen und Abschirmung nach außen schufen eine exklusive und konspirative Gemeinschaft, in welche die nachrückenden Ratsmitglieder schon früh hineinwuchsen. Selbst diejenigen Adligen, die sich nicht selbst an den illegalen Geschäften beteiligten, wurden durch ihre stillschweigende Mitwisserschaft Teil dieser secret community. Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus diesen Beobachtungen ziehen? Der italienische Historiker Giorgio Chittolini hat in seinen Überlegungen zum frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozeß in Italien darauf hingewiesen, daß Institutionen nicht zuletzt deshalb funktionieren, weil sie durch Geschenke, Gefälligkeiten und personale Verbindungen Interessenausgleich, Kohäsion und Konsens innerhalb von Führungsgruppen schaffen.84 Mir scheint diese Interpretation der Schlüssel zum Verständnis des venezianischen Ämter- und Wahlsystems zu sein. Bis zum Jahre 1797 hat sich die 82

Vgl. Laura Megna, Nobiltà e povertà. Il problema del patriziato povero nella Venezia del’ 700, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti 140, 1982, 319–340. 83 Der amerikanische Historiker Stanley Chojnacki spricht daher von einem „cursus lucrorum“, der den „cursus honorum“ zunehmend verdrängte; Stanley Chojnacki, Political Adulthood in Fifteenth-Century Venice, in: American Historical Review 91, 1986, 791– 810, hier 796. 84 Giorgio Chittolini, The „Private“, the „Public“, the „State“, in: Journal of Modern History 67, 1995, 34–61, hier 51; vgl. auch Natalie Zemon Davis, The Gift in SixteenthCentury France. Madison 2000; Alfredo Viggiano, Dallo stato paterno all’età dei codici. Aspetti sociali delle pratiche giudiziarie nei territori veneti tra caduta della Repubblica e Restaurazione, in: Filiberto Agostini (Ed.), L’area altoadriatica dal riformismo veneziano all’età napoleonica. Venedig 1998, 247–271.

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schwierige politische Symbiose zwischen den reichen, mächtigen Adelshäusern und der verarmten Aristokratenschicht doch als so stabil erwiesen, daß sie alle Krisen relativ unbeschadet überlebte. „Broglio was the oil that made the complex machinery of state function so smoothly for so long that it seemed that Venice was free from ambition and faction. A state luminous with corruption thus became a shining example of political wisdom and public virtue.“85 Selbst in den Verfassungskämpfen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, welche in der von Zorzi Pisani und Carlo Contarini angeführten Revolte des niederen Adels ihren Höhepunkt fanden, ging es nie um eine Abschaffung der Patriziatsverfassung, sondern in erster Linie um die Beseitigung von Mißständen und um eine stärkere Beteiligung der unteren Adelsgruppen an der politischen Macht. Bis zum Ende der Republik hat es in Venedig weder einen politischen Umsturz noch die Tendenz einer monarchisch-absolutistischen Entwicklung nach mitteleuropäischem Vorbild gegeben. Es bedurfte einer von außen kommenden Erschütterung, dem Einmarsch der französischen Revolutionsheere, um das Ende der Serenissima herbeizuführen.86

85

Finlay, Politics (wie Anm. 16), 221f. Giuseppe Gullino, La fine della Repubblica Veneziana, in: Stefano Pillinini (Ed.), Venezia e l’esperienza „democratica“ del 1797. Venedig 1997, 9–24; Piero Del Negro, La fine della repubblica aristocratica, in: ders./Paolo Preto (Eds.), Storia di Venezia. Vol. 8: L’ultima fase della Serenissima. Rom 1999, 191–262. 86

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Jens Ivo Engels In der Literatur zur Geschichte der Korruption trifft man auf einen bemerkenswerten Befund: Während die Beiträge zu Großbritannien und den USA im 19. Jahrhundert recht zahlreich sind1, gibt es über Frankreich mit Ausnahme des Panama-Skandals nur sehr vereinzelte Beiträge. Das verwundert vor allem deshalb, weil Korruptionsskandale und Korruptionskritik in Frankreich während dieser Epoche politisch sehr folgenreich waren. Viel stärker als in den angelsächsischen Ländern war der Korruptionsvorwurf in Frankreich verbunden mit revolutionären Bewegungen oder zumindest mit destabilisierenden Tendenzen. Im Zusammenhang mit politischen Umbrüchen beziehungsweise mobilisierungsstarker Systemopposition war häufig der Vorwurf der Korruption zu vernehmen – das gilt hauptsächlich für die Große Revolution von 1789, im Vorfeld der Revolution von 1848 und über die gesamte Dritte Republik zwischen 1870 und 1940. Zwar gibt es einige Beiträge zur Bedeutung von Finanzskandalen sowie den Verflechtungen von Politik und Wirtschaftseliten, doch sind diese in einigen Fällen anekdotisch, in anderen wiederum stark an einzelnen Ereignissen oder Konstellationen interessiert.2 An dieser Stelle soll daher erstmals der Versuch gemacht werden, die politische Signifikanz von Korruptionskritik im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu skizzieren. Dabei werde ich zunächst einmal im Sinne einer Art Sammlung die wichtigsten Themen der Korruptionskommunikation in den drei erwähnten Phasen erläutern. Zum zweiten wird zu klären sein, auf welche 1 Zur Literaturlage für Großbritannien vgl. den Beitrag von Frank Bösch in diesem Band sowie die Angaben bei Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313–350. Zu den USA die Angaben in der Einleitung zu diesem Band. 2 Vgl. Gilbert Guilleminault/Yvonne Singer-Lecocq, La France des gogos. Trois siècles de scandales financiers. Paris 1975; Jacques Chabannes, Les scandales de la „Troisième“. De Panama à Stavisky. Paris 1972; Jean Garrigues, Les scandales de la République. De Panama à l’affaire ELF. Paris 2003; Jean-Marie Thiveaud, Crises et scandales financiers en France sous la Troisième République, in: Revue d’économie financière 41, 1997, 25–53; Christian Bouyer, Les hommes d’argent. Paris 1990; René Escaich, Les scandales et la fin des régimes, in: Écrits de Paris 321, 1973, 5–7.

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Weise diese Kritik jeweils die bestehende Ordnung zu delegitimieren und gegebenenfalls auch neue Ordnungen zu begründen half. Daneben wähle ich, drittens, einen weiteren Zugang für die Beschreibung der Korruptionskommunikation, nämlich den Zusammenhang zwischen Korruptionskritik und Moderne. Betrachtet man die Debatten über politische Korruption, so fällt auf, daß diese häufig Zustände oder Mechanismen kritisieren, die im Widerspruch zu Normensystemen stehen, welche typischerweise mit modernen Gesellschaften in Verbindung gebracht werden. Korruptionsdebatten sind mithin in der Regel auch Debatten über die Moderne, ohne daß dabei allerdings der Begriff selbst fällt. In der Korruptionskommunikation seit dem 19. Jahrhundert, so eine hier am französischen Beispiel zu erhärtende These, kommt häufig die Auseinandersetzung moderner Gesellschaften mit ihren eigenen Prinzipien zum Ausdruck; Korruptionsdebatten sind also Artikulationsformen von Reflexivität in der Moderne. Dies ist im französischen Fall möglicherweise deutlicher als in anderen, weil hier der bewußt vollzogene politisch-gesellschaftliche Bruch mit dem Ancien Régime in der Revolutionszeit härter und klarer war als in den meisten anderen Ländern. Zu den wichtigsten Prinzipien moderner Gesellschaften, die im Zuge der Korruptionskommunikation seit dem 19. Jahrhundert verhandelt wurden, gehören folgende: Moderne Gesellschaften zeichnen sich aus durch das Bemühen um (funktionale) Differenzierung, insbesondere um eine Trennung zwischen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit oder einem öffentlichen Amt – eine Verletzung dieser Trennung bildet den Kern fast jeder Korruptionskritik. Weitere Merkmale von Politik in der Moderne sind das Gebot an Staat und Regierung, für eine Inklusion der Gesellschaft zu sorgen. Das Gebot der Transparenz besagt, daß Entscheidungen möglichst nachvollziehbar zu erfolgen haben. Schließlich gilt auch das Gebot der Partizipation, der politischen Teilhabe, auch wenn dieses nicht immer Parlamentarismus oder demokratische Rechte beinhaltet, wie im folgenden zu sehen sein wird.3

I. Revolution und Empire Kritik an der Korruption des Ancien Régime war ein zentrales Motiv während der Revolution von 1789. Neben anderen Argumenten begründete nicht zuletzt dieser Vorwurf die Notwendigkeit des politischen und gesellschaftlichen Umsturzes. Hier äußerte sich erstmals der radikale Charakter 3

Zu den Merkmalen moderner Gesellschaften vgl. Guido O. Kirner, Politik, Patronage, Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften, in: Berliner Debatte Initial 14, Nr. 4/5, 2003, 168–183, und Nina Degele/ Christian Dries, Modernisierungstheorie. Eine Einführung. München 2005.

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französischer Korruptionskritik, wie er für das 19. Jahrhundert kennzeichnend sein sollte. Als Erklärung für diese Radikalität am Wendepunkt zwischen Ancien Régime und Moderne sollen hier zwei Argumente vorgetragen werden. Zum ersten möchte ich auf die spezifischen begriffsgeschichtlichen Umstände verweisen. Korruptionskritik als Teil einer politischen (Reform-)Debatte spielte im frühneuzeitlichen Frankreich erst vergleichsweise spät eine Rolle, verband sich jedoch im Vorfeld der Revolution mit der zivilisationskritischen Korruptionskritik Rousseaus. Im Sinne eines Generalverdikts über das Ancien Régime als politisches und gesellschaftliches System diente er den Revolutionären zur Legitimation ihres Tuns, und zwar mit einem Höhepunkt während der jakobinischen Schreckensherrschaft. Die weitreichenden politischen und sozialen Verwerfungen verlangten nach einem radikalen Vokabular, und die Korruptionskritik gehörte dazu. Obwohl die Rhetorik der Korruptionskritik die Revolutionsperiode so klar von der alten Gesellschaft zu trennen scheint, ist auf dem Gebiet der Praktiken dergleichen nicht zu konstatieren. Es ist allgemein bekannt, daß Praktiken wie Bestechung und Bestechlichkeit öffentlicher Amtsträger, Bereicherung auf Kosten öffentlicher Budgets und ähnliche Vergehen sich nach 1789 geradezu endemisch ausbreiteten. In einem zweiten Argument möchte ich daher untersuchen, womit zu erklären ist, warum die deutlich postulierte Trennung zwischen Staat/Verwaltung/Öffentlichkeit einerseits und Privatsphäre andererseits nicht erfolgreicher umgesetzt wurde. Dabei ist freilich zu beachten, daß es zu dieser Frage keine öffentliche Debatte in ähnlichem Ausmaß wie über das Ancien Régime gegeben hat. Beginnen wir jedoch mit einem vergleichenden Blick auf Großbritannien. Die Debatte über die sogenannte Old Corruption zwischen den 1780er und 1820er Jahren erwies sich hier als treibende Kraft bei der Modernisierung des Staatswesens. Auf diesem Wege sahen sich die regierenden Eliten genötigt, sukzessive weitreichende Änderungen in der Praxis der Ämtervergabe und Patronage vorzunehmen und staatliche Aktivitäten insgesamt stark einzuschränken. Die Debatte über Korruption begleitete also die Entstehung des modernen, „schlanken“ und zunehmend sachorientiert funktionierenden Staates.4 Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Korruptionskritik als zentrales Element in den politischen Auseinandersetzungen auf der Insel in einer langen Tradition stand. Spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert hatten Korrup4 Philip Harling, The Waning of „Old Corruption“. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846. Oxford 1996; Eckhart Hellmuth, Why Does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Proceedings of the British Academy 100, 1999, 5–23; W[illiam] D[avid] Rubinstein, The End of „Old Corruption“ in Britain, 1780–1860, in: Past and Present 101, 1983, 55–86; Engels, Politische Korruption (wie Anm. 1).

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tionsvorwürfe häufig einen Platz in den Strategien für öffentliche Auseinandersetzungen.5 Dies lag auch daran, daß das Instrument des impeachment es dem Unterhaus ermöglichte, politische Gegner auf dem Weg des Amtsenthebungsverfahrens zu attackieren und dabei die Machtausdehnung der Krone zu kontrollieren. Neben diesem pragmatischen Grund ist auch der sogenannte „machiavellian moment“6 für die Verbreitung von Korruptionsdebatten verantwortlich. Diesere bestand in der Rezeption eines humanistisch geprägten Konzepts von civic virtue, in dem persönliche Integrität und das Schicksal des Gemeinwesens aufs engste verknüpft waren. Gefahren für das verfassungsgemäße Gleichgewicht wurden auf den Inseln also schon seit längerem unter dem Stichwort Korruption debattiert. Dazu gehörten insbesondere die (tatsächlichen und vermeintlichen) Versuche von Regierungen oder der Krone, Machtmittel auf illegale Weise zu akkumulieren.7 In Frankreich stellte sich die Situation anders dar. Die Verwendung des Begriffes war hier zunächst in höherem Maß konform mit der Idee eines starken Königtums. Anhand von zeitgenössischen Wörterbüchern kann gezeigt werden, daß der Vorwurf der Korruption gegenüber öffentlichen Amtsträgern bis weit ins 18. Jahrhundert hauptsächlich bestechlichen Richtern galt. „Korruption“ brachte dabei deren Verrat am Vertrauen des Königs als Oberstem Richter zum Ausdruck. Dieser allein besaß dagegen die Fähigkeit, korrupte Institutionen oder Personen durch eine „Reform“ zu verbessern oder zu ersetzen. Im Hintergrund stand häufig die Vorstellung eines Zyklus von Verfall und Erneuerung, in dem der Monarch die erneuernde Kraft repräsentierte.8 Folglich ist die radikale Wende in der französischen Korruptionskommunikation im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besonders erklärungsbedürftig. Ideengeschichtlich kann man sie wohl darauf zurückführen, daß der antidespotische Korruptionsbegriff aus der britischen Tradition Eingang in die politische Debatte fand und zeitgleich der zivilisationskritische Korruptionsbegriff Rousseaus breite Aufmerksamkeit erfuhr. Beide Begriffsbedeutungen überlagerten sich. Der aus Antidespotismus und Zivilisationskritik zusammengesetzte Korruptionsvorwurf gegen das Ancien Régime paßte wenig später dann in den Kontext der revolutionären Bewegung, die nicht nur die

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Linda Levy Peck, Court Patronage and Corruption in Early Stuart England. Boston 1990. 6 John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. 7 Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 234, 1981, 33–62. 8 Maryvonne Génaux, Early Modern Corruption in English and French Fields of Vision, in: Arnold Heidenheimer/Michael Johnston (Eds.), Political Corruption. Concepts & Contexts. 3. Aufl. New Brunswick 2002, 107–122, 116; vgl. auch dies., Les mots de la corruption. La déviance publique dans les dictionnaires d’Ancien Régime, in: Histoire, Économie et Société 21, 2002, 513–530.

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politischen Gewichte verschieben wollte, sondern im Laufe ihrer Radikalisierung zunehmend die Strukturen der Gesellschaft zu verändern trachtete. Eine antidespotische Zielrichtung erhielt der Korruptionsvorwurf erst im unmittelbaren Vorfeld der Revolution. Und auch in diesem Kontext wurde der Monarch zunächst noch als möglicher Garant einer Überwindung der Korruption betrachtet. In den seit der Jahrhundertmitte zunehmend erbittert geführten Machtkämpfen zwischen den Parlement-Gerichtshöfen und der königlichen Regierung suchten die Unterstützer der Parlements auch jenseits des Kanals nach Argumenten; ein Beispiel ist Mably. Nach den Worten von Keith Michael Baker schrieb der Abbé Gabriel Bonnot de Mably im Kontext dieser Auseinandersetzung ein „Skript“ für eine Revolution, das in mehrfacher Weise die Entwicklungen des Jahres 1789 vorwegnahm.9 Unter Berufung auf die englische Verfassung und die Ideen des klassischen Republikanismus plädierte Mably in seiner auf 1758 datierten Schrift „Des droits et des devoirs du citoyen“ dafür, angesichts des Despotismus der Regierung den souveränen Willen der Nation wieder in sein politisches Recht zu setzen. Diesen Willen der Nation sollten die Generalstände im Sinne eines Parlaments repräsentieren. Freilich findet auch hier der Begriff der Korruption eine Verwendung, die die Institution der Monarchie bei aller Kritik als notwendiges Übel anerkennt. Ohne Monarchen könne man nur auskommen, wenn alle Menschen in vollkommener Gleichheit und Brüderlichkeit lebten. Dies sei bis auf weiteres allerdings nicht realisierbar, zu weit habe sich die Menschheit von der ursprünglichen Gleichheit entfernt. Im Zustand der Korruption, in der sich die Menschheit befinde, brauche es Restriktionen, welche die Eifersuchtskämpfe temperierten und damit verhinderten, daß ein neuer Despotismus entstehe.10 Damit ist das Stichwort für den Rousseauschen Begriff der Korruption gefallen. Wie Dieter Gembicki gezeigt hat, dominierten in der französischen Debatte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Rousseaus Vorstellungen von Korruption. Er verwendete diesen Begriff für seine Diagnose eines umfassenden Verlusts von Sittlichkeit und Moral in den zivilisierten Gesellschaften seiner Zeit. Ab den 1770er Jahren verdichtete sich die Rousseau-Rezeption von einer spezifischen Kritik an der optimistischen Hochaufklärung zu einer verallgemeinerten pessimistischen Weltsicht; aus den intellektuellen Debatten diffundierte eine verbreitete Stimmung allgemeinen Niedergangs. Der spezifische Charakter des Korruptionsbegriffs in den Debatten über Kultur, Politik und Gesellschaft lag seit Rousseau in seiner Moralität.11 9

Keith Michael Baker, Inventing the French Revolution. Essays on French Political Culture in the Eighteenth Century. Cambridge 1990, Kap. 4. 10 Ebd. 103f. 11 Dieter Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“, in: Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. H. 14/15. München 1993, 7–54.

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Die Diagnose vom Niedergang des politischen Systems verknüpfte sich über den Begriff der Korruption mit der Vorstellung vom Kulturverfall. Bereits bei Rousseau ist diese Verbindung zu finden. Neben dem Verfall der Sitten in der Zivilisation konstatierte er die Korruption in der Politik als Folge politischer Ungleichheiten.12 So verknüpfte sich, wenn man so will, ein gesellschaftsskeptischer Strang der Korruptionskommunikation mit einem antidespotischen Strang. Im französischen Kontext folgte daraus eine zunehmend revolutionäre Färbung der Korruptionskritik. Diese charakteristische Verbindung von Moral und Politik findet sich bei zahlreichen Publizisten. Das gilt beispielsweise für den Artikel „Corruption“ im „Dictionnaire universel“ von Jean-Baptiste-René Robinet, erschienen rund ein Jahrzehnt vor dem Ausbruch der Revolution. Mit Blick auf die Funktion des Korruptionsdiskurses in der Revolution ist von Bedeutung, daß Robinet eine doppelte Abhängigkeit postulierte: So sei die „corruption publique“ einerseits das Ergebnis des allgemeinen Gesellschaftsverfalls. Andererseits gebe es die Möglichkeit, daß politische Instanzen, genauer: der Gesetzgeber (législateur), beiden Übeln abhelfen könne. Damit forderte Robinet politische Maßnahmen im Sinn einer umfassenden Gesellschaftsreform. Er setzte die damit verbundenen Hoffnungen zwar ebenfalls in den Monarchen als Reformator und Vorbild, dem es nachzueifern gelte, und kontrastierte ihn mit der Korruption von Hof und Elite.13 Dennoch war der Schritt zur Idee einer politischen Revolution als Mittel gesellschaftlich-sittlicher Erneuerung nicht weit. Dies gilt um so mehr, als ein großer Teil der Pamphletliteratur in den letzten Jahren des Ancien Régime den sittlichen, aber auch körperlichen Niedergang der königlichen Familie thematisierte und damit die bei Robinet formulierte Hoffnung auf den tugendhaften Monarchen in Frage stellte. Ob die herabwürdigende und ehrmindernde Darstellung des Königs und der Königin ein neues Phänomen war und inwieweit damit tatsächlich die Legitimität des Ancien Régime entscheidend erschüttert wurde, bleibt in diesem Zusammenhang außer Betracht.14 12

Harald Bluhm/Karsten Fischer, Einleitung: Korruption als Problem politischer Theorie, in: dies. (Hrsg.), Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht. Theorien politischer Korruption. Baden-Baden 2002, 9–22, hier 13; Carl J. Friedrich, Corruption Concepts in Historical Perspective, in: Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston/Victore LeVine (Eds.), Political Corruption. A Handbook. New Brunswick 1990, 15–24, hier 19. 13 Art. „Corruption“, in: Jean-Baptiste-René Robinet, Dictionnaire universel des sciences, morale économique, politique et diplomatique, ou Bibliothèque de l’Homme d’État et du Citoyen. 30 Vols. London 1777–1783, hier Vol. 14, 202–249. 14 Zu dieser Diskussion unter anderem Haydn T. Mason (Ed.), The Darnton Debate. Books and Revolution in the Eighteenth Century. Oxford 1998; Jens Ivo Engels, Kein Blatt vor den Mund. Das Königsbild in der französischen Untergrundliteratur 1680 bis 1770 – eine Auseinandersetzung mit den Thesen Robert Darntons, in: Franz Mauelsha-

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Hier soll auch in keiner Weise der Versuch unternommen werden, den Ausbruch oder auch nur den Verlauf der Revolution mit der französischen Korruptionskommunikation zu erklären. Vielmehr wird danach gefragt, aus welchen Quellen sich die Korruptionskritik in der Revolution speisen konnte. Während der Revolution stand ein Korruptionsbegriff zur Verfügung, der mehrere Bedeutungsdimensionen miteinander verknüpfte: Kritik an Unfreiheit und Despotismus als funktioneller Niedergang der politischen Verfassung sowie sittlicher Niedergang der Gesellschaft und ihrer wichtigsten Repräsentanten. Robespierre faßte diesen Zusammenhang einige Jahre später in folgende prägnante Worte: „Der Despotismus hat die Korruption der Sitten herbeigeführt und die Korruption der Sitten stützte den Despotismus.“15 Somit avancierte die Kritik an der Korruption des Ancien Régime bereits im Jahr 1789 zu einem häufig verwendeten Topos. In den Debatten der Nationalversammlung und den Artikeln revolutionärer Zeitungen war die Klage über Korruption von König, Adel und Geistlichkeit weit verbreitet.16 Der Korruptionsvorwurf war deshalb attraktiv, weil er mit einem Wort das politische System und die gesamte Gesellschaftsordnung des Ancien Régime desavouieren und das Neue legitimieren konnte. Daran gab es fraglos großen Bedarf, schließlich hatte das Prinzip frühneuzeitlicher Reform meist in der Behauptung bestanden, das Alte wiederherzustellen. Der bewußt vollzogene Abschied vom Bestehenden gilt als entscheidendes Kennzeichen moderner Gesellschaften17, und er war die entscheidende Triebkraft hinter einer Revolution, die sich bis 1794 immer weiter radikalisierte. Gegen die korrupten Verhältnisse ihrer Gegenwart setzten die Revolutionäre zunehmend den Anspruch, die Gesellschaft zu „regenerieren“. Ein sprechendes Beispiel hierfür zeigte sich etwa auf dem Gebiet der politischen Körpermetaphern, die den schwächlichen Körper des angeblich impotenten Königs durch den vitalen Patrioten beziehungsweise Citoyen ersetzten.18 1789 war allerdings der Höhepunkt der Korruptionskommunikation noch nicht erreicht, denn der Korruptionstopos diente zudem als Vehikel, um die gen/Benedikt Mauer (Hrsg.), Medien und Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit. Augsburg 2000, 179–195. 15 „Le despotisme a produit la corruption des mœurs et la corruption des mœurs a soutenu le despotisme“; Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“ (wie Anm. 11), 51 Anm. 173. 16 Ebd. 44, mit Belegen. 17 Dies gilt nicht nur für Staat und Gesellschaft, sondern sogar für den technischen Wasserbau; vgl. zur Frühneuzeit Christian Wieland, Grenze zwischen Natur und Machbarkeit. Technik und Diplomatie in der römisch-florentinischen Diskussion um die Valdichiana (17. Jahrhundert), in: Saeculum 58, 2007, 13–32; sowie für die (sowjetische) Moderne Julia Obertreis, Infrastrukturen im Sozialismus. Das Beispiel der Bewässerungssysteme im sowjetischen Zentralasien, in: Saeculum 58, 2007, 151–182. 18 Mona Ozouf, L’homme régénéré. Essais sur la Révolution française. Paris 1989; Antoine de Baecque, Le corps de l’histoire. Métaphores et politique (1770–1800). Paris 1993.

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Radikalisierung der Revolution voranzutreiben. Insbesondere die Jakobiner untermauerten ihre Forderungen nach „Reinigung“ mit dem Vorwurf der Korruption. Dieser galt zwar weiterhin auch dem Ancien Régime, wurde aber zunehmend ausgeweitet und verlor dabei seine scharfen Konturen. Insbesondere zur Zeit der Jakobinerherrschaft und der Terreur waren korrupt all jene Elemente, die vorgeblich die Reinheit der Revolution gefährdeten. Dazu gehörten in Zeiten des Krieges das Ausland, insbesondere Großbritannien, und all jene Agenten, die tatsächlich oder angeblich von ausländischen Mächten Geld empfingen. Dazu gehörten aber vor allem auch die politischen Gegner im Innern. Die Republik, so Saint-Just am 26. Februar 1794 vor dem Konvent, sei im Unterschied zur Monarchie diejenige Staatsform, die die Korruption von Menschen und Gesetzen verhindern könne – vorausgesetzt, sie verfüge über entsprechende Mittel. Das Ausland könne Frankreich nur auf einem Wege vernichten, nämlich durch die Korruption der Sitten. Daher seien „starke Gesetze“ unabdingbar.19 Konkret war damit intendiert, die massenhafte Inhaftierung und Hinrichtung von politischen Gegnern zu rechtfertigen. So konnte der Korruptionsvorwurf direkt auf die Guillotine führen. Der Korruptionsvorwurf untermauerte den Anspruch der Jakobiner, ihre politischen Gegner zu verfolgen und hinzurichten, und zwar als Teil eines Projekts zur gewalttätigen Reinigung des Landes. Der Korruptionsvorwurf und der quasi totalitäre, zumindest aber diktatorische Machtanspruch der Jakobiner gehörten eng zusammen. Vor allem im Denken Robespierres kann hierbei das Fortleben Rousseauscher Vorstellungen nachgewiesen werden.20 Die Verknüpfung konkreter Vorwürfe wie Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit mit dem Vorwurf des Verrats an der Revolution zeigt sich beispielhaft im Umgang mit den ehemaligen Generalpächtern des Ancien Régime. Zur Geschichte der Generalpacht von Steuern gehörte seit ihren Anfängen 1681 das Mißtrauen der Besteuerten gegenüber jenen Investoren, die der französischen Krone die erwarteten Einnahmen aus den indirekten Steuern vorstreckten und anschließend auf eigene Rechnung erhoben. Kritik entzündete sich nicht zuletzt daran, daß die Fermiers généraux in aller Regel erhebliche Gewinne erzielten. Auch in den Cahiers de doléances des Jahres 1788 warfen viele Beschwerdeführer den Pächtern Veruntreuungen und Bereicherung auf Kosten der Untertanen vor. Der revolutionäre Gesetzgeber hatte damit in zweierlei Hinsicht Grund, die Generalpacht abzuschaffen: Zum einen vermischte sie privates Geschäft und hoheitliche Aufgaben, verstieß also gegen das „moderne“ Gebot der Trennung zwischen beiden Sphären. Zum zweiten wurde sie von einer Gruppe von Personen verkörpert, die gleichsam paradigmatisch den despotischen und moralisch verkommenen Charakter der alten Gesellschaftsordnung vor Augen zu führen schienen. 19 20

Louis Antoine Léon de Saint-Just, Discours et rapports. Paris 1957, 135f. Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“ (wie Anm. 11), 52 Anm. 180.

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Politisch konnte man mit einem konsequenten Vorgehen gegen die Finanziers nur gewinnen. Dies wußte auch die königliche Regierung, die die Steuerpacht bereits im März 1789 beendete. 1791 beschloß die Nationalversammlung das Ende jeder Geschäftstätigkeit der Pächter und setzte eine Kommission ein, die innerhalb von zwei Jahren eine Endabrechnung über die Pachtverträge liefern sollte. Handelte es sich hier zunächst um eine geschäftsmäßige Abwicklung unter weitgehender Wahrung der Eigentumsrechte der Pächter, leitete der von den Jakobinern dominierte Konvent 1793/94 strafrechtliche Verfolgungen ein. Zunächst wurde ein Großteil der ehemaligen Pächter inhaftiert und später dem Revolutionstribunal vorgeführt. Von 32 Inhaftierten wurden im Frühjahr 1794 28 zum Tode verurteilt. Bemerkenswerterweise führte zu dieser Verurteilung nicht der Vorwurf der Veruntreuung oder Unterschlagung; vielmehr wurden die Generalpächter als Komplotteure gegen das Volk und Unterstützer der Feinde Frankreichs hingerichtet.21 Damit galten sie als Teil jener Gruppen, die Saint-Just und Robespierre pauschal der Korruption beschuldigten. Ganz ähnlich verhielt es sich auch mit dem Prozeß gegen die Beschuldigten im Skandal der Indienkompanie im April 1794. Im Kern ging es hier um Abgeordnete des Konvents, die auf eine Baisse der Aktien der Kompanie spekuliert und die Kursrückgänge mit Debattenbeiträgen im Parlament selbst hervorgerufen hatten. Zudem standen finanzielle Beziehungen führender Mitarbeiter der Kompanie zu Aristokraten und Agenten des Auslands in der Anklageschrift. Im Prozeß wurden „Korrumpierte“ und „Beschützer“ der Korrumpierten sowie „ausländische Agenten“ angeklagt. Unter die Beschützer fielen so prominente Gegner Robespierres wie Danton und Desmoulins, die auf dem Schafott endeten.22 Diese Urteile folgten der Logik des revolutionären, vor allem jakobinischen Sprachgebrauchs, in dem der Gegensatz von Reinheit und Korruption eine zentrale Rolle einnahm. Dabei beinhaltete der Korruptionsvorwurf weniger einen konkreten und finanziell relevanten Tatbestand, sondern hauptsächlich Unmoral und Verrat. Der Gebrauch des Korruptionsvorwurfs in der blutigsten Phase der Revolution hatte nach deren Ende am 9. Thermidor des Jahres II (27. Juli 1794) zur Folge, daß er als politischer Leitbegriff desavouiert war und anschließend kaum noch Verwendung fand.23 Erst in der Julimonarchie stieg er wieder unter die zentralen politischen Deutungskategorien auf. Neben dem Stellenwert der Korruptionskritik in der politischen Debatte ist zudem ein Blick auf die Praktiken angebracht. Auch wenn Debatten und 21

Diese Darstellung folgt Valérie Goutal-Arnal, Réalité et imaginaire de la corruption à l’époque de la Révolution française, in: Revue française de finances publiques 69, 2000, 95–114. 22 Guilleminault/Singer-Lecocq, France des gogos (wie Anm. 2), 100–102. 23 Gembicki, Art. „Corruption, Décadence“ (wie Anm. 11), 51.

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Konzepte nicht notwendigerweise mit Praktiken korrelieren – der jakobinische Pauschalvorwurf an alle politisch Mißliebigen ist hier das einschlägige Gegenbeispiel –, so sind sie dennoch nicht losgelöst von Handlungen und Erfahrungen zu verstehen. Die Zeit der Revolution und der auf sie folgenden napoleonischen Herrschaft brachte in rasantem Tempo eine neue Konzeption von staatlicher Verwaltung, ein neues Verständnis öffentlicher Ämter im allgemeinen sowie eine zunehmend strikte Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre mit sich. Diese Grenzziehung betraf unterschiedliche Bereiche. So wird immer wieder auf die Ausweisung der Frauen aus der politischen Öffentlichkeit hingewiesen, die beispielsweise im Männerwahlrecht und der Schließung der Frauenclubs durch die jakobinische Revolutionsregierung zum Ausdruck kam.24 Auf eine knappe Formel gebracht folgten die administrativen Reformen um 1800 weitgehend dem Ideal der leistungsorientierten bürokratischen Verwaltung, deren Idealtypus ein Jahrhundert später von Max Weber beschrieben wurde.25 Das gilt insbesondere für das Amtsverständnis. Die Nationalversammlung beschloß bereits 1789, die Beamtenbesoldung zu verstaatlichen. Öffentliche Bedienstete und Richter sollten fortan von ihren Schutzbefohlenen keinerlei Zuwendungen, Geschenke und Sporteln mehr für ihre Dienste erhalten und den Bürgern gegenüber unentgeltlich tätig werden. Zur Begründung hieß es auch in diesem Zusammenhang, daß damit die Sitten „regeneriert“ und der „Korruption“ und „Käuflichkeit“ Einhalt geboten würden.26 Auch wenn die Realität dem Ideal nicht immer entsprach und Beamte auch weiterhin teilweise von den Gebühren lebten, die sie einnahmen27, gilt das französische Modell im Vergleich zu den britischen und den meisten deutschen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts als Vorreiter.28 Dabei mußten die französischen Reformer einen besonders weiten Weg zurücklegen. Der Grund dafür liegt darin, daß die meisten Reformversuche in der Endphase des Ancien Régime gescheitert und die charakteristisch frühneuzeitlichen Elemente im französischen Verwaltungswesen bis zum Ausbruch der Revolution weitgehend unangetastet geblieben waren – beispielsweise das System der Kaufämter.29 Dagegen hatten vor allem in Deutschland die admi24

Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die Französische Revolution. München 2004, 95. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1976, insbes. 551–572. 26 J.-P. Jourdan, Pour une histoire des traitements des fonctionnaires de l’administration au XIXe siècle: L’apport du Bulletin des Lois à travers les années 1789–1814, in: Histoire, Économie et Société 10, 1991, 227–244, hier 228f. 27 Jourdan, Histoire (wie Anm. 26), 230f. 28 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2000; Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfurt am Main 1986. 29 William Doyle, Venality. The Sale of Offices in Eighteenth Century France. Oxford 1996. 25

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nistrativen Veränderungen im Reformabsolutismus bereits ein modernes Amtsverständnis erkennen lassen. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der die neuen Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat in Frankreich vorgenommen wurden, ist es nicht verwunderlich, daß die Praktiken kaum folgen konnten. Selbst eines der wichtigsten Instrumente der jakobinischen „Tugend“Herrschaft, die politische Strafjustiz, war in ein dichtes Netz von Bestechung und Vergünstigungen eingewoben. So war es an der Tagesordnung, daß vermögende Angeklagte sich unter dem Vorwand von Gesundheitsproblemen in eine Art privater Luxusgefängnisse einmieten konnten, die unter dem Namen Maisons de santé ihre Dienste anboten und von den Behörden geduldet wurden. In vielen Fällen erreichten Inhaftierte durch Schmiergeldzahlungen auch, daß der öffentliche Ankläger beim Revolutionstribunal, Antoine Fouquier-Tinville, seine Strafanträge abmilderte oder fallenließ.30 Diese Vorgänge waren häufig und wurden offenbar mit System betrieben. Somit ist die Aussage berechtigt, daß hier öffentliche Ämter oder Institutionen zumindest teilweise wie private „Betriebe“ geführt wurden, deren Einnahmen die Amtsträger „im Extremfall zu maximieren versuchten“. So jedenfalls beschreibt Jakob van Klaveren die Funktionsweise von Korruption.31 Im Unterschied zur Justiz des Ancien Régime, in der diese „Betriebsart“ in Gestalt der Kaufämter teilweise institutionalisiert war, handelte es sich nun fraglos um eine Anomalie, die dem Ideal des „reinen“ Staatswesens widersprach. Der Erkenntniswert dieser Aussage erschöpft sich nicht darin, den revolutionären Akteuren Doppelmoral oder den Verstoß gegen ihre hochfliegenden Tugendvorstellungen nachzuweisen. Vielmehr ist nach den strukturellen Hintergründen zu fragen. Es spricht viel dafür, daß die neuen, auf den ersten Blick trennscharfen Kategorien der Reinheit und der Scheidung von Öffentlichkeit und Privatsphäre zumindest kurzfristig nicht umsetzbar waren. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, daß die Gelegenheiten zur Bereicherung angesichts der Verstaatlichung der Kirchengüter, der Emigration von Aristokraten und deren Enteignung sowie ähnlicher Eigentums- und Machtverschiebungen sehr groß waren.32 Zugleich entstand innerhalb weniger Jahre, ja Monate, eine neue politische Elite, deren Angehörige in der Regel zunächst wenig vermö30

Olivier Blanc, La corruption sous la Terreur (1792–1794). Paris 1992, 156–185. Jacob van Klaveren, Die historische Erscheinung der Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289–324, hier 292. 32 Michel Bruguière, Gestionnaires et profiteurs de la Révolution. L’administration des finances françaises de Louis XVI à Bonaparte. Paris 1986. Zum Nationalgüterverkauf etwa Gabriele B. Clemens, Immobilienhändler und Spekulanten. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung der Großkäufer bei den Nationalgüterversteigerungen in den rheinischen Departements (1803–1813). Boppard 1995. 31

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gend waren. Ihre politische Handlungsfähigkeit bei der Bildung von Gefolgschaften hing jedoch in einer Zeit rascher konstitutioneller Wechsel und wenig gefestigter politischer Institutionen in großem Maße davon ab, über welche finanziellen Ressourcen sie verfügen konnten. Dies gilt es auch mit Blick auf das Direktorialregime von 1795 bis 1799 zu beachten. Dessen Führungspersonal gilt traditionell als Paradebeispiel für korrupte Emporkömmlinge, allen voran Paul Barras. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, daß die finanziellen Verflechtungen zwischen Politikern und wirtschaftlichen Akteuren, etwa den Lieferanten der Armee, höchst komplex waren. Sie erlaubten es, eine dauerhafte Versorgung der Armee und damit auch eine politische Stabilisierung sicherzustellen.33 Auch der Finanzsektor der Direktoriumszeit bildet ein Feld, das sich der einfachen Kategorisierung von öffentlich versus privat entzieht.34 Zudem sah sich die neue politische Elite vor die Aufgabe gestellt, ohne ausreichende private Mittel einen Prestigekonsum zu betreiben und dabei mit den ökonomischen Eliten mitzuhalten. Eine Reihe großer Vermögen aus dem Ancien Régime, insbesondere in bürgerlichen Familien, waren schließlich nicht angetastet worden.35 Die Probleme können auch genereller formuliert werden: Mit der Zerstörung der „spätfeudalen“ Gesellschaft zerstörte die Revolution zugleich weitgehend die Grundlagen der alten Patronage- und Verflechtungspraktiken, die die Gesellschaften der Frühen Neuzeit mit strukturiert und stabilisiert hatten. Neue Formen der Organisation politischer und sozialer Gefolgschaft traten nun häufiger in Konflikt mit der scharfen Trennung von gemeinem Wohl und privatem Nutzen. Dies zeigt sich beispielsweise mit Blick auf die französische Krone zwischen 1789 und 1792. Unter dem Eindruck der fortschreitenden Entmachtung und zunehmenden Infragestellung der Monarchie mußten neue Wege zur Stabilisierung von Loyalität und Bindung an den Herrscher gefunden werden – zumal dies angesichts der neuen Machtverteilung auch bitter nötig war. Die Mehrzahl der alten Gnadenerweise wie Erhebung in den Adelsstand, Stiftung von Ehen, Übertragung von Hofämtern hatten ihre Attraktivität verloren oder waren abgeschafft.36 Außerdem, so scheint es, waren unter den revolutionären Bedingungen kurzfristige Erfolge wichtiger als langfristige Bindungen. So entstand im Umkreis des Königs eine Art „Schmiergeldzentrale“, geführt von Omer Talon und Maximilien Radix de Sainte-Foy.

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Howard G. Brown, A Discredited Regime: The Directory and Army Contracting, in: French History 4, 1990, 48–76. 34 Bruguière, Gestionnaires (wie Anm. 32), 133. 35 Bouyer, Hommes (wie Anm. 2). 36 Zur frühneuzeitlichen Patronage verschiedene Beiträge in Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006.

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Sie diente dazu, verdeckte Geldzahlungen an Abgeordnete und Publizisten zu leisten, um auf diese Weise die Entscheidungen des Parlaments im Sinne der Krone zu beeinflussen, die Kräfteverhältnisse innerhalb politischer Gruppen wie der Jakobiner zu verändern und gezielt Unruhen in Paris zu schüren – neben dem notorischen Mirabeau war auch Danton unter den Empfängern. Die Gelder stammten teilweise aus privaten Vermögen von Aristokraten, teilweise aber auch aus dem öffentlichen Budget.37 Im Unterschied zum Patronagesystem des Ancien Régime schufen geheime Geldzahlungen keine dauerhaften politischen Loyalitäten, sie wurden von keinem gesellschaftlich anerkannten Patronageethos untermauert und standen im Widerspruch zum Amtsverständnis der konstitutionellen Monarchie. Ein ähnliches Dilemma läßt sich auch mit Blick auf die napoleonische Herrschaft konstatieren. Diese stand im Grundsatz auf der Basis des modernen Staatsverständnisses. Doch auch das napoleonische System basierte in großem Umfang auf persönlichen Loyalitätsbeziehungen zwischen dem Kaiser und der von ihm neu geschaffenen Gruppe der Notabeln und des Neuadels. Zu den Vergünstigungen, die viele dieser Personen erhielten, gehörten neben Titeln und Auszeichnungen auch finanzielle Zuwendungen und Ländereien. Auch wenn diese teilweise aus der Kriegsbeute des siegreichen Heerführers entnommen wurden, handelte es sich oft um öffentliches Eigentum, das im Dienst der Herrschaftsstabilisierung privatisiert wurde. Ein bekanntes und politisch folgenreiches Beispiel ist das Schicksal der Staatsdomänen im Satellitenstaat Westfalen, von denen ein großer Teil an französische Generäle und Würdenträger vergeben wurde, was die Zustimmung der westfälischen Bevölkerung zu dem neuen Staatswesen stark einschränkte.38 Nach frühneuzeitlichen Vorstellungen wären diese Übertragungen weniger problematisch gewesen, da der Dienst am Fürsten und der Dienst am Gemeinwesen ebensowenig zu trennen waren wie das Eigentum des Staates und des Monarchen. Unsicherheiten beim Umgang mit Geschenken und Zuwendungen an Einzelpersonen machten sich auch im diplomatischen Verkehr bemerkbar. Der Erste Konsul beziehungsweise Kaiser Napoleon selbst weigerte sich, von seinen Verhandlungspartnern Geld oder Geschenke anzunehmen und verbot dies auch seinem Außenminister Talleyrand, zumindest offiziell. Dies führte zu Verunsicherungen bei den auswärtigen Diplomaten, da es im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten unter Fürsten stand. Tatsächlich stellte das Staatsoberhaupt eine Ausnahme dar, denn Talleyrand nahm sehr wohl wertvolle Sachpräsente und Geld an, während die Mitarbeiter des Pariser Außenamts bare Münze erwarteten – wohl wissend, daß dies vom Staats37

Blanc, Corruption (wie Anm. 30), Kap. 1, sowie 11–13, 30, 54. Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807–1813. Göttingen 1973. 38

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oberhaupt nicht geduldet wurde. Auch die Heimlichkeit bei der Annahme dieser Zuwendungen war neu.39 Lenkt man den Blick von der Makroebene der napoleonischen Herrschaft auf die Mikroebene der Departementsverwaltung, so stößt man auf ähnliche Aporien bei der Umsetzung einer „korruptionsfreien“ Verwaltung. Gemeinhin gilt die Rekrutenaushebung im napoleonischen Frankreich als Paradebeispiel dafür, daß die neu eingerichtete Departementsverwaltung hervorragend funktionierte und die Vorgaben der Regierung weitgehend ohne Ansehen der Person umsetzte. Anhand einer Mikrostudie über Rouen konnte Gavin Daly jedoch zeigen, daß das System nicht ohne die Unterstützung der lokalen Eliten auskam. Die Erfolge des Präfekten bei der Etablierung des napoleonischen Zentralstaates gingen nicht zuletzt darauf zurück, daß er ein ausgefeiltes System von Bestechung und Betrug zum Vorteil der lokalen Oberschicht duldete und wahrscheinlich auch förderte. Dieses erlaubte es den jungen Männern aus der Oberschicht beispielsweise, den Wehrdienst zu umgehen. Ähnliche Vorgänge gab es auch mit Blick auf andere Regelungsbereiche, insbesondere hinsichtlich der Einhaltung der Kontinentalsperre. Auf diese Weise sicherte der kontinuierliche, aber partielle Verstoß gegen die Grundsätze des modernen Verwaltungsstaats dessen Effizienz und Erfolg.40 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hier angesprochenen Praktiken im napoleonischen Frankreich lautete nach dem Ende des Empire ein wichtiger Vorwurf an die Liberalen, sie hätten sich von Napoleon „korrumpieren“ lassen – eine Bewertung, die auch in Italien verbreitet war.41 Umgekehrt verwarfen aber auch eher liberal gesinnte Publizisten wie Jean-Baptiste Say das napoleonische Experiment, das der Korruption der Sitten Vorschub geleistet habe.42 Als Fazit über die Revolutionsepoche bleibt festzuhalten, daß die Korruptionskritik in ihrer Verbindung von Despotiekritik und Zivilisationsskepsis einerseits den Bruch zwischen neu und alt umfassend artikulieren half und auch die Radikalisierung in der Jakobinerherrschaft mit trug. Andererseits ist deutlich zutage getreten, daß die Praktiken den hochfliegenden normativen Vorgaben aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht folgen konnten. Der Korruptionsvorwurf begleitete einen rasanten Modernisierungsprozeß, indem er in der französischen Geschichte erstmals systematisch einige Bauprinzipien mo39

Vgl. die Schilderungen aus Sicht der bayerischen Diplomatie während der Entschädigungsverhandlungen für die Neuaufteilung Deutschlands zwischen 1801 und 1802 sowie einzelne Fälle 1807 bei Eberhard Weis, Montgelas. Bd. 2: Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799–1838. München 2005, 137–149, 192–194. 40 Gavin Daly, Inside Napoleonic France. State and Society in Rouen, 1800–1815. Aldershot 2001; ders., Conscription and Corruption in Napoleonic France. The Case of the Seine-Inférieure, in: European Review of History 6, 1999, 181–197. 41 Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001, 176, 213. 42 Richard Whatmore, Republicanism and the French Revolution. An Intellectual History of Jean-Baptiste Say’s Political Economy. Oxford 2000, 199.

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derner Gesellschaften artikulieren half. Dazu gehörte zunächst der dezidierte Abschied von einem als überholt und unmoralisch gebrandmarkten Regime und seiner Gesellschaftsordnung mit der neuartigen Rhetorik des Bruchs, aber auch das Gebot der Trennung zwischen privater Sphäre und öffentlichem Amt. Bei den Jakobinern dominierte daneben das Motiv der nationalen Inklusion, ja sogar Homogenisierung, welches sie auf dem Weg der gewaltsamen Reinigung erreichen wollten. In den Aktionen gegen die Generalpächter klang bereits ein Motiv an, das vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominieren sollte, nämlich die antikapitalistische Ausrichtung der Korruptionskritik.

II. Julimonarchie Die zweite Hochphase von Korruptionsdebatten in der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts lag in der späten Julimonarchie. Vor allem im zweiten Jahrzehnt der Regentschaft des Bürgerkönigs wurde die Klage über Korruption in der politischen Elite des Landes zu einer festen Größe. Sie richtete sich nicht zuletzt gegen die von François Guizot dominierte Regierung, die politische Liberalisierung und soziale Reformen verweigerte. In der Forschung wird die Erosion der Julimonarchie gegen Mitte/Ende der 1840er Jahre zunehmend auch als eine Folge dieser massiven Korruptionsvorwürfe betrachtet. Sie wurden insbesondere in den letzten Jahren vor der Revolution von einer ganzen Reihe einschlägiger Skandale genährt. Während der Phase der Reformbankette in der zweiten Jahreshälfte 1847 und Anfang 1848, von denen die Initialzündung zur Februarrevolution ausgehen sollte, gehörten die Klagen über Korruption, den Niedergang der öffentlichen Moral sowie die Schändlichkeit der Regierenden unter Einschluß des Königs zu den unermüdlich vorgebrachten Gravamina. Neben konkreten politischen Forderungen, etwa nach Wahlrechtsreformen, verdichteten sich solche pauschalen Bewertungen ähnlich wie um 1789 zu einem Ausdruck umfassender Mißachtung des existierenden politischen Systems.43 Freilich begann dieser Prozeß nicht erst im Sommer 1847, sondern die moralische Verurteilung der Julimonarchie hatte bereits früher eingesetzt und beeinflußte neben der politischen Diskussion im engeren Sinne auch literarische und künstlerische Darstellungen.44 43 Nachweise bei William Fortescue, Morality and Monarchy. Corruption and the Fall of the Regime of Louis-Philippe in 1848, in: French History 16, 2002, 83–100, hier 89f. 44 Sharif Gemie, Balzac and the Moral Crisis of the July Monarchy, in: European History Quarterly 19, 1989, 469–494; Amy W. Forbes, ‚Let’s add the Stomach‘: Satire, Absurdity and July Monarchy Politics in Proudhon’s What is Property?, in: French Historical Studies 24, 2001, 679–705; Jo B. Margadant, Gender, Vice, and the Political Imaginary in Postrevolutionary France: Reinterpreting the Failure of the July Monarchy, 1830–1848, in: American Historical Review 104, 1999, 1461–1496.

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Bereits Alexis de Tocqueville hat in seinen „Souvenirs“ rückblickend geurteilt, daß die Korruptionsskandale die gesamte Elite der Julimonarchie desavouierten; die Bevölkerung habe dem System daher schon vor 1848 seine Unterstützung entzogen.45 Tocqueville hielt die schweigende Distanzierung der Franzosen von den Herrschenden nicht für grundlos. Es handele sich um die Folge struktureller Probleme der Julimonarchie, die er als Abschluß einer langen revolutionären Periode seit 1789 betrachtete. In Tocquevilles Darstellung war der Staat nach der Revolution von 1830 endgültig in die Hände der „Bourgeoisie“ beziehungsweise der „Mittelklasse“ gelangt. Deren Herrschaftsausübung habe vor allem der Gewinnmaximierung gedient: „Die Regierung dieser Zeit nahm gegen Ende die Züge eines Unternehmens an, in dem alle Maßnahmen sich nach dem Interesse des Profits der Gesellschafter richten“. Dies aber bedeutete den Verfall der Sitten und Werte.46 Diese Beschreibung mutet fast wie eine Vorwegnahme der Korruptionsdefinition nach Jacob van Klaveren an.47 Da auch der König ähnliche Interessen verfolgte und ihm jede heroische Note gefehlt habe, so Tocqueville, bildete er kein Gegengewicht zu diesen Tendenzen, was seine Aufgabe gewesen wäre, sondern erwies sich als ein „einzigartig gefährlicher und korrumpierender Monarch“.48 Tocquevilles Kritik am Juliregime folgte dem klassischen Muster der modernen Korruptionskritik: Er konstatierte eine unzulässige Vermischung öffentlicher Aufgaben und privater Gewinninteressen – eine Vermischung, die er als mangelnde Moral, Lasterhaftigkeit („vice“), Niedertracht und fehlende „grandeur“ beschrieb. Hinzu trat Mißtrauen gegenüber dem Gewinnstreben. Besonders problematisch erschien Tocqueville dabei die „consanguinité“ von König und Bourgeoisie. Er kritisierte damit nicht nur eine mangelnde Differenzierung der öffentlichen und privaten Interessen, sondern auch zwischen Funktionseliten und Herrscher. Den Hintergrund für dieses ungünstige Urteil über die Krone bildete die Tatsache, daß es der orléanistischen Dynastie und ihrem wichtigsten Repräsentanten augenscheinlich nicht gelungen war, in der Öffentlichkeit den klassischen Anforderungen an den „guten Herrscher“ gerecht zu werden. Das hätte nämlich geheißen, sich gewissermaßen als Inkarnation des Gemeinwohls und Korrektiv selbstsüchtiger Minister zu beweisen.49 Statt dessen war 45

Alexis de Tocqueville, Souvenirs. (Oeuvres complètes, Vol. 12.) Paris 1964, 35. „Le gouvernement d’alors avait pris, sur la fin, les allures d’une compagnie industrielle, où toutes les opérations se font en vue du bénéfice que les sociétaires en peuvent retirer“, Tocqueville, Souvenirs (wie Anm. 45), 31. 47 Vgl. Anm. 31. 48 „Un prince […] singulièrement dangereux et corrupteur“, Tocqueville, Souvenirs (wie Anm. 45), 32. 49 Zu den frühneuzeitlichen Grundlagen Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten

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die kritische Presseberichterstattung der Julimonarchie geprägt von dem Verdacht, der König und seine Verwandten handelten egoistisch, geldgierig und im Widerspruch zum öffentlichen Wohl. Die militärischen Interventionen in Algerien beispielsweise erschienen als ein selbstsüchtiges Unternehmen, das dem Sohn des Königs die Gelegenheit bot, Schlachtenruhm zu erlangen, aber nicht im Interesse des Landes lag.50 Neben den Fehlern der Dynastie erschütterten mehrere Skandale das Land, die die Käuflichkeit hoher Würden- und Funktionsträger erwiesen. Einer der wichtigsten derartigen Fälle war die Affäre Teste/Despans-Cubières. Im Frühjahr 1847 verhandelte die Chambre des Pairs, die erste Kammer des Parlaments, als Gerichtshof über drei seiner Mitglieder, die sich wegen korrupter Praktiken verantworten mußten. In dem Verfahren ging es um die Erteilung einer Lizenz für eine Salzmine im Jahr 1842. Die Lizenz war auf betrügerische Weise und unter Bereicherung prominenter Vertreter der politisch-gesellschaftlichen Elite vergeben worden: Ein Teilhaber der Salzminengesellschaft Gouhenans, Amédée Louis Despans de Cubières, hochdekorierter und schon unter Napoleon aktiver Offizier, sowie 1839 und 1840 kurzzeitig auch Kriegsminister, hatte gemeinschaftlich mit zwei weiteren Repräsentanten des Unternehmens den Minister für Öffentliche Arbeiten, Jean-Baptiste Teste, mit klingender Münze bestochen, um so die Abbaugenehmigung zu erhalten. Öffentlich wurden diese Vorgänge zwar durch einen Pressebericht in der Zeitung Le Droit – allerdings nicht aufgrund investigativen Journalismus, sondern infolge eines Rechtsstreits zwischen dem General und Marie-Nicolas-Philippe-Auguste Parmentier, dem Direktor der Gesellschaft. Insofern kann von einer Selbstdestruktion gesprochen werden. Bemerkenswert ist vor allem auch, daß die Beteiligten sich in ihrer offengelegten Korrespondenz explizit über den „korrupten“ Charakter der Regierung austauschten und damit eine decouvrierende Innensicht der Elite der Julimonarchie aufschien.51 Die Aufgabe der regierungstreuen Presse, eine Verteidigungsstrategie aufzubauen, war vor diesem Hintergrund nicht einfach. Angesichts der Schuldsprüche gegen alle Beteiligten beschränkte sie sich auf den Hinweis, hier handele es sich um individuelle Verfehlungen, um Einzeltäter gewissermaßen, deren positive Leistungen für das Land aber nicht vergessen werden Jahrhunderts. Bonn 2000; zur Situation der restaurierten Monarchie Natalie Scholz, Die imaginierte Restauration. Repräsentationen der Monarchie im Frankreich Ludwigs XVIII. Darmstadt 2006. 50 Fortescue, Morality (wie Anm. 43), 87; Margadant, Gender (wie Anm. 44). 51 Schilderung des Falls bei Fortescue, Morality (wie Anm. 43), 91f.; Paul Frank, Un procès en corruption. L’affaire Teste et Cubières, Revue politique et littéraire, in: Revue Bleue, 3e série 25, 1893, 1er semestre, 107–112. Vgl. auch Cour des pairs. Affaire des mines de Gouhenans. Interrogatoires des inculpés et dépositions des témoins. Correspondances et pièces diverses relatives à cette affaire. Paris 1847.

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dürften. Das harte Urteil beweise, daß Regierung und Justiz an Aufklärung und Bestrafung interessiert seien. Zudem werde der Schuldspruch mögliche Nachahmer abschrecken. Auch hier durfte ein Hinweis auf das Gemeinwohl nicht fehlen: Der „Skandal“ habe aus diesem Grund doch eine nützliche Seite für das „öffentliche Wohl“.52 Zu einem ganz anderen Urteil kamen die Regierungskritiker. „Herr Guizot ist persönlich nicht korrumpierbar, aber er regiert durch Korruption. Er scheint mir wie eine tugendhafte Frau zu sein, die ein Bordell führt“53, so formulierte Victor Hugo sein bekanntes Urteil über die Regierungspraxis in der späten Julimonarchie. Der Vorwurf zielte auf strukturelle Mißstände. Insbesondere die Zeitung La Presse von Émile de Girardin erneuerte diesen Vorwurf seit dem Frühjahr 1847 regelmäßig. Girardin kritisierte tatsächliche und angebliche Schmiergeldzahlungen. Sie seien häufig Voraussetzung für die Erteilung von Konzessionen oder für die Berufung in die Chambre des Pairs. Hintergrund war offenbar nicht zuletzt ein persönliches Erlebnis des Verlegers. Nachdem Girardin vorgeschlagen hatte, seinen Vater in den Rang eines Pair de France zu erheben, forderte Minister Guizot als Gegenleistung, daß die Zeitung sich in den Dienst der Regierung stellen sollte.54 Insbesondere warfen die zeitgenössischen Kritiker den Regierungen der Julimonarchie vor, mit Patronage und Begünstigungen Abgeordnete an sich zu binden, dabei ungerechtfertigten Sonderinteressen als Gegenleistung für die Unterstützung der Regierung Vorteile zu verschaffen und den Verwaltungsapparat zu mißbrauchen. Den Mißbrauch staatlicher Institutionen und des Parlaments kritisierte nicht zuletzt Louis-Marie de Cormenin in einem Pamphlet über die „Wahlund Parlamentskorruption“ aus dem Jahr 1846.55 Das politische Ziel hinter dieser Schrift war die Forderung nach Reform des Parlamentarismus, wie sie in den letzten Jahren der Julimonarchie sehr verbreitet war. Cormenins Diagnose ähnelte der Zielrichtung in der britischen Old Corruption-Debatte. Er kritisierte, daß die Regierung durch Korruption Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments nehme und sich damit ihre eigene Mehrheit schaffe. Dafür zahle der Staat einen hohen Preis, zumal der Verfall der öffentlichen Moral ebenso drohe wie Ansehensverluste von Staat, Regierung und Krone. Die Wahlberechtigten und die Abgeordneten würden dazu verführt, in ihren politischen Handlungen ausschließlich private Motive zu verfolgen. 52

„Le scandale même et les fautes les plus déplorables ont un côté utile au bien public“; Journal des débats politiques et littéraires, 20. 7. 1847. 53 „M. Guizot est personellement incorruptible et il gouverne par la corruption. Il me fait l’effet d’une femme honnête qui tiendrait un bordel“; Victor Hugo, Choses vues 1830– 1848. Paris 1972, 454 (20. Juni 1847). 54 Pierre Pellissier, Émile de Girardin. Prince de la presse. Paris 1985, 169–172. 55 Louis-Marie de Lahaye de Cormenin, Ordre du jour sur la corruption électorale et parlementaire. Paris 1846.

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Auf diese Weise widmeten sich Amtsträger vielen Dingen, die nicht zu ihren Aufgaben gehörten. Vor allem die Präfekten und die Ministerialbeamten würden als eine Art politischer Agenten der Regierung und der Abgeordneten eingesetzt. Cormenin wählte in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Formulierung: Seiner Darstellung zufolge war das Ziel der machtpolitischen Stabilisierung der Regierung ein „persönliches“ Interesse des Ministeriums, also der Regierung, dem das „allgemeine Interesse Frankreichs“ gegenüberstehe. Dahinter zeichnet sich die Vorstellung ab, daß eine autonome Verwaltung, nicht aber die Regierung sich im Regelfall dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt und für die Prosperität des Landes sorgt.56 So überraschend die Formulierung vom „privaten“ Interesse des Ministeriums zunächst erscheint, geht es hier in erster Linie darum, die Darstellung den Logiken des Korruptionsvorwurfs anzupassen, dem ja die Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatsphäre zugrunde liegt. Tatsächlich ist gemeint, daß die Bedienung von Gruppeninteressen illegitim sei – jedenfalls dann, wenn die Verwaltung dafür rekrutiert und auf diese Weise die Zusammensetzung der Deputiertenkammer beeinflußt wird. Denn den zweiten großen Kritikpunkt bildete die Manipulation von Wählern mit Hilfe staatlicher Begünstigung. Cormenin unterscheidet im Kontext der Wahlen die „corruption personnelle“ von der „corruption locale“. Erstere bezeichnet die Käuflichkeit einzelner Wähler durch staatlich gewährte Vergünstigungen, die zweite dagegen Wahlentscheidungen, die durch Wahlversprechen oder staatliche Leistungen gegenüber einem ganzen Wahlkreis zustande kommen – typischerweise in Gestalt von öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen.57 Konkret hat man sich diese Mechanismen wie folgt vorzustellen. In literarisch-satirischer Weise beschreibt ein Roman aus dem Jahr 1842 den Aufstieg eines jungen Mannes unter den Verhältnissen der Julimonarchie. Der Held der Geschichte, Jérôme Paturot, wird zum offiziellen Kandidaten der Regierung für die Parlamentswahlen gemacht, wobei ein Ministeriumssekretär ihn in die Geheimnisse erfolgreicher Kampagnen einweiht. Zynisch formuliert dieser, man könne einen Wahlkreis durch „Aushungerung“ gewinnen: Falls er durch einen Oppositionspolitiker vertreten werde, investiere die Regierung nichts mehr in der Gegend. Paturot als Herausforderer wird dagegen angehalten, sich in unterschiedlichen Ministerien mit Zusicherungen für künftige Wohltaten auszustatten. Am Ende einer Tour durch ministeriale Vorzimmer sieht er sich im Besitz verschiedener Absichtserklärungen der 56

„Le pouls administratif, dont les pulsations annoncent la vitalité abondante et prospère du pays, ne bat plus. Les préfets et les sous-préfets ne sont plus que des agents politiques, envoyés […] dans l’intérêt personnel du ministère, et non dans l’intérêt général de la France“, Cormenin, Ordre (wie Anm. 55), 25. 57 Ebd. 31.

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Verwaltung: Für den Fall seiner Wahl kann er nun den Bau von vier Brücken, drei Straßen, eines Kanals sowie von zwei Eisenbahnlinien und drei Denkmälern versprechen.58 Der Wähler sollte nach Cormenin solchen Anfechtungen nicht ausgesetzt werden. Im Idealfall lasse er sich nicht von persönlichen oder regionalen Interessen leiten, sondern entscheide als Treuhänder des nationalen Ganzen. Dabei habe er sich wie ein Richter zu verhalten, der ein Urteil über die angetretenen Kandidaten spreche. Die Souveränität liege beim Volk; die Wähler sowie die von ihnen bestimmten Abgeordneten seien Repräsentanten der gesamten Nation.59 In dieser Idealvorstellung sind also Wähler (als Treuhänder der politischen Nation) und Beamte die beständigen und zuverlässigen Träger von Moralität und Gemeinwohl. In seiner Korruptionskritik wendet sich Cormenin damit ebenfalls gegen eine mangelnde Differenzierung von Regierung und Parlament auf der einen Seite und der Verwaltung auf der anderen. Die Vorstellung der Unvereinbarkeit von Verwaltung und politischer Karriere zeigte sich auch bei einem weiteren Thema: Wie viele Kritiker des Parlamentarismus der Julimonarchie60 wandte sich Cormenin gegen die hohe Zahl von Beamten in der Deputiertenkammer.61 Tatsächlich saßen viele Staatsdiener im Legislativorgan – übrigens nicht nur zwischen 1830 und 1848, sondern bereits in der Restaurationsära und später im Zweiten Kaiserreich. Ob diese „députés fonctionnaires“ aufgrund ihrer Karriereinteressen und beruflichen Abhängigkeiten tatsächlich eine verläßliche Stütze der jeweiligen Regierungen waren, ist umstritten.62 Ihre Existenz bot jedoch Anlaß für den Verdacht, sie würden von ihrem Dienstherrn politisch erpreßt. Diese letztlich verfassungspolitischen Debatten, hinter denen die Vorstellung der Gewaltenteilung sichtbar wird, erhielt ihre Sprengkraft nicht zuletzt durch die moralisierende und pathologisierende Darstellung in der Sprache der Korruption. Anders als eine eher langweilige Diskussion über das Wahlrecht erlaubte es die Korruptionsanklage wie am Ende des Ancien Régime, von einzelnen Mißständen ausgehend ein allgemeines Unbehagen zum Ausdruck zu bringen und dieses mit der Vorstellung des Verfalls und der Würdelosigkeit eines ganzen Herrschaftssystems sowie seiner tragenden Personen zu verknüpfen. Im Gegensatz zu 1789 war damit freilich nicht die gesamte Gesellschaftsord58

Louis Reybaud, Jérôme Paturot à la recherche d’une position sociale. Paris 1949 [Originalausgabe von 1846], 322f., 329–333. 59 Cormenin, Ordre (wie Anm. 55), 8–11, 49. 60 Fortescue, Morality (wie Anm. 43), 87–89, vgl. etwa Prosper Léon Duvergier de Hauranne, De la réforme parlementaire et de la réforme électorale. Paris 1847. 61 Cormenin, Ordre (wie Anm. 55), 24f. 62 François Julien-Laferrière, Les députés fonctionnaires sous la Monarchie de Juillet. Paris 1970; Patrick Higonnet/Trevor B. Higonnet, Class, Corruption and Politics in the French Chamber of Deputies, 1846–1848, in: French Historical Studies 5, 1967, 204–224; zum Zweiten Kaiserreich Eric Anceau, Les députés du Second Empire. Prosopographie d’une élite du XIXe siècle. Paris 2000, Kap. II.2.

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nung gemeint. Vielmehr richtete sich die Kritik gegen Mißbrauch innerhalb einer prinzipiell ‚richtigen‘ Ordnung, in der beispielsweise Verwaltung, Regierung und Parlament als voneinander getrennte Einheiten zu denken seien. Vor allem das Vordringen wirtschaftlicher Interessen und Motive in den politischen Raum rief besonderen Unmut hervor. Damit stand ein weiteres Mal die Vermischung der privaten mit der öffentlichen Sphäre in der Kritik. In der Julimonarchie läßt sich auch die gewachsene Bedeutung eines für die weitere Korruptionskommunikation zentralen Akteurs erkennen, nämlich der Presse. Pamphletisten wie Cormenin oder Verleger wie Girardin sahen in den Zeitungen bereits das, was man später als Vierte Gewalt bezeichnete: Die Presse verfolge das Ziel, die geheimen und unmoralischen Machenschaften aufzudecken; sie sorge also für Transparenz und leite auf diese Weise die Reinigung der Sitten ein.63 Freilich entsprach dieser Anspruch auf eine distanzierte Position der Blätter nicht ganz der Realität. Viele Presseorgane waren Akteure mit eigenen Zielen in den Polemiken gegen die Regierung, wie im Fall von La Presse. Außerdem ist bekannt, daß viele Zeitungsredaktionen selbst käuflich waren oder auf verdeckten Wegen von unterschiedlichen Interessengruppen finanziert wurden – dies galt auch für die Dritte Republik, die im folgenden Abschnitt behandelt wird.64 Den politischen Akteuren der Zeit war klar, daß Korruptionsvorwürfe eine ernste Gefahr für die Stabilität des Regimes bedeuteten, oder eine revolutionäre Dynamik zumindest unterstützen konnten – möglicherweise auch in dem Bewußtsein, daß Korruptionskritik einst zur Delegitimation des Ancien Régime beigetragen hatte. Unter dem Eindruck des Salzminen-Skandals raunte ein hellsichtiges Mitglied der Pairskammer seinem Kollegen Victor Hugo im Juni 1847 zu: „Passen Sie auf, mit einem solchen Prozeß macht man mehr als nur ein Kabinett zu erschüttern; man riskiert, die Regierung zu stürzen, die Institutionen, den Staat.“65

III. Dritte Republik Die französische Dritte Republik zwischen 1870 und 1940 wurde nicht ganz zu Unrecht als „Affärenrepublik“ bezeichnet.66 Tatsächlich gehörten Finanz63 Cormenin, Ordre (wie Anm. 55), 39, 43, 50. Zum Haß des Establishments auf die Presse Reybaud, Jérôme Paturot (wie Anm. 58), Kap. XVII. 64 Vgl. Lawrence C. Jennings, Slavery and the Venality of the July Monarchy Press, in: French Historical Studies 17, 1992, 957–978, hier 958. 65 „Prenez garde, avec un procès comme ceux-là on ébranle plus que le cabinet, on court risque de faire tomber le gouvernement, les institutions, l’État“; Hugo, Choses (wie Anm. 53), 457f. (26. Juni 1847). 66 Jean-Noël Jeanneney, La république des „affaires“. Argent, politique et corruption, in: L’Histoire 251, 2001, 34f.

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skandale und Korruptionsaffären zu den ständigen Begleitern französischer Geschichte in den betreffenden sieben Jahrzehnten – und sogar darüber hinaus bis Anfang der 1970er Jahre.67 Den ersten größeren Fall bildete die Affäre Wilson, auch bekannt unter dem Namen „Skandal der Dekorationen“.68 Dieser war im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten Jules Grévy angesiedelt, der das höchste Staatsamt seit 1879 innehatte und im Verlauf der Affäre 1887 zurücktreten mußte. Grévy baute in seiner Präsidentenzeit ein enges soziales Geflecht mit der industriellen Elite auf. Sein Schwiegersohn Daniel Wilson, selbst Industriellensohn, spielte die Rolle des Organisators eines politisch-ökonomischen Patronagesystems der Familie Grévy. Seine Funktion erinnert in mehrfacher Hinsicht an die Position eines Günstlings an frühneuzeitlichen Höfen.69 Er stellte Kontakte zwischen dem Präsidenten her und allem, was in Wirtschaft, Handel und Banken Rang und Namen hatte. Grévys System der Patronage, der Vermittlung von Staatsaufträgen und Posten in der Industrie diente vor allem dazu, seine politischen Gefolgsleute zu begünstigen und sie damit an ihn zu binden. Persönlich gelang es Grévy außerdem, ein stattliches Vermögen zusammenzutragen, etwa durch Insidergeschäfte an der Börse. Das System brach zusammen, als öffentlich bekannt wurde, daß Wilson den Zugang zum Präsidenten sowie Ehrenbezeugungen regelrecht verkaufte: Einladungen an die Tafel und in das Landhaus des Staatschefs hatten ebenso ihren Preis wie ein Orden der Ehrenlegion. Der bekannteste Skandal aber ist ohne Zweifel die Panama-Affäre von 1892/93, die international zum Inbegriff für die Korruptionsanfälligkeit moderner Demokratien wurde.70 Der französische Unternehmer Ferdinand de Lesseps plante in den 1880er Jahren eine Wasserstraße zwischen Atlantik und Pazifik. Das von ihm zu diesem Zweck gegründete Unternehmen sollte sich durch die Ausgabe von Volksaktien finanzieren. Bald stellte sich heraus, daß der Kanalbau im mittelamerikanischen Dschungel teurer wurde als geplant. Um den Bankrott abzuwenden, bezahlten de Lesseps und seine Bankiers nicht nur Journalisten für geschönte Presseberichte, sondern sie bestachen Regierungsmitglieder und über hundert Abgeordnete. Diese Beste-

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Diese These vertritt Damien de Blic, Cent ans de scandales financiers en France. Investissement et désinvestissement d’une forme politique, in: Luc Boltanski et al. (Éds.), Affaires, scandales et grandes causes. De Socrate à Pinochet. Paris 2007, 231–247. 68 Adrien Dansette, L’Affaire Wilson et la chute du Président Grévy. Paris 1936; Chabannes, Scandales (wie Anm. 2), Kap. 1; Jean-Yves Mollier/Jocelyne George, La plus longue des républiques, 1870–1940. Paris 1994, 169–174. 69 Hierzu jüngst mehrere Beiträge in Karsten/von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke (wie Anm. 36); vgl. auch den Beitrag von Hillard von Thiessen in diesem Band. 70 Vgl. die deutsche Rezeption bei Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 281, 2005, 337–379, sowie zu Großbritannien den Beitrag von Frank Bösch in diesem Band.

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chung zielte auf einen Beschluß des Parlaments, der es der Kanalbaugesellschaft 1888 erlaubte, eine weitere Anleihe für Kleinanleger in Form einer Art Lotterie aufzulegen. Dies war besonders pikant, weil alle Beteiligten sich darüber im klaren sein mußten, daß der Erfolg des Unternehmens eher unwahrscheinlich war. Damit betrogen die Abgeordneten auch das Vertrauen der Kleinanleger, schließlich investierten diese in ein politisch gewolltes und vom Parlament abgesegnetes Projekt. Trotz sofortiger Ermittlungen der Justiz, die allerdings von den politisch Verantwortlichen verschleppt wurden, erschienen erst 1892 Presseberichte, die die Hintergründe der Affäre an die Öffentlichkeit brachten – offensichtlich die Folge einer Erpressung unter Beteiligten. Die Veröffentlichungen erfolgten zunächst in einer Zeitung des rechten politischen Randes, in der Libre parole von Édouard Drumont, seines Zeichens Repräsentant der boulangistischen, antiparlamentarischen und antisemitischen Opposition. Die skandalträchtigen Elemente liegen auf der Hand: betrogene Kleinanleger, käufliche Politiker und Journalisten, eine Schmutzkampagne unter Betrügern, von höchster Stelle verschleppte Ermittlungen. Das gesamte politische System saß auf der Anklagebank. Die Zeitungen berichteten ausführlich über die Ereignisse, vermieden mehrheitlich aber eine genaue Rekonstruktion der Geschehnisse, zumal viele Redakteure in den Jahren zuvor an der manipulierten Berichterstattung beteiligt gewesen waren. Statt dessen thematisierten sie hauptsächlich die Bestechlichkeit der Abgeordneten und dabei insbesondere die Rolle des Generalagenten des Unternehmens, Cornelius Herz. Dieser war Jude mit amerikanischem Paß und von deutscher Herkunft.71 In vielen weiteren Skandalen wie der Affäre um die Bankgesellschaft Union Générale 1881/82, um die Betrügerin Thérèse Humbert 1903, um den Investor Henri Rochette 1910 beziehungsweise 1914, die populäre Anlageberaterin Marthe Hanau 1928, den Investor Albert Oustric 1930/31 und den Finanzjongleur Sacha Stavisky 1933/34 wurde immer wieder das gleiche Muster beklagt. Scheinbar erfolgreiche Unternehmer oder Investoren, deren Gewinne jedoch in der Regel auf Spekulationsblasen oder gar auf Betrug basierten, versicherten sich der Unterstützung eines Teils des politischen Personals. Sie erhielten öffentliche Hilfen, Vergünstigungen, Konzessionen oder sogar politischen Schutz vor Strafverfolgungen. Nicht selten saßen die Protektoren in der Regierung und zogen persönlich finanzielle Vorteile aus diesen Verflechtungen. Prominente Politiker, die in diesem Zusammenhang immer wieder 71

Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama. Paris 1991; Jean Bouvier, Les deux scandales de Panama. Paris 1964; Pierre-Alexandre Bourson, L’affaire Panama. Paris 2000; Adrien Dansette, Les affaires de Panama. Paris 1934; Bertrand Lemoine, L’entreprise Eiffel, in: Histoire, Économie et Société 14, 1995, 273–285; Maron Simon, The Panama Affair. New York 1971; Damien de Blic, Moraliser l’argent. Ce que Panama a changé dans la société française (1889−1897), in: Politix 18, Nr. 71, 2005, 61–82.

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auftauchten, waren neben Clemenceau der mehrfache Ministerratspräsident Maurice Rouvier, der langjährige Abgeordnete Albert Christophle, der Minister für öffentliche Arbeiten David Raynal, der langjährige Wirtschaftsminister Joseph Caillaux und Justizminister Raoul Péret (in der Affäre Oustric).72 Als Schuldige wurden neben korrupten Politikern und einer politisch mißbrauchten Justiz häufig auch käufliche Journalisten kritisiert.73 Will man die Häufigkeit und die große politische Bedeutung dieser Affären erklären, so sind vor allem drei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: der dominante, aber umstrittene Parlamentarismus der Dritten Republik, politisch-ökonomische Verflechtungen des republikanischen Establishments und die Logiken der modernen Massenpresse, die vor allem von den Gegnern der Republik genutzt wurden, um dieser den Verstoß gegen ihre eigenen Prinzipien vorzuwerfen. Zu den Kennzeichen der Dritten Republik gehörte das konsequent am Parlament ausgerichtete Regierungssystem mit einer verhältnismäßig schwachen Exekutive. Ohne dauerhafte Zustimmung des Parlaments waren die Regierungen nicht handlungsfähig, auch gingen sehr viele Gesetzesvorhaben von den beiden Häusern der Volksvertretung aus. Sie galten als einzige Repräsentanten der Nation; keine Institution konnte mehr politische Autorität beanspruchen als das Parlament. Ihre Macht demonstrierten die Parlamentarier regelmäßig dadurch, daß sie die Regierungen zu Fall brachten – mehr als hundert Kabinette regierten in den siebzig Jahren der Dritten Republik.74 Während die revolutionäre Tradition eines starken Parlamentarismus die Funktionsweise der politischen Institutionen dominierte, bestand zugleich auch eine nicht minder alte Tradition des Antiparlamentarismus. Diese umfaßte Kritiker auf der Linken wie vor allem auf der Rechten. Der Antiparlamentarismus besaß nach den Worten von René Rémond zumindest drei Dimensionen: neben politischen Organisationen, die sich für eine Beschränkung der Macht des Parlaments einsetzten, und einer sachorientierten Debatte über die Unzulänglichkeiten der parlamentarischen Arbeit vor allem diffuse, in der Alltagskultur verankerte Ressentiments gegen die Parlamentarier, deren Moral als zweifelhaft galt.75

72 Vgl. Thiveaud, Crises (wie Anm. 2); Chabannes, Scandales (wie Anm. 2); Garrigues, Scandales (wie Anm. 2), zu Christophle und Rouvier 44–47; Jeanneney, République (wie Anm. 66); Bruno Marnot, Un scandale parlementaire oublié: l’affaire Raynal (1888– 1895), in: Annales du Midi 114, 2002, 331–349; Jean-Noël Jeanneney, L’affaire Rochette (1908–1914), in: L’Histoire 19, 1980, 21–29; Jean-Claude Allain, Joseph Caillaux, le défi victorieux, 1863–1914. Paris 1978. 73 Blic, Cent ans (wie Anm. 67), 235. 74 Zum politischen System der Dritten Republik knapp Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik. Köln 2007. 75 René Rémond, La République souveraine. La vie politique en France 1878−1939. Paris 2002, Kap. IX.

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Ein Vorwurf lautete, Korruption verfälsche die Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Sie belege außerdem, daß die politischen Strömungen und Parteien nicht dem nationalen Interesse dienten, sondern nur ihre eigenen, partikularen Ziele verfolgten und damit das Land spalteten – ein Grundbestandteil der Parlamentarismuskritik in Frankreich. Aus Anlaß der Affäre Rochette warf der rechtsgerichtete Abgeordnete Maurice Barrès den Parteien des republikanischen Establishments in der Deputiertenkammer vor, sie hätten keine klaren Überzeugungen, seien nichts weiter als Lobbyverbände, ihre Mitglieder verkauften ihre politische Loyalität: „Hier erreichen wir den letzten Grad parlamentarischer Fäulnis.“76 Diese Ressentiments nährten sich von verbreiteten Klagen über die Vermischung öffentlicher und privater Interessen. Dahinter standen handfeste Tatsachen, zumal enge und dauerhafte Verbindungen und Verflechtungen zwischen der ökonomischen Elite und einer großen Zahl von Parlamentsabgeordneten und Ministern bestanden. Jean Garrigues hat mit Blick auf einen Teil der gemäßigten Republikaner gar von einer Art unausgesprochenem Vertrag mit der Wirtschaftsbourgeoisie gesprochen, auf dessen Fundament die ökonomische Stabilität des Regimes und möglicherweise auch ein Teil seines politischen Erfolges seit den 1870er Jahren ruhten. An der liberalen Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Dritten Republik vor dem Ersten Weltkrieg besteht denn auch kein Zweifel.77 In seiner detaillierten Untersuchung über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe des Panama-Skandals hat Jean-Yves Mollier die vielfältigen Koalitionen, Absprachen, Interessenverschränkungen, sozialen Kontakte und auch Konflikte zwischen Angehörigen des Parlaments, Lobbyisten, Journalisten, Regierungsmitgliedern, Polizisten, Unternehmern, Bankiers und Finanziers nachgezeichnet. Diese Untersuchung zeigt auf eindrückliche Weise, wie wenig die Trennung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung, gesellschaftlichen Veranstaltungen, Wirtschaftspolitik, privaten Investitionen und journalistischem Kommentar der sozialen Realität im Parlamentarismus der Dritten Republik entsprach.78 Neben diesen dichten Verflechtungen, die einerseits die Stabilität der Demokratie erhöhten, andererseits aber auch die Wahrscheinlichkeit von Korruption ansteigen ließen, begünstigte ein weiterer Faktor die Korruptionsdebatten, nämlich der Bedeutungsanstieg der modernen Massenpresse. Nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, namentlich in Großbritannien und Deutschland, beherrschten am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts viel76 „Ici nous touchons au dernier degré de la pourriture parlementaire“; Maurice Barrès, Dans le cloaque. Notes d’un membre de la commission d’enquête sur l’affaire Rochette. Paris 1914, 101, Zitat 102. 77 Jean Garrigues, La République des hommes d’affaires (1870−1900). Paris 1997. 78 Mollier, Scandale (wie Anm. 71).

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fältige Skandale die öffentlichen Debatten.79 Während in Großbritannien und Deutschland nicht zuletzt auch Skandale um sexuelle Verfehlungen verbreitet waren, dominierten in Frankreich die Korruptionsfälle. Zumindest im französischen Fall kommt hinzu, daß viele Zeitungsredaktionen neben der Auflagensteigerung auch genuin politische Zielsetzungen verfolgten. Das Genre des Skandals, hier des Korruptionsskandals, bot eine doppelte Chance. Es erweckte Publikumsinteresse und ermöglichte zugleich, den Parlamentarismus an den Pranger und damit die Republik grundlegend in Frage zu stellen. Während des Panama-Skandals engagierten sich in dieser Hinsicht vor allem Drumonts La libre parole, die boulangistische La cocarde und das Petit Journal von Hyppolite Marinoni, der es vor allem darauf abgesehen hatte, den radikal-republikanischen Abgeordneten Georges Clemenceau zu Fall zu bringen. Später, im Kontext der Affäre Stavisky, blies die rechte und antirepublikanisch eingestellte Zeitschrift Action française zum Angriff auf die Institutionen der Republik – sekundiert von linken Blättern wie der kommunistischen L’Humanité. Bereits in der Affäre Raynal um angebliche Korruption des gleichnamigen Ministers für Öffentliche Arbeiten in der ersten Hälfte der 1890er Jahre und während der zeitgleich stattfindenden Debatten über Panama zeichnete sich ab, daß rechte wie linke Gegner der demokratischen und liberalen Republik sich der Kritik an Korruption bedienten, um deren Personal und Institutionen in Frage zu stellen.80 Im Kontext der Parlamentswahlen von 1893, die unter dem Eindruck des Panama-Skandals standen, setzte vor allem die sozialistische Linke in Gestalt von Jean Jaurès oder Jules Guesde auf pauschale Kritik am sogenannten „Panamismus“ der liberalen Republik. Der Skandal beweise, daß die Großkapitalisten und Bankiers den Staat dominierten und es Zeit für eine soziale Umwälzung sei.81 Ein weiteres durchgängiges Motiv war der Antisemitismus beziehungsweise die Fremdenfeindlichkeit – ähnlich wie in den Korruptionsdebatten anderer Länder.82 Die Korruptionsfälle zeigten angeblich, daß das nationale Interesse an ausländische und meist durch Juden vermittelte Einflüsse verkauft werde. Der boulangistische Abgeordnete Paul Déroulède, der 1899 im Kontext der Dreyfus-Affäre einen mißglückten Putschversuch anführen sollte, klagte Georges Clemenceau Ende 1892 in der Deputiertenkammer an, er habe 79 Vgl. den Beitrag von Frank Bösch in diesem Band; dazu vom gleichen Autor jetzt eine umfassende Monographie unter dem Titel: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München 2009. 80 Marnot, Scandale (wie Anm. 72), 344−347. 81 Vgl. Blic, Cent ans (wie Anm. 67), 238f. 82 Zur Weimarer Republik vgl. den Beitrag von Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5, 1996, 46−65; zum Kaiserreich knapp Engels, Politische Korruption (wie Anm. 1).

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Cornelius Herz beschützt, der ein Agent des Auslands sei. Tatsächlich hatte Clemenceau enge Beziehungen zu dem Geschäftsmann unterhalten, der auch an einer Zeitung Clemenceaus finanziell beteiligt gewesen war. Ein halbes Jahr später mußte sich Clemenceau gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, er habe sich von der englischen Botschaft bezahlen lassen.83 Hinter diesen Angriffen stand ein weitreichender Vorwurf: Clemenceau war einer der wichtigsten Oppositionsredner im Parlament, dessen Einfluß und Rednertalent ihn oft in die Lage versetzten, den Sturz einer Regierung herbeizuführen. Unter Hinweis auf ausländische Verbindungen Clemenceaus geriet so die Praxis häufiger Regierungswechsel in der Republik in zusätzlichen Mißkredit: Nun stand der Vorwurf im Raume, dies sei das Ergebnis außerfranzösischer Einflüsse. Im Zusammenhang mit der Stavisky-Affäre argumentierte der katholisch, royalistisch und nationalistisch geprägte Publizist Charles Maurras 1934, der Geldbedarf der Parteien, die ihre Wähler in der parlamentarischen Demokratie bestechen müßten, führe unweigerlich zur Korruption und zum Einfluß ausländischer Geldgeber, jener von ihm so genannten „métèques d’affaires“. Aus diesem Grunde sei die Republik nichts anderes als die „Herrschaft des Auslands“.84 Bereits 1931 hatte der rechtsgerichtete Romancier Georges Bernanos unter Berufung auf die Vorgänge während des Panama-Skandals ein Bild der Republik gezeichnet, in dem Juden mittels Korruption die wirtschaftliche und politische Herrschaft an sich rissen.85 Ein wichtiges und gegenüber den Korruptionsanklagen der Julimonarchie neues Element ist der Versuch, mit der Korruptionskritik den „kleinen Leuten“ vor Augen zu führen, daß ihre Interessen von der verbrecherischen Elite verraten würden. Immerhin hatten nicht weniger als rund 600 000 Kleinsparer in der Panama-Affäre einen Teil ihres Vermögens verloren – ein Teil der Mittelschichten war also auch ökonomisch von unsicheren Finanzgeschäften bedroht.86 Die rechten und linken Gegner der Republik wandten sich systematisch an die Mittel- und Unterschichten, um diesen die aus ihrer Sicht fundamentale Lüge der Republik und der Demokratie vor Augen zu führen: Anstatt im Interesse der Franzosen zu handeln, bildeten sie ausbeuterische Strukturen aus. Vor allem die rechte Presse kritisierte ein „jüdischfreimaurerisches Regime“, eine „Bande von gemeinschaftlich organisierten Übeltätern“. Gleich ob „Kleinsparer, fleißiger Arbeiter, sparsamer Angestellter: Der Franzose wurde der Früchte seiner Arbeit […] beraubt.“87

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Mollier, Scandale (wie Anm. 71), 422f., 437f. „La République en France est le règne de l’Étranger“, Action française 28. 1. 1934. 85 Dolcino Favi, Bernanos e i demoni di Panama, in: Critica Storica 22, 1985, 29−48. 86 Blic, Cent ans (wie Anm. 67), 233. 87 „Regarder le misérable sort fait aux Français par ce régime judéo-maçonnique“, „Petit épargniste, ouvrier labourieux, employé économe, le Français était dépouillé des fruits de son travail par une bande de malfaiteurs syndiqués“, La libre parole, 25. 1. 1893. 84

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Im Korruptionsskandal ist folgerichtig eine Tendenz grundsätzlicher Infragestellung sozialer und kultureller Autoritäten des republikanischen Frankreich aus dem vorgeblichen Blickwinkel des „einfachen Mannes“ zu beobachten. Dabei verbanden sich die antisemitischen Töne mit einer antibourgeoisen Zielrichtung. Drumonts Libre parole denunzierte unter Berufung auf die Ehrungen, die Cornelius Herz erfahren hatte, „alle diese angeblichen sozialen Autoritäten: dieWissenschaftlichen Akademien, die Gerichte, die Journalistenverbände, die Herrschaftsinstrumente in den Händen der Juden geworden sind“.88 Während es in Großbritannien um die Jahrhundertwende eher um die Desavouierung einzelner Personen ging, vor allem politischer Aufsteiger89, hatte die französische Debatte wiederum quasi revolutionäres Potential – allerdings ohne daß es bis 1940 tatsächlich zu einem Regimewechsel kam. Der latent umstürzlerische Charakter der Korruptionsdebatten zeigte sich bereits im Kontext der Affäre Wilson, die den kurzzeitigen Siegeszug des Boulangismus einläutete, jener nationalistischen Bewegung unter dem charismatischen General Georges Boulanger, die Anfang 1889 beinahe die Macht an sich gerissen hätte.90 Politische Mobilisierungen vermochte fast jeder der Skandale spätestens seit Panama zu provozieren.91 Insbesondere der Stavisky-Skandal wurde in der zeitgenössischen Wahrnehmung als Anlaß für einen Umsturzversuch rechter Ligen am 6. Februar 1934 interpretiert. Zwar ist in der Forschung heute umstritten, wie ernst die blutigen Auseinandersetzungen in den Straßen von Paris mit Blick auf die Stabilität der Republik tatsächlich waren, und ob es sich hierbei wirklich um einen koordinierten Putschversuch handelte – zumal die wichtigste beteiligte Organisation, die Croix-de-feu, den Rückzug antrat, als es ernst wurde. Unbestritten ist aber, daß die Action Française den Skandal zuvor mit Denunziationen und Demonstrationen planvoll in eine Systemkrise der Republik transformiert hatte. Im Januar 1934 forderte sie ihre Leser dazu auf, angesichts einer Justiz und einer Polizei, die „in den Dreck und ins Blut gefallen“ seien, vor dem Parlamentssitz zu demonstrieren und Gerechtigkeit sowie Ehrenhaftigkeit einzufordern.92 Der Skandal nährte das Mißtrauen gegenüber dem parlamentarischen Establishment in so hohem Maß, daß sich ein großer Teil der Sicherheitskräfte am 6. Februar weigerte, ordnend einzugreifen.93 88

„Nous nous fichons […] de toutes ces prétendues Autorités sociales: les Académies, les Tribunaux, les Associations de journalistes, qui sont devenues des instruments de domination entre les mains des Juifs“, La libre parole, 25. 1. 1893. 89 Vgl. den Beitrag von Frank Bösch in diesem Band sowie Engels, Politische Korruption (wie Anm. 1), 331−334. 90 Jean Garrigues, Le boulangisme. Paris 1992. 91 Blic, Cent ans (wie Anm. 67), 239. 92 Action française, 9. 1. 1934. 93 Pierre Pellissier, 6 février 1934. La République en flammes. Paris 2000; knapp Mollier/ George, Plus longue (wie Anm. 68), 616−619.

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Nach dem Untergang der Republik wurden folgerichtig auch die Vertreter des Vichy-Regimes nicht müde, sich von der „korrupten“ Demokratie zu distanzieren – so kündigte Marschall Pétain beispielsweise an, die Korruptionsmacht privater Unternehmen zu brechen, der in der Republik herrschenden Dominanz persönlicher Interessen bei den Politikern ein Ende zu setzen sowie die Herrschaft des Geldes zu beenden.94 Wiederum darf das Argument nicht mit der Ursache verwechselt werden. Die Gründe für die starke, aber bis 1940 letztlich erfolglose Opposition gegen die Republik sind selbstverständlich nicht in erster Linie in den hier kritisierten Vorgängen zu suchen. Diese beruhte im wesentlichen auf der meist unversöhnlichen Konkurrenz zwischen zwei politisch, sozial und kulturell geprägten Großgruppen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es handelte sich um den Konflikt zwischen den „zwei Frankreich“, nämlich dem eher katholisch, ländlich und konservativ geprägten Frankreich sowie einem städtisch, laizistisch und republikanisch orientierten Milieu. In der Zwischenkriegszeit kamen weitere unzufriedene Gruppen hinzu, wie etwa ehemalige Frontkämpfer und ein wachsender Teil der Arbeiterschaft, deren Interessen im Unterschied zu denjenigen von Industriebourgeoisie, Landwirten und Mittelschichten kaum berücksichtigt wurden. Die Korruptionsskandale eigneten sich wohl hauptsächlich aus zwei Gründen für den Generalangriff auf die Republik: Zum einen wirkte die nationale Tradition der Verbindung von Revolution und Korruptionskritik seit dem späten 18. Jahrhundert fort. Zum anderen waren die Ereignisse skandalös, weil sie es erlaubten, Widersprüche zwischen Anspruch und Praxis in einer bestimmten Variante der politischen Moderne zu thematisieren. In der Kritik standen dabei zwei „moderne“ Phänomene: die politische Bedeutung des Geldes und von Lobbyorganisationen im hochindustriellen Kapitalismus95 sowie die Defizite der parlamentarischen Repräsentation. Wenn sie von Dieben und vom Moralverfall sprach, war Korruptionskritik Kritik an der Vermischung von öffentlichem Auftrag und privater Bereicherung. Anstatt die öffentliche Funktion als Wächter über Unternehmen auszuüben, ließen sich die Abgeordneten von diesen kaufen. Kritisiert wurde also mangelnde Differenzierung. Korruptionskritik war Kritik an der Verflechtung kleiner Kreise: Anstatt die politische Teilhabe der Bevölkerung zu verwirklichen, führte der Parlamentarismus in seiner korrupten Variante zum Ausschluß großer Teile der Bevölkerung und ihrer Interessen. Kritisiert wurde also auch mangelnde Inklusion der Bürger in die politische Nation.

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Radioansprache vom 10. 10. 1940, abgedruckt in Philippe Pétain, Actes et écrits. Paris 1974, 475; Botschaft Pétains vom 12. 8. 1941, abgedruckt in Philippe Pétain, Discours aux Français 12 juin 1940−20 août 1944. Paris 1989, 166f. 95 Hierauf verweist insbesondere Blic, Cent ans (wie Anm. 67).

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Allerdings wandten sich die rechten Korruptionskritiker gegen das Modell der politischen Teilhabe im Parlamentarismus. Sowohl die Boulangisten der 1880er und 1890er Jahre als auch die rechten Ligen der 1930er Jahre befürworteten einen starken Staat, eine stabile und mächtige Exekutive. Statt auf Parteienkonkurrenz setzten sie in bonapartistischer Tradition auf die mystische Einheit zwischen Bevölkerung und einem noch zu findenden Volkstribun. Dennoch konnten auch sie sich der Logik partizipativen Denkens nicht vollständig entziehen. Zum einen warfen sie dem parlamentarischen Establishment Verrat am Partizipationsgebot vor. Und schließlich stellte der Akt ihrer Korruptionskritik selbst einen Akt der politischen Mobilisierung und Beteiligung dar.

IV. Fazit In der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts tauchte Korruptionskritik häufig zusammen mit einer fundamentalen Infragestellung und Destabilisierung des jeweiligen politischen Systems auf. Neben den politischen Institutionen im engeren Sinne rückten immer wieder auch die Gesellschaft und vor allem die Eliten ins Zentrum einer weitreichenden und moralisierenden Kritik. Eine französische Besonderheit ist wohl vor allem in der radikalen Rahmung des Korruptionsvorwurfs unmittelbar vor und während der Revolution zu sehen, als die zwei Stränge der Despotiekritik und der Zivilisationsskepsis im Korruptionsbegriff zusammenflossen. Dieser fungierte anschließend als Schlachtruf für den Abschied von der alten Gesellschaftsordnung und wurde damit konstitutiver Bestandteil der politischen Moderne Frankreichs – in Abgrenzung von der Vormoderne des Ancien Régime. Bereits unmittelbar während der Revolution zeigte sich allerdings, daß die weitgehenden Prinzipien moderner Gesellschaften in der Praxis wegen vielfältiger Ursachen weiter verletzt wurden. Auch künftig konnte Korruptionskritik aus einem großen Reservoir schöpfen. Dies gilt zumal für die Korruptionskritik der späten Julimonarchie. Sie beklagte nicht nur die Mißachtung moderner politischer Prinzipien, sondern verknüpfte diese Klage mit der Diagnose des Verfalls der politischen Institutionen. Schließlich erlangte auch sie eine revolutionäre Note. Die radikalen, mitunter gewaltbereiten Gegner der Dritten Republik bedienten sich am ausgiebigsten des Korruptionsvorwurfs. Er lieferte das Hauptargument für deren Antiparlamentarismus; Korruptionsskandale gehörten zu den wichtigsten Anlässen für politische Mobilisierung bei den Gegnern der Dritten Republik. Es konnte gezeigt werden, daß die Korruptionskommunikation eine wichtige Funktion für die Selbstvergewisserung der französischen Gesellschaft im Prozeß der Moderne hatte – ohne daß die Moderne jeweils explizit themati-

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siert wurde. Während und seit der Revolution wurde Korruption zum Kennzeichen für das Ancien Régime erklärt. Korrupt waren spätestens jetzt die „anderen“, jene, die an der Moderne keinen Anteil hatten, wie die „Unzivilisierten“96 – und jene, die sich verwerflicherweise nicht den Spielregeln moderner Gesellschaften unterwerfen wollten. Wenn die Vormoderne hoffnungslos korrupt war, so besaß die Moderne zumindest das Potential, nicht korrupt zu sein. Es ging daher nicht nur um die Grenzziehung zum Überholten, sondern um die richtige Ausgestaltung der Moderne. Dabei forderten die Korruptionskritiker vor allem die Einhaltung des Gebots der Differenzierung gesellschaftlicher Sphären, der politisch-gesellschaftlichen Inklusion, der Transparenz sowie bisweilen, aber bei weitem nicht immer, der politischen Partizipation. Allerdings zeigte sich bereits während der Revolution, daß diese Gebote in der politischen und administrativen Praxis aus unterschiedlichen Gründen nicht eingehalten werden konnten. Der Korruptionsvorwurf lebte fortan von den unvermeidlichen Widersprüchen zwischen Normen und Praxis in der Moderne. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts waren es fast exklusiv die – rechten wie linken – Kritiker und Gegner der Moderne, die sich des Korruptionsvorwurfs bedienten, ähnlich wie in Großbritannien und Deutschland.97 Da aber Korruptionskritik nicht ohne Beschwörung moderner Grundsätze funktionierte, beriefen sich auch jene Kritiker auf sie und prangerten die Widersprüche zwischen der politischen Praxis und den genannten Normengerüsten moderner Gesellschaften an. Im einzelnen lassen sich verschiedene wiederkehrende Motive in der Korruptionskritik ausmachen. Die Wirksamkeit des Korruptionsvorwurfs bestand hauptsächlich in der Kombination von Moralismus und dem Eindruck, daß das Korrupte früher oder später dem Untergang geweiht sein müsse. Das moralische Element speiste sich aus der Kritik an Diskrepanzen zwischen Schein und Sein in der Politik – eine Kritik, die unmittelbar aus der Forderung nach Transparenz folgte. Transparenzforderung und das Motiv der Aufdeckung beherrschen die Erzählstruktur der Skandalisierung. Der moderne Skandal wiederum ist nicht denkbar ohne die Presse oder zumindest die öffentliche Debatte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zeichnet sich, wie nicht anders zu erwarten, die wachsende Bedeutung der Presse für die Korruptionsdebatten ab. Allerdings wurde deutlich, daß die Journalisten und Zeitungen häufig im Dienst politischer Gruppierungen agierten. Spätestens in der Kritik der Julimonarchie erschien die staatliche Verwaltung als Ideal und Gegenbild zur egoistischen Politikerkaste. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Kritiker von Guizot und Louis-Philippe eigentlich auf eine Parlamentarisierung abzielten. Sie zeichneten dabei aber 96 Charakteristisch ist der Hinweis bei Cormenin, Ordre (wie Anm. 55), 27, auf die Verhältnisse bei den Arabern. 97 Vgl. Engels, Politische Korruption (wie Anm. 1), 332, 339f.

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ein Idealbild des Parlamentariers, das weit von jeder Realität entfernt war. Zur Korruptionskritik gehörte nämlich ganz wesentlich die Vorstellung, daß Gruppeninteressen illegitim sind, seien es Generalpächter, Politiker oder Parlamentarier. Im Gegenzug präsentierten sich die Korruptionskritiker vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Sachwalter der „Kleinen Leute“, deren Interessen von der Elite verraten würden. Doch bereits zuvor verfügte die Korruptionskritik über einen anti-elitären Charakter und richtete sich gegen die jeweils herrschenden Gruppen, denen Egoismus unterstellt wurde. Daneben zeichneten sich viele der Korruptionsdebatten durch einen latent antikapitalistischen Charakter aus – schon bei den Jakobinern ging es nicht zuletzt gegen die Finanziers und Bankiers des Ancien Régime. Korruptionskritik beruhte stets auf einem Mißtrauen gegenüber dem Prinzip des Gewinnstrebens, das letztlich für einen breiten Fächer von Mißständen verantwortlich gemacht wurde. Freilich war dieses Gewinnstreben nicht individueller Natur, sondern, so die Kritik, es sei das Handlungsprinzip des jeweiligen Establishments. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verband sich die antikapitalistische Tendenz des Korruptionsdiskurses mit Antiliberalismus und Antisemitismus. Auf diese Weise konnte es zu einem zentralen Argument vor allem der radikalen Rechten werden, das zahlreiche Anknüpfungspunkte für modernitätskritische Motive bot, etwa der Angst vor internationalen Abhängigkeiten. Außerdem ist zu beobachten, daß Korruptionskritik in Frankreich zu Beginn wie zum Ende des Untersuchungszeitraums eine gewisse Nähe zum Autoritären sowie zum politischen Extremismus aufwies: Die Reinigungsphantasien der Jakobiner und der autoritäre Antiparlamentarismus von den Boulangisten bis zu Pétain glichen sich darin, daß sie die korrupte Gegenwart durch radikale und antidemokratische Lösungen überwinden wollten. Auch in dieser Hinsicht spiegelte die Korruptionskritik die Ambivalenzen der Moderne wider.

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In Defence of the Taxpayers Korruptionspraktiken und -wahrnehmungen im edwardianischen Großbritannien Von

Frank Bösch Korruption ist eine flüchtige Praxis, die sich in der Regel dem Zugriff des Historikers entzieht. Prinzipiell sind korrupte Handlungen für alle Epochen und Kulturkreise anzunehmen. Zugleich variierten ihr Stellenwert und ihre Bedeutung temporär und topographisch. Eine historische Beschäftigung mit dem Phänomen Korruption verspricht deshalb Erkenntnisse über das Selbstverständnis und die Funktionsweisen einer Gesellschaft. Die jeweilige Wahrnehmung und Praxis der Korruption muß sich dabei nicht decken. Vielmehr kann gerade eine intensive Auseinandersetzung mit Bestechungen mit einer seltenen Anwendung einhergehen und umgekehrt eine routinisierte Korruption mit ausbleibenden Debatten. Ebenso variierte inhaltlich und begriffsgeschichtlich, was einzelne Gesellschaften jeweils unter Korruption verstanden. Insofern erscheint es für eine historische Analyse sinnvoll, die jeweilige zeitgenössische Bedeutung des Begriffes und Eingrenzung des Phänomens einzubeziehen, aber zugleich eine analytische Definition zu verwenden. Im Anschluß an die Fachliteratur läßt sich Korruption zunächst als Mißbrauch einer anvertrauten Macht zum privaten Vorteil beschreiben.1 Korruption lediglich als einen Gesetzesverstoß zu fassen, würde zu kurz greifen. Vielmehr kann sie einen Normenverstoß bilden, der (noch) nicht strafbar ist oder juristisch toleriert wird. Ab wann eine private Vorteilsnahme als unzulässig gilt, muß immer wieder neu ausgehandelt werden. Insofern ist Korruption als eine hochgradig wandelbare Norm zu fassen. Als Historiker mag man sich für ihre Bedeutung im Geheimen interessieren, um Entscheidungsprozesse und Beziehungsnetze zu analysieren. Nicht minder bedeutsam ist allerdings der öffentliche Umgang mit ihr, der erst ihren Status innerhalb der Gesellschaft erklärt. Insofern erscheint es reizvoll, das Verhältnis zwischen Praxis und Wahrnehmung genauer zu analysieren. 1 Vgl. etwa die Definitionen in: Susan Rose-Ackerman, Corruption and Government. Causes, Consequences, and Reform. Cambridge 1999, 9; Arnold Heidenheimer, Parties, Campaign Finance and Political Corruption. Tracing Long-Term Comparative Dynamics, in: ders./Michael Johnston (Eds.), Political Corruption. Concepts and Contexts. New Brunswick/London 2002, 764; Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in der Geschichte des Parlamentarismus, in: Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt am Main 1989, 104–129, 133.

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Debatten über Korruption traten in bestimmten Phasen gehäuft auf. Hierzu zählt etwa die Zeit der Aufklärung, in der die Normen- und Medienstruktur einem markanten Wandel unterlag. Zu den Phasen, in denen es in der ganzen westlichen Welt zu intensiveren Auseinandersetzungen mit Korruptionsfällen kam, zählt auch das ausgehende 19. Jahrhundert. So legte in Frankreich besonders der Panama-Skandal ein korruptes Beziehungsgeflecht zwischen Wirtschaft, Politik und Journalismus offen, in den USA häuften sich Fälle von Korruption in Politik und Kommunen, in Deutschland erschütterte eine jahrelange Bestechung der Heeresverwaltung die Annahme, deutsche Beamte seien unbestechlich, und auch in Großbritannien nahmen Korruptionsvorwürfe wieder deutlich zu.2 Die grenzübergreifende Beobachtung dieser Fälle durch die Presse verstärkte das Gefühl, Korruption sei ein anwachsendes bedrohliches Phänomen. Die Zunahme des Korruptionsverdachtes läßt sich sicherlich mit einigen Merkmalen der rasanten Gesellschaftsentwicklung in der ausgehenden Moderne erklären. Einerseits vergrößerten sich die Korruptionsgelegenheiten durch die Ausweitung der Staatstätigkeit, den Ausbau von Parteiorganisationen, die koloniale Expansion und die beschleunigte funktionale Differenzierung der Gesellschaften, die mitunter einen neuen Kitt erforderte. Zum anderen konnte durch die Expansion der Massenmedien, die Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft freier, kritischer und wirksamer als bisher die Korruption angeprangert werden. In welcher Beziehung in dieser Phase die Wahrnehmung und Praxis der Korruption standen, soll im folgenden anhand von Großbritannien untersucht werden. Damit steht ein Land im Vordergrund, in dem Korruption in der neuesten Geschichte eine vergleichsweise geringe Bedeutung spielte. Noch heute nimmt es im „Corruption Perceptions Index“ und dem „Bribe Payers Index“ von Transparency International gute Positionen ein. Ebenso traten Korruptionsskandale in den letzten Jahrzehnten seltener auf als in Frankreich, den USA und Deutschland. Daß britische Politiker weniger korruptionsanfällig sind, erklärten Sozialwissenschaftler mit den geringen und beschränkten Wahlkampfkosten, der starken Fraktionsdisziplin und dem geringen Einfluß einzelner Abgeordneter sowie dem langen Sozialisationsweg in einem übersichtlichen politischen Feld, was die Selektion der Politiker und eine wechselseitige Kontrolle fördere.3 2

Vgl. Pierre-Alexandre Bourson, L’affaire Panama. Paris 2000; Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 270, 2005, 337–379; G. R. Searle, Corruption in British Politics 1895– 1930. Oxford 1987. 3 Anthony King, Sex, Money and Power, in: Richard Hodder-Williams/James Ceaser (Eds.), Politics in Britain and the United States. Comparative Perspectives. Durham 1986, 173–202; Robin Gaster, Sex, Spies and Scandal. The Profumo Affair and British Politics, in: Andrei S. Markovits/Mark Silverstein (Eds.), The Politics of Scandal: Power and Process in Liberal Democracies. New York 1988, 62–88.

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Neben sozialwissenschaftlichen Zugängen bieten sich historische Zugänge an, um die geringe Bedeutung von Korruption in Großbritannien zu erklären. Der folgende Artikel argumentiert, daß die Korruption in Großbritannien auch deshalb an Bedeutung verlor, weil sie nicht nur frühzeitig angeprangert wurde, sondern die Regierungen nicht zuletzt durch die frühe Parlamentarisierung immer wieder mit vielfältigen Überprüfungs- und Korrekturmechanismen reagierten. Der intensive Parteienwettbewerb, so das Argument, förderte zwar frühzeitig Korruptionsvorwürfe, um den politischen Gegner zu diskreditieren, er trug aber hierdurch auch zur Festigung von strikten Normen und Reformen bei. Wie zu zeigen ist, war der Korruptionsdiskurs dabei in hohem Maße von dem Anspruch auf Gerechtigkeit geprägt. Der Kampf gegen Korruption war vor allem ein Kampf für gleiche Zugangschancen und möglichst niedrige finanzielle Lasten für die Steuerzahler. Der Verweis auf den Steuerzahler und „ordinary man“, der für die Folgen von korrupten Geschäften aufkommen mußte, läßt sich dabei als zentrale rhetorische Figur herausarbeiten. Dabei wird versucht, nicht nur die Korruptionspraktiken, sondern auch das Aufkommen der Debatten über sie aus der spezifischen politischen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu erklären. Zwei Beispiele sollen dabei eine vertiefte Analyse der Korruptionspraktiken und den Umgang mit ihnen herausstellen. Einerseits wurde ein Korruptionsfall in Südafrika gewählt, um die Verbindung zwischen kolonialer Expansion und inländischer Normfestigung aufzuzeigen. Andererseits wird der Marconi-Skandal vertieft betrachtet, um Korruptionsvorwürfe gegenüber Regierungsmitgliedern zu analysieren. Anhand beider Fälle wird gefragt, wer auf welche Weise die Vorwürfe aufbrachte, wie sie in der Presse und der Politik behandelt wurden, wie die Regierungen und die Justiz reagierten und in welcher Beziehung Korruptionswahrnehmung und -praxis standen.

I. Korruptionsdiskurse im 18. und 19. Jahrhundert Die öffentliche Auseinandersetzung mit Korruption hat in Großbritannien eine besonders lange Tradition. Das lag nicht unbedingt daran, daß Bestechungen im Inselreich besonders virulent waren. Vielmehr ermöglichten drei miteinander verbundene Entwicklungen eine frühzeitige intensive Debatte: Die frühe Ausbildung der Pressefreiheit, des Parlamentarismus und einer diskutierenden Öffentlichkeit.4 Bereits für das 17. und 18. Jahrhundert lassen 4 Dies zeichnet sich im internationalen Vergleich immer noch ab, auch wenn das von Habermas entworfene Modell bereits vielfältig revidiert wurde; vgl. etwa Hannah Barker/ Simon Burrows (Eds.), Press, Politics and the Public Sphere in Europe and North America, 1760–1820. Cambridge 2002.

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sich vielfältige Proteste gegen korrupte Praktiken ausmachen, die eine entsprechende öffentliche Sensibilisierung und Normendifferenzierung dokumentieren. In der Korruptionskritik artikulierte sich zugleich die Forderung nach einem veränderten Gesellschaftsmodell. So zeigten in den 1720er Jahren die Proteste gegen Korruption und die folgenden Verurteilungen nicht allein deren Zunahme, sondern auch ein sich wandelndes Gesellschafts- und Verfassungsverständnis. Mit der Klage über die Korruption forderten die Kritiker politische Normen ein, die sich gegen Privilegierungen, Unproduktivität und Verantwortungslosigkeit richteten.5 Ihre Antikorruptionsdiskurse zehrten zugleich von Machiavellis Ideen, von protestantisch geprägten Leistungsidealen und republikanischen Vorstellungen. Dies wurde frühzeitig auf die britischen Kolonien übertragen. Aufklärerische Interventionen forderten für die Briten in Indien ähnliche Normen wie in England ein – wie etwa Edmund Burkes berühmte Anklagen gegen den indischen Generalgouverneur Warren Hastings und die East India Company, die er als „one of the most corrupt and destructives tyrannies“ bezeichnete.6 Der Kampf gegen die „Old Corruption“ bildete besonders Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts das zentrale Thema einer kritischen Öffentlichkeit, die Reformen einforderte. Vor allem für die Publizisten der „Radical Press“, die in den 1810er Jahren expandierte, war dies der zentrale Kampfbegriff. In enthüllenden Publikationen listeten sie detailliert ungerechtfertigte Einkommen ohne Gegenleistung auf.7 Der Begriff „Old Corruption“ bezog sich auf unterschiedliche Bereiche. Im weitesten Sinne konnte er auf alle politischen Mißstände verweisen, wie die Machtanmaßung der Krone oder die Verschwendung von Steuergeldern. Im engeren Sinne meinte er vor allem Patronage, Bestechung, Wahlbeeinflussung und die Vergabe von lukrativen Ämtern und Pensionen ohne adäquate Gegenleistungen.8 Die starke öffent5

Vgl. Isaac Kramnick, Corruption in Eighteenth-Century English and American Political Discourse, in: Richard K. Matthews (Ed.), Virtue, Corruption and Self-Interest. Political Values in the Eighteenth-Century. London 1994, 55–75; Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 234, 1982, 33–62. Wichtige Anregung hierzu gibt jetzt auch: Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 313–350. 6 Die Rede ist abgedruckt in: Peter J. Marshall (Ed.), India: Madras and Bengal, 1774– 1785. (The Speeches of the Right Hon. Edmund Burke, Vol. 5.) Oxford 1981, 385, und ders. (Ed.), India: The Hastings Trial 1789–1794. (The Speeches of the Right Hon. Edmund Burke, Vol. 7.) Oxford 2000. Zum Kontext vgl. etwa: Andrew Porter, Trusteeship, Anti-Slavery, and Humanitarianism, in: ders. (Ed.), The Nineteenth Century. (The Oxford History of the British Empire, Vol. 3.) Oxford 1999, 198–221. 7 Vgl. bes.: John Wade, The Black Book, or: Corruption Unmasked. London 1820; Philip Harling, The Waning of ‚Old Corruption‘. The Politics of Economical Reform in Britain. Oxford 1996. 8 Für eine weitere Definition plädiert deshalb: W. D. Rubinstein, The End of „Old Corruption“ in Britain 1780–1860, in: Past and Present 101, 1983, 55–86.

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liche Resonanz dieser Proteste gegen die „Old Corruption“ förderte zwischen 1780 und 1840 zahlreiche Reformen – etwa eine Reduzierung der Patronage und des Titel- und Ämterverkaufs, die Ausdehnung des Wahlrechtes, die Senkung der Regierungskosten und letztlich eine Minderung des monarchischen Einflusses zugunsten des Parlaments. Zudem entstanden neue Verhaltensregeln für Politiker, die eine Trennung von privaten und öffentlichen Interessen einforderten. Skandale wie die Duke of York Affair 1809, die von dem prominenten Journalisten William Cobbett enthüllt wurde, gaben hierfür entscheidende Anstöße.9 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese britische Debatte. Vorwürfe im Sinne der „Old Corruption“ spielten öffentlich eine deutlich geringere Rolle. Opposition und Presse suchten vielmehr konsensuale Lösungen für punktuelle Probleme.10 Den Vorwurf der „Corruption“ bezogen die viktorianischen Medien vor allem auf Wahlbestechungen, bei denen die Wähler Vorteile aus ihrem öffentlichem „Amt“ zogen. Durch die Debatte um die Wahlbestechungen gewann der Begriff „Corruption“ auch quantitativ in den Medien stärkere Präsenz.11 Bis in die 1860er Jahre hatte die Kritik an der besonders auf dem Land üblichen Wählerbeeinflussung durch Geld, Geschenke oder Verköstigungen kaum Folgen. Der gesellschaftliche Ansehensverlust blieb recht gering, wenn unterlegene Kandidaten Bestechungen öffentlich anprangerten. Erst die Wahl 1865 leitete umfangreiche Untersuchungen ein, die sich 1868 in Gesetzen gegen die Wahlkorruption niederschlugen, wonach Wahlen mit Bestechungen ungültig waren.12 Diese Reformdebatten etablierten schrittweise Erwartungshaltungen an die Politiker, was in den 1880er Jahren zu zahlreichen Skandalen um Wahlkorruption führte. Dabei waren es weniger die Enthüllungen von Journalisten als der Report einer Royal Commission über die korrupten Praktiken bei der Wahl von 1880, der eine breite öffentliche Empörung, Gesetzesreformen mit harten Strafen und eine Begrenzung der Wahlausgaben auslöste. Tatsächlich sank so die Zahl der wegen Bestechung angefochtenen Wahl9

Vgl. generell zu diesen Reformen aufgrund der Kampagnen: Harling, The Waning of ‚Old Corruption‘ (wie Anm. 7). Als Fallstudie zudem: ders., The Duke of York Affair (1809) and the Complexities of War Time Patriotism, in: The Historical Journal 39, 1996, 936–984. 10 Harling, The Waning of ‚Old Corruption‘ (wie Anm. 7), 259. 11 Dies zeigt eine eigene Auswertung des „Times Digital Archive“ nach der Häufigkeit des Wortes „corruption“ in der Times 1786–1985. Erst in den 1960er Jahren wurde wieder eine vergleichbare Begriffshäufung erreicht. 12 Hierzu entstanden frühzeitig grundlegende Studien; vgl. Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practises in British Elections 1868–1911. Oxford 1962, 26 u. 49–53; William B. Gwyn, Democracy and the Cost of Politics in Britain. London 1962; John B. King, Socioeconomic Development and the Incidence of English Corrupt Campaign Practices, in: Arnold J. Heidenheimer (Ed.), Political Corruption. Readings in Comparative Analysis. New York 1970, 379–390.

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kreise deutlich.13 Wie bei der „Old Corruption“-Debatte zeigte dies erneut, daß in Großbritannien nicht nur Korruptionsvorwürfe eine große Rolle spielten, sondern die Regierungen hierauf auch mit Reformen antworteten, um Korruption künftig zu verhindern. Im Vergleich zu den USA und Frankreich waren in Großbritannien größere politische Korruptionsskandale in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selten. Neben den Reformen minderte besonders die zurückhaltende Präsenz des Staates die Korruptionschancen. Natürlich traten dennoch einzelne Vorfälle auf. So entstand 1849 ein Skandal um den Eisenbahnkönig George Hudson, als dessen verdeckte Ankäufe von anderen Gesellschaften und seine unredlichen Aktienspekulationen bekannt wurden. Ein Abgeordneter warf ihm zudem die Bestechung von Politikern vor. Bemerkenswerterweise richtete sich die öffentliche Empörung in den Zeitungen vor allem gegen seine Bereicherung auf Kosten der kleinen Aktienbesitzer.14 In den Jahrzehnten nach 1850 fanden sich in den Zeitungen immer wieder Artikel, die einzelne korrupte Handlungen oder Veruntreuungen von Staatsbediensteten anprangerten. So machte die Times 1865 öffentlich, ein Mitarbeiter habe in einem Patentamt jahrelang insgesamt einige hundert Pfund unterschlagen und sprach deshalb von „corruption“.15 Daß dieser Fall trotz seiner Marginalität solche Beachtung fand, zeigte jedoch eher das Fehlen größerer Normbrüche. Die Zahl der Korruptionsvorwürfe nahm mit der Etablierung der Massenpresse in den 1880er Jahren in Großbritannien deutlich zu. Sie traten in bis heute typischen Korruptionsbereichen auf – etwa bei kommunalen Bauaufträgen oder im Sport.16 Im Unterschied zu Frankreich betrafen die Vorwürfe jedoch weder Spitzenpolitiker noch handelte es sich um vergleichbare Bestechungssummen. Zudem reagierte die Regierung schnell, indem sie die Fälle durch Kommissionen untersuchen ließ und gleich mit Gesetzesreformen antwortete. Vor allem der 1889 verabschiedete „Prevention of Corruption Act“, 13

So O’Leary, The Elimination (wie Anm. 12), 230; Gwyn, Democracy (wie Anm. 12), 91f. Dennoch sind auch danach in den Archiven zahlreiche Fälle von Wahlbestechung dokumentiert; vgl. etwa National Archives London (im weiteren: TNA) HO 45/9883/ B16523; ebd. CO 873/29; ebd. ASSI 72/25/9. 14 Vgl. Times 1. 3. 1849, 4; 9. 4. 1849, 3; 1. 5. 1849, 4. Von den zahlreichen Studien zu Hudson vgl. zuletzt: Robert Beaumont, The Railway King. A Biography of George Hudson. London 2002, bes. 126–135. 15 Zu diesem sog. „Edmund-Scandal“ vgl. Times 15. 3. 1865, 9 und 23. 3. 1865, 14. 16 Vgl. den „Wimbledon-Scandal“, Times 18. 9. 1880, 9 oder den „Cricket Scandal“, Times 15. 5. 1882, 12. Zur Korruption etwa bei kommunalen Bauprojekten der 1880er Jahre, etwa von Music Halls, vgl. bereits: Alan Doig, Corruption and Misconduct in Contemporary British Politics. Harmondsworth 1984, 70–72. Beispiele zur Thematisierung von Alltagskorruption auch in: Phil Fennell/Philip A. Thomas, Corruption in England and Wales. A Historical Analysis, in: International Journal of the Sociology of Law 11, 1983, 167–189.

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der auf den Music-Hall-Skandal folgte, bestrafte jede Form von Zuwendungen an öffentliche Bedienstete mit bis zu zwei Jahren Haft.17 Im späten 19. Jahrhundert war Korruption damit in Großbritannien ein Phänomen, bei dem die Öffentlichkeit den Staat zu einer fortlaufenden flexiblen Anpassung an sich ändernde Normen zwang, der Staat aber diese Reformen zugleich bereitwillig förderte.

II. Kolonialismus und Korruption: Der „War Stores Scandal“ in Südafrika Die Zunahme der Korruptionspraktiken und -wahrnehmungen im ausgehenden 19. Jahrhundert hing auch mit der verstärkten kolonialen Expansion zusammen, die seit den 1880er Jahren einsetzte. Denn nachdem sich innerhalb Europas gewisse Normen eingespielt hatten, bildeten die neuen Kolonien Räume, in denen die moralischen und juristischen Regeln des Mutterlandes generell weniger zu gelten schienen. Die hohen Gewinne, die die Rohstoffausbeutung in den Kolonien, der Handel und die Truppenversorgung versprachen, forcierten Geschäftspraktiken, die im geringeren Maße der heimischen Moral entsprachen. Zudem verband sich die Kritik an der Kolonialpolitik mit dem Vorwurf der unlauteren Bereicherung. Wie diese korrupten Praktiken und Auseinandersetzungen um koloniale Korruption verliefen, läßt sich besonders mit Blick auf Südafrika zeigen. Der britische Machtanspruch auf die Burenrepublik und der anschließende Krieg verstärkten um 1900 eine kapitalismuskritische Lesart des Kolonialismus, die sich vornehmlich auf Südafrika bezog.18 Zudem leitete seit 1895 mit Joseph Chamberlain ein Minister die britische Kolonialexpansion, der durch vielfältige Investitionen sein Vermögen mehrte, wozu etwa größere Aktienanteile am South African Gold Trust zählten.19 Kapitalismuskritik, Korruptionsverdächtigungen und Antikolonialismus gingen damit eine Liaison ein, die in eine liberale Kritik am Gebaren der unionistisch-konservativen Regierung mündete. Bemerkenswerterweise hatten die frühen Kritiker des Burenkrieges weniger Erfolg mit Anklagen gegen die brutale Kriegsführung als mit Vorwürfen über die Bereicherung von Politikern durch den Krieg, was sich insbesondere wieder auf den Kolonialminister Chamberlain bezog. Die Regierungsmehrheit reagierte erneut mit selbstkritischen Untersuchungen. So prüfte zwischen 17

Doig, Corruption (wie Anm. 16), 79. Vgl. bes. J. A. Hobson, The War in South Africa. Its Causes and Effects. London 1900; ders., Imperialism. A Study. London 1902. 19 Vgl. als grundlegende Biographie: Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in Politics. New Haven/London 1994. Etwas knapper, aber ebenfalls quellenfundiert: Denis Judd, Radical Joe. A Life of Joseph Chamberlain. Cardiff 1993. 18

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Mai und August 1900 ein vom Unterhaus eingesetztes Select Committee on War Office Contracts elf Firmen auf Irregularitäten – etwa auf überteuerte Preise, minderwertige Ware und Bestechung von Inspektoren. Tatsächlich konnte das Komitee in einigen Fällen Bestechungen feststellen.20 Die radikalen Liberalen verdächtigten besonders die Firma Kynoch & Co, der Chamberlains Bruder vorstand, weil sie Angebote revidieren konnte und trotz hoher Preise und schlechter Qualität Zuschläge bekam. Radikale Journalisten trieben diese Vorwürfe weiter voran. Insbesondere der sozialistische Morning Leader veröffentlichte detaillierte Informationen über die minderwertige Qualität der Kynoch-Produkte und über den Aktienbesitz von 140 000 Pfund, den Chamberlains Familie an ihr habe. Detaillierte Listen über ihre Aktien veranschaulichten ihre Verstrickungen und ihren Reichtum. Ebenso berichtete das Blatt über die Geschäfte von Chamberlains Sohn, dessen Firma Hoskins & Sons bis vor kurzem die Armee ausgestattet hatte.21 Chamberlain, so der Vorwurf, hätte zudem aus seinem politischen Wissen bei Aktienspekulationen profitiert. Im Unterhaus griff vor allem der junge radikale Abgeordnete Lloyd George dies auf und kritisierte den Krieg weniger aus pazifistischen Motiven denn als Akt der Korruption.22 Die liberalen Kampagnen gegen Chamberlain und den Burenkrieg wurden durch den von Lloyd George mitausgehandelten Aufkauf der Daily News durch die Liberalen verstärkt.23 Auffällig ist dabei, daß diese linksliberale Kritik durchaus antisemitische Untertöne aufwies, wenn sie sich etwa gegen den internationalen Kapitalismus von „Jewburg“ richteten.24 Antideutsche Töne kamen hinzu, da bereits die Namen einiger Unternehmer eine deutsche Abstammung verrieten. Trotz dieser Mischung aus Populismus und detaillierten Finanzaufstellungen verpufften die Vorwürfe jedoch, was nicht zuletzt die geringe Wirkungsmacht des Antisemitismus in Großbritannien zeigte. 20

Zur Einsetzung, Zusammensetzung und zum Bericht des Komitees vgl. Times 9. 5. 1900, 12 und 8. 8. 1900, 4. Knappe Hinweise bei: Doig, Corruption (wie Anm. 16), 75. 21 Vgl. Morning Leader 3. 8. 1900, 4 und 18. 9. 1900, 3. Vgl. zu der Schwierigkeit Chamberlains, daraus eine Verleumdungsklage zu machen, seine Aufzeichnungen vom 15. 12. 1900 in: Univ. Birmingham Special Collection JC12/2/2. Wichtige Hinweise bereits in: Searle, Corruption (wie Anm. 2), 52–62. Nur erstaunlich knapp erwähnt ist die KynochAffäre in: Judd, Radical Joe (wie Anm. 19), 226; Marsh, Chamberlain (wie Anm. 19), 502f. 22 Gleiches galt für den Sozialisten Keir Hardie; vgl. Kenneth O. Morgan, Lloyd George, Keir Hardie and the Importance of „Pro-Boers“, in: South African Historical Journal 41, 2000, 290–311. 23 Vgl. bereits: John Grigg, Lloyd George and the Boer War, in: A. J. A. Morris (Ed.), Edwardian Radicalism 1900–1914. Some Aspects of British Radicalism. London 1974, 13–25; Stephen Koss, Fleet Street Radical. A. G. Gardiner and the Daily News. London 1973, 40. 24 Vgl. die Hinweise bei: Colin Holmes, Anti-Semitism in British Society 1876–1939. London 1979, 67–69.

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Erfolgreicher war die Aufdeckung von Korruption in Südafrika nach Kriegsende, als die patriotische Kriegsbegeisterung abflaute. Der sogenannte War Stores Scandal, der von 1904 bis 1906 die Öffentlichkeit beschäftigte, läßt sich dabei als eines der wichtigsten öffentlichen Nachgefechte zum Burenkrieg fassen. Nicht die Kriegsgewalt oder die Bereicherung von Ministern führten zu einer breiten öffentlichen Empörung, sondern die Verschwendung von Steuergeldern durch korrupte Handlungen.25 Zu ihnen kam es während der Kriegsabwicklung, die mit großen finanziellen Transaktionen einherging. Da sich die Truppen in Südafrika aus eigenen staatlichen Farmen versorgt hatten, führte ihr Abzug zu umfangreichen Verkäufen von überschüssigen Lebensmitteln, Tieren, Ausrüstungsteilen und Ländereien, aus denen sich die Regierung insgesamt über 9 Millionen Pfund erhoffte.26 Daß es bei diesen unüberschaubaren Aktionen zu Unregelmäßigkeiten und privaten Vorteilsnahmen kam, deuteten am 4. Juni 1904 Berichte in der Daily News und der Times an, die auf ein Gerichtsurteil in Südafrika verwiesen. Wie die Blätter meldeten, hatte der Bruder des südafrikanischen Leiters der Truppenversorgung, Oberst Morgan, für 300 Pfund Spreu aus Armeebeständen verkauft, dann jedoch wieder die gleiche Menge Spreu für rund 2300 Pfund zurückgekauft und den Gewinn mit den beteiligten Händlern und Offizieren geteilt.27 Da der Oberst angeblich auch 300 Pfund erhielt, erschien er beiden Zeitungen als Teil eines kolonialen Korruptionssystems, bei dem nur die Spitze des Eisberges zufällig entdeckt worden sei. Die Daily News prägte bereits mit der ersten Überschrift anklagend den Begriff „War Stores Scandal“, den der Fall auch in den nächsten Jahren behalten sollte. Um die Leser emotional aufzuwühlen, formulierte sie gleich beim ersten Bericht das zentrale Argument des Skandals: „The British public must remember that it’s their pockets which are being plundered.“28 Im Unterhaus bedienten sich die liberalen Abgeordneten ebenfalls der Steuerzahler-Rhetorik. Unter Verweis auf die Medienberichte wiesen sie auf die Verschwendung von Militäreigentum hin, „for which the ratepayers of this country had to pay“.29 Auch bei den Verleumdungsprozessen, die der Oberst gegen die beiden Zeitungen führte, richteten beide Seiten ihre Appelle an die Steuerzahler: Während Morgan betonte, seine sparsame Verwaltung habe den Briten zwei Millionen Pfund erspart, betonte die Daily News in ihren Kommentaren, „the matter affects the administration of hundreds of 25

Die Literatur zum Kolonialismus hat den War Stores Scandal bislang weitgehend übergangen. Lediglich einige Hinweise in: Searle, Corruption (wie Anm. 2), 75–79. 26 Detaillierte Angaben in: Memorandum Wilson/Director of Army Finance o. D, in: TNA WO 32/9260; Memoranda Butler 21. 1. 1905, in: TNA WO 108/ 383, 46. 27 Daily News 4. 6. 1904, 4; Times 4. 6. 1904, 7. 28 Daily News 4. 6. 1904, 4. 29 So der Ire Swift MacNeill, in: Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 138, Sp. 1039 (25. 7. 1904).

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thousands of pounds worth of goods paid, for and belonging to the people of this country“.30 Obgleich das Gericht den Oberst in beiden Prozessen davon freisprach, an diesem korrupten System beteiligt gewesen zu sein, urteilte die Jury im Prozeß gegen die Times, „that the trial reveals a very lax state of affairs, and urge a rigid investigation on the part of the Government“.31 Da Medien, Parlament und Gericht unhaltbare Zustände ausmachten, war die Regierung zum Handeln gezwungen. Die Regierung nahm auch in diesem Fall die Vorwürfe äußerst ernst, zumal sie das Vertrauen in die Kolonialpolitik und die Regierung schmälerten. Sie leitete sofort Maßnahmen und umfangreichere Untersuchungen ein.32 Schon vor den Prozessen hatte sie eine Untersuchungskommission eingesetzt, um die Abwicklung der Militärbestände zu prüfen. Obgleich in dem kleinen Gremium nur hohe Militärs saßen, legte es bereits im Juni 1905 einen kritischen öffentlichen Bericht vor, wie er im deutschen Kaiserreich undenkbar gewesen wäre. Auch dieser umfangreiche Bericht, den selbst regierungsnahe Blätter wörtlich abdruckten, wies eingangs bissig auf die Last der Steuerzahler hin: „Are the tax-payers of this country to continue to be the sport of the many questionable contractors who are ready to follow their several advocations in the wake of the war […]?“33 Seit 1902, so das Fazit des Berichtes, sei fortlaufend versucht worden, die Bestände zu möglichst geringen Preisen an einen kleinen Kreis von Abnehmern zu verkaufen und dann häufig zu hohen Preisen von Zwischenhändlern zurückzukaufen.34 Besonders die liberale Medienöffentlichkeit reagierte auf diese Enthüllungen mit scharfen Angriffen. Die radikal-liberale Reynolds’s Newspaper beschuldigte die Regierung Balfour, die Wahrheit zu verdecken, das Unterhaus nicht informiert zu haben und jene zu unterstützen, „[who] have been stealing the money wrung from the poor in war taxation“.35 Ihre Forderung, die Regierung per Impeachment zu entlassen oder im Strafgericht Old Bailey zu verurteilen, zeigte den scharfen populistischen Ton. Sowohl der Kriegsverlauf als auch die seit 1886 währende Dominanz der Konservativen führten zu dieser für England ungewöhnlich polarisierten Kommunikationsweise, die sich weiter zuspitzte. Reynolds’s Newspaper sprach nun regelmäßig von „The Thieves’ Government“, die sich wie die russische Regierung mit Ge30

Daily News 2. 3. 1905, 12. Times 7. 4. 1905, 3. 32 Vgl. Secretary of State of War an General Officer Commanding Pretoria 6. 6. 1904 und 20. 7. 1904, in: TNA WO 108/ 384; Memorandum o. D, in: TNA WO 32/9260. 33 Report of Committee Appointed by the Army Council to Consider the Question of Sales and Refunds to Contractors in South Africa, 1905, 59. Vgl. Times 15. 6. 1905, 3f. u. 9. Das gesamte Blue-Book des Berichtes umfaßte 530 Seiten. 34 Evidence Ward, in: TNA WO 32/9260, 21; Vgl. auch die öffentliche Bewertung in: Times 17. 6. 1905, 12. 35 Reynolds’s Newspaper 18. 6. 1905, 1. 31

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walt an der Macht halte und den Steuerzahler um 7 000 000 Pfund betrogen habe – obgleich dies nur der geschätzte Verkaufswert aller Kriegsbestände war.36 Gerade in Großbritannien, wo im Parlament der Respekt gegenüber jedem Abgeordneten zentral war, bildete diese Gleichsetzung mit Dieben einen Affront, der nur über die Medien, nicht aber im Parlament sagbar war. Dennoch arbeiteten Presse und Politik weiter eng zusammen. So kündigte der liberale Oppositionsführer Campbell-Bannermann dem Herausgeber der Daily News schon vorher an, was er Premierminister Balfour im Unterhaus fragen werde.37 Visualisiert wurde der erdrückte Steuerzahler in den Karikaturen des Punch, der die südafrikanischen Profiteure als Schlange darstellte, die den Steuerzahler als Hasen verspeiste, der sich mit Geld und Verträgen wehrt.38 Lediglich das angeblich besonders unabhängige und skandalorientierte Boulevardblatt Daily Mail ignorierte die Vorwürfe und stützte die Regierung, indem es auf Fehler in dem Untersuchungsbericht hinwies, die Parlamentsberichte unkommentiert ließ und die Artikel mit wohlwollenden Überschriften versah.39 Dies zeigte einmal mehr, daß man mediengeschichtlich nicht mit heutigen Annahmen über bestimmte Zeitungen operieren sollte, sondern daß diese in hohem Maße von den politischen Vorlieben ihrer Verleger abhingen. Charakteristisch für Großbritannien war, daß die Regierung mit weiteren Untersuchungen und mit Sanktionen reagierte. Bereits nach dem Bericht entließ sie einige Offiziere in Südafrika. Da sich auch im Unterhaus die Klagen über die Verschwendung von Steuergeldern häuften, setzte die Regierung zudem in Abstimmung mit König Edward VII. eine Royal Commission ein, die eidesstattliche Erklärungen forderte und alle Käufe und Verkäufe zwischen 1902 und 1904 überprüfte.40 Nicht minder bereitwillig stellte das Kriegsministerium umfangreiche Auflistungen zur Verfügung.41 Die Vernehmung von zahlreichen prominenten Zeugen, wie sogar des Kriegsministers selbst, hielt das Thema ein weiteres Jahr in der Öffentlichkeit.42 Sie machte zahlreiche weitere Korruptionsverdächtige aus, was zu verschiedenen Suspendierungen führte.43 Ihr Bericht bestätigte fast alle bisherigen Vorwürfe. 36 Zit. Reynolds’s Newspaper 2. 7. 1905, 1. Über „The Thieves’ Governmment“, das der Korruption überführt sei, sprach fast jede ihrer Ausgaben im Juli und August 1905. 37 Campbell-Bannermann an Gardiner 16. 6. 1905, in: LSE NL Gardiner 1/6. 38 Punch 21. 6. 1905. 39 Vgl. etwa: Daily Mail 17. 7. 1905, 5 und 22. 7. 1905, 3. 40 Vgl. Bericht Balfour an Edward VII. und Kabinettsprotokoll. 22. 6. 1905, in: TNA CAB 41/30/23. Von den zahlreichen Unterhausdebatten hierzu vgl. bes. die Sitzungen zwischen dem 21. 6. 1905 und 4. 7. 1905, vor allem 26. 5. 1905, in: Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 148, Sp. 79–367. 41 Vgl. Akten wie in: TNA WO 108/ 383 bis 386. 42 75 Zeugen wurden an 26 Sitzungstagen vernommen; Times 10. 8. 1906, 4f. 43 Ward an Royal Commission 27. 1. 1906, in: TNA WO 32/9258; Ward an Royal Commission 28. 12. 1905, in: TNA WO 108/384.

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Die Mißwirtschaft hatte demnach das Land zwischen 750 000 und 1 250 000 Pfund gekostet und nur Profit für einige „Commissioned officers“ und viele „Non-commissioned officers“ gebracht. Er zeigte die chaotische Kommunikation zwischen dem War Office und der Verwaltung in Südafrika und belegte erneut das Fehlen wichtiger Dokumente.44 Vor allem dokumentierte er die Bestechung zahlreicher Militärbeamter, die für Geldgeschenke Waren unter Preis verkauft hatten. Die Bestechungssummen betrugen bei einigen Beschuldigten 100, 200 oder 500 Pfund, also oft mehr als ihre Monatsgehälter. Andere erhielten mehrmals kleine Beträge von nur ein bis zwei Pfund, um Aufträge zu steuern.45 Gerade die kleinen Bestechungssummen verweisen darauf, daß sich die korrupten Praktiken oft in einem grauen Bereich zwischen Freundschaftsdienst und persönlicher Vorteilsnahme bewegten. Wie bei anderen Korruptionsfällen zeigte sich damit, daß es keine feste Summe der Käuflichkeit gab, sondern oft symbolische Beträge ausreichten. Gerade weil das korrupte Handeln von den Beteiligten kaum als Straftat wahrgenommen wurde, fielen die Summen mitunter gering aus. Umgekehrt formuliert: Gerade die Etablierung von Korruptionsnormen durch derartige Skandale dürfte in späteren Fällen die Beträge erhöht haben, die für die Senkung von Hemmschwellen nötig waren. Der Fall belegt vor allem die bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstreinigung der britischen Politik. Obgleich die Kommissionsmitglieder der Regierung nahestanden, führten ihre Recherchen zu derart unliebsamen Ergebnissen. Damit riskierte Balfours Regierung, sich der öffentlichen Empörung auszusetzen. Tatsächlich kritisierte selbst die regierungsnahe Times in ihrer Bilanz die Mißwirtschaft und Gleichgültigkeit gegenüber Steuergeldern, die das Kriegsministerium nicht verhindert habe, auch wenn die Regierung selbst nicht korrupt sei.46 Die Folgen waren beträchtlich. Die Berichte förderten den Ansehensverlust der konservativ-unionistischen Regierung, der sich auch in anderen Politikfeldern abzeichnete. Da sie bei den verschiedenen Abstimmungen keine Mehrheit mehr bilden konnte, forcierte der Korruptionsvorwurf den Triumph der liberalen Opposition und Rücktrittsforderungen an Premierminister Balfour.47 Ende des Jahres zerbrach die Regierung schließlich ganz und verlor bei den anschließenden Wahlen erdrutschartig an die Liberalen. Diesen Verfall erklärte die bisherige Forschung gewöhnlich mit den Konflikten über den Freihandel, über Gewerk44

Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA WO 32/9259. 45 Memorandum o. D., in: TNA WO 32/9259. 46 „They were guilty of irresponsibility, indifference to public interest, and want of intelligence“; Times 10. 8. 1906, 7. Ähnlich auch: Times 30. 8. 1906, 10; Times 17. 10. 1906, 7; Times 31. 12. 1906, 6. 47 Daily Mail 21. 7. 1905, 5.

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schaftsrechte und über billige chinesische Arbeiter in Südafrika. Die „taxpayer“-Kampagne im Zuge des War Stores-Scandal dürfte jedoch ebenfalls einen größeren Anteil daran gehabt haben.48 Welche vergleichsweise starke reinigende Kraft die britische Öffentlichkeit und Regierung ausübten, belegten auch die personellen Konsequenzen des Korruptionsfalles. Zwölf Personen aus der Militärverwaltung, darunter ein Oberstleutnant, wurden entlassen, fünf pensioniert und zwölf getadelt.49 Noch schwerer wog vermutlich, daß die Presse ihre Namen veröffentlichte.50 Einen Tadel erhielten diejenigen, die lediglich Armeebestände zu schlechten Preisen verkauft hatten oder sich von den Käuferfirmen dafür Kredite hatten geben lassen. Entlassen wurde, wer Geld von den Agenten der Käufer angenommen hatte. Vor allem setzte der Fall Normen für das künftige Verhalten in den Kolonien. Die große Zahl von bestochenen Offizieren machte deutlich, wie unproblematisch dort bisher korrupte Geschenke erschienen waren. Dagegen verfestigten die rigorosen Untersuchungen, die Entlassungen und die öffentliche Empörung die Norm, daß auch in Afrika ein derartiges Verhalten nicht mehr tolerierbar war und von der heimischen Öffentlichkeit geahndet wurde. Die Kritik an der nachlässigen Aktenführung legte zudem für die Kolonien heimische Bürokratiestandards fest. Der sparsame Umgang mit Steuermitteln wurde ebenfalls zur „Leitlinie“ erhoben. Die Debatte setzte nicht nur Normen, sondern förderte auch Gesetzesreformen. Die Verschärfung des Prevention of Corruption Act gehörte 1906 zu den ersten Handlungen der neugewählten liberalen Regierung, mit der sie Bestechungen über den Kreis des öffentlichen Dienstes hinaus unter Strafe stellte.51 Im Zuge der Strafverschärfung machten die Behörden zahlreiche Korruptionsformen des Alltags aus. Hierzu zählten Bestechungen von Polizisten und Verwaltungsmitarbeitern, die von hohen Geldsummen bis hin zu einem Paket Fleisch reichten. Ebenso wurden aber auch Fälle bestraft, bei denen keine Staatsdiener beteiligt waren, etwa die Bestechung von Fußballern, Hotelangestellten (um Adressen von Gästen zu erhalten) oder Firmenangestellten (um Informationen über das Unternehmen zu bekommen). Die Strafen hierfür waren mit meist ein bis drei Wochenlöhnen nicht übermäßig hoch.52 Wichtiger war vermutlich das Signal, daß Bestechung generell strenger geahndet werden sollte. 48 In den gängigen Darstellungen zum Regierungswechsel finden sich keine Hinweise auf den War Stores Scandal. Vgl. etwa die umfassende Wahlkampfstudie von: A. K. Russell, Liberal Landslide. The General Election of 1906. Newton/Hamden 1973. 49 Report of the South African War Stores Commission 15. 10. 1906, in: TNA WO 32/9259. 50 Times 16. 10. 1906, 9. 51 TNA HO 45/10909/R614; Doig, Corruption (wie Anm. 16), 77. 52 Convictions under the Prevention of Corruption Act, in: TNA HO 45/10909/R614; Law Times 16. 1. 1909.

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III. Konservative Kampagnen gegen „Radical Plutocrats“ Seit 1906 veränderte sich diese Auseinandersetzung mit der Korruption. Die Korruption in den Kolonien geriet aus dem Blickwinkel. Statt dessen warfen nun die Konservativen den Liberalen vor, ihre politische Stellung mit korrupten Beziehungen auszubauen. Diese Verschiebung der Debatte erklärt sich zunächst aus dem Machtwechsel in der Downing Street, der den polarisierten Politikstil weiter forcierte.53 Da die Tories durch den Zollstreit und die Wahlniederlage von 1906 zerstritten waren und ihr Vorsitzender Arthur Balfour an Autorität verlor, versprachen scharfe emotionale Kampagnen gegen die angebliche Korruption der Liberalen neuen Zusammenhalt. Besonders der neue Tory-Vorsitzende Bonar Law setzte seit 1911 ganz auf eine polarisierende Agitation gegen die liberale Regierung, um die neu zusammengeschlossenen Konservativen und Unionisten zu einen.54 Die gerade erst gegründete Bribery Prevention League hielt das Thema mit Vorträgen und massenhaft publizierten Schriften in der Öffentlichkeit.55 Die harten politischen Konflikte und Krisen um 1910 verschärften das ohnehin polarisierte Klima zwischen den Parteien zusätzlich. Hierzu zählten insbesondere die Auseinandersetzung über die Steuerreform, die Entmachtung des Oberhauses, die Arbeiterstreiks, die komplizierte internationale Lage im Vorfeld des Krieges und der erneute Versuch, die irische Home Rule umzusetzen. Nicht nur die Reformpolitik der Liberalen zielte dabei auf den Erhalt von Arbeiterstimmen, welche die neu gegründete Labour Partei abzuwerben drohte; das gleiche galt für die Korruptionskampagnen der Konservativen. Die bisherige liberale Korruptionskritik an den Konservativen hatte die moralische Meßlatte der neuen Regierung recht hoch gelegt. Die Konservativen knüpften an die bisherigen Kampagnen der Liberalen an. Ebenso standen sie in der Tradition der „Old Corruption“-Agitation hundert Jahre zuvor. Sie warfen den Liberalen vor, seit ihrem Regierungsantritt ein korruptes Patronagesystem entwickelt zu haben. Loyale liberale Unternehmer, die der Partei Großspenden zukommen ließen, würden dafür Aufträge, Orden und Nobilitierungen erhalten. Einzelne fragwürdige Ehrungen, wie die für einen Firmendirektor, der der Marine defekte Ruder geliefert hatte, verbanden die Tories bereits 1907 mit der generellen Frage, ob diese Auszeichnungen mit Spenden an den liberalen Parteifonds zusammenhingen.56 Derartige Be53

Zu dieser Wahlniederlage vgl. Russell, Liberal Landslide (wie Anm. 48). Nachdem sie lange Zeit Balfour angelastet wurde, betont nun E. H. H. Green ihre Ursache in einem längerfristigen Niedergang der Konservativen seit den 1890er Jahren; E. H. H. Green, The Crisis of Conservatism. The Politics, Economics and Ideology of the British Conservative Party, 1880–1914. London/New York 1995, 308f. 54 Green, The Crisis of Conservatism (wie Anm. 53), 310. 55 Vgl. Searle, Corruption (wie Anm. 2), 104. 56 Zum Einsetzen der Debatte vgl. Times 12. 7. 1907, 6 und 16. 7. 1907, 6.

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schuldigungen hatten sie bereits während der kurzen liberalen Regierungszeit von 1892 bis 1895 aufgebracht. Tatsächlich hatten seit den 1890er Jahren jedoch alle Parteien ihren stark gestiegenen Finanzbedarf mit Nobilitierungen und Ehrungen aufgebessert, die ihre Unterstützer belohnten.57 Zudem verspotteten die Konservativen die Liberalen nun regelmäßig als „Radical Plutocrats“. Der Vorwurf der Doppelmoral sollte das eigene Image der Tories aufbessern, die Partei der Oberschicht zu sein.58 So karikierten die konservativen Blätter, wie die National Review und Our Flag, liberale Spitzenpolitiker als neureiche verschwenderische Millionäre. Lloyd George stellten sie etwa als Villenbesitzer und Golfspieler in Nizza dar und Churchill als Hummer- und Kaviaresser.59 Ebenso sprachen ihre Pamphlete vom „gigantic wealth“ der „Radical Plutocrats“, die weit vermögender seien als die konservativen Politiker und deshalb erklären sollten, inwieweit sie von einzelnen Regierungsentscheidungen profitierten.60 In den Debatten verglichen die Konservativen die Bedrohung durch die „radikalen Plutokraten“ sogar explizit mit den spektakulären Fällen der „Old Corruption“ im 19. Jahrhundert.61 Mit diesen Vorwürfen konnten die stark gespaltenen Konservativen unterschiedliche Schichten ansprechen. Der Angriff gegen die „radikalen Plutokraten“ appellierte erstens an die Ressentiments der alten Eliten gegenüber sozialen Aufsteigern, zweitens an das Arbeitsethos der Mittelschichten und drittens an das Klassenbewußtsein von Unterschichten. Man wird diese Rhetoriken somit als ein wichtiges Element jener programmatischen Transformation der Konservation sehen müssen, die sich jenseits der „landed interest“ mit sozialen Fragen profilierten.62 Bei dieser Auseinandersetzung um Korruption kam es erneut zu einer Arbeitsteilung zwischen Politikern und Journalisten. Die konservativen Korruptionskampagnen gegen liberale Politiker betrieben vornehmlich Journalisten, die den Tories nahestanden. Besonders der Herausgeber der National 57

Zur öffentlichen Kritik in den 1890ern vgl. Times 1. 7. 1895, 9; Truth 38, 1895, 137. Zu den Titelverkäufen der Parteien vgl. T. A. Jenkins, The Funding of the Liberal Unionist Party and the Honours System, in: English Historical Review 105, 1990, 920–938; H. J. Hanham, The Sale of Honours in Late Victorian England, in: Victorian Studies 3, 1960, 277–289. 58 So auch die explizite interne Begründung für die Kampagne; Maxse an Tryron o. D. [1912], in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. 59 Our Flag Febr. 1912, 26; National Review 60, 1912, 38. 60 Vgl. die Broschüren in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. Die Rhetorik über die radikalen Plutokraten läßt sich bereits vor dem Regierungswechsel ausmachen; vgl. etwa den Leserbrief Frederick Milners in: Times 6. 1. 1905, 10: „I venture to assert that if the incomes of the Unionist members of Parliament were added up they would only make a poor show against the income of many wealthy men who sit on the radical site of the House.“ Auch er verweist auf Yachten, Villen u. ä. 61 Vgl. etwa Times 25. 6. 1907, 6. 62 Zur programmatischen Transformation der Konservativen generell Green, The Crisis of Conservatism (wie Anm. 53).

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Review, Leopold Maxse, organisierte sie, da er vom unmoralischen Machtstreben der Liberalen überzeugt war.63 Um die Kampagnen der Konservativen systematisch zu organisieren, gründete Maxse die „Radical Plutocracy Enquiry“. In deren Vorstand waren zwar Abgeordnete, allerdings übernahm der Journalist als Sekretär die eigentliche Arbeit. Zur Sammlung von skandalösen Hinweisen über die vermeintlichen „radical plutocrats“ verschickte er 1912 ein Rundschreiben an alle Abgeordneten und weitere konservative Repräsentanten, das in einem langen Fragebogen denunziatorische Hinweise erbat, um korrupte Formen der Bereicherung auszumachen. Der Fragenkatalog begann mit den Worten: „I. Are there any Radical millionaires or quasi millionaires or Radicals who pass for being plutocrats in your neighbourhood or have you any knowledge of such persons elsewhere? II. Have any of them received any ,honours‘ since the Radical Party came into office in November 1905 […]).“64 Zudem fertigte sein Komitee eine Liste „of possible Plutocrats among radical members of the House of Commons“ an, die über 70 Abgeordnete umfaßte und dann dank der eingehenden Hinweise auf über 200 anwuchs. Erwartungsgemäß trugen die vielfältigen Antworten gehässigen Klatsch über das Privatleben von reichen Liberalen zusammen, der mitunter auch antisemitisch gefärbt war. So verlangte ein Antwortschreiben „a closer investigation of those Hebrew gentlemen (your friends) who live in this country and do not pay income tax and of course escape all local taxation“.65 Durch den Fragebogen versuchte der Journalist eine Art Kartei zusammenzustellen, um die Medien und konservative Politiker mit skandalösen Informationen zu versorgen. Gerade dieses Beispiel zeigt somit, daß auch in der scheinbar parteiunabhängigen britischen Presse durchaus Journalisten als aktive Akteure in parteipolitischen Auseinandersetzungen agierten. Wie ernst die Liberalen dies nahmen, zeigte sich bereits darin, daß das Innenministerium alle Verurteilungen wegen Korruption zusammenstellte, um auf Anfragen vorbereitet zu sein.66 Auch bei den Nobilitierungen agierte der liberale Premierminister Asquith vorsichtiger. Als Churchill etwa in Rücksprache mit Northcliffe vorschlug, einige liberale Journalisten mit Ehrungen auszuzeichnen, lehnte Asquith dies sogleich ab, um nicht in den Verdacht der Begünstigung zu geraten.67 Der Erfolg dieser organisierten Anti-Korruptions63

Vgl. seinen Duktus in: Maxse an Northcliffe 24. 2. 1913, in: BL Northcliffe Papers Add. 62175:56. 64 West Sussex Record Office, Maxse Papers 467. 65 An Maxse 19. 10. 1912, in: West Sussex Record Office, Maxse Papers 467; ein anderer Brief richtete sich gegen „German Jews [...] abusing the hospitality of their adopted country“, in: ebd. 66 Vgl. die Fälle in: Convictions under the Prevention of Corruption Act, in: TNA HO 45/10909/R614. 67 Churchill an Asquith 12. 8. 1912, in: Churchill Archives Centre CHAR 2/57/30–32; Asquith an Churchill 16. 8. 1912, in: Churchill Archives Centre CHAR 2/57/33.

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kampagne blieb jedoch vorerst begrenzt, da sie kaum substantielle Vorwürfe vorbrachte. In ihrer breiten und suggestiven Pauschalität förderte sie eher generelle Vorurteile und Verdächtigungen.

IV. Jüdische Verschwörungen? Kampagne und Praktiken im Marconi-Skandal Wie sehr sich derartige Verdächtigungen von den tatsächlichen korrupten Praktiken unterschieden, läßt sich entlang des Marconi-Skandals zeigen. Der Fall, der die britische Öffentlichkeit 1912/13 fast ein Jahr lang beschäftigte, läßt sich als Ergebnis und Höhepunkt der seit 1906 eingeleiteten konservativen Kampagnen gegen die „Radical Plutocrats“ verstehen.68 Er entwickelte sich aus der Kritik an einem Vertrag, den die liberale Regierung 1913 mit Marconi’s Wireless Telegraph Company ausgehandelt hatte, um das Empire mit drahtlosen Telegraphenstationen auszustatten. Die konservative Opposition beklagte, Marconi bekomme zuviel Geld, liefere aber nicht die besten Anlagen und erhalte quasi ein Monopol. Seit dem Sommer 1913 verbanden einzelne konservative Journalisten dies mit dem antisemitischen Gerücht, der Vertrag belaste die Steuerzahler übermäßig, weil der Manager von Marconi der Bruder des Kronanwalts Rufus Isaacs sei. Da beide, ebenso wie der zuständige Postminister Herbert Samuel, Juden seien, bereicherten sie sich gemeinschaftlich an öffentlichen Mitteln. Zudem deuteten diese Journalisten an, Kronanwalt Isaacs, Finanzminister Lloyd George und der ehemalige liberale Fraktionsführer Lord Murray hätten durch ihr Insiderwissen über den Marconi-Vertrag Spekulationsgewinne mit Marconi-Aktien gemacht.69 Da Lloyd George gerade durch seine Kampagnen gegen die Korruption der Konservativen seit 1900 eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erreicht hatte und dank seiner radikalen Reformansprüche besonders umstritten war, versprachen solche Vorwürfe besonderes öffentliches Interesse zu generieren. Angestoßen wurde der Korruptionsvorwurf durch zwei kleine konservative Wochenblätter namens Outlook und Eye-Witness. Mit deutlich antisemitischem Unterton nannten sie den Postminister Samuel und den Marconi68

Die bislang grundlegende Darstellung des Skandals von Frances Donaldson betrachtet den Marconi-Skandal dagegen als singuläres Ereignis und kommt sogar zu dem Fazit: „The Marconi case was an isolated incident without, it seems to me, much historical significance.“ Frances Donaldson, The Marconi Scandal. London 1962, 249. Eingeordnet in die Korruptionsgeschichte dagegen bei Searle, Corruption (wie Anm. 2), 172–200. Als Verteidigung von Lloyd George, der angeblich in den Fall hineingeschlittert sei, vgl.: Bentley B. Gilbert, David Lloyd George and the Great Marconi Scandal, in: Historical Research 62, 1989, 295–317. 69 Zum bereits bekannten Ereignisablauf des Marconi-Skandals, der hier nicht im Detail erneut wiederholt zu werden braucht, vgl. bereits: Donaldson, The Marconi Scandal (wie Anm. 68).

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Geschäftsführer Godfrey Isaacs „two financiers of the same nationality“, die auf Kosten der englischen Steuerzahler Gewinne machten.70 Auch die pauschalisierenden Verweise auf ihre jüdisch klingenden Nachnamen („these Samuels and Isaacs“) zeigten einen Antisemitismus, wie man ihn eher von konservativen deutschen Zeitungen kannte.71 Die Juden wurden von beiden Zeitschriften national und rassistisch über ihr „Blut“ ausgegrenzt, welches ihr korruptes Handeln bedinge: „Like the other eminent recipient of public money he [Samuel, F. B.] is not of our blood or tradition and owes no real allegiance to the foreign state which has very unwisely hired him to serve it.“72 Den Liberalen hielten sie vor, durch ihre korrupte Haltung quasi Marionetten dieser Juden geworden zu sein, die Politiker und die Presse aufkauften: „We know that they [the Liberals, F. B.] sell peerages, that they sell places on the Front-Bench, that they sell policies. We know that a rich financier, though an alien and an unsavoury one at that, can get hold of a politician just as he gets hold of a racehorse.“73 Wie der Besitzer des Eye-Witness einige Monate später vor dem Untersuchungsausschuß aussagte, war diese antisemitische Stoßrichtung durchaus ein Hauptziel der Kampagne.74 Der Antisemitismus knüpfte damit an Stereotype über jüdische Börsenhändler und Aufsteiger an, die sich bereits in den Kampagnen gegen den Burenkrieg angedeutet hatten. Er stand im Kontext einer neuen radikalen Rechten, die sich im Zuge der verstärkten jüdischen Einwanderung aus dem Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts formierte.75 Der antisemitische Akzent korrespondierte mit den vorherigen Skandalen in Frankreich. Besonders der Panama-Skandal und die Dreyfus-Affäre prägten europaweit bei der politischen Rechten Imaginationen über die jüdische Macht. So glaubten die Verleger und Redakteure des Eye-Witness, England sei einer ähnlichen jüdischen Verschwörung ausgesetzt, wie sie sich angeblich in Frankreich beim Dreyfus-Skandal gezeigt habe.76 Daß ausgerechnet Belloc dies aus Frankreich nach Großbritannien transferierte, hing auch mit seiner Sozialisation zusammen: Bellocs Vater war Franzose, und durch seine enge Verbin70

Outlook 20. 7. 1912. Eye-Witness 8. 8. 1912, 227. 72 Eye-Witness 15. 8. 1912, 257; vgl. ebenso Eye-Witness 8. 8. 1912, 227–230. 73 Eye-Witness 17. 10. 1912, 545f. 74 „The real motives are an attack upon Jews as Jews.“ Aussage Granville in: Select Committee, in: BT Archives POST 88/34, 411. 75 Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945. Göttingen 1991, 82–87. 76 So schrieb Granville am 6. 4. 1913 an das Select Committee: „I am in short in a position to unmask a conspiracy as dangerous to England as the Anti-Dreyfus agitation was to France. This can be done by me telling the story of the ‚Eye-Witness‘ (which I financed from its start up to September last year) with special reference to the period.“ Aussage in: BT Archive POST 88/34, 411. 71

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dung zu Frankreich hatte er vor Ort die dortigen Bestechungsskandale erlebt. Da Herbert Samuel und Rufus Isaacs zu den ersten gläubigen Juden auf britischen Ministerposten zählten und sich das Londoner Politikumfeld erst schrittweise für Juden öffnete, hatte diese Korruptionskampagne grundsätzlich eine ähnliche Stoßrichtung wie die Dreyfus-Affäre: Es ging darum, welche Rolle Juden im öffentlichen Leben spielen durften.77 Bemerkenswerterweise griffen jedoch lediglich einzelne kleinere konservative Wochenzeitungen die antisemitischen Vorwürfe auf, wie die National Review, New Age und der Spectator.78 Die großen Tageszeitungen wie die Times erwähnten die Vorwürfe zunächst weder negativ noch positiv, sondern ignorierten sie. Ebenso sahen die verleumdeten Minister von Klagen ab, um den Blättern keine Aufmerksamkeit zu geben. Daß die Korruptionsvorwürfe antisemitisch waren, erwies sich damit für die Liberalen als vorteilhaft, da es die Angriffe insgesamt entwertete. Die konservativen Abgeordneten distanzierten sich auch im Parlament explizit von den Vorwürfen und referierten sie lediglich. Zugleich betonten sie aber, daß sie untersucht werden müßten.79 Selbst in diesem besonders polarisierten politischen Klima hielten sich die britischen Politiker damit an den parlamentarischen Kodex, politische Gegner als „honourable gentlemen“ anzusprechen. Intern gab es jedoch mitunter einen latenten Hang dazu, Juden mit Korruption zu verbinden. Der führende konservative Journalist Loe Strachey vom Spectator verwahrte sich etwa gegen jeden Antisemitismus, meinte aber zugleich: „I am afraid that there is an inveterate habit in the Jewish mind, no doubt the result of prosecution, of holding that one Jew must always give a helping hand to another Jew in the financial line.“80 Eine dominante Wahrnehmung war dieser Antisemitismus jedoch auch bei den Konservativen nicht, selbst wenn man dessen Präsenz höher veranschlagen muß als es lange üblich war.81 Da sich 77

Vgl. generell zu Isaacs Biographie Denis Judd, Lord Reading. Rufus Isaacs, First Marquess of Reading, Lord Chief Justice and Viceroy of India 1860–1935. London 1982. Der frühere Premierminister Disraeli stammte zwar aus einem jüdischen Elternhaus, war aber getauft. 78 Vgl. National Review Sept. 1913. Hier hieß es in Anlehnung an den Outlook-Artikel: „The Postmaster-General for the time being bears the name of Samuel. Here we have two financiers of the same nationality pitched against each other, with a third in the background, acting, perhaps, as mutual friends.“ Zurückhaltender dagegen der Spectator 7. 9. 1913 und 14. 9. 1913. 79 Vgl. die Formulierungen in den Anfragen von Norman, Archer-Shee und Lansbury bes. Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 42, Sp. 667, 697 u. 712f. (11. 10. 1912). Vgl. auch Times 12. 10. 1912, 6. 80 Strachey an Dicey 23. 3. 1913, in: House of Lords Record Office, Strachey Papers, S5/6/9. 81 Vgl. als internationale Vergleichsstudie, die auch den Antisemitismus in England betont: Herbert A. Strauss (Ed.), Germany – Great Britain – France. (Hostages of Modernizations. Studies on Modern Antisemitism 1870–1933/39, Vol. 3.) Berlin 1993. Einen relativ starken Antisemitismus bei britischen Akademikern sieht vergleichend auch:

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schnell zeigte, daß die antisemitischen Korruptionsvorwürfe gegen Postminister Samuel lediglich auf Gerüchten beruhten – wie auch die beteiligten Journalisten später öffentlich zugeben mußten – stärkte die Korruptionskampagne nicht den Antisemitismus, sondern schwächte die Antisemiten.82 Darüber hinaus zeigten sich jedoch Formen der Vorteilnahme, die durchaus eine reale Grundlage hatten. Wie im Lauf der Untersuchung bekannt wurde, hatten der Kronanwalt Isaacs, der Finanzminister Lloyd George und der ehemalige liberale Fraktionsführer Lord Murray tatsächlich mit Insiderwissen Spekulationsgewinne mit Marconi-Aktien gemacht und dies vor dem Parlament durch eine geschickte Formulierung verheimlicht. Der Kronanwalt Rufus Isaacs hatte von seinem Bruder, dem Marconi-Geschäftsführer, kurz vor Vertragsabschluß im April 1912 10 000 Marconi-Aktien erworben, von denen er jeweils 1000 für je zwei Pfund an den Finanzminister Lloyd George und den Fraktionsvorsitzenden Lord Murray verkaufte. Letztere veräußerten davon die Hälfte zwei Tage später für drei Pfund pro Aktie und kauften mit dem Gewinn 3000 neue. Wie etwas später zufällig durch die Insolvenz eines Börsenhändlers öffentlich wurde, kaufte zudem der Fraktionsvorsitzende Lord Murray Anteile für 9000 Pfund, um Geld der liberalen Partei anzulegen.83 Die Rechtfertigung der Minister, das amerikanische Unternehmen sei völlig unabhängig vom englischen und der baldige Vertragsabschluß bekannt gewesen, war wenig überzeugend. Beide Firmen lebten vom gleichen Patent und hatten zum Teil die gleiche Firmenleitung. Bereits die schnellen anfänglichen Gewinne sprachen für sich. Erst diese Offenbarung führte zu einer emotionalen Debatte über Praktiken der Korruption und Vorteilsnahme. Die verhandelten Normen lassen sich auf vier Ebenen systematisieren. Der erste Normbruch war die irreführende Aussage der Minister gegenüber Parlament und Öffentlichkeit. Beides diskreditierte generell das Vertrauen in die Aufrichtigkeit von Politikern. Überall im Land, so der konservative Spectator, würde sich gefragt: „If accident can have disclosed so much, what may not accident now be concealing?“84 Gerade die zufällige Enthüllung verstärkte den Eindruck, im Geheimen beständen größere korrupte Verschwörungen. Zweitens sorgte für Empörung, daß Minister „private interest“ und „public duty“ vermischten. Die Begriffe blieben in der Debatte strukturbilThomas Weber, Anti-Semitism and Philo-Semitism among British and German Elites. Oxford and Heidelberg before the First World War, in: English Historical Review 118, 2003, 86–120. 82 Aussage 24. 4. 1913 in Sel. Com. in: BT Archives POST 88/33; ebenso die Aussagen der Herausgeber und Lawson vom Outlook nach Aussage in: Times 7. 2. 1913, 4; 11. 2. 1913, 5; 13. 2. 1913, 7. 83 Vgl. zu diesen Spekulationsgeschäften bereits Donaldson, The Marconi Scandal (wie Anm. 68), 52f. 84 Spectator 14. 6. 1913, 1002.

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dend.85 Damit wurden generell die Grenzen zwischen Politik und privaten Geschäften verhandelt. Der Vorwurf lautete, die Minister hätten die amerikanischen Marconi-Aktien vorab zu einem besonders günstigen Preis bekommen, zu dem die Öffentlichkeit sie nicht hätte kaufen können. Ebensowenig hätte der einfache Mann von ihrem Wertanstieg durch den bevorstehenden Vertragsabschluß mit der englischen Marconi-Firma gewußt. In Wirtschaftsfragen und Aktienkäufen, so die hier aufgebrachte Norm, seien Politiker dem „ordinary man“ gleichzustellen. Wie auch der Starjournalist und liberale Abgeordnete C. P. Scott sogleich feststellte, war die Kampagne damit der Versuch, neue Standards in der Politik zu etablieren. Denn bislang würden alle Politiker mit Aktien spekulieren, mit denen sie nicht unbedingt hantieren sollten.86 Drittens eröffnete der Fall Einblicke in das private Vermögen der Minister und ihren Umgang mit ihm. Die Zeitungsleser erfuhren, daß ein radikaler Liberaler wie Lloyd George mit vierstelligen Beträgen jonglierte und die Minister in zwei Tagen so mehrere Jahresgehälter eines Mittelklasse-Einkommens verdient hatten. Die Stereotype, die die konservativen Kampagnen über die „radikalen Plutokraten“ veröffentlicht hatten, schienen damit tatsächlich zu stimmen. Lloyd George rechtfertigte sich sogleich, er habe insgesamt kein Vermögen mit den Aktien gemacht, sondern einige hundert Pfund verloren. Zudem legte er seine Vermögensverhältnisse offen.87 Dennoch traf Northcliffes interne Bemerkung zu, daß diese Enthüllung nicht nur Einfluß auf Lloyd Georges Image habe, sondern auch auf seine Politik: „He cannot attack the rich as he has done in the past“, bemerkte er gegenüber Lord Riddell von der News of the World.88 Da Lloyd Georges sonstiger Aktienbesitz nicht allzu groß war, fiel um so mehr auf, wie sehr er ganz auf die Firma vertraute, mit der seine Regierung gerade in Vertragsverhandlungen war. Eine vierte Ebene betraf schließlich die Frage, wie mit Parteifinanzen umzugehen sei, da es sich hier um einen frühen Parteifinanzierungsskandal handelte. Er machte öffentlich, daß der ehemalige liberale Fraktionsvorsitzende Lord Murray ohne Wissen der Partei Gelder akquiriert hatte und diese anscheinend auf undurchsichtige Weise verwaltete. Dies schien ein Beleg dafür zu sein, daß die Kritik an dem Aufbau eines liberalen Parteivermögens durch Titelverkäufe den Tatsachen entsprach.89 Da die Parteien erst seit den 1880er Jahren eine stärker ausgebaute Organisation entwickelten, waren solche 85

Vgl. etwa den Minority-Report der Konservativen in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 41/H/1. 86 Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in: House of Lords Record Office, Lloyd George Papers C 8/1/4. 87 In: House of Lords Record Office, Lloyd George Papers C 24/2/9. Zu seinem Vermögen vgl. auch: Gilbert, Lloyd George (wie Anm. 68), 44. 88 Riddell Diary 1. 5. 1913, in: BL MS 62972. 89 Vgl. die Position der Zeitschrift Nation, in: Times 21. 6. 1913, 8.

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Parteivermögen bisher unbekannt und wurden zugleich als inakzeptabel deklariert. Besonders mysteriös wirkte die Parteienfinanzierung über MarconiAktien, weil Lord Murray, der 1912 schon aus der Politik ausgeschieden war, während der ganze Debatte geschäftlich in Südamerika blieb und deshalb im Select Committee keine Aussage machte.90 Bemerkenswert war, wie unterschiedlich die britischen Zeitungen auf die Vorwürfe reagierten. Daß die konservativen Zeitungen und Politiker nun Korruptionsanklagen erhoben, überraschte wenig. Auffälliger war, wie zurückhaltend die unionistisch-konservativen Zeitungen von Lord Northcliffe berichteten. Sowohl seine Daily Mail als auch die Times nahmen eine recht neutrale Position ein, für die sich alle beteiligten Minister bei Northcliffe in persönlichen, recht devoten Briefen bedankten, die ihre Ehrerbietung vor dem mächtigen Verleger zeigten.91 In seinen Antworten begründete Northcliffe seine Zurückhaltung generös damit, daß er die Aktienspekulationen für nichtig halte und angesichts der Lage in Deutschland wichtigere Probleme anstünden. „Moreover, I am neither a rabid party man nor an antiSemite“, betonte Northcliffe.92 Vor allem Churchill hatte Northcliffes Zurückhaltung mit Versprechungen darüber gefördert, daß es keine weiteren Enthüllungen gäbe und die Minister ihr Verhalten bedauerten.93 Zudem lud er den Zeitungsbaron auf eine U-Bootfahrt ein, um das Verhältnis zu verbessern.94 Ebenso auffällig war, wie kritiklos die liberale Presse Lloyd George und die Regierung in Schutz nahm. Die vormaligen Korruptionskritiker, wie die liberale Daily News und die radikale Reynolds’s Newspaper, zeigten sich nun völlig loyal gegenüber der liberalen Regierung.95 Damit erwies sich die britische Presse weniger als eine unabhängige vierte Gewalt, sondern vielmehr als ein symbiotisch mit der Politik verflochtener Teil der Öffentlichkeit. Die parteipolitischen Bindungen der Zeitungen nahmen eher zu, was die Verfolgung der Korruption abschwächte. Diese enge Zusammenarbeit zwischen Presse und Politik zeigte sich erneut im Vorfeld der entscheidenden Unterhausdebatte am 18./19. Juni 1913, 90

Die Ausgaben der Parteien waren zu dieser Zeit bereits recht beträchtlich. So gaben die Liberalen um 1910 etwa 100 000 Pfund für ihren Wahlkampf aus: Terence A. Jenkins, Parliament, Party, and Politics in Victorian Britain. Manchester 1996, 106. 91 Gedruckt sind diese Briefe zumindest in Auszügen in: Reginald Pound/Geoffrey Harmsworth, Northcliffe. London 1959, 442. 92 Northcliffe an Lloyd George 24. 3. 1913, in: House of Lords Record Office, Lloyd George Papers C 6/8/1 A. 93 Northcliffe an Churchill 8. 6. 1913, in: Churchill Archive Centre CHAR 2/62/39. 94 Churchill an Northcliffe 9. 4. 1913, in: Churchill Archives Centre CHAR 28/117; Northcliffe an Churchill 11. 4. 1913, in: Churchill Archives Centre CHAR 2/62/27. Northcliffe an Churchill (Abschrift) o.D. [nach März 1913], in: House of Lords Record Office, Lloyd George Papers C 3/15/20. 95 Zum guten Verhältnis von George Cadbury zu Lloyd George noch aus der Anti-Burenkriegskampagne her vgl. Koss, Fleet Street Radical (wie Anm. 23), 118.

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die den Bericht des Untersuchungsausschusses diskutierte und den Kulminationspunkt der Korruptionsaffäre bildete. Die Journalisten versorgten einerseits die ihnen nahestehenden Politiker mit Ratschlägen und Material.96 Andererseits nahm ihre ausführliche Vorberichterstattung zur Debatte bereits die wichtigsten Schlagabtausche der Unterhaussitzung vorweg und ergänzte sie um neue Korruptionsvorwürfe. So behauptete die konservative Morning Post, der vormalige Fraktionssprecher Lord Murray habe 20 000 Pfund Parteigelder in einer mexikanischen Ölfirma angelegt, die mit der Regierung Geschäfte mache.97 Der Spectator verbreitete das Gerücht, auch andere Minister und Angehörige des Untersuchungsausschusses besäßen Marconi-Aktien.98 Zudem warf er den Liberalen vor, bei Silberaufkäufen in Indien einer unerfahrenen Bank von Montagu den Vorzug gegeben zu haben, weil dessen Bruder Unterstaatssekretär im Kolonialministerium war. Die erneut antisemitische Stoßrichtung war dabei unverkennbar.99 Ebenso verlief die Abwehr der Vorwürfe über die liberale Presse, weniger über das Parlament. So sprachen die liberalen Zeitungen dem konservativen Eye-Witness die moralische Urteilsfähigkeit ab, weil dessen Financier Charles Granville gerichtlich der Bigamie überführt worden sei.100 Darüber hinaus brachte die Daily News Vorwürfe über das frühere Verhalten der Konservativen auf – etwa, daß Oppositionsführer Bonar Law als Secretary of Trade zugleich Bankdirektor war und es dabei zu viel engeren Überschneidungen zwischen privaten und öffentlichen Interessen gekommen sei.101 Diese recht scharfe Debatte in der Presse stand im Kontrast zum moderaten Ton im Parlament. Bereits vor der großen Debatte zeigte sich, daß im Unterhaus andere Verhaltensstrategien als angemessen galten. So verlangte Premierminister Asquith von Lloyd George und Rufus Isaacs mehrfach, sich defensiv zu verhalten und gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit Bedauern und Demut zu zeigen.102 Tatsächlich hielten sie sich daran.103 Auch 96 Strachey an Bonar Law 17. 6. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/5/31; Gwynne an Bonar Law o.D. [wohl 18. 6. 1913], ebd. 29/5/36; Scott an Lloyd George 7. 6. 1913, in: ebd. Lloyd George Papers C 8/1/4. 97 Morning Post 14. 6. 1913. Zur Debatte um die Mexican Oil Company vgl. auch Hansard’s Parliamentary Debates 16. 6. 1913. Vol. 54, Sp. 35; Searle, Corruption (wie Anm. 2), 212–217. 98 Spectator 14. 6. 1913, 1002f. 99 Vgl. zum Engagement von Journalisten im „Indian Silver Scandal“ etwa: Strachey an Bonar Law 4. 7. 1913, in: House of Lord’s Record Office, Bonar Law 29/6/6.; Hansard’s Parliamentary Debates ebd.; Searle, Corruption (wie Anm. 2), 201–211. 100 Daily News 18. 6. 1913, 2; vgl. zudem: Daily News 16. bis 18. 6. 1913, 1. 101 Daily News 21. 6. 1913, 5. 102 Zit. Lady Asquith an Lloyd George 13. 6. 1913, in: House of Lords Record Office, Lloyd George Papers C 6/12/2; Asquith an Lloyd George 16. 6. 1913, in: ebd. C 6/11/13; Kabinett 17. 6. 1913, in: NA CAB 41/34/21. 103 Vgl. die Reden der langen Debatte in: Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 44, Sp. 391–514, bes. Sp. 422 u. 448f. (18. 6. 1913) und Vol. 44, Sp. 542–670 (19. 6. 1913).

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der Premierminister selbst stellte Verhaltensregeln auf, die als Normen für Politiker gelten sollten. So forderte er etwa selbstkritisch im Unterhaus: „Ministers ought not enter into any transactions whereby their private pecuniary interest might, even conceivably, come into conflict with their public duties. […] Again, no minister is justified under any circumstances in using official information that has come to him as a Minister, for his own private profit or for his friends. […] Ministers should scrupulously avoid speculative investments in securities as to which, from their position and their special means of early and confidential information they have or they may have advantage over other people in anticipating market changes.“104

Damit forderte er die Einhaltung genau jener Normen, gegen die seine Minister gerade verstoßen hatten. Verglichen mit den Pressedebatten zuvor reagierten auch die Konservativen konziliant. So sprachen sie nicht direkt von Korruption, sondern von Verstößen gegen die Regeln des öffentlichen Lebens.105 Zugleich unterstrichen sie allerdings, daß über das Verhalten der Liberalen kein Konsens bestand und sie die Entschuldigung in dieser Form unzureichend fanden. Ebenso beharrten die Konservativen auf einem eigenen Minderheitenbericht des Untersuchungsausschusses. Die Unterschiede zwischen der medialen und der parlamentarischen Korruptionsdebatte lassen sich zunächst mit den seit langem eingeübten parlamentarischen Redekonventionen und der Vertrautheit der Elite untereinander erklären. Nicht nur ihre ähnliche akademische Ausbildung, sondern auch die informellen Begegnungen, etwa beim Golf, überbrückten selbst bei einem Radical wie Lloyd George die Fraktionsgrenzen. Zudem mußten die britischen Parteien mit Regierungswechseln leben, die bei jedem moralischen Vorwurf die Gefahr bargen, an die eigene Regierungszeit erinnert zu werden. Das galt gerade für Aktiengeschäfte von Ministern. Beides mag erklären, warum die Redner in der entscheidenden Parlamentsdebatte eher aus der zweiten Reihe kamen. Unklar blieb, inwieweit der Begriff „Korruption“ in diesem Fall überhaupt zutreffend war. Im Unterschied zu den großen Korruptionsskandalen auf dem Kontinent und in den USA ging es hier ja nicht um direkte Bestechung, sondern eher um Insiderwissen im Aktienhandel. Daß sich in Großbritannien ausgerechnet entlang von Aktienspekulationen ein Skandal entwickelte, war Ausdruck einer Wirtschaftsstruktur, die sich von Deutschland unterschied. Seit den 1850er Jahren hatte sich England zu einer „nation of shareholders“ entwickelt, bei der um 1900 etwa zwei Fünftel des nationalen Vermögens in Aktien investiert waren. Da ein beträchtlicher Teil der Ober- und Mittelklassen von deren Erträgen lebte, waren Spekulationen gängig und nötig. Sie kollidierten jedoch mit den zeitgenössischen Vorstellungen vom mo104

Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 44, Sp. 548–560 (18. 6. 1913); Daily News 20. 6. 1913, 2. 105 Hansard’s Parliamentary Debates. Vol. 44, Sp. 391 (18. 6 1913).

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ralischen Wirtschaften und der Verdammung des Glücksspieles. Dementsprechend war es um 1900 umstritten, in welchem Maße Aktienspekulationen als legitim galten.106 Im Marconi-Skandal wurde dies an einem prominenten Beispiel diskutiert, ohne daß es zu einer eindeutigen Lösung kam. Insgesamt setzte er zumindest die Norm, daß Politiker keine Aktienspekulationen mit Anteilen von Unternehmen machen dürften, die unmittelbar in Regierungsverträge eingebunden waren. Damit schrieb der Fall fest, wie sich ein Politiker gegenüber der Wirtschaft zu verhalten habe. Um dieses Bild des Politikers drehte sich auch die Rechtfertigung von Lloyd George, die er seiner Partei gegenüber im National Liberal Club gab: „In politics there is no cash. […] In politics, men go in, if you like, for fame. Men go in, if you like, for ambition. Men go in from a sense of duty (cheers). But for mere cupidity, never!“107 Gerade weil dieses Idealbild des Politikers gefährdet schien, mußte es beschworen werden. Zugleich festigte der Skandal bei den Konservativen die Vorstellung, daß gerade die wachsende Zahl von sozialen Aufsteigern im Parlament für die Zunahme der Korruption verantwortlich sei. Die Formulierung „you cannot corrupt a millionaire“ verdichtete diesen Streitpunkt, der den Exklusionscharakter gegen die „Neureichen“ wie Lloyd George unterstrich.108 In dieser konservativen Lesart sollte der ideale Politiker über ein Vermögen verfügen, das ihn angeblich von materiellen Verlockungen unabhängig mache. Die konkreten personellen Folgen des Skandals waren dagegen eher gering. Lloyd George war zwar stark angeschlagen und durchlebte eine seiner bisher schwersten politischen Krisen, konnte aber sein Amt behalten und bis zum Premierminister aufsteigen.109 Isaacs behielt ebenfalls sein Amt, erholte sich aber nicht wieder von den Vorwürfen. Versetzt wurde nur ein Mitarbeiter der Ministerialbürokratie, der wegen seiner Spekulation mit englischen Marconiaktien auf einen niederen Dienstrang abstieg.110 Die konservativen Journalisten, die die Vorwürfe maßgeblich aufgebracht und forciert hatten, ließen auch nach Verabschiedung der Untersuchungsberichte nicht locker. Sie erreichten jedoch keine breitere Aufmerksamkeit mehr. Journalisten wie Cecil Chesterton hielten an ihrem Antisemitismus

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Zu diesem Bias vgl. David C. Itzkowitz, Fair Enterprise or Extravagant Speculation. Investment, Speculation, and Gambling in Victorian England, in: Victorian Studies 45, 2002, 121–148. Grundsätzlich zu Aktienbesitz und Spekulationen: George Robb, White Collar Crime in Modern England. Financial Fraud and Business Morality, 1845–1929. Cambridge 1992, 3, 191. 107 Redetext National Liberal Club 1. 7. 1913, in: House of Lords Record Office, Lloyd George, LG C 36/1/9. 108 Daily News 18. 6. 1913, 1. 109 Von den zahlreichen Biographien über ihn vgl. bes. John Grigg, Lloyd George. 4 Vols. London 1973–2002. 110 So Samuel im Kabinett: 27. 11. 1912, in: TNA CAB 41/33/72.

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fest, blieben aber marginalisiert.111 Insbesondere der Ausbruch des Weltkrieges überdeckte die konservativen Kampagnen gegen den „Sale of Honours“. Langfristig zeigten sie dennoch Folgen. Kurz nach dem Krieg entfalteten sie ihre Wirkung in einem Skandal, der den Verkauf von Ehrungen durch die Liberalen aufdeckte und 1922 mit dem Sturz des nunmehrigen Premierministers Lloyd Georg endete. Die in der edwardianischen Zeit begonnene Kampagne hatte damit die Öffentlichkeit für eine Norm sensibilisiert, die nach dem Weltkrieg nicht mehr überschreitbar war. Mit dem Honours (Prevention of Abuses) Act von 1925 folgte hierauf auch die rechtliche Festlegung der in diesen Skandalen erkämpften Norm, die den „Verkauf“ der Titel und Ehrungen unter Strafe stellte.

V. Fazit Sowohl der historische Überblick als auch die Fallstudien zeigten, daß in Großbritannien frühzeitig und dauerhaft Korruptionsvorwürfe kursierten. Ihr thematischer Fokus veränderte sich mitunter stark. So bezog er sich auf unterschiedliche Normkonflikte wie das Wahlrecht, den Kolonialismus oder die Ausgrenzung sozialer Aufsteiger. Kennzeichnend für Großbritannien war, daß die britischen Regierungen immer wieder rasch und vergleichsweise umfassend auf die Vorwürfe reagierten. So kam es regelmäßig zu ausführlichen Untersuchungen, die durchaus auch kritische Ergebnisse gegen die eigene parlamentarische Mehrheitspartei erbrachten. Ebenso folgten den Fällen oft Entlassungen. Die Korruptionsdebatten führten zudem vielfach zu Gesetzesreformen und neuen normativen Anforderungen an gesellschaftliche Verhaltensweisen, die in Reinigungsritualen beschworen wurden. Die Verschärfung des parteipolitischen Wettbewerbes förderte um 1900 die Zunahme drastischer Korruptionsbeschuldigungen. Die Fallstudien zeigten jedoch, daß zwischen den Vorwürfen und den tatsächlichen korrupten Praktiken, soweit diese auszumachen sind, eine deutliche Differenz bestand. Das galt insbesondere für die Korruption in der politischen Führung. Statt einer Korruption im großen Stil lagen eher Begünstigungen vor, die persönliche Vorteile einbrachten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert scheinen korrupte Praktiken noch am stärksten in den Kolonien aufgetreten zu sein, wo erst durch Korruptionsskandale die Regeln der heimischen Verwaltung etabliert werden mußten. In der öffentlichen Debatte über die Korruption wurde in Großbritannien häufig auf den Steuerzahler oder den „einfachen Mann“ verwiesen, der die Kosten der Korruption zu tragen hätte. Viele Politiker und Zeitungen dürf111

Vgl. den Artikel The Jewish Problem Re-Considered, in: New-Witness 26. 6. 1913, 240f., ähnlich: New-Witness 3. 7. 1913, 264.

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ten dieses Argument in eher populistischer Absicht aufgebracht haben, um eine emotionale Betroffenheit auszulösen. Korruption wurde somit als Schädigung der Allgemeinheit und als Verstoß gegen Gleichheitsgrundsätze gesehen. Insofern hatte der Kampf gegen die Korruption von Beginn an durchaus eine demokratische Komponente, auch wenn dies nicht unbedingt eine Intention der Akteure war. Die frühe und oft überzogene Form der Anklage dürfte jedoch ebenso wie ihre umfassende Prüfung mit dazu beigetragen haben, daß in Großbritannien frühzeitig Korruption als gesellschaftliches Phänomen an Bedeutung verlor.

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Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert Von

Susanne Schattenberg „Die meisten der Beamten dienten nur wegen der Ehre oder um einen Klassenrang oder Orden zu erhalten, ohne sich wirklich mit den Akten zu beschäftigen oder in die Materie einzudringen, und sie unterschrieben alles, was zu ihnen aus den Kanzleien kam, […]. Der Vorsteher der Rekrutenabteilung Osip Kuzmič P. nahm für die Rekrutenstellung, für Hofteilungen und die Steuerpacht […] von jedem Bittsteller 200 Rubel und legte ihnen nahe, auch den Sachbearbeitern und dem Rat fünf bis zehn Rubel zu geben […]. Sein Geschäft florierte, er mietete eine luxuriöse Wohnung, kleidete sich entsprechend, hatte eine teure goldene Uhr, einen dicken Brillantring, und hielt sich Pferde, mit denen er jeden Tag zum Dienst fuhr.“1 So berichtet der Schreiber V. I. Gloriantov über die Praxis in der Kollegienkammer in Nižnij Novgorod in den 1840er Jahren – und das entspricht ungefähr dem zeitgenössischen Bild des russischen Staatsdieners. Der Jurist A. F. Koni bezeichnete die bestechlichen Beamten als „Schmutz“, den man fortwaschen müsse2, Zar Nikolaj I. (1825–1855) beklagte, er sei der einzige im Land, der kein Geld nehme, und ein Revisor meldete aus der Stadt Taganrog 1842: „Die hiesigen Ämter haben vergessen, daß auch hier der Zar herrscht und auch hier seine Macht besteht. Hier gibt es keine gesetzliche Ordnung, keine Persönlichkeitsrechte und überhaupt keine Gerechtigkeit mehr.“3 Selbst die Damenwelt blickte herablassend auf die als fračnik (Frackträger) gehänselten Rockträger: „Auf Bällen nahmen die Damen die Einladung zum Tanz [von einem Beamten] nur mit einer Grimasse an und hielten das für erniedrigend […]. Der Offizier tanzte besser: verwegener, unverkrampfter, stattlicher.“4 1 V. I. Gloriantov, Potomstvennye dvorjane kanceljarskogo proischoždenija, in: Russkij archiv 43, H. 4, 1905, 662–674, hier 667. 2 Anatolij Fedorovič Koni, Viktor Antonovič Arcimovič, in: Viktor Antonovič Arcimovič, Vospominanija – charakteristiki. S portretom V.A. Sankt Petersburg 1904, 3–12, hier 4. 3 Russisches Historisches Staatsarchiv (RGIA), Bestand 1341 (1. Departement des Regierenden Senats), Findbuch 51, Akte 370, Teil 1: O revizii gospodina Senatora Žemčužnikova, Blatt 87. 4 Valer’jan Ivanovič Safanovič, Vospominanija, in: Russkij archiv 41, H. 2, 1903, 145–200, hier 184.

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Diesem vernichtenden Urteil haben sich Historiker in Ost und West weitestgehend angeschlossen. So wie die russischen Eliten und Zaren ihr Land und seinen Zustand am Westen maßen, erhoben auch die meisten Historiker den westlichen Verwaltungsstaat zur Norm, der sie Rußland unterwarfen.5 Vor dem Hintergrund des Fortschrittsgedankens und der Modernisierungstheorie setzten sie ein Institutionen- und Normengerüst als gegeben voraus, dessen Existenz zunächst hätte geprüft werden müssen.6 Statt dessen wurden mit dem Aufkommen der Sozialgeschichte die Kriterien, die Max Weber für den Idealtypus des modernen Beamten aufgestellt hatte, als eine Art Qualitätstest verwendet, bei dem der russische Beamte kläglich versagte7: Er besaß keine Fachausbildung, verfügte über keine festgelegten Kompetenzen und war auch kein Mittler zwischen den Interessen des Staates und der Gesellschaft8; er berief sich nicht auf Vorschriften und Gesetze, war von seinem Vorgesetzten nicht unabhängig und erhielt kein existenzsicherndes Gehalt.9 5 Vgl. Frederick S. Starr, Decentralization and Self-Government in Russia, 1830–1870. Princeton 1972; Robert Jones, The Emancipation of the Russian Nobility 1762–1785. Princeton 1973; Stephen Velychenko, The Size of the Imperial Russian Bureaucracy and Army in Comparative Perspective, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 49, 2001, 346–362. 6 Vgl. Walter M. Pintner, The Social Characteristics of the Early 19th Century Russian Bureaucracy, in: Slavic Review 29, 1970, 429–443; Sergej Martinovič Troickij, Russkij absoljutizm i dvorjanstvo v XVIII v. Formirovanie bjurokratii. Moskau 1974; Dominic C. B. Lieven, The Russian Civil Service under Nicholas II: Some Variations on the Bureaucratic Theme, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 29, 1981, 365–403; Petr Andreevič Zajončkovskij, Pravitel’stvennyj apparat samoderžavnoj Rossii v XIX v. Moskau 1978; Marina Fedorovna Rumjanceva, Massovye istočniki po istorii činovničestva mestnych gosudarstvennych učreždenii Rossii 1762–1802. Avtoreferat dissertacii. Moskau 1985. 7 Max Weber, Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung der bürokratischen Herrschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. Tübingen 1976, 551–579; vgl. Boris Nikolaevič Mironov, Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII–načalo XX v). Vol. 2. Sankt Petersburg 1999, 162ff; Karl W. Ryavec, Russian Bureaucracy. Power and Pathology. Lanham/Boulder 2003, 5ff. 8 Vgl. Karl-Heinz Ruffmann, Russischer Adel als Sondertypus der europäischen Adelswelt, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 9, 1961, 161–178, hier 175; Ljubov’ Fedorovna Pisar’kova, Rossijskij činovnik na službe v konce XVIII–pervoj polovine XIX veka, T. 1, in: Čelovek 3, 1995, 121–139, hier 124; John A. Armstrong, Old-Regime Administrative Elites: Prelude to Modernization in France, Prussia, and Russia, in: International Review of Administrative Sciences 38, 1971, 21–40, hier 28; Walter M. Pintner, Civil Officialdom and the Nobility in the 1850s, in: ders./Don Karl Rowney (Eds.), Russian Officialdom: The Bureaucratization of Russian Society from the 17th to the 20th Century. Chapel Hill 1980, 227–249, hier 242, 245; Janet Hartley, Bribery and Justice in the Provinces in the Reign of Catherine II, in: Stephen Lovell et al. (Eds.), Bribery and Blat in Russia. Negotiating Reciprocity from the Middle Ages to the 1990s. London/New York 2000, 48–64. 9 Vgl. Ljubov’ Fedorovna Pisar’kova, Rossijskij činovnik na službe v konce XVIII – pervoj polovine XIX veka, T. 2, in: Čelovek 4, 1995, 47–158, hier 152; Starr, Decentralization (wie Anm. 5), 21; Leonid Efimovič Šepelev, Činovnyj mir Rossii XVIII–načalo XX v.

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Auch besaß er nicht die „im Interesse der Integrität hochentwickelte ständische Ehre“, „ohne welche die Gefahr furchtbarer Korruption und gemeinen Banausentums als Schicksal“ über dem jeweiligen Land schwebt.10 HansJoachim Torke beklagte in seinem Standardwerk über die russischen Beamten das Fehlen einer „bürgerlichen“ Ethik und bescheinigte den Beamten eine „Verlogenheit des Pflichtgefühls und Leere des Ehrbegriffs“.11 Der Kultursemiotiker Jurij Lotman erklärte die russischen Beamten schließlich zum hoffnungslosen Fall: „Die russische Bürokratie […] hinterließ fast keine Spur im geistigen Leben Rußlands: Sie schuf sich weder eine eigene Kultur, noch eine eigene Ethik, ja nicht einmal eine eigene Ideologie.“12 Spätestens hier zeigt sich, daß eine normative Korruptionsforschung in eine Sackgasse führt: Russische Geschichte wird ausschließlich als Defizitgeschichte geschrieben, als Abweichung von der Norm; es wird ausschließlich dargestellt, was es nicht gab und nicht funktionierte, anstatt die Phänomene wahrzunehmen und zu beschreiben, die es gab.

I. Die Funktion der Geschenkannahme in staatsfernen Gesellschaften Drei Ansätze sollen helfen, diese Phänomene positiv zu beschreiben und einen Perspektivwechsel zu vollziehen: 1) Der funktionale Ansatz: In der soziologischen Korruptionsforschung wird neben dem normativen und einem Rational-Choice- auch ein funktionaler Ansatz vertreten, der der Logik der Systemtheorie folgt und nach den positiven Funktionen der Annahme von Geschenken für die Etablierung von sozialen Systemen fragt.13 Er rückt die Frage ins Zentrum, was mit der Praxis der Geschenkannahme an Wertvorstellungen und sozialen Beziehungen zum Ausdruck kommt. Laut Eisenstadt gehen Menschen Verbindungen mit solchen Personen ein, die ihnen Zugang zu Ressourcen gewähren, welche ihnen selbst nicht zur Verfügung stehen. So entstehen Patron-Klienten-BeziehunSankt Petersburg 1999, 121; Konstantin Dmitrievič Anficerov, Vzjatočničestvo v istorii russkogo zakonodatel’stva (do perioda svodov), in: Žurnal graždanskogo i ugolovnogo prava 1884, Buch 2, 1–54, hier 37. Ausführlich siehe auch: Troickij, Russkij absoljutizm i dvorjanstvo (wie Anm. 6), Kap. IV.5: Rol’ denežnogo žalovanija, 253–267. 10 Weber, Bürokratische Herrschaft (wie Anm. 7), 831. 11 Hans-Joachim Torke, Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 13, 1967, 7–345, hier 247, 250. 12 Jurij Lotman, Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. Köln/ Weimar/Wien 1997, 25. 13 Vgl. Roland Sturm, Theoretische und methodische Ansätze der Korruptionsforschung, in: Oskar Kurer (Hrsg.), Korruption und Governance aus interdisziplinärer Sicht. Neustadt 2003, 53–64.

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gen: Sie verbinden langfristig zwei Individuen miteinander, die in der sozialen Hierarchie an verschiedener Position stehen, so daß beide Zugang zu unterschiedlichen Arten von Gütern erhalten, die in einer Art „package deal“ ausgetauscht werden: Der Patron verfügt über Zugang zu den Zentren der Gesellschaft und kann für Schutz und Sicherheit sorgen, der Klient investiert seine Arbeit und Loyalität. Grundlage dieser Beziehung ist also die Asymmetrie der Macht; typisch ist eine lange Dauer der Abhängigkeit.14 Das Individuum wird als Unternehmer betrachtet, das ständig in Transaktionen und Verhandlungen verwickelt ist.15 Das „korrupte“ Verhalten übernimmt dabei Systemfunktionen, die von anderen, zum Beispiel staatlichen Strukturen, nicht ausgefüllt werden. Das bedeutet, daß die Cliquenwirtschaft keineswegs ein Indiz für den Staatsverfall sein muß. Ganz im Gegenteil springt sie dort ein, wo der Staat keine adäquaten Strukturen ausgebildet hat, so daß „Korruption“ systemstabilisierend wirken kann.16 2) Die schenkende Gesellschaft: Weitere wichtige Hinweise über die Organisation von staatsfernen Gesellschaften und die Funktion des Tausches finden sich bei den Ethnologen, die die reziproke Tauschhandlung überhaupt erst als solche diagnostizierten und deren grundlegende Bedeutung für das Miteinander von Menschen beschrieben. Marcel Mauss hat in seinem berühmten Buch „Die Gabe“ den „Potlatsch“ – den reziproken Gabentausch – als Form des ursprünglichen Vertrages und „System der totalen Leistung“ beschrieben, in dem jede Darreichung unbedingt eine Gegengabe erfordert, auch wenn es formal so aussieht, als basiere sie auf Freiwilligkeit. Die Leistung umfaßt keineswegs allein materielle Dinge, sondern beinhaltet auch Ehrerweisungen, rituelle Gesten und Dienstleistungen.17 Die „Ernährung“, so die Übersetzung für „Potlatsch“, war das entscheidende Verbindungsglied zwischen den Menschen; sie bestimmte deren soziale Stellung, begründete Allianzen und schuf Rivalitäten. Dieser Gabenaustausch ist nach Marcel Mauss und Bronislaw Malinowski typisch für die „primitive Gesellschaft“, die nicht durch formale Strukturen, Verträge und Institutionen geregelt ist, sondern deren zwischenmenschliche Beziehungen durch die Überreichung und Annahme von Zuwendungen jeglicher Art immer wieder neu konstitu14 Shmuel N. Eisenstadt, Some Analytical Approaches to the Study of Patronage, in: Verena Burkolter, The Patronage System. (Social Strategies, 4.) Basel 1976, VII–XII, hier IX.; vgl. auch Christopher Clapham (Ed.), Private Patronage and Public Power. Political Clientelism in the Modern State. London 1982. 15 Vgl. Jeremy F. Boissevain, Friends of Friends. Networks, Manipulators, and Coalitions. Oxford 1974, 25. 16 Vgl. Neil J. Smelser, Stabilität, Instabilität und die Analyse der politischen Korruption, in: Christian Fleck/Helmut Kuzmics (Hrsg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens. Königstein 1985, 202–228, 205; vgl. auch Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure. New York 1968. 17 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1990, 20, 22.

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iert und ausgehandelt werden müssen.18 Hier ergeben sich erstaunliche Parallelen zur russischen Beamtenwelt, denn das Phänomen des Potlatsch ist im Russischen unter dem Begriff kormlenie (Ernährung) bekannt: Kormlenie war die Zuwendung, die dem Beamten für seine Dienste zustand.19 Das Amt galt ganz offiziell als „Nahrungsquelle“ für seinen Inhaber.20 Diese Vorstellung blieb auch nach den ohnehin halbherzigen Versuchen der Zaren, ein existenzsicherndes Beamtengehalt einzuführen, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet.21 Das Eingangszitat belegt, daß noch Mitte des 19. Jahrhunderts ungeschriebene Preislisten existierten, nach denen Antragsteller die verlangten Dienste bezahlten.22 3) Der patrimoniale Beamte: Der Versuch, die Geschenkannahme als reziproken Gabentausch zu beschreiben, der für die Herstellung von Patron-Klienten-Verhältnissen in staatsfernen Gesellschaften elementar ist, führt zu Max Weber zurück, allerdings nicht zur bürokratischen, sondern zur patriarchalen Herrschaft. Sie ruht nicht auf der „Dienstpflicht für einen sachlichen, unpersönlichen ‚Zweck‘ und der Obödienz gegenüber abstrakten Normen, sondern gerade umgekehrt: auf streng persönlichen Pietätsbeziehungen.“23 Das heißt keineswegs, daß die patrimoniale Herrschaft nicht auch auf Normen und deren Einhaltung fußt, nur werden diese bei der bürokratischen Herrschaft, so Weber, rational geschaffen, appellieren an den Sinn für abstrakte Legalität und ruhen auf technischer Einschulung, während sie bei der patriarchalen auf der Tradition ruhen: dem Glauben an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solchen.24 Bereits dieser erste Paragraph wirkt wie eine Offenbarung im Hinblick auf die russischen Beamten; denn dieses Phänomen, daß sich Beamte nicht an abstrakten Normen, sondern an ihrem „Herrn“ orientierten, daß sie nicht zwischen Belangen des Amtes und ihrer Privatwelt trennten, ist den Beamten immer wieder als Korrumpiert18 Vgl. Bronislaw Malinowski, Argonauts of the Western Pacific. New York 1921; vgl. zur Rolle des Geschenks auch: Paul Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. München 1994. 19 Vgl. auch David L. Ransel, Charakter and Style of Patron-Client Relations in Russia, in: Antoni Mączak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. München 1988, 211–231, 222; Vadim Volkov, Patrimonialism versus Rational Bureaucracy: On the Historical Relativity of Corruption, in: Lovell et al. (Eds.), Bribery and Blat (wie Anm. 8), 35–47, hier 42; Geoffrey Hosking, Patronage and the Russian State, in: The Slavonic and East European Review 78, 2000, 301–320, hier 307; Brian Davies, The Politics of Give and Take: Kormlenie as Service Remuneration and Generalised Exchange, 1488–1726, in: Anne M. Kleimola/Gail D. Lenhoff (Eds.), Culture and Identity in Muscovy, 1359– 1584. Moskau 1997, 39–67, hier 40. 20 Vgl. Anficerov, Vzjatočničestvo (wie Anm. 8), 19, 21, 23. 21 Vgl. Davies, Politics of Give and Take (wie Anm. 19), 41f. 22 Vgl. Gloriantov, Potomstvennye dvorjane (wie Anm. 1), 664. 23 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 7), 580–624, 580. 24 Ebd.

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heit vorgeworfen worden. Ausdruck der engen Bindung ist ursprünglich die Tischgemeinschaft von Beamten und Herrn, die eine sehr hohe symbolische Bedeutung gewinnt, so Weber weiter.25 Sie repräsentiert, daß die Stellung des Beamten „Ausfluß seines rein persönlichen Unterwerfungsverhältnisses unter den Herrn und seine Stellung zu den Untertanen nur dessen nach außen gewendete Seite“ ist.26 Der Beamte wird für die Dienste an seinem Herrn entlohnt, nicht für die Verwaltung der Untertanen. Hier findet sich bereits eine Erklärung dafür, warum Beamte Lohn und Auszeichnungen als Gegenleistung für Treue und Loyalität erwarteten: Ihr Verdienst bemaß sich nicht nach objektiven Regeln, nach Leistungen oder Erfahrung, sondern nach dem Grad der Aufopferung für den Dienstherrn. Die Amtstreue, so Weber, ist denn auch „nicht sachliche Diensttreue“, sondern sie ist „Dienertreue“. „Das Amt und die Ausübung der öffentlichen Gewalt geschieht für die Person des Herrn einerseits und des mit dem Amt begnadeten Beamten andererseits, nicht im Dienst ‚sachlicher‘ Aufgaben.“27 In dieser Erläuterung steckt der Schlüssel zum Verständnis für die von etlichen Beamten vorgebrachte Erklärung, sie hätten in den Dienststellen weder über die Gesetzestexte verfügt noch diese je gelesen.28 Der Umgang mit den Einwohnern ist nur peripher, während das Verhältnis zum Dienstherrn im Zentrum steht.29 Daher benötigt der Beamte auch keine Fachkenntnis; seine Verwaltung beruht auf Erfahrung und konkreten Fertigkeiten wie dem Schreiben30 – genau dieser Umstand aber, daß russische Beamte ohne Ausbildung und nur mit Schreibkenntnissen in den Dienst traten, hat bislang in der Forschung immer nur zu Unverständnis geführt.31 Zum patrimonialen System gehört schließlich auch, daß sich Herr und Beamter für jeden Fall ihres Tätigwerdens bezahlen lassen und dieser erhobene Tribut entweder von Fall zu Fall variiert oder aber nach typischen Taxen bemessen wird.32 Genau diesen Umstand haben wir bereits beschrieben.33 25

Ebd. 598. Ebd. 27 Ebd. 28 Vgl. Ivan A. Blinov, Otnošenie Senata k mestnym učreždenijam do reform 60x gg. Senatorskie revizii, in: Istorija pravitel’stvujuščego Senata za 200 let 1711−1911. Vol. 3. Sankt Petersburg 1911 (Reprint Cambridge 1973), 616–657, hier 646; Petr Andreevič Zajončkovskij, Vysšaja bjurokratija nakanune krymskoj vojny, in: Istorija SSSR 18, 1974, 154–164, 177. 29 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (wie Anm. 23), 604. 30 Ebd. 603. 31 Ruffmann, Russischer Adel als Sondertypus (wie Anm. 8), 175; Troickij, Russkij absoljutizm (wie Anm. 6), 270; Pisar’kova, Rossijskij činovnik (wie Anm. 9), T. 1, 124; Torke, Das russische Beamtentum (wie Anm. 11), 167; Mironov, Social’naja istorija (wie Anm. 7), 206. 32 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (wie Anm. 23), 597. 33 Vgl. auch Mironov, Social’naja istorija (wie Anm. 7), 164ff. 26

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II. Die verlorene Ehre der Beamten Wenn das Gebaren der Beamten also nicht mehr als korrupt abgeurteilt wird, sondern als sinnhaftes Sozialverhalten verstanden werden kann, das angesichts fehlender staatlicher Strukturen für die Etablierung von personalen Netzen zur Absicherung des eigenen sozialen Status notwendig war, dann muß auch erneut die Frage nach der Ehre der Beamten gestellt werden. Dazu lohnt es sich, nochmals das Eingangszitat zu betrachten, das stutzig machen sollte, denn hier ist von Ehre die Rede, die keineswegs im Widerspruch zu den dann aufgezählten Sünden steht; vielmehr scheint letztere aus ersterer zu folgen: „Die meisten dienten nur wegen der Ehre oder um einen Klassenrang oder Orden zu erhalten, ohne sich wirklich mit den Akten zu beschäftigen oder in die Materie einzudringen.“ Zu vermuten wäre, daß so, wie Weber zwischen „Diensttreue“ des bürokratischen und „Dienertreue“ des patrimonialen Beamten unterscheidet, es auch hier verschiedene Spielarten der Ehre gibt. Allerdings zieht Weber selbst die Existenz einer solchen „Dienerehre“ nicht in Betracht. Er kennt nur eine allgemeingültige Beamtenehre, die er den russischen Staatsdienern abspricht: „Die eigene soziale Ehre und die Beziehung zum Herrn fielen entweder innerlich ganz auseinander […]; oder aber sie waren eine nur an äußerliches Geltungsbedürfnis appellierende ‚Karriere‘chance, so beim Hofadel, dem Tschin […].“34 Dort, wo das Streben nach Klassenrängen herrschte, blieb kein Platz für Ehre, meint Weber. 35 Während dem Westen selbstredend und hier in erster Linie den Ständen und Zünften Ehre zugeschrieben wurde, war es für Historiker keine Selbstverständlichkeit, auch in Rußland Ehre am Werke zu sehen.36 Dort, wo die Mongolen gehaust hatten und der „Tschin“ herrschte, wo es weder eine Ständegesellschaft noch ein Zunftrecht gab, mußte die Existenz von Ehre für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erst in vielen Studien nachgewiesen werden.37 Im Westen fungierte Ehre dagegen wie Patronage als ein epochenscheidendes Strukturmerkmal. So, wie die Patron-Klientel-Systeme als Charakte34

Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (wie Anm. 23), 623. Ebd. 36 Vgl. Horace W. Dewey, Old Muscovite Concepts of Injured Honor (besčestie), in: Slavic Review 27, 1968, 594–603. 37 Vgl. Nancy Shields Kollmann, Was There Honor in Kiev Rus’?, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 36, 1988, 481–492; dies., By Honor Bound. State and Society in Early Modern Russia. Ithaca/London 1999; Arlette Jouanna, Recherches sur la notion d’honneur au XVIe siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 15, 1968, 597– 623; Serge L. Levitsky, Protection of Individual Honour and Dignity in Pre-Petrine Russian Law, in: Revue d’histoire du droit/Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 40, 1972, 341– 436; André Bérélowitch, Plaidoyer pour la noblesse moscovite. À propos des affaires d’honneur au XVIIe siècle, in: Cahiers du monde Russe et Soviétique 34, 1993, 119–138; Claudia Garnier, Rituale der Ehre. Die Inszenierung der Herrschaft im spätmittelalterlichen Moskauer Adel, in: Zeitenblicke 4, 2005, 2. 35

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ristikum der Frühen Neuzeit beziehungsweise als Unterkonstruktion des vormodernen Staates gelten, so wird Ehre als Leitmotiv der Monarchie, genauer gesagt: der feudalen Monarchie beschrieben.38 Die Vorstellung, die aristokratische Gesellschaft werde in erster Linie von der Standesehre strukturiert und zusammengehalten, während die Bürgergesellschaft ihre Rechte und Pflichten an Staat und Allgemeinwohl ausrichte, vertraten Montesquieu, Elias und Weber und galt lange Zeit als Konsens.39 Der Gedanke, daß Ehre weder eine entwicklungsgeschichtliche, temporäre Erscheinung ist, noch sich adäquat über ihren normativen Gehalt beschreiben läßt, findet dagegen seit Beginn der 1990er Jahre in der deutschen Geschichtswissenschaft eine immer größere Anhängerschaft.40 Die Theorie dafür stellt Georg Simmel zur Verfügung. Zwar begreift er wie Weber Ehre als Standesehre, versteht Stände aber nicht grundsätzlich als Gesellschaftsformen, sondern als „zweckmäßige Lebensform kleinerer Kreise, welche in einem größeren befaßt sind, und durch die Forderung an ihre Mitglieder, die ihr Ehrbegriff deckt, ihre innere Kohäsion, ihren einheitlichen Charakter und ihren Abschluß gegen die andern Kreise eben desselben größeren Verbandes wahren“.41 Ehre ist für Simmel kein sozialer Mechanismus, der historisch gesehen dem Recht vorausgeht oder alternativ zu ihm besteht. Vielmehr beschreibt er drei Elemente, auf denen das gesellschaftliche Zusammenleben beruht, die sich gegenseitig ergänzen und in einer symbiotischen Beziehung zueinander stehen: 1) Sittlichkeit ist die innere moralische Kraft, die das Individuum leitet, 2) das Recht ist die äußere Kraft, die es bindet, 3) zwischen ihnen steht die Ehre, die zur sozialen Selbsterhaltung dem Individuum Gebote auferlegt. Das Recht erwirkt „äußere Zwecke durch äußere Mittel, die Sittlichkeit in38

Vgl. Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Stuttgart 2002, 427. 39 Charles Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. Ditzingen 1994; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. 13. Aufl. Frankfurt am Main 1988; ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992; Max Weber, Strukturformen und Funktionsweisen der Herrschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 7), 541–550, hier 543f. 40 Vgl. Martin Dinges, Ehrenhändel als „Kommunikative Gattungen“. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75, 1993, 359–393, hier 363, 389; ders., Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptionalisierung, in: Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1995, 29–62, hier 58; dies., Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, 16; Sibylle Backmann/Hans-Jörg Künast (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998; Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hrsg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt am Main 1994. 41 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main 1992, 600.

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nere Zwecke durch innere Mittel, die Ehre äußere Zwecke durch innere Mittel“.42 Die Ehre hat also ihren festen Platz im gesellschaftlichen Miteinander zwischen Moral und Recht und reguliert beziehungsweise sanktioniert das „Verhalten ihrer Mitglieder auf denjenigen praktischen Gebieten, die das Recht nicht ergreifen kann und für die nur die gewissensmäßigen Garantien der Moral zu unzuverlässig sind“.43 Diese drei Prinzipien Moral-Ehre-Recht sind keineswegs drei Waffen zur Verteidigung ein und derselben Normen. Simmel geht davon aus, daß die Logik der „Kleingruppe“ durchaus eine andere als die des Individuums oder die des großen Verbandes sein kann, so daß Ehre durchaus manchmal Verhaltensweisen fordert, die sowohl vom Recht (der Selbsterhaltungsform des großen Kreises) als auch von der Moral (der inneren Selbsterhaltung des Individuums) verboten sind. Als krassestes Beispiel für ein Ehrverhalten, das im Gegensatz zu Recht und Moral steht, nennt er das Duell.44 Für die russischen Provinzbeamten im frühen 19. Jahrhundert ist diese Divergenz ein interessanter Gedanke, gerade wenn man davon ausgeht, daß das abstrakte Staatsrecht vielen gar nicht bekannt war und den Beamten daher nicht einmal immer bewußt war, daß ihr Ehrverständnis gegen die Selbsterhaltungsnorm des großen Kreises verstieß. Es muß also festgehalten werden, daß Ehre überhaupt nicht im Einklang mit „dem Recht“ stehen muß und keineswegs ein von diesem abgeleiteter Algorithmus ist. Noch eine weitere wichtige Beobachtung macht Simmel: Da Ehre immer auf eine Gruppe bezogen ist, deren innere Kohäsion und einheitlichen Charakter sie wahrt, ist sie keineswegs universal, sondern kann für verschiedene Gruppen sehr unterschiedlich ausfallen. Was für den einen Kreis als ehrenhaft gilt, kann für den anderen zutiefst unehrenhaft oder ehrverletzend sein. Für Simmel liegt es also durchaus im Wesen einer Gesellschaft begründet, daß es widersprüchliche und konkurrierende Ehrvorstellungen gibt.45 Das sollte berücksichtigt werden, wenn die russischen Beamten und ihre zeitgenössischen Kritiker untersucht werden: Es lag in der Natur der Sache, daß sie ihre Ehre auf unterschiedlichen Normen und Werten aufbauten und sich gegenseitig Ehre absprachen. Aber daraus zu schlußfolgern, die Vorreformbeamten hätten tatsächlich kein Ehrgefühl gehabt, wie es die aufgeklärten Bürokraten behaupteten, hieße, letzteren auf den Leim zu gehen beziehungsweise den Inhalt der Ehre mit ihrem Funktionsmechanismus zu verwechseln. Die Ansicht, daß Ehre zunächst nur eine spezifische standardisierte Verhaltensnorm und -erwartung ist, die mit beliebigem Inhalt gefüllt werden kann, um einen Kreis gegen einen anderen abzuschließen, vertritt auch Ni42 43 44 45

Ebd. 599. Ebd. 599f. Ebd. 601. Ebd. 600f.

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klas Luhmann.46 Auch für ihn ist Ehre der Verhaltenskodex einer Gruppe, der Handeln konsistent anstatt von Gelegenheiten abhängig macht.47 Ehre ist also ein Abgrenzungsmechanismus gegenüber anderen Gruppen48; sie beinhaltet damit sowohl einen Handlungsimperativ als auch eine Aussage über den eigenen sozialen Status. Und dieser Handlungsimperativ, um dies gleich anzufügen, besagt nicht automatisch, daß man keine Gaben annehmen darf und persönlichen Interessen einem abstrakten Staatswohl unterzuordnen sind. Ganz im Gegenteil, so Marcel Mauss, verlangt Ehre im Potlatschsystem die Erfüllung der Pflicht, nämlich die Einhaltung des „Vertrags“. Der „point d’honneur“ wird durch Leistungen in Form von Gastmählern, Privilegien, Ritualen und Geschenken erfüllt.49 Genau diese Form der Ehre sieht auch Pierre Bourdieu am Werke, wenn in der kabylischen Gesellschaft ein Geschenk gemacht wird.50 Drei Grundregeln erkennt Bourdieu: 1) Die Herausforderung, sei es durch ein Geschenk oder durch eine Beleidigung, gereicht dem Geforderten zur Ehre, weil ihm damit seine Satisfaktionsfähigkeit bescheinigt wird. 2) Wer jemanden fordert oder beschenkt, der dies nicht erwidern kann, erniedrigt sich selbst. 3) Der Geforderte oder Beschenkte nimmt nur an, wenn er seinen Herausforderer als würdig erachtet.51 Bourdieu spricht von Spielregeln, die allen bekannt sind, ohne daß sie unbedingt allen bewußt wären. Gleich einer Grammatik benutzt sie jedes Mitglied einer Gemeinschaft selbstverständlich und intuitiv, ohne sie erklären zu können.52 Was Mauss und Bourdieu hier formulieren, ist entscheidend für die russischen Beamten, die als Klienten ihre Ehre danach bemaßen, in welcher Form und in welcher Art und Weise ihre Patrone ihnen Gaben zukommen ließen. Fassen wir zusammen: Ehre soll hier nicht als normativ und über einen bestimmten, universal gültigen Inhalt definiert werden. Sie ist ein Code, der das Verhalten einer Gruppe reguliert und konsistent macht und damit einen Handlungsimperativ und Abgrenzungsmechanismus darstellt. Ehre sorgt nicht nur dafür, daß sich eine Gruppe nach außen gegen andere Kreise abschotten kann; sie spielt gerade in der Interaktion mit Dritten, seien es Höhergestellte oder Niederrangige, eine entscheidende Rolle und trägt hier zur Distinktion der verschiedenen Gruppen bei. Der Gabentausch ist ohne Ehre 46

Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt am Main 1999, 335. 47 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Halbbd. 2. Frankfurt am Main 1998, 736. 48 Ebd. 943. 49 Mauss, Die Gabe (wie Anm. 17), 88f. 50 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1976, 21f. 51 Ebd. 16. 52 Ebd. 43.

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überhaupt nicht zu verstehen, denn sie ist das symbolische Kapital53, über das beim Geben verhandelt wird. Ehre wird hier nicht als Strukturmerkmal der Vormoderne verstanden, sondern als anthropologische Konstante, die unabhängig von den Epochen menschliches Handeln leitet, deren Inhalt aber kulturell bedingt ist und sich von den Normen und Werten einer spezifischen Gruppe ableitet.

III. Die Patron-Klienten Beziehung Die russische Verwaltung war im 19. Jahrhundert in Patron-Klienten-Beziehungen organisiert.54 Mangels fester Strukturen, klarer Karrieremuster und leistungsbezogener Beförderung wurden alle Angelegenheiten des Dienstes über persönliche Beziehungen geregelt. Ohne einen mächtigen Beschützer wurde ein Beamter weder eingestellt noch befördert. Mehr noch: das Amt funktionierte nach Maßgabe dieser einen Person. Mit Weber gesprochen hatten die Beamten einen Herrn, dem sie ihre Dienertreue beweisen mußten, um im Austausch Beförderungen und Klassenränge zu erhalten. In einem fiktiven Brief eines „erfahrenen Beamten aus den vierziger Jahren“ an seinen jungen Kollegen, einen Neueinsteiger, hatte der Justizreformer und Autodidakt S. I. Zarudnyj diese Abhängigkeit parodiert: „Verlassen Sie sich weniger auf ihre Fähigkeiten als auf die Protektion. Sie sind ein Genie, Sie sind zu allem fähig, Sie werden bald vorankommen, aber wenn Sie keine Protektion haben, dann sind Sie ein vollkommener Idiot, dann taugen Sie zu nichts, dann wissen Sie nichts, dann gewinnen Sie nirgends beim Dienst.“55 Was Ende des 19. Jahrhunderts eine Satire gewesen sein mag, stellte für die Be53

Ebd. 46. Vgl. auch Lovell, Bribery and Blat (wie Anm. 8); Anne M. Kleimola, Pattern of Duma Recruitment 1505–1550, in: Daniel C. Waugh (Ed.), Essay in Honor of Aleksandr Aleksandrovič Zimin. Berkeley 1985, 232–258; Robert O. Crummey, Aristocrats and Servitors. The Boyar Elite in Russia 1613–1689. Princeton 1983; David L. Ransel, The Politics of Catherinian Russia: The Panin Party. New Haven 1975; Hosking, Patronage and the Russian State (wie Anm. 19); Daniel T. Orlovsky, Political Clientelism in Russia: the Historical Perspective, in: Thomas H. Rigby/Bahdan Harasymiw (Eds.), Leadership Selection and Patron-Client Relations in the USSR and Yugoslavia. London/Boston/Sydney 1983, 174–199; Gottfried Schramm, Klientelsysteme an der Peripherie Europas: Schottland, Polen, Rußland, in: Mączak (Hrsg.), Klientelsysteme (wie Anm. 19), 153–158; Hans-Heinrich Nolte, Patronage und Klientel im frühneuzeitlichen Rußland: Ein Orientierungsversuch, in: ders. (Hrsg.), Patronage und Klientel. Ergebnisse einer polnischdeutschen Konferenz. Köln/Wien 1989, 68–82. 55 Pis’mo opytnogo činovnika sorokovych godov mladšemu sobratu, stupajuščemu na službu, in: Russkaja starina 30, H. 12, 1899, 543−546, 544. Abdruck des Textes in Ivan Matveevič Kataev (Ed.), Doreformennaja bjurokratija po zapiskam, memuaram i literature. Sankt Petersburg 1914, 160–162, und bei Torke, Das russische Beamtentum (wie Anm. 11), 309–311. 54

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amten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Lebensweisheit dar. „Mir war schon so viel klar, daß ich die Unabdingbarkeit begriff, meinen Eifer den nächsten Vorgesetzten zu beweisen und mich bei den älteren Vorstehern präsent zu halten“, schrieb der Beamte Grigorij Ivanovič Meškov (1810–1873) aus Pensa in seinen Memoiren. „Ich tat das, indem ich so viel arbeitete, wie nur möglich war, immer auf dem Amt war, auch am Morgen und nach dem Mittagessen, während sich einige meiner Kollegen erlaubten, mal morgens, mal abends nicht zu erscheinen.“56 Er erwies den älteren Kollegen seine Ehrerbietung und gratulierte zu jedem der zahlreichen russischen Feiertage: „Heute gibt es das nicht mehr und erscheint lächerlich, aber damals hatte man ein anderes Verständnis davon: Die Jungen fanden es überhaupt nicht peinlich, wie es heute der Fall ist, den Älteren ihre Verehrung zu erweisen [...].“57 Das war Teil der Austauschbeziehungen: Er hofierte, gratulierte und salutierte und bekam im Austausch dafür Anstellung, Beförderung und Meriten. Schon die Einstellung funktionierte nur über Protektion. Meškov fand seinen ersten Förderer in dem Gouverneur von Pensa F. P. Lubjanovskij (1777–1869; 1819–1831), der ihn 1825 in seinen Dienst nahm. Um bei seinem Patron an erster Stelle zu rangieren, tat Meškov alles, „um die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten auf mich zu lenken“.58 Er war der einzige unter seinen Kollegen, der den Uniformzwang ernst nahm und immer seine Dienstkleidung trug. Nach nur wenigen Wochen im Amt bat er seinen Tischvorsteher, ihm doch auch Referate zur Vorbereitung zu geben. Nach kaum einem halben Jahr zeigte sein Tun Wirkung, denn Lubjanovskij holte ihn in seine Privatkanzlei.59 Aber Meškov legte es darauf an, sich noch enger an seinen Patron zu binden. Er hatte eine schöne, klare Handschrift, schrieb ungewöhnlich schnell und bat darum, auch Originalpapiere bearbeiten zu dürfen. Die Nachtbereitschaft leistete er als einziger, während seine Kollegen diese Pflicht vernachlässigten. Der Gouverneur honorierte Meškovs Dienste, indem er ihn schon bald regelmäßig zu Mittag bat. Dies ist ein weiteres Indiz für Webers patrimonialen Beamten, der mit seinem Herrn eine Tischgemeinschaft bildet. Anläßlich der Revision empfahl Lubjanovskij dem Minister Meškov als einzigen Beamten, der zu berechtigten Hoffnungen Anlaß gebe.60 Noch deutlicher tritt die Rolle des Patrons bei dem Sankt Petersburger Finanzbeamten Petr Ivanovič Golub’ev (1797–1896) hervor, der als Halbwaise dank seines Schirmherrn schon im Kindesalter eine Stelle bekam, von der er freilich beurlaubt war, aber auf der er dennoch regelmäßig beför56

Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek Sankt Petersburg (RNB), Bestand 550, Akte F IV.587: Grigorij Ivanovič Meškov, Moi vospominanija, 1810–1873, napisannye v Penze 1870, Blatt 109ff. 57 Meškov, Vospominanija (wie Anm. 56), 54. 58 Ebd. 67. 59 Ebd. 56. 60 Ebd. 67, 69, 156.

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dert wurde.61 Als sein Förderer 1811 starb, dauerte es sechs Jahre, bis er sich als Klient eines neuen Patrons etablieren konnte, der ihm zu einer steilen Karriere verhalf, bis auch der verstarb: „In Rozenberg verlor ich meinen zweiten Vater, aber Gott war so gnädig, mir einen zweiten Förderer zu schicken.“62 Dieses Bekenntnis Golub’evs macht deutlich, wie groß die Abhängigkeit bzw. Symbiose zwischen Patron und Klient war. Die Furcht, plötzlich schutzlos ohne „Vater“ dazustehen, war weitverbreitet und nicht unbegründet. Das Buhlen um einen Beschützer und die daraus entstehende persönliche Abhängigkeit hatte die Kehrseite, daß ohne eine persönliche Empfehlung keine Stelle gefunden werden konnte und beim Wechsel der Vorgesetzten die eigene Stelle gefährdet war. Erschwerend kam hinzu, daß durch die Zentralstruktur alle höheren Positionen für Beamten nur in Sankt Petersburg vergeben wurden, so daß die Staatsdiener gezwungen waren, die kosten- und zeitintensive Reise auf sich zu nehmen, um in der Hauptstadt vorstellig zu werden und mit der Empfehlung eines anerkannten Patrons um einen Posten zu bitten.63 Dabei konnte es ebenso fatal sein, den „falschen“ Patron zu haben wie gar keinen Bürgen nennen zu können. Diese Erfahrung machte der spätere Gouverneur von Saratow A. M. Fadeev (1789–1867; 1841–1845) im Jahre 1814. Vier Monate antichambrierte er in Sankt Petersburg und hoffte auf die Empfehlung seines Verwandten N. I. Saltykov, dem Vorsitzenden des Staatsrats, bis ihm dessen Sohn anvertraute, daß die Minister eher einen Nichtsnutz als einen Schützling seines Vaters einstellen würden. Fadeev mußte sich einen neuen Patron suchen, mit dessen Namen er für sich werben konnte, und hatte schließlich Glück: Der Polizeiminister Vjazmitinov kannte die Großmutter seiner Frau und bot ihm deshalb einen Posten in der Gouvernementsverwaltung von Nižnij Novgorod an.64 Ein Patron war eine Lebensversicherung, sein Verlust eine existenzgefährdende Situation. Daher geriet Meškov in Panik, als der Gouverneur im Februar 1831 abberufen wurde. Da es üblich war, daß die neuen Gouvernementsleiter Teile ihrer eigenen Kanzlei mitbrachten und die Beamten vor Ort durch eigene Vertraute ersetzten, wollte Meškov unbedingt vorher die Stelle wechseln. Der Gouverneur hatte ab Antritt zwei Wochen Zeit, um an das Innenministerium zu melden, mit wem er nicht zusammenarbeiten wollte; danach war er für die Rechtschaffenheit seiner Beamten verantwortlich.65 Das zeigt, daß die Clanwirtschaft sogar aus dem Zentrum unterstützt wurde. 61 Petr Ivanovič Golub’ev, Zapiski peterburgskogo činovnika starogo vremeni. Činovnyj byt (1797–1869), in: Russkij archiv 34, H. 3, 1896, 402–432, 412. 62 Golub’ev, Zapiski [Fortsetzung 2], in: Russkij archiv 34, H. 5, 1896, 47−109, 51. 63 Vgl. auch Iosif Afans’evič Turalevskij, Vospominanija. Sankt Petersburg 1834, 75. 64 Andrej Michajlovič Fadeev, Vospominanija, in: Russkij archiv 29, H. 2, 1891, 289−329, 299ff. 65 Vgl. Richard G. Robbins Jr., The Tsar’s Viceroys. Russian Provincial Governors in the Last Years of the Empire. Ithaca/London 1987, 94.

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Es wird deutlich, daß auch die Regierung in Petersburg davon ausging, daß die Beamten sich mehr ihrem Patron als einer abstrakten Aufgabe verpflichtet fühlten. Der (patrimoniale) Beamte leistete Dienst am Herrn und diente nicht einer abstrakten Aufgabe. Der Staat verwies damit einen Teil der Verantwortung für das Gebaren der Beamten an die Gouverneure. Die persönliche Bindung zwischen Gouverneur und Beamten war daher nicht nur ein Relikt aus früheren Zeiten, sondern Mitte des 19. Jahrhunderts eine Säule der Verwaltung. Also bemühte sich Meškov fieberhaft um eine Versetzung, bis bekannt wurde, daß Staatsrat A. A. Pančulidzev (1790−1867; 1831–1859) zum neuen Gouverneur von Pensa ernannt worden war. Dessen Vater hatte bereits als Gönner seines Vaters fungiert, während er selbst mit der Nichte des Mannes von Meškovs Patentante verheiratet war.66 Meškov war erleichtert: Er wurde engster Vertrauter und Mitarbeiter des Gouverneurs, der ihn nicht nur zu Mittag und zu seinen Hausbällen einlud, sondern der ihm auch sämtliche Geheimpapiere, etliche Ausschüsse und Sonderkomitees überantwortete.67 Hier findet sich nicht nur die von Weber postulierte Tischgemeinschaft wieder. In dieser Verflechtung von Familien- und Dienstangelegenheiten wird auch deutlich, daß es keine etablierte Trennung zwischen öffentlich und privat gab. Der „Dienst am Herrn“ kannte keinen festen Ort oder feste Zeiten, sondern verlangte ständigen Einsatz. Für den privilegierten Beamten, der es geschafft hatte, sich zum unverzichtbaren „Lieblingsbeamten“ hochzudienen, war es Recht und Pflicht zugleich, sich auch privat für den Gönner zur Verfügung zu halten.68 Diese Symbiose konnte auch nicht durch eine einfache Kündigung aufgehoben werden. Der Gouverneur betrachtete Meškov als seine rechte Hand, auf die er nicht mehr verzichten wollte. Als sich Meškov 1833 um eine Versetzung nach Sankt Petersburg bemühte, verweigerte der Gouverneur seine Zustimmung, so daß Meškov bleiben mußte.69 Meškov blieb nichts anderes übrig, als bis zum Rücktritt Pančulidzevs ein Vierteljahrhundert lang dessen Diener zu bleiben.

IV. Die Ehrliebe der Beamten Wie überall im neuzeitlichen Europa machte auch in Rußland der Staat Anstalten, die Patronagesysteme, die seine Alleinherrschaft in Frage stellten, auszuschalten und die gewachsenen Strukturen bis in die letzten Verästelungen zu durchdringen. In Rußland trat vor allem Zar Peter I. mit seinem Kampf gegen das Mestničestvo – die Rangplatzordnung hervor, die jeder Familie ihren ange66 67 68 69

Meškov, Vospominanija (wie Anm. 56), 58. Ebd. 17, 60. Vgl. Robbins, The Tsar’s Viceroys (wie Anm. 65), 97. Meškov, Vospominanija (wie Anm. 56), 101f.

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stammten Platz in der Diensthierarchie sicherte und sie vor der Willkür des Zaren bewahrte. Hier war schriftlich festgehalten, wer wann unter wem gedient hatte. Diese fixierte Ordnung sicherte den Familien, daß kein Mitglied einen rangniederen Posten bekleiden mußte, als es historisch seine Vorfahren getan hatten.70 Die Einführung der 14-gliedrigen Rangtabelle im Jahre 1722 war ein Angriff auf diese Clanstruktur; mit ihr schuf Peter I. ein Ordnungsinstrument, das den Adel in eine personenunabhängige Hierarchie zwingen und die Clans ihres Definitionsmonopols über den sozialen Status berauben sollte. Er übertrug die bereits bestehenden Militärränge auf die zivile Dienstwelt, um damit klare, gesetzlich geregelte Strukturen zu schaffen und so die alten zu entmachten.71 Dies war ein ähnlicher Schritt wie er in Frankreich und England im 16. bzw. 17. Jahrhundert zu beobachten war, als der Hof es unternahm, die Lokalverwaltungen ans Zentrum zu binden und von hier aus zu kontrollieren.72 Doch in Rußland mißlang dieses Vorgehen, da die neue Rangtabelle vom alten personalen System absorbiert und zweckentfremdet wurde. Die Rangtabelle73 Zivilränge

Militärränge

1. Staatskanzler / Tatsächlicher Geheimrat 1. Klasse 2. Tatsächlicher Geheimrat 2. Klasse 3. Geheimrat 4. Tatsächlicher Staatsrat Ò 5. Staatsrat erblicher Adel

General Generalleutnant Generalmajor –

6. Kollegienrat 7. Hofrat 8. Kollegienassessor

Oberst Oberstleutnant Major

Ò persönlicher Adel

9. Titularrat 10. Kollegiensekretär 11. – 12. Gouvernementssekretär 13. Provinzialsekretär 14. Kollegienregistrator ranglos: Kanzlisten, Schreiber, Kopisten

Generalfeldmarschall

Hauptmann der Infanterie / Rittmeister der Kavallerie Stabshauptmann / Stabsrittmeister – Oberleutnant Leutnant Fähnrich

70 Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Patronage und Klientel im frühneuzeitlichen Rußland: ein Orientierungsversuch, in: ders. (Hrsg.), Patronage und Klientel (wie Anm. 54), 68−82, hier 77; Marc Raeff, The Well-Ordered Police State: Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600–1800. New Haven 1983. 71 Vgl. Torke, Das russische Beamtentum (wie Anm. 11), 103; Manfred Hildermeier, Der russische Adel von 1700–1917, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750– 1950. Göttingen 1990, 166–216. 72 Vgl. Linda Levy Peck, Court Patronage and Corruption in Early Stuart England. Boston 1990, 3; dies., „For a King not to be bountiful were a fault.“ Perspectives on Court

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Hierarchie der Orden74 St. Georgij 1. St. Andrej Pervozvannyj (mit u. ohne Diamanten) 2. 3. 4. St. Aleksandr Nevskij (mit u. ohne Diamanten) 5. Weißer Adler 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

4. Klasse

St. Vladimir St. Anna

St. Stanislav

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

4. Klasse

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Die eingeführten Ränge sorgten nicht für eine Neutralisierung der persönlichen Netze, sondern für deren Stabilisierung. Die alten Patronage- und Klientelsysteme funktionierten nun noch besser als zuvor, denn der Patron hatte mit der Rangbeförderung (činoproizvodstvo) ein neues Mittel bekommen, mit dem er seine Klienten an sich binden konnte. Allenfalls wurde die Quelle der Macht verlagert: War es vorher allein der Familienname, der einer Person Macht und Einfluß sicherte, war es nun das Amt, das ihn dazu befähigte, Ansehen und Prestige im Form von Rängen zu verteilen. Dies ist, was Daniel Orlovsky „institutionellen Klientelismus“ nennt: Die Institution, das Amt, wurde zur Keimzelle der Patron-Klienten-Beziehung.75 Das Amt stattete den Patron mit den Ressourcen aus, die ihn für Klienten attraktiv machten. Die Klassenränge bedeuteten für die Beamten sozialen Aufstieg, Wohlstand Patronage in Early Stuart England, in: Journal of British Studies 21, 1986, 31–61; Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur einer französischen Renaissance. München 2002; Sharon Kettering, Patrons, Brokers, and Clients in 17th-Century France. New York/Oxford 1986, 5; dies., Gift-Giving and Patronage in Early Modern France, in: French History 2, 1988, 131–151. 73 Nach Torke, Das russische Beamtentum (wie Anm. 11), 55; und V. V. Amelina, Gosudarstvennaja služba v Rossijskoj imperii (pervaja polovina XIX veka). Novosibirsk 1995, 1. 74 Nach Šepelev, Činovnyj mir (wie Anm. 9), 346. 75 Orlovsky, Political Clientelism (wie Anm. 54), 177, 179.

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und Sicherheit. Peter I. schuf in erster Linie ein Opium für Beamte. Anstelle einer neuen Verwaltungsstruktur war eine sprudelnde Quelle für Sozialprestige entstanden, der das ganze Streben der Beamten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt.76 Wesentlich besser als mit der alten Rangplatzordnung konnten die Klienten nun dank der Rangtabelle genau ablesen, welche Macht qua Rang dem jeweiligen Patron zu eigen war bzw. welchen Marktwert ihr Förderer hatte.77 Auch die zweite Quelle von Ehre, die Ordensverleihung, hatte Peter I. eingeführt.78 Für die Beamten bedeutete der Erhalt von Klassenrängen und Orden, „Ehre“ (čest’) zu bekommen. Glaubt man ihren Memoiren, dann war das Sehnen danach, zu „Ehren“ zu kommen, ihr wichtigstes Motiv für den Dienst. Čestoljubie ist eine Vokabel, die ihre Erinnerungen wie ein roter Faden durchzieht. Sie sei hier mit „Ehrliebe“ und nicht mit „Ehrgeiz“ übersetzt, um zu markieren, daß die Beamten nicht Eifer im Dienst an einer abstrakten Sache entwickelten, sondern in erster Linie davon beseelt waren, möglichst schnell und möglichst viele Würdigungen einzuheimsen. Synonym zu čestoljubie verwendeten die Beamten oft auch samoljubie – Eigenliebe. Entgegen den Behauptungen der bisherigen Forschung, die Beamten seien ehrlos gewesen, sind Ehre, deren Verteidigung sowie Ehrverletzungen das alles bestimmende Thema der Beamten – vom Kanzlisten bis zum Gouverneur.79 Jede Auszeichnung, jede Beförderung, jede Lohnerhöhung, jeder Orden, jede Prämie hielten sie in ihren Memoiren minutiös und mit dem gehörigen Stolz fest. Es scheint, als wären die Klassenränge, Orden und Auszeichnungen in einer Welt ohne feste Strukturen die einzigen Systeme gewesen, die den Beamten mit Sicherheit Auskunft über ihren Status geben konnten. Ein Patron konnte sie jederzeit verstoßen und in die Bedeutungslosigkeit entlassen – einen einmal erworbenen Klassenrang konnte ihnen niemand mehr entreißen. Mit den Klassenrängen überführten sie die diffuse Stellung, die von der Gunst ihres Patrons abhängig war, in einen meßbaren sozialen Status. Die Klassenränge bildeten also eine Art Versicherung in dem unsicheren Verhältnis zwischen Patron und Klient. Die Beamten erwarteten diese Art von Vergütung im Austausch für ihre Loyalität. Ihre Ehre verlangte von ihnen, ihrem Herrn treu und bedingungslos zu dienen. Es ist daher verfehlt, wie Torke von der „Leere des Ehrbegriffs“ der Beamten zu sprechen. Und auch Max Weber irrt, wenn er den patrimonialen Beamten im allgemeinen und den russischen Beamten im besonderen Ehre abspricht.80 76

Vgl. Torke, Das russische Beamtentum (wie Anm. 11), 55; Ivan Petrovič Liprandi, O vzjatkach, vzjatočnikach i donosčikach. Čtenija v Imperatorskom Obščestve Istorii i Drevnostej Rossijskich pri Moskovskom Universitete. Vol. 3. Moskau 1870, 23. 77 Vgl. auch Hosking, Patronage (wie Anm. 19), 311. 78 Šepelev, Činovnyj mir (wie Anm. 9), 329ff. 79 Vgl. auch Svetlana Minc, Memuary i rossijskoe dvorjanstvo. Istorikovedčeskij aspekt istoriko-psichologičeskogo issledovanija. Sankt Petersburg 1998, 96. 80 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (wie Anm. 23), 606.

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Er behauptet, in Rußland habe es keine Ehre als Grundlage für eine gemeinsame Lebensführung gegeben.81 Genau das aber hätten die Beamten bestritten. Der Klassenrang brachte ihnen nicht nur das erwünschte Sozialprestige, sondern bestätigte auch die Richtigkeit ihres Handelns gegenüber ihrem Patron. Entsprechend zeigten sie sich in ihrer Ehre gekränkt, wenn sie Auszeichnungen erst verspätet in Empfang nehmen konnten. Ihre Kränkung erklärte sich nicht aus dem vorenthaltenen sozialen Aufstieg, sondern aus der verweigerten Anerkennung für ihre Leistung. Freilich war diese Leistung kein Dienst an der Sache, sondern eben Dienst an ihrem Herrn. Der aus der Zurückweisung resultierende Habitus war die Zurschaustellung eines latent gekränkten Stolzes sowie die Pose des zu kurz gekommenen und verkannten loyalen Dieners.82 Diese Ehre entspricht am ehesten der „Klientelehre“, wie sie Marcel Mauss für den Potlatsch beschrieben hat. Ehre bedeutet hier, seine Vertragsverpflichtungen zu erfüllen und eine Leistung immer mit einer Gegenleistung zu erwidern. Damit wäre das Vorenthalten von Auszeichnungen eine Ehrverletzung für den Untergebenen, der damit gedemütigt wird.83 Interessanterweise hat Jurij Lotman, der in seinem Buch „Besedy o russkoj kul’ture“ („Gespräche über die russische Kultur“) die Beamtenehre so verächtlich macht, sich an anderer Stelle wesentlich differenzierter über Beamtenehre geäußert. Er hat herausgefunden, daß in der Kiewer Zeit čest’ (Ehre) das Attribut des untergeordneten Ritters war, der es von seinem Dienstherrn erhielt, und zwar immer in einer materiellen Form.84 Anders als slava (Ruhm) habe čest’ immer eine materielle Belohnung oder ein Geschenk bezeichnet, das als Zeichen für eine bestimmte Beziehung stand.85 Allerdings, so Lotman, mußte die materielle Auszeichnung − meist auf dem Schlachtfeld errungene Wappen und Waffen des Feindes − augenblicklich zerstört werden, um die Zeichenhaftigkeit der Auszeichnung zu unterstreichen. Die Annahme dieser Form von Ehre habe den Untergebenen zu Treue und Loyalität verpflichtet, so Lotman. Ehre war also Ausdruck einer Dienstbeziehung und besiegelte und bestätigte eine Art Vertragsverhältnis. Čest’ war, was dem Diener zustand, wenn sein Herr mit ihm zufrieden war. Genau diese Tradition scheint das Verständnis der russischen Beamten von Ehre adäquat wiederzugeben und ihr Verhalten zu erklären. Zwar gibt Lotman an, daß sich im 81

Ebd. 623. Vgl. auch Marina Federovna Rumjanceva, Memuary provincial’nych činovnikov konca 18 / načala 19 vv. kak marginal’noe javlenie russkoj kul’tury, in: S. O. Šmidt (Ed.), Rossijskaja provincija 18–20vv., realii kul’turnoj žizni, materialy 3ej vserossijskoj naučnoj konferencii, Pensa 25–90go ijunja 1995. Penza 1996, 369–377, hier 374. 83 Mauss, Die Gabe (wie Anm. 17), 88f. 84 Jurij Michajlovič Lotman, Ob opozicii „čest’“ – „slava“ v svetskich tekstach Kievskogo perioda, in: ders., Izbrannye stat’i v trech tomach. Stat’i po istorii russkoj literatury. Teorija i semiotika drugich iskusstv. Mechanizmy kul’tury. Melkie zametki. Vol. 3. Tallinn 1993, 111–120, hier 113. 85 Ebd. 115. 82

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18. Jahrhundert die Bedeutung von čest’ und slava radikal geändert habe – das trifft aber, wie er selbst einschränkt, nur für den aufgeklärten Adel zu.86 Die Psychologie des Fürstendienstes habe sich dagegen unverändert auch auf den Staatsdienst übertragen. Der Begriff „Staatsdienst“ (gosudarevaja služba) habe kein bedingtes Vertragsverhältnis bezeichnet, sondern den „Verzicht von Regelungen (otsutstvie uslovij) auf beiden Seiten“. Diese Form des Dienstes habe von der untergebenen Seite bedingungslose und vollkommene Unterwerfung (otdača sebja) verlangt, während der Dienstherr auf der anderen Seite zur Güte (milost’) verpflichtet gewesen sei.87 Als Charakterisierung des Beamtendienstes im 19. Jahrhundert bleibt dem nichts hinzuzufügen. Setzt man Lotmans Verständnis von čest’ voraus, ist es allerdings mißverständlich, von einer „Materialisierung“ der Ehre im 19. Jahrhundert zu sprechen. Die Überreichung von Klassenrängen, Orden und Auszeichnungen an die Beamten waren symbolische Handlungen, die auf die Ehre verwiesen, die dem Beamten mit diesem Ritual zuteil wurde. So wie bei der Übergabe von Wappen und Waffen an den Vasallen stand bei der Rangerhöhung der Beamten die Zeichenhaftigkeit des Aktes im Vordergrund. Ränge, Orden und Auszeichnungen waren Symbole für die dem Herrn bewiesene Treue und Loyalität. Dieses Verständnis von Ehre und Ehrerweisung war Grundlage und Motor des Staatsdienstes im 19. Jahrhundert. Auf čest’ baute die gesamte Verwaltung unter Aleksandr I. (1801–1825) und Nikolaj I. auf, ohne čest’ hätte das ganze System nicht funktioniert. Tatsächlich beschreiben die Beamten ihre Ehrliebe als ihren steten Begleiter, keine Attitüde oder Mode, sondern ein im tiefsten Inneren verankertes Sehnen, das zuweilen zur unbeherrschbaren Sucht wurde, ein Trieb, den sie kaum noch kontrollieren konnten. Der Beamte I. A. Turalevskij, der für das Erreichen des 8. Klassenrangs in den 1810er Jahren in Sibirien diente, brachte das Leiden der Beamten ohne jede Ironie wie folgt auf den Punkt: „Wir schätzen die vaterländischen Auszeichnungen sehr; unser Herz verlangt nach Ehrerbietungen. Für einige Ränge begeben wir uns zum Mittelpunkt der Erde – zeigt uns nur den Weg! Was sind uns der Nordpol und der Südpol! Jeder Kanzlist würde für den Titel eines Titularrats dorthin streben, selbst wenn dort an Stelle der riesigen Eisschollen Eisbären von gleicher Größe schwämmen.“88 Auch Meškov war überzeugt: „Jeder Mensch trägt in sich den Keim der Ehrliebe. Offen muß ich eingestehen, daß dieses Gefühl in mir immer im höchsten Grade entwickelt war. […] Ich war nie eigennützig, habe nie Reichtum gesucht und nicht versucht, ein Vermögen anzuhäufen, […]. Aber ich habe immer die beneidet und beneide auch heute 86

Ebd. 119. Jurij Michajlovič Lotman, „Dogovor“ i „vručenie sebja“ kak archetipičeskie modeli kul’tury, in: ders., Izbrannye stat’i (wie Anm. 84), 345–355, hier 349. 88 Turalevskij, Vospominanija (wie Anm. 63), 91. 87

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noch diejenigen, die einen höheren Rang erreicht haben, einen höheren Titel, ein höheres Abzeichen der Auszeichnung.“89 Meškov bezeugt, daß es ihm nicht um seine materielle Versorgung ging, sondern allein um die gesellschaftliche Anerkennung. Sein Vorbild war in dieser Hinsicht der Sekretär des Gouverneurs, den er an seinem ersten Arbeitstag in der Pracht all seiner Orden sah und den er gern beerben wollte.90 Sein großer Tag kam am 31. Dezember 1829: „Es ist amüsant, mich zu erinnern, mit welcher Befriedigung ich damals den Säbel und die Uniform anzog. Meiner eigenen Meinung nach war ich jetzt schon wer.“91 Als er 1835 endlich Sekretär wurde, war seine „Selbstliebe“ „gestillt“.92 Nach seinem Triumph, endlich engster Vertrauter seines Patrons geworden zu sein, vermerkte er in seinen Memoiren penibel jede Rangbeförderung und Ordensverleihung. Bis 1857 erhielt er vier Klassenränge, drei Auszeichnungen für tadellosen Dienst sowie fünf Orden.93 Seine größte Genugtuung erlebte Meškov aber, als sein Vater 1839 endlich in den 8. Klassenrang und die Familie damit in den Adelsstand trat: „Daraus erwuchs mir zwar kein unmittelbarer Dienstvorteil, aber wenn ich in Moskau oder St. Petersburg weilte, dann konnte ich jetzt viele Leute besuchen: Nesselrode, Baron Korf, Zakrevskij, Men’šikov, Fürst Pavel Pavlovič Gagarin, […]. Ich will nicht verschweigen, daß das meiner Selbstliebe schmeichelte.“94 Die Erhebung in den Adelsstand hatte sein personales Netzwerk mit einem Schlag um eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten erweitert, die alle als potentielle Patrone in Frage kamen und damit für Meškov eine weitere Absicherung darstellten. Als er nach 1860 seine Stellung verlor, war es Baron Korf, den er als erstes in Sankt Petersburg aufsuchte und um Protektion bat.95 Ränge und Orden stabilisierten also die Patron-Klienten-Beziehungen oder verschafften ihnen einen Mehrwert. Solange Klassenränge und Orden verliehen wurden, konnte der Beamte sicher sein, daß er weiter in der Gunst seines Patrons stand, daß er weiter dessen „Lieblingsbeamter“ war und sich nicht um sein Schicksal zu sorgen brauchte. Umgekehrt kündigte die Verweigerung von Orden meist den Sturz eines Beamten an.96 Aber nicht nur die eigenen Rangerhöhungen waren ein wichtiges Indiz für den Beamten, wie es um ihn stand. Genauso entscheidend war es zu wissen, welchen Marktwert sein Patron hatte. So lange dieser befördert und aus dem Zentrum mit Meri-

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Meškov, Vospominanija (wie Anm. 56), 57f. Ebd. 58. Ebd. 60, 81. Ebd. 100, 104, 105. Ebd. 122, 143, 153, 157, 193. Ebd. 120f. Ebd. l. 234. Ebd. l. 215.

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ten überhäuft wurde, war auch des Klienten Position geschützt und er in guten Händen bei seinem Patron.97 Allerdings wurde nicht jede Auszeichnung als solche empfunden. Die Beamten fühlten sich gekränkt, wenn die Auszeichnung ihrer Meinung nach zu spät kam. Das zeigt, daß es ihnen nicht nur um die Erreichung eines Status ging. Die verspätete Ordensverleihung demütigte sie, weil sie ausdrückte, daß ihr Vorgesetzter mit ihnen unzufrieden war oder sich um ihre Dienste nicht scherte. Eine verspätete Rangbeförderung zeugte also von einer gestörten Patron-Klienten-Beziehung und mußte die Beamten um ihre weitere Karriere bangen lassen. Als der spätere Gouverneur von Orel, A. V. Kočubej (1790–1873; 1830–1836), zwischen 1820 und 1824 nicht die, wie er meinte, verdienten Rangerhöhungen erhielt, war dies für ihn Anlaß genug, sein Entlassungsgesuch einzureichen.98 Auch Fadeev war sehr sensibel hinsichtlich der Umstände von Rangerhöhungen und Ordensverleihungen, so daß ihn die Ernennung zum Tatsächlichen Staatsrat 1848 gleichgültig ließ, weil er für sein Empfinden zu lange darauf hatte warten müssen: „Ich freute mich nicht, denn ich war schon seit sieben Jahren Staatsrat. Außerdem freute ich mich nie über so etwas und war gegenüber den Beförderungen und Auszeichnungen, die überhaupt nichts aussagten, gleichgültig.“99 Fadeev wollte also Auszeichnungen, die etwas „aussagten“, die ihm tatsächlich seine Verdienste bescheinigten. Daher war seine Freude groß, als er 1853 den Orden seiner Träume verliehen bekam: „Im Herbst erhielt ich endlich den lang erwarteten Sankt Vladimir 3. Klasse, der mich an meine Jugend erinnerte, als genau dieser Orden der Traum meiner Ehrliebe gewesen war.“100 Der spätere Generalgouverneur von Ostsibirien, S. B. Bronevskij (1786–1858; 1834–1837), berichtet über seinen Vorgesetzen von einem ähnlichen Gebaren, das zwischen Eitelkeit und Beleidigtsein changierte und genau zwischen „echten“ Auszeichnungen und solchen unterschied, die einer Kränkung und Erniedrigung gleichkamen: „Er bekam nur ein Abzeichen für 15 Jahre Dienst; mehr als zwei Drittel seiner Dienstzeit ließ man unter den Tisch fallen [...]. Er legte das Abzeichen in die Schublade und sagte: Hier wirst Du ewig liegen, an meine Brust kommst Du nicht!“101 Auch die Beförderung zum General der Infanterie habe ihn vollkommen kalt gelassen. „Aber über die Verleihung des Aleksandrordens am Band freute er sich wie ein kleines Kind. Er ging in die Kirche, wo es kalt war, und nahm dennoch seinen Mantel ab, damit alle 97

Ebd. l. 100, 115, 123, 143. Arkadij Vasil’evič Kočubej, Zapiski. Semejnaja chronika. Sankt Petersburg 1890, 151, 155, 171, 189ff. 99 Fadeev, Vospominanija 10 (wie Anm. 64), 235. 100 Ebd. 466. 101 Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek, Bestand 550, Akte F. IV.698: Semen Bogdanovič Bronevskij, Zametki iz moej žizni, sobstvennoručno mnoju zapisyvaemye na pamjat’ mnogočislennomu semejstvu, Blatt 283. 98

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seinen Orden sehen konnten. Ich witzelte: ‚Ist Ihnen heiß, wenn Sie Ihren Orden sehen?‘ – ‚Ja, heiß‘, antwortete er [...].“102 All dies sind Indizien dafür, daß die Beamten keineswegs nur auf das reine Sozialprestige, das mit Rängen und Orden verliehen wurde, aus waren, sondern ein sehr ausgeprägtes, geradezu überempfindliches Sensorium für die spezifische Bedeutung einer jeden Auszeichnung bzw. deren Verspätung besaßen. Ihre Ehre verbot es ihnen, sich über jeden hingeworfenen Orden zu freuen; nur jene, die eine Anerkennung ihrer Leistung transportierten, bereiteten ihnen wirkliche Befriedigung. Ehre war das Produkt einer intakten Patron-Klienten-Beziehung und funktionierte nur in diesem Kreislauf. Schwierig wurde es dann, wenn Anerkennung nicht vom Patron, sondern von einem Dritten angeboten wurde. Das erlebte Golub’ev, dem zum Ende seiner Dienstzeit im Jahr 1858 der kurz zuvor in sein Amt eingeführte Finanzminister Knjaževič ein Stellenangebot unterbreitete, das ihm einerseits schmeichelte, ihn aber andererseits über seinen bisherigen Gönner gestellt hätte, dem eigentlich die Stelle gebührte. Golub’ev befand sich in der Zwickmühle, sich für seine Ehrliebe und gegen seinen bisherigen Patron oder aber für seinen Gönner, damit aber gegen seine Beförderung entscheiden zu müssen. Aus seinem Verhalten wird deutlich, daß Beförderungen, die nicht aus der Hand des Patrons kamen und diesen ins Abseits stellten, einem unmoralischen Angebot gleichkamen: „Wenn ich diese Stelle unwürdiger Weise angenommen hätte, wäre ich furchtbar schuldig vor Gott und dem Zaren gewesen, und in der letzten Minute meines Lebens hätten keine Orden, keine Prämien meine Gewissensbisse für diesen niederträchtigen Akt meines Eigennutzes und meiner Selbstliebe beschwichtigen können.“103 Also ging er zum Minister und erteilte ihm eine Absage in dem stolzen Bewußtsein, „auf diese Art einen Sieg über meine Ehrliebe errungen“ zu haben.104 Allerdings ist fraglich, ob diese Entscheidung nicht doch eher im Sinne seiner Ehrliebe geschah. Sich seinen bisherigen Förderer zum Feind zu machen, hätte schließlich bedeuten können, künftig überhaupt keine Beförderungen und Auszeichnungen mehr zu bekommen. Insofern handelte Golub’ev durchaus im Sinne einer Ehrökonomie. Gleichzeitig erteilte er damit dem bürokratischen Prinzip, in dem nach Fähigkeit und Sachverstand befördert wird, eine Absage und blieb der patrimonialen Ordnung treu, in der Ehre und Würde einer Person das Maß aller Dinge sind.

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Ebd. 285. Golub’ev, Zapiski [Fortsetzung 2] (wie Anm. 62), 92. Ebd.

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V. Resümee Der Verzicht auf eine normative Korruptionsgeschichte sowie auf teleologische Modernisierungstheorien bringt den großen Vorteil, sich der russischen Verwaltungsgeschichte und ihren Phänomenen hermeneutisch nähern und nach den Bedeutungen des Handelns der Akteure fragen zu können. Man setzt sich damit allerdings dem Vorwurf aus, die russische Geschichte exotisieren beziehungsweise sie endgültig zum Sonderfall der europäischen Geschichte erklären zu wollen. Dabei ist festzuhalten, daß auch England und Frankreich im 19. Jahrhundert nicht die idealen bürokratischen Kulturen waren, als die sie gern Rußland entgegengehalten werden, denn Elemente des alten Patronagesystems überlebten (und überleben bis heute) in Frankreich, wo Beamte nach Klientelzugehörigkeit eingestellt wurden und die Minister noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Patrone auftraten.105 Tatsächlich scheint aber doch in Westeuropa um 1800 Patronage zunehmend auch von den betroffenen Beamten als abweichendes Verhalten empfunden und in den „Graubereich von Begünstigung und Korruption“ abgedrängt worden zu sein106, während dies in Rußland erst nach den Großen Reformen und auch dann nur partiell geschah. Zusammen mit den Gemeinsamkeiten werden also auch die Differenzen sichtbar. Das sollte aber nicht dazu führen, wieder in ein normatives Fortschrittsdenken zu verfallen, das Vorreiter und Nachzügler kennt. Entscheidend ist, die Spezifika der russischen Verwaltungskultur hervorzuheben, der es länger als in Westeuropa gelang, sich gegen Zentralisierungsversuche zu widersetzen. Dabei ist ohnehin in Frage zu stellen, wie entschieden „der Staat“ versuchte, die Patronage-Netze zugunsten einer stratifizierten Verwaltungsstruktur abzuschaffen. Denn letztlich bauten die Zaren ihre Macht selbst auf solchen Clansystemen auf. Nikolaj I. war der beste Garant dafür, daß die personengebundene Machtausübung nicht durch eine modern strukturierte Verwaltung ersetzt wurde, weil er allen, die er nicht persönlich kontrollieren konnte, mißtraute.107 Hier ergeben sich weitere bemerkenswerte Parallelen zu der von Weber beschriebenen patriarchalen Herrschaft: So wie der patrimoniale Herr sein Land systematisch von Sonderbeamten bereisen ließ, schickten die Zaren ihren Gouverneuren regelmäßig Revisoren hinterher.108 Die Aufgabe, die patrimonialen Beamten 105

Vgl. Clive H. Church, Revolution and Red Tape. The French Ministerial Bureaucracy 1770–1850. Oxford 1981, 40. 106 Vgl. Birgit Emich u. a., Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: Zeitschrift für Historische Forschung 32, 2005, 233– 265, hier 265. 107 Vgl. Andrew M. Verner, The Crisis of Russian Autocracy. Nicholas II and the 1905 Revolution. Princeton 1990, 83. 108 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (in Anm. 23), 605. Zu den Senatorenrevision siehe: Peter Liessem, Verwaltungsgerichtsbarkeit im späten Zarenreich. Der

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mittels geheimer Spione oder offizieller Kontrollbeamter planmäßig zu überwachen109, übernahmen seit 1826 die Gendarmen der Dritten Abteilung.110 Diese Praxis hielt sich in großen Teilen bis 1917: Auch Nikolaj II. (1894–1917) verließ sich lieber auf personale Netzwerke und griff in Krisensituationen auf das altbewährte Mittel der Sondergesandten zurück.111 Der Rückgriff auf Webers patrimonialen Beamten und Marcel Mauss’ schenkende Gesellschaft dient also nicht dazu, Rußland die Rückständigkeit endgültig nachzuweisen, sondern ein Instrumentarium bereitzustellen, daß ganz neue Einblicke in und Aufschlüsse über die russische Geschichte erlaubt. Danach kann folgendes festgehalten werden: Beamte und Vorgesetzte verband kein regulierender, Bedingungen festlegender, abstrakter Vertrag. Es war vielmehr die von Max Weber beschriebene patriarchale persönliche Beziehung, die zwischen Patron und Klienten geknüpft wurde; der Beamte wurde Teil der Familie beziehungsweise des Clans des Vorgesetzten. Der Bedienstete begab sich vollkommen und bedingungslos in die Obhut seines Herrn, der sich seinerseits zu Güte und Schutz verpflichtete. Ihre Gemeinschaft glich eher einer organischen Einheit als einem strukturierten Regelwerk; sie entsprach dem Prinzip des oikos und nicht einer modernen Aufgabenteilung. Der Schützling verhielt sich seinem Förderer gegenüber loyal und ergeben; der Wohltäter offerierte dafür Protektion, Beförderung und Meriten, so auch Jurij Lotman. Die Rangunterschiede in der Diensthierarchie wurden von Patron und Klient zum gegenseitigen Vorteil ausgetauscht: Treue gegen Klassenränge. Der Untergebene wußte, daß er Teil eines Netzwerks wurde und sowohl von dessen Erfolg profitieren als auch durch dessen Scheitern in Mitleidenschaft gezogen würde. Mit seinem Patron konnte er Karriere machen, aber genauso seine Stelle verlieren, wenn sein Förderer geschaßt wurde. Beide gingen eine symbiotische Beziehung ein, die sie im Guten wie Schlechten verband. In diesem reziproken Tauschverhältnis spielte Ehre eine zentrale Rolle. Ehre war nicht nur der Motor für das Handeln der Beamten und wichtiger Dirigierende Senat und seine Entscheidungen zur russischen Selbstverwaltung (1864– 1917). Frankfurt am Main 1996; Ol’ga V. Morjakova, Sistema mestnogo upravlenija Rossii pri Nikolae I. Moskau 1998, 80ff.; Sergej Vladimirovič Mironenko, Samoderžavie i reformy. Političeskaja bor’ba v Rossii v načale XIX v. Moskau 1989, 42ff.; Erik Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Rußlands von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966, 374ff.; E˙. S. Paina, Senatorskie revizii i ich archivnye materialy (XIX–načalo XX v.), in: I. N. Firsov et al. (Eds.), Nekotorye voprosy izučenija istoričeskich dokumentov XIX–načalo XX v., sbornik statej. Leningrad 1967, 147–175, 168. 109 Weber, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft (wie Anm. 23), 606. 110 Vgl. Sidney Monas, The Third Section. Police and Society in: Russia under Nicholas I, in: Russian Research Center Studies 42, 1961, 65; I. V. Oržechovskij, Samoderžavie protiv revoljucionnoj Rossii, 1826–1880. Moskau 1982, 80. 111 Vgl. Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 2. Princeton 2000, 407, 527.

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Bestandteil ihrer Identität. Ehre war als čest’ die entscheidende Grundlage der russischen Verwaltung in der Vorreformzeit. Sie war Vertragsform und Zahlungsmittel, Motivation und Statussymbol in einem. Das ganze System gründete auf Ehre und wäre ohne sie nicht zu erklären. Freilich war das eine andere Ehre, als Weber sie sich als moderne bürokratische Standesehre vorstellte. Allerdings waren nur die Inhalte der Ehre beziehungsweise die Normen und Werte, an der sie sich orientierte, andere; sie funktionierte genauso, wie Luhmann es für „Ehre“ beschrieben hat, als Verhaltensimperativ für das Individuum und Abgrenzungsmechanismus der Gruppe. Angesichts einer fehlenden schriftlichen Regulierung der Interaktion zwischen Patron und Klient mußten sich beide auf das Ehrgefühl des jeweils anderen verlassen. Die Ehre strukturierte und regulierte damit das Verhältnis zwischen Dienstherrn und Untergebenem. Sowohl Lotman als auch Mauss und Bourdieu haben diese Form von Ehre als Vasallenlohn beschrieben. Sie ist ein Zeichen für diese Beziehung, das in Form von Gegenständen überreicht wird, die umgehend vernichtet werden müssen, um die materielle Seite zu negieren und den Vertragscharakter zu unterstreichen. Diese immateriellen Zeichen waren im Falle der Beamten die Klassenränge und Orden. Der Versuch, mit der 1722 eingeführten Rangtabelle personale Beziehungen durch institutionelle zu ersetzen, war damit gescheitert; die Klassenränge waren im Gegenteil von den Beamten zweckentfremdet und in den Dienst der Patron-Klienten-Beziehungen gestellt worden. Im Sinne der Weberschen „Dienertreue“ entspräche čest’ damit genau der „Dienerehre“: Ehrenvoll war und blieb der Dienst am Herrn und nicht der Dienst an der Sache.

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IV. Zeitgeschichte

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Korruption in der NS-Zeit als Spiegel des nationalsozialistischen Herrschaftssystems Von

Frank Bajohr Die Definition politischer Korruption als „Mißbrauch eines öffentlichen Amtes zu privaten Zwecken“1 ist untrennbar mit dem Prozeß der Moderne verbunden. Denn die Herausbildung des modernen Staates seit dem 19. Jahrhundert, die Entwicklung eines an Rechtsnormen, Regeln und Rationalität orientierten bürokratischen Staatsapparates und die Trennung von öffentlichem Amt und privater Sphäre schufen erst die Voraussetzungen, um klientel- und patronageorientiertes Handeln in einem öffentlichen Diskurs als „Korruption“ zu brandmarken – und damit als Gegenbild eines – wie immer gearteten – „perfekten“ Verhaltens.2 Die Frage nach dem Verhältnis von Nationalsozialismus und Korruption3 ist daher untrennbar mit der Frage verbunden, welche Stellung der nationalsozialistische Staat im längerfristigen Entwicklungstrend der Moderne einnahm. Verkörperte er einen Einbruch vormoderner, mittelalterlicher Barbarei, oder repräsentierte er vielmehr einen pathologischen Entwicklungspfad der Moderne selbst? Propagierte das „Dritte Reich“ mit seiner archaischen Germanentümelei, seinen Thing-Feiern, der Agrarromantik sowie der Blutund-Boden-Ideologie ein vollständiges Gegenbild zur Moderne, oder war das Regime vielmehr äußerst modern, nicht zuletzt in seiner bürokratischsystematisch organisierten Vernichtungspolitik?4 Was in der NS-Herrschaft auf den ersten Blick wie eine Regression in vormoderne Zeiten anmutete, trug bei näherem Hinsehen ausgesprochen moderne Züge. So hob die Konstruktion des mit allumfassenden Vollmachten ausgestatteten „Führers“ de facto die Trennung zwischen Privatperson und Amtsträger auf: Ein scheinbarer Rückfall in Zeiten des Absolutismus mit

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Göttrik Wewer, Korruption, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik. 2. Aufl. München 1995, 360f.; Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie. 4., überarb. Aufl. Stuttgart 1994, 449f. 2 Siehe den Beitrag von Werner Plumpe in diesem Band. 3 Vgl. Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2001. 4 Vgl. Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991; kritisch: Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1990, 31–46; zusammenfassend: Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung. München 2003.

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weitreichenden Folgen für die Korruption in der NS-Zeit, die auf diese Weise zum immanenten Bestandteil des Herrschaftssystems wurde, oder anders ausgedrückt: strukturell wegdefiniert wurde, weil die klassische Definition politischer Korruption als „Mißbrauch eines öffentlichen Amtes zu privaten Zwecken“ ja die Trennung von privat und öffentlich voraussetzt. Gleichzeitig beruhte jedoch die Stellung des „Führers“ auf der mythisch-charismatischen Bindung der Massen an seine Person, war der „Führer-Mythos“ essentieller Bestandteil einer „charismatischen Herrschaft“5, die eine spezifische Herrschaftsvariante der Moderne darstellte und mit dem Gottesgnadentum absolutistischer Herrscher wenig gemein hatte. Ähnlich ambivalente Wirkungen entfaltete das Führer-Prinzip innerhalb des NS-Herrschaftssystems. Einerseits förderte es personell-klientelistische Bindungen, die nicht zuletzt materiell unterfüttert waren, ein Einfallstor der Korruption bildeten und der NS-Herrschaft partiell ein feudalähnliches Gepräge gaben. Andererseits wurde die Bürokratisierung und Ausdifferenzierung in Ämter und Dienststellen – ein hochmoderner Vorgang – im „Dritten Reich“ auf die Spitze getrieben. Auch der Dualismus von „Normenstaat“ und „Maßnahmenstaat“ steht für die strukturellen Ambivalenzen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Einerseits hob das „Dritte Reich“ die Bindung persönlichen und staatlichen Handelns an Recht und Gesetz und die bürokratische Regelhaftigkeit nicht prinzipiell auf. Andererseits drängte der „Maßnahmenstaat“ normengebundenes staatliches Handeln zurück, orientierte sich als „kämpfende Verwaltung“ an außernormativen Prinzipien wie der „Volksgemeinschaft“, die die Staatlichkeit im „Dritten Reich“ beständig herausforderte und teilweise überwölbte. „Im politischen Sektor des Dritten Reiches“, so Ernst Fraenkel 1941 in seiner Analyse des nationalsozialistischen ‚Doppelstaates‘, „gibt es weder ein objektives noch ein subjektives Recht, keine Rechtsgarantien, keine allgemein gültigen Verfahrensvorschriften und Zuständigkeitsbestimmungen […]. In diesem Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen.“6 Auch die Erosion normengebundener Regelhaftigkeit zeitigte für die Korruption unter nationalsozialistischer Herrschaft weitreichende Folgen. Für die Aufdeckung und Identifizierung von Korruption bildet Kommunikation eine zentrale Voraussetzung. Erst die öffentliche Kommunikation über korruptes Verhalten als Gegenbild zum angestrebten „perfekten“ Han-

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Zur Anwendung des Weberschen Begriffes der „charismatischen Herrschaft“ auf den Nationalsozialismus vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003; Ian Kershaw, Hitler. 2 Bde. Stuttgart 1998/2000. 6 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2. Baden-Baden 1999, 55 (amerik.-engl. Originalausgabe: The Dual State. New York 1941).

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deln ermöglicht überhaupt die Einstufung und Verurteilung eines Verhaltens als „korrupt“. Mit der Beseitigung einer autonomen Öffentlichkeit beschränkte jedoch der NS-Staat die öffentliche Kommunikation über Korruption. Die diktatorische Lenkung der öffentlichen Meinung machte eine offene Diskussion und Identifizierung von Mißständen unmöglich. Die Korruptions-Kommunikation reduzierte sich daher de facto auf einen inszenierten Diskurs „von oben“, der ausschließlich den utilitaristischen Kalkülen der NS-Machthaber verpflichtet war. Das Thema Korruption war daher im „Dritten Reich“ nur unter eingeschränkten Bedingungen überhaupt skandalfähig, so daß eine Korrektur korrupten Verhaltens durch die regulative Funktion öffentlicher Kommunikation kaum möglich war. Korruption blieb im „Dritten Reich“ ein weitgehend folgenloser Skandal.7 Für die Geschichte und historische Einordnung der Korruption unter nationalsozialistischer Herrschaft ist eine weitere Besonderheit des „Dritten Reiches“ von großer Bedeutung: In den meisten Staaten und Herrschaftssystemen gehört Korruption zu den am meisten verwerflichen Handlungen, derer sich ein Amtsträger schuldig machen kann. Wie aber ist Korruption in einem verbrecherischen Staat zu bewerten, der wie das „Dritte Reich“ Massenmorde in singulärer Dimension beging, so daß sich korruptes Verhalten demgegenüber wie eine belanglose Petitesse ausnahm? Wer in der NS-Zeit uneigennützig seine Amtspflichten erfüllte und alle Standards „perfekten“, das heißt unbestechlichen und nicht korrumpierbaren Verhaltens einhielt, konnte dennoch zum Verbrecher werden, weil der NS-Staat die Ausübung von Verbrechen in den Rang einer Amtspflicht erhoben hatte, was zweifellos nicht der Normalsituation von Amtshandeln entspricht, im „Dritten Reich“ jedoch nicht selten der Fall war. Wer also als Finanzbeamter Juden gemäß dienstlichem Auftrag unbestechlich ausplünderte oder als Polizeibeamter Deportationstransporte unbestechlich nach Auschwitz eskortierte, handelte letztlich verbrecherischer als ein korrupter Amtsträger, der sich von Juden bestechen ließ und ihnen im Gegenzug Vorteile gewährte beziehungsweise ihnen zur Flucht verhalf. Die dem Begriff der Korruption immanente moralische Kodierung verkehrt sich bei diesem Beispiel nahezu ins Gegenteil und zwingt den Betrachter aus heutiger Sicht, über die Standards „perfekten“ Verhaltens in einem verbrecherischen Staat eingehend nachzudenken, auch wenn das gewählte Beispiel insofern nicht unbedingt repräsentativ ist, als die meisten korrupten Amtsträger des „Dritten Reiches“ sich an den Opfern der NS-Herrschaft bereicherten, ohne ihnen eine entsprechende Gegenleistung zu gewähren, das heißt die Situation der Opfer damit verschärften. Die herrschaftsstrukturellen Besonderheiten des „Dritten Reiches“ hatten zur Folge, daß die Bekämpfung der Korruption im Nationalsozialismus 7 Frank Bajohr, Der folgenlose Skandal. Korruptionsaffären im Nationalsozialismus, in: Martin Sabrow (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Göttingen 2004, 34–51.

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inkonsistent blieb und sich – nimmt man den Umgang der NS-Machthaber mit der Korruption zum Maßstab – drei grundsätzliche Varianten von Korruption identifizieren lassen, wobei alle drei Varianten fließende Übergänge aufwiesen: Erstens wäre die im „Dritten Reich“ verfolgte und sanktionierte Korruption zu nennen, das heißt Handlungsweisen, die nach den bestehenden normativen Grundlagen auch strafrechtlich verfolgt wurden. Dazu gehörte beispielsweise Korruption zu Lasten der NSDAP und ihrer Organisationen, zum Beispiel die Unterschlagung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Davon zu unterscheiden war die tolerierte Korruption, beziehungsweise jene Korruption, die sich durch die strukturellen Schwächen der Korruptionsbekämpfung im „Dritten Reich“ in besonderer Weise ausbreitete und notgedrungen oder bewußt hingenommen wurde. Zur tolerierten Korruption gehörten die Schwarzmarktgeschäfte, besonders in den besetzten Gebieten, die ebenso hingenommen wurden wie die schleichende Auflösung der öffentlichen Finanzhaushalte durch Sonderfonds, schwarze Kassen und Stiftungen, vor allem bei den NSDAP-Gauleitern, die keiner wirksamen Machtund Finanzkontrolle unterlagen. Drittens wäre die dem NS-Staat inhärente Korruption zu nennen, das heißt die durch Staat und NS-Bewegung offiziell geförderte und exekutierte Korruption, die nicht auf dem Amtsmißbrauch lediglich Einzelner beruhte, sondern ein organisiertes System des Machtmißbrauchs darstellte, das zudem nicht ausschließlich privaten Zwecken diente, sondern der funktionalen Stabilisierung des Herrschaftssystems. Diese Form der Korruption stellte insofern ein besonderes Strukturproblem des NS-Staates dar, als sie – wie schon angedeutet – in der Struktur der NS-Herrschaft wurzelte und das NSHerrschaftssystem insgesamt widerspiegelte. Die Verwischung von privat und öffentlich in der spezifischen Konstruktion des „Führers“ und die hohe Bedeutung personaler, klientelistischer Bindungen nach dem Prinzip der „Gefolgschaft“ sind in diesem Zusammenhang bereits erwähnt worden. Die fließenden Übergänge zwischen bekämpfter, tolerierter und institutionalisierter Korruption waren typische Kennzeichen eines diktatorischen Herrschaftssystems, das überdies dazu tendierte, sich immer stärker von normativen Bindungen zu lösen. Ob bei der Bekämpfung der Korruption nach überkommenen normativen Grundsätzen verfahren wurde oder diese dispensiert waren, hing im „Dritten Reich“ in erster Linie von Opportunitätskriterien ab, wie der Machtstellung des korrupten Funktionsträgers, seinem politischen Rückhalt durch eine nationalsozialistische Herrschaftsclique, von seiner „Nützlichkeit“ innerhalb des Systems oder den Auswirkungen eines öffentlichen Skandals auf das Verhältnis von NS-Regime und Bevölkerung. Ein besonderes Augenmerk soll im folgenden der institutionalisierten Korruption gelten. Anders formuliert: Nicht die in verschiedenen politischen

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Systemen immer wieder anzutreffenden und deshalb wenig systemspezifischen Erscheinungsformen von Korruption stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, sondern jene, die ein unmittelbares Kennzeichen und Strukturproblem nationalsozialistischer Herrschaft waren. Damit erschließen sich zugleich auch Besonderheiten des NS-Herrschaftssystems. * Wer im Frühjahr 1933 die Zeitung aufschlug, der konnte ein Fülle von Enthüllungsgeschichten über die tatsächliche oder vermeintliche Korruption von Politikern der Weimarer Republik lesen. Dies war insofern nicht ungewöhnlich, als das Thema Korruption generell zur unvermeidlichen Begleitmusik politischer Systemwechsel zu gehören scheint.8 Die Nationalsozialisten jedoch überschwemmten die zunehmend von ihnen kontrollierten Medien mit Berichten, in denen zahlreichen Vertretern demokratischer Parteien wie dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr oder seinem Altonaer Kollegen Max Brauer Dienstvergehen und Bereicherung im Amt öffentlich vorgeworfen wurde, ohne daß den Beschuldigten entsprechende Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung standen. Der preußische Justizminister Kerrl richtete bei den Staatsanwaltschaften Sonderdezernate zur Korruptionsbekämpfung ein. Das Strafmaß bei einschlägigen Korruptionstatbeständen wie Unterschlagung wurde deutlich verschärft.9 Durch dieses Vorgehen suchten die Nationalsozialisten der Weimarer Republik nachträglich das Stigma einer durch und durch korrupten „Systemzeit“ aufzuprägen, wobei sie an entsprechende Kampagnen der zwanziger Jahre gegen die vermeintliche „Barmat-Republik“ anknüpften. Die inszenierten und instrumentalisierten Skandale sollten der sich etablierenden NSDiktatur eine Legitimationsbasis verschaffen. Je schlimmer der angebliche „Saustall“ war, der ausgemistet werden sollte – so suggerierte die NS-Propaganda der Öffentlichkeit –, desto umfassender mußte der Umbau des politischen Systems in Angriff genommen werden. Als dieser Zweck erfüllt war, erlahmte deshalb auch der nationalsozialistische Aufklärungseifer rasch. Bereits im September 1933 löste der preußische Justizminister die Korruptionsdezernate wieder auf, zumal deren Tätigkeit eher wenig reale Tatbestände zutage gefördert hatte. Seit dem Frühjahr 1933 machten zudem Nachrichten über Verfehlungen, Unterschlagungen und Bereicherungen von Nationalsozialisten die Runde, so daß die Anti-Korruptionskampagne zu einem politischen Bumerang für das neue Regime zu werden drohte. Auch deshalb änderten die neuen Machthaber im Herbst 1933 8 Dies zeigt sich u. a. an der intensiven öffentlichen Erörterung des Themas Korruption während der „Wende“ der DDR im Spätherbst 1989. Vgl. den Beitrag von André Steiner in diesem Band. 9 Karl Krug, Die Korruption und ihre Bekämpfung, in: Deutsche Justiz 95, 1933, 446f.

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ihre Informationspolitik radikal und gingen von der öffentlichen Anprangerung von Korruption zu deren Tabuisierung über, indem sie die gleichgeschalteten Medien – wie es der Oberpräsident der Provinz Sachsen sarkastisch formulierte – zu „diszipliniertem Schweigen“10 verdonnerten, um die propagandistische Suggestion von Einheit und Gleichheit in der neuen „Volksgemeinschaft“ nicht mit Berichten über Mißstände zu konterkarieren. Damit legten die Nationalsozialisten jedoch die öffentliche Kommunikation über Korruption nahezu still und hebelten ein wesentliches Regulativ der Korruptionsbekämpfung aus. Die Beseitigung jeder kritischen Öffentlichkeit war eine der Maßnahmen, die ein Ausmaß an Korruption begünstigten, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht. Nur ein Teil dieser Delikte wurde in der NS-Zeit justiziell geahndet. Dies war in erster Linie dann der Fall, wenn die NSDAP, ihre Organisationen und Gliederungen zu den Geschädigten gehörte, wenn also Funktionäre – zumeist minderen Ranges – mit der Parteikasse durchgebrannt waren und Mitgliedsbeiträge, Sammlungseinnahmen und Spenden unterschlagen hatten. Von Januar 1934 bis Dezember 1941 strengte der Reichsschatzmeister der NSDAP vor öffentlichen Gerichten 10 887 Strafverfahren gegen NSDAP-Mitglieder an, die sich eines Vergehens „zum Schaden des Parteivermögens“ schuldig gemacht hatten – dies waren an jedem Werktag durchschnittlich vier bis fünf Strafverfahren.11 Wenn jedoch nicht die NSDAP zu den Geschädigten gehörte, sondern beispielsweise der Staat – oder häufiger noch – die Opfer des Nationalsozialismus wie die Juden, die bisweilen gnadenlos ausgeplündert wurden – legal, aber vor allem auch illegal –, dann blieb eine Strafverfolgung häufig aus, vor allem, wenn es sich um höhere Funktionäre handelte, die sich der Strafverfolgung aufgrund ihrer Machtstellung wirkungsvoll zu entziehen wußten. Typische Kontrollinstitutionen bei der Korruptionsbekämpfung wie die Rechnungshöfe oder die Justiz hatten nämlich ihre Unabhängigkeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem weitgehend eingebüßt, wurden zu abhängigen Bestandteilen des „Führerstaates“ und konnten ihren Anspruch auf Kontrolle der Exekutive nicht mehr durchsetzen. So durfte beispielsweise der Reichsrechnungshof weder die exorbitanten Rüstungsausgaben noch die staatlichen Finanzzuweisungen an die NSDAP prüfen. Im Jahre 1938 zog der neue Präsident des Reichsrechnungshofes, der Nationalsozialist Hans Müller, die Konsequenz aus dem faktischen Kontroll10

Bericht des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen an den Preußischen Ministerpräsidenten vom 10. 5. 1935, Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 90 P, Lageberichte, 10.3, Bl. 91. 11 Schreiben NSDAP-Reichsschatzmeister Schwarz an den Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, vom 20. 4. 1942, Bundesarchiv Berlin, NS 19/2744, Bl. 6–9.

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kompetenzverlust seiner Institution und ersetzte sie – wie er es formulierte – durch vorausschauende „Unterstützung“ und „Beratung“.12 Überdies politisierte und kontrollierte die NS-Diktatur die Justiz, deren Kompetenzen bei der Bekämpfung von Korruption eng begrenzt wurden. Selbst bei Korruptionsstraftaten, an deren Verfolgung die Nationalsozialisten ein erhebliches Interesse hatten – wie bei den schon erwähnten Unterschlagungen von Mitgliedsbeiträgen der NSDAP – verfügte die Justiz nur über enge Handlungsspielräume. So war es den Staatsanwälten ausdrücklich untersagt, selbständige Ermittlungen durchzuführen sowie Kassenbücher und Belege der NSDAP zu beschlagnahmen.13 Deshalb durften sich die Gerichte in ihrer Urteilsfindung ausschließlich auf Angaben des NSDAP-Reichsschatzmeisters und die Berichte seiner Revisoren stützen. Zudem konnte der Reichsschatzmeister den Ausschluß der Öffentlichkeit herbeiführen, Zeugen und Sachverständige bestimmen und die Verhandlungsführung auf einzelne Tatbestände beschränken. Bei eigenen Ermittlungen stieß die Justiz häufig auf den erbitterten Widerstand höherer NSDAP-Funktionäre, die Strafvereitelung im Amt als selbstverständliche Fürsorgepflicht begriffen und die in ihrer „Kampfzeit“ eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Polizei und Justiz entwickelt hatten. So wußten die Staatspolizeistellen zu berichten, daß die politischen Leiter der NSDAP die Ermittlungsbehörden häufig behinderten und Verdächtige „geradezu protegierten“.14 Im Diensttagebuch des Reichsjustizministers Gürtner sind zahlreiche Fälle verzeichnet, in denen sich Funktionäre der NSDAP über Polizei und Justiz einfach hinwegsetzten und vor allem Richter und Staatsanwälte einschüchterten und bedrohten.15 So teilte der oberbayerische Gauleiter Wagner einem Münchner Staatsanwalt, der in einer Korruptionsstrafsache ermittelte, apodiktisch mit, „daß er die Verhaftung von Amtswaltern der Partei untersage“ und ein entsprechendes Vorgehen der Justiz „unter gar keinen Umständen dulden“ werde. Vielmehr bestehe er darauf, daß zuvor in allen Fällen „sein Einverständnis als Hoheitsträger der Partei eingeholt werde“.16 12 Rainer Weinert, „Die Sauberkeit der Verwaltung im Kriege“. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches 1938–1946. Opladen 1993; vgl. auch Franz-Otto Gilles, Hauptsache sparsam und ordnungsgemäß. Finanz- und Verwaltungskontrolle in den während des Zweiten Weltkrieges von Deutschland besetzten Gebieten. Opladen 1994. 13 Schreiben NSDAP-Reichsschatzmeister Schwarz an Martin Bormann vom 20. 4. 1942, Bundesarchiv Berlin, NS 19/2744, Bl. 6ff., in dem Schwarz ausdrücklich versichert, daß es in keinem einzigen der 10 887 Fälle zu einer Beschlagnahmung von Kassenbüchern und Belegen der NSDAP gekommen war. 14 Bericht der Staatspolizeistelle Köln vom 1. 8. 1934, Geheimes Staatsarchiv BerlinDahlem, Rep. 90 P, Lageberichte, 9.8, Bl. 39. 15 Zur Entstehung und zum Quellenwert des Diensttagebuches siehe Matthias Loeffler, Das Diensttagebuch des Reichsjustizministers Gürtner 1934 bis 1938. Frankfurt am Main 1997. 16 Zit. nach Bundesarchiv Berlin, R 22/929, Bl. 150.

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Die Beseitigung jeder kritischen Öffentlichkeit und die Aufhebung von Machtkontrolle und Gewaltenteilung beförderten jedoch nicht nur das schiere Ausmaß an Korruption. Wie schon erwähnt, zeichnete sich nationalsozialistische Herrschaft durch eine systemimmanente, institutionalisierte Korruption aus, die dem NS-Herrschaftssystem inhärent war und gleichzeitig die politische Kriminalität des Regimes insgesamt widerspiegelte. Politische Korruption wird im allgemeinen als Mißbrauch eines öffentlichen Amtes zu privaten Zwecken definiert und umfaßt Erscheinungsformen wie Bereicherung im Amt, Bestechung und Bestechlichkeit, Patronage und Nepotismus, Unterschlagung und die Vermengung von Amts- mit Privatgeschäften. Das NS-Herrschaftssystem verwischte diese Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, so daß vor allem führende Nationalsozialisten öffentliche Mittel in weitem Umfang für persönliche Zwecke verwenden konnten, indem sie persönliche und öffentliche Angelegenheiten schlichtweg gleichsetzten. Mit der Begründung, daß „der Führer, die Partei und der Staat bekanntlich eins“ seien – wie sich Hitlers Rechtsanwalt Rüdiger Graf von der Goltz ausdrückte17 – wurden Hitler 1934/35 nicht nur seine erheblichen Steuerschulden erlassen – es waren mehrere hunderttausend Reichsmark aufgelaufen. 1935 wurde er sogar von jeglichen Steuerzahlungen befreit.18 Bezeichnenderweise wurde die Gleichsetzung von Führer und Staat niemals rechtlich kodifiziert. Sie beruhte auf keiner normativen Grundlage, sondern auf schlichter Anmaßung. Diese gab Hitler die Möglichkeit, öffentliche Mittel mit obskursten Begründungen zu requirieren und in persönliche Verfügungsfonds umzuleiten. So kassierte Hitler beispielsweise von der Deutschen Reichspost insgesamt 52 Millionen Reichsmark für die Verbreitung seines Konterfeis auf Briefmarken. Der Verkauf seines Buches „Mein Kampf“, das in großem Stil aus öffentlichen Mitteln angekauft werden mußte – zum Beispiel von Standesämtern, die es Neuvermählten bei der Eheschließung schenkten – brachte dem Diktator jährliche Tantiemen in Millionenhöhe ein – steuerfrei, versteht sich. Spenden aus der „Adolf-Hitler-Spende“ der deutschen Wirtschaft wurden auf ein weiteres persönliches Verfügungskonto Hitlers umgeleitet. Die „Adolf-Hitler-Spende“, die den Wirtschaftsunternehmen mehr oder weniger zwangsweise abgepreßt wurde, diente nicht zuletzt dem Ausbau des Obersalzbergs zu einem zentralen Ort der Herrschaftsrepräsentation, dessen Entwicklungsgeschichte die zunehmende Vermengung von Privat-, Partei- und Staatseigentum widerspiegelte. 1932/33 hatte Hitler das „Haus Wachenfeld“ am Obersalzberg noch aus persönlichen Finanzmitteln angekauft. Der weitere Ausbau zum „Berghof“ und der Umbau des gesamten Obersalzberg17 18

Zit. nach Peter-Ferdinand Koch, Die Geldgeschäfte der SS. Hamburg 2000, 252f. Wulf C. Schwarzwäller, Hitlers Geld. Wiesbaden 2001, 159f.

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Areals inklusive Vertreibung der alteingesessenen Eigentümer wurde bereits aus Mitteln der „Adolf-Hitler-Spende“ und öffentlichen Haushaltsmitteln bestritten, obwohl in den Grundbüchern zumeist Hitler beziehungsweise die NSDAP als Eigentümer eingetragen wurden. Insgesamt waren rund 6000 Arbeiter mit dem Umbau des Obersalzberg-Areals beschäftigt, auf dem sich neben Hitler zahlreiche Würdenträger des „Dritten Reiches“ niederließen. Bereits 1933 hatte sich sein Paladin Hermann Göring ein Grundstück von der bayerischen Staatsregierung „schenken“ lassen und darauf ein Landhaus errichtet.19 Die zahlreichen Sonderfonds dienten Hitler zur Finanzierung seiner Kunstsammlungen und des geplanten „Führermuseums“ in Linz, vor allem jedoch seiner – stets steuerfreien – Geschenke und Dotationen, von denen unterschiedlichste Personenkreise profitierten.20 Erhebliche Zuwendungen erhielten Angehörige der politischen und militärischen Elite in Gestalt von monatlichen steuerfreien Aufwandsentschädigungen, vor allem aber von Dotationen, die sich bei Feldmarschällen und Reichsministern in einer durchschnittlichen Höhe von 250 000 Reichsmark bewegten, in Einzelfällen jedoch weit darüber lagen und während des gesamten Kriegszeitraumes gewährt wurden. Generalfeldmarschall Keitel erhielt eine Schenkung von rund 764 000 Reichsmark, Generalfeldmarschall Ritter von Leeb von 888 000 Reichsmark und Generaloberst Guderian gar ein Landgut im Wert von 1,24 Millionen Reichsmark. Vermögen dieser Größenordnung verschenkte Hitler nicht nur aus Dankbarkeit für geleistete Dienste, sie dienten vielmehr der bewußten moralischen Korrumpierung der Empfänger und ihrer Bindung an den „Führer“. Was dem „Führer“ recht war, war anderen führenden Regimerepräsentanten billig. Auch diese verspürten schon bald keine Lust mehr, überhaupt noch Steuern zu zahlen. So waren sämtliche Reichsminister und Reichsleiter der NSDAP exklusiv bei zwei Finanzämtern veranlagt, nämlich Berlin-Mitte und München-Nord, wo ihre Steuerakten wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurden.21 Viele Persönlichkeiten der engeren Regimeführung zahlten überhaupt keine oder stark verminderte Steuersätze, u. a. auf Anweisung des Staatssekretärs im Reichsfinanzministerium, Fritz Reinhardt, der die Steuerhinterziehungen politisch zu decken pflegte. Unter Mißbrauch ihrer Amtsstellung hatten sich viele führende Repräsentanten des Regimes Gutshöfe und Herrensitze, Jagdreviere und Kunstsamm19 Vgl. Ulrich Chaussy, Nachbar Hitler. Führerkult und Heimatzerstörung am Obersalzberg. 2. Aufl. Berlin 1997; Horst Möller/Volker Dahm/Hartmut Mehringer (Hrsg.), Die tödliche Utopie. 3. Aufl. München 2001. 20 Gerd R. Ueberschär/Winfried Vogel, Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten. Frankfurt am Main 1999. 21 Vgl. Erich Bandekow, Über steuerliche Korruptionsfälle von Reichsministern, Reichsleitern usw., Bundesarchiv Koblenz, Kleine Erwerbungen, 544, Bl. 9f.

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lungen verschafft, mit denen sie als Teil einer narzißtischen Selbstinszenierung adeliges Gebaren imitierten.22 Daß der Gauleiter Hinrich Lohse, ein gelernter Sparkassenangestellter, der ab 1941 als Reichskommissar Ostland fungierte, ernsthaft den Wunsch äußerte, das Reichskommissariat seinen Nachfahren als erbliches Lehen zu vermachen, war bezeichnend für die Versuche vieler nationalsozialistischer Emporkömmlinge, sich als Repräsentanten eines neuen Herrscheradels zu inszenieren. Eine aufwendige Repräsentation sollte dabei die eigene Machtstellung sowohl nach außen wie auch innerhalb der NS-Bewegung demonstrieren. Allein die größtenteils zusammengeraubte Kunstsammlung des „Reichsmarschalls“ Hermann Göring, mit der dieser auf seinem Repräsentationssitz „Karinhall“ herumprotzte, umfaßte unter anderem 1375 Gemälde, 250 Skulpturen und 168 Wandteppiche, die einen Gesamtwert von 600 Millionen Reichsmark ausmachten. Darüber hinaus besaß Göring einen „Reichsjägerhof“ im ostpreußischen Rominten, eine Villa im Hof des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin, ein „Alpenhaus“ auf dem Obersalzberg, die Burg Veldenstein bei Neuhaus an der Pegnitz sowie insgesamt fünf Jagdhäuser in Pommern, auf dem Darß, in Nidden und am Fluß Pait in Ostpreußen sowie am Königssee.23 Die Burg Veldenstein hatte Göring von einer Patentante zum Geschenk erhalten, nachdem diese durch Protektion Görings die lukrative Kondomfabrik „Fromms Act“ hatte „arisieren“ können.24 Dem ostpreußischen Gauleiter Erich Koch standen jährlich rund 30 Millionen Reichsmark an Erträgen aus der nach ihm benannten „Erich-Koch-Stiftung“ zur persönlichen Verfügung, die er zur Finanzierung von Günstlingen und seiner aufwendigen persönlichen Hofhaltung verwendete, verfügte Koch doch allein in Ostpreußen über drei Residenzen.25 Auch andere Gauleiter hatten nach ihnen benannte Stiftungen als persönliche Finanzpools eingerichtet, die sich aus öffentlichen Haushaltsmitteln, aber auch aus Zwangsspenden speisten, die Juden im Rahmen der „Arisierung“ abgenötigt worden waren. Denn die persönliche Bereicherung blühte im „Dritten Reich“ vor allem in jenen Herrschaftsbereichen, in denen sich der nationalsozialistische Rassismus mit absoluter Macht gegenüber dessen Opfern verband. Noch vor der Konfiszierung der „Judenvermögen“ durch den Staat versuchte sich vor allem die NSDAP auf findige Weise zu bereichern. Eines der bizarrsten Beispiele war der nach dem Novemberpogrom 1938 entstandene „Scherbenfonds“ der NSDAP-Gauleitung Berlin. So hatte Gaupropagandaleiter Wächter hohen 22

Vgl. Bajohr, Parvenüs und Profiteure (wie Anm. 3), 62–74. Volker Knopf/Stefan Martens, Görings Reich. Selbstinszenierungen in Carinhall. Berlin 1999, 158ff. 24 Vgl. Götz Aly/Michael Sontheimer, Fromms. Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel. Frankfurt am Main 2007. 25 Zur Geschichte der „Erich-Koch-Stiftung“ siehe u. a. die neunteilige Artikelserie im „Ostpreußenblatt“, 15. 1. 1953–15. 4. 1953; Bundesarchiv Berlin, R 2301/2073/2, Bl. 3ff., R 49/130; Paul Wolff, Ohne Maske. Ein Tatsachenbericht. Hamburg 1948.

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Vertretern der Berliner Juden, unter anderem Leo Baeck, eine „freiwillige Spende“ in Höhe von fünf Millionen Reichsmark als „Wiedergutmachung“ für entstandene Schäden abgepreßt.26 Aus diesem „Scherbenfonds“ wurden unter anderem das „Staatsbegräbnis des Parteigenossen vom Rath“ in Höhe von 300 000 Reichsmark finanziert, während die Berliner Parteiorganisation 200 000 Reichsmark und die SA und SS 70 000 Reichsmark „für tagelangen Einsatz, auch nachts“ erhielten. Politische Leiter der NSDAP, die sich bei den nächtlichen Plünderungen und Zerstörungen Hemd und Mantel zerrissen hatten, wurden ebenso aus dem „Scherbenfonds“ entschädigt wie die Witwe eines Obersturmführers, dessen plötzlicher Tod auf die „übermenschlichen Anstrengungen“ bei der Vorbereitung des Staatsbegräbnisses zurückgeführt wurde.27 Auch das Eigentum der ausgeplünderten, deportierten und ermordeten Juden wurde keineswegs ausschließlich der Reichskasse zugeleitet, sondern in hohem Maße unterschlagen und verteilt.28 Es diente in besonderer Weise als „Schmiermittel“ im Geflecht nationalsozialistischer Herrschaftscliquen, die durch gegenseitigen Austausch materieller „Gefälligkeiten“ fundiert und stabilisiert wurden. Um seinem „Führer“ gefällig zu sein, kaufte beispielsweise der Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete, Seyss-Inquart, für über acht Millionen Reichsmark eine Kunstsammlung auf, die er dem „Führermuseum“ in Linz vermachte. Das Geld entnahm er ohne Zustimmung des Reichsfinanzministers dem beschlagnahmten „Judenvermögen“.29 Henriette von Schirach, die Ehefrau des Wiener Gauleiters und ehemaligen „Reichsjugendführers“ Baldur von Schirach, berichtete in ihren Lebenserinnerungen, daß ihr während eines Aufenthaltes in den Niederlanden unverblümt und offen Bereicherungsangebote gemacht wurden. Ein SS-Offizier zeigte ihr Berge von Eheringen und Edelsteinen und forderte sie auf: „‚Sie können zu lächerlichen Preisen Brillanten kaufen. Wollen Sie? Tadellose Steine, von Fachleuten sorgsam aus den Fassungen gebrochen, ich muß ihnen nicht erklären, wem sie gehörten.‘ […] Natürlich hatten sie gedacht, daß ich käme, wie ein Leichenfledderer einzukaufen, denn der Preis war wohl das Allerunwichtigste bei diesem Geschäft; wichtig war nur, daß ich zu den Mächtigen gehörte, die man nicht zur Rechenschaft ziehen konnte für das, was sie sahen und taten.“30 26 Zum Folgenden siehe Hans-Erich Fabian, Der Berliner Scherbenfonds, in: Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums 1, Nr. 37 (8. 11. 1946). 27 Ebd. 28 Vgl. Bajohr, Parvenüs und Profiteure (wie Anm. 3), 10ff.; ders., The Holocaust and Corruption, in: Gerald D. Feldman/Wolfgang Seibel (Eds.), Networks of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business and the Organization of the Holocaust. New York/Oxford 2005, 118–138. 29 Bundesarchiv Berlin, R 2301/2073/2, Bl. 423f. 30 Henriette von Schirach, Der Preis der Herrlichkeit. Erlebte Zeitgeschichte. München/ Berlin 1975, 214.

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In Hamburg hatte der Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann unter anderem mit Hilfe von „Arisierungsspenden“ die „Hamburger Stiftung von 1937“ gegründet. Daraus ließ der Gauleiter Führern der NSDAP, ihrer Organisationen und Gliederungen Zahlungen in Form nicht näher spezifizierter Zuschüsse zukommen. Das Gros der Geldzahlungen wurde jedoch zur – wie es hieß – „Entschuldung verdienter alter Parteigenossen“ verwendet, denen der Gauleiter das Geld persönlich übergab, um durch den Akt der Übergabe ein Fürsorge-Treue-Verhältnis und die persönliche Bindung des Empfängers an den Gauleiter symbolisch zu inszenieren.31 Begründet wurden solche Zahlungen mit den vermeintlichen Benachteiligungen, denen Nationalsozialisten in der Zeit der Weimarer Republik ausgesetzt gewesen seien, sowie mit den vielfältigen Opfern, die sie für die „Bewegung“ auf sich genommen hätten. Hier kamen drei Merkmale zum Ausdruck, die die nationalsozialistische Bewegung in besonderer Weise für korrupte Verhaltensweisen anfällig machte: erstens ihre Cliquen- und Klientelstrukturen, zweitens die aus einer Opfer-Stilisierung erwachsende Wiedergutmachungsmentalität, und drittens die betonte Rücksichtslosigkeit von NS-Funktionären in der Selbstaneignung von Ressourcen. Alle drei Merkmale hatten sich in der NS-Bewegung schon lange vor 1933 ausgeprägt. Diese zerfiel in eine Ansammlung von Cliquen und Kameraderien, die keiner Machtkontrolle und keinem Rechtfertigungszwang unterlagen. Die Cliquenbildung in der Partei ging vor allem auf den Umstand zurück, daß die NSDAP keine institutionalisierten Formen der Interessenwahrnehmung und des Interessenausgleichs kannte, wie sie etwa durch Programmdiskussionen und Abstimmungen hergestellt werden. Zudem kannte sie keine innerparteiliche Demokratie beziehungsweise Wahlen, die ein wichtiges Element der Herrschaftslegitimation wie der Machtkontrolle darstellen. Ausschlaggebend für die Stellung des einzelnen war dessen personale Bindung an den nächsthöheren „Führer“ beziehungsweise seine Einbindung in parteiinterne Personalgeflechte. Wer sich im Rahmen einer Herrschaftsclique gefolgschaftstreu verhielt, hatte auch Anspruch auf Zuwendung und Fürsorge und machte diese auch geltend, so daß die Politischen Leiter der NSDAP gezwungen waren, durch Verteilung von Stellen, Posten, Funktionen und nach 1933 vor allem von materiellen Zuwendungen ihre Gefolgschaft bei der Stange zu halten und ihre parteiinterne Machtstellung zu akzentuieren. Die ausgedehnte Ämterpatronage der Nationalsozialisten nach 1933 und das personale Amtsverständnis vieler Nationalsozialisten in öffentlichen 31

Staatsarchiv Hamburg, Bestand Hamburger Stiftung von 1937; Zahlungen an Parteigenossen wurden schon vor Gründung der „Hamburger Stiftung von 1937“ aus dem Haushaltstitel „Förderung vaterländischer Einrichtungen“ geleistet. Vgl. ebd. Finanzdeputation IV, VuO II A 1a XVI B 8b III B.

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Funktionen hatten hier ihre Wurzeln. Cliquen, Seilschaften und Kameraderien als Substruktur der nationalsozialistischen Bewegung legen es überdies nahe, die NS-Herrschaft nicht allein als komplexes, bürokratisch-institutionelles System zu interpretieren, sondern auch als personalen Herrschaftsverband, der von neo-feudalen Zügen nicht frei war. Manche NS-Funktionsträger verstanden sich nicht allein als akkurat arbeitendes Rädchen eines bürokratischen Großgetriebes, sondern auch als Teil einer verschworenen Gemeinschaft. Deutlich wurde die ausgedehnte Ämterpatronage nach der Machtübernahme 1933, als mehrere hunderttausend Parteimitglieder durch Sonderaktionen des Arbeitsamtes in den öffentlichen Dienst und in Unternehmen in öffentlichem Besitz gelangten. Teilweise wurden diese Arbeitsstellen auch von den Gliederungen der NSDAP vergeben, die einen bestimmten Stellenpool zur freien Verfügung erhielten. So durfte in Hamburg die NSDAP-Gauleitung 43% aller freien Angestelltenstellen im öffentlichen Dienst besetzen, die SA ebenfalls 43% und die SS 14%.32 Nationalsozialisten genossen im öffentlichen Dienst erhebliche Privilegien. Dienstzeiten in der Partei wurden auf das Besoldungsdienstalter im öffentlichen Dienst angerechnet, für Nationalsozialisten galten vielfach Mindestlöhne, sie genossen häufig einen besonderen Kündigungsschutz und konnten mit sogenannten Privatdienstverträgen das Problem umgehen, daß sie in der Regel nicht den Laufbahnvoraussetzungen des öffentlichen Dienstes genügten. Nationalsozialisten bezogen darüber hinaus vielfältige Leistungen aus öffentlichen Haushaltsmitteln, zum Beispiel „Entschuldungsbeihilfen“ oder im Einzelfall auch einen städtischen Zuschuß – wie es im Protokollbuch einer Stadtverordnetenversammlung hieß – zum Ersatz eines „im Kampf mit Kommunisten verlorenen Zahns“.33 Als korruptionsfördernd erwies sich auch ein zentrales Element des Selbstbildes der nationalsozialistischen Bewegung, das vor 1933 der Integration und Mobilisierung ihrer heterogenen Anhängerschaft gedient hatte, beruhte doch deren innerer Zusammenhalt auf der Selbstilisierung zu einer Gemeinschaft von Opfern. Die NSDAP bot Ängsten und Frustrationen ihrer Anhänger eine eingängige Interpretation an, nach der aktive Nationalsozialisten Opfer des „Systems“ waren, die zudem durch ihren Einsatz für die „Bewegung“ fortwährend Nachteile erlitten. Viele NS-Aktivisten tendierten dazu, die Vergeblichkeit von Aufstiegshoffnungen und durch Arbeitslosigkeit zerstörte Lebensplanungen dem verderblichen Wirken des sogenannten „Weimarer Systems“ zuzuschreiben und damit ihre Arbeitslosigkeit als Opfer im Dienste des Nationalsozialismus umzudefinieren. Christoph Schmidt etwa 32

Staatsarchiv Hamburg, Senatskanzlei-Personalabteilung I, 1933 Ma 39, Bl. 25a. So ein Beschluß der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Gladbeck. Vgl. Wendel vorm Walde, Die Gladbecker Gemeindeorgane 1933–1939, in: Vestische Zeitschrift 84/85, 1985/86, 187–239, hier 233. 33

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hat in einer Untersuchung über Lebensberichte „alter Kämpfer“ den zentralen Stellenwert dieser Opfer-Stilisierung eindrucksvoll herausgearbeitet: „Mehr als die Hälfte erlitt den Schilderungen zufolge Nachteile im Beruf oder am Arbeitsplatz, weil sie Nationalsozialisten waren. Vor allem die jüngeren und älteren Jahrgänge berichten von solchen ‚Opfern‘ für die Bewegung: Rund 30% der Berichterstatter interpretierten die ökonomischen Krisen in ihrem Lebenslauf als Ergebnis ihrer Betätigung für die NSDAP. Die Schilderungen grenzen zum Teil an wahnhafte Berichte von permanenter Verfolgung und Nachstellung in einer gänzlich feindlichen Umwelt.“34 In gewisser Hinsicht kann man die NSDAP deshalb auch als Partei des organisierten Selbstmitleids bezeichnen. Diese Grundhaltung weckte unter den Anhängern der NSDAP nach der sogenannten Machtergreifung umfassende Erlösungshoffnungen. Die vermeintlich durch politisches Engagement verursachte Benachteiligung der nationalsozialistischen Anhänger sollte nun durch politische Maßnahmen „wiedergutgemacht“ werden. In Österreich nahmen sie nach dem „Anschluß“ 1938 besonders intensive Formen an, weil sich die „ostmärkischen“ Parteigenossen nach den Worten Josef Bürckels, des „Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, durch einen spezifischen „Wiedergutmachungskomplex“ auszeichneten.35 Diese Wiedergutmachungsmentalität leistete ebenfalls der ausgedehnten Patronage und Vetternwirtschaft Vorschub. Auch wenn diese zweifellos den Kriterien politischer Korruption entsprachen, so begriff mancher NS-Aktivist die Patronage keineswegs als Korruption, sondern als eine Form der Fürsorge, auf die er einen moralischen Anspruch zu haben glaubte. Die lebhaften Klagen aus der Bevölkerung über die spezifische Alimentierung von NSFunktionären und deren „bonzenhaftes“ Gehabe machen freilich deutlich, daß selbst während der NS-Herrschaft die Bevölkerungsmehrheit diese Sicht der Dinge nicht teilte und als skandalös empfand. Neben Cliquenstrukturen und Kameraderien sowie der aus der Opferstilisierung erwachsenden Wiedergutmachungsmentalität gab es noch ein drittes Element, das die NS-Bewegung für die Korruption prädestinierte beziehungsweise die Hemmschwellen ihrer Aktivisten gegenüber der Korruption absenkte. Wer in der NS-Bewegung formale Bedenken oder gar moralische 34

Christoph Schmidt, Zu den Motiven „alter Kämpfer“ in der NSDAP, in: Detlev Peukert/ Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981, 28. 35 Zum Folgenden siehe Isabella Ackerl, Nationalsozialistische „Wiedergutmachung“, in: Anschluß 1938. Protokoll eines Symposiums in Wien am 14. und 15. März 1978. München 1981, 206–219; Hans Witek, „Arisierungen“ in Wien. Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik, in: Emmerich Talos u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938 bis 1945. Wien 1988, 199–216; Gerhard Jagschitz, Von der „Bewegung“ zum Apparat. Zur Phänomenologie der NSDAP 1938–1945, in: ebd. 487–516.

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Einwände äußerte, geriet in ihr schnell ins Abseits. Beides – sowohl formale Bedenken als auch moralische Einwände – war geeignet, einen sofortigen Wutanfall Hitlers auszulösen, und galt als Indiz mangelnder Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit. Wer sich beispielsweise materielle Ressourcen ohne Rücksicht auf Zuständigkeiten einfach aneignete, demonstrierte hingegen Willensstärke und akzentuierte überdies seine Machtstellung in der NS-Hierarchie. Gefragt war nicht der bürokratische Bedenkenträger, in der Hitlerschen Terminologie als „Tintenritter“ bezeichnet, sondern der sogenannte Draufgänger, der sich um ethische Prinzipien nicht scherte und formale Regelungen fast lustvoll übertrat, wenn dies der Bewegung beziehungsweise ihm selbst nützlich war. Man könnte diesen Mechanismus auch als eine habituelle Selektion bezeichnen, in deren Verlauf sich besonders skrupellose Funktionäre durchsetzten, für die nicht zuletzt der Übergang zwischen „Mein“ und „Dein“ fließend war. In einer Bewegung, in der das Wort „Rücksichtslosigkeit“ positiv besetzt war, zum Beispiel als „rücksichtsloses Durchgreifen“ oder „rücksichtsloses Ausrotten“, in einer Bewegung, in der Toleranz als „Humanitätsduselei“ denunziert wurde, triumphierte das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ über ein von normativen Prinzipien und Werten bestimmtes Verhalten. „Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode“, brachte Propagandaminister Goebbels diese Haltung auf den Begriff.36 Der idealistische Phrasenschwall der NS-Propaganda konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem Nationalsozialismus ein Grundwertekern fehlte und daß in der NS-Bewegung Selbstanmaßung und Bandenmoral regierten. Die NSDAP propagierte einen Idealismus ohne Ideale, der die materielle Gier vieler Funktionäre nur notdürftig verschleierte. Und während die NS-Bewegung in ihrer Selbstdarstellung vor allem Autorität, Disziplin und Ordnung zu verkörpern suchte, repräsentierte der Typus des skrupellosen, an formale Regeln nicht gebundenen Funktionärs ein de facto anarchisches Element. Auf diese Weise verbanden sich Autorität und Anarchie im Nationalsozialismus zu einer schillernden Melange. Freilich warfen die der NS-Bewegung wie der NS-Diktatur inhärenten Cliquen- und Klientelstrukturen und deren Hang zur Korruption grundsätzliche Probleme für die nationalsozialistische Herrschaft auf. Zum einen innerhalb der nationalsozialistischen Organisationen selbst, die nach 1933 ihren Grundcharakter radikal änderten und sich von politischen Kampfgemeinschaften zu bürokratischen Massenorganisationen entwickelten, die die Gesamtheit der „Volksgemeinschaft“ zu integrieren beanspruchten. Schon wenige Monate nach der NS-Machtübernahme befanden sich die sogenannten „Altparteigenossen“ in der Minderheit. Nun traten Bevölkerungsgruppen in die NSDAP ein – wie zum Beispiel Angestellte und Beamte des Öffentlichen 36 Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. T. 1. Bd. 9. München 1998, 379, Eintragung vom 16. 6. 1941.

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Dienstes – die ihre bereits errungene berufliche Stellung durch parteipolitisches Engagement abzusichern suchten und Parteiarbeit als unbezahlten Teil ihrer Berufstätigkeit ansahen. Sie blickten bisweilen mit Verachtung auf jene „alten Kämpfer“ herab, die aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Privilegien genossen und die sie für unfähig hielten, während umgekehrt jene Altparteigenossen, die sich nach 1933 zukurzgekommen wähnten, viele Neumitglieder als „Karrieristen“ und „Reaktionäre“ mißtrauisch beäugten, als Personen, die mit ihrer mechanistischen Kälte und Geschäftigkeit die subkulturelle Wärme der NS-Bewegung fortbliesen. Noch weniger wurden Patronage und Korruption von jenen, oft jüngeren NS-Funktionsträgern goutiert, die die nationalsozialistischen Leistungs- und Aufopferungsparolen durchaus ernst nahmen und aus einer gewissen Leistungs-, Opfer- und Aufstiegsorientierung der NSDAP beigetreten waren. Die Lebenserinnerungen der BDMFührerin Melita Maschmann spiegeln die Einstellung dieses Funktionärstypus prägnant wider: „Der dickbäuchige, versoffene Ortsgruppenleiter oder der Arbeitsfrontfunktionär waren allmählich zu einem Typus für mich geworden, den ich mehr haßte als die Gegner der Partei. Eines Tages, so rechnete ich, würden diese mediokren Bonzen ausgestorben sein, und dann würde eine Generation in die Verantwortung hineinwachsen, die als Jugendführer gelernt hatte, freiwillige Selbstdisziplin zu üben.“37 Größer noch war der Unmut über die Korruption in der Bevölkerung. Trotz ihrer Tabuisierung gehörte die Korruption zum bevorzugten Gesprächsstoff, ja entwickelte sich um so mehr zu einem „Reizthema“ der informellen Öffentlichkeit, als sie in der offiziellen Regimepropaganda weitgehend tabuisiert wurde. Dieses Reizthema trug mit dazu bei, daß die Politischen Leiter der NSDAP insgesamt nie wirklich populär wurden. In den Anfangsjahren der NS-Herrschaft registrierten fast sämtliche Stapostellen, daß das Vertrauen der Bevölkerung wegen der Korruption einen „argen Stoß erlitten“ habe. Die Forderung nach „Reinigung der Partei“ könne daher nicht ohne „schärfste Schädigung von Volk und Staat“ ignoriert werden. „Kann es Wunder nehmen“, fragte der Berichterstatter der Staatspolizeistelle Harburg-Wilhelmsburg im April 1934, „daß große Teile der Bevölkerung sich enttäuscht fühlen und an der Bewegung irre werden, wenn SS-Führer, Amtswalter und Vertrauensmänner der Arbeiterschaft Unterschlagungen verüben, mit dem Gelde um sich werfen und diese Taten nach Entdeckung teilweise von vorgesetzten Stellen vertuscht werden, bis die Polizei von sich aus dahinter kommt?“38 Mit ähnlicher Tendenz berichtete die Staatspolizeistelle Berlin im September 1935: „Mit Erbitterung wird überall davon gesprochen, daß selbst höhere Parteileiter ein höchst anstößiges Leben führen, sich 37

Melita Maschmann, Fazit. Mein Weg in die Hitler-Jugend. München 1979, 93. Bericht der Staatspolizeistelle Harburg-Wilhelmsburg vom 8. 4. 1934, Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 90 P, Lageberichte, Nr. 3.3, Bl. 10.

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Schlemmereien hingeben, Unterschlagungen und Veruntreuungen begehen und um sich einen Byzantinismus großziehen, der an Vorkriegszeiten erinnert.“39 Vor allem Arbeiter und Erwerbslose beklagten sich über ein „Bonzentum, das sich breit gemacht habe und dem der Systemzeit nicht nachstehe“40, meldete die Staatspolizeistelle Köln im Dezember 1935. Freilich flaute diese Kritik in den Folgejahren zunehmend ab. „Mit der Protektionswirtschaft und Korruption haben sich große Kreise der Bevölkerung abgefunden“, meldete die sozialdemokratische Exilorganisation SOPADE im November 1937.41 Immer mehr trat die Korruption im Bewußtsein der Bevölkerung angesichts der innen- und außenpolitischen „Erfolge“ der Nationalsozialisten in den Hintergrund, nahmen viele die Bereicherung und Günstlingswirtschaft als Schattenseiten eines ansonsten erfolgreichen Regimes hin. Zudem war nicht zu übersehen, daß die Kritik der Bevölkerung an der Korruption eher im Bereich der partiellen Regimekritik blieb, nie die nationalsozialistische Herrschaft insgesamt in Frage stellte und vor allem die Person Hitlers von jeglicher Kritik ausnahm. „Wenn das der Führer wüßte“ wurde zum geflügelten Wort, das einerseits Kritik an den Zuständen im Regime zum Ausdruck brachte, aber diese Kritik dennoch regimekonform formulierte, nämlich als Abweichung von dem mit Hitler identifizierten Ideal. Der Führer-Mythos entwickelte innerhalb der NSDAP wie in der Bevölkerung eine enorme Integrationskraft, die durch die Kritik an der Korruption keineswegs abnahm, sondern paradoxerweise sogar gestärkt wurde. „Die Bevölkerung weist demgegenüber stets auf das zurückhaltende und bescheidene Auftreten des Führers hin, der nach wie vor das restlose Vertrauen besitzt und infolgedessen auch an seinem Geburtstag allenthalben in herzlichster Weise gefeiert wurde“, stellte der Berliner Polizeipräsident im Mai 1935 fest.42 Kritiker trösteten sich überdies mit der Hoffnung, daß Hitler mit derlei Erscheinungen irgendwann aufräumen werde. Zudem darf nicht übersehen werden, daß an der Korruption viele – und nicht nur wenige Mächtige – partizipierten und daß generell – jenseits des Problemkomplexes der Korruption – die Früchte verbrecherischen Handelns nicht nur einige wenige ernteten. Wenn allein in einer Stadt wie Hamburg mehr als 100 000 Personen zwischen 1941 und 1945 an der öffentlichen Versteigerung des Besitzes 39

Bericht der Staatspolizeistelle Berlin für August 1935, ebd. 2.1, Bl. 110. Bericht der Staatspolizeistelle Köln vom 10. 12. 1935, ebd. 9.9, Bl. 79. 41 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 4, 1937, 1599. 42 Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 90 P, Lageberichte, 2.2, Bl. 104. Die Staatspolizeistelle Breslau vermerkte in einem Lagebericht vom 5. Mai 1935: „Die schlichte Lebenshaltung des Führers, seine klaren, sachlichen und kraftvollen Worte, welche von dem Wortschwall anderer wohltuend abstechen, lassen bei Mißständen die Meinung dahingehend zusammenfassen ‚wenn das der Führer wüßte‘.“ Ebd. 11.1, Bl. 176. 40

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deportierter und ermordeter Juden teilnahmen43, dann deutet dies das Ausmaß gesellschaftlicher Verstrickung und Nutznießerschaft an. Zwar profitierte nicht jeder gleichermaßen von der nationalsozialistischen Raub- und Eroberungspolitik, doch trug die nationalsozialistische Volksgemeinschaft immer auch Züge einer Beutegemeinschaft, von der sich die NS-Machthaber nicht zuletzt korrumpierende Bindungswirkungen versprachen.44 In einem Staat, in dem Raub und Ausplünderung, wie sie besonders im Vernichtungskrieg in Osteuropa praktiziert wurden, gewissermaßen Teil der Staatsräson waren, relativiert sich auch der Blick auf die Korruption – als persönliche Variante materieller Vorteilsnahme, die zugleich allgemeines Prinzip nationalsozialistischer Staatspolitik war.

43

Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945. 2. Aufl. Hamburg 1998, 331–338. 44 Bei allem Dissens im Detail wird man Götz Aly nicht absprechen können, auf diesen Zusammenhang in besonderer Weise hingewiesen zu haben. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main 2005.

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Bolsche Vita in der DDR? Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus* Von

André Steiner Korruption im Staatssozialismus sollte es nicht geben; sie hatte als ein Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft zu gelten. Bei dieser Charakteristik konnten sich die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), als der herrschenden Partei, und ihre Ideologen darauf berufen, daß schon die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus Korruption als einen immanenten Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet hatten. Vor allem Lenin sah sie im Zusammenhang mit seiner Kennzeichnung des Imperialismus als parasitären und faulenden Kapitalismus, in dem eben auch Korruption herrsche beziehungsweise die bürgerliche Gesellschaft selbst korrupt sei. Implizit hieß das, daß diese mit der Ablösung des Imperialismus – „als letztem Stadium des Kapitalismus“ – ebenso verschwinden würde.1 Ungeachtet der in der Sowjetunion verbreitet weiter anzutreffenden Bestechlichkeit, die von Lenin selbst noch eingeräumt wurde2, bildeten diese Vorstellungen die Grundlage für die entsprechenden Leitbilder in den nach 1945 unter sowjetische Vorherrschaft gelangenden Ländern im allgemeinen und der SBZ/DDR im speziellen. Das zumindest legitimatorische Ziel des alternativ zum marktwirtschaftlichen System etablierten Sozialismus sowjetischer Prägung war es, größtmögliche Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Davon ausgehend sollte – wie es Ende der 1950 Jahre auf einem Parteitag der SED beschlossen wurde – der sozialistische Staat „seinen Bürgern durch Überzeugung, aber wenn nötig auch mit den Mitteln des Gesetzes [helfen], die Lebensweise der kapitalistischen Zeit – den scheinheilig verbrämten nackten Egoismus, die kleinliche Sorge um das Privateigentum, die moralische Indif* Für Anregungen zu dem vorliegenden Aufsatz danke ich den Teilnehmern der Tagung „Geld – Geschenke – Politik“ sowie Peter Hübner und Matthias Judt. 1 Vgl. u. a. Wladimir Iljitsch Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ [1916], in: ders., Werke. Bd. 23. Berlin 1964, 18– 71, 39, 68; ders., Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus [1916], in: ebd. 102–118, 103. 2 Wladimir Iljitsch Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, in: ders., Werke. Bd. 33. Berlin 1966, 40–60, 59.

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ferenz, die Gangstersitten und die Herzensroheit – zu überwinden und abzulegen.“3 Solche Vorgaben hingen mit dem Bild vom „sozialistischen Menschen“ zusammen, das der Realität aber nicht standhalten konnte. Und auch Mitte der 1970er Jahre hieß es entsprechend im neuen SED-Programm: „Der sozialistischen Gesellschaft sind Handlungsweisen wesensfremd, wie sie in Egoismus und Raffgier, im Spießertum, im Streben, sich auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern, zum Ausdruck kommen.“4 In einer Gesellschaft ohne Egoismus und Bereicherungssucht konnte auch keine Korruption vorkommen, wobei in offiziellen Verlautbarungen – wie den angeführten – bereits der Terminus peinlichst vermieden wurde. Die aus diesem Leitbild resultierende weitgehende Tabuisierung von Korruption verhinderte zumindest Debatten in den Massenmedien dazu fast vollständig. Im Zuge des sich abzeichnenden Zusammenbruchs der DDR räumte die „Berliner Zeitung“ Ende Oktober 1989 ein, daß Korruption ebenso wie Amts- und Machtmißbrauch zu den Begriffen zählten, „die in unseren Medien bis vor kurzem fast nur in westlichen Ländern angeprangert wurden“.5 Bis dahin war nur selten und wenn, dann eher in regionalen Zeitungen über Korruptionsfälle berichtet worden. Das geschah offenbar nur, wenn es herrschaftstaktisch angezeigt erschien. Inwieweit damit auch der weiteren Verbreitung von Korruption vorgebeugt werden sollte, die aus dem Verlust an Vertrauen bei Information über Korruption resultierte, also dem von Karsten Fischer als „Dialektik der Aufklärung von Korruptionsfällen“ beschriebenen Phänomen6, müssen weitere Untersuchungen zeigen. In den Lenkungs- und Kontrollinstitutionen des Staates und der Partei wurde intern gleichwohl über Erscheinungen der Korruption und das Vorgehen dagegen gesprochen. Punktuell kam es auch zu entsprechenden Gerichtsprozessen. Allerdings ging es dabei um Korruptionspraktiken auf nachgeordneten Ebenen. Erst als das SED-Regime im Herbst 1989 in sich zusammenzubrechen begann, berichteten DDR-Journalisten von verschiedenen Zeitungen und vom DDR-Fernsehen über den Amtsmißbrauch zunächst von staatlichen, Gewerkschafts- und Parteifunktionären eher der unteren und mittleren Ebe3

Beschluß des V. Parteitages über den Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat, in: Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der SED, 10. bis 16. Juli 1958. Berlin (Ost) 1959, 1329–1416, 1392. 4 Programm der SED, in: Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der SED in Berlin 18.–22. Mai 1976. Bd. 2. Berlin (Ost) 1976, 209–266, 250. 5 Zitiert nach: Thomas Schuhbauer, Umbruch im Fernsehen, Fernsehen im Umbruch. Die Rolle des DDR-Fernsehens in der Revolution und im Prozeß der deutschen Vereinigung 1989–1990 am Beispiel des Jugendmagazins „Elf 99“. Berlin 2001, 225. 6 Karsten Fischer, Korruption als Problem und Element politischer Ordnung. Zur Geschichtlichkeit eines Skandalons und methodologischen Aspekten historischer Komparatistik, in diesem Band.

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nen.7 Als skandalös erschien dabei vor allem die moralische Verfehlung. Das wurde von immer mehr Medien aufgriffen und damit die Empörung vervielfacht. Zudem bemächtigten sich jetzt Institutionen des bisherigen Regimes dieses Themas. Die Volkskammer setzte einen Untersuchungsausschuß ein, und der Generalstaatsanwalt leitete Ermittlungsverfahren ein. Damit wollten sie sich aber vor allem selbst Legitimation verschaffen. Innerhalb von wenigen Wochen geriet der in der Bevölkerung durchaus bekannte, aber mit seinen Privilegien im einzelnen geheimnisumwitterte und von vielen Gerüchten begleitete Wohnort der SED-Politbüromitglieder, die Waldsiedlung Wandlitz, in den Mittelpunkt der Berichterstattung und der Ermittlungen.8 Die Medienberichte über Wandlitz waren letztlich auch ein Spiegelbild der darüber schon früher geführten Diskussionen in der Bevölkerung. Mit den unten noch näher zu beleuchtenden Privilegien von Wandlitz gerieten schließlich weitere Fälle von Amtsmißbrauch und Korruption ins Blickfeld der Öffentlichkeit, auf die sich das dem Volksmund zugeschriebene Wort vom „Bolsche Vita“ bezog. Die Empörung in der Bevölkerung trieb den Erosionsprozeß der SED-Macht voran.9 Ähnliches war bereits knapp zehn Jahre vorher in Polen zu beobachten gewesen, wo die Empörung über die „Selbstbedienungsmentalität“ der Parteielite bis zu den mittleren Ebenen hinunter den Aufstieg der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność begünstigte.10 Bemerkenswerterweise berichtete die SED-Presse über die in Polen öffentlich erörterten Korruptionsvorwürfe gegen die Parteielite damals nicht. Nun kam es im letzten Jahr der DDR und nach der Vereinigung zu umfangreichen staatsanwaltlichen Ermittlungen auf Basis der Ergebnisse des im November 1989 von der Volkskammer eingesetzten Untersuchungsausschusses zu Korruption und Amtsmißbrauch, auf die 39 Gerichtsverfahren gegen 53 hochrangige DDR-Funktionäre, darunter Erich Honecker, Erich Mielke, Harry Tisch, Günter Mittag und Alexander Schalck-Golodkowski, folgten.11 Der Forschungsstand zur Korruption in der DDR ist bisher eher dürftig. Abgesehen von einigen rechtswissenschaftlichen Arbeiten ist sie bisher nicht 7

Vgl. auch zu dem folgenden: Schuhbauer, Umbruch im Fernsehen (wie Anm. 5), 224–247. Eine Broschüre des Journalisten des „Neuen Deutschlands“ bildet diesen Prozeß ab: Peter Kirschey, Wandlitz Waldsiedlung – die geschlossene Gesellschaft. Versuch einer Reportage. Gespräche, Dokumente. Berlin 1990. 9 Schuhbauer betrachtet diesen Skandal sogar als „unmittelbaren Auslöser für den Zusammenbruch der SED“. Vgl. Schuhbauer, Umbruch im Fernsehen (wie Anm. 5), 216. 10 Vgl. Malgorzata Mazurek, Filling the Gap between Plan and Needs: Social Networks in a Local Government System in Communist Poland, in: Annette Schuhmann (Hrsg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR. Köln 2008. 11 Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Amtsmißbrauch und Korruption. Bd. 3. Berlin 2002, XXVII; Zu den einzelnen Personen siehe: Andreas Herbst/Dieter Hoffmann/Helmut Müller-Enbergs/Jan Wielgohs (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Berlin 2006. 8

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untersucht worden. Zur Verfügung stehen die Materialien des erwähnten Untersuchungsausschusses und der nach dem Ende der DDR geführten Prozesse.12 Dort wird allerdings nur das korrupte Verhalten der SED-Spitze abgebildet. Jedoch liegt eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zur Korruption in der Sowjetunion vor, die hier mit heranzuziehen ist, wobei dem an sich lohnenden Thema nicht nachgegangen werden kann, inwieweit längere historisch-kulturelle Prägungen Unterschiede in Korruptionspraktiken und -ausmaß zwischen der DDR und den ost- beziehungsweise ostmitteleuropäischen Ländern bestimmen. Für eine vertiefte Analyse der Korruption in der DDR müßten die Justizunterlagen auf entsprechende Prozesse hin ebenso durchgesehen werden wie die Überlieferung staatlichen Handelns. Um den entsprechenden Diskussionen in der Bevölkerung nachzuspüren, wären die vielfältigen Stimmungs- und Meinungsberichte, die von den verschiedensten Institutionen abgefordert wurden, sowie die Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für das Thema zu erschließen. Der vorliegende Beitrag bietet lediglich erste Überlegungen anhand der vorliegenden Literatur und eher kursorischer Archivrecherchen. Im folgenden werden zunächst anhand der Strukturmerkmale des politischen und des Wirtschaftssystems des Staatssozialismus die daraus resultierenden Möglichkeiten für Korruption herausgearbeitet, um dann Schlaglichter auf die historische Entwicklung in der DDR zu werfen.

I. Möglichkeiten der Korruption im staatssozialistischen System Unter Korruption soll im folgenden nach der allgemein verwendeten Standarddefinition die Erlangung eines privaten Vorteils durch Mißbrauch eines öffentlichen Amtes verstanden werden.13 Damit wird hier ein eher weiter Begriff von Korruption zugrunde gelegt, der Bestechung und Bestechlichkeit, Bereicherung im Amt, Unterschlagung und Vermengung von Amts- und Privatgeschäften ebenso wie Patronage und Nepotismus umfaßt. Eine solche Definition setzt die Trennung von privaten und öffentlichen Sphären voraus. Diese war zwar im Staatssozialismus im Grundsatz gegeben, aber durch das im öffentlichen Bereich und dabei auch in der Wirtschaft dominierende 12

Volker Klemm, Korruption und Amtsmißbrauch in der DDR. Stuttgart 1991; Marxen/ Werle (Hrsg.), Amtsmißbrauch und Korruption (wie Anm. 11). 13 Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 282, 2006, 313–350, 316. Auf die juristische Fassung dieses Phänomens in der DDR und ihre Veränderungen auch im Vergleich zum bürgerlichen Recht kann hier nicht eingegangen werden. Ansätze dazu in: Willi Fahnenschmidt, DDR-Funktionäre vor Gericht. Die Strafverfahren wegen Amtsmißbrauch und Korruption im letzten Jahr der DDR und nach der Vereinigung. Berlin 2000, 80–85.

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„Volkseigentum“ wurde diese Trennung tendenziell auch wieder verwischt. Die eigentümliche Rechtskonstruktion des „Volkseigentums“, das de facto ein Staatseigentum war, führte zu einem Verlust an Eindeutigkeit der Eigentumstitel: Der Verfügung durch die Partei- und Staatsbürokratie stand formal die Möglichkeit gegenüber, daß jeder selbst seinen Anteil am „Volkseigentum“ beanspruchen konnte. Außerdem hatte beispielsweise jeder in der Wirtschaft Verantwortliche ein öffentliches Amt inne. Diese Uneindeutigkeit förderte den Verfall öffentlicher Moral, begünstigte Erscheinungen von Korruption und zog chronisches Mißmanagement nach sich. Das überwiegende Staatseigentum an den Produktionsmitteln gehörte neben der zentralistischen Einparteienherrschaft, der zentralen Planwirtschaft und der Ideologie des Marxismus-Leninismus zu den Grundcharakteristika des Staatssozialismus in seiner klassischen Form, der Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in der DDR etabliert worden war. Die Institutionenordnung dieses Systems war – mit gewissen Differenzierungen in der DDRGeschichte – in hohem Maße hierarchisch und bestand aus zwei in ihren Kompetenzen ineinandergreifenden, mitunter gegeneinander arbeitenden und in der Spitze personell verflochtenen Säulen: der staatlichen Bürokratie und dem SED-Parteiapparat, wobei Beschlüsse der Parteispitze von den staatlichen Instanzen zu übernehmen waren. Begründet wurde dies mit dem Anspruch der SED, exklusiv über die Kenntnis des einzuschlagenden Weges zu verfügen. Die wirtschaftlichen Verfügungsrechte waren von den zentralen Instanzen über die mittleren Hierarchiestufen bis zu den Betrieben hochgradig zentralisiert, wobei vorhandene Kontrollinstitutionen aus strukturellen Gründen, aber auch auf Grund beschränkter Kapazität kaum wirksam wurden. Politische Gewaltenteilung, unabhängige Massenmedien oder Kontrollinstanzen wie Rechnungshöfe waren in diesem System nicht vorgesehen, weil sie letztlich die Macht der Partei in Frage hätten stellen können. Grundsätzlich läßt sich auf der Basis liberaler Argumente der Staatssozialismus insgesamt als ein Fall systematischer Korruption verstehen. John Joseph Wallis unterscheidet diese von der Bestechlichkeitskorruption (venal corruption). Systematische Korruption ist nach seinem Verständnis dadurch charakterisiert, daß Politiker Renten begründen, indem der Eintritt in bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten begrenzt wird (Monopolvergaben, restriktive Vorgaben für Unternehmensverfassungen, Zölle, Quoten, Regulierung und so weiter). Diese Renten binden dann die Empfänger an die Politiker, die sie geschaffen haben. Kurz: „Die Wirtschaft mit politischen Zielen zu manipulieren, ist systematische Korruption“, die wiederum die Märkte lähmt und Entwicklung verhindert.14 Im Licht einer solchen Argumentation er14 John Joseph Wallis, The Concept of Systematic Corruption in American History, in: Edward L. Glaeser/Claudia Goldin (Eds.), Corruption and Reform. Lessons from America’s Economic History. Chicago 2006, 23–62, 25ff.

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scheint das System als solches korrupt, was allerdings den Begriff der Korruption so stark ausdehnt, daß der Blick auf die hier in Rede stehenden Phänomene eher verdeckt wird. Diese können vor allem mit drei Funktionselementen des staatssozialistischen Systems verbunden sein: dem Nomenklaturprinzip bei der Besetzung von Führungspositionen, dem vertikal ablaufenden Aushandlungsprozeß bei der Erstellung der Pläne und der Allokation der Ressourcen sowie den horizontal vermittelten Austauschprozessen sowohl zwischen den Betrieben als auch zwischen der Bevölkerung und den Anbietern von Gütern und Leistungen in Form des „grauen“ Marktes. Erstens bildete gerade das Nomenklaturprinzip die Grundlage für eine Form der Staatskorruption von „oben“15: Nach diesem Prinzip wurden die Leitungspositionen im Parteiapparat und der staatlichen Hierarchie, einschließlich der Führungsstellen in der staatlichen Wirtschaft, besetzt. Dieses basierte darauf, daß jede Position von der nächsthöheren Ebene bestätigt werden mußte, wobei die SED-Spitze das höchste entscheidende Gremium war und in ihm sein Chef, der Erste beziehungsweise der Generalsekretär, praktisch das letzte Wort hatte. Von der Spitze wurden Nomenklaturen mit den zu besetzenden Positionen und dafür bestimmten Personen, den „Kadern“, von Ebene zu Ebene nach unten weiterentwickelt. Diese Kadernomenklaturen erfaßten alle Bereiche der Gesellschaft und waren miteinander verbunden, auch zwischen Partei- und Staatsapparat verschachtelt und auf die SED-Spitze ausgerichtet.16 Damit wurden personale Abhängigkeiten quasi institutionalisiert. Zum einen gewährten die jeweils übergeordneten Ebenen den Inhabern von Nomenklaturpositionen Privilegien. Zwar erhalten auch in anderen Systemen Führungskräfte Boni, aber solche Zuwendungen entfalteten in einer vom Anspruch her am Egalitarismus ausgerichteten und in der Realität durch den Mangel an verschiedensten Gütern und Leistungen charakterisierten Gesellschaft eine besondere Sprengkraft. Nicht jedes Privileg kann unter Korruption subsumiert werden, aber überschreiten Privilegien das Maß, das historisch und kulturell innerhalb eines bestimmten Systems als „normaler“ Leistungsanreiz verstanden wird, kann es sich um eine Form der Bestechung von „oben“ handeln. Dabei besteht natürlich eine Grauzone, die eine genaue Bestimmung, wo Anreize gesetzt werden und ab wann bestochen wird, nahezu unmöglich macht. Die Entscheidung darüber fiel de facto 15

Das ähnelt der von Fischer beschriebenen Korruptionspolitik, ist aber nicht mit ihr identisch. Siehe Fischer, Korruption, in diesem Band. 16 Mathias Wagner, Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR. Berlin 1998, 16f. Vgl. auch: Wolfgang-Uwe Friedrich, Kaderpolitik als totalitäres Herrschaftsinstrument: Das Nomenklatursystem in der DDR, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hrsg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis. Berlin 1998, 169–186.

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in der Kommunikation über Korruption. Die Motive für die Beteiligung an diesem System lagen neben der individuellen Absicht materieller Verbesserung im Streben nach Macht und Zugehörigkeit zur Führungsschicht. Zugleich sollte so die Loyalität der Nomenklaturkader gesichert werden, was Abhängigkeiten schuf, die korrumpierenden Charakter hatten. Dabei bewilligte sich die oberste Spitze solche Vorteile selbst, ohne daß eine Kontrolle vorgesehen war. Zum anderen ist die Bestechung von „unten“ denkbar, um so eine höhere Position zu erhalten, mit der höherer Nutzen und Privilegien oder aber auch zusätzliche illegale Einkommen verbunden sein würden. Das ist auch als „Superkorruption“ bezeichnet worden, weil man sich dadurch Zugang zu allen gewöhnlichen Formen der Korruption verschaffen konnte.17 Innerhalb des Nomenklatursystems traten im Zusammenhang mit der von „oben“ betriebenen Korrumpierung verschiedene Normen in Widerspruch zueinander: Dem Patronagecharakter dieses Systems standen die Leitbilder des „neuen“ Menschen, der von Korruptionsverhalten frei sein sollte, und der größtmöglichen Gleichheit gegenüber. Zudem wurde Korruption dem als überlebt angesehenen kapitalistischen System zugeschrieben. Dem wurde das eigene System entgegengesetzt, was ein Beispiel für die „semantische Mobilisierung“ des Korruptionsvorwurfs für diktatorisches Vorgehen bildet.18 Außerdem bestanden zwar Rechtsnormen gegen Untreue, die aber nicht auf das Privilegiensystem angewandt wurden, so daß sich eine ähnliche Praxis wie im Dritten Reich herausbildete, in der sich bestimmte Institutionen nicht an Rechtsnormen gebunden sahen.19 Auch wegen dieser verschiedenen Dimensionen von Normenkonkurrenz wurde die öffentliche Kommunikation über Korruption unterbunden, was durch die von der SED reglementierte und gesteuerte „Medienöffentlichkeit“ ermöglicht wurde und ein Moment mangelnder funktionaler Differenzierung darstellte, wenngleich diese Patronage natürlich immer einen Gegenstand der Diskussionen in der Bevölkerung bildete. Zweitens war formal der Plan das wichtigste Instrument der Verteilung von Ressourcen im allgemeinen und der Wirtschaftslenkung im speziellen. Bei der Erstellung der Pläne erarbeitete zunächst die Zentrale – bestehend aus den staatlichen und den Parteiinstanzen – Orientierungsziffern für den kommenden Plan. Sie wurden über die mittlere Ebene bis zu den Betrieben nach „unten“ immer weiter aufgegliedert und präzisiert. Die Betriebe entwarfen auf der Basis der von „oben“ vorgegebenen Orientierungsziffern ei17 J. M. Montias/Susan Rose-Ackerman, Corruption in a Soviet-type Economy: Theoretical Considerations, in: Steven Rosefielde (Ed.), Economic Welfare and the Economics of Soviet Socialism. Essays in Honor of Abram Bergson. Cambridge 1981, 53–83, 58. 18 So Werner Plumpe, Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, in diesem Band. 19 Vgl. Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit. Frankfurt am Main 2001, 141–147.

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nen Planvorschlag mit zu erreichender Leistung und erforderlichen Inputs. Die Planvorschläge der Betriebe wurden über die einzelnen Hierarchiestufen bis zur Zentrale zusammengefaßt, und auf jeder Ebene wurde versucht, diese zu koordinieren. Die oberste Planungsinstanz hatte dann die verschiedenen binnen- und außenwirtschaftlichen Erfordernisse und Möglichkeiten sowie die politischen Ziele in ein Gleichgewicht zu bringen und damit den Plan zu „bilanzieren“. Nachdem der Plan beschlossen war, wurden seine Aufgaben wiederum von „oben“ nach „unten“ disaggregiert. Dieser aufwendige Prozeß war für die ex ante Koordinierung der Wirtschaftsaktivitäten infolge der asymmetrischen Informationsverteilung notwendig. Da die Betriebe und deren Führungspersonal in Abhängigkeit davon, wie sie den Plan erfüllten, Mittel für Prämien und Investitionen aus ihrem erwirtschafteten Gewinn oder dem Staatshaushalt verwenden konnten beziehungsweise erhielten, waren sie zumindest formal interessiert, die Vorgaben zu erfüllen. Um dies zu gewährleisten, lag den Betrieben und ihrem Führungspersonal daran, möglichst niedrige Planziele und hohe Ressourcenzuweisungen zu erhalten, wobei sie gleichzeitig vorhandene Kapazitäten und Vorräte zu verschleiern suchten und Arbeitskräfte, Anlagen und Material horten wollten, um für plötzliche Anforderungen und künftige Produktionssteigerungen gerüstet zu sein. Diese „weichen Pläne“ wurden durch die asymmetrische Informationsverteilung ermöglicht. Damit standen die nachgeordneten Struktureinheiten bis hin zu den Betrieben in einem Verhandlungs- beziehungsweise Abstimmungsprozeß mit der ihnen vorstehenden Instanz über zu erbringende Leistungen und zur Verfügung stehende Inputs, um die die Wirtschaftseinheiten untereinander faktisch konkurrierten. Die Eigenheiten dieses vertikalen Aushandlungsprozesses machten es wahrscheinlich, daß zwischen den daran Beteiligten Korruption eine Rolle spielte. Verantwortliche, die Planziele festsetzen und die unter den Bedingungen von Übernachfrage Güter verteilen, werden schnell zu Objekten von Bestechung. Die nachgeordneten Branchenleitungen und Betriebe verfügten zum Teil über Konsumgüter oder Dienstleistungen, wie Urlaubsplätze, die für die Vertreter von übergeordneten Hierarchieebenen von Interesse sein konnten. Insofern erscheint es möglich, daß die Branchenleitungen und Betriebe in dem Bargaining diese Mittel einsetzten, um eben niedrige Leistungsvorgaben und möglichst viele Inputs zu erhalten. Jedoch muß hier analytisch unterschieden werden zwischen individueller Korruption, welche dem persönlichen Nutzen dient, und Organisations-Korruption, die dem Betrieb oder ähnlichem dient.20 Praktisch konnten beide verbunden sein. Nur die 20

Diese Unterscheidung wurde in der Literatur zu Korruption in der Sowjetunion verschiedentlich – mitunter auch unter anderen Bezeichnungen – vorgenommen. Stellvertretend siehe: Montias/Rose-Ackerman, Corruption in a Soviet-type Economy (wie Anm. 17), 56.

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Fälle, die mit individueller Kooperation verknüpft waren, sollen entsprechend der oben angeführten Definition im weiteren als Korruptionspraktiken in Betracht gezogen werden. Unter Organisations-Korruption in ihrer reinen Form müßten ansonsten – wie das in einem Teil der Literatur geschieht21 – alle Verfahrensweisen der nachgeordneten Ebenen bis zu den Betrieben einbezogen werden, mit denen sie ihre Leistung so hoch wie möglich abrechneten (unter anderem Fälschung der Produktionsmeldungen), ihre Anforderungen an Produktionsfaktoren steigerten und dann diese horteten sowie ihre vorhandenen Produktionskapazitäten verschleierten. Da dieses Verhalten – vermittelt über die Planerfüllung und die daran gebundenen Prämien und das eigene Prestige – letztlich auch zu privaten Gewinnen bei den Verantwortlichen führt, ist es durchaus berechtigt, diese Praktiken ebenfalls als Korruption zu verstehen. Aus Praktikabilitätserwägungen beschränkt sich die vorliegende Darstellung aber auf das unmittelbar mit individueller Korruption verbundene Vorgehen. Individueller Korruption stand in dem hier betrachteten Zusammenhang des vertikalen Planbargainings allerdings entgegen, daß über die Verteilung der Ressourcen in der Regel nicht von einer Person allein entschieden wurde. Jedoch war der Entscheidungsverantwortliche – neben den speziellen, aber in ihren Kapazitäten beschränkten Kontrollinstanzen – derjenige, der die nachgeordneten Ebenen zu kontrollieren hatte, weshalb das Risiko gering war, entdeckt oder bestraft zu werden. Außerdem wurde auch er selbst anhand der Ergebnisse der ihm nachgeordneten Organisationseinheiten beurteilt, was wiederum den Anreiz für korruptes Verhalten erhöhte. Über die Folgen der mit individueller Korruption verbundenen Organisations-Korruption innerhalb der zentralen Hierarchie gehen die Meinungen in der Literatur auseinander.22 Tendenziell reduzierte sie die Produktivität eher, als daß sie sie steigerte, was aber davon abhing, wie hoch die Allokationseffizienz der ursprünglichen (Plan-)Festlegungen war und wie hoch die Effizienz der Ausnutzung der Ressourcen des am meisten bestechenden Produzenten war.23 Drittens eröffneten die Lücken des Plans und die in den „weichen“ Plänen versteckten Kapazitäts- und Ressourcenreserven den Betrieben und ihrem Führungspersonal Spielräume, Defizite in der Ausstattung mit Rohstoffen und Vorleistungen eigenständig – außerhalb der Pläne – zu schlie21 Als Korruption behandelt bei: Charles A. Schwartz, Corruption and Political Development in the USSR, in: Comparative Politics 11, 1979, 425–443; William A. Clark, Crime and Punishment in Soviet Officialdom: Combating Corruption in the Political Elite, 1965–1990. Armonk 1993, 47–55; Sabine Krug, Korruption in verschiedenen Wirtschaftssystemen: eine komparatorische Analyse. Wiesbaden 1997, 93–135. 22 Siehe einen Überblick bei: Thomas Herzfeld, Corruption Begets Corruption. Zur Dynamik und Persistenz der Korruption. Frankfurt am Main 2004, 27. 23 Vgl. ähnlich: Montias/Rose-Ackerman, Corruption in a Soviet-type Economy (wie Anm. 17), 56f.

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ßen. Es entwickelte sich zwischen den Betrieben spontan und frei von zentraler Administration ein nicht vorgesehenes, naturalwirtschaftlich dominiertes Netz von Austauschbeziehungen. Dieses Verhalten erforderte zwar von den Betrieben und deren Vertretern einen hohen Transaktionsaufwand, darunter vor allem Informationskosten, der auch Elemente von Korruption aufweisen konnte. Aber der damit im Regelfall zu erzielende Grenznutzen – vor allem die sorten- und qualitätsgerechte Inputausstattung im Detail – war offenbar höher als in der Planausarbeitung. Der Betrieb sicherte damit die Planerfüllung und verhielt sich einzelwirtschaftlich rational. Gesamtwirtschaftlich trug dieser „graue“ Markt wohl nicht unerheblich zum Funktionieren des Systems bei. Die Zentrale tolerierte ihn im wesentlichen, da seine Funktionalität auch dort gesehen wurde. Er ist ein Beleg für die Existenz und Durchsetzungsfähigkeit partieller wirtschaftlicher Eigenlogik.24 Aber die Tatsache, daß die Funktionsweise des Systems das Unterwandern seiner eigenen formalen Regeln erforderte, war ein Symptom seiner Ineffizienzen. Diese vertikal, außerhalb der offiziellen Regularien organisierten Austauschprozesse der Betriebe ebenso wie die Beschaffung knapper Waren und Leistungen durch die Bevölkerung boten vielfältige Ansatzpunkte für korrupte Verhaltensweisen. Das Anbahnen der entsprechenden Kontakte in diesem „grauen“ Markt zwischen den Zuständigen der verschiedenen Betriebe konnte mit persönlichen Vorteilen, Geschenken oder Geldzuwendungen verbunden sein. Allerdings war die dabei zu beobachtende Spannbreite sehr groß und reichte von wechselseitigen Gefälligkeiten, wie sie in Rußland als Blat bezeichnet werden, bis hin zur Bestechung, wobei die Übergänge fließend waren. Ersteres, was im DDR-Jargon unter „Beziehungen“ firmierte, hatte einerseits eine durchaus positive Konnotation, insoweit es in zwischenmenschliche Verhältnisse, wie Freundschaften, Verwandtschaft oder Bekanntschaften eingebettet war, weshalb es auch eher toleriert wurde. Andererseits hatte es aber ebenso einen negativen Beiklang, der es von gegenseitiger Hilfe in persönlichen Beziehungen unterschied und moralisch fragwürdig gestaltete. Dieser Beiklang entstand aus der Nutzung von öffentlichen Ressourcen zum privaten Vorteil.25 Dementsprechend waren nicht alle Transaktionen, die auf dem „grauen“ Markt abgewickelt wurden, mit Korruption verbunden. Dieser Fall lag wohl nur vor, wenn die zwischen den Part24

Olson spricht in diesem Zusammenhang von „irrepressible markets“. Siehe: Mancur Olson, Power and Prosperity. Outgrowing Communist and Capitalist Dictatorships. New York 2000, 175ff. 25 Alena V. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange. Cambridge 1998, 39. Ledeneva versucht das Phänomen Blat genauer von Bestechung, Korruption, informellen Wirtschaftspraktiken, Patronageverhältnissen und Kungelei abzugrenzen, wobei aber deutlich wird, daß neben den Unterschieden jeweils auch erhebliche Überschneidungen existierten (ebd. 39–59).

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nern ausgetauschten Gefälligkeiten nicht-äquivalent waren und der Tausch nur aus diesem Grund zustande kam. Der „graue“ Markt ist also keineswegs mit Korruptionspraktiken gleichzusetzen. Das hier zunächst anhand des betrieblichen Verhaltens Dargestellte hatte auch seine Entsprechung in der Bevölkerung: In der allgemeinen Mangelwirtschaft „organisierte“ sie sich knappe Güter und Leistungen ebenso über „Beziehungen“ bis hin zur Bestechung derjenigen, die diese verteilten beziehungsweise verkauften. Insoweit der Erwerb solcher Konsumgüter oder Leistungen nur durch Bestechung zustande kam, wäre er der zweiten Gruppe – Korruptionserscheinungen innerhalb des vertikalen Planbargainings – zuzuordnen. Allerdings reduzierte sich diese Beschaffung der Konsumgüter eben in der Regel nicht auf eine einseitige Bestechung. Auf die Funktionalität dieses „grauen“ Marktes wurde bereits verwiesen. Hier ist zu ergänzen: Wenn sich Korruption als gesellschaftlich vorteilhaft erweist, kann das als ein Indikator für Defizite in der institutionellen Rahmenordnung gelten. Diese werden durch Korruption bestenfalls gemildert, da sie mit hohen Transaktionskosten und unproduktiven Maßnahmen zur Geheimhaltung verbunden ist.26 Sowohl bei den vertikal ablaufenden Bargainingprozessen als auch den horizontal organisierten Austauschprozessen war zu beobachten, daß individuelle Korruption mit Organisations-Korruption zusammenhing. Dabei war der Anreiz für Korruption um so höher, je mehr die Boni der betreffenden Akteure von dem Erfolg des Betriebs und seiner Beurteilung durch die ihnen übergeordneten Ebenen abhingen.27 Letztlich ging es auch hier um eine Abwägung der Kosten in Form möglicher Strafen und des Nutzens in Gestalt möglicher Steigerung des privaten Einkommens oder der Verfügung über knappe Güter für die potentiell korrupten Personen, wobei in dem vorliegenden Fall die Strafen eher gering ausfielen oder kaum zu befürchten waren, während der Nutzen relativ hoch sein konnte. Sowohl für die Elite als auch die Bevölkerung war Korruption eine wichtige Methode, um die eigenen Probleme in dieser sozialen Umgebung zu lösen, wobei ein großes Übergangsfeld zwischen sozial eingebetteten „Beziehungen“ und direkt kriminalisierter Bestechung existierte. Dabei kann auch hier – wie im Dritten Reich28 – zwischen bekämpfter, tolerierter und institutionalisierter, offiziell geförderter Korruption unterschieden werden.

26 Vgl. Markus Dietz, Korruption. Eine institutionenökonomische Analyse. Berlin 1998, 48f. 27 Montias/Rose-Ackerman, Corruption in a Soviet-type Economy (wie Anm. 17), 56. 28 Vgl. Bajohr, Parvenüs und Profiteure (wie Anm. 19), 10f.

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II. Historische Erscheinungen von Korruption in der SBZ/DDR In einer ersten Näherung lassen sich für das Phänomen Korruption in der DDR und dem Umgang damit sehr grob drei Perioden unterscheiden, die aber auch durchgehende Kontinuitäten aufweisen: die Phase der Etablierung des neuen Systems von den vierziger bis in die fünfziger Jahre, den Zeitabschnitt der Wirtschaftsreform in den sechziger Jahren sowie die Periode des Niedergangs des Systems der siebziger und achtziger Jahre. Nach Kriegsende wurde von den Sowjets und den deutschen Kommunisten im Zuge des sich herausbildenden Kalten Krieges nach und nach bis Anfang der fünfziger Jahre das staatssozialistische System etabliert, ohne daß dies von vornherein so intendiert war.29 Maßnahmen, die zunächst der Entnazifizierung dienen und auf praktische Notwendigkeiten reagieren sollten, wie die Enteignungen von Nazi- und Kriegsverbrechern, boten später eine Basis für dieses System. Gerade bei den Enteignungen waren aber nicht selten die politischen und wirtschaftlichen Absichten von „Rachsucht, Korruption, Inkompetenz, verwaltungstechnischem Chaos und divergierenden Interessen verschiedener Entscheidungsebenen“ – so eine entsprechende Untersuchung – überlagert. Aufgrund von „Versippung und Verschwägerung“, wie es in einem kritischen Bericht vom November 1947 hieß, wurden (angeblich) belastete Betriebe nicht enteignet. Auf der anderen Seite stellte man Unternehmen unter Sequester, weil dort jemand als Treuhänder eingesetzt werden sollte, der gute Verbindungen zur Sequesterkommission hatte. Intern war auch beispielsweise im Januar 1946 in der Provinzialverwaltung Sachsen-Anhalt von „Postenjägern“ die Rede. Entsprechende Fälle wurden für die gesamte SBZ dokumentiert.30 Inwieweit in diesen Fällen tatsächlich von Korruption zu sprechen ist, kann nach dem derzeitigen Kenntnisstand ebensowenig beantwortet werden wie die Frage, inwieweit die Versuche, dagegen vorzugehen, von Erfolg getragen waren. Vermutlich konnten sich auf diesem Weg einzelne Personen zu Positionen Zugang verschaffen, in denen sie auch später selbst Träger oder Ziel von Korruptionspraktiken waren.

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Siehe zu dem Gesamtprozeß: Dietrich Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat. 3. Aufl. München 1995. 30 Monika Tatzkow/Hartmut Henicke, „… ohne ausreichende Begründung…“. Zur Praxis der „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ in der SBZ, in: Zeitschrift für offene Vermögensfragen 1992, 182–189, 182, 186, 188; vgl. auch Friederike Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang. Politik, Organisation und Funktion der KPD/SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der SBZ/DDR 1945–52. Münster 2002, 247, 286.

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In der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrem allgemeinen Gütermangel war auch der Kompensationshandel weit verbreitet31, in den private Unternehmer ebenso wie volkseigene Betriebe (VEB) und staatliche Stellen einbezogen waren und der in erheblichem Maße mit individueller Korruption verbunden gewesen sein dürfte. Auch um diese zu bekämpfen, wurde im Mai 1948 die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKK) gebildet, wobei sie sich aber nicht primär auf die negativen Aufgaben, wie Korruption und Wirtschaftsvergehen, sondern auf die positiven Fragen der Planerfüllung konzentrieren sollte, wobei man auf die negativen Fragen von selbst stoßen werde.32 Tatsächlich war die Korruptionsbekämpfung in der Tätigkeit der ZKK nur eine abgeleitete Aufgabe33: Vielmehr war sie im wesentlichen ein Instrument, um den noch in privater Hand verbliebenen Teil der Wirtschaft zu verringern. Dazu wurde der Korruptionsvorwurf instrumentalisiert. Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre fanden eine Reihe von der ZKK im Auftrag der SED-Spitze spektakulär inszenierte Schauprozesse in Wirtschaftsstrafverfahren statt, die sich „im Bewußtsein der Menschen verankern, Schneisen in der Erinnerung bilden und so traditionsbildend wirken“ sollten.34 Der erste Fall war der „Textilschieberprozeß“ von Glauchau-Meerane Ende 1948, bei dem es vor allem um den Kompensationshandel ging. Den Unternehmern warf man vor, ihre Geschäfte mittels Bestechung von städtischen Angestellten überhaupt erst ermöglicht zu haben, wobei nicht zu sagen ist, inwiefern in diesem Fall tatsächlich von Korruption gesprochen werden konnte. Da die neue Gesellschaft per se frei von Korruption sein sollte, wurde das Argument bei der Propagierung der Prozeßergebnisse gewendet und betont: „Diese Korrumpierung von Arbeiterfunktionären muß als eine der Waffen der Reaktion erkannt werden, mit denen heute unsere Klassengegner bewußt den Kampf gegen unsere fortschrittliche Demokratie und unsere Wirtschaftsplanung führen“. Vielmehr noch: „Mit den Schlichen und Ränken des Kapitalismus haben hier die Angeklagten eine geheime Organisation 31 Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Aktual. u. bearb. Neuausgabe Berlin 2007, 49f. 32 DWK, HV für Wirtschaftsplanung: Zu den Aufgaben der ZKK, 1. 7. 48, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (im folgenden: BA Berlin), DC15/139, Bl. 13. 33 Diesen Schluß lassen die vorliegenden Darstellungen zur ZKK zu, die die Korruptionsbekämpfung nicht thematisieren. Vgl. Jutta Braun, Wirtschaftsstrafrecht und Enteignungspolitik in der SBZ/DDR. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle 1948–1953. Diss. München 1999; Thomas Horstmann, Logik der Willkür. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle in der SBZ/DDR von 1948 bis 1958. Köln 2002. 34 Nils Klawitter, Die Rolle der ZKK bei der Inszenierung von Schauprozessen in der SBZ/DDR: Die Verfahren gegen die „Textilschieber“ von Glauchau-Meerane und die „Wirtschaftssaboteure“ der Deutschen Continental-Gas-AG, in: Jutta Braun/Nils Klawitter/Falco Werkentin (Hrsg.), Die Hinterbühne politischer Strafjustiz in den frühen Jahren der SBZ/DDR. Berlin 2002, 23–56, hier 24. Dort auch zu den Hintergründen des Prozesses.

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aufgebaut“. Letztlich diente der Kompensationshandel demnach dazu, „die Arbeiterschaft zu korrumpieren und ihnen den klaren Sinn für die eigentlichen Absichten der Unternehmer zu nehmen“.35 Mit diesen Prozessen sollte offenbar auch der Korruptionsbegriff diskursiv mit dem durch den Sozialismus abzulösenden Kapitalismus und den ihn prägenden privaten Unternehmern verbunden werden, wobei es vordergründig um die Diffamierung der privaten Betriebe ging. So wurden intern bereits 1947 die „rücksichtslos“ zu bekämpfende Korruption und Unterschlagung in landeseigenen Betrieben – als den Vorläufern der Volkseigenen Betriebe (VEB) – zu „Sonderfällen“ deklariert, gleichwohl zugleich ihre Existenz eingeräumt.36 Ebenso bezeichnete man in den frühen fünfziger Jahren Mitarbeiter der Abgabenverwaltung, die den verbliebenen privaten Unternehmern angesichts drakonischer Steuerlasten „Hilfsdienste“ erwiesen, als „kriminelle und korrupte Elemente“37 – ohne daß hier näher gesagt werden kann, ob diese tatsächlich Gegenleistungen der Unternehmer dafür bekommen hatten oder nur auf Notsituationen reagierten. Zur gleichen Zeit, als Korruption im öffentlichen Diskurs privaten Unternehmern im speziellen und dem Kapitalismus im allgemeinen zugeschrieben wurde, schufen die SED-Spitze und der von ihr beherrschte Staatsapparat eine der Säulen für Korruption im Staatssozialismus: Etwa ab 1947 wurde das Kadernomenklatursystem Schritt für Schritt aufgebaut und auf nahezu alle Bereiche ausgedehnt, um 1960/61 dann im wesentlichen seine endgültige Gestalt anzunehmen.38 Damit war wohl ein „organisierter Nepotismus“ verbunden, wie ihn Frank Bajohr ähnlich in der Etablierungsphase des Dritten Reiches ausgemacht hat.39 Allerdings sind die damit verbundenen Privilegien bisher nicht untersucht worden. Bekannt ist, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Künstler und Intellektuelle ebenso wie Techniker und Wissenschaftler, aber zweifelsohne auch Partei- und Staatsfunktionäre von der sowjetischen Besatzungsmacht gesonderte Lebensmittelpakete („Pajoks“) erhielten. Später wurden die Vorzugsleistungen für als unersetzbar ange35

Alle Zitate nach der Propagandabroschüre: Die Maske runter! Die Hintergründe des Prozesses Glauchau-Meerane. Hrsg. v. Landesvorstand Sachsen der SED. Dresden 1949, 8, 22, 26. 36 Abt. Wirtschaft an das Zentralsekretariat [der SED]: Die landeseigenen Betriebe, 2. 5. 47, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folgenden: SAPMO-BA), DY30 IV 2/602/57, Bl. 27. 37 Abt. Planung und Finanzen: Entwurf. Zusammenfassender Bericht über die von der ZKK im Ministerium der Finanzen festgestellten Mißstände; Stellungnahme der Abt. Planung und Finanzen zu dem Bericht der ZKK, 14.4.53, SAPMO-BA, DY30 IV 2/608/69, Bl. 82, 85. 38 Eine vorläufige Skizze zu diesem Entstehungsprozeß findet sich in: Wagner, Ab morgen (wie Anm. 16), 30–61. Allerdings wird dort nicht auf die für die Nomenklaturkader vorgesehenen Privilegien im historischen Ablauf eingegangen. 39 Bajohr, Parvenüs und Profiteure (wie Anm. 19), 13.

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sehene Wissenschaftler und Techniker sowie Wirtschaftsfunktionäre in sogenannten Einzelverträgen festgehalten. Bestandteil dieser Verträge waren nicht nur außergewöhnlich hohe Einkommen, sondern auch der Zugang zu knappen Gütern wie westlicher Literatur. Auch besondere Leistungen, wie die Versorgung mit Wohnraum oder die künftige Ausbildung der Kinder, wurden dabei geregelt.40 In solchen Fällen war aber auch den Begünstigten klar, daß sie ihre Privilegien besser geheim hielten: So ließ sich der renommierte Chemiker Erich Correns – so wie auch andere Spitzenwissenschaftler – sein für Anfang der fünfziger Jahre außergewöhnlich hohes Gehalt „an 3 verschiedenen Stellen auszahlen, damit sein Fahrer nicht erfährt, wieviel er verdient“.41 Dabei handelte es sich um eine Form systematischer Korrumpierung von als notwendig angesehenen Eliten zugunsten des neuen Systems, die aber vor allem vor 1945 ausgebildeten und als besonders unersetzlich geltenden Personen galt, also keineswegs alle Vertreter dieser Berufsgruppen erfaßte. In den Genuß der Vorzugsbehandlungen kamen vor allem diejenigen, die ein Beschäftigungsangebot aus dem Westen vorzuweisen hatten oder so taten, als hätten sie es. Der Zusammenhang dieser Privilegierung mit der bis 1961 bestehenden Möglichkeit, in die Bundesrepublik zu fliehen, ist nicht zu unterschätzen. Es handelte sich dabei – auch soweit sie nach 1961 teils in anderer Form, wie der Möglichkeit in den Westen zu reisen, weiter gewährt wurden – vielfach um als Herrschaftsinstrumente verwendete Wohlverhaltensprämien. Zu untersuchen ist auch noch, in welchem Verhältnis diese Privilegien zu jenen standen, die den Partei- und Staatsfunktionären auf den verschiedenen Ebenen im Nomenklatursystem gewährt wurden. Dabei konnte die SEDSpitze selbst natürlich schon in den vierziger und fünfziger Jahren auf viele knappe Güter in besonderem Maße zugreifen. Jedoch soll hier die noch zu verifizierende These gewagt werden, daß die Privilegien der SED-Führung im Zeitablauf nicht nur absolut, sondern auch relativ zum allgemeinen Lebensstandard zunahmen. Außerdem kann man wohl davon ausgehen – so eine weitere Annahme –, daß unter Walter Ulbricht als Chef der SED hinsichtlich der Privilegien ihrer Spitze noch das mit Blick auf die Bevölkerung Machbare im Auge behalten wurde. Es scheint so, als wenn die Kameraderie nicht so ausgeprägt wie in der NSDAP-Führung und der Honecker-SED war. Das folgte vor allem aus den innerparteilichen Auseinandersetzungen der vierziger und fünfziger Jahre, in denen die von Ulbricht ausgeschalteten Kontrahenten als Parteifeinde abgestempelt oder aus dem innersten Füh40 Auch die Einzelverträge und die sie ab den sechziger Jahren ablösenden Sonderverträge harren noch ihrer historischen Analyse. Siehe bisher: Agnes Charlotte Tandler, Geplante Zukunft. Wissenschaftler und Wissenschaftspolitik in der DDR 1955–1971. Freiberg 2000, 26–32. 41 Ebd. 31.

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rungszirkel ausgeschlossen wurden. Allerdings stellte der Beginn der sechziger Jahre auch in dieser Hinsicht innerhalb der Ära Ulbricht eine Zäsur dar, die sich vor allem aus dem Mauerbau und der Einrichtung der gesonderten Wohnsiedlung der SED-Spitze bei Wandlitz ergab. Nachdem die Schaffung der Grundlagen des neuen Systems – so scheint es – schon mit Korruptionspraktiken verbunden war, wurden die systemischen Voraussetzungen für die Staatskorruption auf- und ausgebaut. Zugleich kann davon ausgegangen werden, daß das Ausmaß des Kompensationshandels beziehungsweise des „grauen“ Markts in den fünfziger Jahren gegenüber den vierziger Jahren zwar abnahm, aber diese ebenso wie die damit verbundene Korruption mit der Etablierung der Planwirtschaft nie verschwanden, ohne daß wir über das genaue Ausmaß informiert wären. Um den wirtschaftlichen Problemen Herr zu werden, leitete die SED-Spitze 1963 unter dem Namen „Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL beziehungsweise NÖS) eine Wirtschaftsreform ein.42 Ohne auf die Details des Programms und der Umsetzung der Reform eingehen zu können, sind hier zwei Aspekte von Bedeutung. Zum einen wurde im Unterschied zu vor und nach der Reform nunmehr der Gewinn zu der zentralen Kennziffer, anhand der die Leistung der Betriebe und ihres Führungspersonals beurteilt werden sollte. Zum anderen war die Planaufstellung stärker zu dezentralisieren, wobei auch versucht wurde, zwischen den Betrieben abzuschließende Wirtschaftsverträge zur Grundlage der Planung zu machen und damit den „grauen“ Markt ansatzweise in die Planung miteinzubeziehen. Da man die Reform schrittweise einführte, bestand lange Zeit ein Nebeneinander von alten und neuen Mechanismen, was 1965 in einigen Betrieben und Branchen exorbitante Gewinnsteigerungen nach sich zog, die in keiner Relation zu dem Leistungszuwachs dieser Wirtschaftseinheiten standen. In dieser Situation wurde die grundsätzlich angestrebte Gewinnorientierung der Betriebe insbesondere von den Reformskeptikern in Frage gestellt, was die Reformer dazu zwang, wiederum zu beteuern, daß die Planwirtschaft nicht abgeschafft werden solle.43 In diesem Kontext wurde zumindest intern auch von Bestechung und Korruption gesprochen. Siegfried Böhm, damals Leiter der einflußreichen Abteilung Planung und Finanzen in der SED-Zentrale wandte sich Anfang Juli 1965 auf einer Arbeitstagung der zentralen Leitung der Industrie mit den Generaldirektoren der Branchen gegen Tendenzen der Entstellung und Vulgarisierung der materiellen Anreize, der „ökonomischen Hebel“. Manche würden meinen, mit Geld gehe im NÖS alles. Es sei moralisch unannehmbar, daß versucht werde, mit Bestechung die Kooperationsbeziehungen oder Vorleistungen für die 42 Zur Vorbereitung und Umsetzung siehe: André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999. 43 Ebd. 100ff.

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Betriebe zu organisieren. Er führte aus: „[D]iese sogenannten Hebel appellieren an unmoralische Instinkte, die mit dem Profitstreben weitgehend verwandt sind, und müssen deshalb abgestellt werden.“44 Ähnlich äußerte sich der Wirtschaftsverantwortliche in der SED-Spitze, Günter Mittag, im August 1965 vor für die Wirtschaft zuständigen höheren Parteifunktionären: „Wir kämpfen scharf – in diesem Falle bewußt auch mit administrativen Mitteln – gegen die Erscheinungen, mit Geldbeträgen die Kooperationsbetriebe zu bestechen und diese Praxis dann noch als ‚neues ökonomisches System‘ auszugeben.“45 Schließlich sah sich der Vorsitzende des Volkswirtschaftsrates veranlaßt, eigens eine Verfügung herauszugeben, um diese Praxis strikt zu untersagen46, was dafür spricht, daß sie recht verbreitet gewesen sein dürfte. Ganz offenbar wurden hier Vorgehensweisen angesprochen, wie sie zumindest in Einzelfällen wohl auch bereits vor der Reform üblich waren. Es scheint aber so, als wenn die nun angestrebte Gewinnorientierung dem noch einmal Auftrieb gab. Mit den Reformregelungen war diese Korruption weder dem vertikal organisierten Bargainingprozeß bei der Planerstellung noch dem horizontal angelegten „grauen“ Markt allein zuzuordnen, sondern sie stellte hier das Schmiermittel für das Zustandekommen einer hybriden Koordinationsform dar.47 Das scheint ein eigenes Charakteristikum der Reformzeit gewesen zu sein, das diese von der Zeit davor und danach unterschied. Bemerkenswert ist allerdings, daß zum einen selbst während der Reform diese Begrifflichkeit in die Nähe des Ziels des kapitalistischen Wirtschaftens, des Profitstrebens, gerückt wurde. Und zum anderen verwendete man diese Terminologie in den Reformjahren nur vom Frühjahr 1965 bis Anfang 196648, obwohl die dahinterstehende Praxis danach wohl kaum verschwunden gewesen sein dürfte. Grundsätzlich blieb die allgemeine – auch begriffliche – Tabuisierung von Korruption anscheinend während der Reform bestehen. Daß sie 1965 durchbrochen wurde, war wohl dem Bestreben 44 Abt. Planung und Finanzen: Information über die Arbeitstagung der Leitung des VWR mit den Generaldirektoren der VVB… [am 2. 7. 65], 7. 7. 65, SAPMO-BA, DY30 IV A2/2021/274. 45 Protokoll über die am 13. 8. 65 durchgeführte Beratung des Genossen Dr. Mittag mit den Sekretären der Bezirksleitungen, die für Fragen der Industrie und des Bauwesens verantwortlich sind, 18. 8. 65, SAPMO-BA, DY30 IV A2/601/8. 46 VWR: Verfügung Nr. 62/65 über das Verbot der Verwendung von Prämienmitteln für Kooperationsleistung vom 2. 7. 65, SAPMO-BA, DY30 IV A2/2021/274. 47 Gleichwohl funktionierte diese Koordinationsform nicht in der gedachten Form, siehe: Steiner, DDR-Wirtschaftsreform (wie Anm. 42), 96f., 130f., 156ff., 373f., 394, 454f., 492f. 48 Dieser Befund gründet sich auf den langjährigen Recherchen des Autors in der archivalischen Überlieferung der SED-Spitze und ihres wirtschaftspolitischen Apparates sowie der Regierung und der Wirtschaftsbürokratie. Er kann damit eine gewisse Validität, aber keine Endgültigkeit beanspruchen. Im Bereich der Justiz dürfte sich die Begrifflichkeit auch über diesen Zeitraum hinaus finden.

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der Reformer geschuldet, unerwünschte „Auswüchse“ der Gewinnorientierung auch mit drastischen, weil tabuisierten Ausdrücken zu unterbinden, um eine Diskreditierung der Reform insgesamt zu verhindern. Die in den sechziger Jahren intern bereits gegeißelte Erscheinung, daß die Betriebe ihre Prämienfonds dazu nutzten, um Betriebsfremde – beispielsweise mit „sogenannten ‚Aufwandsentschädigungen für Materialbeschaffung‘“ – zu bestechen49, blieb aber auch in den siebziger und achtziger Jahren gängige Praxis. Beispielsweise wurden Ende der siebziger Jahre an eine MalerPGH 2000 Mark Prämien gezahlt, damit diese an einem Urlaubsobjekt Malerarbeiten im Wert von 7000 Mark ausführte. In einem anderen Fall vereinbarte das Zentrale Investitionsbüro Sportbauten für die Errichtung von Einfamilienhäusern mit den ausführenden Betrieben „Zielsetzungsprämien“, die etwa 8% der geplanten Baukosten ausmachten.50 Diese Praktiken waren auch Teil der Korruption im Rahmen des „grauen“ Marktes. Gerade für die siebziger und achtziger Jahre ist in der Literatur eine Fülle an Beispielen für diese „informellen“ Beziehungen zu finden, weil sich die Zeitzeugen an diese Zeit besonders gut erinnern.51 Allerdings wurde von den analysierenden Historikern vereinzelt betont, daß die Betriebsleitungen oder Mitarbeiter selbst davon nichts hatten, sondern nur wirtschaftliche Vorteile für den Betrieb entstanden.52 Dies mag für die zwei in dieser Studie untersuchten Betriebe gelten, zugleich liegt eine Fülle anderer Belege vor. Beispielsweise wurde darüber berichtet, daß ein Wasserwerk Exportbier und erzgebirgische Volkskunstartikel an ein Sandwerk lieferte, um Quarzsand in der benötigten Qualität zu bekommen. Oder ein Handelsbetrieb erlangte Baukapazitäten, indem er den örtlichen Handwerkern die gefragten Teile seines Sortiments anbot – „auf gut deutsch: Bestechung“. Um sein Angebot zu verbessern, versorgte ein anderer Handelsbetrieb die entsprechenden Vertreter mit gesuchten Waren.53 Ähnlich verhielt sich aber auch die Bevölkerung: Um knappe 49

Mittag an Ulbricht: Beschlußentwurf, wie auf dem Gebiet der Planung und Leitung weitergearbeitet werden muß, 4. 10. 65, SAPMO-BA, NY4182/973, Bl. 33; Referat des... Gen. Willi Stoph vor den ersten Sekretären der Bezirksleitungen der SED und des Vorsitzenden der Räte der Bezirke über Probleme der Plandurchführung 1970… am 21. 9. 70, SAPMOBA, DY30 IV A2/2021/474. Siehe: Steiner, DDR-Wirtschaftsreform (wie Anm. ), 493. 50 Ministerium der Finanzen, Inspektion: Ergebnis einer Prüfung im Zentralen Investitionsbüro Sportbauten des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport über die Ordnungsmäßigkeit der Verwendung staatlicher Mittel für Investitionen, 18. 1. 79, SAPMO-BA, DY30/2779, Bl. 280f. 51 Mit einer Fülle auch archivalischer Belege dazu erstmals breiter: Jonathan R. Zatlin, The Currency of Socialism. Money and Political Culture in East Germany. Cambridge 2007, 153–155, 172–181, 230–234. Zatlin legt allerdings einen breiteren Begriff von Korruption als hier zugrunde. 52 Francesca Weil, Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära. Köln 2000, 62. 53 Alles nach: Friedrich Thießen (Hrsg.), Zwischen Plan und Pleite. Erlebnisberichte aus der Arbeitswelt der DDR. Köln 2001, 47, 85, Zitat 75.

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Konsumgüter oder Dienstleistungen zu erlangen, bestach man Personen in den Instanzen, bei denen diese verteilt wurden oder erworben werden konnten. Das betraf begehrte Nahrungsmittel ebenso wie Bücher, Pkw und den Führerschein oder Urlaubsplätze an der Ostsee. Angesichts der allgemeinen Wohnungsnot blieb es nicht aus, daß auf dem Wohnungsamt ebenfalls „geschmiert“ wurde. In einem (Ost-)Berliner Wohnungsamt vergaben im Jahr 1971 zwei Mitarbeiterinnen 12 Wohnungen „gegen Bestechungsgelder oder an Verwandte“. Dabei nahmen sie je Wohnung 1000 bis 3000 Mark, wobei sich das durchschnittliche Monatseinkommen im gleichen Jahr auf 792 Mark belief. Beide Mitarbeiterinnen wurden inhaftiert und aus der SED ausgeschlossen.54 Dieser Fall war wohl ebensowenig wie der folgende ein Einzelfall. Über diesen Fall wurden Erich Honecker und Günter Mittag 1977 und 1979 informiert, weshalb er besonders gut dokumentiert ist55: Dabei hatten „leitende Funktionäre, darunter auch Generaldirektoren, Direktoren und Fachdirektoren volkseigener Betriebe seit dem Jahre 1973 angewiesen beziehungsweise geduldet, daß hochwertige Industriewaren, wie zum Beispiel Spirituosen in Formflaschen, Uhren, Kaffee- und Speiseservices, Cognacservices, Bleikristalle, Besteckgarnituren, Lederwaren, Grills, Staubsauger, Radios, Ferngläser, elektrische Manikür- und Küchengeräte, Stoffe, NSWKosmetika [aus dem westlichen Ausland, A. S.], Rasierapparate und so weiter zu Bestechungszwecken verwandt wurden, um Lieferungen und Leistungen von anderen Betrieben zu erlangen.“ Der Erwerb dieser Güter wurde verschleiert, indem man sie als „diverses Büromaterial“ deklarierte, was nur auf Grund der „meist total überhöhten Planansätze für Büromaterialien“ möglich war. Zudem hatten sich auch zahlreiche Mitarbeiter der Betriebe persönlich bereichert. Besonders inkriminiert wurde von der Staatsanwaltschaft, daß es sich bei diesen Waren oft um Mangelwaren handelte, die damit nicht mehr der Versorgung der Bevölkerung zugute kamen. Allerdings resultierte gerade daraus ihr Wert als Bestechungsmittel. Bezeichnend war jedoch, daß die Anklagebehörde die „Triebkraft“ für diese Praktiken in der privaten Handelsfirma Keltz & Meiners KG Berlin ausmachte56, die damit höhere Gewinne erzielen wollte. Diese Firma hätte bei Kaufangeboten die Mitarbei54

Abt. Parteiorgane, Dohlus an Erich Honecker, 1.2.72: Information zu Erscheinungen der Korruption und der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch Mitarbeiter im Wohnungswesen des Stadtbezirkes Berlin-Treptow, 31.1.72, SAPMO-BA, DY30 J IV 2/2J/3942. 55 Alle Informationen und Zitate im folgenden nach: Erich Mückenberger an Günter Mittag: Kurze Zusammenfassung der Dokumentation des Generalstaatsanwaltes der DDR über festgestellte Erscheinungen von Vergeudung und Korruption durch volkseigene Betriebe, staatliche Organe und Einrichtungen, 1. 2. 79, SAPMO-BA, DY30/2779, Bl. 305–314. Siehe auch: Günter Mittag an Erich Honecker, 9. 11. 77, SAPMO-BA, DY30/2777, Bl. 123–134. 56 Zu den privaten Handelsbetrieben siehe: Heinz Hoffmann, Der Kommissionshandel im planwirtschaftlichen System der DDR. Eine besondere Eigentums- und Handelsform. Leipzig 2001.

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ter der VEB auf die Verschleierungsmöglichkeiten hingewiesen und damit bei diesen zunächst noch bestehende Hemmungen abgebaut. Mitwisser „wurden mit gestohlenen Waren großzügig beschenkt, um deren Schweigen zu erkaufen“. Das Führungspersonal dieser Betriebe oder deren Einkäufer bestachen mit den „Geschenkartikeln“ Leiter und Mitarbeiter anderer Betriebe. Dadurch wurden sie außerhalb des Planes bevorzugt mit Materialien beliefert und erlangten Reparaturen und andere Dienstleistungen. Darüber hinaus konnten sie sich so Ersatzteile und Werkzeuge beschaffen sowie betriebliche Ferienheime und Verwaltungsräume mit „Waren des Bevölkerungsbedarfs“ ausstatten. In diesem Zusammenhang war laut Staatsanwaltschaft die Meinung verbreitet, „daß nur durch entsprechende Geschenke die jeweiligen Vertragspartner zu Lieferungen und Leistungen gewonnen werden können. Man sagte ganz offen, daß man vor allem wertintensive Geschenke übergeben müßte, und zwar wiederholt, weil durch eine einmalige Übergabe die Liefer- und Leistungsbereitschaft auf die Dauer nicht aufrecht erhalten würde“. Zudem erschien „es im Laufe der Jahre immer schwieriger [...], Material zu beschaffen, wenn nicht gleichzeitig mit den Verhandlungen den Verhandlungspartnern Geschenke gemacht wurden. Während bis zum Jahre 1973 in der Regel eine Schachtel Zigaretten oder ein Päckchen Kaffee ausreichten, sei ab 1973 oder [19]74 mit diesen kleinen Geschenken absolut nichts mehr zu erreichen gewesen. Die Geschenke wurden immer größer und wertintensiver. Zuletzt seien Verhandlungsergebnisse nur noch durch die Überreichung wertvoller Artikel, wie elektrischer Haushaltsgeräte, Glas- und Porzellanerzeugnisse, Spirituosen, Uhren, Lederwaren und teure Kosmetikartikel zu erreichen gewesen.“ Zugleich hielten die Ankläger fest, „daß der Kreis der in die Manipulationen einbezogenen Mitarbeiter von Betrieben und Einrichtungen sich ständig erweiterte und die Schädigung des Volkseigentums nach und nach immer größere Formen annahm […].“ Zum Zeitpunkt des Berichtes waren 52 Mitarbeiter rechtskräftig verurteilt. Zudem wurde die private Firma Keltz & Meiners KG Berlin in das Fachgeschäft Bürobedarf des Versorgungskontors Papier und Bürobedarf umgewandelt, wie es der Bericht vermerkte, was wohl heißen sollte, daß sie verstaatlicht worden war. Unabhängig von der Stichhaltigkeit des Vorwurfs entsprach es dem herrschenden Diskurs, daß die Anklage das Zentrum dieses Korruptionsfalles in einem privaten Betrieb sah. Gleichzeitig demonstriert dieses Beispiel, wie die Notwendigkeit der Geheimhaltung des Regelverstoßes tendenziell dazu führt, daß sich der Kreis der Beteiligten immer weiter ausdehnt. Dies entspricht der Logik von Inklusion und Exklusion, bei der der gemeinsame Regelverstoß die Teilnahmebedingung an dem informellen Netzwerk ist, was wiederum Vertrauen und reziproke Verpflichtungen schafft.57 Jedoch nicht nur solche Beziehungsgeflechte breiteten sich aus, sondern in der Phase des Niedergangs 57

Siehe Fischer, Korruption, in diesem Band.

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der DDR nahmen seit dem letzten Drittel der siebziger Jahre die Mangelerscheinungen sowohl bei den Ressourcen und Vorleistungen für die Betriebe als auch bei den Konsumgütern für die Bevölkerung zu, was wiederum eine Ausweitung des „grauen“ Marktes nach sich zog. Ein Indikator dafür war der Anstieg des Anteils der mit Beschaffung und Absatz befaßten Beschäftigten zwischen 1975 und 1988.58 Die zunehmende Bedeutung des „grauen“ Markts für die Betriebe war – so eine weitere These – mit steigender Korruption verbunden. Das belegen auch Aussagen von damals Beteiligten, wenngleich diese als übertrieben erscheinen: „Schon in den siebziger Jahren wuchs die allgegenwärtige Korruption ins Ungemessene. Ihre Metastasen wucherten überall. Selbst Ämter waren nicht mehr frei davon. Ein Zehnmarkscheinchen ‚Westgeld‘ und ein Päckchen ‚Jacobs Krönung‘ eröffneten viele Möglichkeiten. Ebenso wuchs das allgemeine ‚Organisieren‘ in den Betrieben, und es gab dabei kein Unrechtsbewußtsein mehr.“59 Die Bevölkerung wollte auf diesem Weg in der Regel legitime Konsumbedürfnisse befriedigen, wohingegen es den Betrieben primär darum ging, die Produktion und die Planerfüllung abzusichern, wenngleich die Verantwortlichen damit zugleich individuelle materielle Interessen verfolgten. Angesichts des sich wieder verstärkenden Mangels begründete die Verletzung formaler Regeln zugleich informelle Regeln, mit denen dieses Vorgehen als legitim betrachtet wurde. Zudem kann davon ausgegangen werden, daß sich diese Form der Alltagskorruption für die Beteiligten auch durch die Staatskorruption des Nomenklatursystems rechtfertigte und insofern beide eine symbiotische Beziehung eingingen. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Erscheinungsformen bildeten die Vorteile, die das mittlere und untere Führungspersonal in den politischen und wirtschaftlichen Institutionen aus seinen Positionen zog, die wiederum vor den nachgeordneten Mitarbeitern und damit der Bevölkerung nicht verborgen werden konnten. Diese Positionen waren nicht alle Bestandteil des Nomenklatursystems, aber im kleinen wurde hier ähnliches praktiziert. Dabei verbreitete sich seit den späten siebziger Jahren das Phänomen, daß sich dafür vorgesehene Kandidaten einem Karriereaufstieg verweigerten. In solchen Fällen wurden die für eine höhere Position Vorgesehenen mit besseren Wohnungen oder Ausbildungsplätzen für die Kinder „überzeugt“, so daß sie dann den Posten doch übernahmen.60 Außerdem war es in den siebziger und 58 André Steiner, Das DDR-Wirtschaftssystem: Etablierung, Reformen und Niedergang in historisch-institutionenökonomischer Perspektive, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics. Dortmund 2004, 113–131, 130. 59 Thießen (Hrsg.), Zwischen Plan und Pleite (wie Anm. 53), 197. 60 Vgl. Heike Förster, Entwicklung von Handlungsstrategien bei Führungskräften in der DDR-Wirtschaft. Eine empirische Untersuchung von Lebens- und Karriereverläufen ehemaliger Betriebs- und Kombinatsdirektoren. Frankfurt am Main 1995, 165f.; Dietmar Remy, Kaderauswahl und Karrieredeterminanten beim Kombinat VEB Carl Zeiss Jena in der Ära Biermann (1975–1989), in: Historical Social Research 30, 2005, 50–72, 66.

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achtziger Jahren zunehmend Praxis, daß dem betrieblichen Führungspersonal mit Sonderverträgen zusätzliche Treueprämien gezahlt wurden, obwohl darauf kein Anspruch bestand. Allgemein versuchten die Branchenleitungen, Kombinate und Betriebe immer wieder, die ohnehin relativ hohen Sondergehälter mit weiteren Zulagen zu erhöhen. Alle diese Schritte dienten ebenso wie Auszeichnungen mit Ehrentiteln oder Orden, die mit entsprechenden Dotationen verbunden waren, dazu, die leitenden Mitarbeiter zu halten. Außerdem wurden zumindest in ausgewählten Kombinaten für die Direktoren, Sekretäre der SED-Parteiorganisation und Gewerkschaftsvorsitzende die Grund- und Gesprächsgebühren ihrer privaten Telefonanschlüsse übernommen. Bei den stellvertretenden Direktoren und ausgewählten Ingenieuren bezahlte der Betrieb immerhin noch die Anschluß- und Grundgebühren. Zudem konnte dieser Personenkreis seine Dienstwagen auch für private Zwecke nutzen.61 Zwar entsprachen die letzten Praktiken auch funktionalen Erfordernissen, aber zugleich hatten sie – gerade unter den Bedingungen einer sehr niedrigen Ausstattung der Haushalte mit Telefonanschlüssen und einem stark begrenzten Angebot von Personenkraftwagen (PKW) – auch korrumpierenden Charakter. Dieser kam – während Normalbürger bis zu 15 Jahre auf einen PKW warteten – ebenso dem bevorzugten Verkauf von PKW an das Führungspersonal der verschiedenen Ebenen zu. Auf diesem Weg wurde ein Viertel der produzierten und importierten Autos verteilt.62 Neben diesen staatlich mehr oder weniger sanktionierten Formen der Privilegierung und Korrumpierung nahm in den siebziger und achtziger Jahren anscheinend auch der illegale Mißbrauch der eigenen Positionen auf den unteren und mittleren Ebenen zu. Beispielsweise beanspruchten die Direktoren einer Wohnungsverwaltung deren Mittel und Bauhandwerker für persönliche Zwecke63, was – wie bereits vermerkt – auch ein Reflex auf die Uneindeutigkeit der Rechtstitel des „Volkseigentums“ war. Zugleich wurde – so eine weitere Annahme – die SED-Spitze in den siebziger und achtziger Jahren bei der Ausnutzung ihrer eigenen Position immer skrupelloser, da sie davon ausging, daß das „Volk“ mit der unter Honecker als Parteichef deutlich ausgedehnten Konsum- und Sozialpolitik auch entsprechend „bedient“ wurde. Das entsprach ebenfalls der nun herrschenden Doktrin, weniger für die ferne Zukunft zu versprechen, sondern Leistungen mehr im Hier und Heute zu honorieren. Zugleich bekam das Nomenklatur61

Annette Wilczek, Einkommen – Karriere – Versorgung. Das DDR-Kombinat und die Lebenslage seiner Beschäftigten. Berlin 2004, 81, 92–95, 101, 152, 171. 62 Klemm, Korruption (wie Anm. 12), 29. Mit Einzelbeispielen siehe: Zatlin, Currency (wie Anm. 51), 239f. 63 Abt. Parteiorgane, Dohlus an Erich Honecker, 1. 2. 72: Information zu Erscheinungen der Korruption und der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit durch Mitarbeiter im Wohnungswesen des Stadtbezirkes Berlin-Treptow, 31. 1. 72, SAPMO-BA, DY30 J IV 2/2J/3942.

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system unter Honecker einen noch stärkeren Patronagecharakter als unter seinem Vorgänger. Über die Praktiken in der obersten Führungsspitze in den siebziger und achtziger Jahren liegt durch die oben bereits erwähnten Prozesse relativ viel Material vor. Dabei ging es vor allem um vier Tatbestände: die privilegierte Versorgung der Politbüro-Siedlung Wandlitz, die Beschaffung und Verschönerung von Wohnraum, die Jagdgebiete sowie sonstige Privilegien.64 Der Politbüro-Wohnort Waldsiedlung bei Wandlitz entstand Anfang der sechziger Jahre und bestand aus 23 Häusern für die Mitglieder der SED-Spitze. Diese Häuser waren äußerlich eher schlicht, aber mit acht Zimmern relativ geräumig und bieder-solide vollmöbliert. Sie kosteten 370 Mark Miete im Monat. In der Siedlung befanden sich außerdem ein Schwimmbad, ein Kino, eine Klubgaststätte, medizinische Einrichtungen und ein Laden. Zuletzt arbeiteten dort insgesamt 650 Beschäftigte, die den SED-Führern jeden Wunsch von den Augen abzulesen hatten. Für die Versorgung, Betreuung und den Schutz war das MfS verantwortlich, und für die billige Versorgung mit Westwaren hatte der Bereich Kommerzielle Koordinierung unter Alexander Schalck-Golodkowski zu sorgen. Zwar lag eine Kalkulationsgrundlage für die Festsetzung der Preise der Westwaren in dem Siedlungsladen vor, die den DM-Preis mit einigen Zuschlägen berücksichtigte. Aber oft wurden die Preise freihändig festgelegt. Eine Prüfung für 1988/89 ergab, daß der DDRMark-Preis in 15% der Fälle unter dem DM-Aufwandspreis lag.65 Diese Güter waren für durchschnittliche DDR-Bürger meist gar nicht und wenn, doch nur zu deutlich höheren Preisen zu erhalten. Einkaufsberechtigt in dem Laden in der Waldsiedlung Wandlitz waren circa 260 Personen. Weiter standen der SED-Spitze Volvo-Limousinen zur Verfügung, weshalb die Waldsiedlung Wandlitz im Volksmund in Anlehnung an Wolgograd (das ehemalige Stalingrad) auch Volvograd genannt wurde. Außerdem tankten die Politbüromitglieder und ihre Familienangehörigen bis zu den Kindern für private Zwecke kostenlos. Das Ehepaar Honecker konnte allein auf 14 Privatfahrzeuge zugreifen. Darüber hinaus standen für die Mitglieder der SED-Spitze noch andere Leistungen bereit. Der Bedarf an westlichen Devisen für die Waldsiedlung stieg ständig: 1973 war es noch 1 Mio. DM, und 1989 wurden über 8 Mio. DM dafür ausgegeben. In den Jahren von 1980 bis 1989 waren etwa 42 Mio. DM erforderlich, was nur etwa 0,2% der 1989 bestehenden Westverschul64 Soweit nicht auf andere Quellen verwiesen wird, beruht die folgende Zusammenstellung auf: Fahnenschmidt, DDR-Funktionäre vor Gericht (wie Anm. 13), 42–50. Dokumente aus den Prozessen und die relevanten juristischen Regelungen der DDR finden sich in: Marxen/Werle (Hrsg.), Amtsmißbrauch und Korruption (wie Anm. 11). 65 Letzteres nach: Dieter Lösch/Peter Plötz, HWWA-Gutachten. Die Bedeutung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung für die Volkswirtschaft der DDR, in: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski. Bericht des 1. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages. Anhangband 1994, 3–158, 45.

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dung der DDR entsprach.66 Jedoch entstand in den achtziger Jahren für die Einkaufsberechtigten in der Waldsiedlung ein geldwerter Vorteil pro Person und Jahr von überschlägig 64 102 Mark, während sich das durchschnittliche Jahreseinkommen der vollbeschäftigten Arbeitnehmer 1989 auf 15 732 Mark belief.67 Dazu kamen noch weitere in DDR-Mark anfallende Kosten. Des weiteren nutzten die Mitglieder der SED-Spitze ihre Positionen, um sich verbilligt oder umsonst Wohnraum zu beschaffen oder ihn zu verbessern. Meist wurden staats- oder parteieigene Wohnhäuser erworben, wobei der Preis deutlich unter dem Wert lag, was den Beteiligten auch klar war. Dieses Verfahren praktizierten verschiedenste Funktionäre bis hinunter auf die regionale Ebene. In anderen Fällen wohnten Angehörige, wie die Töchter von Günter Mittag, zu minimalen Mieten beziehungsweise ohne Miete in Häusern, die aus dem Staatshaushalt oder durch gesellschaftliche Organisationen finanziert worden waren. Es kam auch vor, daß private Häuser mit staatlichen oder Parteimitteln rekonstruiert oder renoviert wurden, wie im Falle des CDU-Vorsitzenden Gerald Götting. Ein weiterer Schwerpunkt der Regierungskorruption war die privilegierte Ausstattung und aufwendige Unterhaltung von eigenen Jagdgebieten nach den Wünschen der Inhaber. Auch dies war bis auf die Regionalebene Praxis. Darüber hinaus nahmen sich die Mitglieder der SED-Spitze noch weitere Privilegien, die hier nicht weiter im Detail auszuführen sind. Insgesamt ist aber anzumerken, daß die sich aus dem System ergebenden Möglichkeiten des Amtsmißbrauches von den Beteiligten in unterschiedlichem Umfang genutzt wurden. Alles in allem war das „Bolsche Vita“ der SED-Spitze im Vergleich mit anderen Führungen wohl eher bescheiden, und es belastete auch nur in geringem Maße die volkswirtschaftliche Bilanz. Aber vor dem Hintergrund der selbst propagierten Leitbilder und des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung erschien es unangemessen und als Amtsmißbrauch.

III. Zusammenfassung Nach dem offiziellen Leitbild war Korruption eine Erscheinung des kapitalistischen Westens, und wenn sie doch im Sozialismus auftrat, war das mit privaten Firmen oder überlebten Charaktereigenschaften einzelner verbunden. Dieses Leitbild wurde bereits kurz nach Kriegsende etabliert und später im Zusammenhang mit aufgedeckten Korruptionsfällen immer wieder reproduziert. Ungeachtet dessen ließen sich anhand der Systemstrukturen im 66

Lösch/Plötz, HWWA-Gutachten KoKo (wie Anm. 65), 45; Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989. Frankfurt am Main 1999, 60. 67 Lösch/Plötz, HWWA-Gutachten KoKo (wie Anm. 65), 46; Statistisches Jahrbuch der DDR 1990. Hrsg. v. Statistischen Amt der DDR. Berlin 1990, 144.

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Staatssozialismus Möglichkeiten zur Korruption vor allem in drei Funktionszusammenhängen ausmachen. Erstens begünstigte das Nomenklatursystem Erscheinungen des Amtsmißbrauchs ebenso wie der Bestechung. Letztere sollte Loyalität sichern und stellte zugleich eine Wohlverhaltensprämie dar. In der DDR waren diese Formen von Anfang an verbreitet, wurden überwiegend offiziell gefördert beziehungsweise toleriert und weiter ausgebaut, wobei es sich nahezu ausschließlich um Bestechung von oben nach unten handelte. Die „Superkorruption“ hat in dem Nomenklatursystem – so scheint es – kaum eine Rolle gespielt. Vor dem Zusammenbruch des Systems im Herbst 1989, bei dem die öffentliche Benennung dieser Praktiken als Katalysator wirkte, wurden nur Auswüchse davon bekämpft, die in den Augen der SED-Spitze als Übertreibung galten, wobei diese Fälle wohl meist in anderen Zusammenhängen instrumentalisiert wurden. Zweitens ist es vorstellbar, daß in dem vertikal angelegten Abstimmungsprozeß, in dem die Pläne erstellt und Ressourcen verteilt wurden, Korruption eine Rolle spielte, mit der die nachgeordneten Ebenen ihre Situation verbessern wollten. In der DDR war diese Form – soweit bisher bekannt – kaum von Bedeutung und wäre wohl auch bekämpft worden, gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, daß vereinzelt versucht wurde, auf diesem Weg Vorteile zu erlangen. Und drittens wurden Möglichkeiten der Korruption im Zusammenhang mit dem innerhalb der Planwirtschaft existierenden „grauen“ Markt ausgemacht. Dort wurde in der DDR, und offenbar in ihrer Niedergangsphase verstärkt von den Betrieben ebenso wie der Bevölkerung Korruption eingesetzt, um an benötigte Ressourcen aller Art, Konsumgüter und Dienstleistungen zu kommen. Diese Praktiken tolerierte man weitgehend. Wenn sie allerdings, noch dazu in größerem Ausmaß, bekannt wurden, bekämpfte man sie auch. Für den Tolerierungsgrad waren vielfach Opportunitätskriterien entscheidend, schließlich erwies sich auch diese Form der Korruption innerhalb des Systems betrachtet als funktional. Über den Umfang der Korruption vor allem in vergleichender Perspektive läßt sich bislang wenig sagen. Eines scheint aber auffällig: Unter ähnlichen Systembedingungen hatte Korruption beispielsweise in der Sowjetunion oder in der Volksrepublik Polen eine höhere Anziehungskraft als in der DDR. Das verweist darauf, daß den Systemstrukturen nur ein bedingter Erklärungswert zukommt. Vielmehr ist hier ebenso nach längerfristigen historischen, vor allem auch kulturellen Prägungen und Mustern zu fragen, was hier aber nur als künftiges Forschungsproblem benannt sei. Gleichwohl war Korruption im Staatssozialismus sowohl ein Ergebnis der institutionellen Schwäche des Systems als auch ein Mittel, die makroökonomische Stabilität aufrechtzuerhalten.68 Jedoch war die damit erreichte Ressourcenallokation nicht optimal. Insofern ist in der Literatur von funktiona68

Vgl. auch: Schwartz, Corruption (wie Anm. 21), 427.

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len Dysfunktionalitäten gesprochen worden.69 Die gezeigten Praktiken von Korruption verweisen nicht nur darauf, daß man „weit von den erträumten und mit allen Zwangsmitteln angestrebten Laborbedingungen für das sozialistische Experiment entfernt war“70, sondern zeigen gewissermaßen auch die systemimmanenten Modernisierungsgrenzen auf.

69 70

Clark, Crime and Punishment (wie Anm. 21), 65f. So Fischer, Korruption, in diesem Band.

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Korruption als europäisches Erbe? Klientelismus, Kolonialismus und Kleptokratie in Afrika Von

Axel T. Paul I. Korruption ist keine afrikanische Besonderheit, und doch ist sie ein insbesondere in Afrika grassierendes Problem. Zwar dürften Kleptokraten vom Schlage eines Bokassa oder Mobutu, was die von ihnen persönlich veruntreuten Summen angeht, in die Champions League korrupter Akteure gehören, das Gros der Korruptionsfälle in Afrika spielt sich jedoch unterhalb der politisch obersten Ebenen ab. Wer im Umgang mit den staatlichen Autoritäten vom Polizisten auf der Straße bis zum Richter im Gerichtssaal keine Fürsprecher hat, wird seiner Sache nur mit hinreichend Geld oder sonstigen Begünstigungen das nötige Gewicht verleihen können. „Große“ und „kleine“ Korruption sind derweil nicht grundverschieden, sondern Pole eines Kontinuums. Korruption ist in Afrika endemisch, oder mit den Worten Médards: „It is corruption which is normal and the absence of corruption which is abnormal.“1 Von der Mehrzahl der heutigen Beobachter wird sie als wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen und politischen Malaise des afrikanischen Kontinents angesehen: „It has generally impoverished and marginalized the African peoples.“2 Jedoch wurde Korruption in ihrer Bedeutung für die Entwicklung Afrikas wie unterentwickelter Gesellschaften überhaupt in den sechziger Jahren ganz anders eingeschätzt.3 Sie galt als unvermeidlicher Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierung, als durch das Auftauchen neuer Macht- und 1 Jean-François Médard, Public Corruption in Africa: A Comparative Perspective, in: Corruption and Reform 1, 1986, 115–131, hier 125. 2 John M. Mbaku, Bureaucratic and Political Corruption in Africa. The Public Choice Perspective. Malabar 2000, 17. Die Belege ließen sich beliebig vermehren. 3 Siehe Samuel Huntington, Modernization and Corruption [1968], in: Arnold J. Heidenheimer u. a. (Eds.), Political Corruption. A Handbook. New Brunswick/Oxford 1989, 377–388; Nathaniel H. Leff, Economic Development Through Bureaucratic Corruption [1964], in: ebd. 389–403; David H. Bayley, The Effects of Corruption in a Developing Nation [1966], in: ebd. 935–952; Joseph S. Nye, Corruption and Political Development. A Cost-Benefit Analysis [1967], in: ebd. 963–983; James C. Scott, The Analysis of Corruption in Developing Nations, in: Comparative Studies in Society and History 11, 1969, Nr. 3, 315–341.

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Reichtumsquellen sowie die Entstehung neuer sozialer Schichten bedingter Konflikt zwischen traditionalen, am Wohlergeben der eigenen familiären oder ethnischen (Klein-)Gruppe orientieren und modernen, das persönliche Fortkommen und indirekt die Entwicklung einer liberalen Gesellschaft fördernden Normen.4 Darüber hinaus wurde ihr attestiert, sie erleichtere, ja, fördere den Übergang von der Tradition zur Moderne. In politischer Hinsicht galt sie im Unterschied zu gewaltsamem, möglicherweise revolutionärem Widerstand als nachgerade integrative Protestform: „He who corrupts a system’s police officer is more likely to identify with the system than he who storms the system’s police station.“5 Wo die politische Partizipation der Bürger gesetzlich ausgeschlossen oder eingeschränkt sei, so die Überlegung, sei das Sich-Einkaufen in politische Ämter eine zwar nicht ideale, immerhin aber eine indirekte Form der Teilhabe. Zudem ging man davon aus, daß korrupte Praktiken der privaten Wirtschaft dabei hülfen, sich gegen die in den neuen Staaten übergroße Bürokratie durchzusetzen. Die aus wirtschaftsliberaler Perspektive illegitimen, wenn auch legalen Monopole könnten mittels Korruption durch illegale, dafür jedoch legitime Konkurrenz aufgebrochen werden: „In terms of economic growth, the only thing worse than a society with a rigid, overcentralized bureaucracy is one with a rigid, overcentralized, honest bureaucracy.“6 Der naheliegende Einwand, daß eine vorübergehende funktional motivierte Akzeptanz von Korruption langfristig normativ dysfunktionale Wirkungen habe7, wurde von der Modernisierungstheorie mit dem Argument abgewiesen, daß die Verbreitung von selbstsüchtigem Verhalten dem wirtschaftlichen Wettbewerb und damit Wachstum nur dienlich sein könne.8 Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die politischen und wirtschaftlichen Zustände im Afrika der sechziger Jahre erscheinen im Rückblick als geradezu paradiesisch. Zwar war schon früh absehbar, daß die Entwicklung des Kontinents nach dem formalen Rückzug der Kolonialmächte länger dauern und sich schwieriger gestalten würde als zunächst angenommen. Gemessen jedoch an der Verarmung, dem politischen Despotismus und insbesondere den (Bürger-)Kriegen der letzten 10 bis 15 Jahre9, muten die 4

Siehe dazu ohne modernisierungstheoretische Emphase auch M. McMullan, A Theory of Corruption, in: Sociological Review 9, 1961, 181–201. 5 Huntington, Modernization and Corruption (wie Anm. 3), 381. 6 Ebd. 386. 7 Vgl. Gunnar Myrdal, Asiatisches Drama. Eine Untersuchung über die Armut der Nationen. Frankfurt am Main 1973, 197–206; Gerald E. Caiden/Naomi J. Caiden, Administrative Corruption, in: Developments in Research 37, Nr. 3, 1977, 301–309, hier 306– 308. 8 Siehe Leff, Economic Development Through Bureaucratic Corruption (wie Anm. 3), 400. 9 Siehe Robert D. Kaplan, The Coming Anarchy, in: ders., The Coming Anarchy. Shattering the Dreams of Post Cold War. New York 2000, 3–57.

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frisch in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten Afrikas als Horte des Wohlstands, der Rechtsstaatlichkeit und des Friedens an. Nach heute allgemein geteilter Ansicht hat die Korruption diese negative Entwicklung zu wesentlichen Teilen verursacht.10 Von ihren positiven Effekten ist heute keine Rede mehr. Nicht-Regierungsorganisationen – allen voran Transparency International –, die staatlichen Entwicklungshilfestellen des Nordens, Weltbank und Internationaler Währungsfonds und mittlerweile die Afrikanische Union selbst haben sich den Kampf gegen die Korruption in der Dritten Welt und anderswo auf ihre Fahnen geschrieben.11 Hinter der gemeinsamen Zielsetzung verbergen sich indes konträre Vorstellungen und Interessen: Globalisierungskritischen und örtlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen ist es vor allem um die politische Zähmung des Marktes und der korrumpierenden Macht des Geldes zu tun. Dagegen verfolgen die gegenwärtig in Politik und Wissenschaft dominanten (neo-)liberalen Akteure und Autoren mit ihrer Kritik der Korruption dasselbe Ziel wie die ältere Modernisierungstheorie12: das der Stärkung des Marktes auf Kosten des Staats. Weiterhin fällt auf, daß sowohl die alte korruptionsfreundliche Modernisierungstheorie als auch der korruptionskritische Hegemonialdiskurs unserer Tage sich vor allem für die Folgen und weniger für die Ursachen von Korruption interessieren. Was aber ist Korruption? Eine herkömmliche Definition faßt sie als den privaten Mißbrauch öffentlicher Ämter für private Zwecke.13 Ihr zufolge ist Korruption als unzulässige Verquickung des Öffentlichen und des Privaten zu verstehen, das heißt zweier Sphären, die freilich mit einem Zeitindex zu versehen sind. Tatsächlich hat von Korruption zu sprechen nur Sinn, wo ein öffentlicher, politisch-administrativer einem privaten, wirtschaftlichen Bereich gegenübersteht. Dementsprechend begegnet das Problem der Korrup10 Siehe M. Shahdid Alam, Anatomy of Corruption. Approach to the Political Economy of Underdevelopment, in: American Journal of Economics and Sociology 48, Nr. 4, 1989, 441–456; Paolo Mauro, Corruption and Growth, in: Quarterly Journal of Economics 110, Nr. 3, 1995, 681–712; Mustaq H. Khan, The Efficiency Implications of Corruption, in: Journal of International Development 8, Nr. 5, 1996, 683–696. 11 Siehe Ivan Krastev, When „Should“ Does not Imply „Can“. The Making of the Washington Consensus on Corruption, in: Wolf Lepenies (Ed.), Entangled Histories and Negotiated Universals. Centers and Peripheries in a Changing World. Frankfurt am Main/New York 2003, 105–126; Mlada Bukovansky, The Hollowness of Anti-Corruption Discourse, in: Review of International Political Economy 13, Nr. 2, 2006, 181–209, hier www.africa-union.org/root/au/Documents/Treaties/Text/Convention%20on 185–194; %20Combating%20Corruption.pdf; Akere Muna, Understanding the African Union Convention on Preventing and Combating Corruption and Related Offences. Berlin 2005. 12 Zur Aktualisierung des Paradigmas siehe Wolfgang Knöbl, Modernization Theory, Modernization and African Modernities, in: Jan-Georg Deutsch u. a. (Eds.), African Modernities. Entangled Meanings in Current Debate. Oxford 2002, 158–178. 13 Siehe Michael Johnston, Keeping the Answers, Changing the Questions: Corruption Definitions Revisted, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. Wiesbaden 2005, 61–76.

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tion in der europäischen Neuzeit erst im Zusammenhang mit der Transformation absolutistisch-patrimonialer in legale, bürokratische Herrschaft.14 Neuere Definitionen streichen demgegenüber den Verweis auf ein öffentliches Gut, das mißbraucht werden könnte.15 Der Standard, demgegenüber Korruption als Abweichung erscheint, ist ein vermeintlich ort- und zeitloses Marktgeschehen. Tanzi zum Beispiel versteht Korruption als „the intentional non-compliance with the arm’s-length principle aimed at deriving some advantage for oneself or for related individuals from this behavior“.16 Dieser Definition zufolge ist Korruption der Verstoß gegen das Prinzip eines fairen Markttauschs. Korruption erscheint mithin als ein Mangel an Markt. Zugleich jedoch – und hier wird die vermeintlich geschliffene Differenz wieder eingeführt – ist Korruption nichts anderes als das marktgerechte Verhalten von Individuen, denen ein solches qua Amt verboten ist.17 Doch anstatt die Differenz von Öffentlichem und Privatem einzufordern, wird ein angeblich desaströser Primat des Staates beklagt. Korruption ist dieser ökonomischen Schule zufolge allein durch eine Reduktion von Bürokratie und politischer Regulierung zu beheben. Die Probleme eines derartigen Zugriffs auf die Korruption sind schnell benannt: Zum einen besteht, anders als von der neueren Forschung insinuiert, keine eindeutige positive Korrelation zwischen big government und Korruption. Zwar liegt auf der Hand, daß das mögliche Ausmaß von Korruption mit dem Umfang von Gesetzgebung und Verwaltungsakten zunimmt. Falsch jedoch ist, daß ein ausgreifender Staat notwendigerweise ein sonderlich korruptes Verhalten seiner Beamten und Bürger nach sich zieht, wie etwa ein Blick auf die Staatsquote und den Index für Korruptionsanfälligkeit18 der skandinavischen Länder lehrt. Zum anderen fragt sich, wer, wenn nicht eine effiziente Verwaltung, in hochgradig korrupten Gemeinwesen über die Implementierung von Antikorruptionsmaßnahmen wachen sollte.19 Keine Marktwirtschaft kommt ohne einen neutralen, ökonomisch (zunächst 14

Siehe Jacob van Klaveren, Die historische Erscheinung der Korruption in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44, 1957, 289–324. 15 Siehe Robert Williams, New Concepts for Old, in: Third World Quarterly 20, Nr. 3, 1999, 503–513. 16 Vito Tanzi, Corruption: Arm’s-Length Relationships and Markets, in: Gianluca Fiorentini/Sam Peltzman (Eds.), The Economics of Organized Crime. Cambridge 1995, 161– 180, hier 167. 17 Siehe Susan Rose-Ackerman, Corruption, in: Charles K. Rowley/Friedrich Schneider (Eds.), The Encyclopedia of Public Choice. Dordrecht 2004, 67–76, hier 67. 18 Seit 1995 veröffentlicht Transparency International einen Corruption Perception Index; siehe www.transparency.org. 19 Zu beiden Punkten siehe Jonathan Hopkin, States, Markets and Corruption: A Review of Some Recent Literature, in: Review of International Political Economy 9, Nr. 3, 2002, 574–590.

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einmal) desinteressierten, „marktfremden“ Dritten aus, der einen zivil- und strafrechtlichen Rahmen setzt und gegebenenfalls die Einhaltung und Erfüllung der freiwillig geschlossenen Verträge der Marktakteure erzwingt. Die Vorschläge der neoliberalen Korruptionsforschung erschöpfen sich daher schnell in Allgemeinheiten dergestalt, daß das legal-administrative Anreizsystem grundlegend geändert werden müsse, oder münden nach ihrer mit Verve vorgetragenen Staatsschelte einigermaßen paradox in die Forderung nach guter Führung.20 Die Ergebnisse und Behauptungen der ökonomisch orientierten Korruptionsforschung sind diesen Einwänden zum Trotz nicht bloße Ideologie. Es steht außer Frage, daß die politischen Eliten Afrikas sich auf Kosten ihrer Bevölkerungen schamlos bereichern und die Bürokratien der meisten afrikanischen Staaten aufgeblasen sind. Ebenso steht die Korruption der Entwicklung einer Marktwirtschaft im westlich-normativen Sinne entgegen. Doch anstatt die Korruption vorschnell zum Heilmittel oder zur Ursache von Unterentwicklung zu erklären, sollte eine andere Frage behandelt werden, nämlich die nach der sozialgeschichtlichen Herkunft der Korruption in Afrika. Ist sie Ausdruck der afrikanischen Kultur, oder ist sie ein europäisches Erbe, gemeinsam mit wirtschaftlicher Unterentwicklung, politischer Marginalisierung und sozialer Desintegration?21 Um diese Frage zu beantworten, werde ich die (Vor-)Geschichte des Verhältnisses von Öffentlichem und Privatem in Afrika und die damit verknüpfte Transformation von Reziprozität skizzieren. Reziprozität und ihre Dekontextualisierung sind es, die dem „Korruptionskomplex“22 zugrunde liegen. Im nächsten Abschnitt werde ich den vorkolonialen Klientelismus, in Abschnitt III den Kolonialismus und in Abschnitt IV schließlich das postkolonial-kleptokratische Amalgam beider thematisieren. Vorwegzuschicken bleibt jedoch erstens eine nähere reziprozitätstheoretische Bestimmung von Korruption und zweitens eine Rechtfertigung des weit aufgespannten historischen Rahmens. 1. Korruption ist eine Form von Reziprozität, insofern es sich hier wie dort um den Tausch nicht-äquivalenter Güter und Dienstleistungen einschließlich 20 Vgl. John M. Mbaku, Bureaucratic Corruption in Africa. The Futility of Cleanups, in: Cato Journal 16, Nr. 1, 1996, 99–118, hier 109–112; Rose-Ackerman, Corruption (wie Anm. 17), 70–75. 21 Für die erste Position siehe Ernst Hillebrand, Nachdenken über Zivilgesellschaft und Demokratie in Afrika, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Nr. 1, 1994, 57–71, für die zweite siehe Kwame A. Ninsin, The Root of Corruption: A Dissenting View, in: Rwekaza S. Mukandala (Ed.), African Public Administration. Harare 2000, 450–470. 22 Siehe Jean-Pierre Olivier de Sardan, African Corruption in the Context of Globalization, in: Richard Fardon (Ed.), Modernity on a Shoestring. Dimensions of Globalization, Consumption and Development in Africa and Beyond. Leiden 1999, 247–268, hier 247; siehe auch Giorgio Blundo/Jean-Pierre Olivier de Sardan, La Corruption quotidienne en Afrique de l’ouest, in: Politique africaines 83, 2001, 8–37.

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besonderer Gefallen, Bevorzugungen und vorsätzlicher Unterlassungen handelt.23 Ein Spezifikum der Korruption ist es indes, daß sie in Interaktionen und Situationen vorkommt, in denen die Annahme von Geschenken oder sonstigen Leistungen im Prinzip keinen Ort hat, diese auf seiten des Nehmers aber nichtsdestotrotz eine besondere Verpflichtung erzeugt, sich dem Geber gegenüber erkenntlich zu zeigen.24 Im Kern handelt es sich bei der Korruption um einen Normenkonflikt. Dieser besteht zwischen der Reziprozitätsnorm25, daß Du geben sollst, wenn Dir gegeben wird, und der Norm, daß es entweder „Dinge“ gibt, die legitimerweise nicht getauscht werden dürfen, oder Tauschsphären, die sich nicht überschneiden sollen. Stets gibt es in traditionellen, so auch den vorkolonial-afrikanischen Gesellschaften entweder heilige Gegenstände, die nicht durch Tausch entweiht werden dürfen, oder im Hinblick auf die wechselseitige Substituierbarkeit von Objekten geschlossene Tauschbezirke.26 Es ist beispielsweise nicht erlaubt, Waffen oder Schmuck gegen Kleidung oder Nahrungsmittel einzutauschen. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, moderne Gesellschaften würden keine Transaktionsbeschränkungen und Tauschverbote kennen. Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe, Gnade, Respekt und Wissen können oder sollen nicht käuflich oder ineinander konvertierbar sein. Gewiß wird gegen diese Verbote immer wieder verstoßen, doch normalerweise nicht in Dimensionen, die ihre grundsätzliche Geltung in Frage stellen. Das Wissenschafts-, Erziehungsoder religiöse System sind unsere gegeneinander abgedichteten Tauschsphären. Nicht bloß die prozessuale – „autopoietische“ –, sondern auch und vor allem die normative und institutionelle Trennung der Systeme voneinander ist grundlegend für die Liberalität westlicher Gesellschaften.27 Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Unterscheidung der politischen von der wirtschaftlichen Systemlogik zu. Jene verlangt, daß der über private Steuern finanzierte Staat als idealerweise auf demokratischem Wege mit der Verwirklichung bestimmter allgemeiner Ziele beauftragter, im Prinzip jedoch neutraler Schiedsrichter jenseits der Privatinteressen seiner Bürger agiert, diese hingegen, daß die einzelnen Bürger bei ihrer Suche nach materieller Sicherheit und Wohlstand im Rahmen des politisch gesetzten Rechts frei

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Siehe Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1968. 24 Siehe Sighard Neckel, Der unmoralische Tausch. Eine Soziologie der Käuflichkeit, in: Kursbuch Korruption 120, 1995, 9–16. 25 Vgl. Alvin W. Gouldner, Die Norm der Reziprozität. Eine vorläufige Formulierung, in: ders. (Hrsg.), Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze. Frankfurt am Main 1984, 79–117. 26 Vgl. Paul Bohanan/George Dalton, Introduction, in: dies. (Eds.), Markets in Africa. Evanston 1962, 1–26. 27 Siehe Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Berlin 1965.

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bleiben. Eine derartige erfolgreiche Trennung jedoch gab und gibt es in Afrika nicht. Umgekehrt ist es die fehlgeschlagene Differenzierung beider Bereiche, durch welche sich die traditionelle Reziprozität in Korruption transformiert. 2. Es versteht sich, daß ich der afrikanischen Geschichte und ihren historischen Akteuren Unrecht tue, wenn ich im folgenden über die erstere im Singular schreibe und zudem einen Zeitraum abdecke, der irgendwo im 17./18. Jahrhundert beginnt und bis heute reicht. Die Geschichte Afrikas ist wie die aller anderen Weltregionen äußerst heterogen.28 Dennoch meine ich, daß eine schematische Rekonstruktion gerechtfertigt ist. Für den Kolonialismus und die Zeit der Unabhängigkeit gilt, daß Afrika – und ich füge hinzu, daß im folgenden nur vom subsaharischen Afrika die Rede sein soll – im großen und ganzen ähnlichen und dementsprechend homogenisierenden Einflüssen ausgesetzt gewesen ist.29 Die Landnahme des Kontinents durch die Kolonialmächte, die koloniale Verwaltung, die Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit sowie schließlich die Einbindung der afrikanischen Staaten in die Blockkonfrontation und ihre Erfassung durch die Globalisierung sind gemeinsame afrikanische Erfahrungen, hinter denen die Besonderheiten regionaler oder lokaler Entwicklungen zunächst zurückstehen. Zwar gilt diese „realhistorische Gleichschaltung“ für die Vorkolonialzeit nicht. Doch auch wenn feststeht, daß die Geschichte Afrikas vor Ankunft der Europäer alles andere als statisch, sondern durch vielfältige sozialstrukturelle Wandlungsprozesse gekennzeichnet war, waren nicht erst von Europa angestoßene Verstaatlichungsprozesse ein typisches Merkmal derselben.30 Aus heuristischen Gründen halte ich es deshalb für gerechtfertigt, mich im folgenden auf die klientelistischen, protostaatlichen Entwicklungstendenzen der Vorkolonialzeit zu beschränken und die Geschichte so zu erzählen, als ob das historische Spektrum und der historische Spielraum enger gewesen wären, als sie es tatsächlich waren. Beispielhaft werde ich mich in Abschnitt II auf die vorkolonialen Verhältnisse Ostafrikas beziehen. Hier, genauer, im Zwischenseengebiet, der Region, die heute in etwa durch die Staaten Uganda, Ruanda, Burundi sowie durch Westtansania abgedeckt wird, entwickelten

28 Siehe nur John Iliffe, Geschichte Afrikas. München 1997, und für die jüngere Vergangenheit Christoph Marx, Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn 2004. 29 Siehe Crawford Young, The African Colonial State in Comparative Perspective. New Haven/London 1994; Chris Allen, Understanding African Politics, in: Review of African Political Economy 65, 1995, 301–320; Mahmood Mamdani, Citizen and Subject. Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism. Princeton 1996; Trutz von Trotha, Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassende Befunde zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft, in: Saeculum 55, Nr. 1, 2004, 49–93. 30 Siehe John Lonsdale, States and Social Processes in Africa: A Historiographical Survey, in: African Studies Review 24, Nr. 2/3, 1981, 139–225.

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sich zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert zentralisierte politische Gemeinwesen oder „frühe Staaten“31, die primär nicht durch verwandtschaftliche Bande, sondern durch institutionell autonome, klientelistische Formen der Herrschaft zusammengehalten und organisiert wurden.32 Die Wahl dieses Beispiels bietet sich an, weil vorkoloniale Staatsbildungsprozesse im afrikanischen Vergleich hier außerordentlich fortgeschritten waren und die europäischen Kolonialherren ihre indirekte Herrschaft vorsätzlich und vordergründig erfolgreich auf die örtlichen Eliten stützen konnten.33 Man sollte mithin erwarten, daß der Kolonialismus als Projekt der Verstaatlichung in Ostafrika politisch nicht gleichermaßen einschneidend gewesen wäre wie in anderen Teilen des Kontinents. Daß dies gleichwohl nicht der Fall war, daß der Übergang von afrikanisch-früher zu (post-)kolonial „voller“ Staatlichkeit weder glatt noch erfolgreich vonstatten ging, weist auf den Bruch hin, welchen der europäische Kolonialismus für die Geschichte Afrikas darstellte.

II. Mit guten Gründen läßt sich behaupten, daß es Korruption im vorkolonialvorstaatlichen Afrika nicht gab.34 Wo ein Staat oder bloß die institutionelle Verselbständigung von Politik und Verwaltung fehlt, ist die Rede von Korruption als Mißbrauch öffentlicher Ämter für private Zwecke sinnlos. Zwar kennen und haben auch vorstaatliche Gesellschaften politische Führer.35 Doch weil Führung kein Amtsgeschäft, sondern Aufgabe natürlicher, in der Regel patriarchal oder magisch legitimierter Personen ist, gibt es keinen Zwiespalt zwischen ihrem öffentlich-politischen und privat-eigennützigen Verhalten. Hinzu kommt, daß die Anlässe und Möglichkeiten quasi-korrupten Verhaltens in wenig differenzierten, subsistenzwirtschaftlich verfaßten Gesellschaften selten sind. Weder treten die Führer regelmäßig und sichtbar 31 Zum Konzept des frühen Staates siehe Henri J. M. Claessen/Peter Skalník, The Early State: Models and Reality, in: dies. (Eds.), The Early State. Den Haag 1978, 637–650. 32 Siehe Luc de Heusch, Le Rwanda et la civilisation interlacustre. Etudes d’anthropologie historique et structurale. Brüssel 1966. 33 Die Gegenüberstellung von britischem und französischem Kolonialstil als indirect rule und assimilation ist rein ideologischer Natur. Vor Ort waren alle Kolonialmächte angesichts ihrer personell minimalen Präsenz auf die Kollaboration (pseudo-)traditioneller afrikanischer Eliten angewiesen. Indirekte Herrschaft war somit der Standardfall. Vgl. Hubert Deschamps, Association and Indirect Rule, in: Robert O. Collins u. a. (Eds.), Historical Problems of Imperial Africa. 3rd Ed. Princeton 2000, 164–177; Michael Crowder, Indirect Rule – French and British Style, in: ebd. 179–188. 34 Siehe McMullan, A Theory of Corruption (wie Anm. 4), 185f.; Robert Williams, Political Corruption in Africa. Aldershot 1987, 33. 35 Vgl. Georges Balandier, Politische Anthropologie. München 1976, 48–55.

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speziell in ihrer Rolle als Führer in Aktion, noch hat ihre Gefolgschaft hinreichend Ressourcen zur Hand, um auf die Entscheidung ihrer Anführer heimlich Einfluß zu nehmen. Dennoch gibt es einen Indikator, der auch in vorkolonialen Verhältnissen einen durch die Tradition nicht gedeckten Mißbrauch von Herrschaft anzeigt: nämlich die sich in Rebellionen, religiöser Dissidenz oder widerständigem Verhalten artikulierende Idee ihrer Illegitimität. Kern entsprechender Vorstellungen ist in der Regel der an die Herrscher adressierte Vorwurf, gegen die Reziprozitätsnorm verstoßen zu haben. Diese ist Ausdruck der Erwartung, daß die Führer ihrer Gefolgschaft ein bestimmtes Maß an Sicherheit und materieller Versorgung schulden. Es ist diese Erwartung, welche im Zentrum der Legitimitätsvorstellungen vor- und frühstaatlicher Gesellschaften steht.36 Vor oder quer zu dem von Max Weber auf abstrakte Geltungsgründe zurückgeführten Legitimitätsglauben37 gibt es eine in der alltäglichen Praxis zwischen Herrschern und Beherrschten gelebte, mit der Reziprozitätsnorm identische Basislegitimität.38 Reziprozität ist hier eine Tauschform, in der es primär nicht um den Austausch von Dingen, sondern um die Herstellung und Pflege einer sozialen Beziehung geht. Ziel und Zweck ist nicht das Begleichen von Schulden, sondern die Verstetigung von Schuldverhältnissen. Reziprozität zeigt daher an, daß die Mitglieder einer Gruppe einander verpflichtet sind. Sie ist in vorstaatlichen Gesellschaften die basale Form von sozialer und damit zugleich „politischer“ Teilhabe. Diese ist es, welche im Verlaufe der Institutionalisierung von Herrschaft in Form von asymmetrischen Klientelverhältnissen aus der Horizontalen in die Vertikale gekippt wurde. Die asymmetrisierte Reziprozität diente den neuen Herren einerseits dazu, ihre Stellung zu rechtfertigen, und andererseits den Beherrschten als Mittel der Einflußnahme und Argument gegen ins Grenzenlose getriebene Forderungen der Herrschaft. Die unter den Druck von Machtbildungsprozessen geratene Basislegitimität der Reziprozität stellt damit so etwas wie ein Scharnier dar, das zum einen die Verstaatlichung, die Transformation klein36

Vgl. Claessen/Skalník, The Early State (wie Anm. 31), 638, 646; James C. Scott/Benedict J. Kerkvliet, How Traditional Rural Patrons Lose Legitimacy: A Theory with Special Reference to Southeast Asia, in: Steffen W. Schmidt u. a. (Eds.), Friends, Followers, and Factions. A Reader in Political Clientelism. Berkeley 1977, 439–458. 37 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1980, 122–124. 38 Der Begriff stammt von Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. 2. Aufl. Tübingen 1992, 221–227. Auf die Tragweite des Konzepts hingewiesen und mögliche Weiterungen programmatisch ausbuchstabiert hat Trutz von Trotha, „Streng, aber gerecht“ – „hart, aber tüchtig“. Über Formen von Basislegitimität und ihre Ausprägungen am Beginn staatlicher Herrschaft, in: Wilhelm J. G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hrsg.), Legitimation von Herrschaft und Recht. Köln 1994, 69–90. Zum Folgenden siehe auch Axel T. Paul, Die Rache und das Rätsel der Gabe, in: Leviathan 33, H. 2, 2005, 240–256.

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teilig-verwandtschaftlicher Bande in politische Hierarchien und kulturelle Einheitsvorstellungen merklich größerer Gruppen, wenn vielleicht auch nicht trägt, so doch unterstützt, zum anderen jedoch die Ausbeutung und den Mißbrauch der politischen Macht erleichtert. Die auf diese Weise zwischen Althergebrachtem und politischer Innovation aufgespannte Reziprozität ist das Einfallstor, durch das die Kolonialherren sich Zutritt zu ihren afrikanischen Untertanen sowie basale Legitimität zu verschaffen versuchten. Zugleich war sie der sumpfige Untergrund, in dem das koloniale Staatsgründungs- und Modernisierungsprojekt versinken sollte. Sie ist, mit einem Wort, die Hohlform der späteren Korruption. Analytisch gesehen war die Organisation von Macht, die Einführung herrschaftlicher, (proto-)staatlicher Strukturen, die „Erfindung der Politik“ eine zivilisationsgeschichtliche Zäsur ersten Ranges.39 Wie auch immer der Weg zur Staatlichkeit andernorts beschritten worden sein mag, in Ostafrika war der Klientelismus Anlaß und Ausdruck der Zentralisierung von Herrschaft.40 Einerseits gestattete er es einigen der historischen Akteure, genügend Machtoder Zwangsmittel zu akkumulieren, um über Menschen zu herrschen, mit denen sie nicht verwandt waren, Dynastien zu gründen und eine neue „Klassen“-Differenz zwischen sich und ihren Untergebenen zu institutionalisieren. Andererseits aber war er „nur“ eine Weiterentwicklung des alten horizontalen Reziprozitätsmodells. Ein Klientelverhältnis ist eine asymmetrische, persönliche, nicht-verwandtschaftliche, im Prinzip freiwillige Beziehung zwischen einem mächtigeren und reicheren Patron und einem schwächeren und ärmeren Klienten. Es 39

Vgl. Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1976. Aus der Perspektive der der beginnenden Staatlichkeit unterworfenen Menschen bedeutete diese für die längste Zeit ihrer Geschichte nicht etwa eine Zunahme an Sicherheit, sondern einen Zuwachs an Unterdrückung und Ausbeutung. Ob sie deswegen ein „Trauma in der Psyche der Menschen“ bewirkt haben muß (Günter Dux, Die Idee der Gerechtigkeit, in: Dieter Dölling [Hrsg.], Jus humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag. Berlin 2003, 81–105, hier 105), scheint mir allerdings fraglich, weil die Entstehung von Staatlichkeit sich nur im Rückblick als ein revolutionäres Ereignis darstellt. Im Regelfall war die Entstehung des Politischen ein langfristiger, unmerklich anlaufender, immer wieder abbrechender, sich nur allmählich verstetigender Prozeß der von den betroffenen Menschen als durchaus leidvoll, im Rahmen ihrer Lebenserfahrung gleichwohl als alternativlos, selbstverständlich oder normal erlebt worden sein dürfte. Dementsprechend ist im Zuge der Ausbildung von Herrschaft und Staatlichkeit mit der Idee der gerechten Herrschaft zwar ein neuer Typus von Legitimität entstanden, die Basislegitimität der Reziprozität ist deshalb jedoch nicht verschwunden. 40 Siehe Lucy P. Mair, Clientship in East Africa, in: Cahiers d’études africaines 2, Nr. 6, 1961, 315–325; Jacques J. Maquet, Une Hypothèse pour l’étude des féodalités africaines, in: ebd. 292–314; grundsätzlich Henner Hess, Die Entstehung zentraler Herrschaftsinstanzen durch die Bildung klientelärer Gefolgschaft. Zur Diskussion um die Entstehung staatlicher organisierter Gesellschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 29, 1977, 762–778.

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handelt sich um eine Art instrumenteller Freundschaft, in deren Rahmen der Patron sich um das Wohlergehen und den Schutz seines Klienten kümmert, während dieser seinem Patron allgemein sowie auf dessen konkretes Verlangen hin Unterstützung und Hilfe verspricht.41 Obwohl der Patron Anführer und der Klient Gefolgsmann ist, handelt es sich um eine Beziehung beidseitiger Abhängigkeit. Denn es ist nicht allein der Klient, der materieller Hilfe oder rechtlichen Beistands bedarf, der auf den Schutz seines Patrons gegen Gleichgestellte und andere Patrone angewiesen ist, sondern gleichermaßen der noch nicht allmächtige, „selbst-herrliche“ Patron, der zwecks Wahrung und Mehrung seiner Macht auf die Loyalität seiner Gefolgschaft zählen können muß. Der Umfang und der Zeitpunkt ihrer wechselseitigen Verpflichtungen sind indes diffus, situationsabhängig und wandelbar. Die Schwächung des verwandtschaftlichen Zusammenhalts dürfte nicht erst das Resultat, sondern bereits die Voraussetzung des politischen Klientelismus gewesen sein. Damit Organisation von Macht, damit Klassengesellschaften sich durchsetzen, müssen herkömmliche Methoden der Subsistenzsicherung unter Druck geraten, physische Gewalt eine konstante Bedrohung geworden und exit options wie die Abwanderung blockiert sein. Eben diese Bedingungen scheinen während des 17. Jahrhunderts im Zwischenseengebiet gegolten zu haben.42 Möglicherweise ausgelöst durch einen klimatischen Wandel43, geriet die soziale Ökologie dieses für afrikanische Verhältnisse außerordentlich dicht besiedelten Gebiets aus dem Gleichgewicht. Bauerngemeinden lösten sich auf, Familien und lineages brachen zusammen, Flüchtlingsströme durchzogen das Land. Offenkundig waren Viehzüchter gegenüber Bauern privilegiert: Das Vieh war ökologisch anpassungsfähiger. Zu41 All dies erinnert natürlich an die aus dem europäischen Mittelalter bekannte Gefolgschaftsbeziehung zwischen einem Feudalherren und seinem Vasallen. Ein Spezifikum dieser ist gleichwohl die relative Gleichheit und damit die quasi-vertragliche Bindung der beiden „Partner“ sowie die im Effekt einer politischen Vereinigung größerer Territorien vorerst im Wege stehende Belehnung des Vasallen mit einem Stück Land, das diesen allererst in die Lage versetzen sollte, seinem Feudalherren in der Regel militärische Dienste zu leisten. Der Streit um die Existenz oder Nicht-Existenz eines afrikanischen Feudalismus (siehe affirmativ Maquet, Une Hypothèse pour l’étude des féodalités africaines [wie Anm. 40]; kritisch Jack Goody, Feudalism in Africa?, in: The Journal of African History 4, Nr. 1, 1963, 1–18; Edward I. Steinhart, Vassal and Fief in Three Lacustrine Kingdoms, in: Cahiers d’études africaines 7, Nr. 28, 1967, 606–623; Jean-Pierre Chrétien, Échanges et hiérarchies dans les royaumes des Grands Lacs de l’est africain, in: Annales Économies, Sociétés, Civilisations 6, 1974, 1327–1337) krankt wesentlich daran, daß der europäische Feudalismus zum Maßstab auch der afrikanischen Verhältnisse gemacht wurde, anstatt diesen richtigerweise umgekehrt als eine besondere Spielart des Klientelismus zu interpretieren. Vgl. de Heusch, Le Rwanda et la civilisation intralacustre (wie Anm. 32), 403, 407f. 42 Siehe Jean-Pierre Chrétien, The Great Lakes of Africa. Two Thousands Years of History. New York 2003, 107, 120, 142–145. 43 Siehe Peter Robertshaw/David Taylor, Climate Change and the Rise of Political Complexity in Western Uganda, in: The Journal of African History 41, 2000, 1–28.

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dem waren die Viehzüchter im Unterschied zu Bauern mobil und aufgrund ihrer halbnomadischen Lebensweise auf Kriegführung eingestellt. Sie eigneten sich das Land der verarmten Bauern daher gewaltsam an. Der politische Klientelismus, das Rückgrat der ostafrikanischen Staatlichkeit, breitete sich ab dem 17. Jahrhundert großflächig aus. Er hatte seinen Ursprung indes in von reichen Viehhaltern an ihre ärmeren „Standesgenossen“44 übergebenen Kühen, welche letztere ersteren gegenüber zu wirtschaftlichen Diensten und zur persönlichen Gefolgschaft verpflichteten. Es ist zu beachten, daß der Klientelismus die unter Spannung geratenen oder gerissenen Reziprozitätsbeziehungen zunächst zumindest zwischen den neuen Herren selbst und nicht zwischen diesen und „ihren“ mit Gewalt unterworfenen Bauern „wieder“-herstellte. Die Reziprozität „spielte“ nach wie vor in der Horizontalen. Durch sie versicherten sich die Herrscher ihrer Legitimität; sie fungierte gewissermaßen als Akzept ihrer klientelistischen Politik. Grundsätzlich tendieren klientelistische Systeme allerdings zur Expansion und zur Promotion des mächtigsten Patrons an die Spitze. Der zugrundeliegende Mechanismus besteht dabei darin, daß jede Ausweitung der Klientel die Chancen einer (gewaltsamen) Aneignung weiterer Viehbestände und sonstiger Güter und damit wiederum der Rekrutierung weiterer Klienten erhöht. Und tatsächlich trafen die europäischen Entdecker, Missionare und Eroberer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im ostafrikanischen Zwischenseengebiet allerorten auf mächtige Häuptlinge, die sie, ohne zu zögern, Könige nannten.45 Die Könige respektive ihre Dynastien hatten sich das Land ihrer Untertanen zumindest nominell in Gänze angeeignet und regierten ihre Reiche, indem sie Teile ihres Land- und Vieh-„Eigentums“ auf Widerruf an adlige Klienten vergaben. Zum Teil verfügten sie, wie in Ruanda, über stehende Armeen und waren nicht zuletzt die religiösen Führer ihrer Völker.46 Zwei Aspekte dieser Entwicklung sind zu unterstreichen: Zum einen haben sich die asymmetrischen Klientelbeziehungen von der Spitze aus auf alle Gruppen der Gesellschaft einschließlich der Bauern ausgedehnt. Die ganze Gesellschaft wurde vom politischen Klientelismus erfaßt.47 Allerdings war diese Form der Reziprozität nicht immer von ihren traditionellen, vergleichs44

Von den aus der europäisch-soziologischen Tradition bekannten Schichtungsbegriffen wie Klasse, Kaste oder Stand ist letzterer derjenige, welcher den Sachverhalt am ehesten trifft. Was sich in den fraglichen ostafrikanischen Gesellschaften ereignete, war die Teilung der Bevölkerung in einen herrschenden (Viehzüchter-)Adel und eine beherrschte, zum Teil landbesitzende, zum Teil landlose Bauernschaft. 45 Siehe Chrétien, The Great Lakes of Africa (wie Anm. 42), Kap. 3. 46 Eine brillante Darstellung dieser Entwicklung gibt Jan Vansina, Antecedents to Modern Rwanda. The Nyiginya Kingdom, Madison 2004; siehe auch Thomas Laely, Autorität und Staat in Burundi. Berlin 1995, Kap. 2. 47 Siehe Albert A. Trouwborst, L’Organisation politique en tant que système d’échange au Burundi, in: Anthropologica 3, Nr. 1, 1961, 65–81; ders., L’Organisation politique et l’accord de clientèle au Burundi, in: Anthropologica 4, Nr. 1, 1962, 9–43.

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weise egalitären Vorläufern zu unterscheiden. Nichtsdestotrotz aber – und das war entscheidend – entstanden erstens eine auf den König hin ausgerichtete Hierarchie von Klientelbeziehungen und zweitens eine je nach Königreich mehr oder weniger (un-)durchlässige Standesgrenze zwischen der herrschenden Gruppe und ihren Untertanen. Zum anderen war der König der König aller. Umgeben und beraten auch von Abkömmlingen bäuerlich-unterständischer Familien verkörperte der König die Einheit des Reiches. Sein Wohlergehen garantierte das seines Landes. Sollte er hingegen Schwäche zeigen oder versagen, konnte er entthront und getötet werden.48 Beide Aspekte, die Allgegenwart klientelistischer Beziehungen sowie die Entstehung einer neuen religiös-kulturellen Identität, führten dazu, die Vertikalisierung der Reziprozität zu verschleiern und gerade deswegen durchzusetzen. Obwohl es ein Mißverständnis wäre, Reziprozität und Hierarchie für einander ausschließende Konzepte zu halten, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Reichtums- und Machtdifferentiale in den frühen Staaten ein zuvor undenkbares Niveau erreichten. Ohne die neue Idee einer gerechten, heiligen Herrschaft, aber auch ohne die Reformulierung alter Legitimitätsvorstellungen wäre die Institutionalisierung von Macht, ihre Verwandlung in Herrschaft, nicht möglich gewesen.49 Dies belegen ex negativo einerseits die Instrumentalisierung und Übernahme ursprünglich gegen die königliche Herrschaft gerichteter egalitärer Kulte durch die Dynastien selbst50 und andererseits die sich, wie es scheint, gerade in der unmittelbaren Vorkolonialzeit häufenden (und unter kolonialer Herrschaft fortsetzenden) chiliastischen, durchaus gewalttätigen Protestbewegungen.51 Dennoch wurde die neue Ungleichheit nicht notwendigerweise als illegitim, ungerecht oder „korrupt“ wahrgenommen. Immerhin war die Vertikalisierung der Reziprozität für die Klienten auch von Vorteil, insofern diese im Prinzip auf „Rechts“-Beistand, materielle Unterstützung in Notzeiten und militärischen Schutz gegen Bedrohungen von außen zählen durften, ihre Patrone im Umgang mit Höhergestellten als Fürsprecher auftraten und nicht 48

Siehe Jean-Pierre Chrétien, Pouvoir d’état et autorité mystique. L’infrastructure religieuse des monarchies des Grands Lacs, in: Revue française d’histoire d’outre-mer 68, 1981, 112–130. 49 Vgl. Luc de Heusch, Aspects de la sacralité du pouvoir en Afrique, in: ders. u. a. (Eds.), Le Pouvoir et le sacré. Brüssel 1962, 139–158; Balandier, Politische Anthropologie (wie Anm. 35), 110–132. 50 Siehe Luc de Heusch, Mythe et société féodale. Le culte du kubandwa dans le Rwanda traditionnel, in: Archives de sociologie des religions 9, Nr. 18, 1964, 133–146; Claudine Vidal, Anthropologie et histoire: le cas du Ruanda, in: Cahiers internationaux de sociologie 14, 1967, 143–157; Iris Berger, Religion and Resistance. East African Kingdoms in the Precolonial Period. Tervuren 1981. 51 Siehe Jean-Pierre Chrétien, La Révolte de Ndungutse (1912). Forces traditionelles et pression coloniale au Rwanda allemand, in: Revue française d’histoire d’outre-mer 59, 1972, 645–680.

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zuletzt insofern die Vielzahl der häufig „intransitiven“ Klientelbeziehungen52 sowie die impliziten wechselseitigen Leistungserwartungen auch als Schranke herrschaftlicher Willkür fungierten. Gleichwohl stellten die Klientelsysteme eine wichtige Etappe auf dem Weg in Richtung Staatlichkeit dar: Sie waren transfamilial verfaßt, besaßen umfassendere Loyalitäts- und Legitimitätsvorstellungen als ihre familial-akephalen Vorläufer, und sie zeigten deutliche Ansätze zur Territorialisierung von Herrschaft, insofern in aller Regel adlige Klienten „auf dem Lande“ in vom König als oberstem Patron absteigender Linie als politische Repräsentanten des Zentrums auftraten.53 Auf der anderen Seite aber gibt es gewichtige Gründe, den politischen Klientelismus nicht für eine mögliche Vorstufe moderner Staatlichkeit, sondern für ein mögliches Hindernis politischer Modernisierung zu halten, gewissermaßen die vorkoloniale Matrix der Korruption. Der Kern des Modernisierungsproblems besteht im patrimonialen Charakter des politischen Klientelismus.54 Zwar besaßen die Könige mit ihren Klienten einen „Stab“ und damit ein Zwangs- und Organisationspotential, zugleich jedoch waren der Steigerung und Rationalisierung von patrimonialer Herrschaft enge Fesseln angelegt. Der patrimoniale Herrscher verfügte über das Reich nominell als Eigenbesitz und wußte seine herrschaftlichen Interessen folglich nicht von seinen persönlichen Interessen zu trennen. Sie waren identisch. Seine Klienten waren seine Beauftragten und Vertreter, ihre Befugnisse jedoch blieben diffus und nicht gegeneinander abgesetzt. Ihr „Beamten“-Status war eine direkte Folge ihrer Klientelbeziehung zum König. Diesem schuldeten sie ihre unbedingte Loyalität. Seine Befehle waren zu exekutieren, allgemeine Regeln, an die man sich hätte halten sollen, gab es nicht. So lag es nahe, daß sie ihre Nähe zum Herrscher, daß sie ihr politisches respektive administratives „Mandat“ nicht anders als dieser für eigene Zwecke nutzbar machten. Ohne Kontrollmöglichkeiten und Appellationsinstanzen war für die Untergebenen nicht zwischen einer Anordnung des Königs und eigenmächtigem Handeln seines Stellvertreters zu unterscheiden. Die Trennung einer öffentlichen und einer privaten Sphäre hinkte der institutionellen Verselbständigung der Politik hinterher, oder anders gesagt, die Idee eines kollektiven, vom persönlichen Wohlergehen des Herrschers und seines Stabes abgelösten Interesses spielte gerade dort keine Rolle, wo 52

Das heißt, der Klient eines Klienten war nicht unbedingt ein Klient auch des Patrons des Klienten. 53 Für die funktionalistische Ethnologie der sechziger Jahre war der Klientelismus aus diesen Gründen eine ähnlich fortschrittliche Kraft wie die Korruption sie für die damalige Politikwissenschaft darstellte. Siehe dazu sowie zum folgenden Einwand René Lemarchand/Keith Legg, Political Clientelism and Development: A Preliminary Statement, in: Comparative Politics 4, Nr. 2, 1972, 149–178, hier 170–174. 54 Zum Patrimonialismus als Herrschaftsform vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 37), 583–606.

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sie aus modernisierungstheoretischer Sicht hätte Fuß fassen müssen: im Herrschaftsapparat selbst. Und wirklich hatten die hierarchischen und doch weitgehend informellen Klientelsysteme die Tendenz, den Ressourcenfluß von unten nach oben zu intensivieren und das patronale Schutzversprechen zu durchlöchern. Sicherheit vor der Willkür der königlichen Klienten bot am ehesten noch die Konkurrenz dieser untereinander. Mithin trieb der politische Klientelismus die Rationalisierung und Mäßigung von Herrschaft nicht zwangsläufig aus sich heraus; je nach Umständen konnte er sich genauso in ein bürgerkriegsähnliches racketeering der Herren verwandeln.55 Es ist diese prekäre Balance zwischen der Heraufkunft und Stabilisierung neuer Formen von Herrschaft und Legitimität einerseits und andererseits der Degeneration von protostaatlicher Organisationsmacht in bloßen Despotismus, welcher für die klientelistisch verfaßten Gesellschaften Ostafrikas am Vorabend des Kolonialismus kennzeichnend war.

III. Die Entwicklung afrikanischer Staatlichkeit wurde durch den Kolonialismus jäh unterbrochen. Niemand weiß, wie sich Staatlichkeit in Afrika ohne den Kolonialismus entwickelt hätte. Sicher hingegen ist, daß der Kolonialismus selbst für die protostaatlichen, klientelistisch-patrimonial verfaßten Gemeinwesen eine grundstürzende Umwälzung der bisherigen Herrschaftsverhältnisse bedeutete56, und zwar aus Sicht sowohl der afrikanischen Eliten als auch der einfachen Afrikaner. Eingeführt wurden mit den kolonialen Staatsgründungen, die dem informellen Handelsimperialismus nach der Berliner Kongo-Konferenz schnell ein Ende setzten, Idee und Strukturen zentralisierter Territorialstaatlichkeit. Zugleich jedoch war es der Kolonialismus, der im vermeintlichen Anschluß an vorkoloniale Herrschaftspraktiken die Implementierung einer rationalen Verwaltung und die in Europa charakteristische Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre sabotierte. Möglicherweise wären die kolonialen Staatsgründungen nicht gescheitert, hätte der Kolonialismus „nur“ länger gewährt; historisch sind sie jedoch an einem zweifachen Widerspruch zerbrochen.

55 Siehe Roger Botte, La Guerre interne au Burundi, in: Jean Bazin/Emmanuel Terray (Eds.), Guerres de lignages et guerres d’états en Afrique. Paris 1982, 269–317; Vansina, Antecedents to Modern Rwanda (wie Anm. 46), 180–195. Verhältnisse, die im übrigen auch dem europäischen Feudalismus nicht fremd waren; vgl. Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Frankfurt am Main/New York 1996, 128– 167, 224–235. 56 Siehe Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“. Tübingen 1994, 12–21.

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Das politische Problem des Kolonialismus lag darin, daß die Europäer mit ihrer Strategie, die tatsächlichen oder angeblichen lokalen Eliten vor ihren Karren zu spannen, die Entwicklung eines im Weberschen Sinne rationalen Staates blockierten.57 Anstatt die Reziprozität als zentrales Legitimitätsprinzip afrikanischer Gesellschaften zu entpolitisieren und durch allgemeine, abstrakte und entpersönlichte Verwaltungsregeln zu ersetzen, verfiel schon der koloniale Staat dem klientelistischen Mißbrauch. Der traditionelle, wenigstens zu Teilen wechselseitig, für Patron und Klient, vorteilhafte Klientelismus verlor im Kontext der kolonialen Herrschaft sein legitimatorisches Potential. Der Kolonialstaat hingegen blieb Zeit seiner Existenz in legitimatorischer Hinsicht defizitär. Dieser politische Zentralwiderspruch des Kolonialismus besaß eine wirtschaftliche Entsprechung.58 Einerseits ging es den Kolonialherren darum, ihre Besitzungen „in Wert zu setzen“, die weitverbreitete Subsistenzproduktion zugunsten der Warenproduktion zu überwinden, internen und externen Handel zu stimulieren, Steuern zu erheben und die koloniale Ökonomie mit dem Weltmarkt zu verquicken. Andererseits jedoch war es Praxis, die Kolonialwirtschaft nur an den Interessen des Mutterlands auszurichten und die afrikanischen Produzenten in Form von Arbeitszwang, Anbauvorschriften und eingeschränkten Eigentumsrechten an der freien Wahl einer Tätigkeit, autonomer Mehrwertproduktion und Selbstvermarktung zu hindern.59 Die Entwicklung einer sich selbst tragenden Marktwirtschaft war deshalb nicht zu erwarten. Der ökonomische Weg zum Reichtum, mehr noch, wirtschaftliche Chancen überhaupt zu ergreifen, war und blieb den Afrikanern lange versperrt. Auch wenn man mit Jeffrey Herbst davon ausgeht, daß die europäischen Mächte Afrika über die Ausbeutung von Handelsvorteilen an den Küsten hinaus eher unfreiwillig und zufällig kolonisiert haben60, führte im Horizont der politischen Phantasien des ausgehenden 19. Jahrhunderts kein Weg daran vorbei, die kolonialen Erwerbungen als Staaten dem „rechtmäßigen“ Zugriff Dritter zu entziehen und dem jeweiligen Mutterland dienlich zu machen. 57

Vgl. Peter P. Ekeh, Colonialism and the Two Publics in Africa: A Theoretical Statement, in: Comparative Studies in Society and History 17, Nr. 1, 1975, 91–112, hier 104f.; John Comaroff, Governmentality, Materiality, Legality, Modernity. On the Colonial State in Africa, in: Jan-Georg Deutsch u. a. (Eds.), African Modernities. Entangled Meanings in Current Debate. Oxford 2002, 107–134, insbesondere 124–130. 58 Siehe Bruce J. Berman, Structure and Process in the Bureaucratic States of Colonial Africa, in: ders./John Lonsdale, Unhappy Valley. Conflict in Kenya and Africa. London 1992, 140–176, hier 145–163. 59 Vgl. Williams, Political Corruption in Africa (wie Anm. 34), 132f.; Morris Szeftel, Clientelism, Corruption and Catastrophe, in: Review of African Political Economy 85, 2000, 427–441, hier 431. 60 Siehe Jeffrey Herbst, States and Power in Africa. Comparative Lessons in Authority and Control. Princeton 2000, 64–73.

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Nicht die Verteidigung der Landesgrenzen war indes das Problem, sondern die Stabilisierung der Herrschaft im Inneren der Kolonie. Was nicht gelingen wollte, war die Rationalisierung von Herrschaft, die Entlastung der Macht vom ständigen Rückgriff auf rohe Gewalt. Selbst wo es aktiven Widerstand der Afrikaner gab, verlief die Landnahme des Kontinents erstaunlich schnell. Oft ließen sich tatsächliche und selbsternannte Häuptlinge die Oberhoheit über die von ihnen vorgeblich „beherrschten“ Gebiete gegen Schutz- und Beistandsversprechen der Eroberer abhandeln. Manchmal genügte das bloße Zurschaustellen der überlegenen Waffengewalt der Europäer. Daraus ist freilich nicht zu schließen, daß die nominell unterworfenen Gemeinschaften ihre Niederlage ohne weiteres akzeptiert hätten. Im Gegenteil, es war auch und gerade nach der formalen, für die Afrikaner in der Regel bedeutungslosen Konstitution kolonialer Souveränitätsansprüche in erster Linie massive physische Gewalt, welche die lokale Bevölkerung dazu zwang, die Präsenz weißer Herren hinzunehmen und deren Anordnungen Folge zu leisten.61 Die militärische Unbezwingbarkeit der europäischen Eroberer und ihrer afrikanischen Söldner wurde in unzähligen „Strafexpeditionen“ zur „Pazifizierung“ der eroberten Gebiete regelmäßig grausam unter Beweis gestellt.62 Der Besitz der Einheimischen wurde konfisziert oder zerstört, Siedlungen wurden geplündert und niedergebrannt, „rebellische Elemente“ wurden hartnäckig verfolgt und streng bestraft. Männer, Frauen und Kinder wurden hingemetzelt, um Nachahmer abzuschrecken. Ein unmittelbarer und zugleich langfristig wirksamer Effekt der kolonialherrschaftlichen Zerstörungswut war der Verlust jeglichen Vertrauens im Umgang mit den politischen Machthabern. Nicht bürokratische Verläßlichkeit, sondern despotische Willkür kennzeichnete das Verhalten der neuen Herren. Tatsächlich war die koloniale Gewalt Ausdruck der relativen Schwäche des kolonialen Staates. Eben weil seine Ansprüche auf Gehorsam und Konformität „draußen im Busch“, fernab der Hauptstadt und nächsten Station zunächst einmal Leerformeln waren, mußte er sie der Bevölkerung exemplarisch auf die Leiber schreiben. – Nicht ist erst der Terrorismus, schon die koloniale Gewalt war, mit Peter Waldmann gesprochen, eine „Kommunikationsstrategie“63. Weder formal noch empirisch war der entstehende Kolonialstaat ein moderner Staat. Rechtsstaatlichkeit, die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, eine rationale, rechtlichen Vorgaben und nicht wirtschaftlichen Eigen- und Einzelinteressen, nicht den Launen eines Herrschers oder 61

Vgl. von Trotha, Koloniale Herrschaft (wie Anm. 56), 37–44. Siehe Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880. Frankfurt am Main/New York 2005, 300–324. 63 Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus und Bürgerkrieg. Der Staat in Bedrängnis. München 2003, 38. 62

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den Pressionen der „Bittsteller“ folgende Bürokratie und erst recht die Garantie von Bürgerrechten sowie Formen der Teilhabe figurierten im besten Falle als regulative Ideen. Die Rationalität der kolonialstaatlichen Verwaltung blieb Fassade, hinter der sich zwar nicht vormoderne, wohl aber dem Idealtypus rationaler Herrschaft widerstreitende Praktiken verbargen.64 Der koloniale Staat entsprach eher Europas absolutistischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts, die in der Tat bürokratische Ambitionen besaßen, nichtsdestotrotz aber patrimonial blieben.65 In den Regionen Afrikas, in welchen es politisch zentralisierte, von Chefs, Häuptlingen oder Königen geführte Gemeinwesen gab, suchten und fanden die Kolonialherren regelmäßig deren Kooperation. Wo hingegen segmentäre Gesellschaften das Bild bestimmten, wurden traditionelle Häuptlinge erfunden und eingesetzt.66 Es war indes die feste Überzeugung der meisten Kolonialbeamten wie auch der meisten frühen Ethnographen des Kontinents, daß Afrikaner seit unvordenklichen Zeiten in von Häuptlingen geführten Stämmen lebten. Zwar existierten Stämme und ethnische Gruppen67, nur war die ethnische nicht die einzige oder wichtigste kollektive Identität der Afrikaner. Wer und was „ein vorkolonialer Afrikaner“ war, hing wesentlich vom Kontext ab und war weniger festgelegt, als die Europäer sich vorstellten.68 Auch waren nicht-staatliche, akephale Gesellschaften ohne ein patriarchal oder magisch legitimiertes Häuptlingstum weitverbreitet. Diese und nicht stratifizierte (proto-)staatliche Gesellschaften waren der zivilisationsgeschichtliche Normalfall. Gleichwohl wurde die Einführung von Häuptlingstümern von den Kolonialherren als Wiederherstellung der Tradition und nicht als politische Innovation wahrgenommen. In Wahrheit jedoch handelte es sich um einen revolutionären Akt. Ebensowenig ließ die koloniale Liaison mit im Einzelfall vorhandenen protostaatlichen Eliten deren Herrschaftspraktiken und ideellen -grundlagen intakt.69 Das Bündnis der Kolonialmächte mit den 64

Siehe Jean-François Médard, The Underdeveloped State in Tropical Africa: Political Clientelism or Neo-Patrimonialism?, in: Christopher Clapham (Ed.), Private Patronage and Public Power. Political Clientelism in the Modern State. London 1982, 162–192. 65 Siehe Thomas Callaghy, The State-Society Struggle. Zaire in Comparative Perspective. New York 1984, insbesondere Kap. 3 und 8. 66 Siehe Terence Ranger, The Invention of Tradition in Colonial Africa, in: Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Eds.), The Invention of Tradition. Cambridge 1983, 211– 262, hier 220–228. 67 In der Tat dürfte das Vorhandensein einer ethnischen Identität für kleine oder sich dem Zugriff zentraler, übergeordneter Herrschaftsinstanzen vorerst entziehende Gemeinschaften ein wesentliches Kennzeichen sein. Siehe Klaus E. Müller, Ethnicity, Ethnozentrismus und Essentialismus, in: Wolfgang Eßbach (Hrsg.), wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg 2000, 317–343. 68 Siehe Aidan W. Southall, The Illusion of Tribe, in: Peter C. W. Gutkind (Ed.), The Passing of Tribal Man in Africa. Leiden 1970, 28–50. 69 Vgl. René Lemarchand (Ed.), African Kingships in Perspective. Political Change and Modernization in Monarchical Settings. London 1977.

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lokalen Herrschern oder Eliten bedeutete, daß diese ihre Macht und ihr Ausbeutungspotential einerseits stärken konnten, andererseits aber für alle sichtbar von europäischer Zustimmung abhängig wurden. Das Resultat dieser Prozesse war ein gespaltener Staat – Mamdanis „bifurcated state“70 –, in dem auf der einen „modernen“ Seite die Kolonialherren im Namen des Rechts regierten, auf der anderen „traditionellen“ Seite jedoch die lokalen Eliten und Mittelsmänner zu tribal legitimierten Stammesführern aufrückten. Für die staatenlosen Gesellschaften Afrikas war der Kolonialismus ein revolutionäres Ereignis.71 In den frühen Staaten hingegen zerriß die angespannte klientelistische Reziprozität. Wie erwähnt kennt diese keinen absoluten oder objektiven Standard eines (noch) gerechten Tauschs, sie ist vielmehr ein diffuser, innerhalb gewisser nicht festgelegter, dennoch aber existenter Grenzen wechselseitig erwarteter und für legitim erachteter Fluß von Gütern und Diensten zwischen Patronen und Klienten. Jede Verletzung dieser Grenzen seitens der Patrone untergräbt die „gefühlte“ Gerechtigkeit der Beziehung.72 Der Umstand, daß es in erster Instanz die Kolonialherren waren, die den Afrikanern ihr Mehrprodukt abpreßten, hinderte die afrikanischen Eliten nicht daran, sich im Namen der Kolonialherren selbst zu bereichern.73 Abgesehen davon, daß die Kolonialherrschaft den Kolonialisierten grundsätzlich illegitim vorkommen mußte, handelte es sich bei einem derartigen typischen Verhalten der afrikanischen Mittelsmänner offensichtlich um den korrupten Mißbrauch eines öffentlichen Amtes für private Zwecke. In Ostafrika – und nicht nur dort – dauerte es nicht lange, bis König und Adel erfaßten, daß sie durch eine Kooperation mit den Kolonialherren vom System des Kolonialismus politisch wie ökonomisch profitierten. Während also die politische Beziehung zwischen afrikanischen Eliten und afrikanischer Bevölkerung zu einem reinen Ausbeutungsverhältnis verkam, etablierte sich zwischen jenen und den Kolonialherren eine klientelistischlegitime Beziehung. Wenn auch zweifelhaft ist, ob die edlen Familien die Europäer als legitime Herrscher ansahen, so war der Kolonialismus aus ihrer Sicht nicht unbedingt ein Übel, mit dem man sich arrangieren mußte. Tatsächlich erteilten die Europäer der patrimonialen Herrschaftspraxis ihrer lokalen Stellvertreter nicht zuletzt dadurch den Segen, daß sie selbst sich wie Patrone hofieren und beschenken ließen.74 Für die Afrikaner war ein solcher Umgang mit Höhergestellten normal. In Ermangelung einer rationalen, mit der Bearbeitung und Lösung bestimmter Probleme betrauten Verwaltung 70

Mamdani, Citizen and Subject (wie Anm. 29), passim. Vgl. Dux, Idee der Gerechtigkeit (wie Anm. 39). 72 Vgl. Scott/Kerkvliet, How Traditional Rural Patrons Lose Legitimacy (wie Anm. 36), 448f. 73 Vgl. zum Beispiel Catharine Newbury, The Cohesion of Opression. Clientship and Ethnicity in Rwanda, 1860–1960. New York 1988, 131–147. 74 Vgl. McMullan, A Theory of Corruption (wie Anm. 4), 196f. 71

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war das Umschmeicheln des Patrons das funktionale Äquivalent der Antragstellung. Für die Kolonialbeamten ging es indes weniger darum, ihre ohnehin nicht knapp bemessenen Gehälter durch die Annahme des einen oder anderen Huhns aufzubessern, als vielmehr darum, sich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen und auf diese Weise ihren offiziellen Anordnungen Gehör zu verschaffen. Im Kontext kolonialstaatlicher Verwaltung war ein solches Entgegenkommen ein alles andere als folgenloses Verhalten; es bedeutete vielmehr, die Bestechung von Amtsträgern positiv zu sanktionieren. Der gespaltene Staat, der, obzwar ein Produkt des Kolonialismus, der Sache nach ein Amalgam aus traditionell-klientelistischen und modern-bürokratischen Herrschaftsformen war, fungierte mithin als Anreizstruktur zur Korruption. Die koloniale Situation war wesentlich dafür, korruptionsanfällige Verhaltensweisen zum Modus vivendi im Umgang mit dem afrikanischen Staat werden zu lassen. So wie Häuptlinge und Stämme erfunden – und zwecks Stärkung der Kolonialherrschaft gegeneinander ausgespielt – wurden, wurde das „Eingeborenenrecht“, über das in der Regel die (neo-)traditionalen Eliten selbst beredt Auskunft gaben, vor dem Hintergrund einer weitgehenden Interessenkongruenz der europäischen und afrikanischen Herrscher zum Nachteil der Herrschaftsunterworfenen kodifiziert.75 Neuartige Abgabepflichten der Bauern, die erst mit dem Kolonialismus oder im Zuge vorkolonialer Verstaatlichungsprozesse entstanden waren, erhielten die Weihe der Tradition. Ebenso brachten die Straffung oder besser die „Transitivierung“ der Administration sowie die Schaffung von Territorialbezirken für die Mehrheit der Bevölkerung gravierende Nachteile mit sich: Durch die Einführung einer linear-administrativen Befehlskette und die damit einhergehende Beseitigung sich überschneidender Patronageverhältnisse einerseits sowie die Errichtung externer und interner Grenzen andererseits wurden die Möglichkeiten der Afrikaner massiv beschnitten, sich den materiellen „Wünschen“ und Anordnungen ihrer Oberen zu entziehen oder sie zumindest abzuschwächen.76 Gerade weil sich die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten für diese mit dem Kolonialismus verschlechterte, waren gewöhnliche Afrikaner mehr denn je auf den Schutz mächtiger Patrone angewiesen. Andererseits verlangten die Europäer für ihre Unterstützung der traditionellen oder neotraditionellen Herrscher, daß diese ihre immerhin denkbare Loyalität den afrikanischen Klienten gegenüber unter den Vorbehalt kolonialer Einwände und Ansprüche stellten. Freilich waren die Europäer in Afrika weniger mächtig, als sie es sich wünschten. Ohne die Mithilfe von Afrikanern schon während der Landnahme, 75

Siehe Mamdani, Citizen and Subject (wie Anm. 29), Kap. 4. Siehe Mahmood Mamdani, When Victims Become Killers. Colonialism, Nativism, and Genocide in Rwanda. Princeton/Oxford 2001, 90–99; Newbury, Cohesion of Oppresion (wie Anm. 73), Kap. 8; von Trotha, Koloniale Herrschaft (wie Anm. 56), 262–294. 76

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genauso jedoch im Verwaltungsalltag wäre die Kolonialherrschaft schnell zusammengebrochen. In der Tat: „Europeans ‚administered‘ Africa in much the same way as they ‚climb‘ Mount Everest, that is with considerable local help and assistance.“77 Besser als der Begriff „indirekte Herrschaft“ kennzeichnet deshalb einem Vorschlag Trutz v. Trothas zufolge der Begriff „intermediäre Herrschaft“ die koloniale Realität.78 Für die afrikanischen Mittler, und auch für die gewöhnliche Bevölkerung, war das koloniale Rearrangement der Herrschaftsverhältnisse kein Nullsummenspiel; die Afrikaner insgesamt verloren an Einfluß- und Abwanderungsmöglichkeiten, die Intermediäre hingegen gewannen durch den Kolonialismus an Kompetenzen hinzu. Allerdings war dieser Zuwachs an Macht durch einen Verlust an Legitimität erkauft. Unterstrichen wurde der Legitimitätsverlust dadurch, daß die afrikanischen Mittler ihre kulturelle Identität oder Zugehörigkeit schrittweise aufgaben oder redefinierten.79 Sie imitierten den europäisch-kolonialen Lebensstil und suchten auch räumlich die Nähe ihrer weißen Herren, indem sie in die in der Regel von den Europäern gegründeten Hauptstädte oder Verwaltungszentren zogen. Viele übernahmen die christliche Religion, wenn auch weniger aus Gründen der Offenbarung als aus politisch-wirtschaftlichem Kalkül. Zum einen konnte die Religion einer militärisch-technologisch überlegenen Macht nicht falsch sein, zum anderen eröffneten Religionsunterricht und Taufe Bildungs- und Aufstiegschancen. In den Schulen wurde den Kindern der Intermediäre die kulturelle Überlegenheit der Eroberer beigebracht. Die Schulabgänger erhielten niedere und mittlere Posten in der Verwaltung, verdienten Geld, wurden, sofern man es ihnen erlaubte, als Händler aktiv und erwarben und ergaunerten sich Güter und Reichtümer, von denen vorherige Generationen keine Vorstellung hatten. Und wirklich zielte die von den kolonialen afrikanischen Eliten zunächst hinter vorgehaltener Hand und später offen am Kolonialismus geübte Kritik hauptsächlich darauf, daß ihnen Leitungsstellen in Politik und Verwaltung vorenthalten blieben.80 Nicht Widerstand, sondern Imitation war das frühe „antikoloniale“ Programm. Auf der anderen Seite propagierten sie den Schlendrian ihrer Landsleute als Widerstandsform. Als religiöse Experten oder Führer, welche die Einheit, die Würde und das Wohlergehen ihres Gemeinwesens garantierten, wurden die Alten, Häuptlinge oder Könige in den Augen der Aufsteiger zu folkloristischen, wenn nicht lächerlichen Figuren.81 All dies entwertete die lokalen 77

Williams, Political Corruption in Africa (wie Anm. 34), 39. Siehe von Trotha, Koloniale Herrschaft (wie Anm. 56), 294–334. 79 Siehe Roger Anstey, Belgian Rule in the Congo and the Aspirations of the „Evolue“ Class, in: Lewis H. Gann/Peter Duignan (Eds.), Colonialism in Africa 1870–1960. Vol. 2: The History and Politics of Colonialism 1914–1960. Cambridge 1970, 194–225. 80 Siehe Ekeh, Colonialism and the Two Publics in Africa (wie Anm. 57), 100f. 81 Vgl. Ian Linden/Jane Linden, Church and Revolution in Rwanda. Manchester 1977, Kap. 7.

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Traditionen und trug zur weiteren Mobilisierung der mit der Ankunft der Europäer ohnehin unter Wandlungsdruck geratenen Sozialstruktur bei. Paradoxerweise aber war es genau diese kulturelle Entwurzelung der afrikanischen Eliten, welche die Aneignung und Fortschreibung der durch den Kolonialismus erfundenen Traditionen durch eben diese in Gang setzte.82 Denn selbst wenn die afrikanischen Intermediäre von ihren Kolonialherren abhingen und ihr Handeln letztlich durch das kolonialstaatliche Gewaltpotential gedeckt war, konnten sie es sich nicht leisten – vermutlich weder objektiv noch subjektiv –, ihr Regiment nicht auch zu (re-)legitimieren. Ihre Strategie bestand darin, die erfundenen, nun in Schulen gelehrten und administrativ festgeschriebenen Traditionen aufzugreifen und eine ethnische Solidarität zu beschwören, die wie die Reichweite ihrer Macht weit über alle traditionellen Standards hinausreichte. An die Stelle einer „moralischen Ethnizität“, mit welcher John Lonsdale die Rechte und Pflichten der Angehörigen eines (fiktiv-)verwandtschaftlichen Kollektivs bezeichnet, rückte sukzessive ein „politischer Tribalismus“, der den ethnischen Zusammenhalt gegen konkurrierende Fraktionen ausspielte und sein destruktives Potential vollends erst postkolonial entfaltete.83 Die Intermediäre und späteren afrikanischen Führer behaupteten, ethnische Gruppen zu repräsentieren, die weitaus mehr Personen umfaßten als eine definitionsgemäß persönliche Klientel. Es war diese Ethnisierung des Klientelismus, welche sich als eines der größten Integrationshindernisse afrikanischer (Kolonial-)Staaten erweisen sollte.84 Die Verantwortung des afrikanischen politischen Personals seinen „Stammesbrüdern“ gegenüber war unspezifisch, leicht zu behaupten und ohne die Bevorzugung konkreter Gruppen oder Regionen schwierig unter Beweis zu stellen. Dennoch handelte es sich hierbei nicht nur um einen Schachzug der Eliten. Auch aus der Perspektive der Bevölkerung mußte sich der verständliche Wunsch, nicht vergessen zu werden und sich mit einem Staat zu arrangieren, der gewiß nicht der ihrige war, in de facto entpersönlichten, transfamilialen oder eben ethnischen Begriffen artikulieren. Wer sicherstellen oder wenigstens wahrscheinlich machen wollte, Gehör zu finden oder überhaupt bemerkt zu werden, hatte kaum eine andere Wahl, als das ethnische Spiel zu beglaubigen. Es entstanden in Afrika mithin zwei Öffentlichkeiten beziehungsweise quasi-öffentliche Foren, vor denen sich die afrikanischen politischen Akteure zu verantworten hatten: zum einen der 82

Siehe Bruce J. Berman, Ethnicity, Patronage and the African State: The Politics of Uncivil Nationalism, in: African Affairs 97, 1998, 305–341, hier 312–333. 83 Siehe John Lonsdale, Moral Ethnicity and Political Tribalism, in: Preben Kaarsholm/ Jan Hultin (Eds.), Inventions and Boundaries: Historical and Anthropological Approaches to the Study of Ethnicity and Nationalism. Roskilde 1994, 131–150. 84 Vgl. René Lemarchand, Political Clientelism and Ethnicity in Tropical Africa: Competing Solidarities in Nation-Building, in: American Political Science Review 66, Nr. 1, 1972, 68–90.

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Kolonialstaat mit seinen (praktisch hohlen) Ansprüchen auf eine rationale, den Interessen der Allgemeinheit verpflichtete Amtsführung ohne Ansehen der Person, zum anderen der Stamm oder die ethnisierte Klientel, von deren Unterstützung man einerseits abhing – vor allem dann, wenn man sich Wahlen zu stellen hatte –, die zu unterstützen und an seinen Pfründen teilhaben zu lassen man andererseits aber verpflichtet war.85 Der politische Tribalismus war nicht das ganz andere der moralischen Ethnizität, sondern deren kolonialstaatlicher Abkömmling. Auch wenn man die Ethnizität für die eigenen politischen und ökonomischen Ziele zu instrumentalisieren trachtete, blieb man seinem Kollektiv verpflichtet. Was man dem Staat raubte, schuldete man zugleich seinem Volk. Diesem, nicht jenem, war man rechenschaftspflichtig. Die Idee der Staatsnation, also eines allen Bürgern der Kolonie förderlichen Gemeinwohls besaß keine Bedeutung, weil es die Nation nicht gab, die kolonialen Untertanen keine Bürgerrechte besaßen und der Staat illegitim war. Oftmals wurde er von den Afrikanern, nicht anders als von den Kolonialisten selbst, als bloße Ressource aufgefaßt. Der Kolonialstaat diente wirtschaftlichen Zwecken – dies war seine raison d’être –, auch wenn er nur selten die erhofften Profite für das Mutterland abwarf. Was kolonialwirtschaftlich angesichts der Widerstände meist mit Gewalt in Angriff genommen wurde, war die Einführung der Lohnarbeit, der bäuerlichen Produktion für die Metropolen und nicht zuletzt des Geldes selbst. Man erwartete, wenn auch vergeblich, daß die Kolonialwirtschaft mit der Zeit zu einem sich selbst tragenden Teil der Weltwirtschaft würde. Doch anstatt die Erwartung zu revidieren, intensivierten die kolonialstaatlich Verantwortlichen ihre politischen, nicht marktkonformen Anstrengungen, ihre hochgesteckten Ziele doch noch zu erreichen. Zwang regierte, wo Freiheit walten sollte. Ihrem wirtschaftsliberalen Credo zum Trotz war die Kolonialökonomie eine Kommandowirtschaft. Eben weil der Kolonialstaat, sei es zur Requisition von Arbeit, zum erzwungenen Anbau von cash crops, zur Ausbeutung von Bodenschätzen oder zum Eintreiben von Steuern auf die Kollaboration lokaler Kräfte angewiesen war, war seine Politik von Beginn an patrimonial. Folglich wurde der Staat anstelle einer nicht existierenden Marktwirtschaft die Hauptstraße zur Akkumulation von Reichtum.

IV. Die Situation, in der sich das postkoloniale Afrika heute befindet, seine politische Fragmentierung und wirtschaftliche Stagnation sowie die Allgegen85

Siehe Ekeh, Colonialism and the Two Publics in Africa (wie Anm. 57), 106–111. Mamdanis bifurcated state ist nichts anderes als der institutionelle Ausdruck jener zwei Öffentlichkeiten.

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wart der Korruption sind zu wesentlichen Teilen Ergebnis einer Mesalliance des (neo-)traditionalen politischen Klientelismus mit den Hinterlassenschaften des Kolonialismus. Der postkoloniale Staat vermochte die Mängel seines kolonialen Vorgängers nicht zu überwinden, sondern verschärfte und institutionalisierte dessen Widersprüche.86 Mehr noch, die Korruption als bislang letzte Gestalt politischer Reziprozität gewann postkolonial in dem Maße an Legitimität, in dem sie den überkommenen Staat aushöhlte. So wie die Idee des modernen Staates ein europäischer Import war, so brach die Unabhängigkeit eher über Afrika herein, als daß sie unmittelbares Resultat des Unabhängigkeitskampfes gewesen wäre. Gewiß, es gab die gesamte Kolonialzeit hindurch antikolonialen Widerstand, und es gab Afrikaner, die mit Worten und Waffen für ihre Befreiung kämpften. Trotzdem waren der Zeitpunkt und die Art und Weise des Unabhängig-Werdens vor allem ein Zugeständnis, wenn nicht eine strategisch kluge Entscheidung der Kolonialmächte. Nachdem sich die Kolonien für die Mutterländer mehr und mehr als Belastung erwiesen, zugleich jedoch afrikanische Forderungen laut wurden, am Reichtum beteiligt zu werden, und zu befürchten stand, daß der antikoloniale Widerstand sich revolutionär entladen könnte, schien es den Kolonialmächten (mit Ausnahme Portugals) weiser, die Kolonien sich selbst zu überlassen, als eine (neuerliche) gewaltsame Konfrontation zu riskieren.87 Wenn der Kolonialstaat eine Form von Legitimität besaß, dann war es seine im Vergleich zur Vorkolonialzeit beeindruckende organisatorisch-technologische Kompetenz, seine Fähigkeit, Straßen, Eisenbahnen und (Haupt-)Städte zu bauen, Schulen und Universitäten einzurichten, Polizei und Armee zu unterhalten und nicht zuletzt Aufruhr zu unterdrücken.88 Diese Ordnung war freilich Fremdherrschaft, und der Staat war eine feindliche Macht. Angesichts der unzähligen, bitteren Erfahrungen, welche die Afrikaner mit dem (Kolonial-)Staat machen mußten, kann es nicht verwundern, daß sie ihm auch dann noch mißtrauten, als er in die Hände ihrer „Landsleute“ fiel. Entweder gab es keine vorkolonial-staatlichen Traditionen oder, wenn es sie gab, wurden sie schnell durch das Bündnis afrikanischer Eliten mit den Eindring-

86 Zur Postkolonie siehe Jean-François Bayart, L’Etat en Afrique. La politique du ventre. Paris 1989; Achille Mbembe, Provisional Notes on the Postcolony, in: Africa 62, 1992, 3–37; Patrick Chabal/Jean-Pascal Daloz, Africa Works. Disorder as Political Instrument. Oxford 1999; Trutz von Trotha/Georg Klute, Von der Postkolonie zur Parastaatlichkeit – das Beispiel Schwarzafrika, in: Erich Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2001. Hamburg 2001, 683–707. 87 Siehe Albert Wirz, Körper, Kopf und Bauch. Zum Problem des kolonialen Staates im subsaharischen Afrika, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse. München 1999, 253–271, hier 257f.; Marx, Geschichte Afrikas (wie Anm. 28), 255–264. 88 Siehe von Trotha, „Streng, aber gerecht“ (wie Anm. 38), 75–80.

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lingen kompromittiert. Jenseits der eher religiösen als politischen Rechtfertigungsideologien afrikanischer Königtümer gab es keine Vorstellung vom Staat als einer Gemeinschaft nicht-verwandter Menschen, die dennoch so etwas wie gemeinsame Interessen haben und verfolgen könnten.89 Repression, nicht Repräsentation wurde von Afrikanern mit dem Staat assoziiert. Es kann daher nicht erstaunen, daß afrikanische Führer nach der Unabhängigkeit Schwierigkeiten hatten, die Bevölkerung vom Gegenteil zu überzeugen. In der Tat wurden entsprechende Versuche, falls sie denn überhaupt unternommen wurden, in den allermeisten Fällen schnell als bloße Rhetorik durchschaut. Die Verfassungen der postkolonialen Staaten wurden weitgehend denjenigen ihrer Mutterländer nachgebildet, das heißt, die unabhängigen Staaten wurden formell zu repräsentativen, liberalen Demokratien. Unglücklicherweise fehlte den Kolonialgesellschaften nicht nur die Staatsidee, sondern ebenso ein Nationalbewußtsein. Was es gab, waren ethnische Gemeinschaften beziehungsweise ihre entweder selbsternannten oder von den Kolonialherren eingesetzten Sprecher, die um ökonomische Vorteile und politische Macht konkurrierten. Das Machtgefälle, die Statusunterschiede und wirtschaftliche Ungleichheit wurden durch (die Simulation) klientelistische(r), vertikal reziproke(r) Beziehungen wiederum verdeckt. Es lag nahe, daß die ersten Wahlen die bereits vorhandenen ethnisierten oder ethnischen Klientele in „Wahlmaschinen“ verwandelten, anstelle den zivilen Streit um die richtigen politischen Programme in den Mittelpunkt zu stellen.90 Stimmen wurden als Äquivalente von Akkumulationschancen begriffen. Wahlen hatten den Effekt, ambitionierte Politiker sehr schnell daran zu erinnern, von wem sie abhängig waren und wem sie Loyalität schuldeten. Sofern diese versuchten, ihre Wählerschaft unter Berufung auf politische Ideale landesweit auszudehnen, liefen sie Gefahr, die Unterstützung ihrer ethnischen „Verwandten“ zu verlieren, nicht (wieder-)gewählt oder abgesetzt zu werden. Postkoloniale Demokratie bedeutete nicht Herrschaft im Namen des Volkes, sondern Begünstigung eines ethnischen Kollektivs, nicht Kompromiß, Ausgleich und Minderheitenschutz, sondern Ausscheidungskampf. Die Auseinandersetzungen waren meist unversöhnlich, weil sich Verwandtschaft, wie immer fiktiv, im Unterschied zu politischen und ökonomischen Problemen nicht verhandeln läßt. Hinzu kam, daß die Hoffnungen der afrikanischen Wähler auf einen unabhängigen Staat groß waren. Während der sechziger Jahre hatten sich die (ehemaligen) Kolonialmächte weitgehend von den Zerstörungen des Weltkriegs erholt und begannen damit, ihre Sozial89 Siehe Colin Leys, What is the Problem about Corruption?, in: Journal of Modern African Studies 3, Nr. 2, 1965, 215–230, hier 224–226. 90 Vgl. Allen, Understanding African Politics (wie Anm. 29), 303f.; grundsätzlich James C. Scott, Corruption, Machine Politics and Political Change, in: American Political Science Review 63, Nr. 4, 1969, 1142–1158.

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systeme auszubauen. Von und in den früheren Kolonien erwartete man, daß sie nicht nur politisch den westlichen Entwicklungspfad einschlagen, sondern auch wirtschaftlich aufholen würden. Es waren dementsprechend surreale Standards, an denen die Früchte der Unabhängigkeit gemessen werden sollten.91 Der ethnischen Konkurrenz tat dies gleichwohl keinen Abbruch; im Gegenteil, der Staat wurde als immer sprudelnde Quelle des Reichtums begriffen, um seine Macht mit harten Bandagen gekämpft. In einer Reihe von Staaten gelang es indes einer Fraktion, den schon damals drohenden Bürgerkrieg zu verhindern, indem sie den formal demokratischen Staat in ein mehr oder weniger autoritäres Einparteien- beziehungsweise Präsidialsystem umformte und den ethnischen Klientelismus gewissermaßen verstaatlichte oder offizialisierte.92 Klientelistische Netzwerke wurden geduldet, solange sie sich der Zentralmacht unterordneten. Damit setzten sich nicht etwa formal-bürokratische Instanzen durch, vielmehr wurden diese, soweit sie bestanden, durch informelle Netzwerke überlagert. Es ist ein im postkolonialen Afrika weithin zu beobachtendes Phänomen, daß offizielle Organigramme über die tatsächliche Machtverteilung innerhalb der Verwaltung wenig aussagen.93 Die zweite typische Reaktion auf die ethnisch-klientelistische Krise des postkolonialen Staates waren Militärputsche, die im allgemeinen zunächst weder von den Afrikanern selbst noch von westlichen Beobachtern als Katastrophe, sondern als Chance gedeutet wurden, den Übergang von einer kolonial-patrimonialen zu einer postkolonial-rationalen Form der Regierung zu bewerkstelligen.94 Falls eine Institution über den ethnischen Fraktionen stehe und das nationale Interesse vertrete, so sei es das Militär. Diese Annahme erwies sich schnell als Illusion. Das Militär verhielt sich nicht uneigennützig, vermochte die ethnischen Konflikte nicht zu schlichten und trug in keiner Weise zu einer irgend gearteten Rationalisierung des politischen Systems bei. Im Gegenteil, eher schürten die Militärregime die Ethnisierung der Gesellschaft, sofern die Armee nicht selbst als eine Art eigenständiger Stamm, als militärisch überlegenes „Herrenvolk“ auftrat.95 91

Siehe Andreas Eckert, Exportschlager Wohlfahrtsstaat? Europäische Sozialstaatlichkeit und Kolonialismus in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, 467–488. 92 Zur folgenden Schematisierung der politischen Entwicklung nach der Unabhängigkeit siehe Allen, Understanding African Politics (wie Anm. 29), 304–309. 93 Siehe Jean-Pierre Oliver de Sardan, Etat, bureaucratie et gouvernance en Afrique de l’ouest francophone. Un diagnostic empirique, une perspective historique, in: Politique africaine Nr. 96, 2004, 139–162, hier 150–162. 94 Siehe Aidan Southall, State Formation in Africa, in: Annual Review of Anthropology 3, 1974, 153–165, hier 161–164. 95 Siehe Ali A. Mazrui, Soldiers as Traditionalizers. Military Rule and the Re-Africanization of Africa, in: ders. (Ed.), The Warrior Tradition in Modern Africa. Leiden 1977, 236–258.

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Eine zentrale Maßnahme sowohl der zivilen als auch der militärischen Regierungen der unabhängigen Staaten war es, den öffentlichen Dienst aufzublähen. Da die Menge der ohne weiteres zu plündernden Ressourcen begrenzt war und die Kontrolle des Hinterlands und seiner Bewohner nach wie vor lückenhaft blieb96, verfielen die Machthaber, wenn sie die Ansprüche ihrer Klienten oder ethnischen Gefolgschaft zu befriedigen suchten, regelmäßig darauf, anstelle von Geld und Sachwerten Verwaltungsposten und staatliche Prärogative an ihre Anhänger zu verteilen und diese damit „selbständig wirtschaften“ zu lassen. Das wasserkopfartige Wachstum der Bürokratie intensivierte jedoch die Feindschaft zwischen Staat und Gesellschaft beziehungsweise zwischen (Haupt-)Stadt und Land, auf dem die Mehrheit der Afrikaner nach wie vor lebte. Die aufgeblasene, unkontrollierte, zu weiten Teilen dysfunktionale Verwaltung versuchte, das landwirtschaftliche Mehrprodukt zu erhöhen, und monopolisierte dessen nationale und internationale Vermarktung. Die Vervielfältigung der Posten sowie das politische Potential der Stelleninhaber, den Bauern Unannehmlichkeiten zu bereiten und sie unter Druck zu setzen, legte indes beiden Gruppen ein korruptes Verhalten nahe. Die Pfründner waren jederzeit von der Absetzung und durch die Konkurrenz anderer bedroht und versuchten deshalb, so schnell wie möglich so viel Reichtum wie möglich zu akkumulieren. Die Bauern hingegen hatten ein Interesse, sich die Repräsentanten des Staates gewogen zu machen, um sich nicht an die für sie nachteiligen Gesetze und Vorschriften halten zu müssen. Einen Beamten zu schmieren und die eigenen Überschüsse an den staatlichen Stellen vorbei zu vermarkten, mochte in vielen Fällen lukrativer sein, als zu staatlichen Fixpreisen weit unter Weltmarktniveau an die Zentrale zu liefern. Ähnliches gilt für die Steuerpflicht. Es versteht sich, daß dem Staat auf diese Weise Einkommen vorenthalten wird, was seine Bediensteten, die von eben diesem Einkommen leben, nur dazu anstachelt oder auch dazu zwingt, sich als politische „Unternehmer“ ums Aus- und Fortkommen zu kümmern. Weder gibt es ein „Ethos des Staates“ noch die ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen dafür, daß es gelebt werden könnte. Im Gegensatz zu im Westen verbreiteten Vorstellungen über afrikanische Kultur und Menschlichkeit fühlen Afrikaner sich auch heute selten für Nicht-Verwandte, NichtClanmitglieder oder ethnisch Fremde verantwortlich.97 Kehrseite dieser Haltung ist die starke, fast unzerbrechliche, sich bis ins x-te Glied der Familie

96 Vgl. Goran Hyden, Beyond Ujamaa in Tanzania. Underdevelopment and an Uncaptured Peasantry. London 1980; René Lemarchand, African Peasantries, Reciprocity and the Market. The Economy of Affection Reconsidered, in: Cahiers d’études africaines 29, Nr. 113, 1989, 33–67. 97 Vgl. Olivier de Sardan, African Corruption in the Context of Globalization (wie Anm. 22), 256.

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oder auf die ethnische Eigengruppe erstreckende Solidarität. Eine solche moralische Orientierung ist nicht Resultat einer freien Wahl, sondern die ideell und institutionell geronnene Erfahrung, daß es die Familie und nicht irgendeine politische Organisation oder religiöse Gemeinschaft war, auf die man sich verlassen konnte. In Afrika trat die Zugehörigkeit zu einem politischen Verband nicht an die Stelle verwandtschaftlicher Solidarität, vielmehr blieb und wurde diese zu einer Voraussetzung dafür, jenem zu trotzen.98 Auf der einen Seite griffen die frühen afrikanischen Staaten auf familiale oder horizontale Reziprozitätsmuster zurück, um die Schichtung der Gesellschaft in Herren und Beherrschte zu verhüllen. Auf der anderen Seite minimierte der gewaltsame und feindliche Staat die Bedeutung außer- und gegenstaatlicher Solidaritätsbande nicht – er unterstrich sie. Im Rahmen des Staates als der nun zentralen Arena politischer und wirtschaftlicher Konkurrenz wurde in dem Maße, in dem aus Gründen der Selbstbehauptung eine jetzt größere Anzahl von Personen, wenn auch nicht die Gesamtheit der Staatsbürger, als kulturell zur eigenen Gruppe zugehörig definiert werden mußte, aus der Verwandtschaft beziehungsweise moralischer Ethnizität ein politischer Tribalismus. Und insofern der Staat sich auf klientelistische Netzwerke und ethnische Gruppen stützte, wurde er nicht allein zum Agenten einzelner Fraktionen, sondern vor allem mit einer bereits verzerrten Reziprozitätslogik infiziert, gegenüber der eine bürokratische Rationalität nur wenig Durchsetzungspotential besaß. Die Dekontextualisierung von Reziprozität durch Klientelismus und Kolonialismus pervertierte die alte Moral und verhinderte zugleich die Etablierung einer neuen. Die moralische Leere der kolonial aus dem Gleichgewicht gebrachten politischen Gemeinwesen Afrikas wurde nicht durch eine Identifikation der kolonialen Subjekte mit dem neuen, fremden Staat, sondern durch Rekonstitution pseudofamilialer sub- und antistaatlicher Netzwerke aufgefüllt. Dies erklärt nicht allein die für viele Afrikaner (und im übrigen auch für die europäische Tradition lange Zeit) typische Doppelmoral, je nachdem man es mit einem Fremden oder Angehörigen der Eigengruppe zu tun hat, sondern auch den Riß, der zwischen der „öffentlichen“ Verurteilung von Korruption und der korrupten Alltagspraxis besteht. Man schuldet die Verurteilung der internationalen Gemeinschaft, den postmetropolitanen Geldgebern, die nach wie vor einen wesentlichen Anteil afrikanischer Staatshaushalte finanzieren. Zugleich dient sie der Stigmatisierung der sozusagen zu Recht, nämlich wegen ihrer „lediglich partikularistischen“ und damit per definitionem korrupten Interessen von der Staatsmacht ausgeschlossenen (ethnischen) Gruppen. Nachvollziehbarerweise adressieren diese denselben 98 Siehe Peter Ekeh, Individuals’ Basic Security Needs and the Limits of Democracy in Africa, in: Bruce Berman u. a. (Eds.), Ethnicity and Democracy in Africa. Oxford 2004, 22–37.

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Vorwurf an die machthabenden Cliquen. Korruption ist damit sehr wohl Gegenstand öffentlicher Kritik. Doch „the main reason it is considered as bad is not so much because of a sense of public interest as because of the deep sense of injustice it arouses. [...] There is no longer equality before the law but inequality before the law of the market.“99 Allerdings gilt es zu sehen, daß der asymmetrische Tausch keine koloniale Erfindung, sondern ein afrikanisches Erbe darstellt. Auch wenn es ein Mißverständnis wäre, basale Reziprozität im Hinblick auf die jeweils getauschten Dinge und nicht die durch Austausch als solchen hergestellte Beziehung zu interpretieren, ist es richtig, daß die grundsätzliche Nicht-Äquivalenz des Gabentauschs100 seiner Asymmetrisierung Vorschub leistet. Wie gezeigt, ist die Asymmetrisierung oder Vertikalisierung von Reziprozität ein Kennzeichen und Vehikel von Machtbildungsprozessen. Und in diesen erhält der Gabentausch in der Tat zusehends einen instrumentellen oder Leistungscharakter.101 Ganz konkret ist es eine gewöhnlich bereits vorkolonial klientelistische Praktik, sich Höhergestellte durch Geschenke gewogen zu machen, durch Gaben ihr Gehör zu erflehen, sie um einen Gefallen zu bitten oder Recht sprechen zu lassen. Gleichermaßen ist der Rückgriff auf entlohnte (Ver-)Mittler eine traditionale Methode der Problemlösung, um mit wichtigen, mächtigen oder unbekannten Personen in Kontakt zu treten, eine Heirat einzufädeln, einen Streit zu schlichten oder mit den Ahnen zu kommunizieren. War der Rückgriff auf entlohnte Mittler also keine koloniale Hinterlassenschaft, brachte der Kolonialismus jedoch die Monetarisierung des Gabentauschs mit sich. Der Einsatz von Geld als Gabe verschleierte dessen Eigenschaft, moralische Schuldverhältnisse zu annullieren und damit extraökonomische Bindungen und politische Hierarchien tendenziell in Geschäftsbeziehungen zu transformieren. Die normativen beziehungsweise systemischen Grenzen zwischen Gabentausch, Marktransaktionen und Verwaltungshandeln verschwimmen.102 Hinzu kommt, daß es – und auch dies ist ein Erbe des Kolonialismus –, häufig überhaupt keine unumstritten gültigen Standards gibt, an denen die Legitimität (oder Legalität) einzelner Handlungen gemessen werden könnte.103 Durch die parallele Modernisierung und Retraditionalisierung des Rechts ist längst nicht immer klar, und zwar weder den Bürgern noch den Beamten selbst, welches Register zu ziehen ist.

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Médard, Public Corruption in Africa (wie Anm. 1), 126. Siehe Marshall Sahlins, Stone Age Economics. New York 1972, 278. 101 Vgl. Scott/Kerkvliet, How Traditional Rural Patrons Lose Legitimacy (wie Anm. 36), 453f. 102 Vgl. Paul Bohannan, The Impact of Money on an African Subsistance Economy, in: Journal of Economic History 19, 1959, 491–503. 103 Siehe Olivier de Sardan, African Corruption in the Context of Globalization (wie Anm. 22), 260f. 100

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Praktisch hat die Unterscheidung politischer und ökonomischer Rollen für die meisten Afrikaner daher keine Bedeutung. Korruption, definiert als Mißbrauch öffentlicher Ämter für private Zwecke, ist dementsprechend allgegenwärtig. Die Stabilität des afrikanischen Korruptionskomplexes verdankt sich indes einem Teufelskreis zwischen einem schwachen Staat und einer „blühenden“ informellen Ökonomie. Die „Blüte“ dieses Sektors in allen postkolonialen afrikanischen Gesellschaften ist ein unmittelbares Resultat der Ineffizienz und des räuberischen Charakters des Staates.104 Die Mobilisierung ethnischer Bande und die Pflege klientelistischer Beziehungen kompensieren seine Unfähigkeit, die grundlegenden ökonomischen, politischen und kulturellen Sicherheitsbedürfnisse seiner Bürger zu erfüllen.105 Soweit möglich, versucht die Bevölkerung, sich den Fängen von Politik und Verwaltung zu entziehen. Der relative Erfolg dieser Strategie führt allerdings zu einer weiteren Schwächung des Staates: Seine Einkünfte sinken, alle Steuerung versagt. Dies wiederum veranlaßt Politiker, Beamte und nicht zuletzt Soldaten und Polizisten dazu, die formalen Grenzen ihrer Autorität erneut auszudehnen, zu überschreiten und zu Kriminellen zu werden.106 Zwar wird das Verbrechen damit nicht legalisiert – formal bleibt die Unterscheidung von Recht und Unrecht intakt –, doch staatliches racketeering wird zur permanenten Gefahr. Für die Betroffenen ist Korruption der einzige Ausweg – und zugleich ist sie die Nahrung, von welcher das System lebt. Der Kalte Krieg und die, wenn auch schwachen, so doch vorhandenen wirtschaftlichen Interessen der ehemaligen Mutterländer, die Rohstoffe und das Konsumpotential des afrikanischen Kontinents möglichst ungestört auszubeuten, verhinderten lange Zeit, daß die internationale Gemeinschaft effektiv Druck auf die afrikanischen Regime ausgeübt hätte, ethnisch diskriminierende Praktiken abzuschaffen und die mittlerweile allgegenwärtige Korruption zu bekämpfen. Der Westen war mehr an verläßlichen (Handels-)Partnern interessiert als an der Entwicklung einer afrikanischen Zivilgesellschaft. Es bleibt daher abzuwarten, wie ernst die heute lauthals proklamierte Sorge um gute Regierungsführung zu nehmen ist und wie streng die politische und nicht bloß wirtschaftliche Konditionalisierung von Entwicklungshilfe in Zukunft gehandhabt wird. Angesichts bisheriger Erfahrungen, aber auch angesichts des Vordringens der Inder und insbesondere der nicht unbedingt für ihre Wertschätzung von Menschen- und Bürgerrechten bekannten Chinesen auf den afrikanischen Markt ist jedenfalls Skepsis ange104

Siehe Irene Stacher, Afrika südlich der Sahara: Erzwungene Abkoppelung und Informalisierung, in: Andrea Komlosy u. a. (Hrsg.), Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft. Frankfurt am Main 1997, 149–167. 105 Siehe Georg Elwert u. a., Die Suche nach Sicherheit: Kombinierte Produktionsformen im sogenannten Informellen Sektor, in: Zeitschrift für Soziologie 12, 1983, 281–296. 106 Siehe Jean-Francois Bayart u. a., The Criminalization of the State in Africa. Oxford 1999.

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Korruption als europäisches Erbe?

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bracht, ob die ehemaligen, durch die Kolonialgeschichte selbst moralisch diskreditierten Westmächte in Afrika wirklich auf einer Respektierung rechtsstaatlicher und demokratischer Mindeststandards werden insistieren können und wollen. Doch selbst wenn ein entsprechender politischer Wille vorhanden wäre, bleibt zweifelhaft, ob die externe Verordnung einer Trennung privater und öffentlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessen angesichts ihrer aus historischen Gründen systemischen Verschränkung überhaupt möglich wäre. Das sich hinter der Korruptionsbekämpfung häufig nur verschanzende neoliberale Programm, staatliches Handeln durch Marktprozesse zu ersetzen – von Gary Becker wird das Bonmot überliefert: „if we abolish the state, we abolish corruption“107 –, dürfte jedenfalls kaum die erwünschten Erfolge zeitigen. Der Hinweis auf die Resultate der Privatisierungs- und Deregulierungsprogramme in den ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas sollte im Grunde genügen.108 Gegenüber den qua Korruption aufgebauten und zusammengehaltenen, politisch gestützten und einflußreichen Wirtschaftsimperien der Gegenwart erscheint die Korruption im Kommunismus als nachgerade harmlos. Eigentümer der ehemaligen staatlichen (Groß-)Betriebe sind in der Regel entweder deren frühere politische Leiter oder einflußreiche und informierte Mitglieder der alten Nomenklatura. Zwar hat die Privatisierung staatlicher Betriebe diese aus planwirtschaftlichen Fängen befreit, dominant und konkurrenzlos sind sie indes geblieben. Doch die Fortdauer und sogar Verbreitung von Korruption in Osteuropa ist nicht nur der überstürzten Transformation kommunistischer in kapitalistische Verhältnisse oder der Größe des Kuchens geschuldet, sondern hat strukturell damit zu tun, daß an die Stelle des allmächtigen Staates getretene private (De-)Regulierungsagenturen sich als Private einer öffentlichen Kontrolle entziehen. Die für systemische Korruption typische Verwischung öffentlicher und privater Rollen und Kompetenzen wurde – und wird – durch die Privatisierung und Dezentralisierung staatlicher Funktionen keineswegs vermieden. Auf die afrikanischen Verhältnisse übertragen bedeutet dies, daß den ohnehin schwachen Staat weiter zu schwächen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben hieße. Gewiß kann es nicht darum gehen, den Staat in Afrika weiter aufzublähen, doch wichtiger als die aus Sicht der neueren Korruptionsforschung definitionsgemäß korrupte Bürokratie einfach abzubauen und die Staatsquote herabzusetzen wäre es, staatliche Strukturen als solche zu stärken, und das hieße unter anderem, die Ausbildung der Beamten zu verbessern, ihnen und auch den politischen Mandatsträgern attraktive oder 107

Zit. nach Vito Tanzi, Corruption Around the World. Causes, Consequences, Scope, and Cures, in: IMF Staff Papers 45, Nr. 4, 1998, 559–594, hier 566. 108 Vgl. Paul Heywood, Political Corruption: Problems and Perspectives, in: Political Studies 44, 1997, 417–435, hier 429f.

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wenigstens ausreichende Gehälter zu zahlen, der öffentlichen Kritik von Korruption strafrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen und nicht zuletzt die ausländischen „Korruptionsgeber“ zur Rechenschaft zu ziehen. Gewiß besteht die Gefahr, auf diese Weise ein ohnehin korruptes politisch-administratives Personal lediglich besser zu alimentieren, an der Tatsache jedoch, daß die Verbannung privater Interessen aus dem Bereich öffentlicher Angelegenheiten eine starke Verwaltung voraussetzt, führt kein Weg vorbei. Selbst die Entstehung einer Zivilgesellschaft dürfte die Existenz und den Schutz eines gefestigten Staates voraussetzen.109 Die Deregulierung des postkolonialen Staates ist jedenfalls nicht dazu angetan, der Korruption Einhalt zu gebieten. Wie der bisweilen bis zu blutigen Brotaufständen reichende Protest der von Strukturanpassungsprogrammen betroffenen Bevölkerungen zeigt, unterminiert eine extern erzwungene wirtschaftliche Liberalisierung die (restliche) Autorität des Staates. Wie in Osteuropa haben die Freigabe des Handels und die Privatisierung von Schlüsselindustrien der Bereicherung der Eliten nicht nur keinen Einhalt geboten, sondern die Elitenkonkurrenz um schrumpfende Pfründe vielmehr befeuert.110 Die afrikanischen Staaten im Namen der Korruptionsbekämpfung politisch zu destabilisieren, scheint mir ein zu hoher Preis. Wie die afrikanischen Gesellschaften selbst sollten sich auch die wissenschaftlichen Beobachter und politischen Berater zumindest mittelfristig mit der Fortdauer von Korruption arrangieren. Gewiß ist sie ein Element der wirtschaftlichen und politischen Selbstblockade Afrikas, vor dem Hintergrund ihrer Geschichte scheint es mir allerdings äußerst fraglich, ob sie wirklich eine wesentliche Ursache und nicht vielmehr ein Symptom der afrikanischen Misere ausmacht.

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Vgl. Wolfgang Knöbl, Zivilgesellschaft und gesellschaftliches Gewaltmonopol, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 15, H. 1, 2006, 61– 84. 110 Siehe Peter Lewis, From Prebanalism to Predation: The Political Economy of Decline in Nigeria, in: Journal of Modern African Studies 34, Nr. 1, 1996, 79–103.

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Autorenverzeichnis Dr. Frank Bajohr, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Prof. Dr. Frank Bösch, Inhaber der Professur für Fachjournalistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Prof. Dr. Jens Ivo Engels, Inhaber der Professur für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt. Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte (Schwerpunkt 19. Jahrhundert) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. PD Dr. Karsten Fischer, Gastprofessor an der Zeppelin University Friedrichshafen. Prof. Dr. Alexander Nützenadel, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder. PD Dr. Axel T. Paul, Hochschuldozent am Institut für Soziologie der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Prof. Dr. Werner Plumpe, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. PD Dr. Susanne Schattenberg, Vertreterin des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Jena. Prof. Dr. André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. PD Dr. Hillard von Thiessen, Vertreter der Professur für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität zu Köln.

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